Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 17/153

Deutscher

Stenografischer Bericht

153. Sitzung

Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 22: Tagesordnungspunkt 23: a) Bericht der Enquete-Kommission „Inter- a) Zweite und dritte Beratung des von den net und digitale Gesellschaft“: Zweiter Abgeordneten , Gabriele Zwischenbericht der Enquete-Kommis- Lösekrug-Möller, sion „Internet und digitale Gesell- (Hildesheim), weiteren Abgeordneten und schaft“ – Medienkompetenz der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- (Drucksache 17/7286) ...... 18317 A wurfs eines Gesetzes über die Festset- b) Bericht der Enquete-Kommission „Inter- zung des Mindestlohnes (Mindestlohn- net und digitale Gesellschaft“: Zwischen- gesetz – MLG) bericht der Enquete-Kommission „In- (Drucksache 17/4665 (neu), 17/8385) . . . 18336 C ternet und digitale Gesellschaft“ b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 17/5625) ...... 18317 B Ausschusses für Arbeit und Soziales zu (CDU/CSU) ...... 18317 B dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, , Dr. Wolfgang (SPD) ...... 18318 D Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordne- Sebastian Blumenthal (FDP) ...... 18320 B ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jetzt Voraussetzungen für (DIE LINKE) ...... 18321 B die Einführung eines Mindestlohns Dr. (BÜNDNIS 90/ schaffen DIE GRÜNEN) ...... 18322 B (Drucksachen 17/7483, 17/8385) ...... 18336 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) c) Antrag der Abgeordneten Jutta (CDU/CSU) ...... 18323 C Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Aydan Özoğuz (SPD) ...... 18324 D Fraktion DIE LINKE: Mehrheitswillen Jimmy Schulz (FDP) ...... 18326 A respektieren – Gesetzlicher Mindest- lohn jetzt Dr. (DIE LINKE) ...... 18327 B (Drucksache 17/8026) ...... 18336 D Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ Peter Weiß (Emmendingen) DIE GRÜNEN) ...... 18328 B (CDU/CSU) ...... 18337 A (CDU/CSU) ...... 18329 B Dr. (DIE LINKE) Gerold Reichenbach (SPD) ...... 18331 A (zur Geschäftsordnung) ...... 18338 D Manuel Höferlin (FDP) ...... 18332 B Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) Dr. (CDU/CSU) ...... 18333 B (zur Geschäftsordnung) ...... 18339 B Gerold Reichenbach (SPD) ...... 18334 A (Peine) (SPD) ...... 18340 A (CDU/CSU) ...... 18335 B Dr. (CDU/CSU) ...... 18340 D II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 18342 B Tagesordnungspunkt 25: (DIE LINKE) ...... 18344 A Antrag der Abgeordneten , Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , wei- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ terer Abgeordneter und der Fraktion DIE DIE GRÜNEN) ...... 18345 C LINKE: Beendigungsgesetz zum Berlin/ Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . 18346 A Bonn-Gesetz (Drucksache 17/2419) ...... 18377 B Dr. (CDU/CSU) ...... 18347 B Roland Claus (DIE LINKE) ...... 18377 B Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 18347 D Jürgen Herrmann (CDU/CSU) ...... 18378 B Anette Kramme (SPD) ...... 18349 C Johannes Kahrs (SPD) ...... 18379 C Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 18350 D (FDP) ...... 18381 B Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . 18351 D Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18382 D Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 18352 B (CDU/CSU) ...... 18384 A (DIE LINKE) ...... 18353 C (DIE LINKE) ...... 18354 B Tagesordnungspunkt 26: Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18355 C Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Tom Koenigs, Viola von Cramon- (CDU/CSU) ...... 18356 C Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das (SPD) ...... 18358 C Regime in Syrien international isolieren Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) ...... 18359 D (Drucksache 17/8132) ...... 18384 D Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18385 A Tagesordnungspunkt 24: Dr. (CDU/CSU) ...... 18386 A Unterrichtung durch die Bundesregierung: Gutachten zu Forschung, Innovation und (Köln) (BÜNDNIS 90/ technologischer Leistungsfähigkeit Deutsch- DIE GRÜNEN) ...... 18387 A lands 2011 Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 18387 C und Stellungnahme der Bundesregierung Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 18389 A (Drucksache 17/8226) ...... 18362 B Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 18390 B , Parl. Staatssekretär BMBF ...... 18362 C Nächste Sitzung ...... 18391 D René Röspel (SPD) ...... 18364 A Dr. (CDU/CSU) ...... 18365 C Anlage 1 Dr. (Lausitz) (FDP) ...... 18366 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 18393 A Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 18368 A Anlage 2 (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18369 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Tarifsystem stabilisieren (152. Sit- Michael Kretschmer (CDU/CSU) ...... 18371 B zung, Tagesordnungspunkt 19) (SPD) ...... 18372 D (SPD) ...... 18394 A (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 18374 A Dr. (SPD) ...... 18375 A Anlage 3 Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 18376 A Amtliche Mitteilungen ...... 18394 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18317

(A) (C)

153. Sitzung

Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Das Internet ist viel, viel schneller. Das ist Informa- Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. tion und Bildung. Das ist Selbstbestimmung, und das ist Teilhabe. Das ist aber vor allen Dingen Unterhaltung Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich und Lebensfreude, und in allererster Linie ist es wirt- begrüße Sie alle herzlich. schaftliche Betätigung. Damit das so ist, so bleibt und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf: kontinuierlich weiterentwickelt wird, hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission „Internet und digi- a) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission tale Gesellschaft“ ins Leben gerufen. „Internet und digitale Gesellschaft“ Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kom- Ich bedanke mich am Anfang der Debatte ganz aus- mission „Internet und digitale Gesellschaft“ drücklich bei all denjenigen, die mitarbeiten und mit- helfen, dass diese Enquete zum Erfolg wird. Vor allen Medienkompetenz Dingen bedanke ich mich bei den Abgeordneten aller (B) (D) – Drucksache 17/7286 – Fraktionen, die dies neben den ganzen Fachthemen zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht haben. Ich bedanke b) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission mich bei unseren Mitarbeitern und Referenten. Ich be- „Internet und digitale Gesellschaft“ danke mich beim Sekretariat und bei der Bundestagsver- Zwischenbericht der Enquete-Kommission waltung. Ganz besonders bedanke ich mich – ich glaube, „Internet und digitale Gesellschaft“ im Namen des ganzen Hauses – bei unseren Sachver- ständigen und Experten, die mit sehr viel Fleißarbeit, mit – Drucksache 17/5625 – einem hohen Sachverstand und mit sehr viel Arbeitsauf- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für wand in vielen Arbeitsstunden neben ihrer eigentlichen die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu stelle Tätigkeit dafür sorgen, dass die Enquete qualitativ sehr ich Einvernehmen fest. Dann können wir so verfahren. gut besetzt ist. Herzlichen Dank dafür! Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- (Beifall im ganzen Hause) nächst dem Kollegen Jens Koeppen für die CDU/CSU- Fraktion. Wir arbeiten seit fast zwei Jahren engagiert in dieser Enquete-Kommission. So manche Ernüchterung hat sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gezeigt, weil die Mühsal der demokratischen Gremien für einige neu ist. Ideologische Schützengräben, in de- Jens Koeppen (CDU/CSU): nen man sich abducken konnte, wurden von allen aufge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tan. Aber das ist nicht entscheidend. Für mich ist ent- Während wir hier zur besten Kernzeit im Deutschen scheidend, dass es diese Enquete gibt. Für mich ist Bundestag über die Enquete-Kommission „Internet und entscheidend, dass engagierte, leidenschaftliche Debat- digitale Gesellschaft“ beraten und die Zwischenberichte ten geführt wurden, dass sehr viel Herzblut hineingege- präsentieren, läuft wahrscheinlich zeitgleich auf Twitter ben wurde und dass dort ein Wille zum Konsens besteht. die Auswertung der Debatte; sie wird dort kommentiert und analysiert. Kaum jemand kann und will heute noch Eines ist, insbesondere in dieser Enquete-Kommis- auf die Abendnachrichten um 20 Uhr warten; denn sion, ganz klar: Die reine Lehre, das vielbeschriebene wahrscheinlich ist das der kalte abgestandene Kaffee weiße Blatt Papier, mit dem man noch einmal neu anfan- vom Morgen, bestenfalls eine nette Zusammenfassung gen könnte, gibt es nicht. Hier benutze ich gern die des Tagesgeschehens, aber es hat nicht mehr sehr viel Worte unseres Fraktionsvorsitzenden : mit News zu tun. Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. – 18318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Jens Koeppen (A) Das sollten wir gerade in dieser Enquete-Kommission Der vierte Punkt. Wir müssen Überregulierung ver- (C) beachten. meiden. Selbstregulierung sollte Vorrang vor staatlicher Regulierung haben. Das gilt aus meiner Sicht übrigens (Beifall des Abg. Axel E. Fischer [Karlsruhe- auch für die analoge Welt. Freiheit braucht jedoch Ei- Land] [CDU/CSU]) genverantwortung und Medienkompetenz, über die wir Meine Damen und Herren, für mich und für meine nachher noch genauer reden werden. Unser Leitbild des Arbeitsgruppe sind fünf Grundthesen ganz entscheidend. Onlinenutzers ist der mündige Bürger. Wir setzen ganz Diese möchte ich Ihnen in aller Kürze vortragen. klar auf Wettbewerb, Transparenz und Selbstregulie- rung, bevor der Gesetzgeber regulierend eingreifen Erstens. Das Internet ist ein Kulturbruch. In diesem muss. Kulturbruch liegt das große Potenzial. Das Netz erwei- tert die Anzahl der Orte, an denen sich Menschen begeg- Schließen möchte ich mit dem fünften Punkt. Die nen. Raum und Zeit sind nahezu bedeutungslos gewor- Netzpolitik ist für uns ein eigenständiges Politikfeld; den. Soziale Netzwerke führen Menschen zusammen. denn heute ist nahezu jeder Aspekt unseres Lebens an Neue Marktplätze entstehen. Neue Möglichkeiten zur das Internet angeschlossen. Netzpolitik ist ein Quer- Entfaltung der Persönlichkeit eröffnen sich. Im Netz fin- schnittsthema. Die Netzpolitik muss auch dann, wenn det Information praktisch auf Abruf statt. Es herrscht die Enquete-Kommission ihre Arbeit beendet hat, an ei- eine Kultur der sofortigen Verfügbarkeit mit einer enor- ner hervorgehobenen Stelle im Bundestag und in der men Reichweite. Nur wer diese Netzkultur versteht, der Bundesregierung eine Bedeutung haben. kann ermessen, was es bedeutet, wenn man Menschen Ich wünsche mir, dass wir am Ende des Tages mit un- den Zugang zum Netz verwehrt. Das müssen wir unbe- serer Arbeit in dieser Kommission dafür sorgen, dass das dingt verhindern. Thema Internet und digitale Gesellschaft noch mehr in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt wird und die Freiheit braucht aber auch Sicherheit. Das Verhältnis Politik noch mehr agieren kann. Im Moment reagiert sie zwischen der Freiheit im Netz und dem Bedürfnis der eher. Das ist dieses alte Hase-und-Igel-Spiel. Meistens Bürgerinnen und Bürger nach Sicherheit muss ausgewo- ist das Internet natürlich viel schneller, als wir reagieren gen und besonnen ausgestaltet sein. Natürlich – ich wie- können. Zum Schluss wünsche ich mir, dass sich Anbie- derhole mich da –: Jede funktionierende Gesellschaft ter und Nutzer medienkompetent innerhalb der von uns braucht ihre Leitplanken. Aber gerade hier müssen diese besonnen gesetzten Leitplanken bewegen können. Wenn besonnen und mit Augenmaß gesetzt werden. wir das erreicht haben, dann haben wir etwas Großes ge- Der zweite Punkt. Der gefühlte Klassenkampf zwi- tan. Ich möchte Sie auffordern, daran in der Enquete schen digitaler Welt und analoger Welt muss aufhören. weiterhin mitzuwirken. (B) (D) Es gibt die virtuelle Welt nicht, auch wenn wir immer Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. noch das Gefühl haben, dass es ein Leben im Netz und ein Leben außerhalb des Netzes gibt. Wir müssen die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) analoge Welt mitnehmen; das ist eine große Aufgabe. Das Netz gehört niemandem, weder irgendwelchen Präsident Dr. Norbert Lammert: Nerds noch den selbsternannten Angehörigen der Com- Das Wort erhält nun der Kollege Lars Klingbeil für munity. Es gehört auch nicht irgendeiner digitalen Elite die SPD-Fraktion. und schon gar nicht einer bestimmten Partei oder Orga- nisation. Online zu sein, ist ein ganz selbstverständlicher (Beifall bei der SPD) Teil unseres Lebens geworden. Wir sollten die Gelegen- heitsnutzer lieber aufklären, als sie vielleicht abfällig als Lars Klingbeil (SPD): „Internetausdrucker“ zu bezeichnen. Das Netz ist auch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nicht gut oder schlecht. Es ist einfach da. Wir machen Kollegen! Die Digitalisierung verändert die Welt, in der das Netz. Es bestimmt unser Leben heutzutage maßgeb- wir leben. Sie verändert die Welt, in der wir arbeiten, lich, selbst wenn wir meinen, wir würden es nicht nut- und auch die Antwort auf die Frage, wie wir heute wirt- zen. Netzpolitik muss auch nicht neu erfunden werden, schaften. Durch die Digitalisierung erfahren wir eine sondern wir müssen die analogen Erfahrungen an den grundlegende Veränderung unserer Welt. Das bringt Erfordernissen der digitalen Welt prüfen und sie anpas- auch Anforderungen an die Politik mit sich. Arbeit ver- sen. ändert sich. Heute haben viele bzw. immer mehr Men- schen die Möglichkeit, von jedem Ort der Welt zu jeder Dritter Punkt. Das Internet gibt unserer Gesellschaft Zeit zu arbeiten. Der Betriebsbegriff ändert sich. Alles, neue Impulse. Nie zuvor konnten sich Bürgerinnen und was man heute braucht, ist ein Internetzugang. Der Lap- Bürger so umfassend über ihr Gemeinwesen informie- top wird zur Werkbank des 21. Jahrhunderts. ren. Größere Transparenz im staatlichen Handeln kann mehr Bürgerbeteiligung, noch mehr Vertrauen und das Wir sehen, dass diese Veränderung die Chance auf Pflichtgefühl befördern; denn das Internet ist ein Spie- mehr Freiheit und auf eine bessere Vereinbarkeit von Fa- gelbild unserer Gesellschaft. Kein anderes Medium bie- milie und Beruf mit sich bringt. Wir sehen aber auch, tet zum Beispiel Politikern und Wählern eine vergleich- dass neue Anforderungen an den Sozialstaat entstehen, bare Möglichkeit, direkt miteinander zu kommunizieren. dass die Anforderungen wachsen und wir uns mit der Das sollten wir unbedingt bewahren und natürlich auch Frage beschäftigen müssen, wie solche Formen der Ar- befördern. beit abgesichert werden können. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18319

Lars Klingbeil (A) Die Wirtschaft verändert sich. Wir sehen eine digitale mit der Hoffnung, dass hiermit aus der Mitte des Parla- (C) Wirtschaft, die wächst, aber wir sehen auch, dass sich ments der digitale Wandel gestaltet werden kann und die klassischen industriepolitischen Branchen verändern. dass die Enquete so etwas wie ein netzpolitischer Think- Egal ob in der Stahlindustrie oder in der Automobilin- tank, eine Denkfabrik, und auch ein Experimentierfeld dustrie: Viele Wertschöpfungsketten verlaufen heute ent- für neue Möglichkeiten der politischen Partizipation ist. lang digitaler Linien. Wir müssen uns fragen, wie wir hier Innovationen weiter stärken können. Wenn wir heute, knapp zwei Jahre nach dem Start der Enquete, eine Zwischenbilanz ziehen, dann müssen wir Auch die Bildung verändert sich. Wir diskutieren hier feststellen: Diesem hohen Anspruch, den wir an uns heute den Zwischenbericht zur Medienkompetenz. selbst gestellt haben, sind wir bisher nicht gerecht ge- Junge Menschen sind immer mehr Informationen ausge- worden. Wir haben erlebt, dass wir auf viele drängende setzt. Sie müssen lernen, hiermit umzugehen und sich in Fragen der digitalen Entwicklung hier im Deutschen neuen Technologien zurechtzufinden. Eine der größten Bundestag noch keine Antwort und keine Sprachrege- Herausforderungen, die wir in der Politik zu bewältigen lung gefunden haben. Genau deswegen sage ich: Wir haben, ist: junge Menschen fit zu machen, sich in dieser müssen uns gemeinsam anstrengen, wenn es jetzt darum digitalen Welt zurechtzufinden. geht, die Arbeit der Enquete-Kommission weiterzufüh- (Beifall bei der SPD) ren. Auch die politischen Prozesse müssen sich verändern. Ich will das hier deutlich sagen: Wir sitzen alle in ei- Die Menschen können Politik heute in Echtzeit verfol- nem Boot. Wir werden als Parlament als Ganzes gewin- gen. Sie können sie kommentieren, aber es entsteht auch nen oder als Ganzes verlieren, wenn es darum geht, Ant- der Wunsch, in Echtzeit dabei zu sein und Politik zu be- worten zu formulieren. einflussen. Genau diese Möglichkeiten müssen wir er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ öffnen. Wir müssen Beteiligungsformen anbieten, damit DIE GRÜNEN) die Menschen ihre Kommentare und Ideen in Echtzeit in politische Prozesse einfließen lassen können. Deswegen ist mein Appell, dass wir mit Taktierereien, Wir sehen auch, dass uns die Digitalisierung heute mit parteipolitischen Reflexen und mit stundenlangen vor neue, ungelöste Herausforderungen stellt, etwa vor Diskussionen über Verfahrensfragen in der Enquete auf- den permanenten Kampf zwischen individuellen Frei- hören und uns darauf konzentrieren, den Streit in der Sa- heitsrechten und notwendigen Sicherheitsinteressen. Ich che zu führen – das ist notwendig –, und dass wir damit spreche die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung an, anfangen, die Vision für eine digitale Gesellschaft noch bei der wir nicht vorangekommen sind. Das wird zwi- stärker zu definieren. (B) (D) schen den Fraktionen, aber auch in den Fraktionen dis- (Beifall des Abg. Jimmy Schulz [FDP]) kutiert. Hier müssen wir neue Antworten finden, und ich sage auch: Wenn wir eine Balance zwischen Sicherheit Dabei will ich ausdrücklich an diejenigen appellieren, und Freiheit suchen, dann müssen wir aufhören, symbo- die wir als 18 Sachverständige eingebunden haben. Es lische Diskussionen wie solche um Netzsperren, die war ein richtiger Schritt, dass wir uns geöffnet und neue Sperrung des Internetzugangs oder auch die Zensurinfra- Beteiligungsformen geboten haben. Das war die ausge- struktur im Internet zu führen. streckte Hand an eine Netzcommunity, die zu den erfolg- In der digitalen Zeit stehen wir vor der Herausforde- reichsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre gehört. rung, das Urheberrecht zu reformieren. Auf der einen Ob es die Debatte um die Netzsperren ist, ob es die Seite entstehen wunderbare Möglichkeiten für Kreative, Debatte um die Vorratsdatenspeicherung oder den Ju- neue Verbreitungswege zu finden. Auf der anderen Seite gendmedienschutz-Staatsvertrag ist: Wir waren immer sehen wir aber auch, dass wir einen gesellschaftlichen erfolgreich darin, Dinge zu verhindern. Bei der Enquete Konsens für ein neues Urheberrecht in einer digitalen machen wir jetzt das Angebot, etwas zu gestalten. Das Zeit noch nicht geschaffen haben. ist schwieriger, als etwas zu verhindern. Demokratie ist Die Politik in Gänze tut sich schwer, diese umfassen- anstrengend. Dabei geht es darum, Mehrheiten zu ge- den gesellschaftlichen, sozialen und politischen Umbrü- winnen. Es geht darum, zu überzeugen. Da mag es che zu gestalten. Es ist deutlich geworden, dass Netz- manchmal einfacher sein, die Arbeit der Enquete-Kom- politik kein Nischenthema ist, sondern dass es hier um mission auf Twitter hämisch zu begleiten. Aber mein große gesellschaftliche Veränderungen und eine mo- Wunsch ist, dass diejenigen, die Ideen haben, sich ein- derne Gesellschaftspolitik geht. Deswegen müssen der bringen und dass wir durch die Beteiligung des 18. Sach- Deutsche Bundestag und die Politik insgesamt endlich verständigen die Chance haben, die Arbeit der Enquete anfangen, diesen Wandel zu gestalten. Im Ernst: Es ist erfolgreich zu Ende zu führen. unsere Entscheidung, ob wir dabei sind. Dieser Wandel Dass die Enquete hier im Parlament wichtig ist, dass kommt, und ich hoffe, wir entschließen uns, ihn zu ge- Impulse aus dem Parlament kommen müssen, zeigt die stalten. Ansonsten findet er ohne uns statt. netzpolitische Bilanz dieser schwarz-gelben Bundesre- In Anbetracht all dieser Herausforderungen und Ver- gierung. Dieser Regierung fehlt der Mut, auf einen kon- änderungen, die ich gerade beschrieben habe, haben wir sequenten Breitbandausbau zu setzen und endlich das im Jahr 2009 gemeinsam die Enquete-Kommission „In- Grundrecht auf ein schnelles Internet zu verankern, not- ternet und digitale Gesellschaft“ eingesetzt, verbunden falls mit einem Universaldienst. 18320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Lars Klingbeil (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ machen: Wie können wir einzelne Menschen befähigen (C) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und bestärken, das Potenzial und die Chancen im Inter- LINKEN – Jimmy Schulz [FDP]: Ihr müsst net zu nutzen, um im Umgang mit digitalen Medien er- erst einmal die Netzsperren abschalten, die ihr folgreich wirken zu können? eingefügt habt!) Wir betrachten das als eine gesamtgesellschaftliche Dieser Regierung fehlt der Mut, die gesetzliche Netz- Herausforderung. Wir haben zur Kenntnis genommen, neutralität zu verankern und ein innovatives und freies dass gerade im Bereich Medienkompetenz ein Großteil Internet aufrechtzuerhalten. Initiativen dieser Regierung der Initiativen auf Länder- und Bundesebene immer sehr zur Modernisierung des Urheberrechts und zum Daten- stark auf Jugendliche und junge Menschen fokussiert schutz? Fehlanzeige! Initiativen zur Weiterentwicklung war. Wir sagen: Das ist eine Chance für die gesamte Ge- des Informationsfreiheitsgesetzes, zu Open Data? Fehl- sellschaft. Auch die älteren Generationen müssen mitge- anzeige! Das Einzige, was von dieser Regierung bleibt, nommen werden. Auch dort ist der Ruf nach Teilhabe ist die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes. lauter geworden. Diese Initiative kam fraktionsübergreifend aus der Mitte (Beifall des Abg. [FDP]) des Parlaments. Für uns ist wichtig, dass wir dann, wenn wir über die (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Hast du nicht Auswirkungen der digitalen Medien und die Chancen eben gesagt, du willst keine parteipolitische des Internets sprechen, eine differenzierte Sichtweise in Debatte haben?) den Vordergrund stellen. Wir haben in der öffentlichen Ich bin überzeugt: Dieses Parlament kann Impulse für Debatte in den letzten Jahren oft eine Tendenz zur Glori- die netzpolitische Arbeit in der deutschen Politik geben. fizierung oder Dämonisierung erlebt. Sie erinnern sich Deswegen meine Hoffnung und das Angebot der SPD, an die Umbrüche im Rahmen des arabischen Frühlings: die Arbeit der Enquete erfolgreich weiterzuführen. Wir Da sprach man von der „Facebook-Revolution“ und vom sollten jetzt noch einen draufsetzen und mit parteipoliti- „Twitter-Umsturz“. schen Spielen aufhören. Dann werden wir am Ende er- Es ist und bleibt menschliches, individuelles Handeln. folgreich sein. Es wird nicht gelingen, nur mit Kommunikationsmedien (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ganze Regime und Systeme zu stürzen und einen Wandel des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- herbeizuführen. Ausgangspunkt und Fixpunkt bleibt das chen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der menschliche Handeln. Das menschliche Handeln be- FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ap- dingt den Mut, zu opponieren, den Mut, sich gegen ein Regime zu stellen. Facebook und Twitter können hier (B) pell an euch! Sehr gut! – Dr. (D) [CDU/CSU]: Nur die Krawatte wegzulassen, hilfreich sein, aber es sind und bleiben Instrumente. Die macht einen nicht zum Netzpolitiker! – Gegen- Grundlage und der Ausgangspunkt ist das individuelle ruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/ Handeln. DIE GRÜNEN]: Sie trauen sich ja nicht ohne (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Krawatte!) bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Der Kollege Blumenthal ist der nächste Redner für andere Seite eingehen, die Dämonisierung des Netzes. die FDP-Fraktion. Viele sagen: Das Internet ist ein Hort des Verbrechens, in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dem illegale Handlungen möglich sind, etwa illegale der CDU/CSU) Downloads und Urheberrechtsverletzungen. Auch das darf und kann man nicht dem Internet anlasten. Auch das Sebastian Blumenthal (FDP): ist und bleibt menschliches Handeln. Das sind Konse- quenzen aus menschlichem Handeln. Wenn illegale Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Downloads stattfinden, dann geschieht dies, weil sich Lars Klingbeil, es entbehrt nicht einer gewissen unfrei- einzelne Menschen dazu entscheiden. willigen Komik, wie die Rede intoniert wurde und wie dann das Ende vollzogen wurde. Das muss an dieser Bitte lassen Sie uns mit dieser pauschalen Glorifizie- Stelle einmal erwähnt werden. rung und Dämonisierung aufhören. Lassen Sie uns lieber Sorge tragen dafür: Wie können wir den einzelnen Men- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen die Möglichkeiten und die Qualifizierung mitge- der CDU/CSU – Renate Künast [BÜND- ben, mit diesen neuen Chancen und mit diesen neuen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon wieder einer Freiheiten richtig umzugehen? ohne Krawatte!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Für die FDP-Fraktion war es im Bereich Medienkom- petenz entscheidend, dass wir als Grundlage den aufge- Medienkompetenz ist und bleibt dabei die Grundlage. klärten und selbstbestimmten Nutzer in den Vordergrund Wir haben vonseiten der Enquete-Kommission eine stellen. Für uns ist wichtig, dass wir keine staatliche De- ganze Reihe von Handlungsempfehlungen ausgespro- finition eines Otto Normalnutzers auf die Tagesordnung chen. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass auf setzen, sondern dass wir uns politisch Gedanken darüber Ebene der Länder eine Vielzahl von lobenswerten Kam- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18321

Sebastian Blumenthal (A) pagnen und Aufklärungsinitiativen gemeinsam mit die klassische Netzpolitik und die gesellschaftlichen (C) Schülern, Eltern, Lehrern und auch schon mit älteren Veränderungen durch das Internet verlagert wird, dass Menschen stattgefunden hat. Angesichts der knappen eine Lust auf Einmischen in die Politik entsteht und dass Haushaltslage in den Ländern möchten wir anregen, dass Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität so disku- die Erkenntnisse aus diesen ersten Aufklärungskampa- tiert werden, dass es alle verstehen und nicht nur ein paar gnen zwischen den Ländern und dem Bund besser ver- Experten. netzt werden. Wir haben entsprechende Vorschläge in die Handlungsempfehlungen der Projektgruppe Medien- (Beifall bei der LINKEN) kompetenz eingebracht. Ich hatte die Hoffnung, dass wir den Alltag der Men- Ein Punkt, der in der Projektgruppe Medienkompe- schen aufnehmen und die gesellschaftlichen Auswirkun- tenz sehr stark umstritten war und kontrovers diskutiert gen auf die Lebens-, Produktions-, Arbeits- und Kom- wurde, war der Jugendschutz. Sie haben sicherlich noch munikationsweise debattieren. Ich nenne ein paar in Erinnerung, dass der Jugendmedienschutz-Staatsver- Beispiele. Wir buchen unsere Reisen online. Stellenan- trag vor knapp zwei Jahren auf Länderebene grandios gebote finden wir online. Bankgeschäfte werden online gescheitert ist. Es zeigt sich hier, dass der Grundsatz der erledigt. Blogs und soziale Netzwerke sorgen für eine Frequenzregulierung, der auf Landesebene immer noch neue Kommunikation. das Steuerungsinstrument für die Staatsverträge im Me- Was bedeutet das für die Politik? Welche Schlussfol- dienbereich ist, nicht mehr in das Zeitalter der digitalen gerungen ziehen wir daraus? Ich habe gedacht, in einer Medien passt. Wir haben in der Projektgruppe Medien- Enquete-Kommission könnten wir jenseits von Regie- kompetenz darauf hingewiesen und gesagt: In der Abwä- rungsfraktionen und Oppositionsfraktionen arbeiten. gung zwischen staatlichem Jugendschutz durch Staats- Das ist Parlamentarismus, der Spaß macht, wo das Argu- verträge und der Förderung und Stärkung des Einzelnen ment zählt und nicht die Fraktionszugehörigkeit. muss es eine ausgewogene Balance geben. Die Projektgruppe Medienkompetenz hat ihre Arbeit (Beifall bei der LINKEN) abgeschlossen. Die Diskussionen werden weitergehen, Die Politik ist aber wie das Leben, und Hoffnungen und auch die Gestaltungsaufgabe für uns im Parlament erweisen sich mitunter als Illusion. Das liegt nicht nur an wird weiterbestehen. Die FDP-Fraktion war und ist von den Mühen der Ebene und an vermeintlich unabänderli- Anfang an ein starker Partner in diesem Diskurs. Wir chen Gegebenheiten, sondern auch an fehlenden Visio- werden damit weitermachen. nen, mangelndem Mut und parteipolitischem Kalkül. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal den Böse Zungen behaupten, dass die Ergebnisse der Kollegen aus der Projektgruppe, den Mitarbeitern des (B) Enquete mager und enttäuschend sind. Ich muss sagen: (D) Sekretariats, die es nicht immer leicht mit uns hatten, An vielen Stellen haben wir eher in Legislaturperioden und natürlich auch unseren Sachverständigen und dem gedacht und kurzfristige Handlungsempfehlungen auf- 18. Sachverständigen aus den Reihen der Öffentlichkeit geschrieben, statt nach vorne zu schauen und weiter zu zu danken. denken als bis zum Jahr 2013. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Trotzdem gibt es einen sehr großen Erfolg für die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Enquete. Es gibt eine Sensibilisierung der Politik und al- der CDU/CSU) ler Parteien für Netzpolitik und die gesellschaftlichen Veränderungen, die das Internet mit sich bringt. Mittler- Präsident Dr. Norbert Lammert: weile ist allen klar: Eine Gesellschaftspolitik, die der Zu- Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin kunft zugewandt ist, kommt nicht mehr ohne Netzpolitik Wawzyniak das Wort. aus. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Alle Parteien wissen, dass sie ihre Konzepte auf den Halina Wawzyniak (DIE LINKE): anderen sogenannten Politikgebieten nur entwickeln Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- können, wenn sie die Veränderungen, die das Internet ren! Am Anfang stand ein großes Versprechen. Wir mit sich bringt, bedenken. Debatten über Urheberrecht, wollten die gesellschaftlichen Veränderungen durch das Datenschutz und Netzneutralität werden mittlerweile in Internet untersuchen. Wir wollten neue Wege der Bür- allen Parteien so geführt, dass nicht nur wenige Experten gerbeteiligung gehen. Wir wollten die Öffentlichkeit in darüber diskutieren. Insofern danke ich der Enquete. Sie besonderem Maße einbeziehen, verschiedene Beteili- hat dazu beigetragen, dass die Linke einen wunderbaren gungsformen entwickeln und Anregungen der Öffent- Abschnitt in ihrem Parteiprogramm zur Netzpolitik for- lichkeit in unsere Arbeit einfließen lassen. mulieren konnte. Allein hätten wir das vielleicht nicht (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Alles erledigt!) ganz geschafft. Vielen Dank! Was für eine Chance, habe ich gedacht. Ich hatte die (Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Hoffnung, dass wir Netzpolitik jenseits der herkömmli- Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chen parlamentarischen Zwänge diskutieren können, Herzlichen Glückwunsch! – Renate Künast dass der Fokus der öffentlichen Debatte etwas mehr auf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja 18322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Halina Wawzyniak (A) auch der Zukunft zugewandt! – Weitere Zurufe Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE (C) von der SPD) GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Ich glaube, wir haben in der Enquete ein wenig die Damen und Herren! Liebe Kollegin Wawzyniak, ange- Chance verpasst, die Unterschiede produktiv zu nutzen. sichts dessen, was du dir alles von der Enquete verspro- Manchmal ist zugespitzter Widerspruch besser als ein chen hast, muss ich sagen: Das ist ein bisschen naiv. Kompromiss um jeden Preis oder der Versuch, die ei- gene Position durchzudrücken; denn Letzteres führt zu (Zurufe von der LINKEN: Oh! – Halina einer Blockadehaltung und vergibt die Chance, den Wawzyniak [DIE LINKE]: Ich habe noch Sachverstand der Sachverständigen einzubeziehen. Wir Träume!) haben uns zu häufig in Formalien und Klein-Klein ver- Auch in einer Enquete wird Politik betrieben und gibt es fangen. Ich mache das kurz an drei Beispielen deutlich. die Mühen der Ebene. Damit müssen wir uns nun einmal auseinandersetzen. Ich möchte jetzt nicht nur das Kriti- Wir haben uns nicht von Anfang an dazu entscheiden sche, sondern auch das Positive der Enquete benennen. können, die Projektgruppen öffentlich tagen zu lassen. Entschuldigung, aber das schließt externen Sachverstand (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und aus. Wir haben es zunächst nicht geschafft, die Werk- der FDP) zeuge der Beteiligung, zum Beispiel ein Internettool zur Wir haben uns am Anfang aus gutem Grund darauf Beteiligung, zu implementieren, weil die Koalitions- verständigt, dass Bürgernähe und Partizipation für diese mehrheit das verhindert hat, und das, obwohl es ein wun- Enquete nicht nur theoretische Themen sein dürfen, die derbares Konzept der Sachverständigen gab. Dass wir wir mit Expertinnen und Experten besprechen und zu de- nun das Werkzeug haben, ist einer privaten Initiative zu nen wir am Ende etwas mehr oder weniger Schlaues auf- verdanken. Wir haben zudem die Abstimmung zu Netz- schreiben. Vielmehr haben wir gesagt: Eine neue Form neutralität und Datenschutz immer wieder verschoben, der Bürgerbeteiligung muss bereits Arbeitsgrundlage der weil die Gefahr bestand, dass Mehrheiten wanken. Enquete selbst sein. Das ist angesichts einer Entwick- lung unserer Demokratie, bei der sich immer weniger Was mich richtig nervt, ist die Tatsache, dass wir in Menschen richtig eingebunden und verstanden fühlen, der Enquete noch immer dem Verfahren Opposition ver- genau der richtige Schritt. sus Regierung verhaftet sind. Die Sachverständigen wer- den immer als Sachverständige der entsprechenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Fraktion bezeichnet. Nein, es sind Sachverständige der bei der CDU/CSU und der FDP) gesamten Enquete und nicht der einzelnen Fraktionen. (B) Die grundsätzliche Bearbeitung eines so breiten und (D) Wir tun immer so, als würden wir in der Enquete Ge- dynamischen Politikbereichs wie der Netzpolitik ist eben setze beschließen. Tatsächlich beschließen wir Hand- ein Prozess. Niemand hat fertige Antworten, weder hier lungsempfehlungen. Der Bundestag ist frei, diese Hand- im Haus noch außerhalb dieses Hauses. Natürlich ist es lungsempfehlungen aufzunehmen. Da kann man doch nicht so, dass der Deutsche Bundestag eine Enquete ein- ein bisschen mehr Mut haben. setzt und dass wir dann nach zwei Jahren mit dem Thema durch sind. Deswegen sollten wir allzu kleinliche (Beifall bei der LINKEN) Aufrechnungen und Vorhaltungen vermeiden und das Ich will dennoch ein bisschen positiv in die Zukunft Licht dieses Gremiums nicht zu sehr unter den Scheffel schauen. Wir haben jetzt noch mindestens ein halbes stellen; Jahr. Ich finde, wir sollten dieses halbe Jahr für einen Pa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und radigmenwechsel in wichtigen Punkten nutzen. Befreien der FDP) wir uns aus den strengen parlamentarischen Zwängen! Machen wir entsprechende thematische Vorschläge, und denn es gibt viel Positives zu bilanzieren. Kaum ein an- geben wir Handlungsempfehlungen, die über den Tag hi- deres Parlament in der Welt beschäftigt sich derzeit so nausgehen! Wir sollten den Mut haben, unterschiedliche intensiv und systematisch mit diesen für uns, für die mo- Positionen nebeneinanderstehen zu lassen. Wenn wir die derne Wissens- und Informationsgesellschaft so grundle- Chancen der Enquete nutzen wollen, sollten wir uns auf genden Fragen. ein Verfahren verständigen, das Neugier, Interesse und (Zuruf von der CDU/CSU: Das will ich mei- Lust auf Einmischung weckt, neue Wege der politischen nen! – [SPD]: Aber ei- Teilhabe beschreiten und neue Diskussionskulturen eta- nige Parlamente haben es schon hinter sich!) blieren. Wir als Enquete sollten Vorbild sein für eine mo- derne, transparente und beteiligungsorientierte Politik. Wir haben mit der Enquete die Einbindung externen Die Linke macht das auf jeden Fall mit. Sachverstands in unsere Arbeit institutionalisiert, und zwar von der Wissenschaft und den Datenschützern über (Beifall bei der LINKEN) den CCC und die Bloggern bis zum BITKOM und der Verbraucherzentrale. Hinzu kommen viele kluge Men- schen, die uns in Anhörungen beraten. Durch diesen In- Präsident Dr. Norbert Lammert: put, aber auch dank unserer sehr engagierten Mitarbeite- Das Wort erhält nun der Kollege Konstantin von rinnen und Mitarbeiter – das muss man bei der Arbeit, Notz. die da angefallen ist, wirklich einmal sagen – sowie des Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18323

Dr. Konstantin von Notz (A) Sekretariats der Enquete, aber auch dank des Engage- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) ments des Teams von Adhocracy wird der Output, den und bei der SPD – Thomas Jarzombek [CDU/ diese Enquete erzeugt, für unsere zukünftige Arbeit, so CSU]: Bis auf das Letzte war es ganz gut!) glaube ich, sehr wertvoll sein. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die bislang vorliegenden Zwischenberichte samt Das Wort erhält nun der Vorsitzende der Enquete- Handlungsempfehlungen sind nicht nur eine grundle- Kommission, . gende Positionsbestimmung, sondern sie werden als Kompass die netzpolitische Debatte der nächsten Jahre (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in diesem Haus maßgeblich begleiten. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Ich freue mich besonders, dass wir unserem An- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spruch, den fundamentalen Umbrüchen mit entspre- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor 13 Jah- chend progressiven Ansätzen zu begegnen, ganz über- ren die Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in wiegend gerecht werden, sowohl beim Datenschutz als Wirtschaft und Gesellschaft“ dem Deutschen Bundestag auch bei der Netzneutralität, bei Fragen der Medienkom- ihren Schlussbericht vorlegte, fand sich dort ein bemer- petenz und beim Urheberrecht. Wer hätte am Anfang der kenswerter Satz. Er lautete: „Kein Stein wird auf dem Arbeit dieser Enquete-Kommission gedacht, dass sich anderen bleiben!“ der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend einsetzt gegen Netzsperren, für mehr Open Data, für verbessertes Vor 13 Jahren hatten 6,6 Millionen Menschen in E-Government, für mehr Open-Source-Lösungen, für Deutschland Zugang zum Internet. Heute sind es 52 Mil- mehr Creative-Commons-Modelle, für die Privatkopier- lionen, drei Viertel der Bevölkerung. Wenn man sich an- regelung bei Downloads, für die Netzneutralität und für schaut, wie Menschen in Deutschland heute Informatio- eine grundlegende Weiterentwicklung des bestehenden nen einholen, wie sie in Kontakt mit Freunden bleiben Urheberrechts? Das haben wir alle gemeinsam zu Papier oder wie sie ihre Arbeit organisieren, dann stellt man gebracht. Das alles sind harte Weichenstellungen, und fest: Das hat sich in den letzten 13 Jahren tatsächlich sie alle gehen in die richtige Richtung. Liebe Kollegin- sehr verändert. Diese Entwicklung ist noch lange nicht nen und Kollegen, damit kann man sehr zufrieden sein. an ihr Ende gekommen. Neben diesen inhaltlichen Einsichten gibt es auch Po- Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Ge- sitives bei der Form, wie gearbeitet wird. Da ist nicht nur sellschaft“ hat im Mai 2010 ihre Arbeit aufgenommen. Adhocracy, die wir weiterzuentwickeln versuchen. Bereits bei der ersten Sitzung wurde deutlich, dass die (B) Heute werden alle Sitzungen der Enquete und auch die 34 Mitglieder dieser Enquete unser Thema aus vielen un- (D) terschiedlichen Perspektiven behandeln werden. Wenn Sitzungen einer Reihe von Projektgruppen gestreamt. Unternehmer, Blogger, Journalisten, Künstler, Juristen, Zudem finden alle Anhörungen öffentlich und mit Betei- Wissenschaftler, Gewerkschafter, Programmierer, Ver- ligungsmöglichkeiten statt. Das alles ist nicht perfekt, waltungsfachleute und Abgeordnete zusammenarbeiten, aber, ich finde, es ist ein Anfang, und wir sind auf dem kann es dabei nur kontrovers und spannend zugehen. richtigen Weg. Diese Erwartung hat sich erfüllt. Bisher lässt sich Ich bin unter dem Strich zuversichtlich, dass diese feststellen, dass sich der Satz „Kein Stein wird auf dem Enquete trotz der überhöhten Erwartungen und des bru- anderen bleiben“ auch heute ohne Mühe für den Bericht talen Zeitdrucks, der sich entwickelt hat, letztlich ihren der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell- Auftrag erfüllen wird. Ich erwarte aber auch, dass dann schaft“ verwenden ließe; denn die Entwicklung geht die Bundesregierung beginnt, gemeinsame Handlungs- weiter. Sie nimmt sogar an Dynamik zu. empfehlungen umzusetzen Was sich in den letzten 13 Jahren nicht sehr verändert (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das haben hatte, waren die politische Wahrnehmung des Themas wir beim TKG schon gemacht!) Internet und die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft. Nicht nur in Deutschland konnte sich – genau, Herr Jarzombek – und in der Tagespolitik nicht, das Thema Internet mit dem Etikett „klein, aber fein“ wie zuletzt beim Telekommunikationsgesetz, genau in schmücken. Mit Ausnahme der USA, wo das Netz seit die andere Richtung zu rudern. Das ist ein hoch wider- dem Wahlkampf von Barack Obama 2008 einen eigenen sprüchliches Verhalten. politischen Raum erobert hat, fristete das Thema Internet in der Politik ein Schattendasein. Erst in jüngster Zeit ist Am Ende reichen die warmen Worte, die Sie im Ko- das Thema mehr ins Zentrum der politischen und media- alitionsvertrag aufgeschrieben haben, und die Einset- len Öffentlichkeit gerückt. Dabei wird deutlich, dass das zung der Enquete selbst nicht aus. Der Gesetzgeber muss Internet mehr als nur ein weiteres technisches Medium tätig werden: bei der Netzneutralität, beim Datenschutz ist, das einige mehr und andere weniger versiert nutzen in der digitalen Welt, bei der Reform des Urheberrechts können. und in vielen anderen Bereichen. Da können Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich nicht hinter Das Netz ist für viele Menschen ein neuer kultureller, dieser Enquete wegducken. wirtschaftlicher und sozialer Raum, in dem sie viele Frei- räume haben. In diesem neuen sozialen Raum müssen die Ganz herzlichen Dank. Grenzen der Freiheit des Einzelnen neu verhandelt wer- 18324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) den. Lange Zeit waren die durchaus vorhandenen politi- Erfahrungen sammeln können, und darauf können wir (C) schen Debatten rund um die Digitalisierung von vielen aufbauen. Politikern nicht wahrgenommen worden. Das ändert sich nun zusehends. In aller Bescheidenheit glaube ich, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dies auch ein wenig mit der Arbeit der Enquete-Kommis- Meine sehr geehrten Damen und Herren, in dieser sion „Internet und digitale Gesellschaft“ zusammen- Woche haben die Betreiber der Internetplattform Wiki- hängt. pedia ihr englisches Informationsangebot für einen Tag aus dem Netz genommen. All diejenigen, die darauf zu- Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Ge- greifen wollten, konnten das nicht. Als Grund dafür sellschaft“, die heute ihren Zwischenbericht vorlegt, ist wurde angegeben, dass die verantwortlichen Betreiber derzeit das einzige parlamentarische Gremium der Welt, zwei Gesetzesinitiativen in den USA missbilligen und das sich derart umfassend, tiefgreifend und dabei the- deren Verabschiedung verhindern wollen. menübergreifend mit den Herausforderungen der Digita- lisierung für unsere Gesellschaft beschäftigt, und darauf, Dieser Vorgang zeigt mir, wie wichtig es ist, in unse- denke ich, sollten wir alle stolz sein. rer vernetzten Welt zu Spielregeln zu kommen, die ver- lässlich eingehalten werden. Denn wer sich auf das Netz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verlassen soll, der darf nicht verlassen sein. Wir haben damit begonnen, uns die Fragen zu stellen, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE die die Digitalisierung der Gesellschaft mit sich bringt: GRÜNEN]: Das stimmt!) Wie wollen wir die neuen digitalen Räume gestalten? Warum gibt es kein deutsches Silicon Valley? Wie gehen Ist es legitim, wenn vergleichsweise wenige mit ihrem wir mit dem Problem der digitalen Spaltung um, also mit Einfluss im Netz viele beeinträchtigen können? Wie ge- der Tatsache, dass längst nicht alle Menschen Zugang hen wir mit neu entstehenden Abhängigkeiten um? Wie zum Netz haben und es nutzen können? Und nicht zu- demokratisch soll bzw. kann die digitale Gesellschaft letzt: Wie und wo setzen wir Grenzen, beispielsweise bei funktionieren? Es werden viele Fragen der Ethik, der Le- der Frage nach einem besseren Schutz vor Kriminalität, gitimität, der politischen Beteiligung, des Gesetzesvoll- aber auch bei den Schutzbedürfnissen von Urhebern und zugs und vieles andere mehr aufgeworfen, die verbind- Verbrauchern? lich zu klären sind. Ich muss gestehen, zu Beginn unserer Arbeit über- Vor diesem Hintergrund freue ich mich auf eine wei- rascht darüber gewesen zu sein, wie kontrovers die Dis- terhin intensive Diskussion innerhalb der Enquete-Kom- kussionen verliefen und wie weit die Positionen teil- mission; denn, meine Damen und Herren, auf diese Fra- (B) weise auseinanderlagen. Das lag sicherlich zum Teil gen müssen wir Antworten geben. (D) daran, dass wir uns die großen Themen, die kontrovers diskutiert wurden, zuerst vorgenommen haben: Netzneu- Herzlichen Dank. tralität, Datenschutz und Urheberrecht. Es lag aber mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ner Meinung nach auch daran, dass diese Diskussionen in dieser Breite so bisher überhaupt nicht geführt worden Präsident Dr. Norbert Lammert: waren. Bislang waren die Gruppen und Gleichgesinnten unter sich geblieben, Gegenrede war kaum zu befürch- Die Kollegin Aydan Özoğuz ist die nächste Rednerin ten. Der politische Mainstream hatte das Thema bisher für die SPD-Fraktion. nicht oder kaum zur Kenntnis genommen. (Beifall bei der SPD) Aufgrund der Arbeit der Enquete-Kommission sind die Positionen jetzt klarer, mit mehr Argumenten unter- Aydan Özoğuz (SPD): füttert und durchdachter. Die Kommission hat sich in ei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ner sehr zeitgemäßen Weise geöffnet und dabei neue Arbeit der Projektgruppe Medienkompetenz, von der ich Wege der Bürgerbeteiligung beschritten. Die Kommissi- berichten darf, hat bisher vielleicht am besten aufge- onssitzungen sind zumeist live oder zumindest zeitver- zeigt, für was eine Enquete-Kommission eigentlich gut setzt online zu verfolgen. Eine eigens eingestellte Online- ist: für eine konstruktive gemeinsame Arbeit mit großer Redakteurin schreibt Artikel über alle Projektgruppensit- Bereitschaft, dazuzulernen und sich auch auf verschie- zungen. In einem Blog und einem Forum werden Mei- dene Ergebnisse zu verständigen. Das kann man ja leider nungen ausgetauscht, auf Twitter wird berichtet. Seit Fe- nicht für die gesamte Arbeit der Enquete-Kommission bruar letzten Jahres ist es zudem möglich, auf einer sagen, wie wir schon gehört haben. Beteiligungsplattform die Arbeitspapiere der Kommis- sion in einem frühen Stadium zu kommentieren und ei- Der Zwischenbericht zum Thema Medienkompetenz gene Vorschläge zu machen, und schon heute kann ich kann sich jedenfalls aus meiner Sicht wirklich sehen las- feststellen: Die Beteiligung der Bürger hat unsere Arbeit sen. Dazu haben vor allem die Sachverständigen beige- sehr bereichert. Die Zahl der Bürger, die das Angebot ge- tragen, von denen ich zwei namentlich erwähnen nutzt haben, blieb zwar unter unseren Erwartungen, die möchte, die nachweislich einen sehr großen Anteil an Qualität der Beiträge übertraf sie jedoch bei weitem. diesem Bericht haben. Das ist zum einen Professor Wolfgang Schulz vom Hans-Bredow-Institut, zum ande- Wir haben bei diesem bisher einmaligen Experiment ren ist das Professor Ring, ehemals KJM-Vorsitzender. in der Geschichte des Deutschen Bundestages wertvolle Beide verdienen wirklich Dank und Anerkennung. Ich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18325

Aydan ÖzoÖzoðuzğuz (A) glaube, Herr Jarzombek, da werden Sie mir auch zustim- Medienkompetenz ist somit nicht nur der Schlüssel zur (C) men. Teilhabe an der digitalen Gesellschaft. Fehlende Medien- kompetenz hat vielmehr ganz konkrete Auswirkungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf die Offlinewelt. Medienkompetenz hat erhebliche der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Auswirkungen auf gesellschaftliche Teilhabe, Bildung SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/ und sozialen Aufstieg. Mittlerweile ist sie unverzichtbar CSU: Machen wir auch!) geworden. Das gilt vor allem für die Bereiche Schule, – Sie auch, das ist schön. – Wer glaubt, dass es bei den Ausbildung und Beruf. In der Enquete-Kommission ha- Diskussionen keine Bandbreite gab, dem möchte ich nur ben wir hierfür den Begriff „digitale Selbstständigkeit“ mitteilen, dass neben besagtem Professor Ring auch geprägt. Damit ist gemeint, dass jede Bürgerin und jeder Alvar Freude Mitglied in dieser Projektgruppe war. Da- Bürger in der Lage sein soll, alle Möglichkeiten der digi- mit ist wohl klar, dass wir durchaus eine ganze Reihe talen Gesellschaft selbstständig zu nutzen und sich von unterschiedlichen Meinungen zusammenbringen gleichzeitig aber auch vor den damit verbundenen Risi- mussten. ken möglichst gut schützen zu können. Das ist unser Ziel. Ich vermute einmal, dass jeder hier im Raum schon Wir haben einige Handlungsempfehlungen formu- einmal die Forderung nach mehr Medienkompetenz er- liert. Ich möchte nur ganz wenige herausgreifen. Herr hoben hat oder zumindest davon gehört hat. Der Begriff Blumenthal hatte die erste bereits erwähnt. Es gibt viele löst ja seit einiger Zeit sehr unterschiedliche Reaktionen wirklich tolle Initiativen und Projekte. Natürlich ist es aus. Die einen können ihn kaum noch hören, weil sie Aufgabe von Bund und Ländern, diese Initiativen und sich seit Jahrzehnten damit beschäftigen. Die anderen Projekte zu bündeln, besser aufeinander abzustimmen wiederum finden, dass es noch viel zu tun gebe, beson- und miteinander zu vernetzen. Darin waren wir uns völ- ders in Bildungseinrichtungen, aber auch in Elternhäu- lig einig. Bund und Länder müssen die Aus- und Weiter- sern, und dass wir erst am Anfang des Weges stünden. bildung von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen Ich finde, dass beide Seiten recht haben und dass es nicht und Erziehern, Hochschullehrerinnen und Hochschul- nur eine Frage der Zeit ist, bis sich hierfür eine Lösung lehrern und Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen abzeichnet. Auch neue Generationen wachsen ja nicht – die möchte ich noch hinzufügen – an die Medienwirk- geschlossen mit den gleichen Möglichkeiten, der glei- lichkeit anpassen. Medienkompetenz muss ein wichtiger chen Ausstattung oder der gleichen Förderung auf, was Baustein in der Aus- und Weiterbildung werden. An die gerade in der digitalen Welt zu großen Nachteilen führen Länder wiederum richtet sich der Appell, medienpäda- kann. gogische Inhalte stärker und verpflichtend in den Lehr- plänen aller Schularten zu verankern. Wir wissen, dass (B) Unbestritten ist, dass der Begriff „Medienkompetenz“ neue Medien nicht an Staatsgrenzen haltmachen und (D) in den letzten Jahren sehr inflationär gebraucht wurde. schon gar nicht an den Grenzen von Bundesländern. Medienkompetenz gilt vielen auch als das Allheilmittel für diverse Probleme und Phänomene im Internet. So Spätestens die Schule muss der Ort sein, an dem Kin- wird ganz verzweifelt nach Medienkompetenz gerufen, der mit neuen Medien in Berührung kommen. Deswegen wenn zum Beispiel Seniorinnen oder Senioren in Abo- empfiehlt die Kommission die Ausstattung aller Schüle- fallen tappen, wenn Schülerinnen und Schüler zu Mob- rinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I mit einem bingopfern im Internet werden und ihre Eltern, sofern sie mobilen Endgerät. An dieser Stelle ist es mir besonders es überhaupt erfahren, hilflos danebenstehen oder wenn wichtig, hervorzuheben, dass diese Forderung nur im Eltern für die illegalen Downloads ihrer Sprösslinge zah- Gleichklang mit neuen digitalen Bildungskonzepten ein- len müssen. hergehen kann. Die SPD-Fraktion hat hierzu ein Sonder- votum eingebracht: Wir sagen, der weitere Ausbau der Mitunter wundere ich mich auch über die Freizügig- Hardwareausstattung oder die Ausstattung aller Schüle- keit, mit der Bilder und private Daten im Netz veröffent- rinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten sind nur licht werden. Ein Gespräch mit älteren Jugendlichen dann sinnvoll, wenn Lehrerinnen und Lehrer damit kom- zeigt häufig, dass diese den jüngeren Jugendlichen eher petent und souverän umgehen können und wenn Bil- davon abraten, allzu viel Freizügigkeit im Netz walten dungskonzepte dafür vorliegen, wie Computer sinnvoll zu lassen. in den Unterricht zu integrieren sind. Eine bloße Aus- stattung um der Ausstattung willen halten wir nicht für Ich zitiere zur Rolle der Nutzerinnen und Nutzer in ei- zielführend. ner digitalen Öffentlichkeit aus unserem Bericht: Natürlich ist eine solche Ausstattung auch nicht kos- Als Ziel hat die Enquete-Kommission daher die tenlos zu bekommen. Hier müssen wir alle konstruktiv aufgeklärten Nutzerinnen und Nutzer im Blick, die zusammenarbeiten und nach Lösungen suchen, damit sich beispielsweise durch kreatives Schaffen der jede Schülerin und jeder Schüler unabhängig von der Medien bedienen und dabei verantwortungsvoll mit Herkunft einen gleichwertigen mobilen Computer be- eigenen persönlichen Daten und respektvoll mit den kommt. Daten anderer Nutzer in den Medien umgehen. Die Enquete-Kommission betrachtet die Nutzer inter- Ebenso möchte ich die Eltern in den Blick nehmen. aktiver Medien ausdrücklich mehrdimensional: als Es bedarf eines Bewusstseins der Eltern für ihre medien- Sender und Empfänger, als Konsumenten und Pro- pädagogische Verantwortung. Dazu brauchen wir ein duzenten, als Wissende und Lernende. niedrigschwelliges Beratungsangebot für Eltern. 18326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Aydan ÖzoÖzoðuzğuz (A) Zuletzt möchte ich erwähnen, dass die Enquete-Kom- uns sogar gestritten. Aber vor allem haben wir viel von- (C) mission die Forderung erhoben hat, die Forschung im einander gelernt. Bereich Medienkompetenz zielgerichtet voranzutreiben, Die Ergebnisse der Projektgruppen für Medienkom- da es dort noch große Lücken gibt. Hier möchte ich petenz, Urheberrecht, Datenschutz und Netzneutralität meine Verwunderung über die Koalition zum Ausdruck sind bereits angesprochen worden. Lassen Sie auch mich bringen: einige Worte zur Projektgruppe Netzneutralität sagen. (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das war so gut Ich glaube, dass man mit Fug und Recht behaupten bis jetzt!) kann, dass die Projektgruppe Netzneutralität einen gro- Die SPD-Fraktion hat bei den Beratungen zum Bun- ßen Anteil daran hatte, mit welchem Enthusiasmus, mit deshaushalt 2012 den Antrag gestellt, ein neues länger- welchem öffentlichen Widerhall ein vermeintliches Or- fristig angelegtes Programm zur Medienkompetenzfor- chideenthema wie Netzneutralität im letzten Jahr disku- schung zu initiieren. Der Antrag wurde von Ihnen, meine tiert wurde. Dies geschah nicht nur in den Blogs und in Damen und Herren von der Koalition, einfach abgelehnt. den IT-Magazinen, also in den üblichen Verdächtigen, Herr Blumenthal sprach eben von einem Gestaltungsauf- sondern auch in der Mainstream-Presse. Nach ausführli- trag. Im ersten Moment, in dem die Gelegenheit dazu ge- chen und zu großen Teilen konstruktiven Diskussionen, wesen wäre, haben Sie leider schon gleich wieder Nein nach Anhörung der Fachleute und Experten waren wir gesagt. Das bedauern wir sehr. uns in der Analyse und sogar im Ziel einig. Der einzige Unterschied bestand am Ende darin, wie wir dieses Ziel Vielen Dank. eines diskriminierungsfreien, neutralen Netzes sichern. (Beifall bei der SPD – Sebastian Blumenthal Die Frage war, ob es einer sofortigen gesetzlichen Re- [FDP]: Da bleiben wir dran!) gelung bedarf oder eben nicht. Gerade diejenigen, die immer zu Recht vor einer zu großen Einmischung des Vizepräsidentin : Staates warnen, sehen hier auf einmal einen akuten staat- Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz für die FDP- lichen Regulierungsbedarf. Das Internetprotokoll wurde Fraktion. doch einst so entwickelt, dass es selbst einen Atomkrieg überstehen kann. Es hat in der Vergangenheit auch eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ganze Reihe von Innenministern überstanden. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Jimmy Schulz (FDP): Wir brauchen keine Vorratsgesetzgebung. (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten (D) Kolleginnen und Kollegen! Natürlich begrüße ich auch (Beifall bei der FDP – Halina Wawzyniak die Zuschauerinnen und Zuschauer und Zuhörerinnen [DIE LINKE]: Nein! Wir brauchen eine ge- und Zuhörer auf den Zuschauerrängen und zu Hause setzlich vorgeschriebene Netzneutralität! – ganz herzlich. Gerold Reichenbach [SPD]: Haben Sie so et- was in der Vergangenheit nicht zur Bankenre- (Thomas Oppermann [SPD]: Die im Netz bitte gulierung gesagt?) auch begrüßen! – Renate Künast [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zu Hause an den Aber angesichts der breiten Debatte können wir feststel- Rundfunkgeräten! – Thomas Jarzombek len, dass die Zeit, in der man beklagen musste, dass [CDU/CSU]: Sie müssen die Antenne erden!) Netzthemen in der Politik nicht gehört werden, endgültig vorbei ist. – Ja, genau. Wir dürfen eines nicht vergessen: Aufgabe der En- Der Abschluss der ersten Projektgruppenstaffel ist ein quete ist es, Leitlinien für die Netzpolitik der Zukunft zu guter Anlass, auf die Arbeit der Internet-Enquete bis entwickeln. Allzu oft haben wir uns in den letzten Mona- heute zurückzublicken. Nachdem das Thema Netzpolitik ten aber in Diskussionen über Kommata und Fußnoten bislang sträflich vernachlässigt wurde, ist es nun durch verloren. Wir haben uns sehr auf Details bestehender die Enquete ins Zentrum der politischen Aufmerksam- Gesetze und Regeln konzentriert, sodass wir zu oft den keit gerückt worden. Blick für das Große und Ganze verloren haben. Das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bringt uns nicht weiter. Wir müssen in den kommenden der CDU/CSU) Projektgruppen darauf achten, uns nicht in der Tages- politik zu verlieren, sondern uns den Sinn für Visionen Wir haben Politik, Wissenschaft, Netzgemeinde und Inter- zu erhalten. netwirtschaft auf Augenhöhe an einen Tisch gebracht – Bei der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ha- nicht nur kurzfristig, sondern über einen mehrjährigen ben wir neue Maßstäbe in der parlamentarischen Arbeit Zeitraum, der Platz lässt für tiefgreifende Diskussionen. gesetzt. Die auch unter www.demokratie.de zu errei- Die Aufteilung der Arbeit in thematische Projekt- chende Beteiligungsplattform Adhocracy ermöglicht es gruppen hat es uns ermöglicht, unsere Themen von allen jedem, Vorschläge zu machen, über Ideen zu diskutieren Seiten zu beleuchten. Das ist keineswegs selbstverständ- oder sogar darüber abzustimmen. Natürlich wünsche lich. Wir haben intensiv und konstruktiv diskutiert, wie auch ich mir eine breitere Beteiligung. Aber die Diskus- schon mehrfach hier hervorgehoben wurde. Wir haben sion ist anregend, und der Anfang ist gemacht für, wie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18327

Jimmy Schulz (A) ich hoffe, ein neues Miteinander zwischen Politik und Bei altersgerechter und interaktiver Medienbildung (C) Gesellschaft. wird zumeist zuerst an Kinder und Jugendliche gedacht. Nachholbedarf – das haben die Diskussionen in der Me- Doch was bleibt am Ende? Was kommt nach der diengruppe gezeigt – haben vor allem ältere Generatio- Enquete? Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das nen. Gerade Erwachsene müssen sich permanent im Thema Internet und Digitalisierung in Zukunft behan- Umgang mit digitalen Medien fortbilden. Wie die CDU, deln wollen. Wir müssen einen Weg finden, die Diskus- insbesondere Herr Altmaier, dokumentiert, können dazu sion über das Internet positiv zu besetzen. Die Debatte sehr schöne Erlebnisse erzählt werden. Herr Altmaier wird leider viel zu oft verengt geführt und befasst sich hat es wunderbar zelebriert, wie man sich das Netz bei nur mit dem Bahnhofsviertel des Internets. Ich will die der politischen Arbeit erobern kann. Ältere können also Chancen, die das Netz uns bietet, beleuchten und zum durchaus ihre Scheu vor immer neuen Geräten überwin- Zentrum der Diskussion machen. Wir können vom Inter- den und sie interaktiv nutzen. net und von der Digitalisierung so stark profitieren. Es ist unangebracht, dass wir den Blickwinkel zu sehr auf (Beifall bei der LINKEN) die negativen Seiten einschränken. Allerdings gibt es viel zu wenig Forschung zur Me- Die Enquete funktioniert, weil sie unterschiedliche dienbildung Erwachsener. Als Forschungspolitikerin be- Fachrichtungen zusammenbringt: Innen- und Rechts- grüße ich daher ausdrücklich, dass die Internet-Enquete politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, Bildung und eine Stärkung der Wissenschaft in diesem Bereich ein- Forschung und sogar Familienpolitik. Digitalisierung fordert. berührt uns alle und in allen Lebensbereichen. Sie muss Wir waren uns auch noch relativ einig, dass Medien- deshalb auch politisch fachübergreifend behandelt wer- bildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet den. Ich spreche mich deshalb hier und heute dafür aus, werden muss, sie aber in Deutschland einen noch viel zu der Netzpolitik den Raum zu geben, den sie braucht: ei- geringen Stellenwert einnimmt. In der sogenannten Bil- nen eigenen Ausschuss und damit einen dauerhaften dungsrepublik sind wir meilenweit davon entfernt, Me- Platz im deutschen Parlament. dienbildung strukturiert und dauerhaft in unseren Bildungs- einrichtungen anzubieten. Doch wie fast immer, wenn es Vielen Dank. um soziale Gerechtigkeit geht, hörte dann die fraktions- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten übergreifende Einigkeit auf. Was meine ich damit? Um- der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Guter fassende Medienbildung kann nur funktionieren, wenn Ansatz!) auch alle einen Medienzugang haben. Digitale Medien dürfen kein exklusives Spielzeug gut situierter Schichten (B) bleiben. Deshalb muss auch für sozial Schlechtergestellte (D) Vizepräsidentin Petra Pau: die Anschaffung und der Besitz von internetfähigen End- Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte für die geräten möglich werden. Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich sage es noch einmal, auch wenn es die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, SPD und FDP nicht so Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): gerne hören und mir nicht zugestimmt haben: Ein paar Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Euro mehr beim Hartz-IV-Satz für den Internetanschluss Projektgruppe Medienkompetenz haben wir es, anders als nutzen nichts, wenn sich die Leute am Ende nicht einmal beispielsweise in der Gruppe Urheberrecht, tatsächlich einen Computer leisten können. über weite Teile geschafft, mit den Sachverständigen (Beifall bei der LINKEN – Aydan Özoğuz wirklich inhaltsorientiert und konsensual zu arbeiten. So [SPD]: Das haben wir nur aufgeschoben! Das sehe ich es zum Beispiel als großen Fortschritt an – es wollen wir prüfen!) wurde schon erwähnt –, dass wir Jugendmedienschutz nunmehr von einem neuen Ausgangspunkt denken: weg Fazit: Internetfähige Hardware muss künftig zum Exis- vom vormundschaftlichen Verbotsdenken gegenüber Ju- tenzminimum in unserer Gesellschaft gehören. gendlichen hin zu mehr Vertrauen auf die Fähigkeiten von (Beifall bei der LINKEN) Jugendlichen, Medien sinnvoll und selbstbewusst nutzen zu können. Einig waren wir uns allerdings bei der Frage eines Notebooks für jede Schülerin und jeden Schüler. Wenn (Beifall bei der LINKEN) wir es unabhängig vom Geldbeutel der Eltern schaffen, Praktisch heißt das dann auch, Altersfreigaben von Fil- diese Notebooks jeweils in den Schulranzen zu bekom- men oder Spielen für Jugendliche im Netz infrage zu stel- men, wäre es eine richtig gute Sache. In vielen Ländern len und daraus keine Glaubenskämpfe zu machen. – Herr ist das längst der Fall. Wie visionär ein solches Projekt Brüderle, wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir nicht ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass die KMK das Ihren Rücken zuwenden? – Jetzt geht er sogar. Schade, letzte Mal vor vier Jahren eine Erhebung zur IT-Ausstat- gerade bei dieser Debatte. tung deutscher Schulen durchgeführt hat. Natürlich dür- fen Schülernotebooks nicht auf geschlossene Betriebs- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben Sie jetzt systeme oder auf bestimmte Programme eingeschränkt mit Ihrem blöden Hinweis erreicht!) werden. Natürlich müssen Lerninhalte offen und flexibel 18328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Petra Sitte (A) gestaltet werden. Natürlich brauchen wir digitale Schul- Die teils unerfreulichen Begleitumstände der (C) bücher. Warum sollen Kinder und Jugendliche kiloweise Enquete-Kommission sollen uns nicht vollends von den Papier durch die Gegend schleppen, wenn wir Lernmate- Inhalten ablenken. Stellen Sie sich daher bitte drei Sze- rial digital anbieten können, narien vor: Ein älterer Herr sucht im Internet nach einem Kochrezept und tappt dabei in eine Abofalle; (Beifall bei der LINKEN) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lernmaterial übrigens, das Lehrerinnen und Lehrer in NEN]: Das ist doch Ole von Beust!) der Unterrichtsvorbereitung kollaborativ, also gemein- sam erstellen und jederzeit aktualisieren können? Das ein Teenager stellt unbedacht alberne Fotos von sich bei wäre natürlich aber auch nur möglich, wenn wir es end- Facebook ein und wird zum Gespött der Schule; ein lich schaffen, das Urheberrecht an diesem Punkt anzu- Politiker twittert einen missverständlichen Kommentar, passen. Wir warten bis heute auf den Dritten Korb der und eine virtuelle Welle der Empörung bricht über ihn Urheberrechtsnovelle. Deshalb muss Schluss sein mit herein, sein Name wird sogar Trending Topic. der Verzögerung der Urheberrechtsnovelle. Die Ände- Tja, werden Sie sagen, wären diese drei nur medien- rungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich müssen kompetenter gewesen. – Alle rufen immer nach Medien- endlich erfolgen. Alles andere würde bedeuten, Wissens- kompetenz, wenn es darum geht, Menschen vor Fehlern potenziale des Internets fahrlässig auszubremsen. im Internet zu bewahren. Selbst beim höchstumstrittenen Die Projektgruppe Medienkompetenz hat für die On- Jugendmedienschutz-Staatsvertrag waren sich alle einig: lineoffensive durchaus gute Vorschläge gemacht. Die Wir brauchen mehr Medienkompetenz. – Wie aber die- Linke hat ihre Reformvorschläge für das Urheberrecht, ses Mehr an Medienkompetenz genau aussehen muss, wie beispielsweise die Bildungs- und Wissenschafts- daran scheiden sich die Geister. schranke oder die Förderung von Open Access, längst in Medienbildung darf nicht der kleinste gemeinsame den Bundestag eingebracht. Hier wie dort darf die Re- Nenner sein. Wir stehen in Zeiten des digitalen Wandels gierung kopieren, kopieren, kopieren – und sie muss des- vor einer Mammutaufgabe. Deshalb ist es gut, dass wir wegen nicht einmal zurücktreten. es in der Projektgruppe Medienkompetenz geschafft ha- ben, uns weitgehend auf einen Text zu einigen. Dabei (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der will ich drei wichtige Punkte herausstreichen: FDP: Meine Güte!) Erstens halte ich es für wichtig, dass die bereits vor Ich bedanke mich. drei Jahren im medienpädagogischen Manifest beklagte „Projektitis“ endlich eingedämmt wird. Bewährte An- (B) Vizepräsidentin Petra Pau: sätze müssen wir ausweiten und verstetigen. Wir wollen (D) Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Frak- keinen blinden Aktionismus und auch nicht, dass Me- tion Bündnis 90/Die Grünen. dienbildung zu Profilierungszwecken instrumentalisiert wird. Deshalb empfehlen wir im Bericht, dass bei ge- planten Maßnahmen zunächst der Bedarf erhoben wird, Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ziele definiert und die Ergebnisse evaluiert werden. Vor Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! allem aber fordern wir eine stärkere und verpflichtende Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist einiges Kriti- Verankerung von medienpädagogischen Inhalten in den sches über die Arbeit in der Enquete-Kommission gesagt Lehrplänen und in der pädagogischen Ausbildung. worden. Im Gegensatz zu den Projektgruppen Daten- schutz, Urheberrecht und Netzneutralität kann man die Zweitens ist mir wichtig, dass die Aktivitäten im Be- Projektgruppe Medienkompetenz geradezu als Hort der reich Medienpädagogik besser vernetzt werden, denn sie Harmonie bezeichnen. ziehen sich durch viele Politikfelder. Das wurde von ei- nigen Rednern bereits benannt. Es gibt zahlreiche Initia- Wir haben zwar in der Sache hart diskutiert, insge- tiven und Projekte. Damit aber nicht überall das Rad neu samt waren die Beteiligten jedoch alle an einem Konsens erfunden werden muss und sich erfolgreiche Ansätze interessiert. An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten verbreiten können, muss es einen regen Austausch ge- ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danken, nicht ben. Der Bund kann hier eine koordinierende Rolle über- zuletzt denjenigen, die sich über die Beteiligungsplatt- nehmen. form Adhocracy eingebracht haben. Wir haben in dieser Projektgruppe tatsächlich fast alle Vorschläge einarbei- (Zuruf von der FDP: Das sagen Sie mal den ten können. Händlern!) Drittens halte ich es für wichtig, dass wir Medien- Ich hoffe, dass die aktuellen und künftigen Projekt- kompetenz nicht nur als Mittel zur Risikovermeidung se- gruppen sich ein Beispiel an der Projektgruppe Medien- hen, was sie meiner Ansicht nach auch gar nicht leisten kompetenz nehmen; denn im Endeffekt schaden die kann. Wir können höchstens Risiken minimieren. Nein, Querelen in der Enquete-Kommission dem Ansehen die- Medienkompetenz ist viel mehr: Sie befähigt zur gesell- ses Hauses insgesamt. Die vorangegangenen Reden ha- schaftlichen Teilhabe im digitalen Raum. ben mir gezeigt, dass alle Kolleginnen und Kollegen eine konstruktive Fortführung und einen erfolgreichen Im Bericht haben wir daher nicht nur die Chancen der Abschluss unserer Arbeit wollen. Ich hoffe, das bleiben neuen Medien herausgestellt, sondern auch die Risiken keine Lippenbekenntnisse. benannt. Ja, man kann viele Fehler machen, wenn man Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18329

Tabea Rößner (A) sich im Internet bewegt; man kann sich aber auch groß- Bundestag gewählt wurde, habe ich mich gefragt: Wo (C) artige neue Möglichkeiten erschließen. Für beides kann ich all das Wissen, das ich gesammelt habe, ein- braucht man umfassende Medienbildung. bringen? Insofern bin ich dankbar, dass es diese Enquete-Kommission gibt; denn sie bietet zum ersten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mal einen sehr prominenten Platz, an dem man über das In den vergangenen Monaten hat uns das Thema Internet und über Netzpolitik reden kann. Cybermobbing immer wieder beschäftigt. Hier stoßen Die Enquete-Kommission hat allen, die daran betei- wir an die Grenzen dessen, was Medienkompetenz tat- ligt sind, nicht nur einen Platz für Netzpolitik mit Strahl- sächlich leisten kann. Mobbing hat es zwar schon immer kraft eingeräumt, sondern auch uns alle vor Langeweile gegeben, ob auf dem Pausenhof oder am Arbeitsplatz, geschützt: So viele Rednereinsätze an Abenden in Berlin jedoch haben sich die Form und die Massivität durch das wie auch im Wahlkreis hatte ich bei anderen Themen Internet geändert. Wir müssen daher Medienbildung selten; ich fand es durchaus unterhaltsam. ganzheitlich betrachten: Es geht nicht allein darum, tech- nische Fertigkeiten zu erwerben oder die Urteilsfähigkeit Allerdings muss man auch sagen – das ist mein per- bei der Bewertung von Inhalten zu schärfen; es geht vor sönliches Fazit nach knapp zwei Jahren –: Mich stört, allem auch um das Zusammenleben in einem neuen dass wir in dieser Enquete-Kommission viel zu sehr Ta- Raum und das respektvolle Miteinander. Das, meine Da- gespolitik gemacht haben. men und Herren, ist ein gesamtgesellschaftlicher Auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- trag. neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anstatt das große Bild zu entwickeln und uns auf Ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) meinsamkeiten der Netzpolitiker zu beziehen, anstatt Medienkompetenz lässt sich natürlich nicht lernen uns die Frage zu stellen, wie wir eigentlich die Internet- wie Mathe oder Geschichte; Frontalunterricht, graue regulierung der Zukunft gestalten wollen, haben wir ver- Theorie und Abfragewissen sind fehl am Platz, wenn es sucht, tagesaktuelle Streitfragen in diese Enquete-Kom- darum geht, jemandem beizubringen, wie man sich si- mission hineinzutragen. cher und vor allen Dingen auch effektiv im Netz bewegt. Hier hebt sich die Projektgruppe Medienkompetenz, Surfen ist selten ein Selbstzweck: Meist ist man auf der wie ich finde, sehr deutlich ab; denn es gab ein sehr kon- Suche nach Informationen, kommuniziert mit anderen struktives Klima. Meine Kollegen haben es mir als Pro- oder schafft selbst Inhalte. Genauso funktioniert auch jektgruppenvorsitzendem leicht gemacht, hier zu einem das Medienlernen: durch Ausprobieren, Selbstmachen guten Ergebnis zu kommen. Dafür bedanke ich mich. – (B) und Sammeln von Erfahrungen. Das betrifft nicht nur Okay, keiner applaudiert sich selbst. (D) Kinder und Jugendliche, sondern eben auch ältere Men- schen: Eltern, Berufstätige, auch Soldaten, nicht zuletzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Politiker. Je nach Alter, Wohnort, Beruf und Interessen- Ich dachte, wenn man Kollegen lobt, sei das eine sichere lage entscheidet sich, welche Fähigkeiten und Kennt- Garantie für Applaus. nisse eine Person medienkompetent machen. Da kann der 16-jährige Berliner Großstadtjunge genauso viel da- Der Mitgründer des Chaos Computer Clubs, Wau zulernen wie die 45-jährige Bundestagsabgeordnete aus Holland, hat einmal gesagt: Mainz. Jede Oma, die es schafft, einen modernen Videore- (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- corder zu programmieren, ist eine Hackerin. SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Das verdeutlicht ganz gut, worin die Herausforderung Ich hoffe, dass die Enquete ebenfalls dazulernt und bei der Vermittlung von Medienkompetenz besteht: Wir wir uns für die kommende Arbeit in den Projektgruppen müssen viele mitnehmen. Ich glaube, wir haben – schon genügend Zeit nehmen und konstruktiv miteinander ar- vor mehr als einem halben Jahr – einen guten Bericht beiten, damit wir am Ende hier positiv über den Ab- vorgelegt, der in der Szene mittlerweile viel Anerken- schlussbericht sprechen können. nung gefunden hat und den ich heute gar nicht mehr im Einzelnen präsentieren möchte; denn er hat schon die Vielen Dank. Runde gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt ein Programm, das ich besonders spannend sowie bei Abgeordneten der SPD) finde – das haben auch schon einige Kolleginnen und Kollegen vor mir hier genannt –, nämlich das Programm Vizepräsidentin Petra Pau: „Ein Laptop für jeden Schüler“. Denn wir haben festge- stellt, dass wir es ein bisschen mit dem Henne-Ei-Pro- Das Wort hat der Kollege Thomas Jarzombek für die blem zu tun haben. Überall in der Schule wird viel zu Unionsfraktion. wenig mit dem Internet gearbeitet. Es findet viel zu we- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nig Vermittlung von Medienkompetenz statt. Immer wieder wird gefragt: Sollen wir erst Fortbildungen für Lehrer machen, oder sollen wir erst in Ausstattung in- Thomas Jarzombek (CDU/CSU): vestieren? Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mein Leben lang in der IT gearbeitet. Als ich in den (Aydan Özoğuz [SPD]: Beides!) 18330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Thomas Jarzombek (A) Wir haben viel zu lange Klassensätze gekauft und Deshalb ist es mir wichtig – und dafür wird sich auch (C) Computerräume ausgestattet und so letzten Endes dazu die CDU einsetzen, und ich meine, auch von einigen beigetragen, dass zu viele die Gelegenheit haben, sich Länderkollegen gehört zu haben, dass sie den Gedanken wegzuducken und nicht über das Internet zu reden. Sie gut finden –, dass wir neben den Alterskennzeichnungen könnten beispielsweise im Spanischunterricht spanische „6“, „12“ und „18“ – diese Kennzeichnungen kennen Zeitungsartikel behandeln und im Deutschunterricht re- wir bereits von professionellen Medien – im Internet flektieren, welcher Quelle sie im Internet eigentlich ver- eine weitere Kennzeichnung einführen, und zwar ein Re- trauen können und welcher nicht. Das wird aber leider gime von Kennzeichnungen für blogger- und nutzerge- nicht gemacht. nerierte Inhalte, die ein Stück weit selbstreguliert sind und bei denen Mechanismen des Crowdsourcings grei- Deshalb sind wir konsensual zu der Meinung gelangt, fen. Wir müssen also – das würde den freiwilligen dass wir jedem Schüler einen eigenen Laptop oder ein Selbstkontrollen ähneln, die wir schon heute von der eigenes Tablet in die Hand geben müssen, um sie dazu Filmwirtschaft bis zur Spieleindustrie haben – auch bei zu zwingen, sich mit dem Netz auseinanderzusetzen. blogger- und nutzergenerierten Inhalten eine freiwillige (Aydan Özoğuz [SPD]: Aber der Lehrer Selbstkontrolle einfordern. braucht auch etwas in der Hand!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, das ist ein guter Weg, den wir jetzt über die Wir haben es geschafft, das Zugangserschwerungsge- Länder und Kommunen verfolgen müssen. setz zurückzunehmen und zu sagen, dass wir keine Sper- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren im Internet haben wollen. Es gab beeindruckend viele Initiativen zur Förderung (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Medienkompetenz, und wir haben alle gewürdigt. Das ist euch aber auch schwergefallen!) Darauf möchte ich verweisen und mich bei all denjeni- Ich glaube, dass es als nächster Schritt gut wäre, auch gen bedanken, die dazu beigetragen haben. Ich möchte auf Länderebene zu sagen, dass wir uns vom Instrument mich auch bei unseren externen Sachverständigen, die der Sperrverfügungen lösen wollen. sich über Adhocracy beteiligt haben, bedanken; denn wir haben viele ihrer Gedanken aufgegriffen. Ich möchte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mich bei den Professoren Ring und Schulz bedanken, die der CDU/CSU) sich – so finde ich – sehr stark als Sachverständige ein- In mehr als zehn Jahren wurde noch kein einziges gebracht haben. Mal eine Sperrverfügung erlassen. Professor Ring als Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Thema plat- der scheidende KJM-Vorsitzende erklärte, es sei tech- (B) zieren, das auch bezüglich der Herausforderungen, vor nisch auch nur schwer möglich, das zu tun. Ich meine, (D) die uns der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag stellen wenn man es ohnehin nicht machen kann, dann sollte wird, eine Rolle spielen wird, nämlich die Frage der Ein- man sich davon auch verabschieden, um hier nicht einen beziehung der Eltern. Eindruck zu erwecken, den man gar nicht erwecken möchte. Nur aus Jugendschutzgründen Inhalte für alle zu Wir haben auch heute hier viel über Schüler geredet. sperren, wäre meiner Ansicht nach unverhältnismäßig. Ich glaube, dass die Angebote zur Förderung der Me- dienkompetenz von Eltern nach wie vor unzureichend (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE sind. Deshalb möchte ich einfordern, dass wir ein Recht GRÜNEN]: So ist es!) auf Medienkompetenz für Eltern schaffen, dass wir die- Ich möchte abschließend noch ein Thema ansprechen. ses Recht auch in Landesgesetzen verankern und dass es Im Zusammenhang mit dem Jugendmedienschutz- einen konkreten Ansprechpartner gibt, bei dem Eltern Staatsvertrag reden wir immer über Jugendschutzpro- ihr Recht auf Förderung ihrer Medienkompetenz geltend gramme. Für mich ist es wichtig, dass man in der Verlän- machen können. Allein ein undefiniertes Recht hilft gerung von Anerkennungen, die jetzt anstehen, voraus- nicht. Ich wünsche mir vielmehr, dass an jeder Schule setzt, dass diese auch für mobile Geräte verfügbar sind. ein Lehrer, engagierte Eltern, ehrenamtliche Dritte oder Denn Jugendliche surfen heute nicht mehr vorwiegend vielleicht auch Schüler oder Gruppen von Schülern dafür mit Windows-PCs, sondern mit Smartphones und sorgen – sie können beispielsweise Elternabende veran- Tablet-PCs. Auch hierfür müssen wir Lösungen finden. stalten und im Rahmen dieser über Medienkompetenz informieren –, dass Eltern ihr Recht einlösen können. Ich freue mich, das mit Ihnen gemeinsam anzugehen. Das ist aus meiner Sicht eine sehr wichtige Forderung an Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Chefredakteur dieser Stelle. von Prentice Hall aus dem Jahre 1957 zitieren, der ge- sagt hat: Ich habe die Länge und Breite dieses Landes (Aydan Özoğuz [SPD]: In Hamburg haben die bereist und mit den besten Leuten geredet und kann Ih- das schon!) nen versichern, dass Datenverarbeitung ein Tick ist, wel- Wir haben rund um das Thema Jugendmedienschutz- cher dieses Jahr nicht überleben wird. Staatsvertrag gesehen, dass sich die Regulierung des Die Enquete-Kommission hat fast schon das zweite Rundfunks weiterentwickelt hat. Sebastian Blumenthal Jahr überlebt. Deshalb bin ich zuversichtlich: Wir wer- hat das sehr gut zum Ausdruck gebracht: Wir können die den auch in der nächsten Zeit einen guten Job machen. Regulierungsmechanismen des Rundfunks nicht eins zu eins auf das Internet übertragen. Ich danke Ihnen vielmals. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18331

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Manuel Höferlin [FDP]: Tragisch! Ich twit- (C) Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach für die tere Ihnen meine Meinung dazu, Herr Kol- SPD-Fraktion. lege!) (Beifall bei der SPD) Die Tatsache, dass noch immer viele über diesen Witz lachen, sagt weniger etwas über die Situation im Netz Gerold Reichenbach (SPD): aus als über diejenigen, die darüber lachen. Denn sie ver- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- kennen völlig die Qualität des Netzes. Wenn ich jeman- legen! Liebe Zuschauer und Zuhörer! Früher hätte man dem gegenübersitze und mit ihm direkt spreche, dann gesagt: Rezipienten; das würde auch die Twitterer und beschränkt sich die Kommunikation mit ihm auf die Blogger umfassen. Reichweite meiner Akustik. Sie ist gebunden an Raum und Zeit. Wenn ich die Kommunikation ins Netz trage, Die Enquete ist ein bisschen wie ihr Gegenstand, das dann können auch Leute partizipieren, die nicht anwe- Internet: nicht nur gut oder nur schlecht, nicht nur send sind. Sie können zu einem viel späteren Zeitpunkt schwarz oder nur weiß, sondern es gibt Licht und Schat- antworten und in andere Kommunikationszusammen- ten. Deswegen sollte man sich davor hüten, die Enquete hänge eintreten. Dieses Beispiel ist symptomatisch für und ihre Arbeit schlechtzureden; aber man sollte sie das ganze Netz. Die Unabhängigkeit von Raum und Zeit auch nicht nur gutreden. im Netz, die teilweise durch Kommunikationsstrukturen, aber auch durch Daten und Datenerfassung gegeben Natürlich war es so, Kollege Jarzombek, dass viele wird, ist zum einen ein Vorteil, zum anderen stellt sie Themen nicht ausdiskutierbar waren, weil die Abgeord- eine Gefahr dar; denn den natürlichen Schutz der Per- neten der Koalitionsfraktionen Rücksicht auf die Kon- sönlichkeitsrechte, die uns Raum und Zeit oft bieten, flikte in der Koalition in der aktuellen Tagespolitik ge- gibt es im Netz vielfach nicht mehr. Vieles kann ausge- nommen haben. Und natürlich war es so, dass ein Teil forscht und verknüpft werden, was in der normalen ana- der Arbeit leider dadurch geprägt war, dass man unange- logen Welt nicht ausforschbar und nicht verknüpfbar ist. nehme Entscheidungen und Abstimmungen durch Ta- gesordnungstricks, durch Verschieben, durch Sitzungs- Hier liegt der Kern unserer grundsätzlichen Aus- unterbrechungen zu verhindern versuchte und mit einandersetzungen. Es stellt sich schon die Frage: Funk- solchen Instrumenten teilweise auch den einen oder an- tioniert das alles nur durch reine Selbstorganisation nach deren Sachverständigen aus den eigenen Reihen zu dis- dem Motto der alten, gescheiterten Mär „Der Markt wird ziplinieren versuchte. es schon richten“? Man könnte sagen: Das Netz wird es schon richten. – Ein großer Teil der Mitglieder der En- (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das ist was ganz quete hat daran seine Zweifel; denn wir haben erlebt, (B) (D) Neues im Deutschen Bundestag!) dass die Selbstregulierungskräfte und die Marktkräfte Das hat leider auch das Bild der Enquete in der Öf- auf den Finanzmärkten eben nicht zu Regulierungen ge- fentlichkeit und in der Szene stark geprägt. Dieser Ein- führt haben. Wir haben gerade schmerzlich erfahren druck ist zutreffend; aber das ist eben nicht alles. Es gab müssen, dass fehlende Regulierung dazu führen kann, – wir haben es angesprochen – in den Arbeitskreisen dass sich brutal unsoziales und teilweise sogar asoziales breite Diskussionen, getragen von den Sachverständigen Verhalten durchsetzt. Beim Thema Internetstalking ha- und von den Abgeordneten und in der Vorarbeit übrigens ben wir erlebt, dass das auch im Netz passiert. auch – in diese Richtung ebenfalls herzlichen Dank – (Jimmy Schulz [FDP]: Schily hat das alles von den Mitarbeitern der Abgeordneten, der Fraktionen richtig gut gemacht!) und des Sekretariats der Enquete. In vielen Bereichen konnten, wenn auch manchmal kontrovers – gerade im – Lieber Jimmy Schulz, natürlich ist es wichtig, Kompe- Bereich des Datenschutzes gab es oft weder für die eine tenzen im Internet zu erwerben. Die Frage ist nur: Reicht noch für die andere Empfehlung eine Mehrheit –, zumin- das aus? Keiner käme auf die Idee, zu sagen: Wir stärken dest Perspektiven, Themenfelder und Konflikte aufge- die Kompetenz im Bereich Baukunde, und deswegen zeigt werden. Ich glaube, das ist gut so. Aber ich glaube verzichten wir künftig darauf, Geländer vorzuschreiben. auch, dass wir uns – wir sollten uns da nicht unter Zeit- Das Problem ist doch, dass wir ein Ungleichgewicht im druck setzen lassen und im Zweifel das Parlament bitten, Netz haben – so war es auch in der Finanzkrise – zwi- den Arbeitsauftrag zu verlängern – am Ende an der Qua- schen denjenigen, die konstruieren, die Abläufe kennen lität unserer Arbeit orientieren sollten und nicht nur da- und sie nutzen können, und denjenigen, die konsumie- ran, dass wir etwas vorlegen. ren. Deswegen gab es eine zentrale Auseinandersetzung um die Frage: In wie vielen Bereichen müssen wir den Natürlich ist es so, dass wir uns im Internet mit neuen Verbraucher durch Regulierung schützen? Es geht also Qualitäten auseinanderzusetzen haben. Im Gegensatz um das zentrale Feld des Datenschutzes. – das muss man offen ansprechen – etwa zum Bereich der Medienkompetenz gibt es viele Bereiche, in denen es Leider konnten wir uns in vielen Bereichen nicht eini- gravierend unterschiedliche Einschätzungen gibt. Sie gen. Wie sieht es denn aus? Kann ich den Verbraucher in alle kennen den schönen Witz, der nicht nur an Stammti- seinem Surfverhalten ausforschen und sagen: Du hast ja schen, sondern manchmal auch in den Fraktionen über akzeptiert, dass der Browser so eingestellt bleibt, wie er die internetaffinen Politiker und Parteien gemacht wird: ist? Muss ich dafür seine Zustimmung erhalten? Es geht Sie sitzen sich mit Laptops oder Smartphones gegenüber nicht um die Frage, ob jemand im Netz reguliert oder re- und unterhalten sich über Twitter. Und dann lacht alles. glementiert wird, sondern es geht um die Frage, ob er 18332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Gerold Reichenbach (A) das, was er zulässt, auch bewusst zulässt, oder ob ihm sich mit einer netten Kollegin neben ihm, wie es Jimmy (C) die Daten sozusagen aus der Tasche geklaut werden und Schulz vorhin mit seiner Kollegin getan hat –, er gar nicht mitbekommt, was ihm passiert. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) Leider muss man feststellen: Wir haben uns oft nur auf Formulierungen einigen können, die konsensual re- das haben wir gelernt. Ich freue mich, dass es auch dir lativ schwach sind. Ich darf zitieren: gelungen ist, das zu erkennen. Deshalb empfiehlt die Enquete-Kommission dem Die Projektgruppe Datenschutz hat seit der Konstitu- Deutschen Bundestag, die Informationspflichten so ierung im Juni 2010 18 Sitzungen durchgeführt, in denen auszugestalten, dass die Informationen von der Art viel diskutiert wurde, in denen viele Ideen nicht nur von und vom Umfang her die Grundlage für informierte unseren offiziellen Sachverständigen, sondern auch vom und freiwillige Einwilligungen bilden, … sogenannten 18 Sachverständigen eingebracht wurden. Wir haben schon ein paar Sachverständige genannt. Ich (Beifall des Abg. Manuel Höferlin [FDP]) glaube, jedem von uns war vor Beginn der Arbeit in der Na super! Was denn nun? Enquete der Name „MrTopf“ kein Begriff. Jetzt wissen wir: Es ist einer der 18. Sachverständigen, die sich im- (Manuel Höferlin [FDP]: Super formuliert!) mer stark einbringen. Ich bin dankbar, dass es viele gab Opt-in oder Opt-out, Privacy by Design, Privacy by De- und gibt, die dies über die Beteiligungsplattform ge- fault – alles bleibt völlig schwammig und offen. macht haben. Es hat übrigens zu Beginn lange gedauert, bis sie aufgebaut war. Wir haben uns in der Projekt- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Ich gruppe zuerst über das Forum beholfen. Auch darüber glaube nicht – das Gleiche gilt auch für den Beschäftig- wurden gute Ideen eingebracht. Dies hat uns gezeigt: tendatenschutz –, dass die Arbeit der Enquete zu Ende Nicht die Technik ist entscheidend, sondern vor allen ist. Jimmy, wir greifen deine Idee gerne auf – auch wenn Dingen ist die Beteiligung der Community, um den Be- du dich jetzt lieber mit deiner charmanten Kollegin als griff wieder einmal zu benutzen, relevant. Wer sich ein- mit mir beschäftigst –, dass die Enquete ähnlich wie bei bringt, wird in dieser Projektgruppe auch gehört. Über der Enquete „Bürgerschaftliches Engagement“ am Ende viele gute, qualitativ hochwertige Ideen wurde zumin- den Vorschlag unterbreitet, einen eigenen Ausschuss zu dest diskutiert; einige wurden übernommen. diesem Thema einzurichten, der dann vom nächsten Bundestag übernommen wird. Selbst dann haben wir ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gutes Maß an Arbeit geleistet. Ich vertraue darauf, dass der CDU/CSU) wir in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode stärker (B) sachorientiert arbeiten. Wir sollten uns daran orientieren, Wir haben in den Handlungsempfehlungen – das war (D) dass die Arbeit an diesem wichtigen Thema weitergeht, letztlich strittig; darüber wurde am meisten diskutiert – damit wir weiterhin agieren und diskutieren können. im Bereich Datenschutz viele konsensuale Punkte aufge- nommen. Ich bin sehr froh darüber. Ich sehe es nicht so Vielen Dank. negativ wie Sie, Herr Kollege Reichenbach, wenn wir (Beifall bei der SPD) eine Formulierung finden, die die Frage nicht ganz be- antwortet. Vizepräsidentin Petra Pau: (Gerold Reichenbach [SPD]: „Nicht ganz“ ist Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die gut!) FDP-Fraktion. Die Enquete-Kommission beschließt eben nicht alles, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sondern sie gibt Handlungsempfehlungen. Sie gibt dem der CDU/CSU) Deutschen Bundestag nicht vor, wie er zu handeln hat. Ich finde es richtig, dass hier im Deutschen Bundestag Manuel Höferlin (FDP): am Ende die Schlussfolgerung gezogen wird, was getan Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen wird, nachdem wir aufgezeigt haben, welche Möglich- und liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zu- keiten es gibt. schauer an den Fernsehgeräten und im Internet! Wir haben in der Projektgruppe Datenschutz bei eini- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Im Livestream!) gen Punkten erlebt, dass sich, wenn es zwei Positionen gab, die unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel dar- Ich begrüße auch diejenigen, die es später als Podcast stellten, keine Mehrheit für eine der Positionen finden ansehen werden. Datenschutz ist auch eine Frage von ließ. Ich finde auch das nicht negativ. Wir konnten zei- Medienkompetenz. Ich glaube, das haben wir in der gen, dass es zwei Optionen gibt. Der Deutsche Bundes- Enquete lernen können. Die einzelnen Projektgruppen tag hat nach Vorlage des Berichts die Möglichkeit, inten- konnten wir nicht separat betrachten, aber es gab immer siv über diese zwei Optionen zu lesen. Natürlich weiß wieder Schnittpunkte zwischen den Projektgruppen. Ich nicht jeder außerhalb der Enquete so viel darüber wie habe als Vorsitzender der Projektgruppe Datenschutz öf- wir; wir konnten in dieser Zeit viel darüber lernen. Des- ter den Hinweis gegeben, dass manches eher ein Thema wegen ist es gut und sinnvoll, dass teilweise ausführliche für die Projektgruppe Medienkompetenz sei. Die The- Texte über diese Themen vorliegen. men Medienkompetenz und Datenschutz greifen in- einander, Herr Kollege Reichenbach – jetzt unterhält er (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18333

Manuel Höferlin (A) Wichtig ist für uns auch, zu verstehen, dass Daten- es in diesem Bereich schon gibt, zu finden ist. Das Rad (C) schutz nicht nur eine rechtliche Herausforderung ist, muss nicht neu erfunden werden. Aber es ist eine wich- sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir tige Handlungsempfehlung, die bestehenden Angebote haben zum Beispiel intensiv über Fragen der Anonymi- besser zu vernetzen. tät und des Umgangs mit Identitäten in den Netzwerken Die Vermittlung von Medienkompetenz ersetzt nicht diskutiert. Dies betrifft häufig auch Tagespolitik. Wir ha- andere staatliche Aufgaben wie zum Beispiel den Ver- ben erlebt, dass tagespolitische Themen von Kollegen braucherschutz oder den Jugendmedienschutz. Da gibt der Opposition bewusst eingebracht wurden. Dies zu be- es natürlich auch Berührungspunkte. Eine große Leis- mängeln und den Koalitionsfraktionen vorzuwerfen, tung der Enquete-Kommission in diesem Bereich ist, dass man darauf geachtet hat, dass tagespolitische Ent- dass man sich im Konsens auf ein Leitbild verständigt scheidungen nicht blockiert werden, ist etwas scheinhei- hat, wie gerade der Jugendmedienschutz im Verhältnis lig. Sie haben solche Themen bewusst eingebracht. Da- zur Medienkompetenz zu bewerten ist. Frau Özoğuz und bei ist klar, dass wir als Regierungskoalition darauf Herr Jarzombek haben mit Herrn Professor Ring, Herrn achten, dass aktuelle Punkte, auf die wir uns gerade Professor Schulz und Alvar Freude schon wichtige – teilweise nach intensiven Diskussionen in der Koali- Protagonisten genannt, die diesen Konsens gefunden ha- tion oder in den Fraktionen – geeinigt haben, auch um- ben. Das darf man nicht unter den Teppich kehren. gesetzt werden. Meine Damen und Herren, nicht jeder Jugendliche, so Lassen Sie mich zum Ende noch Dank sagen. Ich medienkompetent er auch sein mag, muss, soll oder kann möchte Dank sagen an all die Kollegen in allen Fraktio- alle Angebote, die ihm das Internet bietet, verarbeiten. nen, die konstruktiv mitgearbeitet haben, an die Sachver- Man kann ihn auch nicht zu 100 Prozent schützen, vor ständigen, an die Mitarbeiter, auch die Mitarbeiter des allem dann nicht, wenn er gezielt nach gewissen Ange- Sekretariats, die sehr viele Texte sortieren mussten und boten sucht. Schutz im Internet ist daher immer auch dies sehr gut geschafft haben. Ich glaube, wir müssen eine Art Risikomanagement, bei dem es darum geht, je vor allen Dingen den von außen aktiv Beteiligten dan- nach Zielgruppe und Schutzzweck Verantwortlichkeiten ken. Die Möglichkeit zur Beteiligung haben wir geschaf- zu verteilen, mit dem Ziel, die Risiken zu minimieren. fen, aber es reicht nicht, diese nur zu schaffen. Sie muss Hier hat die Enquete-Kommission wichtige Grundlagen auch genutzt werden. Deswegen richte ich einen herzli- gelegt, an denen man sich bei zukünftigen Entscheidun- chen Dank an die Sachverständigen außerhalb des Parla- gen darüber, wie sich die Politik in diesem Spannungs- ments, die uns bei der Arbeit geholfen haben. feld positioniert, orientieren kann. Ich freue mich auf die zweite Hälfte und hoffe, dass wir weitere strittige, nicht immer konsensuale, aber am Wir haben neben der Behandlung der inhaltlichen (B) Ziel orientierte Berichte erstellen werden. Fragestellungen als zusätzlichen Auftrag vom Bundestag (D) mit auf den Weg bekommen, die Öffentlichkeit in geeig- Herzlichen Dank. neter Art und Weise in unsere Arbeit einzubinden. Das ist auch ein Lernprozess. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was meines Erachtens durchaus erfolgreich läuft, ist Vizepräsidentin Petra Pau: unsere Beteiligungsplattform www.enquetebeteiligung.de, Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die über die die interessierte Öffentlichkeit die Möglichkeit Unionsfraktion. hat, mitzudiskutieren, eigene Vorschläge einzubringen und über die Vorschläge anderer abzustimmen. Fast alle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vorschläge, die wir über das Internet bekommen, sind von hoher Qualität. Das zeigt, dass sich auch außerhalb Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): des Deutschen Bundestages wirkliche Sachverständige Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- konstruktiv und ernsthaft mit diesen Themen beschäfti- gen! Es passt sehr gut, dass wir über das Thema Medien- gen. kompetenz als erstes inhaltliches Ergebnis der Arbeit der Von dieser Stelle aus möchte ich denen, die sich über Enquete-Kommission hier im Plenum diskutieren. Me- diese Plattform einbringen, herzlich danken. Ich möchte dienkompetenz ist zwar nicht die Antwort auf alle Fra- in meinen Dank explizit auch diejenigen einschließen, gen, die sich uns im Zusammenhang mit dem Internet die diese Adhocracy-Plattform, zum Teil in ehrenamtli- stellen. Aber nur ein aufgeklärter, mündiger Nutzer kann cher Arbeit, mit aufgebaut haben und die sie im Moment die Chancen realisieren, die sich ihm im Zusammenhang am Laufen halten. mit dem Internet bieten, und nur ein aufgeklärter, mündi- ger Nutzer kann mit den Risiken umgehen, die mit einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nutzung des Netzes verbunden sind. Die Ergebnisse fließen direkt in unsere Arbeit und Texte Medienkompetenz kann nicht gesetzlich verordnet mit ein. Wenn ich sage: „Das ist auch ein Lernprozess“, werden. Ihre Vermittlung ist auch nicht allein Aufgabe meine ich damit, dass wir vielleicht noch lernen müssen, des Staates. Aber der Staat muss und kann entsprechende dies besser nach außen zu dokumentieren und den Nut- Bildungsangebote initiieren und fördern. Ein wichtiger zern aus dem Bundestag heraus ein Feedback zu geben. Erkenntnisgewinn und ein wichtiges Ergebnis der Arbeit Ich glaube, wenn wir hier besser werden, dann erhöhen der Enquete-Kommission ist für mich persönlich, dass wir auch den Anreiz für die interessierte Öffentlichkeit, im Zwischenbericht eine lange Liste von Initiativen, die sich inhaltlich noch mehr zu beteiligen. 18334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Reinhard Brandl (A) Meine Damen und Herren, wenn es um das Bild geht, Eine Annäherung oder Kompromissfindung findet in (C) das wir aus unseren öffentlichen Sitzungen der Enquete- diesen öffentlichen Sitzungen nicht statt. Stattdessen Kommission über den Livestream nach draußen trans- steht immer die Vermittlung der eigenen Position, der ei- portieren, bin ich durchaus kritisch und auch selbstkri- genen unverrückbaren Wahrheit im Vordergrund. tisch. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Gerold Reichenbach Vizepräsidentin Petra Pau: [SPD]: Das liegt doch an Ihnen und an uns! – Kollege Brandl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Gegenruf des Abg. Manuel Höferlin [FDP]: Kollegen Reichenbach? Genau, an Ihnen! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: An uns! An allen!) Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): Ja. Der Herr Kollege Notz hat ja vorhin dargestellt, bei welchen wichtigen und zentralen Punkten wir einen Konsens gefunden haben. Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte. Ich bin hier, wie ich gerade gesagt habe, selbstkri- tisch. Es liegt an uns, das besser darzustellen. Auch ich Gerold Reichenbach (SPD): habe kein Patentrezept dafür. Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, dass es der Enquete-Kommission als Ganzes vielleicht gutgetan (Gerold Reichenbach [SPD]: Dann lassen Sie hätte, wenn wir nicht nur unser Plenum öffentlich über- es uns doch versuchen!) tragen, sondern auch die viel sachbezogenere Arbeit in Ich beobachte nur, dass in den öffentlichen Sitzungen den Projektgruppen öffentlich gemacht hätten? der Enquete-Kommission, die per Livestream übertragen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sicher nicht! – werden, zwar vordergründig die totale Transparenz ge- [CDU/CSU]: Das konnten geben ist, aber eigentlich nicht die Wirklichkeit des kon- die Projektgruppen selbst entscheiden! – Ge- struktiven Miteinanders vermittelt wird. genruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: (Gerold Reichenbach [SPD]: Also, Sie halten Sie hätten zustimmen müssen!) Transparenz für schädlich! – Thomas Sind Sie vielleicht bereit, darüber mit uns noch einmal Jarzombek [CDU/CSU]: Die Frage war ein zu diskutieren? Fehler, Herr Reichenbach! – Volker Kauder (B) [CDU/CSU]: Schon hier war die Frage ein (D) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sehr gute Fehler! Wie soll das erst im Netz sein?) Frage!) – Herr Reichenbach, ich habe versucht, Ihre Frage diffe- Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): renziert zu beantworten. Ich bin nicht gegen Transparenz Ich sehe hier ein Spannungsfeld. Wir erleben in den und gegen Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Wir müssen Projektgruppen eine sehr konstruktive Zusammenarbeit versuchen, das, was wir hier tun, in der Öffentlichkeit der Sachverständigen und der Abgeordneten und auch richtig darzustellen. das, was man von einer Enquete-Kommission erwartet, (Gerold Reichenbach [SPD]: Dann machen dass sich nämlich die Abgeordneten und Sachverständi- wir es doch!) gen aus unterschiedlichen Fraktionen und vor unter- schiedlichen Hintergründen aufeinander zu bewegen. Sie müssen mir aber zustimmen, Herr Kollege: Die Er- Genau das passiert in den Projektgruppen. fahrung, die wir in den öffentlichen Sitzungen gemacht (Gerold Reichenbach [SPD]: Ja!) haben, ist nicht geeignet, das Bild der Enquete-Kommis- sion in der Öffentlichkeit zu fördern. Herr Kollege, ich erlebe aber auch etwas anderes: Ich erlebe die öffentlichen Sitzungen der Enquete-Kommis- (Abg. Gerold Reichenbach [SPD] nimmt Platz – sion, die per Livestream im Internet übertragen und na- Volker Kauder [CDU/CSU]: Halt, stehen blei- türlich direkt über Twitter intensiv kommentiert werden, ben! Die Frage ist noch nicht beantwortet! – und auch entsprechende Rückkopplungen. Gegenruf des Abg. Gerold Reichenbach [SPD]: Das sind doch nur noch Wiederholun- (Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Fensterredner gen! – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ich von der SPD!) dachte, Stehplätze gibt es nur beim Fußball! – Diese Sitzungen unterscheiden sich atmosphärisch Abg. Gerold Reichenbach [SPD] erhebt sich wieder – Heiterkeit bei Abgeordneten der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN]: Na!) Es wundert mich deswegen auch nicht, dass sich die und auch von der Art und Weise der Zusammenarbeit Menschen, wenn sie nur dieses Schauspiel erleben, ent- her diametral von den Sitzungen der Projektgruppen. täuscht abwenden und sagen, die Enquete-Kommission (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sei gescheitert. – Herr Kollege Reichenbach, Sie dürfen der FDP) sich setzen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18335

Dr. Reinhard Brandl (A) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und sich deswegen um zwei Themen, weil „Netzpolitik“ und (C) der FDP – Gerold Reichenbach [SPD]: Das „Digitalisierung“ nicht dasselbe meinen. Netzpolitik ent- war noch immer keine Begründung, warum hält wichtige Dinge, über die wir heute schon gespro- das nicht passiert! Sie reden jetzt seit zwei chen haben, etwa Netzzugang und Datenschutz. Auch Stunden darüber und haben noch immer keine Punkte wie die Regulierung des Internets sind nicht zu Begründung!) vernachlässigen. Da gibt es eine ganze Menge Nachhol- bedarf. Ja, ich habe deswegen eine so lange Antwort auf Ihre Frage gegeben, Aber man darf die Digitalisierung nicht darauf veren- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da muss er wie- gen. Die Digitalisierung ist die große bahnbrechende der aufstehen!) Entwicklung dieses Jahrhunderts. Es geht darum, die Chancen beherzt zu ergreifen und daraus, gerade für das weil mir das ein Anliegen ist und das ein Thema ist, mit Hightechland Deutschland, Wertschöpfung, Wachstum dem ich mich beschäftige, nämlich wie es uns besser ge- und Arbeitsplätze zu generieren. lingen kann, das konstruktive Miteinander öffentlich darzustellen und nicht immer nur den Streit zu betonen. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch Streit ist wichtig, weil die Menschen wissen müs- Wir erleben heute bei dieser technischen Revolution sen, wer in der Politik für was steht. Aber das ist nicht das, was auch in den vergangenen Jahrhunderten bei das, was sie von der Enquete-Kommission erwarten. Technologiebrüchen häufig der Fall war, dass versucht Wir haben sehr gute Zwischenberichte vorgelegt, ins- wird, Besitzstände zu verteidigen, zum Teil mit schein- besondere zur Medienkompetenz. Wer den Bericht liest, heiligen Argumenten. Ein Beispiel, an dem man das gut sieht, dass wir und die Sachverständigen sehr viel Mühe sehen kann, ist die Einführung der elektronischen Ge- darauf verwendet haben, die teilweise sehr komplexen sundheitskarte. Hier hätte die Digitalisierung viel Nut- Zusammenhänge von verschiedenen Seiten zu beleuch- zen stiften können, aber die Lobby hat verhindert, dass ten und auch in weiten Teilen zu konsensualen Hand- eine wirklich gute Lösung kommt. lungsempfehlungen zu kommen. Wir dürfen bei diesem konkreten Thema, aber auch Mir hat die Arbeit sehr viel Freude gemacht. Ich kann bei den anderen Punkten nicht klein beigeben. Die Digi- auch sagen: Ich habe in der Arbeit viel von den Sachver- talisierung ist eine große Chance für unser Land. Wir ständigen gelernt. Herzlichen Dank für den tollen Input, müssen sie aber auch ergreifen. Das Internet und die Di- den Sie immer wieder geliefert haben. Ich freue mich auf gitalisierung warten nicht auf 80 Millionen Deutsche. die zweite Hälfte der Arbeit der Enquete-Kommission Aber 80 Millionen Deutsche haben enorme Gestaltungs- (B) und auf die weitere konstruktive Zusammenarbeit. möglichkeiten und können Standards setzen, wenn sie (D) sich in diesem Bereich an die Spitze der Bewegung set- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist in den Diskussionen in der Enquete-Kommis- sion, aber auch hier im Plenum des Deutschen Bundes- Vizepräsidentin Petra Pau: tags und in der Öffentlichkeit deutlich geworden, dass Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege die Digitalisierung ein Querschnittsthema für Politik und Michael Kretschmer für die Unionsfraktion. Gesellschaft ist, das eine stärkere Koordinierung und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine stärkere Verantwortlichkeit an einer Stelle erfordert. Deswegen muss in den nächsten Monaten und Jahren da- rüber gesprochen werden, ob es nicht in der Regierung Michael Kretschmer (CDU/CSU): eine zentrale Verantwortlichkeit, eine zentrale Koordi- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nierung in Gestalt eines Ministers oder Staatssekretärs Herren! Zunächst einmal: Nachdem wir vor zwei Jahren geben muss. während der Koalitionsverhandlungen überlegt hatten, diese Enquete-Kommission einzusetzen – ein Vorschlag In den verschiedenen Beiträgen war viel von den von unserem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder –, 18 Sachverständigen die Rede. Dies haben wir mit ein- geführt, als wir die Enquete-Kommission eingesetzt ha- (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Guter ben. Ich finde, es war richtig, sich die Mühe zu machen, Vo r s c h l a g ! ) auch intensiv über das richtige Beteiligungstool nach- haben wir in diesem Parlament eine breite Mehrheit für zudenken und sich dafür die passenden Regelungen zu die Einsetzung der Enquete-Kommission „Internet und geben. Immerhin haben sich über 2 200 registrierte digitale Gesellschaft“ gesucht und auch gefunden. Ich Mitglieder an der Arbeit der Enquete-Kommission be- glaube, das war die richtige Entscheidung. Wir können teiligt. Es hat insgesamt rund 2 200 Kommentare und bereits heute sagen: Das hat sich gelohnt. 12 000 Bewertungen gegeben. Für die Arbeit einer En- quete-Kommission sind das, vor allen Dingen vor dem Wir haben auf der einen Seite das Bewusstsein im Hintergrund, dass es zum ersten Mal in dieser Form Parlament für die Themen der Netzpolitik und der Digi- stattgefunden hat, große Zahlen. Ich finde, auch deshalb talisierung gesteigert, und wir haben auf der anderen kann man sagen: Es war ein Erfolg. Seite ein Signal in die Gesellschaft gegeben, dass uns diese zwei Themen besonders wichtig sind. Es handelt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 18336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Michael Kretschmer (A) Die Bedenken, ob man ein Beteiligungstool schaffen Ausgleich zwischen dem Schutz des Privaten und den (C) und einen 18. Sachverständigen fest etablieren sollte, be- Interessen der Öffentlichkeit gibt. Ich bin mir nicht si- ruhten, glaube ich, zum großen Teil auf einem zentralen cher, ob die Linie zwischen dem Datenschutzrecht und Missverständnis, was die Frage angeht, ob dieser dem Äußerungsrecht richtig gezogen worden ist. Ich 18. Sachverständige über das entscheiden sollte, was weiß nicht, ob das, was man sich zum Thema „Recht auf letzten Endes der Deutsche Bundestag beraten und be- Vergessen“ vorgenommen hat, technisch möglich ist. schließen oder was die Enquete-Kommission an Ergeb- (Manuel Höferlin [FDP]: Ein Recht auf Ver- nissen erzielen soll. Das geht natürlich nicht. Der Sach- gessen gibt es auch in analogen Fragen!) verständige von außen kann immer nur beraten. Ich wäre dankbar dafür, wenn nicht nur in der Inter- Ich finde, dass wir es über das Beteiligungstool Ad- net-Enquete-Kommission, sondern auch darüber hinaus hocracy gut organisiert haben, uns eine Lobbygruppe zu intensiv über die Vorschläge der Europäischen Union schaffen, wie sie in anderen Politikfeldern völlig selbst- diskutiert würde. Denn das Gegenteil von gut ist gut ge- verständlich ist: Der ADAC berät in der Verkehrspolitik, meint. Es geht darum, etwas Richtiges aus der Verord- der BDI begleitet die Wirtschaftsfragen, und Greenpeace nung zu machen. Wir sollten uns intensiv in die Diskus- erhebt in Umweltfragen die Stimme. sion einbringen. (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Es geht um Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Beteiligung! Das ist ein kleiner Unterschied! Es geht um Beteiligung, nicht um Lobbys!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) An keiner Stelle erwartet man, dass die einzelne Lobby- gruppe repräsentativ für die gesamte Bevölkerung bzw. Vizepräsidentin Petra Pau: für die gesamte Politik sprechen kann. Aber es ist uns Ich schließe die Aussprache. trotzdem wichtig, zu hören, was Greenpeace denkt, was Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 a bis c auf: der BDI meint oder welche Position der ADAC vertritt. Deswegen ist es richtig, den 18. Sachverständigen einge- a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- führt zu haben. In diesem Selbstverständnis müssen wir neten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug- offen damit umgehen, auch in Zukunft Partizipations- Möller, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), wei- möglichkeiten im Deutschen Bundestag und in den Par- teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD teien bis hin zur Kommunal- und Landespolitik zu schaf- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die fen. Wenn man dieses Selbstverständnis hat, kann man Festsetzung des Mindestlohnes (Mindestlohn- diese Möglichkeit der Beteiligung selbstbewusst und of- gesetz – MLG) fen schaffen. Wir zumindest wollen das gern. – Drucksache 17/4665 (neu) – (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Es wurde viel über die Frage gesprochen, wie viel ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Staat nötig ist. Ich teile die Einschätzung, dass gerade – Drucksache 17/8385 – beim Internet die Selbstregulierung und Selbstverant- wortung sehr gut funktionieren, sodass man sagen kann: Berichterstattung: An vielen Punkten im Internet ist durch die Experten und Abgeordneter Paul Lehrieder Akteure Gutes entstanden. Das zeigt auch die Domain- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- vergabe in den vergangenen Jahrzehnten, ein äußerst richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales komplexes Verfahren, das gut gemanagt worden ist. (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Aber wir sehen auch: Je weniger technisch die regu- Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang lierten Bereiche werden, desto stärker wird der Legiti- Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und mationsdruck, wenn es keine staatlichen Vereinbarungen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Gesetze gibt, in denen die Regularien festgelegt Jetzt Voraussetzungen für die Einführung ei- werden, sondern alles von nichtstaatlichen Organisatio- nes Mindestlohns schaffen nen geregelt wird. Deswegen ist es richtig, dass wir auf internationale oder europäische Vereinbarungen drän- – Drucksachen 17/7483, 17/8385 – gen, die gewisse Bereiche des Internets regulieren. Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder Insofern ist es richtig, dass sich die Europäische Union darüber Gedanken macht, wie der Datenschutz im c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Internet innerhalb der Europäischen Union organisiert Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, werden kann. Wenn die Europäische Union als großer weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Raum einen Standard setzt, besteht natürlich die Mög- LINKE lichkeit, dass dieser Standard auch international verstärkt Mehrheitswillen respektieren – Gesetzlicher zum Vorbild genommen wird. Mindestlohn jetzt Aber zu dem Entwurf der EU-Datenschutzverord- – Drucksache 17/8026 – nung, der am 25. Januar vorgestellt werden soll, gibt es eine ganze Reihe von Fragezeichen und Bedenken, die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) wir intensiv miteinander diskutieren müssen. Ich weiß Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nicht, ob es in dieser Verordnung einen angemessenen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18337

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für beitgeber und Gewerkschaften, frei ausgehandelt haben (C) die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich und die anschließend durch das Bundesarbeitsminis- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. terium per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärt worden sind. Die Erfahrungen, die mit Mindest- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die not- löhnen gemacht wurden, sind positiv. Es sind diese Bun- wendigen Umgruppierungen in den Fraktionsreihen so desregierung und diese Koalition aus CDU/CSU und vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen und FDP, die eine wissenschaftliche Evaluierung der in dann den Rednerinnen und Rednern zuhören können. Deutschland geltenden Mindestlohnregelungen haben Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege vornehmen lassen. Das Ergebnis ist – zusammengefasst –, Peter Weiß für die Unionsfraktion. dass sich keine negativen Effekte zeigen. Die Mindest- lohnregelungen haben sich allesamt bewährt. Das zeigt, (Beifall bei der CDU/CSU) dass der Weg, Mindestlohnregelungen durch die Tarif- partner frei aushandeln zu lassen und sie dann für allge- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): meinverbindlich zu erklären, richtig und erfolgreich ist. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die gerechte Entlohnung der Arbeitnehmerinnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Arbeitnehmer und deren Beteiligung am wirtschaftli- neten der FDP) chen Erfolg sind ein zentraler Markenkern einer sozialen Nun legen uns die Sozialdemokraten heute einen Ge- Marktwirtschaft. Das legendäre Credo Ludwig Erhards setzentwurf zur Abstimmung vor, „Wohlstand für alle“ war und ist unter anderem eine klare Absage an Dumpinglöhne. Ludwig Erhard hat spä- (Stefan Rebmann [SPD]: Der richtig ist!) ter als Bundeskanzler formuliert: der einen ganz anderen Weg vorsieht. Er sieht vor, dass Ziel der deutschen Sozialpolitik muss es sein, alle der Bundestag die Höhe des Mindestlohns beschließt sozialen Gruppen vor einer Entwicklung zu bewah- und dass die Tarifpartner eingeladen werden, an einer ren, in der sie zunehmend bloß Objekte staatlicher Kommission mitzuwirken, in der sie darüber beraten Fürsorge sind. dürfen, ob der Mindestlohn nächstes oder übernächstes Jahr angehoben werden soll. Im Gesetzentwurf steht Das ist eine deutliche Ansage gegen eine Politik der schon, dass dann, wenn sie sich nicht einig werden, die Ausgrenzung und zugleich ein Appell gegen staatliche Bundesministerin für Arbeit und Soziales das erledigt. – Bevormundung und Einmischung in alle Bereiche des Auf gut Deutsch: Dieser Gesetzentwurf der Sozialdemo- Lebens. kraten ist nichts anderes als ein Misstrauensantrag gegen (B) Um Lohndumping und damit Wettbewerbsverzerrung die Tarifpartner in Deutschland. (D) zu verhindern, hat übrigens erstmals eine Koalition aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- CDU/CSU und FDP im Jahr 1996 mit der Verabschie- derspruch bei der SPD – Brigitte Pothmer dung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes die Möglich- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Weiß, keit geschaffen, für bestimmte Bereiche einen allge- dann stimmen Sie unserem Antrag zu!) meinverbindlichen Mindestlohn festzulegen. Schauen wir uns vor diesem Hintergrund die jüngste Entwicklung Warum soll eigentlich noch ein Arbeitnehmer oder an. Zum 1. Januar dieses Jahres sind drei Mindestlohn- eine Arbeitnehmerin einer Gewerkschaft beitreten, wa- regelungen neu bzw. erneut in Kraft getreten. Zum ersten rum soll ein Unternehmen einem Arbeitgeberverband Mal gibt es eine Mindestlohnregelung bzw. eine untere beitreten, Lohngrenze für den Bereich der Zeitarbeit. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist selbst (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: unter Ihrem Niveau, Herr Weiß!) Die mussten wir Ihnen aber abringen!) wenn die Tarifpolitik in Wahrheit im Parlament und in Die Gültigkeitsdauer der bestehenden Mindestlohnrege- der Bundesregierung gemacht wird und der Beitritt zu lungen für Dachdecker und Gebäudereiniger wurde ver- einer Gewerkschaft oder zu einem Arbeitgeberverband längert, und die Mindestlöhne wurden angehoben. Damit für die Tarifgestaltung überhaupt keine Bedeutung mehr sind heute 4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeit- hat? nehmer in Deutschland in Bereichen beschäftigt, in de- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nen allgemeinverbindliche Mindestlohnregelungen gel- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb „fürch- ten. So viele Mindestlöhne gab es in Deutschland noch ten“ sich die Gewerkschaften auch so sehr vor nie. einem gesetzlichen Mindestlohn! Wo ist denn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) da Ihre Logik? Das ist selbst unter Ihrem Ni- veau, Herr Weiß!) So viele Mindestlöhne gibt es nicht etwa unter einem so- zialdemokratischen Kanzler, sondern unter einer christ- Wer mit staatlicher Lohnfestsetzung beginnt, Herr Heil demokratischen Kanzlerin. Das ist doch bemerkenswert. – das wäre der Beginn einer staatlichen Lohnfest- setzung –, schwächt in Wahrheit die Gewerkschaften (Beifall bei der CDU/CSU) wie die Arbeitgeberverbände, untergräbt die Arbeit der Bei allen heute geltenden Mindestlohnregelungen Tarifpartner und beschädigt das Erfolgsrezept, das wir handelt es sich um Regelungen, die die Tarifpartner, Ar- bei der Lohnfindung in Deutschland bisher hatten. 18338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Peter Weiß (Emmendingen) (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- (C) neten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: chen bei der SPD – Dr. Johann Wadephul Ist das peinlich!) [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Bemer- kenswert, dass ihr euch freut!) Im Gegensatz dazu ist der Beschluss des Bundespar- teitags der CDU vom November des vergangenen Jahres Mit dem System der Tarifautonomie sind die Arbeit- ein wegweisender Beschluss, nehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland letztlich auch stets gut gefahren. Richtig ist, dass wir heute in vie- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ja, das ist len Bereichen eine geringe Tarifbindung und einen ge- er!) ringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad haben. der deutlich macht: Wir wollen die Tarifpartner stärken. (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau! Die sol- Genau das veranlasst uns als Union ja dazu, eine Rege- len in die Gewerkschaft eintreten! – Gegenruf lung zusätzlich vorzuschlagen, über die wir mit unserem des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In wel- Koalitionspartner in den nächsten Wochen und Monaten cher sind Sie denn, Herr Kauder? – Gegenruf verhandeln wollen. des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich habe (Lachen bei der SPD – Christian Lange [Back- immer gesagt, dass wir die Gewerkschaften nang] [SPD]: Ach so? Was meint der denn? brauchen!) Das war jetzt aber ein wichtiger Hinweis!) Unser Beschluss lautet: Wir wollen eine gemeinsame – Da gerade bei den Sozialdemokraten Parteitagsbe- Kommission der Tarifpartner, der Gewerkschaften und schlüsse angeblich eine so hohe Bedeutung haben, bitte Arbeitgeber, die miteinander eine allgemeine untere ich doch, das auch der CDU zuzubilligen. Lohngrenze verhandeln können, die anschließend durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – beit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt wer- Zurufe von der SPD: Oh! – Klug gekontert! – den kann. Das heißt, die Verantwortung für die Lohnfin- Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was ist dung bleibt dort, wo sie hingehört: bei den Tarifpartnern. denn der Parteitagsbeschluss der FDP dazu?) (Beifall bei der CDU/CSU) Weil eben in Teilbereichen nur diese geringe Bindung vorhanden ist, wollen wir eine Regelung schaffen, nach Es ist ein Vorschlag, der die Tarifpartner stärkt: Wer der über die Branchen hinaus, in denen schon heute Min- gute Mindestlöhne will, muss in die Gewerkschaft ein- destlöhne bestehen, die Tarifpartner miteinander eine (B) treten. Wer als Arbeitgeber mitreden will, muss in den allgemeine Lohnuntergrenze verhandeln können. Ich (D) Arbeitgeberverband eintreten. Es muss frei miteinander glaube, dass dieses Modell letztlich genau den Erfolg ha- verhandelt werden. Lohnpolitik gehört nicht in das Par- ben wird, den gute und starke Tarifpartner bei Tarifver- lament, sie gehört nicht in die Bundesregierung; sie ge- handlungen auch bisher zustande gebracht haben. Des- hört dorthin, wo der Sachverstand dafür stets vorhanden halb gilt für uns in dieser Debatte über untere ist, nämlich bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Lohngrenze und Mindestlöhne in Deutschland: Wir wol- len in der Lohnpolitik an das Erfolgsrezept der sozialen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Marktwirtschaft anknüpfen. Das heißt: Nein zum Staats- Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Bei der interventionismus, Ja zu starken Tarifparteien und Ja zu Bundesregierung wird doch auch Sachver- Tariflöhnen. stand sein! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wenn Sie jetzt sagen, dass bei der Bun- Vielen Dank. desregierung kein Sachverstand ist, dann müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen wir zustimmen!) Die Tarifpartner haben in der Vergangenheit in den Vizepräsidentin Petra Pau: verschiedensten Situationen gezeigt, dass sie zu sachge- Kollegin Enkelmann, zur Geschäftsordnung? rechten Lösungen sehr wohl imstande sind. Mit der in Deutschland gewachsenen Tradition der Sozialpartner- Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): schaft verfügen wir über ein Modell, das staatlichen Ein- Danke, Frau Präsidentin. – Kollege Weiß hat in sei- griffen weit überlegen ist – es ist übrigens international nem Beitrag deutlich gemacht, dass das Thema, über das anerkannt – und für das wir von vielen beneidet werden. wir hier debattieren, für das gesamte Haus sehr wichtig (Zuruf von der LINKEN: Das ist Schnee von ist. Er sprach darüber, dass es dazu Verhandlungen in- gestern, von vorgestern!) nerhalb der Koalition gibt. Wir meinen schon, dass dann auch die zuständige Ministerin im Plenum anwesend Es ist nicht lange her, dass das Zusammenspiel der So- sein sollte und nicht nur der Staatssekretär. zialpartner den entscheidenden Beitrag zur Überwin- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem dung der Finanz- und Wirtschaftskrise geleistet hat. Des- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halb finde ich: Eine solche Ohrfeige, wie sie hier von den Sozialdemokraten ausgeteilt wird, haben die Tarif- Unsere Fraktion fordert deswegen die Herbeirufung der parteien nicht verdient. Ministerin Frau von der Leyen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18339

Dr. Dagmar Enkelmann (A) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem rufung der Bundesministerin sind, um das Handzei- (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gesine chen. – Wer stimmt dagegen? – Lötzsch [DIE LINKE]: Abstimmen! – Dr. Peter (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Tauber [CDU/CSU]: Ihr habt doch gar keine GRÜNEN]: Das reicht nicht!) Mehrheit!) Das Präsidium ist sich leider in der Feststellung des Ab- Vizepräsidentin Petra Pau: stimmungsergebnisses nicht einig. Wünscht jemand das Wort dazu, oder ist das allge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehtest!) meiner Konsens? Also machen wir einen Hammelsprung. Ich bitte Sie, (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zu- den Plenarsaal zu verlassen. rufe von der SPD und der LINKEN: Ja!) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der FDP- – Das ist offensichtlich der Fall. Fraktion, erstens sich zu erheben und zweitens sich auf den Weg zum Ausgang zu machen. Ich kann mir ja vor- Hat die Bundesregierung einen Hinweis für mich, wo stellen, dass Sie manches beschwert. Aber jetzt ist erst sich die Ministerin befindet? einmal Hammelsprung aufgerufen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie hat Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die es noch sich bei den PGFs nicht entschuldigt!) nicht geschafft haben, durch die Tür zu gehen, dies jetzt zu tun. – Sind alle drei Türen geschlossen? – Die Schrift- – Deswegen frage ich. Ich habe keine offizielle Ent- führerinnen und Schriftführer sind an ihren Plätzen, und schuldigung vorliegen. die Türen sind verschlossen. Dann können wir die Türen Dann unterbreche ich die Sitzung. öffnen und mit dem Hammelsprung beginnen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wieso? – Ge- Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die sich noch genruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: vor den Türen befinden, den Saal wieder zu betreten. Weil Sie nicht widersprechen!) Nach unserem Überblick ist dies ohne Weiteres möglich. – Ich habe zweimal nachgefragt. – Es gibt jetzt doch eine Die Türen werden geschlossen. Die Abstimmung ist Wortmeldung aus der Unionsfraktion. damit beendet. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): das Ergebnis der Auszählung mitzuteilen. – (B) Ich habe Frau Enkelmann so verstanden, dass sie Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit ich das Ergebnis (D) möchte, dass die Ministerin anwesend ist. Aber offen- der Abstimmung über die Herbeizitierung der Bundes- sichtlich legt sie doch nicht so viel Wert darauf, dass die ministerin bekannt geben kann: 138 Kolleginnen und Ministerin kommt, weil sie dazu keinen Antrag stellt. Kollegen haben mit Ja gestimmt, 190 Kolleginnen und Kollegen haben mit Nein gestimmt. Enthalten hat sich Wir sehen keine Notwendigkeit, dass die Ministerin keine Kollegin bzw. kein Kollege. Damit ist dieser An- an dieser Debatte teilnimmt. Das Ministerium ist durch trag abgelehnt. den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Brauksiepe vertreten. Es handelt sich um die Beratung der Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schlussempfehlungen des Ausschusses. Da ist es ohne- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist hin nicht üblich, dass Minister noch das Wort ergreifen. aber schade! – Dr. Gesine Lötzsch [DIE Wir sehen jedenfalls keine Veranlassung, sie herbeizuru- LINKE]: Wo ist denn die Ministerin?) fen, zumal uns dieses Thema regelmäßig beschäftigt und Zur Erklärung für all diejenigen, die diesem unge- die Ministerin zu Anträgen der Opposition immer wieder wohnten Prozedere das erste Mal beiwohnen: Wir haben das Wort ergriffen hat und die Positionen dazu klarlie- bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass der Deutsche gen. Es besteht also keine Veranlassung, die Ministerin Bundestag auch jetzt, um 11.25 Uhr, noch beschlussfä- herzubitten. hig ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vizepräsidentin Petra Pau: der FDP) Gut. Frau Enkelmann hat dies beantragt. Ich hatte ge- fragt, ob es dazu eine Gegenrede gibt, und Sie hatten Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an diesem durch Kopfnicken vorerst signalisiert, dass Sie einver- Tagesordnungspunkt jetzt nicht mehr teilhaben können, standen sind. uns zu ermöglichen, in dieser Debatte fortzufahren, das heißt, die Gespräche, die unbedingt notwendig sind, vor (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ist das beim den Plenarsaal zu verlagern. Diese Bitte richte ich an Mindestlohn! Mal dafür, mal dagegen!) Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen und im Üb- rigen auch an die Regierungsbank. Nun haben Sie deutlich gemacht, dass die Unionsfrak- tion diesen Konsens nicht mitträgt. Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kol- lege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. Wir stimmen also ab, ob die Frau Ministerin herbei- gerufen wird. Ich bitte diejenigen, die für die Herbei- (Beifall bei der SPD) 18340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

(A) Hubertus Heil (Peine) (SPD): ihre Leute anständig bezahlen wollen, vor Dumping- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wettbewerb schützen wollen. Es muss um den Wettbe- Wenn man in Zeiten wie diesen im Deutschen Bundestag werb um die besten Produkte, Verfahren und Dienstleis- in einer öffentlichen Debatte redet, dann taucht immer tungen gehen; es darf nicht um die niedrigsten Löhne in wieder ein Begriff auf, der im Hinblick auf das Ver- Deutschland gehen. trauen der Menschen in demokratische Politik so etwas (Beifall bei der SPD) wie die knappste Ressource zu sein scheint, nämlich der Begriff der Glaubwürdigkeit. Willy Brandt hat einmal Wir haben uns angehört, was Herr Weiß vorhin gesagt gesagt, wie Glaubwürdigkeit entsteht: Man muss sagen, hat. Herr Weiß, bei allem gebotenen Ernst: Ich nehme was man tut, und tun, was man sagt. Deshalb tun wir So- Ihnen persönlich ab, dass Sie Gutes wollen; das unter- zialdemokraten das, was wir sagen, und legen heute die- stelle ich Ihnen in dieser Frage. Ich sage Ihnen: Wir müs- sem Haus in zweiter und dritter Lesung unseren Gesetz- sen uns in den Wahlkämpfen, auch im kommenden entwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns Bundestagswahlkampf, nicht streitig mit dem Thema vor. Mindestlohn auseinandersetzen; wir müssen das nicht. Wir können – unsere Hand ist ausgestreckt – noch in die- Herr Weiß, ich finde, das ist ein Unterschied zu dem, ser Legislaturperiode zu einer zureichenden Lösung was Sie hier geboten haben. Bei Ihnen klaffen Reden kommen, zu einer vernünftigen Lösung, die den Men- und Handeln meilenweit auseinander. Es gibt nichts Gu- schen hilft. Ich will Ihnen sagen, was wir damit meinen: tes, außer man tut es! Erstens. Wir wollen, wie auch Sie, den Vorrang der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Tarifautonomie in Deutschland beibehalten. Wir wollen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in Lohnverhand- Viel über den Mindestlohn zu schwadronieren, aber kei- lungen auf Augenhöhe Löhne festsetzen; das soll der Re- nen Gesetzentwurf vorzulegen, das ist kein Ruhmesblatt. gelfall bleiben. Wir schlagen vor, in Deutschland einen existenz- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Dann zie- sichernden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, damit hen Sie mal sofort Ihren Antrag sofort zurück, Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben Herr Heil!) können. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, gibt Zweitens. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, wol- Gelegenheit, die Lebenssituation von über 5 Millionen len wir – das konstatieren Sie auch – einen Vorrang für Menschen in Deutschland zu verbessern, von 16 Prozent branchenspezifische Mindestlöhne nach dem Tarifver- der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bisher tragsgesetz und dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz. (B) (D) weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdienen. Unter Auch da könnten wir gemeinsam etwas machen: Wir dem Strich helfen wir damit nicht nur den Menschen könnten es erleichtern, dass tarifvertragliche branchen- – das alleine wäre bereits ein Grund, dem Gesetzentwurf bezogene Mindestlöhne zustande kommen. heute zuzustimmen –, sondern auch den öffentlichen Kassen und somit der Gesellschaft insgesamt. Ich will Ihnen eines sagen: Sie rühmen sich hier, zum 1. Januar in drei Branchen Mindestlöhne eingeführt zu Eine Studie des renommierten Prognos-Instituts hat haben. Ich kann mich ganz gut erinnern – die Kollegin nachgewiesen, dass die fiskalischen, die finanzpoliti- Pothmer auch –, wie mühsam wir Ihnen diese Mindest- schen Wirkungen der Einführung eines Mindestlohns für löhne in den Bereichen der Zeit- und Leiharbeit, des die öffentlichen Haushalte zu einem Plus von 7 Milliar- Sicherheitsgewerbes und der Weiterbildung in den Ver- den Euro führen würden, und zwar durch steigende Er- handlungen abringen mussten. werbseinkommen für private Haushalte und damit stei- gende Steuer- und Beitragseinnahmen, durch eine (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stärkung der Binnennachfrage, was gerade in Zeiten wie NEN]: Ja, das stimmt!) diesen sehr wichtig ist, und nicht zuletzt durch sinkende Ich sage Ihnen: Wir könnten es einfacher machen, indem Sozialausgaben. wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ändern und jeder Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Men- Branche, die das will und kann, die Möglichkeit eines schen trotz Vollzeitarbeit ergänzend Arbeitslosengeld II branchenspezifischen Mindestlohns nach dem Arbeit- vom Amt abholen müssen, sagen wir: Es muss Schluss nehmer-Entsendegesetz geben. damit sein, dass wir immer mehr Armutslöhne in diesem Land mit Steuergeldern aufstocken müssen. Das darf Vizepräsidentin Petra Pau: nicht sein; das wollen wir beenden. Gestatten Sie eine Frage des Kollegen Wadephul? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Hubertus Heil (Peine) (SPD): GRÜNEN) Bitte schön. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den bisherigen Regierungsfraktionen, ein Mindestlohn ist auch ord- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): nungspolitisch geboten, weil es um fairen Wettbewerb Herr Kollege Heil, ich bin geneigt, Sie ernst zu neh- geht, weil wir die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die men – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18341

(A) Hubertus Heil (Peine) (SPD): heute über das Mindestarbeitsbedingungengesetz recht- (C) Das kann ich nur wünschen. lich möglich, nur funktioniert es leider nicht. (Zuruf von der FDP: Schon falsch!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es werden über- haupt keine Anträge gestellt, Herr Heil! Stel- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): len Sie sich das einmal vor! – Abg. Dr. Johann – und auf Ihr Angebot einzugehen, gemeinsam da- Wadephul [CDU/CSU] nimmt wieder Platz) rüber zu diskutieren. Das, was Sie gerade vorgetragen – Herr Wadephul, bleiben Sie bitte stehen. Ich will die haben, findet sich aber sämtlich nicht in Ihrem Gesetz- Frage, die Sie gestellt haben, beantworten. – Frau Präsi- entwurf wieder. Werden Sie deshalb in dieser Debatte, dentin, ich finde es ein bisschen ungehörig, eine Frage bei diesem Tagesordnungspunkt Ihren Gesetzentwurf zu stellen und sich dann hinzusetzen. zurückziehen und damit gegebenenfalls ermöglichen, dass man zu gemeinsamen Regelungen kommt, oder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des werden Sie diesen Gesetzentwurf inkonsequenterweise BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung stellen? Aber okay: So sind die Bürgerlichen im Moment. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Kein der FDP) Anstand! Keine Moral!) Herr Wadephul, ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir Hubertus Heil (Peine) (SPD): brauchen eine gesetzliche Lohnuntergrenze auch in den Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese Frage ausge- Bereichen, in denen die Tarifautonomie einfach nicht sprochen dankbar, weil sie mir die Gelegenheit gibt, die- mehr funktioniert. Die berühmte Friseurin in Thüringen, sen Zusammenhang zu erläutern. Ich habe eben gesagt: die 3,18 Euro pro Stunde verdient, erhält diesen Lohn Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösun- gemäß Tarifvertrag. Wir wollen die Lebenssituation die- gen. Ich erwähne das, weil Herr Weiß das angesprochen ser Menschen konkret verbessern. Deshalb brauchen wir hat und dabei insinuiert hat, unterstellt hat, wir würden einen gesetzlichen Mindestlohn. Das gehört zusammen. die Tarifautonomie infrage stellen. Herr Wadephul, ich frage Sie an dieser Stelle einmal – die Frage ist offen –: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wären die Gewerkschaften in diesem Land für einen ge- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE setzlichen Mindestlohn, wenn es stimmen würde, dass GRÜNEN) seine Einführung die Gewerkschaften schwächt? Unser Angebot steht: Sie von der Koalition können (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heute ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wenn (D) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie sich auf diesen Weg einlassen. Das werden Sie aller GRÜNEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/ Voraussicht nach nicht tun, auch weil Ihr Koalitionspart- CSU]: Das war nicht meine Frage!) ner Sie wieder einmal an einem richtigen Schritt hindert. In diesem Zusammenhang muss ich der FDP an einer Deshalb ist der Zusammenhang klar. Stelle ausnahmsweise recht geben. Herr Kollege Vogel Herr Wadephul, unser Vorschlag an Sie ist: Lassen von der FDP, ich habe heute im Handelsblatt gelesen, Sie uns dafür sorgen, dass es einen Vorrang für tarifver- dass Sie die Position der Union schön umschrieben ha- tragliche Lösungen gibt, damit wir zu fairen Löhnen in ben: Sie verstünden nicht genau, was die Union in die- Deutschland zurückkehren. Das wird durch unseren Ge- sem Bereich wolle. Am Ende des Tages sei das ein kräf- setzentwurf nicht verunmöglicht; im Gegenteil: Er tiges Jein der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Sachen stärkt, wie ich gleich zeige, die Tarifautonomie. Wir Mindestlohn. wollen einen Vorrang für Mindestlöhne in einzelnen (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) Branchen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz; sie sind schon jetzt möglich, aber wir wollen es einfacher Wo die FDP recht hat, hat sie recht: Sie eiern in dieser machen. Ich sage Ihnen: Wir brauchen gleichwohl Frage herum. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sie müs- (Beifall bei der SPD) sen nur Ja oder Nein sagen!) Deshalb habe ich mich an den Lateinunterricht erin- – diese Klarstellung müssen Sie sich gefallen lassen – nert, den ich vor mehr als 20 Jahren hatte. eine verbindliche Lohnuntergrenze und einen gesetzli- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Da kann chen Mindestlohn. Das unterscheidet uns möglicher- man nur sagen: Si tacuisses, philosophus man- weise noch. sisses!) (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ziehen Da haben wir gelernt, was der Begriff „Placebo“ bedeu- Sie den Gesetzentwurf zurück!) tet. Placebo heißt – ich musste noch einmal nachgucken – Wenn ich mir Ihren Antrag und Beschluss vom Partei- wörtlich übersetzt „Ich werde gefallen“. Im gemeinen tag in Leipzig anschaue, dann fällt mir Folgendes auf: Sprachgebrauch nehmen wir den Begriff „Placebo“ Sie sagen, dass Sie einen Mindestlohn oder eine gesetzli- heute für Arzneimittel, die keine Wirkung entfalten. che Lohnuntergrenze für die Bereiche wollen, in denen Deshalb kann man das, was Sie auf dem Parteitag in es keine Tarifverträge gibt. Ich sage Ihnen: Das ist schon Leipzig beschlossen haben, tatsächlich nur als einen Pla- 18342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Hubertus Heil (Peine) (A) cebo-Mindestlohn beschreiben. Sie wollen gefallen, aber Seien Sie also vorsichtig mit solchen Aussagen, die die (C) Sie bewirken nichts mit dem, was Sie da beschließen. Zukunft betreffen. Auch hier gilt Willy Brandt: Politik, die nicht dazu bei- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hubertus trägt, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern, Heil [Peine] [SPD]: Müder Applaus!) soll uns in diesem Land gestohlen bleiben. Das Zweite, was ich sagen will – damit ich es nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vergesse, sage ich es vorab –: Ein einheitlicher gesetzli- DIE GRÜNEN) cher Mindestlohn ist kein Projekt dieser schwarz-gelben Herr Weiß und Herr Schiewerling, ich nehme Ihnen Bundesregierung. ab, dass Sie Gutes wollen. Ich bezweifle nur, dass Sie (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!) eine Mehrheit im eigenen Laden und eine Mehrheit in dieser Koalition haben. Dass die Kanzlerin in dieser Das steht klar und unmissverständlich im Koalitionsver- Frage schweigt und sich im Bereich der Finanztransak- trag. Und um es noch klarer zu sagen: Sie können dabei tionssteuer – da ist es ähnlich – nicht gegen einen schwä- das Wort „einheitlich“ auch durch die Worte „flächende- chelnden Koalitionspartner durchsetzen kann, ist ckend“ oder „für alle Branchen geltend“ ersetzen. Das schlimm genug. ändert an der Bewertung durch unsere Fraktion nichts. Wir stehen zum Koalitionsvertrag, und ich habe keinen Wir könnten miteinander zu vernünftigen Lösungen Zweifel, anzunehmen, dass das bei unserem Koalitions- kommen. Wir legen Ihnen heute einen schlanken, einen partner anders gesehen wird. guten, einen einfachen Gesetzentwurf vor. (Anette Kramme [SPD]: Je lauter der Hund (Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Der passt bellt, desto größer sind seine Sorgen!) nur nicht zu Ihrer Rede! Herr Kollege Heil, zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie ha- Sie werden ihn ablehnen. Aber damit sind Sie das ben die Glaubwürdigkeit an den Anfang Ihrer Rede ge- Thema nicht los. Wir wollen faire Löhne in Deutschland. stellt. Glaubwürdigkeit beinhaltet für mich, dass das, Wir werden dafür sorgen, dass der Mindestlohn kommt. was man sagt, stimmen sollte, Wenn Sie es nicht schaffen, wird dies nach der Bundes- tagswahl 2013 die erste Amtshandlung einer rot-grünen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich glaube Bundesregierung sein. Ihnen, dass Sie es nicht wollen!) Herzlichen Dank. und man sollte keine falschen Eindrücke erwecken. Da stelle ich gewisse Anforderungen an Sie persönlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – denn ich schätze Sie sehr –, aber auch an Ihre Fraktion. (B) (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ich finde, eine Partei, die von 1998 bis 2009 den Bun- Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Da gefrie- desarbeitsminister gestellt hat, kann nicht einfach so ei- ren sogar die Mienen der Grünen!) nen Antrag hinschmieren, wie Sie es mit dem vorliegen- den Antrag offensichtlich getan haben. Ich will Ihnen Vizepräsidentin Petra Pau: das an sieben Punkten untermauern. Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Ich erwarte von der SPD, dass sie im Gesetz selbst Dr. Heinrich Kolb. und nicht nur in der Begründung – Sie sagten nämlich, (Beifall bei der FDP) wer hart arbeite, müsse davon auch leben können – klar sagt, dass ihr Mindestlohn existenzsichernd nur für al- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): leinstehende Vollzeitbeschäftigte sein soll Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Absolut Herr Kollege Heil, mit solchen „Versprechungen“, was richtig!) man nach der Wahl machen werde, soll man vorsichtig sein. und dass ihr Mindestlohn nichts daran ändern würde, dass auch in Zukunft in mehreren Hunderttausend Fäl- (Lachen und Beifall bei der SPD, der LINKEN len, in der überwiegenden Mehrheit der Fälle Menschen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aufstockerleistungen in Anspruch nehmen müssten, um ihr eigenes Einkommen dem tatsächlichen Bedarf anzu- – Nein, warten Sie es erst einmal ab. Der Schuss geht für passen, nämlich Verheiratete und Familien mit Kindern. Sie nach hinten los, Herr Kollege Heil. Sie haben vor der Das ist übrigens keine Schande – das will ich hier einmal Bundestagswahl 1998 schriftlich versprochen: Als Ers- sehr deutlich sagen –, sondern es ist eine Errungenschaft tes werden wir nach einer gewonnenen Bundestagswahl unseres Sozialstaates, dass genau diese Aufstockung des den demografischen Faktor, den Schwarz-Gelb einge- Einkommens bis zum Bedarf stattfindet. führt hat, abschaffen. – Das haben Sie auch getan, aber nur ganz kurz. Denn wenig später haben Sie festgestellt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das passt gar nicht zusammen, und Sie haben den demo- Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, dass sie grafischen Faktor als Nachhaltigkeitsfaktor wieder ein- ihre Begründung eines Mindestlohns laufend überprüft. geführt. Sie haben in Ihrem Antrag vom Februar 2011 noch da- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was hat das mit vor gewarnt, dass eine Invasion von Arbeitnehmerinnen dem Mindestlohn zu tun?) und Arbeitnehmern aus Osteuropa nach Deutschland un- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18343

Dr. Heinrich L. Kolb (A) mittelbar bevorstünde. Die Entwicklung des letzten Jah- Sie nicht zulassen. In der Begründung zu § 8 Ihres An- (C) res hat gezeigt, dass genau das nicht eingetreten ist. Des- trags heißt es nur lapidar, man wolle den Tarifpartnern halb hätte ich von Ihnen erwartet, dass Sie sagen, dass ein Jahr Zeit zur Anpassung lassen. Da kann ich nur sa- jedenfalls dieses Argument zur Begründung eines Min- gen: Respekt vor der Tarifautonomie sieht nach unserer destlohnes in Deutschland nicht mehr taugt. Auffassung anders aus, Herr Kollege Heil. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – CDU/CSU) Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, Niedriglöhne! Dann sind Sie auch dafür, wenn es 3 Euro Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, dass, sind!) wenn sie auf Seite 5 ihres Gesetzentwurfs schreibt, der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Ar- Von der SPD erwarte ich auch, Herr Kollege Heil, mutslöhnen sei zwischen 1998 und 2008 von 8,3 auf dass sie weiß – und Sie wissen das auch –, dass man mit 12,7 Prozent gestiegen, sie dann auch dazuschreibt: Das einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht, auch nach ist genau der Zeitraum, in dem die SPD den Arbeitsmi- 45 Arbeitsjahren nicht, erreichen kann, dass vollzeitbe- nister in diesem Land gestellt hat. schäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Geht es Ihnen Alterssicherung haben, die oberhalb der bedürftigkeits- um die Menschen oder um Polemik? 95 steht orientierten Leistung der Grundsicherung im Alter liegt. da! Sie haben die Zahlen vertauscht!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist kein – Nein, 98. Ich habe mir das selbst herausgeschrieben; Argument dagegen!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, das ist aber 45 Jahre Beschäftigung mit 8,50 Euro – natürlich in mit Fehlern beladen!) Zeitwerten; das wird ja fortgeschrieben – führen aktuell zu einer Rente von 571 Euro, mithin 100 Euro unter dem ich schreibe meine Reden durchaus noch selbst. – Dass Grundsicherungsniveau im Alter. wir diesen Niedriglohnsektor haben, ist übrigens kein Zufall und auch nicht versehentlich passiert. Vielmehr (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn man sein war es ein bewusstes Ergebnis Ihrer Politik. Sie wollten ganzes Erwerbsleben auf dem Niveau bleibt!) einen Niedriglohnsektor; Sie haben ihn ganz aktiv ange- So kann man Menschen für dumm verkaufen, Herr Kol- strebt. lege Heil. Das lassen wir Ihnen als ehemaliger Regie- Ich erwarte von der SPD, Herr Kollege Heil, wenn sie rungspartei einfach nicht durchgehen. behauptet, der wachsende Niedriglohnsektor führe zu ei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) ner Erosion der Einnahmebasis der Sozialversicherun- (D) gen und des Staates, wie es auf Seite 1 ihres Antrages Man könnte zu Ihrem Antrag noch viel sagen. Zu dem steht, dass sie das wenigstens überschlägig mit der Rea- Antrag der Grünen etwas zu sagen, lohnt sich nicht; er lität vergleicht. Schon ein kurzer Blick in die Beitrags- ist viel zu dünn, Frau Kollegin Pothmer. und Steuerkassen hätte Ihnen gezeigt: Die Sozialver- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sicherungsbeiträge und Steuern sprudeln auf Rekord- NEN]: Wir haben schon einen Gesetzentwurf niveau in diesem Lande. Das zeigt, dass Ihre Prämisse an vorgelegt!) dieser Stelle falsch ist. Über eine grobe Skizze unverbindlichster Art geht er Ich hätte von der SPD, Herr Kollege Heil, auch er- nicht hinaus; deshalb ist er nicht der Rede wert. wartet, dass sie nicht vordergründig behauptet, sie wolle selbstverständlich einen unpolitischen Mindestlohn, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE dann aber ein System vorschlägt, das politischer nicht GRÜNEN]: Was sagt die FDP eigentlich? Was sein könnte. Was passiert denn, Herr Heil, wenn die wollen Sie?) Kommission der Meinung ist, dass 8,50 Euro zu hoch sind, wenn sie der Meinung ist, dass es in Deutschland Zu den Kollegen der Linken muss man sagen, dass sie überhaupt keinen Mindestlohn geben sollte, oder sich mir zu abgedreht sind. Über deren Antrag kann man auf keinen Mindestlohn einigen kann, was jedenfalls auch nicht ernsthaft diskutieren. nicht ganz ausgeschlossen werden kann, oder wenn das Am Ende muss ich leider sagen: Die SPD hat bei die- BMAS an dem vorgeschlagenen Mindestlohn keinen ser Aufgabe schändlich versagt. Das hätte ich von einer Gefallen findet? In all diesen vier Fällen ist die Konse- ehemaligen Regierungspartei nicht erwartet. quenz Ihres Gesetzentwurfes – schütteln Sie nicht den Kopf; lesen Sie es in Ihrem Gesetzentwurf nach, denn (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schönen Gruß dort steht es –, dass das Bundesministerium für Arbeit an die 2-Prozent-Partei!) und Soziales, also die Politik, einen Mindestlohn in Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen, ebenso wie Deutschland festsetzt. Das ist für uns nicht akzeptabel. die Anträge der weiteren Oppositionsparteien. Von der SPD, Herr Kollege Heil, erwarte ich nicht Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nur, sondern verlange es auch, dass sie verantwortungs- voll mit der Tarifautonomie umgeht. Was ist, wenn die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Tarifpartner zu dem Ergebnis kommen, dass sie von dem Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das war Mindestlohn nach unten abweichen wollen? Das wollen die 2-Prozent-Partei!) 18344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So weit ging es (C) Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion dann doch nicht!) Die Linke. – Herr Kolb, Sie haben übrigens immer zugestimmt. Da (Beifall bei der LINKEN) brauchen Sie gar nicht versuchen, sich herauszureden. Die Schutzregelungen für Arbeitnehmer bei befriste- Klaus Ernst (DIE LINKE): ten Arbeitsverhältnissen wurden gelockert. Es war letzt- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und endlich die Agenda 2010 – die Sie heute wieder verteidi- Herren! Herr Kolb, es kann sein, dass wir aus Ihrer Sicht gen –, die dazu geführt hat, dass Arbeitnehmerinnen und abgedreht sind, aber Ihre Position zum Mindestlohn, ein- Arbeitnehmer Arbeit aller Art anzunehmen haben, auch schließlich die der gesamten Koalition, ist für jeden Ar- wenn es nur 1 Euro dafür gibt. Deshalb haben Sie das beitnehmer, der wenig Geld verdient, eine Bedrohung Problem mit verursacht. Sie sind nicht die Lösung, Sie der Existenz. Das ist viel schlimmer, Herr Kolb. Das will sind die Ursache des Problems, liebe Genossinnen und ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen. Genossen, das muss ich euch leider sagen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. (Beifall bei der LINKEN) Kolb [FDP]: Wir haben ja gesagt: Aufstocken ist keine Schande! – [CDU/ Es ist zwar recht und schön, wenn man die Feuerwehr CSU]: Wir sind noch nicht im Sozialismus!) ruft, wenn es nicht mehr geht, aber wenn man vorher den Brand selber gelegt hat, dann ist das nicht glaubwürdig. Wir stimmen über einen Gesetzentwurf der SPD zum Mindestlohn ab. Seit sechs Jahren diskutieren wir über Liebe Genossinnen und Genossen – – diese Frage. Sie blockieren alles. Sie sind damit für die (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Armut durch Arbeit in diesem Land verantwortlich, und Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kolleginnen und zwar alle miteinander, so wie Sie hier sitzen. Das will Kollegen! So viel Zeit muss sein!) ich Ihnen sagen. – Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Ihnen hat es ins Hirn hineinge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind nicht regnet!) mein Genosse! Ich habe andere hier!) Die Einführung einer allgemeinverbindlichen Lohn- die CDU/CSU hat das, was ihr gemacht habt, immer sehr untergrenze ist dringend notwendig. Es stimmt, was in gefreut, sie freut es noch heute. Ihr wart der Türöffner (B) (D) Ihrem Gesetzentwurf steht: Jeder fünfte sozialversiche- für eine Entwicklung, die die Konservativen gefreut hat. rungspflichtig Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnbe- Dies alles hat im Ergebnis dazu geführt – Sie berufen reich, 1,15 Millionen für weniger als 5 Euro in der sich gerne auf den DGB und die Tarifautonomie –, dass Stunde. Herr Kolb, für dieses Geld würden Sie morgens der Vorsitzende des DGB Ihnen allen ins Stammbuch nicht einmal das Augenlid heben, um das einmal deut- schreibt, dass Arbeit in unserem Land so billig geworden lich zu sagen. ist wie Dreck. Deswegen brauchen wir einen Mindest- lohn, was Sie verhindern. Insofern ist der Gesetzentwurf ( [FDP]: Das sagt der Rich- der Sozialdemokraten durchaus richtig, weil er in die tige! – Heiterkeit bei der FDP – Dr. Heinrich richtige Richtung geht. L. Kolb [FDP]: Ich habe keinen Porsche, Herr Kollege! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- Wir müssen mithelfen, ein Problem zu lösen, für das NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo er recht hat, hat Sie selbst maßgeblich verantwortlich sind. Aber er recht, Herr Kolb!) 8,50 Euro als Mindestlohn reichen nicht aus. Herr Kolb hat hier im Übrigen auch recht. 3,4 Millionen arbeiten für weniger als 7 Euro die Stunde. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Zweimal jetzt Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2008. Inzwi- schon! Beim dritten Mal gebe ich einen aus, schen haben die Probleme in diesen beiden Lohnseg- Herr Kollege! – Gegenruf des Abg. Hubertus menten deutlich zugenommen. Im SPD-Antrag, mit dem Heil [Peine] [SPD]: Das ist doch schön! Eine wir uns natürlich auseinandersetzen müssen, heißt es: Koalition aus FDP und Linke!) Zwischen 1998 und 2008 ist der Anteil der Beschäftigten mit Armutslöhnen von 8,3 Prozent auf 12,7 Prozent ge- In Ihrem Gesetzentwurf weisen Sie richtigerweise darauf stiegen. – Das ist eine Steigerung um 50 Prozent. Das hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der Renten- Problem hat sich seit 1998 dramatisch verstärkt. höhe und den Löhnen gibt. Klar ist, dass zu niedrige Löhne zu niedrigen Renten führen. Sie schreiben in Ih- Liebe Genossinnen und Genossen von der sozialde- rem Gesetzentwurf – ich zitiere –: mokratischen Partei, an dieser Stelle hat Herr Kolb recht; denn Sie müssen sich schon die Frage stellen: Wer Mit einem ausreichenden Mindestlohn würde er- hat damals regiert? Was ist in Ihrer Regierungszeit pas- reicht, dass vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen siert, dass die Armutslöhne in unserem Land plötzlich so und Arbeitnehmer eine Alterssicherung erreichen zugenommen haben? Es war Ihre Regierung, die die können, die oberhalb der bedürftigkeitsorientierten Leiharbeit geradezu gefördert hat. Leistungen der Grundsicherung im Alter liegt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18345

Klaus Ernst (A) Das stimmt. Leider tritt das bei einem Mindestlohn von Ihnen, dass es dringend notwendig ist, den Menschen (C) 8,50 Euro nicht ein. ihre Würde zurückzugeben. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn ich davon (Beifall bei der LINKEN) ausgehe, dass die Leute ein Leben lang nur den Das erreichen wir, wenn wir einen gesetzlichen Mindest- Mindestlohn bekommen! – Dr. Heinrich L. lohn einführen. Ich bitte Sie: Reißen Sie sich in diesem Kolb [FDP]: Bei 10 Euro übrigens auch nicht! Zusammenhang einmal am Riemen! Rechnen Sie das einmal nach!) (Beifall bei der LINKEN) Ich habe die Bundesregierung gefragt: Wie hoch müsste denn ein Lohn sein, damit ein entsprechendes Rentenniveau erreicht wird? Ich habe eine Antwort be- Vizepräsidentin Petra Pau: kommen. Die würde ich Ihnen gerne vortragen. Die Ant- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- wort ist nämlich eindeutig. Am 11. Mai habe ich vom legin Brigitte Pothmer das Wort. Bundesministerium für Arbeit mitgeteilt bekommen: Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um eine Nettorente im Alter in Höhe von 684 Euro Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist (Wert von 2009) zu erreichen, wäre rechnerisch ein allein in dieser Legislaturperiode die siebte Debatte zum Stundenlohn von 10 Euro erforderlich. Thema Mindestlohn. Herr Heil, das ist das Problem. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich befürchte, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich will aber das ist nicht die letzte! – Gegenruf der Abg. nicht, dass die Leute nur einen Mindestlohn ihr Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Leben lang haben! Das ist zu wenig!) GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Be- Es tut mir leid: Mit Ihrem Antrag werden Sie Ihren eige- stimmt nicht die letzte!) nen Anforderungen nicht gerecht. 10 Euro Mindestlohn sind notwendig, damit Menschen, die ihr ganzes Leben, Aber, Hubertus, es gibt immerhin einen kleinen Fort- also 45 Versicherungsjahre lang, vollzeitbeschäftigt wa- schritt. Das Bohren dicker Bretter hat sich gelohnt. Wir ren, später eine Rente erhalten, für die sie nicht zum Amt reden heute nicht mehr ernsthaft über die Frage, ob es ei- gehen müssen. Das wird mit Ihrem Antrag nicht erreicht. nen Mindestlohn geben soll, sondern wir reden heute über die Frage, Herr Kolb, wie dieser Mindestlohn aus- (Beifall bei der LINKEN – Anette Kramme gestaltet werden wird. [SPD]: Vorsicht!) (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) Es ist bereits auf die Studie des Schweizer For- SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb schungsunternehmens Prognos hingewiesen worden; [FDP]: Dann haben Sie meine Rede nicht auf- Herr Heil, Sie haben das getan. Ich möchte betonen, dass merksam verfolgt!) bei einem Mindestlohn von 10 Euro der Einkommenszu- Diese Frage ist alles andere als trivial. Wenn Frau von wachs mehr als 26 Milliarden Euro betragen würde. der Leyen – ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unter der Vor- ich finde es nicht hinnehmbar, dass sie bei einer solchen gabe, dass keine Beschäftigung wegfällt! – zentralen arbeitsmarktpolitischen Debatte nicht anwe- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist das send ist – Hauptkampffeld für die Linke! Sonst kriegt ihr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, euren Laden nicht zusammengehalten! Das ist bei der SPD und der LINKEN) doch der Punkt!) bei ihrer Position bleibt, nämlich einen Mindestlohn nur So sagt es Prognos. Das ist deutlich mehr als das, was für die Bereiche einzuführen, in denen es keine Tarifver- durch Ihren Gesetzentwurf zu erwarten wäre. träge gibt, dann springen Sie mit diesem Ansatz deutlich Von uns allen hier hängt ab, ob wir letztendlich ein zu kurz. Sie können doch die Friseurin aus Sachsen mit entsprechendes Gesetz beschließen werden. Wir werden einem Tariflohn von 3,06 Euro nicht dafür bestrafen, Ihrem Antrag zustimmen, weil er in die richtige Rich- dass sie sich im Tarifsystem befindet. Sie können doch tung geht, auch wenn der Betrag noch nicht stimmt. die Floristin aus Thüringen nicht dafür bestrafen. Das Gleiche gilt für die vielen Beschäftigten im Hotel- und (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ach! Das Gaststättengewerbe, im Gartenbau und in der Landwirt- ist ja mal was! Das hätten wir bei der Argu- schaft. mentation der Rede nicht erwartet! – Anette Kramme [SPD]: Da sind wir stolz drauf! – (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich [SPD]) dachte, Sie würden mit Nein stimmen, bei der Wenn diese Beschäftigten vom Mindestlohn profitie- Rede!) ren wollen, dann müssen sie aus dem Tarifsystem aus- steigen. Wenn Sie das machen, was Sie angekündigt ha- Ich sage allen, die dagegen stimmen werden, dass Arbeit ben, dann ist das ein Projekt zur Forcierung der auch etwas mit Würde zu tun hat. Wenn Menschen voll- Tarifflucht. Das können Sie nicht wirklich wollen. zeitbeschäftigt sind und von ihrer Arbeit nicht mehr le- ben können, dann nimmt man ihnen die Würde. Ich sage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 18346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: rade als Speerspitze der Mindestlohnbewegung gezeigt. (C) Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Frage oder Be- Wenn überhaupt, war sie vielleicht eine Mitläuferin. merkung des Kollegen Weiß? Der CDU-Parteitagsbeschluss ist Herrn Laumann zu (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht so verdanken. laut!) (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das stimmt!) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Vorschlag zur Umsetzung dieses Beschlusses Ja, bitte. kommt aus der Arbeitnehmergruppe Ihrer Fraktion. Frau von der Leyen ist die Prokura in Sachen Mindestlohn Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): ganz offensichtlich endgültig entzogen worden. Dabei Frau Kollegin Pothmer, ich möchte Sie nur um eine müsste sie jetzt in die Debatte eingreifen. Sie müsste die sachliche Klarstellung bitten: Würden Sie bitte dem Skeptiker in ihrer Fraktion mit Fakten überzeugen. Die Hohen Hause und auch der Öffentlichkeit sagen, dass Fakten, meine Damen und Herren, sind hier x-fach ge- die von Ihnen genannten Tarifverträge, die in der Tat nannt worden. Die Fakten liegen auf dem Tisch. eine sehr geringe Entlohnung vorsehen, die wir alle uns eigentlich gar nicht vorstellen können, zum Teil seit Nahezu 3,6 Millionen Menschen arbeiten für Löhne zehn Jahren gekündigt sind und nur noch die sogenannte unter 7 Euro die Stunde. 1,3 Millionen Beschäftigte Nachwirkung entfalten? müssen, obwohl sie hart arbeiten, noch zum Jobcenter gehen, um sich Finanzspritzen zu holen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein! – Sie sind trotzdem weiterhin wirksam. Herr Weiß, weil Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und was ist mit Sie das wissen – ganz offensichtlich anders als Frau von Verheirateten und Familien mit Kindern?) der Leyen –, haben Sie in Ihrem Vorschlag, den die Ar- Das ist entwürdigend, und das ist teuer für die Gesell- beiternehmergruppe zur Umsetzung des Beschlusses des schaft. CDU-Parteitags vorgelegt hat, vorgesehen, dass diese Nachwirkungsfrist auf ein Jahr begrenzt wird; denn Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen das, was Frau von der Leyen will, ganz offen- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Johann sichtlich nicht. Sie wollen mit Ihrem Beschluss errei- Wadephul [CDU/CSU]: Das ist Ihre Politik ge- chen, dass auch die Leute, in deren Branchen es Tarif- wesen! Rot-grüne Politik!) verträge gibt, vom Mindestlohn profitieren. Das ist (B) Jeder vierte Beschäftigte, der arbeitslos wird, fällt sofort (D) richtig. Das unterstützen wir im Übrigen. in Hartz IV, weil die Löhne so skandalös gering sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dass Mindestlöhne keine Arbeitsplätze bedrohen, haben die Studien, die Sie selber in Auftrag gegeben haben, Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Welche Haltung endgültig unter Beweis gestellt. nimmt der Wirtschaftsflügel der CDU zu Ihren Vorschlä- gen ein? Bisher war es leider so, dass die gutgemeinten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Das kann Vorschläge der CDA immer so weit ausgehöhlt worden man so nicht sagen! Ich bitte Sie, die auch mal sind, dass sie am Ende überhaupt keine Substanz mehr zu lesen!) entfaltet haben. Unter dem Strich ist festzustellen: Für viele Men- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So wie der schen ist Ihr Slogan „Arbeit soll sich wieder lohnen“ Antrag der Grünen!) wirklich purer Hohn. Für diese Menschen gilt etwas ganz anderes: Armut trotz Arbeit. Das, finde ich, ist ein Frau von der Leyen – sie ist ja nicht da –, in einer sol- sozialpolitischer Skandal, der mit der sozialen Markt- chen Situation, in der der Arbeitnehmerflügel der CDU wirtschaft nicht zu vereinbaren ist. etwas vorlegt und der Arbeitgeberflügel der CDU dem widerspricht, kommt es zentral auf die Arbeitsministerin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an. Sie muss jetzt zeigen, auf welcher Seite sie eigentlich sowie bei Abgeordneten der SPD) steht. Sie hat in einem Interview mit der HAZ gesagt, sie Herr Kolb, jetzt zu Ihnen. Das, was ich gesagt habe, wolle sich mit Verve dafür einsetzen, dass es noch in die- sehen Ihre Wählerinnen und Wähler ganz offensichtlich ser Legislaturperiode einen Mindestlohn gibt. haargenau so. Eine Umfrage des Instituts Infratest dimap (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann müsste sie aus dem Jahre 2009 kam zu dem Ergebnis, dass über heute mal hier sein! Das merkt man jetzt!) 70 Prozent der FDP-Wählerinnen und -Wähler für einen Mindestlohn sind, Herr Kolb. Von dieser Verve konnte jedenfalls ich bisher nicht viel erkennen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Für einen Min- destlohn oder für Branchenmindestlöhne oder (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es geht ja auch für was genau?) nur um Schlagzeilen!) Neuere Zahlen kann ich Ihnen leider nicht vorlegen. Das Bisher jedenfalls – das zeigt ihre Abwesenheit bei der hängt damit zusammen, dass die Zahl der Wählerinnen heutigen Debatte zum x-ten Mal – hat sie sich nicht ge- und Wähler der FDP so weit geschrumpft ist, dass ihre Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18347

Brigitte Pothmer (A) Auffassungen nicht mehr messbar sind. Das kann Sie ein gerechter Mindestlohn zustande kommt. Die SPD (C) aber nicht ernsthaft wundern. Sie arbeiten doch mit und ihre geistigen Milchbrüder von den Linken haben Hochdruck daran, Ihre Umfragewerte in den Keller zu darüber geredet, wie hoch er sein soll. treiben. Ihre Wählerinnen und Wähler sind für den Min- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sind denn destlohn. Ihre Wählerinnen und Wähler sind für die Fi- bitte „Milchbrüder“?) nanztransaktionsteuer. Ich weiß, dass es in der Sozialdemokratie und bei den (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Kümmern Linken eine Tradition gibt, die Parteitagsbeschlüsse bei Sie sich doch auch mal um Ihre Wähler, Frau der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit zur Bibel zu Pothmer!) machen, aber mir ist bis heute noch nicht ganz klar, auf- Aber hier im Bundestag blockieren Sie all die Projekte, grund welcher Eingebung Sie zu den verbindlichen Zah- die Ihre Wählerinnen und Wähler wollen. Daher müssen len von 8,50 Euro bzw. 10 Euro Mindestlohn kommen. Sie sich nicht wundern, dass Sie inzwischen bei 2 Pro- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da will ich Sie zent gelandet sind. aufklären!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh! Da hat jetzt Nun hat die SPD einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich aber niemand geklatscht! Das scheint nicht so halte den Gesetzentwurf für schlecht, und zwar nicht, originell gewesen zu sein! – Gegenruf der weil das gewissermaßen in der – – Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir haben Mitleid!) (Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Meine Damen und Herren, das Jahr 2012 könnte das Jahr des Mindestlohns werden. Die Bevölkerung will – Der Kollege Heil. ihn. Die Vorschläge der Opposition liegen auf dem Tisch. Es gibt auch einen entsprechenden CDU-Partei- Vizepräsident Dr. h. c. : tagsbeschluss. Wenn die Union ihre sozialpolitische Ich wollte Sie nicht mitten im Satz unterbrechen, aber Glaubwürdigkeit nicht vollkommen verlieren will, dann wenn Sie schon freiwillig aufhören. muss sie jetzt etwas vorlegen – mit oder ohne FDP. Ich danke Ihnen. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für den Kollegen höre ich gerne mitten im Satz auf. sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) Vizepräsidentin Petra Pau: Bitte schön, Herr Kollege. Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die Unionsfraktion. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Kollege Zimmer, weil Sie nicht begriffen haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie wir auf 8,50 Euro kommen: Können Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass das keine willkürlich herausge- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): griffene Zahl, sondern der Betrag ist, mit dem zumindest Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist dafür gesorgt würde, dass ein Alleinstehender, der voll- richtig: Wir in der CDU haben uns die Debatte um Min- zeitbeschäftigt ist, kein ergänzendes Arbeitslosengeld II destlöhne und Lohnuntergrenzen nicht einfach gemacht. mehr braucht? Deshalb kamen wir auf 8,50 Euro. Das ist Die Union war und ist der Meinung, dass ein Lohn dann ganz einfach zu berechnen und müsste sich auch Ihnen ungerecht ist, wenn er von einer Seite festgelegt ist, sei erschließen. Sie müssen unsere Meinung ja nicht teilen, es von den Arbeitgebern, sei es vom Staat. Deswegen aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen, wir haben wir lange – vielleicht viel zu lange – ausschließ- hätten gewürfelt. lich auf die Tarifautonomie gesetzt. Im Prinzip ist es richtig: Löhne von den Tarifpartnern verbindlich aushan- Ich sage Ihnen: Das, was vorhin gesagt wurde, deln zu lassen, ist der beste Weg, und er sorgt für ge- stimmt. Natürlich wird eine Grundsicherung notwendig rechte Löhne. Wir haben aber auch anerkennen müssen, sein, wenn ein Angehöriger hinzukommt, aber wir wür- dass die Bindungswirkung von Tarifverträgen abnimmt – den im diesem Bereich Millionen von Arbeitnehmern auch als unbeabsichtigte Folge staatlichen Handelns, helfen und auch Mittel für die Grundsicherung sparen. nämlich der Hartz-IV-Gesetze. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Nicht Millio- Nun stellte sich für uns die Frage: Wie finden wir ein nen! Ihr Ansatz ist falsch! – Dr. Heinrich L. möglichst sinnvolles Verfahren, das die Grundidee der Kolb [FDP]: Nein!) Tarifautonomie und die Grundidee gerechter Löhne in Meine Bitte ist deshalb, dass Sie das einfach zur Kennt- dieser neuen Situation miteinander verbindet? Das Er- nis nehmen. gebnis war der Beschluss von Leipzig. Hier wird schon ein Merkmal deutlich, das uns von Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): den Sozialdemokraten unterscheidet: Wir haben sehr in- Herr Kollege Heil, ich unterbreche meine Rede für tensiv darum gerungen und darüber nachgedacht, wie Ihre sehr intellektuellen Zwischenfragen immer gerne. – 18348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Matthias Zimmer (A) Gleichwohl gebe ich an dieser Stelle doch einmal zu be- Also: Schlägt die Mindestlohnkommission nicht un- (C) denken: Sie wollen einen Mindestlohn von 8,50 Euro ge- verzüglich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes einen wissermaßen flächendeckend einführen. Mindestlohn vor, bestimmt das Ministerium. Da Sie in § 4 Abs. 2 bereits festgelegt haben, dass der Mindestlohn (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau!) mindestens 8,50 Euro beträgt, wird er dann unmittelbar Ich komme aus Frankfurt. Dort ist es mit 8,50 Euro nach Verabschiedung des Gesetzentwurfs vom Ministe- wahrscheinlich nicht getan. In anderen Landesteilen rei- rium erhöht, weil Sie in diesem Absatz ja auch festgelegt chen diese 8,50 Euro aus. haben, dass nur ein höherer Mindestlohn vorgeschlagen werden kann. Das ist ein politischer Dreisprung, gegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den sich die Echternacher Springprozession harmlos Insofern halte ich das, was Sie hier vortragen, dass näm- ausnimmt. lich 8,50 Euro gewissermaßen der Schlüssel- bzw. Zau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) berbetrag ist, durch den sich die soziale Wirklichkeit endgültig zum Besseren entwickelt, für problematisch. Der Kollege Heil hat von der Tarifautonomie gespro- Diesen Optimismus teile ich nicht. – Danke schön. chen und davon, dass er sie hochhält. Mir scheint hinge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo liegt er gen: Es ist im Wesentlichen das Ministerium für Arbeit denn bei Ihnen?) und Soziales, das in dem ganzen Prozess, den Sie hier vorschlagen, eine herausragende Rolle spielt. Die SPD hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, den ich für staatsrechtlich bedenklich und handwerklich schlecht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Weil er davon gemacht halte. träumt, einmal Arbeitsminister zu werden!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Staatsrechtlich Das Ministerium benennt den Vorsitzenden der Kom- bedenklich“?) mission, die dann noch acht weitere Mitglieder enthält. Über die Abstimmungsmodalitäten sagen Sie nichts. Ich Schauen wir in Art. 1. Dort heißt es: vermute einmal, dass der Vorsitzende gewissermaßen (1) Als unterste Grenze des Arbeitsentgelts wird der der Tiebreaker sein wird. Mindestlohn festgesetzt. Er soll vollzeitbeschäftig- Das Ministerium kann, wenn die Kommission zu kei- ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein ihre ner Einigung gekommen ist, einen Mindestlohn bestim- Existenz sicherndes Einkommen gewährleisten … men und durch Rechtsverordnung festlegen. Das Minis- Hier habe ich erst einmal gestutzt. terium kann den Mindestlohn, wenn ihm die von der Kommission festgelegte Höhe nicht passt, ablehnen. Das (B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da muss man die Ministerium hat also ein Vetorecht. (D) Begründung lesen!) Was Sie hier vorschlagen, Herr Heil, ist ein mindest- Normalerweise wird in einführenden Paragrafen über lohnpolitisches Ermächtigungsgesetz für das Ministe- den Geltungsbereich eines Gesetzes gesprochen. Will rium für Arbeit und Soziales. die SPD den Mindestlohn nur für Vollzeitbeschäftigte und nicht für Teilzeitbeschäftigte? Nein, natürlich nicht. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ganz vorsichtig Ich vermute einmal, Sie haben hier nur ein wenig Prosa mit solchen Begriffen! Herr Präsident, es geht in den Gesetzentwurf hineingeschrieben. Diese Prosa hat nicht, dass er von „Ermächtigungsgesetz“ hier aber nichts zu suchen. spricht! Das ist unhistorisch! Er sollte sich ent- schuldigen! – Gegenruf von der CDU/CSU: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Gesetzent- Regen Sie sich doch nicht so auf!) wurf ist schlampig gemacht! Der Referent, der das geschrieben hat, muss entlassen werden!) Ich habe keine Sorge, Herr Heil, Sie führt nur zu Verwirrung und schlimmstenfalls zu (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist un- Rechtsunsicherheit. glaublich gegenüber einer Partei, die dagegen gestimmt hat! Es ist unerträglich, „Ermächti- Zur Festsetzung des Mindestlohns. In § 4 Abs. 1 Ihres gungsgesetz“ zu sagen!) Entwurfs heißt es: dass unsere Ministerin mit einer solchen Machtfülle (1) Die Mindestlohnkommission schlägt unverzüg- nicht verantwortlich umgehen würde. Aber bei Ihnen lich nach Inkrafttreten des Gesetzes, danach jeweils habe ich da meine Zweifel. Vor jeder Wahl würde ein zum 31. August eines jeden Jahres den Mindestlohn SPD-geführtes Ministerium Lohngeschenke machen durch Beschluss vor. können. Sie wären Ihrem alten Traum näher gekommen, Ein wenig später heißt es in Abs. 5: Wahlgeschenke auf Kosten Dritter machen zu können. (5) Schlägt die Mindestlohnkommission bis zu dem (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nachfolger der in Absatz 1 genannten Zeitpunkt keinen Mindest- Partei, die den Ermächtigungsgesetzen zuge- lohn vor, bestimmt das Bundesministerium für Ar- stimmt hat, das sind Sie! Unglaublich! Neh- beit und Soziales den Mindestlohn … men Sie das zurück!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also die Ich sage hingegen, Herr Heil, auch gegen das Gebrüll, Politik!) das von Ihnen kommt: Ein Lohn ist ungerecht, wenn er Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18349

Dr. Matthias Zimmer (A) in der Weise, die Sie vorschlagen, vom Staat festgelegt Anette Kramme (SPD): (C) werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für Ihre Worte, Herr Präsident. Es hat mich schwer erschüt- Letzter Punkt. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf tert, dass der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ im Zusam- in § 1 Abs. 2, dass die Festsetzung des Mindestlohns un- menhang mit der SPD verwendet wird, ter Berücksichtigung der Beschäftigungseffekte, des Existenzminimums und der gesamtwirtschaftlichen Aus- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie wissen, wirkungen erfolgt. Gleichzeitig schreiben Sie aber auch, dass er das so nicht gemeint hat! – Gegenruf dass sich der Mindestlohn auf mindestens 8,50 Euro be- des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann laufen muss, und zwar unabhängig von den Beschäfti- soll er es so nicht sagen, oder klarstellen!) gungseffekten und den gesamtwirtschaftlichen Auswir- kungen. einer Partei, deren Mitglieder durch den Nationalsozia- lismus verfolgt worden sind, die wegen ihres Kampfes Auch zum Existenzminimum habe ich eine Frage. Ich gegen den Nationalsozialismus gestorben sind. komme aus Frankfurt. Da ist ein Lohn von 8,50 Euro nicht auskömmlich. Aber ich kann mir vorstellen, dass (Patrick Döring [FDP]: Zwischen Ihnen und das in anderen Regionen anders ist. Ungleiches gleich zu Herrn Vizepräsidenten liegen Welten!) behandeln – schafft das nicht neue Ungerechtigkeiten? Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fällt mir ein we- Könnte es sein, dass Sie damit in ländlichen Regionen zu nig schwer, zur Tagesordnung überzugehen, aber wir einer zusätzlichen Abwanderung beitragen, weil die re- diskutieren hier über einen Mindestlohn in der Bundes- gionalen wirtschaftlichen Auswirkungen für Arbeitgeber republik Deutschland. An sich weiß jeder hier im Saal, nicht mehr zu tragen sind? dass es kein Argument gegen einen gesetzlichen Min- destlohn gibt. Wir können Ihnen die Zahlen an den Kopf (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ knallen und beobachten Ignoranz. Herr Kolb wirft uns CSU]) vor, dass wir nicht imstande sind, in dieser Republik Was ist, wenn die Kommission empfiehlt, ein Min- Traumwelten zu schaffen. destmaß an regionaler Flexibilität einzuführen, was (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Ich werfe unseren Überlegungen entspricht? Nach Ihrem Modell Ihnen vor, dass Sie einen schlampigen Gesetz- kassiert dann mit einer großen Geste des „Basta!“ das entwurf gemacht haben! Das können Sie bes- Ministerium den Vorschlag ein und macht, was es für ser, und das sollten Sie auch besser machen!) richtig hält. Klug ist das nicht, eher schon ideologisch getrieben. Das bedauern wir auch. Sicherlich wäre es wunderbar, wenn wir es schaffen würden, über einen Mindestlohn (B) Ihr Gesetzentwurf ist handwerklich schlecht. Er ist (D) nicht nur Vollzeitbeschäftigte, sondern auch Familien missverständlich. Er gibt dem Ministerium zu viel abzusichern. Sicherlich wäre es wunderbar, wenn wir es Macht. Er ist von einem Misstrauen gegen die Tarifpart- schaffen würden, über einen Mindestlohn beispielsweise ner geprägt. Ihr Gesetzentwurf ist wie eine rektale Zahn- auch Teilzeitbeschäftigte mit 30 Stunden abzusichern. behandlung. Sie kann unter Umständen erfolgreich sein, Sicherlich wäre es auch wunderbar, wenn bereits die richtet aber auf dem Weg dahin so viel Schaden an, dass Einführung eines ersten Mindestlohns dazu führen die Gesamtbilanz negativ ist. Wir werden den Gesetzent- würde, dass Rentenansprüche oberhalb der Grundsiche- wurf ablehnen und zu gegebener Zeit einen eigenen Ge- rung liegen. setzentwurf zu diesem Thema vorlegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Vielen Dank. dennoch einige Zahlen nennen, die an sich bei Ihnen zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- großer Sorge führen müssten, sodass Sie sich endlich neten der FDP) Gedanken zu diesem Thema machen und einen Gesetz- entwurf vorlegen. Das gilt auch für Sie von der FDP. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir haben in der Bundesrepublik einen Niedriglohn- Herr Kollege Zimmer, wir haben in diesem Hause sektor, der dem in den USA gleicht. 22 Prozent aller Be- sehr wenige Regeln. Zu den wenigen Regeln gehört, schäftigten in der Bundesrepublik Deutschland sind im dass wir Grenzüberschreitungen vermeiden sollten, etwa Niedriglohnsektor tätig. Grenzüberschreitungen derart, eine andere demokrati- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Erfolg von sche Partei zu verdächtigen, dass sie etwas tue, was in zehn Jahren SPD-Politik!) irgendeinem Zusammenhang mit dem Nationalsozialis- mus steht. Deswegen ermahne ich Sie, so etwas wie „Er- In Dänemark sind es demgegenüber nur 8,5 Prozent, in mächtigungsgesetz“ nicht zu wiederholen. Ich tue das Frankreich 11,1 Prozent. Wir hatten zwischen 1995 und ganz freundlich. Diesen Stil wollen wir uns nicht wech- 2006 einen 40-prozentigen Zuwachs zu verzeichnen. selseitig zumuten. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wegen der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Regierungszeit der SPD!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im untersten Quartil sind die Löhne in den letzten Jahren Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Frak- sogar um fast 14 Prozent gesunken. Wenn man eine ein- tion. heitliche Niedriglohnschwelle sowohl für den Osten als 18350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Anette Kramme (A) auch für den Westen der Bundesrepublik Deutschland Sie wollen eine Beschränkung auf Branchen ohne Ta- (C) definiert, dann sind 40 Prozent aller Ostdeutschen im rifvertrag einführen. Das bedeutet zunächst einmal, dass Niedriglohnsektor tätig. es keinerlei rechtliche Weiterung im Vergleich zum Min- destarbeitsbedingungengesetz gibt. 20 Prozent der Aufstocker arbeiten mehr als 35 Stun- den, aber 50 Prozent bekommen weniger als 6,44 Euro (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das gibt es Lohn. 25 Prozent arbeiten sogar für weniger als schon!) 4,95 Euro. Der nächste Punkt ist: Wir bedürfen an sich gesetzli- Niedriglöhne gefährden damit die Funktionsfähigkeit cher Mindestlöhne auch im Bereich der Tarifverträge. der Sozialversicherungssysteme. Die Krankenversiche- Wie sollen die Gewerkschaften dort künftig agieren? rungsbeiträge reichen nicht aus. Sollen Gewerkschaften auf Tarifverträge verzichten? Herr Kolb hat sehr offensiv gesprochen und behauptet, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Gucken wir würden einen Misstrauensantrag gegen die Gewerk- Sie doch mal die Zahlen an, Frau Kramme! schaften stellen. Die Beitragseinnahmen wachsen in vielen Be- reichen der Sozialversicherung!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war nicht ich, sondern Herr Weiß!) – Herr Kolb, Sie haben völlig recht. Ich würde Ihnen gerne antworten, wenn Sie mich lassen. Ich kann nur sagen: Nach meiner Auffassung handelt es sich bei Ihrem Vorschlag um einen Attentatsversuch auf (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann sagen Sie die Gewerkschaften; denn diese kämen in die kuriose Si- nicht so einen Quatsch!) tuation, auf eigene Tarifverträge verzichten zu müssen, – Es ist richtig, dass die Zahl der Erwerbstätigen gestie- um Beschäftigten in den betreffenden Branchen und gen ist, Herr Kolb. Aber es ist nicht richtig, dass die indi- Sektoren eine Mindestabsicherung zu ermöglichen. viduelle Beitragshöhe gestiegen ist. Sie müssen zugeben, Überdies wäre das Ganze quasi ein Heiratsantrag an dass ein Niedriglohnempfänger insgesamt auch sehr Scheingewerkschaften. Diese würden befördert werden, niedrige Beiträge in die Krankenversicherung einzahlt. weil eine ganze Branche durch den Abschluss eines Scheintarifvertrags für die Lohnuntergrenze gesperrt Leider müssen wir auch immer häufiger beobachten, werden könnte. dass das System des Arbeitslosengelds I nicht greift, sondern Menschen direkt Aufstockungsleistungen in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie wollten doch Anspruch nehmen müssen. Herr Kolb, Sie haben selber zum Schluss kommen, Frau Kollegin dargelegt, wie die Situation in der Rentenversicherung Kramme!) (D) (B) ist. Was sollen wir von diesem Rentenversicherungssys- Sie wollen des Weiteren nach Branchen und Regionen tem perspektivisch erwarten, wenn 40 Prozent der Ost- differenzieren. Das wird zu erheblichen zeitlichen Ver- deutschen im Niedriglohnsektor tätig sind? Wie sollen zögerungen führen. Es wird Jahre dauern, bis wir in der diese Menschen jemals auf eine Rente oberhalb der Bundesrepublik Deutschland durchgängig Mindest- Grundsicherung kommen? löhne haben. Viele Arbeitnehmer werden niemals wis- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Mindestlohn sen, welcher Mindestlohn für sie gilt. wird das Problem nicht lösen! Dann muss man Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten endlich sich etwas anderes einfallen lassen!) zur Vernunft kommen. Ich finde, es gibt kein Thema, bei Mindestlöhne generieren zusätzliche staatliche Ein- dem es so eindringliche Argumente gibt, die nahelegen, nahmen. Gerade in der gegenwärtigen internationalen endlich zu einer gesetzlichen Lösung zu kommen. Aber Situation wäre es wunderbar, eine Art kleines Konjunk- diese Koalition scheint auch in diesem Punkt nicht hand- turprogramm zu haben. Wir könnten durch einen Min- lungsfähig zu sein. destlohn in Höhe von 8,50 Euro 14,5 Milliarden Euro Herzlichen Dank. zusätzlich an Erwerbseinkommen erzielen. Die zusätzli- chen Steuereinnahmen hat Hubertus Heil auf der Grund- (Beifall bei der SPD) lage der Berechnungen des Prognos-Instituts bereits be- ziffert, ebenso die Entlastungen bei Sozialtransfers. Wir Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: könnten die zusätzlichen Einnahmen beispielsweise Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak- dazu nutzen, in eine vernünftige Fachkräfteinitiative zu tion. investieren. Auch das ist ein Thema, dem sich diese Koalition leider verweigert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mindestlöhne gefährden keine Arbeitsplätze. Sie soll- ten die Recherchen ernst nehmen, die Sie selber haben Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): durchführen lassen, meine Damen und Herren von der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Koalition. Liebe Kollegin Kramme, Sie haben eben gesagt, wir Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir können nur dürften bei der Betrachtung der Lage und unseren Über- hoffen, dass der Entwurf der Union irgendwann kommt. legungen, wie wir am besten darauf reagieren, nicht Er wäre wenigstens ein erster Schritt in die richtige ignorant sein. Ich glaube, Sie haben recht. Aber dann Richtung. sollten wir zur Versachlichung der Debatte beitragen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18351

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) Wir müssen uns zuerst überlegen, was wir wollen, und (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Beweisen Sie (C) dann schauen, welches der beste Weg ist. das einmal! Bitte mit Fußnote!) (Zurufe von der LINKEN) – Das besagt die Evaluation. Wir können das gerne Punkt für Punkt durchgehen. Darüber haben wir im Aus- Wir wollen auf dem Arbeitsmarkt Fairness gegenüber schuss schon diskutiert. Lieber Hubertus, leider konntest drei Gruppen erreichen; Sie, liebe Kolleginnen und Kol- du an der entsprechenden Ausschusssitzung nicht teil- legen von der Linken, müssten dem eigentlich zustim- nehmen. Aber wir können darüber gerne noch einmal men. Wir wollen, dass Arbeitnehmer gute Löhne bekom- ausführlicher diskutieren. men. Wir wollen aber auch, dass die Unternehmen in der Lage sind, die Löhne zu zahlen; denn nur dann entstehen Die Evaluation beweist aber auch, dass diese Effekte Wachstum und Arbeitsplätze. Wir wollen außerdem gering sind – das ist richtig –, weil die Tarifpartner gut Fairness und Perspektiven für diejenigen, die noch auf darin sind, die richtige Lohnhöhe zu treffen. Aber das den Arbeitsmarkt wollen, und für diejenigen, die bei fal- kann nicht allen Ernstes als Beleg dafür angeführt wer- schem politischen Handeln Gefahr laufen, ihren Arbeits- den, die Lohnfindung den Tarifpartnern wegzunehmen platz zu verlieren. Ausdruck von falschem politischen und sie der Politik in die Hand zu geben. Wir sollten bei Handeln sind Ihre Vorlagen. dem bewährten System bleiben, das wir haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Abg. Sabine Zimmermann [DIE LINKE] Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die taugen nix, meldet sich zu einer Zwischenfrage) alle drei!) Ich freue mich über eine Zwischenfrage der Kollegin Die Alternative ist das Vorgehen in drei Schritten, das Zimmermann. unserer sozialen Marktwirtschaft entspricht und zu der sich diese Koalition – auch meine Fraktion – bekennt. Erstens. Die Tarifautonomie, die Vorrang hat und We- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sensbestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft ist, er- Ja, bitte. – Herr Kollege Ernst, auch Sie haben sich fordert starke Arbeitgeber und Gewerkschaften. Das gemeldet, aber die Kollegin Zimmermann hat sich zuerst sollte der Regelfall sein. gemeldet und somit den Vortritt. Zweitens. Wir sollten in Branchen, in denen es Pro- Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): bleme gibt, in denen die Unternehmen weniger zahlen, als sie könnten, die Möglichkeit nutzen, Tarifverträge für Ladies first, Herr Kollege, sie war zuerst. allgemeinverbindlich erklären. (B) Sabine Zimmermann (DIE LINKE): (D) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann sind Sie auch Lieber Herr Vogel, ich höre Ihnen immer wieder gern dafür, das Streikrecht auszuweiten?) zu. Die Lohnhöhe wird aber von den Tarifvertragsparteien festgelegt. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Drittens. Mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz Dito. gibt es eine letzte Auffanglinie für die dann noch beste- henden weißen Flecken in Deutschland. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Dieses Vorgehen in drei Schritten entspricht der so- Ich muss aber jetzt einmal fragen, ob Sie in Folgen- zialen Marktwirtschaft. Dazu bekennen wir uns, und das dem mit mir einer Meinung sind: Wenn die Leute mehr ist besser als das, was Sie vorschlagen. Geld in der Tasche haben, können Sie mehr kaufen. Dann muss mehr produziert werden. Das schafft Ar- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) beitsplätze. Schauen wir uns einmal an, was dafür und was dage- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine gen spricht. Sie haben bereits die Ergebnisse der von mögliche Sichtweise der Dinge!) dieser Regierung in Auftrag gegebenen Evaluation des Systems aus Mindestlöhnen und Allgemeinverbindlich- Deshalb der Hinweis auf den gesetzlichen Mindestlohn. erklärungen in einzelnen Branchen angesprochen. Ich Sind Sie in dieser Hinsicht mit mir einer Meinung? finde die Ergebnisse hochinteressant. Sie sind ein Indiz (Manfred Grund [CDU/CSU]: Daran ist schon für vieles, aber sicher kein Argument dafür, von diesem die DDR untergegangen! Einheit von Sozial- System abzukehren. Zwei Ergebnisse dieser Evaluation und Wirtschaftpolitik, das kennen wir alles sind hervorzuheben. Es gibt Beschäftigungseffekte. noch!) Wenn zu hohe Löhne festgelegt werden, dann passieren Dinge – in geringem Ausmaß ist das in einzelnen Bran- Das müssten auch Sie verstehen. chen bereits der Fall –, die weder Sie noch wir wollen. Es gibt negative Beschäftigungseffekte. Es werden (Beifall bei der LINKEN) Lohnbestandteile abgebaut, die zuvor gewährt wurden. Beschäftigte werden teilweise durch Zeitarbeiter oder Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): durch befristet Beschäftigte ersetzt. Es gibt dann also Liebe Kollegin Zimmermann, ich bin der Meinung, den von Ihnen beschriebenen negativen Effekt. dass diese Sicht leider ein wenig unterkomplex ist, 18352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das Sind Sie der Auffassung, dass das ein richtiger und ange- (C) ist das Wort des Jahres! – Dr. Heinrich L. Kolb messener Lohn ist? Sind Sie der Auffassung, dass wir in [FDP]: Brutto ist nicht netto!) diesem Bereich eine funktionierende Tarifautonomie ha- ben? weil Sie völlig außer Acht lassen, dass dann, wenn der Lohn zu hoch angesetzt wird – das ist nachweisbar; die (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist nur Evaluation, die wir in Auftrag gegeben haben, hat das Verzögerungstaktik! – Dr. Heinrich L. Kolb gerade wieder belegt –, der Arbeitsplatz weg sein kann. [FDP]: Sie sind Gewerkschaftssekretär! Was haben Sie getan? – Patrick Döring [FDP]: Wa- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) rum entziehen Sie der Gewerkschaft Ihre Ar- Dann sind die Menschen arbeitslos. Das wollen wir alle beitskraft, indem Sie hier sind?) nicht. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es notwendig ist, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der die Tarifautonomie gerade von unten zu stützen, um wie- CDU/CSU) der zu vernünftigen Löhnen bei Tarifauseinandersetzun- gen zu kommen? Dann werden gar keine Löhne gezahlt, und dann kann auch nichts ausgegeben werden. Das ist die Balance, die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wir halten müssen, und diese Balance – das ist der Punkt – Sind Sie mit mir der Auffassung – das ist meine letzte halten die Tarifpartner besser als die Politik. Deshalb Frage –, dass der DGB und die Einzelgewerkschaften sollten wir dabei bleiben, Frau Kollegin Zimmermann. deshalb durchaus recht haben, wenn sie zur Unterstüt- zung der Tarifautonomie – sie verstehen etwas davon – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn Zurufe) sind? – Teil unseres Austausches hier ist: Wir sollten die Argu- (Beifall bei der LINKEN) mente ernst nehmen und gewichten. Ich höre Ihnen auch gern zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- sition. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Lieber Herr Ernst, Sie haben viele Fragen gestellt. Ich freue mich, wenn ich ausreichend Zeit bekomme, die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Fragen zu würdigen. Herr Kollege, der Kollege Ernst will auch noch eine Zwischenfrage stellen. Erstens. Ja. Ich bekenne mich bewusst zur Tarifauto- nomie und zu starken Arbeitgebern und Gewerkschaf- (B) ten. Ich finde, der heutige Tag, an dem die IG Metall (D) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): erstmals seit vielen Jahren wieder steigende Mitglieder- Er will auch noch eine Zwischenfrage stellen. Gern, zahlen vermeldet, ist ein guter Tag, das zu tun. Es ist lieber Kollege Ernst. falsch, was Sie machen, nämlich die Tariffindung den (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der kann mit Tarifpartnern aus der Hand nehmen zu wollen, was Ih- seinem Dienstfahrzeug heimfahren! Die ande- rem Antrag zugrunde liegt, lieber Herr Ernst. ren brauchen den Zug! – Weitere Zurufe) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Ich höre auch gern Zwischenfragen zu, Frau Kollegin. Ich finde es schade, dass Sie diesen Weg gehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 1: 0 für Vogel!) Klaus Ernst (DIE LINKE): Ich freue mich, Herr Kollege, dass Sie sich so sehr für Zweitens. Ich bin sehr wohl der Auffassung, dass ne- die Verteidigung der Tarifautonomie einsetzen. ben dem Regelfall der funktionierenden Tarifautonomie in einzelnen Problembranchen von einzelnen Unterneh- (Patrick Döring [FDP]: Ja, wir glauben noch men, von schwarzen Schafen teilweise, in der Tat zu daran! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir ste- niedrige Löhne gezahlt werden, niedrigere, als sie zahlen hen auf der Basis des Grundgesetzes, Herr könnten. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dort Kollege Ernst!) Auffanglinien brauchen. Deshalb bekennen wir uns zur Mich wundert das etwas, wenn ich an die Positionen der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. FDP zur Tarifautonomie in der Vergangenheit denke. Wir bekennen uns sogar zu einer weiteren Auffangli- (Zuruf von der FDP: Fragen!) nie nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz. Aber der Vorrang für die Lohnfindung durch die Tarifpartner – Man darf nicht nur eine Frage stellen. Herr Kollege, bleibt bei dem, was wir in der Koalition machen, ge- Sie wissen, man kann auch eine Bemerkung machen. währleistet; bei Ihnen nicht, und das ist der große Unter- Darauf möchte ich einmal hinweisen. schied, Herr Ernst. Aber ich möchte Sie schon auch etwas fragen, Herr (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 2:0 für Vogel!) Vogel. Sie haben gesagt, dass letztendlich durch die Ta- Drittens. Sie haben die Höhe von Tariflöhnen ange- rifautonomie die richtigen Löhne zustande kommen. sprochen; darauf will ich jetzt eingehen. Jetzt wissen wir, dass wegen der Schwäche der Gewerk- schaften inzwischen Tariflöhne von 3,56 Euro gelten. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 3,56 Euro!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18353

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) – Das trifft sich gut, weil ich mich sowieso gerade mit Ralph Lenkert (DIE LINKE): (C) den Argumenten auseinandersetzen wollte, die gegen Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. – Ich möchte nur das System, das wir heute in Deutschland haben, heute kurz darauf hinweisen – ich komme aus Thüringen und häufig genannt wurden. habe mich ausgiebig damit befasst –, dass der durch- schnittliche Lohn der Friseure unter 7 Euro inklusive der Lieber Hubertus Heil, du hast wie immer – das wird ja Umsatzbeteiligung liegt, weil diese nicht immer so opti- gern getan – den Tarifvertrag für Friseure in Thüringen mal ist, wie Sie es darstellen. Bei Mietpreisen, zum Bei- angeführt. Das meine ich, wenn ich sage: Lasst uns ein- spiel in Jena, wo ich herkomme, die sich auf dem Niveau mal in die Details schauen! Das Interessante ist ja: Wenn von vergleichbaren Städten wie Marburg usw. oder sogar wir genauer hinschauen, Herr Ernst, sehen wir: Die Ta- darüber bewegen, kann man mit solchen Einkommen rifpartner machen ihre Arbeit besser, als Sie es ihnen of- durchaus als arm gelten. Deshalb ist ein gesetzlicher fenbar zutrauen. Das Beispiel der Friseure in Thüringen Mindestlohn erforderlich; denn wenn ich eine durch- habe ich mir angeschaut. Wenn wir die anderen Bei- schnittliche Kaltmiete von 6 Euro pro Quadratmeter spiele im Ausschuss diskutieren, werden wir zu ähnli- habe, muss ich mit einem Einkommen in Höhe von chen Ergebnissen kommen; da bin ich ganz sicher. Das 7 Euro bei 150 Arbeitsstunden noch zum Amt laufen können wir gerne im Detail machen. und Hilfe erbetteln. Das ist wirklich nicht tragbar. Stim- In Thüringen, Herr Ernst, ist es so, dass im Tarifver- men Sie mir darin zu, dass das nicht korrekt ist? trag eine Umsatzbeteiligung fest vereinbart ist. Das (Beifall bei der LINKEN) heißt, der Stundenlohn ist da gar nicht der einzige Lohn- bestandteil, sondern es kommt ein großer Teil Umsatz- beteiligung dazu. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Herr Kollege, ich nehme Ihre Zwischenbemerkung (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 3: 0 für Vogel! – erstens als Bestätigung dafür, dass die Tarifpartner in Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie groß ist Thüringen sehr wohl eine Umsatzbeteiligung vereinbart denn der Teil bei der Friseurin in Euro und haben. Es ist schön, dass das festgehalten wird. Zweitens Cent?) erneuere ich mein Angebot, dass wir uns diese Tarifver- Wenn man das mit dem durchschnittlichen Umsatz der träge im Detail im Ausschuss anschauen. Drittens sage Betriebe dort berechnet – lieber Hubertus Heil, du ich zur Frage der Aufstocker: Die Statistik zu den Auf- kennst die Zahl so gut wie ich –, dann kommt man je stockern ist die wichtigste Statistik; denn sie sagt etwas nach Geschäftsbetrieb auf einen Stundenlohn von 7 bis darüber aus, wer in Deutschland von seinem Lohn leben 8 Euro, lieber Herr Ernst. kann und wer nicht. Die Statistik zeigt, dass wir etwa 300 000 Vollzeitaufstocker in diesem Land haben, nicht (B) Das zeigt: Die Tarifpartner verstehen mehr von ihrem mehr. Das heißt, es sind diejenigen erfasst, die wegen (D) Geschäft als Sie, und deshalb gibt es erneut keinen der Lohnhöhe aufstocken, und nicht die, die nur Teilzeit Grund, ihnen die Tarifbindung aus der Hand zu nehmen. arbeiten. Von diesen 300 000 stockt aber die weit über- wiegende Zahl deshalb auf, Herr Kollege Lenkert und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) liebe Kollegin Pothmer, weil sie eine große Familie hat. Ich möchte jetzt die Gelegenheit nutzen, auf die ande- Auch wenn Sie es ignorieren, ren Argumente, die von der Opposition angeführt wur- (Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- den, einzugehen. Es wurde wieder einmal von der Zahl NIS 90/DIE GRÜNEN]) der Aufstocker geredet. Frau Kollegin Pothmer und Kol- lege Heil haben das getan. wenn Ihnen das gesagt wird: Ich finde – das kann ich für die gesamte Koalition sagen –, dass eine Familie dabei (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unterstützt wird, auf einem ordentlichen Niveau zu le- NEN]: Jetzt kommen Sie wieder damit!) ben, ist eine sozialpolitische Errungenschaft in Deutsch- – Ich muss Sie leider erneut darauf hinweisen, selbst land. wenn es in der Debatte vorher genannt wurde. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 6 Millionen unter 7 Euro pro Stunde!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Kollege Vogel, haben Sie Lust, noch eine weitere Das ist nichts, was Sie schlechtreden sollten, Frau Kolle- Zwischenfrage zu beantworten? gin, und das bleibt so. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Die zweite interessante Zahl zeigt, dass die Aussage Von wem denn? des Kollegen Heil – er ist leider hinausgegangen –, die Zahl würde steigen, schlicht nicht stimmt. Die Zahl der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vollzeitaufstocker in Deutschland sinkt seit Jahren. Wir Von der Linkspartei. wollen diesen Prozess beschleunigen, deshalb bekennen wir uns zur sozialen Marktwirtschaft. Sie tun das nicht. Das ist der große Unterschied, liebe Kolleginnen und Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Kollegen. Ich nehme auch gerne noch eine dritte Zwischenfrage an. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 18354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) Ich muss an dieser Stelle sagen: Auch das letzte Argu- NEN] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt ja (C) ment, das während der gesamten Debatte immer wieder keinen Zwang, in die Gewerkschaft einzutre- angeführt wurde, kann nicht überzeugen. Die letzen bei- ten!) den Argumente bezogen sich auf die Prognos-Studie, die beweise, es sei gut für die Einnahmen des Staates, einen – Nein, gibt es nicht. Aber angesichts seines Plädoyers Mindestlohn einzuführen. Dazu muss man jedoch der für die Tarifautonomie wäre es ja ein logischer Schritt, Ehrlichkeit halber sagen: Diese Prognos-Studie beinhal- das zu tun. tet keine Betrachtung der Beschäftigungseffekte; das sa- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Steht im Grund- gen die Verfasser ganz offen. gesetz! Wir werden uns doch noch zum (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grundgesetz bekennen dürfen!) Das ist die entscheidende Frage, wenn es um Min- Ich habe kein Problem, über Mindestlöhne zu reden. destlöhne geht. Deshalb bitte ich Sie, diese Studie, die Ich finde aber, langsam muss Schluss damit sein, dass man wirklich nur als unseriös bezeichnen kann, beiseite wir darüber reden. Ich möchte gerne, dass es endlich ei- zu lassen. nen Mindestlohn gibt, Die zweite Behauptung ist – Frau Kollegin Kramme (Beifall bei der LINKEN) hat es eben wieder gesagt –, der Niedriglohnsektor in Deutschland würde steigen. Erstens ist das interessant, und – davon gehe ich aus – Tausende, wenn nicht sogar da Sie immer einen Zeitraum ansprechen, in dem Sie Millionen Menschen, insbesondere die, die in diesen von den Grünen mit der SPD Regierungsverantwortung Niedriglohnbereichen arbeiten, möchten das ebenfalls. getragen haben. Zweitens muss man sich dies genauer Mit dieser Debatte muss endlich einmal Schluss sein. Es anzuschauen. Die Wahrheit ist nämlich: Der Niedrig- ist unerträglich, dass wir immer wieder über die Frage lohnsektor steigt seit fünf Jahren nicht – im Gegenteil. „Mindestlohn, ja oder nein?“ diskutieren, aber keinen Schritt wirklich nach vorne gehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kollege Heil konnte die Wahrheit nicht mehr ertragen und (Patrick Döring [FDP]: Sie stellen doch lau- ist hinausgegangen!) fend Anträge!) Auch dazu kann ich nur sagen: Wir wollen, dass sich Schauen wir uns doch einmal an, wie die Diskussion dieser Prozess fortsetzt, Sie offenbar nicht, sonst würden in den letzten Jahren gelaufen ist: Die SPD hat vor Jah- Sie diese positiven Zeichen zur Kenntnis nehmen. ren – ungefähr vor zehn Jahren wurde durch meine Par- tei der erste Antrag dazu gestellt – darin einen Angriff (B) Es bleibt dabei: Es ist richtig, dass die Lohnfindung in auf die Tarifautonomie gesehen. Die Grünen konnten (D) Deutschland bei den Tarifpartnern bleibt. Dort sollten sich zu dem Zeitpunkt einen Mindestlohn für alle nicht wir sie belassen, und im Notfall finden wir branchendif- vorstellen. Seinerzeit wurde in einer Debatte gesagt: ferenzierte Lösungen, um Ausbeutung zu verhindern. Ein allgemeiner Mindestlohn von Aachen bis Cottbus Sie können doch nicht alles über einen Kamm sche- und von Flensburg bis Konstanz, der am Ende noch von ren und einen x-beliebigen Vertrag aufsetzen. der Politik bestimmt wird, hilft keinem Arbeitnehmer Solche Worte sind damals gefallen. und führt nicht zu höheren Löhnen, sondern nur zu höhe- rer Arbeitslosigkeit. Deshalb lehnen wir ihn sowie Ihre Ich persönlich kann mir ganz viele Wege vorstellen, Vorlagen ab. wie man es erreichen kann, dass der Niedriglohnbereich Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. verkleinert wird. Aber nachdem nun über 20 Prozent al- ler Beschäftigten im Niedriglohnbereich arbeiten, ist der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Karren so tief in den Dreck gefahren, dass er jetzt unbe- dingt wieder herausgeholt werden muss. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. Wir reden nicht über eine geringe Anzahl, sondern wir reden insgesamt über 3,6 Millionen Beschäftigte. Das ist (Beifall bei der LINKEN) absolut keine vernachlässigbare Anzahl.

Jutta Krellmann (DIE LINKE): Ich habe in letzter Zeit viele Diskussionen mit Kolle- Vielen Dank. – Guten Tag, Herr Vorsitzender! Meine ginnen und Kollegen aus dem Gewerkschaftsbereich ge- Damen und Herren! Herr Vogel, sind Sie Mitglied einer führt, aber auch mit Beschäftigten. Dabei habe ich im- Gewerkschaft oder einer anderen Tarifvertragspartei? mer wieder gehört: 8,50 Euro – so lautet ja die aktuelle Dieser Eindruck drängt sich ja nach Ihrem Plädoyer für Forderung des DGB – sind im Grunde genommen zu die Tarifautonomie auf. Wenn Sie das bisher noch nicht wenig. Diese Forderung des DGB ist ja auch schon drei sind – ich habe einen Aufnahmeschein dabei; den kann bis vier Jahre alt. Mit 8,50 Euro kann man gerade einmal ich Ihnen gerne geben. verhindern, dass Arbeitnehmer aufstocken müssen, aber massiv ändert sich dadurch nichts. Zur Altersarmut hat (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. ja auch schon mein Kollege Klaus Ernst einen Satz ver- Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- loren. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18355

Jutta Krellmann (A) Die Grünen nennen nach wie vor leider noch keine Zu Herrn Weiß möchte ich noch etwas sagen. Ge- (C) Zahl. Das stellt sich für mich so dar: Wasch mich, aber werkschaften sollen ihre Arbeit machen, aber erst, wenn mach mich nicht nass. wir gemeinsam den Dreck weggeräumt haben, den die Regierungen der letzten Jahre produziert haben. (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Beate Müller- (Widerspruch bei der CDU/CSU) Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Ach! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ Das gilt für alle. Daher geht dieses Thema alle an. Wir, DIE GRÜNEN]: Nur in diesem Antrag nicht! die Linke, sind bereit, dabei zu helfen, den Karren aus Das war ein Angebot an die CDU/CSU!) dem Dreck zu ziehen. Wir müssen es aber auch machen und nicht nur darüber reden. Mit anderen Worten: Diese Herangehensweise ist für mich ziemlich unbefriedigend. (Beifall bei der LINKEN)

Wegen der Sache und weil im Grunde viele Men- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schen, die davon betroffen sind, den Eindruck haben, Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- dass das, was wir hier machen, Pillepalle ist, weil wir men. nicht in der Lage sind, in der Sache einen Schritt nach vorne zu gehen, werden wir als Linke beiden Anträgen zustimmen. Ich fordere Sie von den Koalitionsfraktionen Jutta Krellmann (DIE LINKE): auf, das ebenfalls zu tun. Daher meine Aufforderung: Stimmen Sie zu, damit wir an dieser Stelle weiterkommen und nicht einen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Schritt nach hinten machen. Wir haben lange genug da- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE rüber geredet. GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Die CDU in Form von Karl-Josef Laumann (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: In Per- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: son!) Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. hatte damals gesagt, dass sie beim besten Willen keine gesellschaftliche Unterstützung für unseren Wunsch sehe, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Mitt- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lerweile unterstützen 86 Prozent der Menschen in unse- NEN): (B) rem Land die Forderung nach Einführung eines Mindest- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- (D) lohns. An die CDU/CSU gerichtet – die FDP lasse ich nen und Kollegen! In der Regel übe ich meist Kritik; einmal außen vor; die haben sich ja gerade ganz eindeu- heute möchte ich aber einmal mit einem Lob beginnen, tig erklärt –, sage ich: Es wird Zeit für einen Mindest- und zwar für den Arbeitnehmerflügel der CDU/CSU- lohn. Machen Sie deshalb das, was der Mehrheitswille Fraktion. Sie haben energisch die Initiative für einen dieser Gesellschaft ist, und nichts anderes! Hören Sie Mindestlohn ergriffen und lassen auch nicht locker. Ein auf, ständig hin und her und drum herum zu reden! gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland ist seit Jahren überfällig. Bleiben Sie also dran; denn er ist die elemen- Angeblich haben Sie auf Ihrem letzten Parteitag so et- tare Grundlage für mehr soziale Gerechtigkeit. was wie die Einführung eines Mindestlohns beschlossen. Tatsächlich handelt es sich aber um eine branchenabhän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gige Lohnuntergrenze inklusive einer Teilung in Ost und Ich hoffe auch, dass Sie geradlinig bleiben und es West. Dafür können Sie ernsthaft keine Zustimmung er- nicht zulassen, dass es viele verschiedene Mindestlöhn- warten. Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich ma- chen geben wird, die sich von Region zu Region oder chen: Jeder Tarifvertrag hat die Form eines Branchenta- von Branche zu Branche unterscheiden. Vor allem appel- rifvertrags. Gewerkschaften sind doch nicht unterwegs, liere ich an Sie – besonders an Sie, Herr Weiß –, dass Sie um überall nur Mindestlöhne zu vereinbaren. auf einen Tarifvorrang verzichten. Die daraus entstehen- (Beifall bei der LINKEN) den Probleme kennen wir von der Leiharbeit. Wollen Sie den Pseudogewerkschaften wirklich wieder Tür und Tor Jeder Tarifvertrag ist ein Branchentarifvertrag, und jeder öffnen und dann auf jahrelange Gerichtsverfahren hof- Tarifvertrag beinhaltet eine sogenannte unterste Entgelt- fen? Wollen Sie tatsächlich neue Beschäftigte erster und gruppe, die als Einstiegsgruppe dient. Darunter findet zweiter Klasse schaffen? nichts mehr statt, nur oberhalb. Die Arbeitgeber können natürlich gerne mehr bezahlen als das, was im Tarifver- Ein gesetzlicher Mindestlohn ist per Definition der trag steht, aber nicht weniger. kleinste gesetzlich zulässige Lohn. Er muss also flächen- deckend und für alle Beschäftigten gleichermaßen einge- Genau das ist das System, das wir mit Mindestlöhnen führt werden. meinen. Wir brauchen eine Untergrenze, und das ist die Höhe des Mindestlohns. Alle Arbeitgeber können – da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ran wird niemand jemals etwas kritisieren – gerne mehr und bei der SPD) bezahlen, aber nicht weniger. Alles andere kann ich nur als Etikettenschwindel be- (Beifall bei der LINKEN) zeichnen. 18356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Beate Müller-Gemmeke (A) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, jetzt möchte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) ich mit vier Aspekten kurz, aber grundsätzlich etwas zu bei der SPD und der LINKEN) all denjenigen sagen, die einen gesetzlichen Mindestlohn immer noch ablehnen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Erstens. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU- listet bereits über 100 Staaten auf, die über einen Min- Fraktion. destlohn verfügen. Mindestlöhne gehören längst welt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weit zu den etablierten Instrumenten, um den Arbeits- markt gerechter zu gestalten. Die Bundesregierung hat das aber anscheinend noch nicht verstanden. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Zweitens. Der Europarat wertet den fehlenden Min- Liebe Kollegen! Zunächst eine Richtigstellung an die destlohn in Deutschland als Verstoß gegen das Recht auf Adresse des Kollegen Klaus Ernst von der Linkspartei. ein gerechtes Arbeitsentgelt, das in der Europäischen Sie haben vorhin das Plenum mit der Bezeichnung „Ge- Sozialcharta festgeschrieben ist. nossen“ angeredet. Das trifft zwar für einen Teil, aber (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!) zum Glück nicht für die weitaus meisten Mitglieder die- ses Hauses zu. Sie haben hier nicht auf einem Parteitag Wir sind also längst verpflichtet, allen Beschäftigten, die der Linken geredet, sondern im Plenum des Deutschen diesen Schutz brauchen, einen angemessenen Lebens- Bundestages, dessen Mitglieder überwiegend keine Ge- standard durch einen Mindestlohn zu ermöglichen. Al- nossen sind. lein dieses Argument müsste doch überzeugen. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber es werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr!) und bei der SPD) Wir hoffen, dass das so bleibt. Drittens. Tarifautonomie und gesetzlicher Mindest- lohn sind kein Widerspruch. Im Gegenteil: Diverse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Studien und auch Aussagen der ILO belegen, dass Tarif- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind aber autonomie und gesetzlicher Mindestlohn zusammenge- alle Zeitgenossen! „Genossen“ kommt von hören und sich ergänzen. Neben den Verhandlungen der „genießen“!) Tarifparteien dient der Mindestlohn vorrangig dem Zweck, Beschäftigte im Niedriglohnsektor zu schützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die bisherige De- Das ist fair und fördert übrigens auch den sozialen Frie- batte hat ergeben: Wir haben das gleiche Ziel, aber un- (B) den. terschiedliche Wege. Das Mindestlohnkonzept, das Sie, (D) Herr Heil, vorstellen, ist nicht realisierbar. Lohnpolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist gerade nicht per se zuallererst Sozialpolitik. Das ist Viertens. Abschließend möchte ich kurz darauf einge- der entscheidende Fehler in Ihrem Entwurf. hen, warum Sie sich gerade jetzt in der Euro-Krise mit Sehr geehrter Herr Heil, Sie haben in Ihrer Rede Lohnpolitik und mit dem Mindestlohn beschäftigen soll- selbst ausgeführt, dass die Löhne existenzsichernd sein ten. Wenn Löhne im Verhältnis zur Produktivität niedrig sollen. Dann stellt sich aber die Frage – auch darauf ha- sind, dann entstehen Ungleichgewichte, und diese Un- ben bereits einige Vorredner hingewiesen –, für wen sie gleichgewichte sind eine Ursache der Euro-Krise. Mit existenzsichernd sein sollen: Für den Singlehaushalt? einer solidarischen Lohnpolitik, das heißt mit einem Kollege Vogel hat eben die 300 000 Singlehaushalte an- Mindestlohn und mit gerechten Tariferhöhungen, würde gesprochen, für die eine Lohnuntergrenze Sinn macht. Deutschland endlich seinen Beitrag zu mehr makroöko- Aber man muss natürlich wissen, dass beispielsweise nomischer Stabilität leisten. eine vierköpfige Familie schon jetzt über Sozialleistun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen mehr Geld bekommt, als mit den von Ihnen gefor- derten Mindestlohnhöhen – also 8,50 Euro bzw. 10 Euro – Wenn der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU-Fraktion aus eigener Kraft verdient werden kann. dies immer noch nicht nachvollziehen kann, habe ich noch eine weitere Anregung: Klaus Schwab, der Präsi- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, da gibt es ei- dent des Weltwirtschaftsforums, sagte in dieser Woche nen Kinderzuschlag! Gott sei Dank! Aber das in Genf bei der Pressekonferenz – ich zitiere sinngemäß –: spricht nicht dagegen!) Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form passt nicht In Zukunft müsste es also auch nach Einführung von mehr in die Welt. Wir haben die Lektionen aus der Mindestlöhnen ergänzende Sozialleistungen geben. Finanzkrise von 2009 nicht gelernt. Die globale Trans- formation muss dringend damit beginnen, dass sich Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle das Bauhand- weltweit wieder ein Sinn für soziale Verantwortung aus- werk erwähnen. Hier wurde von einer CDU/CSU-ge- breitet. führten Bundesregierung ein branchenspezifischer Min- destlohn eingeführt. Es gibt noch Kollegen unter uns Sehr geehrte Regierungsfraktionen, beginnen Sie ein- – wie den Kollege Kolb –, die damals an der Einführung fach hier in Deutschland, und zwar mit einem Mindest- des Blüm’schen Mindestlohns mitgewirkt haben und lohn. jetzt als Zeitzeugen fungieren können. Dieser Mindest- Vielen Dank. lohn war wichtig, um inländische Arbeitsplätze zu schüt- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18357

Paul Lehrieder (A) zen und Dumpinglöhne zu verhindern. Sie sehen: Hier (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich bin begeis- (C) und auch in weiteren Branchen waren die Beweggründe, tert! Ich applaudiere Ihnen!) Lohnuntergrenzen einzuführen, nicht sozialpolitisch mo- Ob der Bereich der Weiterbildung zukünftig auch aufge- tiviert. Mindestlöhne stellen einen geordneten Wettbe- nommen wird, wird derzeit ebenfalls überprüft. Meine werb her und gleichen negative externe Effekte einzelner Damen und Herren, das ist der richtige Weg. Diesen Branchen aus. Weg wollen wir für weitere Branchen eröffnen, und den Meine Damen und Herren der Opposition, wir haben Zugang dazu wollen wir erleichtern. auch über das Baugewerbe hinaus weitere zielführende Schauen wir beispielsweise einmal nach Frankreich. Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, die bereits für In der Tat zeigen Studien – selbst wenn diese politisch viele Millionen Menschen Verbesserungen gebracht ha- wie wissenschaftlich zum Teil umstritten sind –, dass ben. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sorgt derzeit für dort der monatliche Mindestlohn von 1 365 Euro – das zwingend gültige Arbeitsbedingungen in sage und entspricht einem Stundenlohn von 9 Euro; er liegt also schreibe elf Branchen und verhindert negative Auswir- zwischen den beiden Mindestlöhnen, die jeweils von Ih- kungen auf die Lohnentwicklung von Geringverdienern. nen gefordert werden – nicht zu Arbeitsplatzverlusten (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reicht aber führt. Allerdings muss man hier auch sehen, dass die Un- nicht!) ternehmen, die die Minimumlöhne auszahlen, vom fran- zösischen Staat tatkräftig unterstützt werden. Die Sub- Ich möchte ausdrücklich festhalten: An der Einführung ventionen für Sozialversicherungsbeiträge in Frankreich aller in diesen elf Branchen bestehenden Mindestlöhne beliefen sich bereits im Jahr 2010 auf immerhin 30 Mil- war die Union beteiligt. Das heißt, die Union ist die Par- liarden Euro. tei der Mindestlöhne. Die Union hat sich dafür einge- setzt und nicht Sie von den Oppositionsfraktionen. Zudem darf hier nicht außer Acht gelassen werden, dass es durch die staatlichen Subventionen zu erhebli- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der chen Mitnahmeeffekten kommt und die Unternehmen SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ sich bemühen, möglichst nur den niedrigen, subventio- DIE GRÜNEN) – René Röspel [SPD]: Dass nierbaren Mindestlohnsatz zu zahlen. Das heißt, dass Sie dabei nicht rot werden!) sich die Höhe der Löhne in Frankreich durch die Einfüh- Neben dem Baugewerbe gehören dazu bereits die Ab- rung des gesetzlichen Mindestlohnes sogar nach unten fallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Win- entwickelt hat. Sollte der Staat seine Unterstützungszah- terdienst, der Steinkohlebergbau, das Dachdeckerhand- lungen also nicht weiter leisten, so ist davon auszugehen, werk dass auch in Frankreich erhebliche Arbeitsplatzverluste (B) drohen. (D) (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Nehmen wir das Beispiel Großbritannien; auch Groß- – das müssen Sie sich schon einmal anhören, Herr Heil –, britannien wird gern als Beispiel für einen gesetzlichen das Elektrohandwerk, die Gebäudereinigung, das Maler- Mindestlohn angeführt. In Großbritannien gibt es im- und Lackiererhandwerk, die Pflegebranche, Sicherheits- merhin 14 Ausnahmen beim bestehenden gesetzlichen dienstleistungen und Wäschereidienstleistungen im Ob- Mindestlohn, unter anderem für alle Auszubildenden un- jektkundengeschäft. Seit dem 1. Januar 2012, also seit ter 19 Jahren, für Auszubildende zwischen dem 19. und knapp drei Wochen, dem 25. Lebensjahr im ersten Ausbildungsjahr, bei Prak- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das mussten tika insgesamt, bei Praktika von Studenten, für Au-pairs, wir Ihnen abringen!) für Soldaten, für Fischer, für Gefangene, für freiwillig Dienstleistende, auch für Angehörige bestimmter Reli- gilt für die rund 900 000 Beschäftigten in der Zeitarbeit gionsgemeinschaften. ein Stundenlohn von mindestens 7,01 Euro im Osten und 7,89 Euro im Westen. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die fahren auch anders auf der Straße als wir!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das sind doch Aufstocker! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die Geltung des gesetzlichen Mindestlohnes in Groß- Davon kann man doch nicht leben, auch nicht britannien ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Man im Osten! Das ist zu wenig!) kann nicht sagen, dass die Mindestlohnregelung, die in Großbritannien gilt, bei uns den erwünschten Effekt – Für Sie ist es immer zu wenig; das wird auch in der hätte. Zukunft so sein. – Da sind wir schon ziemlich nahe an Ihrer Forderung. Bei der Zeitarbeit ist uns wichtig, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] nach einer angemessenen Einarbeitungszeit – jetzt pas- [SPD]: Schweizer Käse in England!) sen Sie einmal auf; da können Sie etwas hinzulernen – der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit gezahlt wird. Benachteiligt wären vor allem Geringqualifizierte. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Prima! Dann Für die Mehrheit der in Deutschland beschäftigten Ar- macht doch etwas!) beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten schon heute Tarifverträge; ich habe bereits darauf hingewiesen. Dass – Hören Sie zu, Herr Heil! Bleiben Sie mit den Füßen jedoch die Tarifbindung in der Vergangenheit abgenom- auf dem Boden! – Hier soll noch in den nächsten Mona- men hat, konstatieren wir durchaus, Herr Ernst. Um so- ten eine zufriedenstellende Lösung gefunden werden. ziale Verwerfungen in den Branchen zu verhindern, in de- 18358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Paul Lehrieder (A) nen keine Tarifverträge gelten oder Tarifverträge nur eine Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün- (C) geringe Wirkungskraft entfalten, haben wir die Rechte sche Ihnen alles Gute. der Tarifvertragsparteien ausgeweitet. Diese haben künf- tig neben den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sendegesetz bietet, auch die Möglichkeit, branchen- und regionalspezifische Lohnuntergrenzen vorzuschlagen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Diese Vorschläge der Tarifvertragsparteien kann die Bun- Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Frak- desregierung für verbindlich erklären und auch auf aus- tion. ländische Arbeitnehmer erstrecken. Wir sind offen, die- (Beifall bei der SPD) sen Prozess zu erleichtern. Wir wollen keine Billiglöhne. Wir wollen branchenspezifische Mindestlöhne. Wir wol- len starke Tarifpartner und Gewerkschaften. Josip Juratovic (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Vorhin wurde auch das Thema „Nachwirkungen von Kollegen! Bei der Debatte, die wir hier führen, werde ich tarifvertraglichen Niedriglöhnen“ angesprochen. Hierzu den Eindruck nicht los, dass der soziale Fortschritt in un- darf ich festhalten: Um künftig zu verhindern, dass sich serem Land seit Jahrzehnten hinter dem technologischen eine Tarifvertragspartei auf der Nachwirkung eines Ta- Fortschritt zurückbleibt. Wenn ich einige Mitglieder der rifvertrages ausruht, um Haustarifverträge mit Nied- Bundesregierung höre, habe ich den Eindruck, dass un- riglöhnen ablösen zu können, soll die Nachwirkung von ser technischer Fortschritt zwar im 21. Jahrhundert ange- Tarifverträgen im Tarifvertragsgesetz auf ein Jahr be- kommen ist, dass unser sozialer Fortschritt aber beim schränkt werden. Wir werden Verwerfungen und Fehl- Almosengedanken des 19. Jahrhunderts stehen geblie- entwicklungen also auch da entgegenwirken. ben ist. Das Aushandeln der Löhne muss die Aufgabe der So- (Beifall bei der SPD) zialpartner sein und auch bleiben; denn eine funktionsfä- hige Tarifautonomie braucht starke Arbeitgeberverbände Die Debatte um einen Mindestlohn in Deutschland und starke Gewerkschaften. Nur mit einer starken Posi- wird selten mit einem Blick auf die Realität in unseren tion können diese für ihre Mitglieder verbindliche und Betrieben und in unserer Gesellschaft geführt. Wir haben wirkungsvolle Abmachungen treffen. Wenn der Gesetz- zwar eine hohe Beschäftigungsquote, aber das Jobwun- geber die Tarifautonomie abschaffen würde, hätten wir der ist ein Jobwunder der prekären Beschäftigung. Jeder Lösungen, die nicht den Verhältnissen in den Branchen sechste Mensch in unserem Land ist armutsgefährdet. und Regionen entsprechen würden. Das zeigt: Armut ist nicht nur ein Problem für die Men- schen, die keinen Job haben; vielmehr sind auch viele (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Menschen mit Job armutsgefährdet, weil ihr Job schlecht (D) Ist der Mindestlohn zu niedrig, ist sein Nutzen zur Ar- entlohnt ist, weil sie über einen Werksvertrag, befristet muts- und Ausbildungsabwehr gering. Ein zu hoher oder in Teilzeit beschäftigt sind. Mindestlohn wiederum zwingt Unternehmen dazu, mehr Kolleginnen und Kollegen der Regierungsparteien, für Arbeit zu zahlen, als sie einbringt, und er wird zur sehen Sie es mir bitte nach – ich kann es nicht unerwähnt Vernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das wird Ihnen lassen –: Frau Ministerin von der Leyen zeigt sich auf jeder, der vernünftig rechnen kann, bestätigen. Fotos gerne mediengerecht mit strahlenden Kindern und Kurz vor Ende meiner Rede möchte ich noch auf eine tut so, als würde sie sich um deren Wohlergehen küm- Aussage von Frau Kollegin Pothmer eingehen. Frau mern. Gleichzeitig toleriert sie aber, dass viele Eltern Pothmer, Sie haben vorhin ausgeführt, wir hätten der dieser Kinder einen Hungerlohn erhalten und dass somit Bundesarbeitsministerin die Prokura für das Thema Min- laut UNICEF jedes sechste Kind in Deutschland dem Ri- destlohn entzogen; das war Ihre Formulierung. Bestäti- siko der Kinderarmut ausgesetzt ist. gen Sie das? (Beifall bei der SPD) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Im November letzten Jahres schien es für einen Mo- NEN]: Entzogen!) ment so, als ob in Sachen Mindestlohn endlich Bewe- – Sehr gut. – Ich stelle fest: Wir haben sie der Bundesar- gung in die Union gekommen sei. beitsministerin nicht entzogen. Wenn die Bundesarbeits- (Zuruf von der SPD: Im Moment bewegt sich ministerin unsere Arbeitsgemeinschaft in einen Arbeits- nichts mehr!) kreis einbezieht, so ist das nur von Vorteil. Immerhin haben Sie auf Ihrem Bundesparteitag im No- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vember 2011 einmal über das Thema Mindestlohn ge- NEN]: Aber wo ist sie denn?) stritten. Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich Frau Pothmer, ich dachte mir vorhin: Dieselbe For- rate Ihnen, Ihre Ideen neu zu sortieren. Sie loben die mulierung habe ich schon einmal irgendwo gelesen. Ich Branchenmindestlöhne immer wieder in den Himmel habe nachgeschaut. Im Handelsblatt steht ein Zitat von und behaupten, hier schon einiges getan zu haben. Herrn Kollegen Heil. Sie haben Herrn Heil zitiert, ohne Ich sage jedoch: Gerechtigkeit kann nicht Schritt für dies kenntlich zu machen. Man sollte Zitatstellen kennt- lich machen, meine Damen und Herren. Schritt eingeführt werden. Es reicht nicht, Gerechtigkeit in einzelnen Branchen einzuführen und die anderen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Guttenberg!) Branchen von der Gerechtigkeit auszuschließen; denn Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18359

Josip Juratovic (A) das Brot kostet für alle – für Leiharbeiter, Gebäudereini- Das ist paradox und nur ein weiterer politischer Unsinn (C) ger oder Industriearbeiter – gleich viel. der FDP. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen flächendeckend handeln; denn wir sind ge- Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Gesetzent- wählt, für alle Menschen in unserem Land Verantwor- wurf können wir Gleichgewicht in die soziale und wirt- tung zu tragen und nicht nur für diejenigen, die zufällig schaftliche Entwicklung unseres Landes bringen: Wir in der richtigen Branche arbeiten. senken die Staatsverschuldung, und wir schaffen soziale Gerechtigkeit für rund 6 Millionen Arbeiter, die von (Beifall bei der SPD) Niedriglöhnen betroffen sind. Während der Finanz- und Euro-Krise ist auch die Be- Ich rede mit sehr vielen Unternehmern. Auch sie wol- deutung des Mindestlohns stark gestiegen. Wir alle wis- len einen Mindestlohn, damit um Qualität konkurriert sen, dass Abstiegsängste nicht nur bei den Niedrigquali- wird und sie nicht der Lohndrückerei ausgesetzt sind. fizierten am Rand unserer Gesellschaft existieren, Deshalb sind die politischen Rahmenbedingungen für sondern dass auch viele Facharbeiter Angst vor dem ge- eine soziale Gestaltung der Arbeit so wichtig. Hier kön- sellschaftlichen Abstieg haben. nen wir nach Baden-Württemberg schauen, wo nach dem Regierungswechsel dank SPD und Grünen an ei- Niedriglöhne betreffen immer mehr Menschen der nem Tariftreuegesetz gearbeitet wird und ein Konzept Mitte in unserem Land. Diese Facharbeiter sind nicht für gute und sichere Arbeit existiert. nur wirtschaftlich bedroht, sondern sie fürchten auch da- rum, gesellschaftlich stigmatisiert zu werden, beispiels- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weise bei der Kreditvergabe oder der Wohnungssuche. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Viele Menschen empfinden es als Schande, dass sie auf- Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir für grund der Niedriglöhne nicht genug verdienen, um ihre ganz Deutschland, am besten auch nach einem Regie- Familien ernähren zu können, sodass sie am Ende des rungswechsel. Monats über Leistungen des Sozialamts aufstocken müs- sen, etwa indem sie Wohngeld beantragen. Nun möchte ich mich an die Kolleginnen und Kolle- gen der Linken wenden. Vorhin hat hier der Kollege Der Gang zum Sozialamt ist für viele Menschen eine Klaus Ernst – er ist nicht mehr hier – stark kritisiert, dass Verletzung der Würde und des Selbstwertgefühls, was die rot-grüne Regierung damals den Mindestlohn nicht übrigens auch eine Ursache der zunehmenden psychi- (B) eingeführt hat. Ich bin ein IG-Metaller. Klaus Ernst (D) schen Erkrankungen ist. müsste als damaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall wissen, welch schwierige Diskussionen es innerhalb der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist medizi- Gewerkschaften gab. nisch nicht belegt!) (Zurufe von der SPD: Ja! – Das ist wohl war!) Die Menschen in unserem Land wollen aber keinen Staat, der Almosen verteilt, sondern einen sozial gerech- Als wir uns geeinigt hatten, war es zu spät; dann hatten ten Staat, der sich gegen Niedriglöhne und Abstiegs- wir keine Kanzlermehrheit mehr. Ich denke, das gehört ängste einsetzt. zur Wahrheit dazu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Man darf nicht vergessen: Ein würdevoller Lohn und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gerechtigkeit sind der Kitt des sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol- Frau Merkel redet europaweit immer davon, wie legen Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion das wichtig es ist, die Staatsverschuldung zu senken. Hier in Wort. Deutschland treibt sie dagegen munter die Verschuldung in die Höhe, indem sie den Menschen ein eigenständiges (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leben ohne die Notwendigkeit, über Leistungen vom Sozialamt aufzustocken, verweigert. Ein gesetzlicher Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Mindestlohn würde die Staatskasse um mehr als 7 Mil- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und liarden Euro entlasten. Herren! In die Debatte um eine untere Lohngrenze ist Die FDP verspricht immer, Subventionen abzubauen. durch einen Beschluss des Bundesparteitages der CDU Gleichzeitig verteilt sie aber munter Subventionen an die in der Tat Bewegung gekommen. Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das bewegt noch nichts!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind keine Subventionen, das sind wertvolle Sozialleis- Herr Kollege Heil, wir können das erfreulicherweise vor tungen) dem Hintergrund einer hervorragenden wirtschaftlichen 18360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Johann Wadephul (A) Entwicklung in Deutschland angehen. Dank unserer Darüber hinaus ist der einzige Sozialminister, den die (C) Strukturpolitik für Deutschland gibt es eine Beschäfti- Freien Demokraten stellen – mein Freund Heiner Garg gungsquote, die wir unter Kanzler Schröder nie erreicht in Kiel –, der Auffassung, dass wir hier zu einer gesetzli- haben. chen Regelung kommen sollten. Das ist ein weiterer Baustein, wenn es darum geht, die erfolgreiche Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unserer Koalition auch in diesem Bereich fortzusetzen. Das ist übrigens die beste Sozialpolitik, die man in (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil Deutschland machen kann. [Peine] [SPD]: Aber der ist bald nicht mehr im Herr Kollege Juratovic, Sie haben hier das Bild von Amt!) armen Kindern bemüht. Es ist in jedem Fall traurig, Intransparent ist allein das, was die SPD hier vorträgt. wenn ein Kind in armen Verhältnissen aufwächst. Wir Herr Kollege Heil, Sie haben wie immer eine lautstarke müssen danach streben, jeweils die Lage zu verbessern. Rede gehalten, Aber diese Koalition hat genau das gemacht. Wenn Sie Frau von der Leyen in diesem Zusammenhang erwäh- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, und Sie nen, dann sollten Sie sie lobend erwähnen. Ursula von haben es wieder nicht gehört!) der Leyen hat das Bildungs- und Teilhabepaket durchge- setzt; das haben Sie verabsäumt, meine sehr verehrten nur passte sie überhaupt nicht zu dem Gesetzentwurf, Damen und Herren von der Opposition. den Sie hier vorgelegt haben; das ist das Problem in der ganzen Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen (Beifall bei der CDU/CSU) des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Sie wollen einen generellen gesetzlichen Mindestlohn Wir tun etwas für die Bildung der Kinder, damit es ihnen anbieten und reden dann hier von branchenspezifischen besser geht. Lösungen. Sie reichen uns noch formaliter die Hand. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind ein (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, bitte schön!) guter Kabarettist, Herr Kollege!) – Ja, bitte, wo ist Ihre Hand? – Ich habe Sie gefragt: Zie- Die Diskussion ist völlig transparent. Jeder kann sich hen Sie den Gesetzentwurf zurück? an ihr beteiligen. Jeder weiß, wie die Diskussionspro- zesse ablaufen. Sie haben die Diskussion innerhalb der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Noch ist es nicht CDU verfolgt; wir werden mit unserer Schwesterpartei zu spät, den Gesetzentwurf zurückzuziehen, (B) CSU über diese Frage zu diskutieren haben. Herr Heil!) (D) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr Dann sind Sie, wie Sie es als früherer Generalsekretär konstruktiv!) der SPD gelernt haben, ausgewichen und haben die Frage nicht beantwortet. – Sehr konstruktiv, wie der Kollege Lehrieder sagt. Das ist bei dem CSU-Parteivorsitzenden, der Vorsitzender (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Waren Sie auch der Vertretung des Arbeitnehmerflügels der CSU war, mal Generalsekretär?) eine Selbstverständlichkeit. Wenn die Sozialdemokraten ernsthaft an einer Verständi- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer sind Sie gung in dieser Frage interessiert wären und das nicht nur und, wenn ja, wie viele?) Rhetorik wäre, Herr Kollege Heil, Auch mit den Freien Demokraten werden wir in der (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich gebe Ihnen Koalition darüber zu diskutieren haben. meine Telefonnummer, Herr Kollege!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Irgendwann ist dann würden Sie diesen Gesetzentwurf einkassieren. Er die Legislaturperiode vorbei!) leidet an zahlreichen Mängeln. Viele davon sind ausge- wiesen. Ich hoffe, dass wir zu einer Einigung kommen. Ansonsten können wir hier im Deutschen Bundestag in dieser Wahl- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) periode zu keiner gesetzlichen Regelung kommen. Wir sind aber zuversichtlich; bei den Freien Demokraten tut Im Übrigen gibt es insbesondere für die Sozialdemo- sich viel. Herr Kollege Kolb, Sie haben die ersten Dinge kraten, aber auch für die Grünen keinen Anlass zu in diesem Bereich schon im vorletzten Jahrzehnt mit Bun- Selbstgerechtigkeit. Herr Heil, Sie haben so getan, als desarbeitsminister Blüm angeschoben. Dafür herzlichen habe der Mindestlohn quasi schon im Godesberger Pro- Dank von der Unionsfraktion. gramm der SPD gestanden. Mitnichten! Das ist nun wirklich eine neue Entwicklung. Auch auf dem Niedrig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lohnsektor, den Sie als hochproblematisch darstellen, neten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: vollzieht sich keine neue Entwicklung. Noch 2005 hat Der Kolb ist ein guter Mann! Das muss so sich Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder bleiben!) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Den mögen Sie Darauf wollen wir aufbauen. nicht! Das wissen wir!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18361

Dr. Johann Wadephul (A) hier hingestellt und gesagt, Rot-Grün habe unter seiner christlich-liberalen Koalition, die letzten Verfechter der (C) Kanzlerschaft den erfolgreichsten und effektivsten Nie- Tarifautonomie in diesem Hause. driglohnsektor der ganzen Welt geschaffen. Meine Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- men und Herren, vergessen Sie das nicht. chen bei der SPD, der LINKEN und dem (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das Zitat kenne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich nicht!) Das ist mittlerweile das Ergebnis. – Das hat Gerhard Schröder auf dem Weltwirtschafts- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da müssen Sie forum in Davos gesagt; ich kann es Ihnen gleich zeigen. – selber lachen, oder? – Beate Müller-Gemmeke Sie werden die Geister, die Sie selber gerufen haben, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten nicht mehr los, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot- sich nicht so wichtig nehmen!) Grün, und dazu sollten Sie auch stehen. Denn den Bereich, den Sie gesetzlich regeln wollen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nehmen Sie den Tarifvertragsparteien weg. Darüber hinaus sollten Sie nicht den Eindruck erwe- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen cken – Herr Kollege Vogel hat das schon sehr gut deut- Sie uns doch mal, wie hoch die Tarifbindung lich gemacht –, es sei in Deutschland vorstellbar, dass im Osten noch ist!) wir im Niedriglohnsektor eine Lohnhöhe hinbekommen, Das heißt, dies bedeutet ein Weniger an Regelungskom- die sicherstellt, dass niemand mehr in diesem Bereich petenz für die Gewerkschaften. auf ergänzende staatliche Leistungen angewiesen ist. Sie selber, Herr Heil, haben eingeräumt, dass das bei einem (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Erstaunlich, dass Stundenlohn von 8,50 Euro nicht hinhauen würde. die Gewerkschaften dafür sind, oder?) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wenn Deswegen wäre es angebrachter gewesen, wenn all diejenigen, die sich hier als die vermeintlich größten Sie ein Gesetz mit 12 Euro vorlegen, stimmen Verfechter von Gewerkschaftsrechten darstellen, ihre wir zu!) Rede in Moll und nicht in Dur gehalten hätten. Das gilt Denn das sei maximal ausreichend für einen alleinste- auch für Ihre Rede, Herr Kollege Heil. henden Vollzeitbeschäftigten. Nun wissen wir: Viele Richtig ist: Der Organisationsgrad der Gewerkschaf- sind nicht vollzeitbeschäftigt, und zum Glück sind auch ten hat rapide abgenommen. nicht viele alleinstehend, sondern haben einen Partner oder eine Partnerin. Die 8,50 Euro reichen nicht aus. Es (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und der der (B) wird also immer ergänzend der staatlichen Zuschüsse CDU auch!) (D) bedürfen. Es gibt weiße Flecken. Es gibt in der Tat auch Probleme, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE weil immer mehr Menschen nicht unter Tarifverträge GRÜNEN]: Das ist doch kein Argument, um fallen. dann gar nichts zu machen!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, genau! Das ist das Problem!) Ich finde, gerade als Sozialpolitiker sollten wir das nicht diskreditieren. Die Menschen haben einen An- Deswegen müssen wir in diesem Bereich auch handeln; spruch auf staatliche Zuschüsse. das ist keine Frage. Wir werden das auch machen. Es ha- ben schließlich viele zum Ausdruck gebracht, dass die (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) politische Hoffnung auch vieler Oppositionsabgeordne- Sie sollten sich nicht dafür schämen; denn sie haben ei- ten auf den Schultern der christlich-liberalen Koalition nen Rechtsanspruch auf diese Unterstützung. ruht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE]) Wir als diejenigen, die diese Rechtsansprüche hier im Da sind diese Hoffnungen gut aufgehoben. Wir werden Parlament beschließen, sollten das nicht schlechtreden, uns dieser Thematik mit Augenmaß annehmen. meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Ja, wir, die Union, tun uns schwer mit einer gesetzli- GRÜNEN]: Genau!) chen Regelung in diesem Feld. Das haben wir deutlich gemacht, und das merken Sie in allen Diskussionen, die Aufgrund der Bedeutung der Tarifautonomie wird un- wir auch innerparteilich führen. ser Maßstab sein: Wir werden nur das Allernotwendigste regeln. Insofern ist der Ausspruch, den ich von Ihnen ge- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau! Das hört habe – „Mindestlohn light“ –, völlig falsch. Es geht heißt Herumeiern!) darum, „Tarifautonomie XL“ zu garantieren Das liegt daran, dass wir nach wie vor an die Tarifauto- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist Pla- nomie glauben. Herr Kollege Heil, Sie haben vorhin in cebo-Mindestlohn, was Sie machen!) diesem Zusammenhang zu Recht – das ist völlig unstrei- und möglichst viel Tarifautonomie aufrechtzuerhalten. tig – auf die Tradition der Sozialdemokratie hingewie- sen. Bemerkenswerterweise sind wir, die Mitglieder der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 18362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Johann Wadephul (A) Deswegen sollte eine paritätisch zusammengesetzte Gutachten zu Forschung, Innovation und (C) Kommission mit dieser Aufgabe betraut werden. technologischer Leistungsfähigkeit Deutsch- lands 2011 (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das gibt es schon! und Mindestarbeitsbedingungengesetz!) Stellungnahme der Bundesregierung Ich bin gegen eine pauschale Politikerschelte. Ich bin der – Drucksache 17/8226 – Meinung, der Ausspruch „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ gilt auch für Politiker. Politiker sollten sich Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und nicht anmaßen, etwas von Wirtschaft und von den Löh- Technikfolgenabschätzung (f) nen, die auf dem Arbeitsmarkt zu zahlen sind, zu verste- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hen. Ausschuss für Kultur und Medien (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das gilt für Ihre Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Koalition möglicherweise!) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Dafür haben wir Gewerk- schaften und Arbeitgeberverbände, und denen sollten Ich eröffne die Aussprache und erteile – ganz lang- wir uns anvertrauen. sam, damit zuvor wieder Ruhe einkehren kann – dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Rachel für die (Zuruf des Abg. Stefan Rebmann [SPD]) Bundesregierung das Wort. Da sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aufgehoben. Auf diesem Wege kommen wir zu einer neten der FDP) vernünftigen Lösung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desministerin für Bildung und Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist Spitze in Europa – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: beim Wirtschaftswachstum und bei den Beschäftigungs- Ich schließe die Aussprache. zahlen. Das ist angesichts der Finanz- und Staatsschul- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- denkrise wahrlich bemerkenswert. wurf der Fraktion der SPD zur Festsetzung des Mindest- Was ist die Grundlage dieser positiven Entwicklung lohns. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in Deutschland? Die Bundesrepublik hat ein äußerst (B) unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf erfolgreiches Modell entwickelt, um mit innovativen (D) Drucksache 17/8385, den Gesetzentwurf der Fraktion Produkten und Dienstleistungen und einer starken indus- der SPD auf Drucksache 17/4665 abzulehnen. Ich bitte triellen Basis im weltweiten Wettbewerb bestehen zu diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, können. Allein ein Fünftel der Wirtschaftsleistung um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Deutschlands beruht auf dem Export von Technologie- tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- gütern. Das zeigt: Eine hohe Innovationskraft zahlt sich tung mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen aus. die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Da- mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Deutschland verbessert sich im aktuellen Innova- Beratung. tionsindikator der Telekom-Stiftung im Vergleich zum Jahr 2009 aus dem Mittelfeld auf Rang vier. Als einen Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh- wesentlichen Grund für dieses gute Ergebnis werden lung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Druck- mehr Investitionen der öffentlichen Hand in Wissen- sache 17/8385 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter schaft und Forschung genannt. Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf In der Tat: Diese Bundesregierung investiert mehr Drucksache 17/7483 mit dem Titel „Jetzt Voraussetzun- Geld in Forschung und Entwicklung als jede andere Re- gen für die Einführung eines Mindestlohns schaffen“. gierung zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak- Zwischen 2005 und 2011 stiegen die Ausgaben der Bun- tionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei desregierung für Forschung und Entwicklung um sage Enthaltung der SPD angenommen. und schreibe 42 Prozent auf 12,8 Milliarden Euro. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drucksache 17/8026 an die in der Tagesordnung aufge- Dies ist ohne Zweifel ein Signal, ein Signal an die Wis- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- senschaft und an die Wirtschaft. So haben die deutschen verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Unternehmen trotz Finanz- und Schuldenkrise ihre In- so beschlossen. vestitionen in Forschung und Entwicklung im Jahr 2010 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: auf 47 Milliarden Euro gesteigert. Das ist ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Jahr 2005. Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18363

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel (A) Insgesamt haben wir es gemeinsam geschafft, dass der trielle Revolution. Mit der Förderinitiative „Forschungs- (C) Anteil für Forschung und Entwicklung am Bruttoin- campus“ schaffen wir langfristige öffentlich-private landsprodukt von 2,5 Prozent im Jahr 2005 auf 2,82 Pro- Partnerschaften zwischen Wirtschaft und Wissenschaft zent im Jahr 2010 gestiegen ist. Wir kommen immer nä- auf Augenhöhe, und das Ganze unter einem Dach. Mit her an das 3-Prozent-Ziel heran. dem Spitzencluster-Wettbewerb mobilisieren wir ge- meinsam mit Wissenschaft und Wirtschaft Zukunfts- Entsprechend ist auch die Zahl der in Forschung und investitionen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Gestern Entwicklung tätigen Menschen gestiegen. Ich sehe Uwe haben wir die neuen Sieger vorgestellt. Ich nenne stell- Schummer hier sitzen, vertretend für alle den Bioökonomiecluster in Sachsen (René Röspel [SPD]: Ist der jetzt auch da und Sachsen-Anhalt. Man sieht: Es bewegt sich etwas in tätig?) Deutschland, und das ist gut so. einen Arbeitnehmervertreter. Er weiß, wie es bei den Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beitnehmern in der Forschung aussieht. Wir brauchen sie. Zwischen 2005 und 2010 gab es einen beachtlichen Zweites Prinzip: mehr Freiheit für wissenschaftliche Zuwachs von 72 000 Stellen im Bereich Forschung und Initiative. Spitzenleistungen in Forschung und Wissen- Entwicklung. Das ist ein wahrlich erfolgreiches Ergeb- schaft brauchen einen Raum der Kreativität und Freiheit, nis. damit sie sich entfalten können. Diese Bundesregierung steht dafür, dass sich die Forschungseinrichtungen ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) falten können, dass sie mehr Flexibilität und mehr Frei- heit bekommen. Damit unterscheidet sich die Bundes- In der rot-grünen Regierungszeit ist zwischen 2000 und regierung von der Opposition. Wir wollen thematische 2005 die Zahl der im Bereich FuE tätigen Personen zu- Breite und keine grüne Gängelung in der Forschung. rückgegangen. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Oh!) (Lachen des Abg. René Röspel [SPD]) All dies zeigt, dass die heutige Bundesregierung auf Ihre grüne Gängelung führt zu Abwanderung von For- dem richtigen Weg ist. Dies sagt auch die Expertenkom- schungskapazitäten, wie wir dies gerade bei der Verlage- mission „Forschung und Innovation“. Sie hebt die positi- rung der Grünen Gentechnik von BASF ins Ausland er- ven Effekte der Hightech-Strategie hervor. Ich zitiere: leben mussten. Sie von den Grünen freuen sich darüber, wir nicht. Die Expertenkommission befürwortet diese Neu- ausrichtung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) – der Hightech-Strategie – Drittes Prinzip: alle Qualifikationen und Talente in (D) Deutschland nutzen. Jeder muss seine Chance bekom- ebenso wie die Auswahl der prioritären Bedarfsfel- men, sich und seine Talente zu entwickeln. der. (René Röspel [SPD]: Talent ist eine alte (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Hört! griechische Währung!) Hört! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist noch nicht das Ende! Da Auch hier gibt es positive Entwicklungen: kommt noch etwas hinterher! Kritische An- Erstens. Mit dem beschlossenen Anerkennungsgesetz merkungen!) würdigen wir die im Ausland erworbenen Berufsqualifi- Das ist für uns Ansporn und Ermutigung. kationen. Mit der Verbesserung der Zuzugsregelung für Hochqualifizierte im Gesetzentwurf der Bundesregie- Dabei orientieren wir uns an drei Prinzipien: rung stärken wir den Wirtschaftsstandort Deutschland. Erstes Prinzip. Wir wollen die Zusammenarbeit zwi- Zweitens. Mit über 500 000 ist die Zahl der Studien- schen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik stärken. Das anfänger so hoch wie nie zuvor. Mit dem Hochschulpakt ist das Markenzeichen dieser Bundesregierung. Wir sind haben Bund und Länder dafür den entscheidenden Rah- davon überzeugt, dass sich die Schlüsselthemen unseres men gesetzt. Landes, wie der Umbau der Energieversorgung oder der demografische Wandel, nur im Zusammenspiel aller Ak- Drittens. Seit 2005 hat sich die Zahl der Stipendien teure erfolgreich gestalten lassen. Allein zwischen 2010 für Begabte mehr als verdoppelt. Jeder kann sich jetzt in und 2013 wird die Bundesregierung im Rahmen der diese Stipendienkultur einbringen und dazu beitragen, Hightech-Strategie knapp 27 Milliarden Euro in den Be- dass wir mehr Stipendien in Deutschland bekommen. reich Klima und Energie, in die Gesundheitsforschung, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in die Mobilitätsforschung, in die Informations- und Kommunikationstechnologie sowie in die Sicherheits- Viertens. Noch nie hatten wir so viele ausländische forschung investieren. Studierende an deutschen Hochschulen. Das zeigt die Attraktivität des Hochschul-, Wissenschafts- und For- Mit ganz konkreten Zukunftsprojekten arbeiten wir schungsstandorts Deutschland. an den großen, uns alle bewegenden gesellschaftlichen Herausforderungen. Wir arbeiten an einer Vision von Meine Damen und Herren, Bildung, Forschung und CO2-reduzierten und energieeffizienten Städten. Mit Innovationen sind der Schlüssel für Fortschritt und dem „Internet der Dinge“ gestalten wir die vierte indus- Wohlstand in diesem Lande. Sie stärken unsere Wettbe- 18364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel (A) werbskraft. Sie fördern die individuellen Zukunftschan- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Na, na, (C) cen und die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. na!) Der Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland ist in den letzten Jahren wahrlich attraktiver geworden. – doch, die Expertenkommission sagt es mit etwas ande- Auf diesem erfolgreichen Weg wird die Bundesregie- ren Worten: keine wissenschaftliche Grundlage –, rung weiter vorangehen. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Stimmt gar Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat die Expertenkommission zum Anlass genommen, zu überlegen, ob man die Forschungsfinanzierung nicht auf eine andere Basis stellen sollte. Sie sagt: Ein einheitli- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: cher Finanzierungsschlüssel für Forschung ist nicht nur Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion. möglich, sondern auch nötig. Das ist eine wegweisende (Beifall bei der SPD – Michael Kretschmer [CDU/ Formulierung. Ich finde, Forschungspolitik muss sich CSU]: Es ist alles gesagt, Herr Röspel!) damit befassen. Es ist beschämend, dass die Bundesre- gierung darauf überhaupt nicht eingeht. René Röspel (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wurde leider noch gar nichts zum Thema gesagt, DIE GRÜNEN) Kollege Kretschmer. – Herr Präsident! Meine sehr ver- Als wir fast auf den Tag genau vor sechs Jahren da- ehrten Damen und Herren! Als ich Ende Dezember 2011 rüber diskutiert haben, wie die Forschungsberichterstat- erfuhr, dass wir in der ersten Sitzungswoche im Januar tung in Deutschland zukünftig aussehen könnte, haben den Expertenbericht „Forschung und Innovation“ bera- wir hier im Parlament einheitlich gesagt: Ja, es ist rich- ten, habe ich gedacht: Wow, der liegt ja früh vor. Norma- tig, dass ein unabhängiges Gutachtergremium die Situa- lerweise wird er im Februar oder März veröffentlicht, tion der Forschung in Deutschland beleuchtet, seine Kri- und nun werden wir schon im Januar den EFI-Bericht tik darstellt und uns Handlungsoptionen aufzeigt. Alle 2012 beraten. – Als ich dann in die Tagesordnung waren sich einig. Die Bundesregierung schreibt in ihrer schaute, habe ich gesehen, dass wir über die Unterrich- Stellungnahme, dass dieses Gutachten eine gute Analyse tung durch die Bundesregierung zum EFI-Gutachten der Stärken und Schwächen des Innovationsstandortes 2011 diskutieren werden. Das heißt, die Bundesregie- darstellt. Sie schreibt – ich zitiere aus dem Kopf –, dass rung hat zehn Monate gebraucht, um eine Stellung- dieses Gutachten für sie sogar Grundlage für weitere for- nahme zu diesem Gutachten zu erarbeiten. (B) schungs- und innovationspolitische Entscheidungen sein (D) Dafür könnte ich sogar Verständnis haben. Diese Be- wird. Allerdings muss man ein solches Gutachten dann richte sind wirklich sehr interessant und enthalten eine auch lesen und Kritik aufnehmen. Menge Material und Informationen. Man braucht Zeit, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dies vernünftig durchzuarbeiten. Aber dann habe ich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diese Stellungnahme in die Hand genommen. Sie um- fasst nur etwa acht DIN-A4-Seiten. Der Umfang besagt Wir waren uns damals einig, dass wir uns von außen ei- ja nicht alles. Also habe ich gedacht: Gut, vielleicht steht nen Spiegel vorhalten lassen und die Kritik annehmen in der Stellungnahme viel Aussagekräftiges zu diesem müssen. Aber die Bundesregierung schaut an diesem Bericht. Aber mit so gut wie keinem Wort geht diese Spiegel vorbei. Bundesregierung auf das EFI-Gutachten ein. Das ist aber unser Thema. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich habe zuerst gedacht, es sei ein Zufall, dass das dieses DIE GRÜNEN) Mal wieder so ist. Aber beim Blick in die anderen Gut- achten habe ich festgestellt: Es ist offenbar die Strategie Kollege Staatssekretär Rachel, in Ihrem mündlichen und Systematik dieser Bundesregierung, sich von außen Vortrag haben Sie dies leider auch nicht getan; das be- nicht beraten zu lassen und nicht einmal vernünftige dauere ich sehr. Dabei wäre ein Blick in dieses Gutach- Vorschläge anzunehmen. ten ganz interessant gewesen. Im EFI-Gutachten 2011 ist wieder eine Reihe von Kernthemen behandelt worden. Im EFI-Bericht 2008 – das ist fast sogar ein positives Ich will nur eines beispielhaft herausgreifen. Die Kom- Beispiel, an dem Sie sich laben könnten – hat als eines mission nimmt ein zwischen der Bundesregierung und der Kernthemen die steuerliche Forschungsförderung der Landesregierung Schleswig-Holstein aufgetretenes sehr breiten Raum eingenommen, also die steuerliche Geschacher auf: Ein zu 50 Prozent vom Land Schleswig- Förderung von Unternehmen, die in Forschung und Ent- Holstein finanziertes meereswissenschaftliches Institut wicklung investieren. Wir als SPD haben das etwas war in die Helmholtz-Gemeinschaft überführt worden, zurückhaltend beurteilt. Wenn man dadurch tatsächlich sodass es nur noch zu 10 Prozent vom Land finanziert Investitionen heben kann, ist das ein geeignetes Instru- werden muss. Die schleswig-holsteinische Landesregie- ment. Wenn damit Wirtschaftsförderung einhergeht, rung kann dadurch also Geld sparen. Dieses Vorgehen, kann man darüber reden. Aber es kostet viel Geld – die für das es politisch und wissenschaftlich überhaupt kei- notwendigen Mittel muss man haben –, und es darf nicht nen Grund gibt zulasten der Projekt- oder Grundlagenforschung gehen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18365

René Röspel (A) Vor diesem Hintergrund waren wir hier sehr zurückhal- können, dass eine normale Arbeitnehmerfamilie Schwie- (C) tend. rigkeiten hat, 1 000 Euro pro Jahr für das Studium der Kinder aufzubringen. Es waren die beiden Fraktionen von CDU/CSU und FDP und eine Bundesministerin, die sich in Sachen steu- (Beifall des Abg. Oliver Kaczmarek [SPD]) erliche FuE-Förderung so weit aus dem Fenster gelehnt haben, dass dem Betrachter schon schwindelig wurde. Vielleicht ist das eine Wahrnehmungsfrage. Wissen Sie, was passiert ist? Nichts. Selbst die Gutach- (Heiner Kamp [FDP]: Ach was! Machen Sie tenempfehlung, die für Sie eigentlich positiv ausgefallen doch jetzt keine Neiddebatte auf! Das ist doch ist und positiv angenommen worden ist, ist nicht umge- eine reine Neiddebatte!) setzt worden. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: [SPD]) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Murmann? Sie haben sich zwar weit aus dem Fenster gelehnt, aber Sie haben kein Stück zur steuerlichen FuE-Förderung in Deutschland beigetragen. René Röspel (SPD): Aber gerne. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Im EFI-Gutachten 2009 war Bildung eines der Bitte schön. Kernthemen. Gleich im Vorwort steht ein ganz wichtiger Satz: dass uns die Schwächen des deutschen Bildungs- Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): systems nachhaltig belasten und zu einer Bedrohung für Lieber Kollege Röspel, es ist nett, dass Sie eine Zwi- die Innovationsfähigkeit Deutschlands werden. Ein schenfrage gestatten. – Auch Sie haben sich inzwischen bestimmtes Diagramm, das in diesem EFI-Bericht ent- ja etwas von dem Gutachten entfernt. Deswegen möchte halten war, habe ich danach auch in vielen anderen Pu- ich Sie fragen, wie Sie folgende Zusammenfassung, die blikationen gesehen. Hier geht es darum, dass die Bil- am Ende des Gutachtens zu lesen ist, bewerten: dungschancen der Menschen in Deutschland so sehr wie in keinem anderen Industrieland von der Herkunft ab- Die dargestellte Bilanz zeigt: Deutschland ist im hängig sind. Diese Abbildung macht deutlich: Von Bereich von Forschung und Innovation attraktiver 100 gleich begabten Kindern, die aus Akademikerfami- und stärker als je zuvor. (B) lien stammen, werden 83 ein Studium aufnehmen, von (D) 100 gleich begabten Kindern, die aus Arbeitnehmerfa- (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: milien stammen, nur 23. Die Herkunft entscheidet also Richtig!) über die Bildungschancen. Der Appell, hier aktiv zu Deutschland hat seine Stellung als dynamischer werden, wurde übrigens nicht nur an die Bundesregie- Innovations- und Forschungsstandort in den ver- rung, sondern auch an die Politik insgesamt gerichtet. gangenen Jahren deutlich verbessert. Die Bundesre- Was haben Ihre Fraktionen gemacht? Sie haben vor gierung arbeitet daran, diesen Erfolgskurs in den diesem Gutachten wie erstarrt verharrt. Der Bundespar- kommenden Jahren fortzusetzen und Deutschlands teitag der CDU hat sich dann entschieden, sich von der Innovationsführerschaft weiter auszubauen – mit Hauptschule zu verabschieden – völlig ignorierend, dass umfangreichen Maßnahmen, zielgerichteter Förde- viele CDU-Bürgermeister in ländlichen Regionen längst rung und übergreifender strategischer Innovations- Abstand von der Hauptschule genommen haben, weil sie politik unter dem Dach der Hightech-Strategie. sich diese aus demografischen Gründen nicht mehr leis- Denn Bildung, Forschung und Innovationen sind ten können. der Schlüssel für Wachstum, Wohlstand und Zu- sammenhalt und damit eine der wichtigsten Grund- Aber es gibt auch Regierungen, die die Ungleichge- lagen für eine gute Zukunft in Deutschland. wichte im Bildungssystem wahrnehmen und handeln. Ich bin sehr froh, dass die neue rot-grüne Landesregie- Das, was ich zitiert habe, war die komplette Zusam- rung in Nordrhein-Westfalen die Studiengebühren aus- menfassung der Studie. Wie bewerten Sie das? gesetzt und zurückgenommen hat. Sie sind nämlich ein wesentliches Kriterium dafür, dass Arbeitnehmerkinder René Röspel (SPD): kein Studium aufnehmen. Es gibt also tatsächlich Regie- Das kann ich nur voll unterstreichen, weil es in der rungen, die handeln. Tat so ist, dass Deutschland heute besser dasteht als vor 10 oder 15 Jahren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heiner Kamp [FDP]: Ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- großer Fehler war das! – Dr. Thomas Feist neten der FDP – Dr. Philipp Murmann [CDU/ [CDU/CSU]: Leider!) CSU]: Danke!) – Nein, das war kein großer Fehler. Vielleicht muss man – Das ist noch Teil der Beantwortung. – Im EFI-Gutach- etwas weniger als ein Abgeordneter, also weniger als ten ist übrigens immer eine ganz spannende Tabelle ent- 8 000 Euro im Monat, verdienen, um sich vorstellen zu halten, die weit über das hinausgeht, was in der Stellung- 18366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

René Röspel (A) nahme der Bundesregierung zu lesen ist, in der nämlich des Kooperationsverbotes einbringen, und Sie als Regie- (C) nur die Entwicklung seit 2005 betrachtet wird. Aus dem rung sind herzlich eingeladen, an diesem vernünftigen Stand: Im EFI-Bericht 2009 können Sie auf Seite 72 die Antrag mitzuwirken und ihn zu unterstützen. Abbildungen 13 und 14 finden. Dort ist die Entwicklung der Anteile der Ausgaben für Forschung und Entwick- Herzlichen Dank. lung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, seit 1982 dar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestellt. Hier wollen wir uns ja dem vereinbarten Ziel DIE GRÜNEN) – das sagte auch Staatssekretär Rachel – nähern. Man sieht hier: Als Helmut Schmidt die Regierung an Helmut Kohl abgegeben hat, war dieser Anteil viel höher als zu Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dem Zeitpunkt, als Helmut Kohl die Regierung an Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak- Gerhard Schröder abgab. tion. (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Wie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) war es 1950?) Das heißt, die erste christlich-liberale Koalition hat die- Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): sen Bereich heruntergewirtschaftet. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Röspel, Sie haben völlig recht: Wir Unter der rot-grünen Bundesregierung, seit 1998, ha- müssen uns mit dem EFI-Gutachten und mit den Aussa- ben wir der Forschung und Entwicklung sowie der Bil- gen darin kritisch auseinandersetzen. Das werden wir dung wieder einen Stellenwert gegeben und entspre- tun. Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf Ausfüh- chende Finanzen dafür zur Verfügung gestellt. rungen zum Gutachten 2011. Darin gibt es eine ganze (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Reihe von Empfehlungen. Ich gehe der Reihe nach vor des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und ziehe nicht nur die eine oder andere heraus. Es ist richtig und gut, dass die Große Koalition das fort- Ich möchte an dieser Stelle feststellen, dass wir – das gesetzt hat und Sie das jetzt auch tun. Deswegen kann ist dort deutlich vermerkt worden – nach der Finanz- und ich das unterstreichen. Wirtschaftskrise wieder eine führende Position in der Weltwirtschaft eingenommen haben, vor allen Dingen (Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Wir auch aufgrund der guten Forschungs- und Innovations- steigern das!) politik. Urheber waren aber nicht Sie, sondern andere. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Richtig!) (B) (D) Ich denke, damit ist Ihre Frage in aller Kürze ausrei- Ein Grund für diese Entwicklung – das kann ich an die- chend beantwortet. ser Stelle nur noch einmal unterstreichen – ist natürlich Wenn man sich das vorletzte EFI-Gutachten, das von unsere technologie- und innovationsorientierte Volks- 2010, anschaut, dann sieht man: Eines der Kernthemen wirtschaft. ist die Föderalismusreform. Seit der Föderalismusreform hat der Bund nicht mehr die Möglichkeit, den Ländern Im Gutachten kann man recht deutlich nachlesen, und sogar den Kommunen finanzielle Mittel für Bildung dass wir vor allen Dingen von den forschungsintensiven zur Verfügung zu stellen. Wer in den Kommunen tätig Industrien und von Spitzen- und Höchsttechnologien ist, der weiß, dass sie danach lechzen. Das Ganztags- profitieren. Auch in diesem Jahr wird die Entwicklung schulprogramm der rot-grünen Bundesregierung aus bei uns aufgrund eines Wirtschaftspotenzials mit Wachs- dem Jahre 2003 hat zu über 7 000 Ganztagsschulen ge- tumserwartungen von 0,75 Prozent überaus stabil sein. führt und den Kommunen geholfen. Das ist jetzt nicht Diese Leistungsfähigkeit wird vom Innovationsindi- mehr möglich. kator belegt. Hier ist Deutschland – das ist immer wieder Im EFI-Bericht 2010 findet sich zum ersten Mal die hervorzuheben – auf gutem Wege. Das lassen wir uns Forderung, dass das Kooperationsverbot dringend besei- nicht schlechtreden. In den letzten Jahren haben wir uns tigt werden muss. Diese Forderung, die auch im aktuel- im Ranking der innovativsten Nationen auf einen der len Bericht steht, ist an uns alle gerichtet, weil wir das in vorderen Spitzenplätze vorgearbeitet. Das ist ganz wich- der Großen Koalition beschlossen haben. tig. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass wir gegen- über vielen anderen OECD-Staaten und Konkurrenten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einen Vorsprung durch Ideen und Innovationen haben. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das müssen wir bewahren und weiter ausbauen. FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Hier muss etwas passieren. Auch dazu hätte ich mir eine Äußerung seitens der Bundesregierung gewünscht. Viel- Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich den Mitglie- leicht hören wir ja aus den Regierungsfraktionen gleich dern der Expertenkommission Forschung und Innova- noch etwas dazu. Das ist ein dringender Appell der Ex- tion für ihre geleistete Arbeit. pertenkommission. Dem sollten wir uns annehmen. Kollege Röspel, jetzt komme ich auf einen Punkt zu Wir als SPD haben das getan. Wir werden in der sprechen, den Sie auch angesprochen haben. Ein Grund nächsten Woche einen Antrag in Richtung Aufhebung für diese erfolgreiche Entwicklung liegt vor allem in der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18367

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (A) selbstkritischen Analyse. Das ist genau der Punkt, und Wir zielen mit dem Pakt auf die außeruniversitären For- (C) genau das tun wir an dieser Stelle. schungseinrichtungen, die wir als integralen Bestandteil unseres Innovationssystems verstehen. Genau diese Ein- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: richtungen müssen weiter gestärkt und auch weiter an Wo ist die denn?) die Wirtschaft herangeführt werden. – Frau Sager, Sie haben ja gleich im Anschluss noch Ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten legenheit, das aus Ihrer Sicht darzustellen. – Ich glaube, der CDU/CSU) wir dürfen uns an dieser Stelle nicht auf den Erfolgen ausruhen – das ist ein ganz wichtiger Punkt –, Hier ist eine jährliche Steigerung der Mittel von min- destens 5 Prozent zu verzeichnen. Damit geben wir ein (René Röspel [SPD]: Einverstanden!) deutliches Signal. Hier kommt die Stelle, an der wir ge- sondern wir haben unsere Position immer wieder bzw. nauer hinschauen müssen, Herr Kollege Röspel – das fortwährend zu überprüfen. sage ich auch an Ihre Adresse –: Wir müssen darauf ach- ten, dass es in der Finanzierung der Hochschulen in der Hier brauchen wir auch kritische Stimmen, die uns Kombination mit den außeruniversitären Forschungsein- die Schwächen vor Augen führen und an der Bewertung richtungen eine Balance zwischen der Steigerung der keinen Zweifel aufkommen lassen. Diese kritischen Mittel, die ich gerade angesprochen habe, und dem, was Stimmen können und sollen natürlich auch aus dem Wis- über die Länderhaushalte an Mitteln für die Hochschulen senschaftssystem selbst kommen. An dieser Stelle muss bereitgestellt werden muss, gibt. Auf diese Balance müs- es einen Dialog geben. Ich möchte hervorheben – des- sen wir achten. halb ist dieser Bericht für uns sehr wertvoll –, dass aus meiner Wahrnehmung heraus der Stellenwert der Exper- (René Röspel [SPD]: Einverstanden!) tenkommission mit jedem Bericht wächst. Das heißt aber auch – dazu wird in dem EFI-Gutach- Es gehört zur kritischen Analyse, dass wir über die ten ausreichend Stellung genommen –, dass wir das ge- Grenzen hinausschauen. Das ist ganz wichtig, vor allen samte System der Wissensgesellschaft im Auge behalten Dingen in diesem Wettbewerb. Wenn wir uns die inter- müssen. Das beginnt tatsächlich mit dem „Haus der klei- nationalen Entwicklungen konkreter anschauen und ana- nen Forscher“ im Kitabereich und hört bei hochwertigen lysieren, stellen wir wieder fest, dass wir an dieser Stelle Forschungsergebnissen auf. Wenn man sich die wirklich führend sind. Wenn wir zum Beispiel nach Biografien der vielen erfolgreichen Nachwuchswissen- Skandinavien blicken oder in den südostasiatischen schaftler genauer anschaut, sieht man, dass ihre Karriere Raum, stellen wir fest, dass wir uns mitten in einem tatsächlich auf Förderung und vor allen Dingen auf der hohen Qualität des Studiums beruht. Vor diesem Hinter- (B) Wettbewerb befinden. Dieser Wettbewerb – das ist an (D) alle Adressen gerichtet – nimmt keine Rücksicht auf grund sollten wir das Talentmanagement im Bereich der Versäumnisse, sei es bei Investitionen, sei es bei der not- Forschung und der Hochschulen tatsächlich als eine zu- wendigen Weichenstellung für Forschung und Innova- künftige Aufgabe erkennen. tion. In diesem Wettbewerb zählt nur die richtige For- An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen schungspolitik. – das muss man hervorheben, weil es ein Schritt auf dem An dieser Stelle hat die Expertenkommission den Fin- richtigen Weg ist –, dass wir mit der Aufstockung der ger tief in die Wunde gelegt. Die Schwächen werden be- Mittel für den Qualitätspakt Lehre und dem Hochschul- nannt – das ist ganz klar – und Empfehlungen gegeben. pakt eine wirklich sehr gute finanzielle Grundlage gelegt Ich glaube aber festzustellen – in diesem Kontext treffen haben. wir uns dann wieder –, dass der Weg richtig ist und dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vor allen Dingen – das gilt auch in der Wirtschaft – das richtige Klima geschaffen wird – das ist ein ganz wichti- Weil es zum System gehört und weil die Opposition ger Punkt –, sei es zum Beispiel durch die Erhöhung der immer verschiedene Argumente dagegen anführt: In die- Investitionen des Bundes, sei es zusätzlich durch eine sem Zusammenhang freut mich die positive Aufnahme Wirtschaftspolitik, die Mehrausgaben in Forschung und des Deutschlandstipendiums durch die Expertenkom- Entwicklung generiert. Dabei belegt das Gutachten mission. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie im- 2011, dass wir mit der strukturellen und vor allen Dingen mer machen. strategischen Ausrichtung auf dem richtigen Weg sind. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Jawohl!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie sagen immer: Das ist eine einseitige Orientierung. Die Koalition hat mit der weiterentwickelten High- Ich sage noch einmal: Wir brauchen eine Kultur der För- derung und der Unterstützung der Hochschulen in den tech-Strategie 2020 eine missionsartige – so möchte ich Regionen, wir brauchen ein funktionierendes bürger- das sagen – Ausrichtung vorgenommen und die For- schungs- und Innovationsförderung auf globale Heraus- schaftliches Engagement und müssen alle Kräfte der Ge- sellschaft bündeln, die ein Interesse daran haben, dass es forderungen ausgerichtet. Daneben ist der Pakt für For- auf diesem Weg weitergeht. schung und Innovation als ein ganz entscheidendes Instrumentarium etabliert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (René Röspel [SPD]: Gute sozialdemokrati- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zeit ist sche Erfindung!) zu knapp, um sich den vielen Aspekten zu widmen. Die 18368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (A) Kommission hat uns sehr viele Empfehlungen mit auf (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) den Weg gegeben. Darüber muss geredet werden. Ich neten der CDU/CSU und der FDP und des habe das vorhin betont. Damit wir weiterhin Erfolg er- Abg. René Röspel [SPD]) zielen, ist, glaube ich, auch eine selbstkritische Analyse wichtig. Ich kann Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen, Das ist aber auch schon alles. Nicht die Menge macht es; dass wir uns in allen Projekten, die notwendig sind, bei manchmal macht es erst die Qualität. Es bleibt festzuhal- allem Guten und Positiven wie auch da, wo wir tatsäch- ten, dass mehr Mittel allein kein Garant für eine mo- lich noch Kräfte bündeln müssen, nicht auf dem Erfolg derne Innovationspolitik sind. ausruhen, sondern wir werden uns als christlich-liberale Zu den dann folgenden Kritiken – das hat Herr Röspel Koalition für eine Fortentwicklung des Forschungs- und schon gesagt – äußert sich die Bundesregierung entwe- Innovationssystems einsetzen. der gar nicht, oder sie reagiert durch gegenteilige Politik darauf. Deshalb frage ich mich: Warum vergibt die Bun- Lieber Kollege Röspel, ich muss das noch anspre- desregierung überhaupt derartige Aufträge, wenn sie in chen, weil Sie es hervorgehoben haben: Auf die vielen diesen Punkten nicht wirklich im Kern etwas ändern Empfehlungen und Hinweise werden wir Antworten ge- will? Da kippt der Buddha aus dem Schrein. ben. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (René Röspel [SPD]: Da bin ich aber ge- Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – spannt!) Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Das Ich bedanke mich. ist vollkommen falsch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Linke dagegen will etwas ändern. Lassen Sie mich das an einem Thema erklären, welches schon fast als Dauerbrenner der Berichte gelten kann: Föderalismus Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und Bildung. Die Kommission fordert unmissverständ- Das Wort hat nun Petra Sitte für die Fraktion Die lich, den Wettbewerbsföderalismus im Bildungsbereich Linke. einzudämmen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – René Röspel [SPD]: Wie zu Zeiten Willy Brandts!) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Stattdessen soll eine kooperative Bildungspolitik prakti- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden ziert werden. Ebenso fordern die Expertinnen und Ex- (B) heute über ein Gutachten der Expertenkommission For- perten erneut die Überwindung der sozialen Spaltung im (D) schung und Innovation. Dieser Gruppe gehören sechs Bildungswesen. Das wurde also nicht nur 2009 gefor- Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Wirt- dert, wie Herr Röspel gesagt hat, sondern auch im dies- schafts-, der Rechts- und der Sozialwissenschaft an. Sie jährigen Gutachten. Mehr Menschen aus bildungsfernen haben, wie man es von der Wissenschaft erwarten darf, Schichten sollen an die Hochschulen dieses Landes auch im Jahr 2011 – Herr Röspel hat es schon gesagt – kommen können. Ich frage mich: Wie viele Gutachten ihrer Auftraggeberin kein Gefälligkeitsgutachten vorge- braucht es noch, bis man in diesem Punkt nachhaltig um- legt und nicht nur eitel Freude bereitet. steuert? (Zuruf von der FDP: Richtig!) (Beifall bei der LINKEN) Dafür kann man sich bei den Wissenschaftlerinnen und Schließlich werden neue Angebote für Ganztagsschu- Wissenschaftlern nur bedanken. len gefordert. Die Lernbedingungen sollen verbessert und die Zahl der Abgänge ohne Abschluss soll gesenkt Ich hoffe, dass auch nach der personellen Umbeset- werden. zung dieser Gruppe eine solche kritische Distanz be- wahrt werden kann. Immerhin haben die Gutachten der Die Linke fühlt sich durch die Kommission in ihren letzten Jahre deutliche Signale gesetzt. Ich denke bei- Positionen bestärkt. Ich zitiere aus dem Gutachten: spielsweise an den Verriss der Studienreform – nichts Gute Bildungspolitik ist die Voraussetzung guter anderes als ein Verriss war es – oder an die Kritik zur Innovationspolitik. Komplexität und Budgettransparenz eben jener von Ih- nen gelobten Hightech-Strategie und Innovationspolitik. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- So weit, so gut. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie hat die Bundesregierung auf das Gutachten 2011 reagiert? Auch in diesem Jahr hat die Bundesregierung Seit Jahren drängen wir hier im Bundestag auf ein zunächst einmal mit bunten Bildchen reagiert. Mit ihnen Bildungswesen, das individuelles Lernen tatsächlich er- werden die wachsenden Mittel für Forschungsförderung möglicht. Es soll Schwächen ausgleichen, und es soll gefeiert. Das Eigenlob aus den Haushaltsberatungen be- eben auch die vielfältigen Talente von Kindern und Ju- kommt sozusagen einen visuellen Gedächtnisschrein. gendlichen fördern. Das wird aber nicht ohne Bundes- Aber die Expertenkommission ist eben nicht in Andacht hilfe gehen. Das bleibt auch in Bundesverantwortung, erstarrt. Sie hat vielmehr festgestellt, dass man den Auf- weil Bildung zur Gleichwertigkeit von Lebensverhält- wuchs der Mittel grundsätzlich anerkennen müsse. nissen gehört. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18369

Dr. Petra Sitte (A) (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE entsprechende Änderung des Wissenschaftszeitvertrags- (C) LINKE]) gesetzes. Was macht die Bundesregierung? Statt das Koopera- Laufen nun Hochschulpakt und Exzellenzinitiative in tionsverbot zu beerdigen und mit den Mitteln konse- ein paar Jahren aus, müssen wir dann sowieso über ein quent und ohne Umwege das öffentliche Bildungswesen nachhaltiges Finanzkonzept diskutieren. Mir ist völlig zu stärken, wird viel Geld auf Nebengleisen – mit vielen klar, dass ein solches Konzept nicht erarbeitet werden bürokratischen Zwischenstopps – geparkt oder in solche kann, ohne zuvor das Kooperationsverbot beerdigt zu Programme wie Bildungs- und Teilhabepaket sowie ein haben. elitäres Studienprogramm geleitet. Das alles sind büro- Die Expertinnen und Experten, also die Geister, die kratische Monster, bei denen klar ist, dass viel Geld an Sie selbst gerufen haben, haben viele praktikable Vor- Stellen verpulvert wird, die mit Bildung direkt nichts zu schläge gemacht. Es bedarf schlicht und ergreifend muti- tun haben. ger und innovativer Grundsatzentscheidungen. Beim (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Kooperationsverbot können Sie damit anfangen. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Nächste Woche werden wir darüber im Bundestag disku- Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mittel sinnlos tieren. Dann werden wir sehen, welche Schlussfolgerun- verpulvern, das können sie!) gen Sie ziehen. Viel wichtiger wäre es, mit diesen vielen Mitteln das öf- Danke. fentliche Bildungswesen zu stärken. So könnte man we- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sentlich mehr Effekte erzielen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Krista Sager für die Fraktion Bünd- Gemeinsam mit den Ländern sollte flächendeckend nis 90/Die Grünen. für eine gute Ausstattung der Bildungseinrichtungen ge- sorgt werden. Die Umsetzung moderner Lern- und Lehr- formen sollte gesichert werden. Gute Kitaplätze für alle Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kinder, längeres gemeinsames Lernen in Ganztagsschu- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- len, offene, attraktive Hochschulen, und zwar nicht nur desregierung hat das Jahresgutachten 2011 der Experten- an einzelnen exzellenten Standorten, sondern überall, kommission Forschung und Innovation leider ausgespro- chen selektiv zur Kenntnis genommen. (B) genau das sind die Aufgaben, die im Gutachten der Ex- (D) pertenkommission nachzulesen sind. Genau das gehört (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Leider! – zu einer guten Innovationspolitik. René Röspel [SPD]: Sehr!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Dass Sie in Ihrer Stellungnahme zu jedweder Kritik total neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE schweigen – das haben die Kollegen bereits angespro- GRÜNEN) chen –, ist peinlich. Aber auch in Wissenschaft und Forschung wächst nun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kritik am Wettbewerbsföderalismus. Das Einwerben sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- von zusätzlichen Mitteln, sogenannten Drittmitteln, aus KEN) der Wirtschaft und Bundesprogrammen wie beispiels- weise der Exzellenzinitiative dominiert mehr und mehr Diese Expertenkommission wurde von der Bundesregie- die Haushaltsanstrengungen an Wissenschaftseinrichtun- rung eingesetzt. Was haben Sie denn eigentlich von die- gen. Heute wissen wir aber aus vielen Schilderungen, sen Experten erwartet? Kollektive Lobhudelei, oder was? dass der Dauerstress wegen endloser Antragsrennen ins- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- besondere personelle Ressourcen bindet, die letztlich NEN]: Genau!) massiv in der Lehre, aber auch in der Forschung fehlen. Angesichts der 19 000 Programme, die das Bundesfor- Sie behandeln das wie das Rauschen im Wald. Ich finde, schungsministerium bereits jetzt finanziert, fragt man dass Sie eine Missachtung gegenüber Ihren eigenen Ex- sich doch: Wäre das Geld nicht viel besser angelegt, perten an den Tag legen, wenn Sie kritische Aspekte mit wenn man einen Teil davon nutzte, um die Grundausstat- keinem Wort erwähnen. Dass die Opposition das nun an- tung von Wissenschaftseinrichtungen zu verbessern? ders macht, wird Sie sicherlich nicht verwundern. (René Röspel [SPD]: Die wollen die (Zurufe von der CDU/CSU und FDP: Nein!) 20 000 vollmachen!) Kommen wir also zu einem besonders beliebten – Das kann sein. Aber wir werden versuchen, das zu ver- Thema: die steuerliche Forschungsförderung. Die hindern. Expertenkommission hat die steuerliche Forschungsför- derung wiederholt angemahnt. Wir wissen, dass sich das Schließlich könnten die Perspektiven des wissen- in anderen Ländern als ein ergänzendes Instrument für schaftlichen Nachwuchses dadurch verlässlicher und ge- kleinere innovative Unternehmen bewährt hat, die von rechter gestaltet werden. Natürlich gehört dazu auch eine der Projektförderung viel weniger profitieren als Groß- 18370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Krista Sager (A) unternehmen. Dass die CDU/CSU da bisher nichts zu- gend ausschöpfen. Die Große Anfrage der Opposition (C) stande bekommen hat, finde ich besonders peinlich. hat gerade gezeigt, dass nicht nur im Wirtschaftsbereich, sondern auch im Wissenschaftsbereich der Fortschritt (Beifall des Abg. René Röspel [SPD] – Albert leider immer noch eine Schnecke ist, wenn es darum Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Die Legis- geht, Frauen in Spitzenpositionen zu bringen. Die Bun- latur dauert vier Jahre, nicht zwei Jahre!) desregierung scheut davor zurück, da endlich zu ver- Sie haben sich gleich zweimal ein Bein gestellt, sehr bindlichen Regelungen zu kommen. Auch da: Schlechte verehrter Herr Rupprecht. Das erste Mal haben Sie sich Politik! ein Bein gestellt, als Sie sich auf die dödelige Klientel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politik der FDP, lieber Hoteliers zu fördern, als steuerli- sowie bei Abgeordneten der SPD) che Forschungsförderung zu betreiben, eingelassen ha- ben. Die Expertenkommission fordert außerdem, den sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abzeichnenden Fachkräftemangel stärker durch eine ge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- zielte Einwanderungspolitik zu bekämpfen. Was macht KEN) die Regierung da? Flickenteppich! Stückwerk! Hier eine Einzelfalllösung, dort eine Einzelfalllösung! Wir brau- Das zweite Mal haben Sie sich ein Bein gestellt, als chen wirklich ein Punktesystem für die Einwanderung, Sie sich von den Industrieverbänden ein besonders teu- und wir brauchen auch eine wirkliche Willkommenskul- res Modell haben einreden lassen. Dieses Modell wäre tur. Das zu Recht als Unwort des Jahres qualifizierte nicht nur teuer; es würde vor allen Dingen die Großkon- Wort „Döner-Morde“ zeigt doch, dass wir bei der Will- zerne der Pharma- und Autobranche bevorzugen. Dass kommenskultur wirklich noch Nachholbedarf haben. Sie das bei Ihrem Bundesfinanzminister schlecht durch- bekommen, muss einen nicht verwundern. Die Gutachter ( [CDU/CSU]: Bleiben Sie haben einfach recht, wenn sie sagen: Da muss die Koali- mal sachlich!) tion jetzt endlich einmal etwas zustande bringen und Das Jahresgutachten 2011 setzt sich ausgesprochen Farbe bekennen. kritisch mit der Föderalismusreform 2006 auseinander. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Gutachter – das wurde von den Kolleginnen und sowie des Abg. René Röspel [SPD]) Kollegen hier schon gesagt – fordern die Rückkehr zu ei- nem kooperativen Föderalismus. Sie fordern ganz klar Die Kolleginnen und Kollegen haben zu Recht darauf die Rücknahme des Kooperationsverbotes. Für diese hingewiesen, dass es richtig ist, im Zusammenhang mit Forderung erfahren sie mit Sicherheit nicht nur viel Un- der Innovationspolitik die Bildungspolitik zu thematisie- (B) terstützung bei den Wissenschafts- und Bildungsorgani- (D) ren, weil sie die Grundlage jeder Innovationspolitik ist. sationen, sondern zunehmend auch in der Bevölkerung. (Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Da finden die Gutachter erfreulicherweise klare Worte. Deswegen stellt sich besonders die Frage: Warum Sie sagen nämlich ganz deutlich: Das deutsche Bil- schweigt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dungssystem ist selektiv, und es bietet zu wenig Chan- diesem Punkt? cengerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Bildungs- reserven werden aus Sicht der Gutachter nicht effektiv (René Röspel [SPD]: Sprachlosigkeit!) genug mobilisiert. Es ist doch unlogisch, dass die Länder eine zunehmend Sie benennen auch Problemgruppen. Dazu gehören steigende Belastung aus der gemeinsamen Forschungs- ganz besonders Kinder und junge Menschen aus ein- finanzierung zu verkraften haben, dass sie immer weni- kommensschwächeren Familien, die von der Kinderbe- ger in der Lage sind, die Grundfinanzierung ihrer Hoch- treuung über die Schule bis in den Hochschulbereich hi- schulen angemessen sicherzustellen, aber parallel dazu nein benachteiligt werden. der Bund sich beim Ganztagsschulausbau seit 2006 aus der gemeinsamen Finanzierung verabschiedet hat. Da Vor diesem Hintergrund muss man noch einmal eines passt eindeutig etwas nicht zusammen. Daher brauchen feststellen: In diese Logik hinein kommen Sie jetzt mit wir eine Verfassungsreform, zu der sich die Bundesre- Ihrem Betreuungsgeld, das Eltern belohnen soll, wenn gierung dann auch bekennen müsste. sie ihre Kinder nicht in eine Kita mit der damit verbun- denen Frühförderung bringen, sondern davon fernhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist bildungspolitisch ein Irrläufer erster Klasse. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bemerkenswert ist auch, dass die Gutachter kritische bei der SPD und der LINKEN – René Röspel Anmerkungen zur gemeinsamen Forschungsfinanzie- [SPD]: Harakiri!) rung machen. Auch wir sind der Meinung, dass die Strukturen nicht mehr logisch zu erklären sind: die un- Dass Sie darüber kein Wort verlieren, finde ich auch bla- terschiedlichen Finanzierungsschlüssel und die Zuord- mabel. nung von Einrichtungen zu Forschungsorganisationen. Dieses Instrument der Betreuungsprämie passt auch Wir haben dazu einen eigenen Antrag vorgelegt und den- nicht zu einem anderen Thema der Gutachter, nämlich ken, dass wir hierüber in eine Diskussion kommen müs- dass wir die Potenziale der jungen Frauen nicht genü- sen. Das, was die Gutachter als einheitlichen Schlüssel Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18371

Krista Sager (A) vorlegen, hat uns nicht überzeugt, weil es viele Unge- geschafft, dass Deutschland das erste Mal seit der Wie- (C) rechtigkeiten und Ungereimtheiten nicht beseitigt. dervereinigung 1990 beim Anteil der Ausgaben für For- schung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt wie- (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Keiner der vor den USA liegt. Das ist ein starkes Signal. sagt, was es kostet!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber es darf wegen dieser Problematik nicht mit der „Helmholtzifizierung“ der Forschungslandschaft weiter- Wenn hier zwischen Helmut Schmidt, Helmut Kohl gehen. Wir müssen an dieses Thema heran, das hat der und Gerhard Schröder verglichen wird, dann muss man Wissenschaftsrat angemahnt und das sagt auch der Präsi- zur Kenntnis nehmen, dass dazwischen die deutsche dent der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Wir erwar- Einheit, ein gewaltiger Kraftakt, gelegen hat, den dieses ten, dass sich auch die Bundesregierung diesem Thema Land, den wir erfolgreich gestemmt haben. Ich finde, es endlich stellt. gehört zur Redlichkeit dazu, dass man dies immer wie- der sagt, Herr Kollege Röspel. Es gibt im deutschen Forschungs- und Innovations- system durchaus mutmachende Aufbruchsignale – das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bestreiten wir überhaupt nicht –, aber es gibt auch viele René Röspel [SPD]: Ja, das habe ich auch Baustellen. Aber wenn eine Bundesregierung überhaupt schon in der letzten Rede getan!) nicht in der Lage ist, sich auf Kritik einzulassen, dann bezweifeln wir, dass sie zu dem in der Lage ist, was die Nein, meine Damen und Herren, diese Koalition unter Gutachter immer wieder anmahnen: eine kritische, trans- der Regierung von hat nicht nur davon parente und ehrliche Bestandsaufnahme und ehrliche gesprochen, dass Forschung und Entwicklung wichtig Evaluation Ihrer Politik. Das leistet Ihre Stellungnahme sind, sondern sie hat dies wie keine Regierung in der in keiner Weise. Vergangenheit, in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, wahrgemacht und in Forschung und Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wicklung investiert. Das können Sie beklagen, bei der SPD und der LINKEN) (René Röspel [SPD]: Das beklagen wir über- haupt nicht!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/ und Sie können immer irgendwie daran herumkritteln, CSU-Fraktion. aber die deutschen Forschungsorganisationen, die deut- sche Wissenschaft sowie der hier vorliegende Bericht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sprechen eine ganz klare Sprache: Es wird anerkannt, (B) und die Menschen sind dankbar dafür, dass auf uns Ver- (D) Michael Kretschmer (CDU/CSU): lass ist, dass wir in diesem Bereich gemeinsam investie- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ren. Herren! Für die Koalitionsfraktionen ist klar: Nur mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit kön- nen wir auf internationaler Ebene bestehen und unseren Sie haben drei Punkte angesprochen: den einheitli- Wohlstand im internationalen Vergleich auch in den chen Finanzierungsschlüssel, die steuerliche For- kommenden Jahren und Jahrzehnten erhalten. schungsförderung und das Kooperationsverbot. Zu allen drei Punkten möchte ich etwas sagen. (Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Sehr richtig!) Der einheitliche Finanzierungsschlüssel ist ein wich- tiger Teil der Überlegungen zu der Frage, wie man das Deshalb, meine Damen und Herren: Deutschland soll ein Wissenschaftssystem und die außeruniversitäre For- innovatives Industrieland sein und bleiben. schung in Zukunft neu aufstellt. Ich möchte nur eines zu (René Röspel [SPD]: Wir haben nichts bedenken geben: Als die Regierung von Wissenschafts- dagegen!) ministerin hier aktiv war, gab es nur ein Hauen und Stechen zwischen Ländern und Bund, Wir haben in den Krisen der vergangenen Jahre mehr weil sie permanent mit dem Kopf durch die Wand als deutlich gelernt, welch große Bedeutung die innova- wollte. tive Kraft und die technologische Leistungsfähigkeit un- seres Landes haben, um durch diese Krisen hindurchzu- (René Röspel [SPD]: Es gab auch ein paar kommen. Aus diesem Grund ist für uns vollkommen CDU-geführte Bundesländer, die blockiert ha- klar, dass wir in diesem Bereich weiter investieren müs- ben!) sen und jeder Euro, der in die Wissenschaft geht und für Sie hat per Dudenhausen-Erlass verfügt, dass sich die technologische Kooperation sowie für die Fachkräfteent- außeruniversitäre Forschung nicht mehr an den Fachpro- wicklung angewendet wird, gut angelegtes Geld ist. grammen des BMBF beteiligen konnte. Damit haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aufgeräumt. Wir haben heute eine ganz andere Koopera- tionskultur. Heute herrscht ein Klima, in dem über einen Wir investieren in den schweren Zeiten der Haus- einheitlichen Finanzierungsschlüssel gesprochen wird. haltskonsolidierung, in Zeiten, in denen wir eine Ver- schuldungsbremse haben, zusätzliches Geld in Milliar- (René Röspel [SPD]: Weil die Kultusministe- dengrößenordnungen in diesen Bereich und haben es rin in Baden-Württemberg eine andere ist! – 18372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Michael Kretschmer (A) Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre allerdings der erste Schritt, der passieren (C) Es gibt keinen Roland Koch mehr!) müsste. Wir reden dauernd von Bundesländern, die ihre Aufgaben nicht erfüllen können – vor allen Dingen Sie Ich bin froh darüber, dass neutrale Wissenschaftler die- erzählen davon. Sie sagen nicht, dass vor allen Dingen sen Gedanken aufwerfen. Wir sollten uns damit intensiv Länder, in denen die SPD regiert oder mitregiert, wie beschäftigen. Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und jetzt Wir sollten allerdings nicht so tun, Herr Kollege Mecklenburg-Vorpommern, bei Wissenschaft und For- Röspel, als würde die Welt von diesem kleinen Raum schung kürzen. hier gesteuert. Wir leben vielmehr in einem föderalen Land. Das heißt, die Länder haben ein ganz gewichtiges (René Röspel [SPD]: Wer ist in Thüringen Wort mitzusprechen. Für meine Fraktion möchte ich noch einmal Ministerpräsidentin? – Ulrich ganz deutlich sagen: Wir wollen diese Diskussion füh- Kelber [SPD]: Thüringen hat eine CDU-Mi- ren, aber auf Augenhöhe mit den Ländern und nicht mit nisterpräsidentin!) erhobenem Zeigefinger. Das ist der größte Unterschied Wir werden in der nächsten Woche die Zahlen noch ein- zwischen unseren Fraktionen. mal miteinander diskutieren können. Vor allen Dingen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tun Sie aber so, als könnten Sie für die Länder bestim- René Röspel [SPD]: Oha!) men und denen sagen, was richtig und was falsch ist. Wenn es um das Kooperationsverbot geht, müssen wir Wenn ich es richtig verstanden habe, haben wir die als Allererstes – Grünen und die SPD überzeugt, dass die steuerliche For- schungsförderung in Deutschland eingeführt werden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: soll. Das ist ein tolles Signal. Das war in den vergange- nen Jahren anders. Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Michael Kretschmer (CDU/CSU): Bei uns nicht! – René Röspel [SPD]: Nein, – ich bin sofort so weit – zur Kenntnis nehmen, dass nein! Es muss nur bezahlbar sein!) es eine gemeinsame Kommission von Bundesländern Ich habe da ganz andere Sachen gehört. Für die Koali- und Bundestag, geführt von Müntefering und Stoiber, tionsfraktionen ist klar, dass die steuerliche Forschungs- gab, in der auf Augenhöhe all das verhandelt wurde, was förderung ein wichtiges Instrument ist, das wir gerne wir dann, übrigens auch gemeinsam mit der SPD, umge- realisieren möchten. Aber, meine Damen und Herren, setzt haben. Wenn hier jetzt wieder Veränderungen ange- man muss ehrlich und redlich sein und seine Prioritäten mahnt werden, sollten wir darüber genau auf derselben (B) klar benennen. Augenhöhe diskutieren und nicht versuchen, uns gegen- (D) seitig Vorwürfe zu machen. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ho- tels! – Zuruf des Abg. [SPD]) (Zurufe von der SPD) Wir haben unsere Prioritäten in den vergangenen Jahren Das führt mit Sicherheit nicht zu einem vernünftigen Er- und auch in diesem Jahr deutlich gemacht: Hochschul- gebnis. pakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzellenzini- tiative und viele andere Dinge. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(René Röspel [SPD]: Alles SPD-Initiativen! – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ulrich Kelber [SPD]: Hotelbettensteuersen- Das Wort hat Oliver Kaczmarek für die SPD-Frak- kung!) tion. Sobald finanzieller Spielraum für die steuerliche For- schungsförderung da ist, werden wir sie auch einführen. Oliver Kaczmarek (SPD): Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Ich finde Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin es in Ordnung, dass Sie Ihre Position in diesem Punkt schon etwas verwundert über den Verlauf der Debatte. geändert haben. Sie können gerne auch an diesen Projek- Ich habe das Gutachten gar nicht als eine Beurteilung ten mitwirken, meine Damen und Herren. des Regierungshandelns der schwarz-gelben Koalition (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gelesen, sondern als einen reichhaltigen Denkanstoß für Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Entwicklung von Innovationen in Deutschland. Wir hatten den ersten Antrag dazu geschrie- (Beifall bei der SPD) ben! Sie haben ein schlechtes Gedächtnis!) Vielleicht sollten wir uns mehr auf diesen Aspekt kon- Der letzte Punkt betraf die Frage des Kooperations- zentrieren. Sie listen hier – auch die Bundesregierung verbotes. Es wird in der kommenden Woche ja noch ein- hat das getan – alles nur akribisch auf, greifen aber keine mal Gelegenheit sein, intensiv darüber zu diskutieren. einzige Empfehlung der Kommission konstruktiv auf. Auch in der Diskussion darüber stört mich einiges. Ich Zur Redlichkeit – darauf ist hier ja schon eingegangen kenne keinen Antrag SPD-regierter Länder im Bundes- worden – gehört auch, zu sagen, dass die wesentlichen rat, in dem gefordert wird, dass das Kooperationsverbot Big Points, auf die sich die Forschungspolitik heute in aufgehoben wird. Deutschland bezieht, gar nicht von der schwarz-gelben (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!) Koalition eingeführt worden sind, sondern dass die ent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18373

Oliver Kaczmarek (A) sprechenden Grundlagen während der rot-grünen Regie- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dazu hat jeder (C) rungszeit gelegt worden sind und die Hightech-Strategie, die Möglichkeit!) die so oft angesprochen worden ist, während der Großen Koalition in Angriff genommen worden ist. Das zu sa- Diese Diskriminierungsfreiheit ist ein konstitutiver Be- gen, hätte auch zur Redlichkeit gehört. Hier schmückt standteil des Internets. Wer das nicht versteht, hat das In- man sich mit fremden Federn. ternet nicht verstanden. Deswegen darf diese Diskrimi- nierungsfreiheit nicht allein dem Markt überlassen (Beifall bei der SPD) werden. Völlig richtig ist, dass der Bericht auch festhält, dass (Beifall bei der SPD) es eben nicht nur um Forschung und Entwicklung gehen darf, sondern dass auch nach dem gesellschaftlichen Nur kurz will ich ein weiteres Thema ansprechen; es Nutzen von Forschung und Innovation zu fragen ist; ist hier schon betont worden: Seit Jahren weist die Exper- denn nicht jede Innovation, nicht alles Neue ist zugleich tenkommission auf die bremsende Wirkung des Bil- ein Fortschritt. dungssystems in Deutschland für Innovationen hin. Die soziale Selektivität ist hier schon angesprochen worden. Für die SPD verbindet Fortschritt technologische Insgesamt will ich nur ein kleines Wort der Kritik an dem Innovation und wirtschaftlichen Erfolg mit gesellschaft- Bericht äußern. Aus meiner Sicht wird die Rolle der be- lichem und individuellem Wohlstand. Fortschritt soll ruflichen Bildung allenfalls am Rande benannt und die eben auch zu sozialer Sicherheit und demokratischer Bedeutung der beruflichen Bildung nicht ausreichend ge- Teilhabe der gesamten Gesellschaft beitragen. Wir müs- würdigt. Deshalb eine kleine Anregung für den Bericht sen auch erkennen: Das Fortschrittsverständnis der Ver- im nächsten Jahr: Das duale System der Berufsausbil- gangenheit stößt bezüglich Ressourcenverbrauch und dung gehört in Deutschland zu den wichtigsten Faktoren Klimaschutz an seine Grenzen. Nicht zuletzt deshalb ha- der Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesell- ben wir ja auch parteiübergreifend eine Enquete-Kom- schaft. Deshalb sollte es auch im nächsten Bericht aus- mission eingerichtet, die zum Ziel hat, einen alternativen führlicher beleuchtet und gewürdigt werden. Wohlstandsindikator zu entwickeln. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Vielleicht findet diese Verbindung von gesellschaftli- Das Kooperationsverbot war hier schon Thema. Ob chem Fortschritt und Innovation derzeit ihren deutlichs- Bewegung in diese Diskussion kommt, werden wir in ten Ausdruck in der Bedeutung und Nutzung des Inter- der nächsten Woche sehen, wenn wir die Debatte hier im nets. Innovation ohne das Internet kann zumindest ich Deutschen Bundestag führen. (B) (D) mir nicht vorstellen. Deswegen widmet die Experten- Zu den Vorschlägen: Die Bundes-SPD – so viel zum kommission diesem Thema einen breiten Raum und Thema Augenhöhe – hat unter Beteiligung vieler Kultus- zeigt auf, dass das Internet zumindest derzeit der größte minister und Ministerpräsidenten der SPD einen Vor- und dynamischste Raum für Innovationen ist. Der schlag erarbeitet, der es dem Bund und den Ländern Schutz dieses innovationsfreudigen Raumes war auch erlauben soll, gemeinsam Bildungsaufgaben zu finanzie- Teil einer Debatte von heute Morgen, als die Enquete- ren. Es wäre gut, wenn dies gelänge. Das sage ich ganz Kommission ihren Zwischenbericht vorgelegt hat. Der offen. Anders geht es auch gar nicht. Es wäre gut, wenn Schutz dieses innovationsfreudigen Raums ist eine for- wir im Bundestag einen breiten Konsens darüber finden schungspolitische Aufgabe von, wie ich meine, größter würden, dass wir diese Aufgabe angehen und das Ko- Bedeutung. Die Expertenkommission weist zu Recht da- operationsverbot aufheben. rauf hin, dass der Erhalt des offenen und neutralen Inter- nets im Widerspruch zu möglicher Preisdifferenzierung, (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Der Bun- Zugangsgebühren oder Marktallianzen steht. Sie sieht desrat ist der richtige Ort, nicht der Bundestag! die Netzneutralität – wörtliches Zitat – akut gefährdet. Fassen Sie einen Beschluss im Bundesrat, An der Stelle sind wir uns womöglich auch noch einig. dann reden wir weiter! – Gegenruf des Abg. René Röspel [SPD]: Dann brauchen wir auch Uneinig sind wir uns in der Frage, wie man diesen noch die Bayern!) Raum für Forschung und Innovation, aber auch für an- dere Entwicklungen schützen kann. Aus meiner Sicht ist – Auch im Bundesrat, aber es wäre schön, wenn der es eine wichtige Voraussetzung, dass Daten im Internet Bundestag auch dieser Meinung wäre. Sie können davon diskriminierungsfrei transportiert werden können. Es ausgehen, dass die sozialdemokratischen Ministerpräsi- darf kein Privileg für einzelne Anbieter mit Marktmacht denten den Änderungsvorschlag im neuen Art. 104 c GG geben. Deswegen wollen wir im Unterschied zur Koali- mittragen werden. Ich weise aber darauf hin, dass dies tion die Netzneutralität im Telekommunikationsgesetz nicht das Einzige ist. Sie müssen auch dafür sorgen, dass verbindlich festschreiben. die Länder ihre hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen (Beifall bei der SPD) können. Dazu gehört es auch, auf Steuerentlastungen zu verzichten und zusätzliche Mittel für Bildung bereitzu- Jeder Mensch muss im Internet grundsätzlich zu jedem stellen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir darüber Inhalt freien Zugang haben und Inhalte selbst anbieten eine Diskussion führen werden, weil die Gesellschaft können, selbstverständlich nur Inhalte, die sich im Rah- viel weiter ist als die Diskussion, die wir hier in diesem men von Recht und Gesetz bewegen. Raum führen. 18374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Oliver Kaczmarek (A) Meine Damen und Herren, es stimmt: Deutschland ist ternehmen die Standortpolitik in Deutschland als gut. (C) ein innovationsfähiges und innovationsfreudiges Land. Das ist ein großer Erfolg. Das liegt vor allem an den vielen Menschen, die tagtäg- lich in Bildung, Wissenschaft und Forschung und in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Betrieben daran arbeiten. Innovationen bringen die Ge- Das alles haben wir trotz Finanz- und Wirtschaftskrise sellschaft jedoch nur dann weiter, wenn wir die Debatte und trotz Euro-Schuldenkrise erreicht. Daran hat die darüber zulassen, welchen gesellschaftlich und ökolo- Forschungs- und Innovationspolitik einen großen Anteil. gisch nachhaltigen Ertrag Innovationen bringen. Des- halb ist es gut, dass uns die Expertenkommission als Am Ende der Legislaturperiode werden wir gegen- Ratgeber zur Verfügung steht. Ich würde mich freuen, über 2005 – die Zahl ist schon mehrfach genannt wor- wenn wir zukünftig wieder mehr über die einzelnen den, aber sie muss auch heute wieder genannt werden – Empfehlungen diskutieren würden. einen Zuwachs des Bildungs- und Forschungsetats im Bundeshaushalt um sage und schreibe 74 Prozent haben. Vielen Dank. Das ist mit Ausnahme des asiatischen Raums weltweit (Beifall bei der SPD) die Spitzenposition. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Albert Rupprecht für die In der Tat kann man sagen: Das EFI-Gutachten ist Unionsfraktion. kein Gefälligkeitsgutachten, sondern es zeigt uns, an welchen Stellen es noch etwas zu tun und zu verbessern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gibt. Frau Sitte und Frau Sager, an allen Punkten, die Sie neten der FDP) aufgeführt haben, arbeiten wir im Augenblick. Da die Legislaturperiode nicht zwei Jahre, sondern vier Jahre Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): umfasst, ist es vernünftig, sich ein Programm für die Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her- Dauer von vier Jahren vorzunehmen und nicht alles in ren! Frau Sitte, es ist natürlich und zum Glück kein Ge- das erste Jahr hineinzupacken. Wir werden in den nächs- fälligkeitsgutachten. Dennoch gefällt uns die zentrale ten zwei Jahren die anderen Punkte abarbeiten. Botschaft des EFI-Gutachtens sehr wohl. Diese Bot- (René Röspel [SPD]: Die Zeit wird aber schaft lautet nämlich, dass die Innovationskraft Deutsch- knapp!) lands exzellent ist. Das EFI-Gutachten belegt dies mit Schlüsselindikatoren. Ich zitiere aus dem Gutachten: Die Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen Innovationskraft einer Volkswirtschaft bemisst sich an (B) ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Deswegen werden (D) den Patentanmeldungen. Hier liegt Deutschland welt- wir an der Einführung der steuerlichen Forschungsförde- weit nach der Schweiz auf dem zweiten Platz. – Das rung in dieser Legislaturperiode festhalten, sobald der EFI-Gutachten lobt explizit den massiven Mittelzuwachs Haushalt das zulässt. Wenn Sie die Medienberichterstat- zur Erreichung des 10-Prozent-Zieles, die Hightech- tung der letzten Wochen verfolgt haben, dann wissen Strategie, die Anstrengungen bei der Elektromobilität Sie, dass sowohl bei der Klausurtagung der CSU in und in vielen anderen Bereichen. Kreuth als auch bei der CDU-Vorstandstagung in Kiel Während die Länder um uns herum in Arbeitslosig- explizit Beschlüsse gefasst wurden, in denen diese keit und in Verschuldung versinken, wird Deutschland Punkte enthalten sind. Diese Beschlüsse wurden von al- von Tag zu Tag stärker. len und nicht nur von den Forschungspolitikern mitge- tragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vor einer Sache möchte ich warnen: Jeder, der sich Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wie- mit Innovationspolitik in Deutschland beschäftigt, ver- dervereinigung und mehr Lehrstellen als jugendliche Be- steht, dass man den Mittelstand nicht gegen die Großin- werber. Hingegen erleben wir, dass in anderen Ländern dustrie ausspielen kann. Europas die Jugendarbeitslosigkeit 40 Prozent und mehr beträgt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) All diese Erfolge wären ohne Forschung und ohne die Eine steuerliche Forschungsförderung muss sowohl den Kraft zur Innovation nicht möglich. Deutschland belegt Mittelstand als auch die Großindustrie, also den gesam- in der Tat Spitzenplätze im weltweiten Standortvergleich. ten Standort, umfassen, weil nämlich vernetzt geforscht Deutschland belegt – das wurde bereits gesagt – Platz vier und entwickelt wird. Man darf also nicht den einen ge- beim Innovationsindikator der Stiftung Telekom und gen den anderen ausspielen. Platz vier beim weltweiten Vergleich der Europäischen Ähnliches gilt für die Themen Wagniskapital und Union. Auch andere Untersuchungen zeigen, dass wir in Business Angels, bei denen wir nach wie vor strukturelle den letzten Jahren in sehr großer Anzahl Spitzenplätze bei Defizite haben. Ich sage an dieser Stelle aber auch, dass den Indikatoren einnehmen. wir in der Großen Koalition nicht die Kraft hatten, in Was sagt der Mittelstand zu diesen Entwicklungen? diesem Bereich etwas Vernünftiges hinzubekommen. 2005 haben bei Befragungen nur 10 Prozent der mittel- Auch daran arbeiten wir im Augenblick. Wir werden ständischen Betriebe gesagt, dass die Standortpolitik in auch da Verbesserungen erreichen, sobald der Haushalt Deutschland gut ist. Heute bewerten 77 Prozent der Un- dies zulässt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18375

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) Gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung Das ist doch gar nicht das Thema!) des Kollegen Rossmann? Deswegen ist es entscheidend, dass im Wettbewerbsver- gleich zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Deutschland und anderen Ländern Deutschland auch im Ja. Bereich der Großindustrie punktet. Ich stimme Ihnen zu – das ist unser Konzept –, dass der Mittelstand höhere Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Sätze bekommen soll. Herr Rupprecht, wir sind in Bezug auf die steuerliche (René Röspel [SPD]: Das wird immer teurer!) Förderung etwas erregt, weil es von Ihnen und vor allem vonseiten der Ministerin schon Presseerklärungen und Unser Vorschlag ist, dass der Mittelstand dreimal höhere Ankündigungen gab, dass diese Förderung in den Jahren Sätze bekommt als die Großindustrie bzw. die Großindus- 2010 und 2011 eingeführt werden sollte. Es ist immer trie entsprechend niedrigere Sätze, aber trotzdem davon wohlfeil zu sagen, dass man daran arbeitet. Meine Frage partizipiert. Wenn Sie mich persönlich fragen – darüber ist daher: Wann wird diese steuerliche Förderung kom- gibt es keinen Beschluss der Koalitionsfraktionen –, ob men? ich der Meinung bin, dass man im Zweifelsfalle mit einer Mittelstandskomponente beginnen sollte, um den Ein- Ich habe noch eine zweite Frage. Halten Sie den Un- stieg zu schaffen, so sage ich: Wenn wir feststellen, dass terschied zwischen 600 Millionen und 2 Milliarden Euro uns in einem Jahr nach wie vor die Euro-Schuldenkrise, für relevant? Ist heute Ihre Botschaft, dass dieser Unter- die Haushaltskonsolidierung und anderes den großen schied keine Relevanz hat? Dann müssten Sie ja – um Wurf erschweren, dann sollte man mit einem kleinen meine Frage einzuleiten – zu einer Differenzierung kom- Schritt anfangen. Ich teile aber nicht die Position von men. Meine Frage ist: Sind Sie zur Differenzierung be- Frau Sager, dass man auf Dauer die Großindustrie drau- reit, oder schließen Sie eine Differenzierung aus? ßen lassen sollte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Zum ersten Punkt, zum Zeitablauf. Sie werden nicht Wir brauchen bei all diesen steuerlichen Maßnahmen gehört haben, dass ich mich abschließend auf einen Ein- natürlich die Zustimmung der Ministerpräsidenten. Ich führungszeitpunkt festgelegt habe; denn ich bin mir be- stelle die Frage an Sie, ob Sie es gewährleisten können, wusst, dass das ein Thema für die ganze Legislaturperiode dass die SPD-Ministerpräsidenten den steuerlichen Maß- ist und dass wir angesichts der großen Krisen im Augen- nahmen auch zustimmen können? (B) blick beim Haushalt ganz klar Prioritäten zu setzen haben. (D) Beim Kooperationsgebot und bei der Verfassungsfrage Deswegen haben sich die Pressemeldungen auf das Kon- zept bezogen, das wir einführen wollen. Der Ablauf war stimmen wir mit Ihnen überein, dass wir für die befriste- ten Pakte, sobald sie auslaufen, eine längerfristige Lö- in der Unionsfraktion ganz klar. Ähnlich war es bei den sung brauchen. Deswegen wird in wenigen Tagen der FDP-Kollegen. Wir haben zunächst intern in den Fraktio- nen Eckpunkte formuliert. Diese Eckpunkte liegen vor. Wissenschaftsrat beauftragt, bis 2013 einen Vorschlag vorzulegen. Zur Wahrheit gehört aber auch, sehr geehrte Diese haben in der Unionsfraktion einen sehr ausführli- Damen und Herren, dass es noch nie so viel Kooperation chen Diskussionsprozess ausgelöst. Zum Schluss gab es einen Beschluss aller fachpolitischen Gremien, der be- und noch nie so viel Geld des Bundes für originäre Län- deraufgaben im Bereich der Bildung gab wie heute: sagt: Wir wollen das. Eine entscheidende Frage ist noch Hochschulpakt, Bildungspaket, Bildungsketten und vie- offen: Wann soll das in dieser Legislaturperiode sein? Das ist eine Frage der Finanzierung. Ich glaube, das ist ver- les andere mehr. Zu behaupten, derzeit wäre es nicht mög- lich, dass wir im Bereich der Bildung vonseiten des Bun- nünftig. Alles andere würde die Bevölkerung nicht ver- des den Ländern unter die Arme greifen, ist eine stehen. Falschaussage. Im Gegenteil. Im Augenblick tun wir das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) so stark wie noch nie. Herr Rossmann, ich will noch Ihre zweite Frage beant- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) worten. Sie fragten nach der Differenzierung. Noch ein- Ich muss leider zum Ende kommen. Gerne würde ich mal: Ich bin mit Blick auf die Vernetzung von Innovatio- noch etwas zum Thema Fachkräfte sagen. Dazu steht nen der festen Überzeugung, dass sich der Mittelstand in nicht nur etwas im EFI-Gutachten, sondern das Kabinett Deutschland nicht entwickeln kann, wenn es keine Groß- hat auch bereits ein Maßnahmenbündel beschlossen, das industrie gibt. Der Mittelständler, der der Automobilin- insbesondere Absolventen ausländischer Hochschulen in dustrie zuliefert, der Mittelständler, der als Maschinen- Deutschland das Aufenthaltsrecht erleichtert, was wir bauer zuliefert, braucht Innovationsnetzwerke mit der auch wollen. Dies werden wir im Frühjahr auch im Großindustrie. Deutschen Bundestag beschließen. Summa summarum (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heißt das, dass wir die Punkte, die in dem EFI-Gutachten Das ist doch gar nicht das Thema!) angesprochen sind, in der Legislaturperiode sehr wohl bearbeiten und auch umsetzen werden. – Frau Sager, es bringt uns nichts, wenn EADS nach Pa- ris geht, weil der Mittelständler dann in Paris zuliefern Lassen Sie mich zum Schluss kommen. 2005, als wir wird. die Regierung übernommen haben, betrug die Arbeitslo- 18376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Albert Rupprecht (Weiden) (A) sigkeit 5 Millionen. Jetzt, nach sieben Jahren, gibt es so modernen Industrie- und Technologiestandort –, nämlich (C) viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wie noch dem Saarland, weiß ich um die Bedeutung dieser Pro- nie. Wir haben eine so geringe Arbeitslosigkeit wie seit gramme, wie etwa das Zentrale Innovationsprogramm 20 Jahren nicht. Das ist auch eine Leistung unserer Inno- Mittelstand, das für die Unternehmen vor Ort wirklich vations- und Forschungspolitik. sehr wichtig ist. Dieses Programm haben wir gerade wieder um 500 Millionen Euro aufgestockt. Solche Pro- Danke schön. gramme sind wichtig; sie sind wirkungsvoll, sie sind ef- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fektiv, und davon profitieren alle. Das sind die Gründe für den Erfolg Deutschlands in der Welt. Vizepräsidentin Petra Pau: Allerdings dürfen wir uns darauf nicht ausruhen; da Kollege Rupprecht, gestatten Sie mir den Hinweis: gebe ich Ihnen völlig recht. Die Konkurrenz schläft Die mehrfache Ankündigung des Endes der Rede ersetzt nämlich nicht. China beispielsweise fördert seine FuE- nicht den Schlusspunkt. Tätigkeiten jährlich mit 100 Milliarden Euro. Auch an- Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin dere Regionen und Staaten streben dynamisch voran. Nadine Schön für die Unionsfraktion das Wort. Wir dürfen mit den derzeitigen guten Plätzen nicht zu- frieden sein; wir müssen vielmehr immer besser werden, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wenn wir diese Spitzenpositionen verteidigen wollen. Deshalb brauchen wir noch innovationsfreundlichere Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Rahmenbedingungen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Was wir uns vorstellen, haben die Kollegen bereits Kollegen! Ich kann nahtlos an den Kollegen Rupprecht angesprochen: zunächst die steuerliche Forschungsför- anschließen: Ja, wir können stolz sein auf unser Land. derung. Egal ob Weltkonzern oder innovativer Mittel- Deutschland gehört im Vergleich von 26 Industrielän- stand – in unseren Gesprächen vor Ort hören wir immer dern zu den vier innovativsten Standorten weltweit. Zu wieder, dass die steuerliche Forschungsförderung in den diesem Ergebnis kam unlängst der Innovationsindikator Betrieben ein wichtiges Thema ist. Auch das EFI-Gut- 2011. achten empfiehlt ein solches Instrument. Das ist ein sehr großer Erfolg, vor allem, wenn man Wir wissen sehr wohl: Man muss die steuerliche For- weiß, dass wir 2005 noch auf dem zehnten Platz lagen. schungsförderung mit Bedacht angehen. Auch Sie haben Unter CDU/CSU-geführten Regierungen sind wir in die sie in Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt. Natürlich ist Weltspitze aufgerückt; und darauf können wir wirklich die Haushaltskonsolidierung immer unser prioritäres (B) stolz sein. Ziel; das sage ich vor allem als junge Abgeordnete. Mei- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) ner Meinung nach liegen jetzt gute und machbare Vor- schläge auf dem Tisch. Wir wissen um die Chancen die- Der Innovationsindikator wie auch das EFI-Gutachten, ses Instruments. Deshalb sollten wir diese Ideen nicht über das wir heute reden, sagen ganz klar: Deutschland aus den Augen verlieren. ist auf Erfolgskurs. Wir sind innovativ, wir sind inter- national konkurrenzfähig, und wir haben gute Zukunfts- (René Röspel [SPD]: Das ist mal eine klare perspektiven. Aussage!) Was sind die Gründe für den Erfolg? An erster Stelle Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Wagniskapital. sind es die Investitionen. Trotz Krise – das haben die Unser Problem: In Deutschland entstehen die Ideen, um- Kollegen bereits gesagt – hat Deutschland in den letzten gesetzt werden sie aber in anderen Ländern. Neben MP3 Jahren konsequent in Bildung und Forschung investiert. und der Tintenstrahltechnik gibt es viele weitere Bei- Seit 2005 sind die Ausgaben des Bundes in diesem Be- spiele: Die Ideen wurden in Deutschland entwickelt, in reich um 42 Prozent gestiegen. amerikanischen oder asiatischen Unternehmen jedoch wurden sie zu marktfähigen Produkten gemacht. Wir Als Mitglied des Wirtschaftsausschusses will ich auch aber wollen, dass in Deutschland nicht nur die Ideen ent- die Privatwirtschaft erwähnen. Auch hier sind die Aus- stehen, sondern dass hier aus den Ideen auch Produkte gaben in Forschung und Entwicklung gestiegen, und werden und die entsprechende Wertschöpfung in zwar um 20 Prozent seit 2005. Das ist eine beachtliche Deutschland stattfindet. Denn nur dann profitieren wir Zahl; sie muss auch erwähnt werden. Diese Investitionen alle von den Innovationen. sind der Treibstoff für Innovationen. Sie sind der Grund dafür, weshalb unser Land gerade in der aktuellen Krise (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) so gut dasteht. Das wird in allen Studien positiv heraus- Der Knackpunkt dabei ist oft die Finanzierung auf dem gestellt. langen Weg von der Idee zum Produkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für die Finanzierung haben wir den High-Tech- Gelobt werden in den Gutachten neben den Investitio- Gründerfonds, seit vergangenem Jahr sogar den Grün- nen auch die Programme der Bundesregierung, vor al- derfonds II, mit großen Investitionen von Staat und Un- lem die Hightech-Strategie. Als Abgeordnete, die aus ei- ternehmen. Das ist eine tolle Sache mit wirklich großer nem Land kommt, das sich gerade im Strukturwandel Wirkung. Allerdings reicht das nicht: Wir brauchen in befindet – weg von der Montanindustrie, hin zu einem Deutschland – das sieht man im Vergleich mit anderen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18377

Nadine Schön (St. Wendel) (A) Ländern – noch mehr privates Kapital, zum einen für die begleitende Berlin/Bonn-Gesetz, das die Aufteilung der (C) Gründungsphase, zum anderen für die ganz entschei- Bundesregierung auf die beiden Standorte Berlin und dende Wachstumsphase. Auch hier liegen gute Vor- Bonn regelte. Die Teilung der Bundesregierung war da- schläge unsererseits auf dem Tisch, an die wir in den mit ein Preis für die deutsche Einheit. Seit vielen Jahren nächsten Monaten herangehen wollen. schlägt Ihnen die Fraktion Die Linke die Wiedervereini- gung der Bundesregierung in Berlin vor. Da sagen Sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, Innovationen ent- einmal, dass Sie hier keine lustvolle und kreative Oppo- stehen vor allem in einer Gesellschaft, die Innovationen sition haben! will, die sie akzeptiert und zulässt. Deshalb brauchen wir neben all den Rahmenbedingungen vor allem innovative (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Wieland Köpfe. Wir brauchen Menschen, die Lust haben, etwas [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Bei Ih- zu erfinden, etwas zu tun. Das geht mit dem Spaß am nen denke ich nicht sofort an „lustvoll“, Herr Tüfteln im Kindesalter los, geht mit dem Erfindergeist in Kollege!) den Schulen weiter und mündet schließlich in dem Mut, Die Linke garantiert: Keinem Bonner wird es sich selbstständig zu machen, mit seinen Ideen nach au- schlechter gehen. Die Fakten 2012 sind aber: Fast die ßen zu gehen und den Mut zu haben, sich mit seinem Hälfte der Regierungsmitarbeiter ist nach wie vor am Produkt dem Markt zu stellen. Standort Bonn. Auf der anderen Seite sind alle der Bun- desstadt Bonn versprochenen Ausgleichsmaßnahmen Dazu braucht es auch eine Gesellschaft, die für neue – im Sinne der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie des Technologien, Fortschritt und Unternehmertum, aber Erhalts und der Fortführung des Betriebs von Liegen- auch für Risiko offen ist. Daran, liebe Kolleginnen und schaften – seit 2005 bei weitem übererfüllt, unter ande- Kollegen, können wir alle arbeiten. Jeder von uns kann rem durch die Ansiedlung von 19 UN-Behörden. etwas dazu beitragen und mithelfen, dass wir ein innova- tives und erfolgreiches Deutschland und eine gute Zu- Diese Teilung erweist sich inzwischen als außeror- kunft haben. dentlich uneffektiv für das Regierungshandeln: Die Ent- scheidungsfindung dauert zu lange und wird durch büro- Vielen Dank. kratische Teilung behindert. 170 Beamte des Bundes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind auch in dieser Minute, in der wir jetzt debattieren, in der Luft, zwischen Berlin und Köln/Bonn. In jüngster Zeit haben wir erfahren: Die Teilung der Regierung ist Vizepräsidentin Petra Pau: für akutes Reagieren in Krisensituationen absolut un- Ich schließe die Aussprache. tauglich. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) Drucksache 17/8226 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Natürlich ist Bonn eine wunderschöne Stadt, in der verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung auch ich zeitweilig gern gelebt habe. so beschlossen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: NEN]: Aha! – Ulrich Kelber [SPD]: Da sehen Sie mal, wie tolerant wir in Bonn sind!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Aber wie soll ein Absolvent einer britischen Universität, Claus, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, der Bundesbeamter werden will, seiner englischen Part- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE nerin auf dem Weg nach Deutschland erklären, dass der LINKE Weg nicht in die Bundeshauptstadt Berlin, sondern nach Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz Bonn führt? – Drucksache 17/2419 – (Ulrich Kelber [SPD]: Das Argument hat mich Überweisungsvorschlag: jetzt überzeugt!) Haushaltsausschuss (f) Die Linke stellt einen Antrag, der moderat und reali- Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung tätsnah ist und dem Sie sich – das glaube ich – auch an- schließen können. Wir nehmen Institutionen, wie bei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die spielsweise das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Deutschland, die in der Region Köln/Bonn inzwischen keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. fest verankert sind, selbstverständlich aus unseren Um- zugsabsichten aus. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. (Ulrich Kelber [SPD]: Echt? – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie (Beifall bei der LINKEN) großzügig!)

Roland Claus (DIE LINKE): Nun wird mir gelegentlich vorgehalten, die Linke in Bonn und Köln vertrete dazu eine andere Position. Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stimmt ja auch. Ich sage allerdings: Na und? Das ist bei Vor 21 Jahren wurde die deutsche Teilung überwunden. allen anderen Fraktionen auch so. Vier Jahre danach folgten der Beschluss zum Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin und das ihn (Zuruf von der FDP: Nein!) 18378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Roland Claus (A) Für unseren Antrag sympathisiert selbstverständlich eine Die Hauptstadtfrage wurde 1990 im Einigungsvertrag (C) Mehrheit in diesem Deutschen Bundestag. Die Aus- geregelt. Danach schloss sich aber die Frage an, wo der nahme sind Abgeordnete aus den Landesgruppen NRW, Parlaments- und Regierungssitz sein wird. In einer lan- aber das ist in allen Fraktionen so. gen, historischen und sehr emotional geführten Debatte – das muss man einmal sagen, und der eine oder andere Wenn Sie dauernd von uns verlangen, wir sollten so Kollege unter uns war damals auch zugegen – wurde etwas wie eine normale Partei werden, dann machen wir dann mit sehr knapper Mehrheit beschlossen, dass der das auch einmal. Aber dann dürfen Sie uns auch nicht Regierungssitz nach Berlin verlegt wird. wieder dafür kritisieren, meine Damen und Herren. Auch als Nordrhein-Westfale sage ich hier ganz be- (Beifall bei der LINKEN) wusst, dass das eine gute Entscheidung war. Sie ist histo- Selbstverständlich ist die Linke offen für weitere und risch begründet und absolut vertretbar, und ich würde bessere Ideen. Der Antrag liegt schon eine ganze Weile diese Entscheidung auch am heutigen Tag wieder so mit- vor, und wir werden ihn heute in den Ausschuss über- tragen. weisen. Beispielsweise haben wir im Haushaltsaus- Die Frage war allerdings: Wie geht es mit Bonn wei- schuss in der Zeit von 2006 bis 2009 in einer interfrak- ter? Wie geht es mit der Region rund um Bonn weiter, tionellen Arbeitsgruppe sehr wohl darüber diskutiert. die als vorläufiger Regierungssitz ohne Frage ein guter Leider wurden wir kurz vor dem Ergebnis und dem Mut Gastgeber war? Befürchtungen wurden laut, dass es zu zur Entscheidung aufgrund von Koalitionsentscheidun- einem Verlust von Arbeitsplätzen kommen könnte, Or- gen und -anweisungen angehalten. ganisationen würden die Region verlassen und die Infra- Wir machen das nicht, um die Bundesregierung zu är- struktur entsprechend leiden. gern, sondern um sie zu verbessern, und mehr können Daher wurde 1994 das Berlin/Bonn-Gesetz auf den Sie von einer Opposition nun wirklich nicht erwarten. Weg gebracht, in dem eine Vereinbarung über die Aus- Wir handeln ganz im Sinne des berühmten Neujahresge- gleichsmaßnahmen in der gesamten Region rund um bets aus Münster: Gib den Regierenden ein besseres Bonn vorgesehen war. Zusagen wurden dahin gehend Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung. – gemacht, Teile der Bundesregierung, Ministerien, aber Eine wiedervereinigte Bundesregierung in Berlin ist auch Bundesbehörden in Bonn zu belassen und die An- möglich, meine Damen und Herren. siedlung internationaler Institutionen und Verbände vo- (Beifall bei der LINKEN) ranzutreiben. Diese Forderungen wurden bis zum Umzug des Deut- Ergo: Das Berlin/Bonn-Gesetz hatte seinen Sinn. Es schen Bundestages und 20 weiterer Bundesbehörden (B) hatte seit 1994 auch eine gute und lange Zeit. Doch auch (D) nach Berlin im Jahre 1999 auch umgesetzt und festge- hier gilt das Bibelwort: Ein jegliches hat seine Zeit. – Es schrieben. Heute haben neun Ministerien ihren ersten heißt nicht: Ein jegliches hat seine Ewigkeit. Sitz in Berlin, wobei auch hier immer noch die Frage zu Vielen Dank, meine Damen und Herren. klären ist, ob der Erst- bzw. Zweitsitz in Bonn oder in Berlin liegen soll; darüber gibt es aber auch Absprachen. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es heißt aber: Natürlich – und das muss man ehrlicherweise auch „…in Ewigkeit. Amen.“!) sagen – hat es Verschiebungen in der Personalstruktur gegeben. Heute sind 55 Prozent der Beschäftigten in den Ministerien hier in Berlin angesiedelt; nur noch 45 Pro- Vizepräsidentin Petra Pau: zent sind in Bonn angesiedelt. Das ist zulässig, obwohl Das Wort hat der Kollege Jürgen Herrmann für die das Gesetz sagt, dass die Mehrheit eigentlich in Bonn Unionsfraktion. verbleiben soll. Das ist aus meiner Sicht zulässig, weil (Beifall bei der CDU/CSU) die Organisationshoheit bei den Behörden, also bei der Regierung, liegt.

Jürgen Herrmann (CDU/CSU): Eine Frage ist für mich als Haushälter ganz entschei- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! dend: Wie sieht es mit den Kosten aus? Wir haben uns Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege oftmals irgendwelche Geschichten, Vermutungen und Claus, solche Worte aus Ihrem Mund zu hören, über- Gerüchte anhören müssen, wie teuer es ist, die Institutio- rascht mich schon. Nichtsdestotrotz widersprechen Sie nen in Bonn aufrechtzuerhalten. Seit 2008 gibt es erfreu- der Wahrheit und nehmen nicht die Fakten wahr, die wir licherweise einen Teilungskostenbericht, den wir als zur Kenntnis nehmen müssen. Haushälter eingefordert haben. Darin sind Zahlen, Daten und Fakten genannt worden, die für mich ein überra- Der Antrag der Linken ist aus meiner Sicht wieder schend deutliches Ergebnis gebracht haben: Die zweige- einmal ein Show-Antrag. Sie haben selbst gesagt, dass teilte Struktur ist gar nicht so teuer, wie wir immer ver- Sie ihn jährlich stellen, aber auch durch Wiederholungen mutet haben. Die Kosten sinken sogar. Das muss man an wird er sichtlich nicht besser. Wenn man den Tatbestand dieser Stelle festhalten. 2010 haben wir noch 10,6 Mil- dieses Berlin/Bonn-Gesetzes einmal aufarbeitet, dann lionen Euro für Flüge von Mitarbeitern oder den Akten- muss man sicherlich auch historische Aspekte berück- transport zwischen Bonn und Berlin ausgegeben. 2011 sichtigen. waren es nur noch 9,2 Millionen Euro, und in diesem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18379

Jürgen Herrmann (A) Jahr werden wir voraussichtlich nur noch 8,8 Millionen damals mit Blick auf den Umzug aufkamen, nämlich (C) Euro zur Verfügung stellen müssen. dass Bonn zu einer Region verkommt, in der nichts mehr los ist, würden wieder geschürt. Die Haushälter haben im Übrigen immer eingefor- dert, dass nur notwendige Dienstreisen, zum Beispiel zu Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion Ausschusssitzungen, erfolgen und ansonsten viel mehr steht zum Berlin/Bonn-Gesetz und zu dem Wort, das wir Video- und Telefonkonferenzen einberufen werden. der Bonner Region damals voller Überzeugung und mit großer Mehrheit gegeben haben. Daran wird sich erst (Johannes Kahrs [SPD]: Schön wär’s!) einmal nichts ändern lassen. Ich bin der festen Überzeu- Außerdem – das mag vielleicht kein tragendes Argument gung, dass die Argumente für einen Verbleib in Bonn sein, aber es kam ja auch gerade von der Opposition – deutlich besser sind als die dagegen. bietet Bonn auch im Hinblick auf die Nähe zu gewissen Herzlichen Dank. Institutionen Vorteile. Brüssel ist nicht sehr weit ent- fernt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein gewichtiges Argument ist für mich allerdings die Frage: Was würde der Umzug in Gänze kosten? Welche Auswirkungen hätte er insgesamt? Bisher haben wir Vizepräsidentin Petra Pau: circa 9 Milliarden Euro für den Umzug nach Berlin aus- Der Kollege Johannes Kahrs hat für die SPD das gegeben. Da können die Vorschläge der Linken noch so Wort. gut sein, dass man das Tempelhofer Feld nutzen sollte, (Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Der will um dort Regierungsbauten zu errichten. Es wäre auch jetzt, dass alles nach Hamburg kommt!) schön, wenn wir dort wieder einen Flugplatz hätten; dann könnte man die Dinge noch viel besser zusammen- bringen. Johannes Kahrs (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kollegen! Diese Debatte gehört zu denen, die für einen der FDP) Abgeordneten relativ schwierig sind. Denn auf der einen Aber es würde Milliarden kosten, das umzusetzen. Seite hat man Grundüberzeugungen, und auf der anderen Seite ist die Diskussionslage sehr differenziert. Auch die Rekrutierung von Arbeitskräften wäre nicht einfach. Ich erinnere an den demografischen Faktor, mit (Zuruf des Parl. Staatssekretärs Steffen dem wir uns schon jetzt bei der Haushaltsaufstellung Kampeter) (B) auseinandersetzen müssen; denn es gibt nicht mehr sehr – Außerdem wird man von Staatssekretären genötigt. – (D) viele junge Leute, die freiwillig in den öffentlichen Zum einen ist es so, dass man der heutigen Linkspartei Dienst gehen. Das schwache Argument der Linken, Ber- dafür danken muss, dass sie damals mit ihren Stimmen lin sei so hip, dass alle nach Berlin kommen würden, um dazu beigetragen hat, dass die Hauptstadt umziehen hier zu arbeiten, scheint mir nicht sehr überzeugend. konnte. Ich finde, das kann man durchaus erwähnen. Das Diejenigen, die in der Rhein-Region leben, wissen, wie war ein vernünftiger Beitrag. schön es dort ist. (Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt trägt er hier wieder (Beifall der Abg. [BÜND- seine Privatmeinung vor! – Stefanie Vogelsang NIS 90/DIE GRÜNEN] und Katja Dörner [CDU/CSU]: Haben andere dafür nicht ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) stimmt, oder wie?) Zudem wären Sonderregelungen für Beschäftigte er- – Ich lobe nicht wirklich häufig die Linkspartei. Wenn forderlich. Diese Erfahrung haben wir in vielen Berei- ich es dann einmal tue, dann möge man es mir durchge- chen schon gemacht. Als der Umzug der Ministerien da- hen lassen. In diesem Fall ist es, glaube ich, vernünftig. mals geplant wurde, war es erforderlich, Maßnahmen in Bezug auf Reisekosten, Trennungsgeld usw. zu treffen, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und viele waren nicht bereit, freiwillig zu gehen. Einige NEN]: Und zu Recht! Ohne die hätte es nicht haben wir überzeugen können, ihren Wohnsitz nach Ber- gereicht! Das ist eine Schande!) lin zu verlegen, keine Frage. Aber was würde passieren, Zum anderen glaube ich, dass wir damals einen richtigen wenn wir von allen verlangen würden, umzuziehen? Ich und einen guten Beschluss gefasst haben. Bonn ist die glaube, das wäre der Arbeitsmoral und der Arbeitsbereit- Hauptstadt. schaft nicht dienlich. (Ulrich Kelber [SPD]: Das muss im Protokoll Wir haben unter anderem damit zu kämpfen – das wörtlich sein: Bonn ist die Hauptstadt!) muss man an dieser Stelle noch einmal sagen –, dass Vereine, Organisationen, NGO und Stiftungen nicht Das ist auch gut so. Ich selber bin Hamburger, ich bin mehr bereit wären, in Bonn zu bleiben. Auch darüber Haushälter und als solcher würde ich das gerne bewer- muss man sich im Klaren sein; denn letztendlich suchen ten. sie die Nähe zur Regierung. Wir haben von der Linkspartei gehört, dass sie den Das würde dazu führen, dass sich Bonn in vielen Be- Umzug gerne sehr schnell hätte, am besten sofort. Ich reichen wieder verschlechtern würde. Die Ängste, die glaube, dass das nicht funktioniert. Danach haben wir ei- 18380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Johannes Kahrs (A) nen historisch rückblickenden Beitrag bekommen, wie länder müssen ihre Interessen vertreten können. Aber ich (C) die Gesetzeslage ist, und den Hinweis, dass man sich an finde, es gibt auch ein gesamtstaatliches Interesse. Bei Gesetze halten muss. Das ist richtig. Aber wir alle wis- diesem gesamtstaatlichen Interesse muss man sich über- sen auch, dass Gesetze evaluiert werden müssen, dass legen, wie man einen Zustand erreichen kann, der dazu man überprüfen muss, ob Gesetze noch zeitgemäß sind. führt, dass wir in Berlin eine vernünftige Arbeitsweise Man muss auch in der Lage sein, Gesetze zu evaluieren, entwickeln können, ohne dass man Bonn nachhaltig insbesondere nach über 15 Jahren. Das tun wir in vielen schädigt; das will keiner. Ich habe dort ein ganz reizen- anderen Bereichen auch. des Jahr verbracht. Man muss an dieser Stelle all denjenigen danken, die (Beifall des Abg. [FDP]) diese Zweiteilung überhaupt möglich machen, nämlich Die Haushälter innerhalb der SPD-Bundestagsfrak- den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zwischen tion haben einmal für sich aufgeschrieben, wie sie sich Bonn und Berlin pendeln müssen. Das ist nicht wirklich so etwas vorstellen können: eine stetig weitergeführte einfach. Einige von ihnen verbringen ein Drittel ihrer Konzentration ministerieller Kernaufgaben in Berlin und Arbeitszeit auf Reisen. die Erledigung von Verwaltungsaufgaben in Bonn, und (Ulrich Kelber [SPD]: Ach Gott, Johannes!) das über einen vertretbaren mehrjährigen Zeitraum. Ich finde, das ist angemessen, um Nachteile für Bonn und Sie stehen bei uns im Haushaltsausschuss teilweise den hohe Zusatzkosten eines zeitnahen Umzugs großer ganzen Tag vor der Tür, dann wird der Tagesordnungs- Funktionsbereiche der Bundesregierung nach Berlin zu punkt aber abgesetzt und sie fahren zurück. vermeiden. Wenn man das als Maßstab nimmt, dann (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist im Schnitt eine kommt man zu vernünftigen Ergebnissen. Reise pro Jahr!) Der Bundesregierung muss mehr Freiheit für die Aus- So läuft es weiter. Ich glaube, dass man würdigen muss, übung ihrer Organisationshoheit gegeben werden. Dazu was die Mitarbeiter auf sich nehmen. Es ist ein wichtiges ist es meiner Meinung nach notwendig, § 4 Abs. 4 des Zeichen, das immer wieder zu erwähnen. Berlin/Bonn-Gesetzes aufzuheben. Damit gibt man der Bundesregierung die Flexibilität, die sie braucht. Im Ver- Wenn man am Berlin/Bonn-Gesetz irgendetwas än- teidigungsbereich haben wir es gesehen: Große Teile der dern sollte, dann muss man das in einem breiten Kon- Bundesregierung mühen sich, vernünftig damit klarzu- sens machen. Es geht hier nicht um Fragen von Regie- kommen. rung oder Opposition. Man muss gemeinsam überlegen, wie man einen vernünftigen Weg findet. Deswegen wird ( [CDU/CSU]: Da hättet ihr nur die SPD heute den Antrag der Linkspartei ablehnen, weil den Peter Struck überzeugen müssen!) (B) (D) ich glaube, dass es nichts bringt, einen Hauruck-Antrag Gleichzeitig wäre es zielführend, § 4 Abs. 2 und 3 aufzu- vorzulegen. Man muss sich vielmehr überlegen, wie man heben, um eine freie Aufteilung der Erst- und Zweit- eine entsprechende Regelung vernünftig ausgestaltet. dienstsitze zu ermöglichen. Man muss aber auch über- Einfach einen Komplettumzug zu fordern, ist ein Tot- legen, welche Verwaltungsbereiche sinnvollerweise in schlagargument. Damit wird keine Debatte angestoßen, Bonn verbleiben oder hinzukommen können. die wirklich interessant ist. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass man die Mög- Als bekannt wurde, dass ich in dieser Debatte rede, lichkeit schafft, die Verantwortung für den Bund weiter hatte ich sofort ein Gesprächsangebot von meinem Bon- auszubauen bzw. aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig ner Kollegen Uli Kelber. die Region Bonn unberührt zu lassen. Das ist relativ (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist bei euch schwierig, aber im Ergebnis sehen wir, dass es zurzeit nicht anders als bei uns! – Ulrich Kelber nicht um die Frage geht: Wie viele Tonnen Post trans- [SPD]: Treu steht die Wacht am Rhein!) portiere ich hin und her – ob es 1 oder 2 pro Tag sind –, oder wie viele Tausende von Kilometern werden geflo- Das ist in jeder Fraktion so, aber ich muss sagen: Wenn gen? Das ist nicht der Punkt. Die Frage ist: Wie be- ich Bonner Bürger wäre, würde ich gar nicht anders kön- kommt man gutes Regieren hin? nen, als Uli Kelber zu wählen, (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Sieht NEN]: Das ist aber keine Entschuldigung für aus wie Kahrs, redet aber anders!) die jetzige Regierung!) weil er die Interessen Bonns massiv und energisch ver- Ich selber bin Berichterstatter für den Bereich Ver- tritt. kehr, Bau und Stadtentwicklung. Da ist es sehr viel prak- (Ulrich Kelber [SPD]: Von 8 000 Arbeitneh- tischer, wenn man mit den Mitarbeitern reden kann, merinnen und Arbeitnehmern!) wenn man sich mit ihnen trifft, wenn man kurzfristig eine Konferenz anberaumen kann. Wenn die in Bonn sit- – Das ist ganz wunderbar. Das ist ja auch richtig. zen, ist das relativ schwierig. Ich glaube, dass das zur (Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Wo ist Lebenswahrheit gehört und dass man sich anschauen Johannes Kahrs?) muss, wie man es vernünftig hinbekommt. Es ist richtig, die Wahlkreisinteressen zu vertreten, man Ein Kompromiss ist immer sinnvoll, setzt aber auch muss sie auch vertreten können, und auch die Bundes- voraus, dass die Beteiligten kompromissbereit sind. Zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18381

Johannes Kahrs (A) sagen: „Ein Gesetz ist ein Gesetz, und das muss ewig so schwächt, dass es Ministerien gibt, die zwei Dienstsitze (C) bleiben“, widerspricht der Praxis in diesem Hause. Wir haben, und dass die Beamten auf zwei Städte verteilt sind ständig dabei, Gesetze zu evaluieren und zu ändern. sind. Ich glaube, dass das eine ziemliche Übertreibung Früher unter Rot-Grün gab es die Nachbesserung von ist. Heute ist völlig unstrittig, dass Berlin die richtige Gesetzen, Bundeshauptstadt ist und dass es diese Funktion voll ausfüllen kann. Berlin ist eine Metropole, die sich ge- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- waltig entwickelt hat. Es ist eine weltoffene Stadt und NEN]: Besser, als sie schlecht zu lassen! – Zu- eine Weltstadt geworden. Die Anerkennung für Berlin ruf von der FDP: Nicht nur da!) im In- und Ausland ist – meines Erachtens zu Recht – damit sie lebensnah und lebenspraktisch werden. Die gewachsen. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, ob Lebensrealität in diesem Land ändert sich. Die Region alle Ministerien in Berlin sind oder nicht. Bonn ist wirtschaftlich hervorragend aufgestellt. Ich glaube, dass man zusammen einen vernünftigen Weg (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten finden muss. Ich glaube auch, dass man hierbei nicht in der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Kategorien wie Regierung und Opposition denken sollte. GRÜNEN) Gruppenanträge könnten zum Beispiel hilfreich sein. Im Übrigen darf man sich nicht nur anschauen, wohin Die Abgeordneten der jeweiligen Fraktionen könnten ih- die Touristen gehen, sondern man muss auch schauen, rer Auffassung folgen, und man könnte gemeinsam ein wohin unsere Bürger gehen, wenn sie politische Anlie- Ergebnis erreichen, mit dem am Ende alle leben können. gen haben. Wo wird für oder gegen etwas demonstriert? Dazu muss man einen vernünftigen Vorschlag vorlegen. Kommt irgendjemand auf die Idee, das in Bonn zu ma- Kompromisse sind immer gut und wären hier wichtig. chen, oder ist es nicht vielmehr so, dass die politische Die Diskussion über die Aufteilung der Regierungsfunk- Meinungsbildung, dass Versammlungen in Berlin statt- tionen wäre dauerhaft beendet. finden? Zurzeit wächst der Frust bei vielen Abgeordneten im (Otto Fricke [FDP]: Alle in Düsseldorf!) Deutschen Bundestag, weil man bei diesem Thema im- mer auf eine Totalblockade stößt. Da wir bei jeder Wahl Berlin hat die politische Funktion, aber auch die kultu- neue Abgeordnete bekommen, die Bonn nicht kennen, relle Funktion einer Hauptstadt. Das hat wirklich nichts wird das irgendwann dazu führen, dass das ganze Gesetz damit zu tun, wie viele Stellen heute noch wo angesie- gekippt wird, so wie es die Linkspartei fordert. Das kann delt sind. Das muss man einmal festhalten. weder im Interesse der Bonner noch im Interesse aller (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) anderen sein. Deswegen halte ich einen vernünftigen (B) Prozess, den alle gemeinsam unterstützen, für sinnvoll. Der zweite Punkt. Die Teilungskosten, das heißt die (D) Ich glaube, dafür müssen sich einige bewegen. Wenn die Kosten der zwei Dienstsitze, werden übertrieben darge- örtlichen Abgeordneten weiter für ihren Wahlkreis stellt. Die Berichte liegen vor. Es sind circa 10 Millionen kämpfen, ist das gut – das tun andere auch –, der Rest Euro pro Jahr. Die Kosten werden in den nächsten Jah- hat aber gesamtstaatliche Verantwortung wahrzuneh- ren tendenziell sinken. Dies hängt auch mit modernen men. Technologien zusammen. Die Akten, die früher auf dem Postweg, zum Beispiel mit Flugzeugen, transportiert Vielen Dank. werden mussten, werden heute per E-Mail verschickt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das kostet nichts. Auch das muss man sehen. der FDP) Eine Komplettverlagerung innerhalb kürzester Zeit nach Berlin würde erst einmal erheblich Geld kosten. In Vizepräsidentin Petra Pau: Berlin wären Investitionen in Milliardenhöhe notwen- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Florian dig, um die Gebäude herzurichten, auszustatten etc. Die Toncar das Wort. Beamten, die Mitarbeiter aus den Ministerien würden entsprechende Leistungen für den Umzug bekommen. Florian Toncar (FDP): Das alles würde von der öffentlichen Hand finanziert Danke schön. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen werden. Das heißt, man müsste in den nächsten Jahren und Kollegen! Der Antrag ist – Herr Claus hat es selber sehr viel Geld in die Hand nehmen, und das in einer Zeit, gesagt – im Grunde genommen ein Dauerbrenner. Man in der es darum geht, dass wir die Nullverschuldung, ei- muss festhalten: Die Linken haben die Wirtschaftlichkeit nen Haushalt ohne neue Schulden, schaffen. Ich glaube, nicht immer im Blick, aber dass man eine Idee fünfmal dass solche hohen Investitionskosten nicht mit diesem zu einem Antrag macht, ist ausgesprochen wirtschaft- Ziel, das wir in den nächsten fünf Jahren vorrangig anzu- lich. Diese Erkenntnis des heutigen Tages möchte ich für streben haben, zu vereinbaren wären. das Protokoll festhalten. Auch nach dem Vorschlag der Linken hätten die (Johanna Voß [DIE LINKE]: Sehr erhellend!) Ministerien, die dann alle in Berlin wären, natürlich ge- trennte Dienstsitze. Auch dann wären also nicht alle un- Ich möchte einige Punkte nennen, warum der Antrag ter einem Dach, sondern Sie schlagen die getrennte Un- heute nicht unsere Zustimmung bekommt. terbringung innerhalb einer Stadt vor. Dies würde in Zum einen wird in dem Antrag behauptet, die Rolle jedem Fall weitere Kosten nach sich ziehen, weil es un- Berlins als Bundeshauptstadt werde dadurch ge- terschiedliche Dienstsitze nebeneinander gäbe. Wenn 18382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Florian Toncar (A) man sich genau anschaut, was Sie eigentlich fordern, Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Konsens der Be- (C) muss man feststellen, dass sich die Einsparungen, die Sie teiligten. Auch ich glaube, es ist richtig, dass man sich sich davon versprechen und die Sie den Bürgern verspre- immer wieder fragt: Ist das eine sachgerechte Lösung? chen, etwas relativieren. Können wir damit gut arbeiten? Aber es ist auch wichtig, dass man das Gespräch miteinander sucht, das Gespräch Auch wir als FDP-Fraktion wollen, dass die Kosten, mit der Stadt Bonn und das Gespräch mit den Beschäf- die mit dem Vorhandensein zweier Dienstsitze verbun- tigten. Es wundert mich, dass ausgerechnet die Linken den sind, optimiert werden. Hier besteht in der Tat noch einen Antrag einbringen, der gar nicht mit den Beschäf- Handlungsbedarf. Da geht es beispielsweise um die tigten besprochen worden ist; das finde ich bemerkens- Frage: Verfügen die unterschiedlichen Ministerien ei- wert. gentlich über die entsprechende Technik, zum Beispiel über die erforderliche Konferenztechnik, um Videokon- (Otto Fricke [FDP]: Leider wahr!) ferenzen durchführen zu können, damit man nicht stän- Es geht immerhin um 10 000 Menschen und die dazuge- dig mit dem Flugzeug unterwegs sein muss, um sich ein- hörigen Familien, die einfach mal eben nach Berlin ge- mal persönlich zu treffen? Es gibt heutzutage ganz holt werden sollen; hervorragende technische Lösungen, mit denen wir, wenn wir sie einsetzen würden, Reisekosten sparen (Ulrich Kelber [SPD], an die LINKE gewandt: könnten. Da geht es nicht nur um den höheren Dienst! Auch um den einfachen und gehobenen Natürlich muss man, auch aus Sicht des Bundestages, Dienst! 3 500 Beschäftigte!) kritisch hinterfragen, ob tatsächlich in jeder Ausschuss- sitzung die persönliche Anwesenheit jedes zuständigen diese Entscheidung würde, ginge es nach Ihnen, von Mitarbeiters einer Bonner Liegenschaft nötig ist oder ob oben herab gefällt werden, ohne dass zuvor ein entspre- nicht manche Leute für wenige Minuten, in denen sie chender Konsens erzielt worden wäre. Mit Beamten vielleicht noch nicht einmal etwas sagen müssen, nach kann man das machen. Das ist rechtlich möglich. Ob es Berlin kommen und einen ganzen Arbeitstag mit einer fair ist, dies ohne entsprechende Konsultationen zu tun, Reise verbringen. Auch der Deutsche Bundestag kann ist eine andere Frage. also im täglichen Betrieb Kosten optimieren. Konsens herzustellen, ist bei Veränderungen, die man irgendwann einmal vornehmen will, die zu einem späte- Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Sie ha- ren Zeitpunkt vielleicht auch überzeugender sind als ben in Ihrem Antrag geschrieben: Gerade jetzt, in der heute, sicherlich ganz wichtig. Darum muss man sich be- Wirtschafts- und Finanzkrise, brauchen wir handlungsfä- mühen, bevor man solche Initiativen beschließt. Insofern hige Ministerien und Strukturen. – Deshalb wollen Sie würde ich mir mehr Pragmatismus wünschen. Ich denke (B) innerhalb der nächsten fünf Jahre alles nach Berlin ho- (D) allerdings, dieses Thema wird in den nächsten Jahren len. Unabhängig davon, ob man einen oder zwei Dienst- nicht entscheidend sein, wenn es darum geht, die Finan- sitze richtig findet: Wenn Sie in fünf Jahren 10 000 Be- zen zu retten und die Arbeit unserer Verwaltung zu ver- schäftigte und ihre Familien nach Berlin holen und hier bessern. neu unterbringen wollen, dann sorgen Sie garantiert für eines, nämlich dafür, dass durch Umstellungen und Ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) arbeitung Ressourcen gebunden werden und die Men- schen erst einmal anderes machen, als sich um ihre Vizepräsidentin Petra Pau: Kernaufgaben zu kümmern. Es wäre für jede Struktur Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die und jede Verwaltung eine Belastung, würde man sie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. schlagartig nach Berlin holen. Die Beschäftigten müss- ten sich, wie gesagt, hier erst einmal einarbeiten. Das Argument, gerade angesichts der Wirtschaftskrise könne Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): man durch einen Komplettumzug für eine größere Hand- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr lungsfähigkeit sorgen, kann ich nicht nachvollziehen. Kollege Claus, wie lustvoll es bei der Linkspartei zu- Das ist mit Sicherheit eher ein Argument, das konstruiert geht, weiß ich nicht; ist und nicht trägt. (Otto Fricke [FDP]: War Oskar wieder da?) Im Übrigen muss man sagen: Wenn es in der Privat- das will ich auch gar nicht beurteilen. Ihre Rede jeden- wirtschaft zu Unternehmensfusionen kommt, hat dies falls war munter und spaßig; das gestehe ich Ihnen zu. meistens nicht zur Folge, dass zunächst einmal alles in Zum Teil war das sogar Realsatire. Wenn Sie sagen, einer Liegenschaft zentralisiert wird. So geht man auch diese Regierung hätte in der Finanz- und Euro-Krise bes- in der Privatwirtschaft nicht automatisch vor. Es spricht sere und zügigere Entscheidungen getroffen, wenn alle also einiges dafür, dass Effizienz nicht immer mit Zen- Ministerien in Berlin gewesen wären, frage ich Sie: Wer tralisierung einhergeht, sondern dass es erst einmal soll das bitte glauben? wichtiger ist, dafür zu sorgen, dass bestehende Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einheiten arbeitsfähig sind und arbeitsfähig bleiben und sowie bei Abgeordneten der SPD und der nicht mit einem Umzug oder ähnlichen Dingen beschäf- FDP) tigt werden. Insofern ist Ihr Antrag, auch was die Kosten und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung angeht, nicht Dazu, dass Sie auf die Frage, was denn noch in Bonn unbedingt weiterführend. bleiben soll, großzügig das Haus der Geschichte der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18383

Wolfgang Wieland (A) Bundesrepublik Deutschland erwähnen, muss ich sagen: (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die einen (C) Auch das ist eher Karneval. sagen so, die anderen sagen so!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- – Ja. – Ich darf Sie erinnern: Zehn Jahre lang trug Ihre SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und Partei hier Verantwortung; Ihr nur sechs der FDP) Monate und den Rest der Zeit Ihr Harald Wolf. Auch dass das Bundeszentralregister, das von Berlin Auch als Opposition sage ich jetzt einmal zu diesem nach Bonn verpflanzt wurde, nicht wieder zurückver- rot-roten Senat: Das ist eine positive Entwicklung. Die pflanzt werden soll: Danke schön für diese Großzügig- Jugend der Welt kommt heute nach Berlin und will hier keit. auch leben und arbeiten. Wir müssen keine Anwerbeprä- mien und keine Zitterprämien mehr zahlen. Das alles ist Eigentlich wollte auch ich damit anfangen, dass wir nicht mehr nötig. Das war so nicht vorauszusehen. Des- ohne die PDS überhaupt nicht hier in Berlin wären. Frau wegen können wir ganz gelassen sein und arbeitet die Vogelsang, das ist leider so. Ich war damals gemeinsam Zeit auch irgendwo für Berlin. mit den anderen Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus – parteiübergreifend – abends im Schöneberger Rathaus. (Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Aber es Wir haben dort stundenlang gestanden – von Sitzen war waren doch zehn Jahre Wowereit!) gar keine Rede – und auf das Ergebnis gewartet. Von da- her weiß ich, wie hoch emotional das gerade für die Ab- Ich bin ja auch dafür, dass man flexibel ist, aber man geordneten der CDU war. Sie hätten ihre Parteibücher darf doch keine Basta-Politik machen und keinen ent- spontan zerrissen, wenn ein anderes Ergebnis heraus- sprechenden Antrag – jetzt ist Schluss! – stellen. Wir gekommen wäre. Deswegen habe ich auch das Abstim- müssen den politischen Aushandlungsprozess weiterfüh- mungsergebnis im Kopf: 338 zu 320. Deshalb: Ehre, ren. Wenn es zum Beispiel im Rahmen einer Bundes- wem Ehre gebührt, und Schande, wem Schande gebührt. wehrreform sinnvoll ist, hier Veränderungen herbeizu- führen, dann soll man das tun. Das alles lässt sich lösen, Das muss man zu diesem Tag noch einmal sagen; wenn man gleichberechtigt und ohne solche Scheuklap- denn das geschah in einer Zeit, als hier ein ehemaliger pen bzw. Schubladen, wie „Bonn gegen Berlin“ oder VEB nach dem anderen geradezu implodierte, „Berlin gegen Bonn“, vorgeht. (Otto Fricke [FDP]: Ja!) Deswegen sage ich auch ganz bewusst: Die vielen als wir die Aufgabe hatten, einen Wasserkopf Ost und ei- Aufpasserinnen und Aufpasser aus Bonn hier wären gar nen Wasserkopf West der Verwaltungen zusammenzu- nicht nötig gewesen. Wir in Berlin sind inzwischen sehr (B) führen, was natürlich nur durch Entlassungen möglich gelassen. (D) war, und als gleichzeitig die Berlinhilfe West so gekürzt (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurde, dass auch die flache Produktion im Westen zu- NEN) sammenbrach. In dieser Situation hätte eine Entschei- dung für Bonn bedeutet, dass wir hier die Bürgersteige Wir sind insoweit verostet, dass wir das Motto „Freitags hochgeklappt hätten und wie in Dessau oder anderen ab eins macht jeder seins“ übernommen haben. Städten im Osten nur noch über Stadtrückbau und da- rüber hätten reden müssen, wie es sich in einem großen (Otto Fricke [FDP]: Nur nicht im Plenum!) Freilichtmuseum lebt, das die Touristen besuchen, um einmal zu sehen, wie eine Industriestadt ausgesehen hat. Deswegen gibt es hier in dieser Runde nur relativ wenige Abgeordnete aus Berlin. Das alles ist uns erspart geblieben. Deshalb ist uns dieser Beschluss auch so etwas wie heilig; das sage ich (Holger Krestel [FDP]: Na, na!) ganz ausdrücklich. Nach Punkt 4 dieses Beschlusses soll – Herr Krestel, ich habe Sie nicht übersehen. Ich sage eine faire Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn ver- nur: Hier sitzen relativ wenige Abgeordnete aus Berlin einbart werden. Darin steht nicht: Wir schieben die Bon- im Vergleich zu den Aufpassern aus der Rhein-Ruhr-Re- ner irgendwann so über die Rolle, wie ihr Berliner bei- gion. nahe über die Rolle geschoben worden wäret, wenn 40 Jahre Sonntagsreden über deutsche Einheit und über (Holger Krestel [FDP]: Ach so! Es gibt sie hier Hauptstadt Berlin in die Tonne getreten worden wären. – ja auch im Dutzend günstiger!) Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch kei- nem anderen zu: Dieses Motto gilt auch hier. Von daher nehmen Sie das als Zeichen unserer Harmlo- sigkeit. Nehmen Sie das auch als Zeichen unserer Dank- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN barkeit. Wir wissen, wie viel Solidarität wir in Berlin er- sowie der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ fahren haben. Deswegen treten und schlagen wir auch CSU]) nicht um uns. Herr Kollege Claus, ich muss auch sagen, dass es Vielen Dank. mich wundert: Sie schreiben zwar, wie prächtig sich Bonn entwickelt hat – das stimmt –, aber Sie verschwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gen, dass sich auch Berlin in dieser Zeit ganz prächtig bei der CDU/CSU und der FDP sowie der entwickelt hat. Abg. [SPD]) 18384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Jetzt ist es natürlich nicht so, dass dies ein teures (C) Auch Freitag nach eins gilt allerdings: Wenn das Mi- Hobby wäre, wie hier und da insinuiert wird, ganz im nuszeichen vor der Redezeit auftaucht, ist sie tatsächlich Gegenteil: Wir haben eben schon einiges zu den Zahlen abgelaufen, Kollege Wieland. gehört. Wir müssen davon ausgehen, dass maximal 10 Millionen Euro an jährlichen Kosten für die getrennten (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Standorte entstehen. NEN]: Die war wieder die kürzeste von allen, Frau Präsidentin!) (Ulrich Kelber [SPD]: Ausgaben!) – Woran lag es wohl, dass das so ist? Aber gut. Wenn man aber einmal überlegt, was ein Umzug – die Schätzungen liegen zwischen 3 und 5 Milliarden Euro – (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kosten würde, dann kann man selbst bei dem heutigen NEN]: Das verstehe ich immer wieder nicht!) extrem niedrigen Zinsniveau zu horrenden Zinszahlun- gen kommen. Wenn wir von Kosten in Höhe von nur Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege 3 Milliarden Euro und von nur 2 Prozent Zinsen ausge- Volkmar Klein für die Unionsfraktion. hen, dann macht das 60 Millionen Euro Zinsen im Jahr. Das heißt, die ganze Operation, mit der vorgegeben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird, sparen zu wollen, kostet aufgrund der horrenden neten der FDP) Zinszahlungen am Ende im Jahr viermal so viel wie heute. Also auch wirtschaftlich ist dieser Antrag sub- Volkmar Klein (CDU/CSU): stanzlos. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Jetzt hat der Kollege Claus in seiner ihm eigenen Herren! Kollege Wieland hat gerade zu Recht darauf freundlichen Ironie eben auf die Normalität seiner Partei hingewiesen, dass das gegenwärtig geltende Gesetz ei- hingewiesen und damit ein bisschen kaschiert – von Dia- nen fairen Ausgleich zwischen Bonn und Berlin beinhal- lektik versteht man bei den Linken mehr als bei den an- tet. Ich kann mir diesbezügliche Anmerkungen sparen deren –, dass da noch einiges auszudiskutieren ist. Wenn und vielleicht auf den Antrag zurückkommen, in dem man sich die Anträge der Linken im nordrhein-westfäli- vorgegeben wird, sparen zu wollen. Offensichtlich hof- schen Landtag ansieht – er hat selber darauf hingewie- fen die Antragsteller, dadurch gute Kommentare zu er- sen –, stellt man fest, dass diese diametral in die andere halten. Richtung gehen. Da wird nicht nur gesagt: „Am Berlin/ Nur, erstaunlicherweise sind Sparen und wirtschaftli- Bonn-Gesetz muss festgehalten werden“, vielmehr soll ches Denken normalerweise überhaupt nicht Sache der das sogar jede einzelne Position betreffen. Ich will das (B) Linken. Dennoch bekommen wir hier in regelmäßigen jetzt nicht vorlesen; die Zeit können wir uns sparen. Es (D) Abständen einen solchen Antrag vorgelegt. Vielleicht ist die Landtagsdrucksache 15/2907. Ich schlage vor, gibt es dafür auch ganz andere Gründe. Vielleicht will diese internen Probleme erst einmal bei den Linken sel- eine Partei, deren eigene Historie von Stacheldraht und ber zu klären. Diktatur geprägt ist, vielleicht sogar zusammengehalten Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Kosten wird, ein Symbol für Demokratie und Freiheit in weiter zu senken; auch das haben wir eben gehört. Die- Deutschland am liebsten abschaffen; denn genau dafür, ser Prozess kann sicherlich noch verbessert werden. für Freiheit und Demokratie in Deutschland, steht Bonn, Bonn muss jedenfalls ein Symbol für Freiheit und De- für Werte, die mit Bonn eigentlich in Deutschland erst mokratie in Deutschland bleiben. heimisch geworden sind. Herzlichen Dank. Aber das gilt nicht nur für Freiheit und Demokratie. Bonn steht auch für gelebten Föderalismus und Dezen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tralität. Einige Länder auf der Welt suchen für sich an- dere Hauptstädte, mit denen sie genau das dokumentie- Vizepräsidentin Petra Pau: ren können. Das sind natürlich alles Themen, mit denen Ich schließe die Aussprache. die Linken keinen Vertrag haben; all das sind Werte, mit denen sie weiterhin fremdeln. Hier sollen offensichtlich Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Traditionslinien gekappt und Identitäten deutscher De- Drucksache 17/2419 an die in der Tagesordnung aufge- mokratie infrage gestellt werden. Das machen wir nicht führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- mit. Uns ist wichtig: Ohne Bonn in der deutschen Ge- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung schichte gäbe es auch keine Freiheit für Chemnitz. so beschlossen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Und Leipzig!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Diese ist uns genauso wichtig. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Tom Koenigs, Viola von Cramon- (Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak- [SPD]: Das ist jetzt alles ein bisschen platt! – tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ohne Bonn Das Regime in Syrien international isolieren hätte es auch keinen Radikalenerlass gege- ben!) – Drucksache 17/8132 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18385

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Überweisungsvorschlag: Ich denke, zumindest die vernünftigen Teile der Lin- (C) Auswärtiger Ausschuss (f) ken sollten die abstruse Position bestimmter Teile der Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Fraktion noch einmal überdenken, dass solche Sanktio- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nen Kriegsvorbereitung seien. Sie sind vielmehr die Entwicklung nichtmilitärische Alternative zum Krieg. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre CDU/CSU und der SPD) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich begrüße ausdrücklich, dass der Europäische Rat Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- am Montag seine Sanktionen weiter verschärfen will. gin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Ich denke auch, dass es ein wichtiger Schritt war, dass nen. die Arabische Liga aktiv geworden ist. Sie hat die Mit- gliedschaft Syriens suspendiert und Sanktionen für den Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fall beschlossen, dass der von der Liga vorgelegte Frie- NEN): densplan nicht akzeptiert wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die Entsendung der Beobachtermission war zu- Die Situation in Syrien ist wirklich dramatisch. Seit nächst eine richtige Maßnahme. In der Zeit haben im- mehr als zehn Monaten protestieren Hunderttausende in merhin die größten Demonstrationen stattgefunden, die Syrien gegen das Assad-Regime und riskieren dabei ihr Syrien bis dato gesehen hat. Allerdings: Jemanden wie Leben. Mehr als 5 000 wurden laut UN-Angaben bisher den sudanesischen General Mustafa al-Dabi, der dem ei- getötet, darunter mehr als 300 Kinder. Hunderte starben nen oder anderen hier gut bekannt ist und der als verant- durch Folter, auch darunter viele Kinder. Mehr als wortlicher General selbst schwerste Menschenrechtsver- 60 000 Menschen werden vermisst. Das ist noch nicht letzungen in Darfur zu verantworten hat, zum Chef der alles. Das IKRK darf keine Aufständischen versorgen. Mission zu machen, heißt, den Bock zum Gärtner zu ma- Damit wird klar gegen Konventionen verstoßen. Staatli- chen. Die 165 Beobachter haben sich wohl zum Teil che Krankenhäuser werden zu Folterkammern. Ärzte, ziemlich ahnungslos vom Assad-Regime vorführen las- die Aufständische versorgen, werden gefoltert und er- sen. Damit ist die Mission diskreditiert. Ich erwarte da- mordet. her nicht sehr viel von dem morgigen Bericht. Ich denke, es geht den meisten hier so, dass es ange- Fest steht: Von den Bedingungen des Friedensplans (B) sichts dieser Lage unerträglich ist, dass die internatio- der Arabischen Liga, deren Einhaltung die Mission über- (D) nale Gemeinschaft diesem Morden immer noch hilflos wachen sollte, hat Assad keine einzige erfüllt: kein zuschaut, weil das wichtigste für Frieden und Sicherheit Rückzug der Armee aus den Städten und kein Ende der zuständige internationale Gremium, nämlich der UN- Gewalt. Im Gegenteil: Während der Mission gab es laut Sicherheitsrat, diese schweren Menschenrechtsverlet- UN mehr Tote als zuvor. Ich fordere daher die Arabische zungen bis heute nicht einmal verurteilt, geschweige Liga auf: Wenn sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen denn Sanktionen verhängt hat. Ich halte das für einen will, muss sie ihre eigenen Beschlüsse ernst nehmen. politischen Skandal. Das heißt, sie muss sofort ihre Mission beenden, Syrien dauerhaft aus der Arabischen Liga ausschließen und den (Beifall im ganzen Hause) Fall an den UN-Sicherheitsrat überweisen. So hat es die Arabische Liga beschlossen. Mit einer Fortsetzung der Was sind die Gründe dafür? Es liegt vor allem daran, Beobachtermission, unter deren Augen das Morden ein- dass Russland eine knallharte internationale Interessen- fach weitergeht, macht sich die Arabische Liga für das politik betreibt, Kriegsschiffe für Assad auffährt und das Regime zum nützlichen Idioten. Regime weiter mit Waffen versorgt. Ich möchte an die- ser Stelle Russland und China auffordern: Beenden Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ihre Blockade im Sicherheitsrat! Der Sicherheitsrat muss bei der CDU/CSU und der SPD) die Gräueltaten des Assad-Regimes klar verurteilen. Das ist das Mindeste. Solange das nicht passiert, sind Sie Ich komme nun auf einen schwierigen Punkt zu spre- – auch das sage ich sehr deutlich – mitverantwortlich für chen. Ich bin der Meinung, dass hier die Voraussetzun- jedes weitere Morden in Syrien. Solange das nicht pas- gen für Responsibility to Protect, die Wahrnehmung der siert und das Regime nicht endlich politisch isoliert internationalen Schutzverantwortung, gegeben sind. Da wird, wird es umso brutaler gegen die eigene Bevölke- die syrische Regierung die einheimische Bevölkerung rung vorgehen, weil es hofft, den Kampf doch noch massakriert, haben wir, die internationale Gemeinschaft, überleben zu können. die Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Ich sage: Ja, es ist richtig, es besteht die Gefahr eines Immerhin haben die Europäische Union, die USA und Flächenbrands, wenn die Lage eskaliert. Deshalb ist eine andere inzwischen Sanktionen, ein Öl- und ein Waffen- Intervention oder die Einrichtung einer No-fly-Zone die embargo verhängt. Dass zum Beispiel das Ölembargo falsche Antwort. Dennoch will ich zum Schluss zu be- wirkt, hat der syrische Ölminister gestern selbst gesagt. denken geben, ob es nicht notwendig ist, dass die inter- Er hat von schweren Verlusten in Höhe von 2 Milliarden nationale Gemeinschaft über Sanktionen hinaus eine hu- US-Dollar gesprochen. manitäre, entmilitarisierte Sicherheitszone – nicht in 18386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Kerstin Müller (Köln) (A) Syrien, wohl aber in der Türkei – einrichtet, in die die Ich möchte an dieser Stelle auf die besondere Verant- (C) Flüchtlinge, aber auch Deserteure, die sich zur Abkehr wortung hinweisen, die die Arabische Liga trägt. Es han- entschlossen haben, fliehen können; denn die Schutzver- delt sich hier um den ersten größeren Einsatz der Arabi- antwortung verpflichtet uns, alles zu tun, um die Zivilbe- schen Liga. Sie hat schon Sanktionen ausgesprochen. völkerung zu schützen. Dieser Verantwortung werden Das ist in der Geschichte beispiellos. Aber wir werden wir bislang nicht gerecht. die Staaten der Arabischen Liga daran zu messen haben, ob es ihnen gelingt, die Sanktionen gegen Syrien umzu- Vielen Dank. setzen; denn vorwiegend müssen die Probleme dort ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, löst werden, wo sie entstanden sind. Das ist der arabi- bei der CDU/CSU und der SPD) sche Raum. Deswegen fordern wir die Arabische Liga auf, sich noch deutlicher und klarer als bisher gegen das Regime in Syrien zu positionieren. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Dr. Sie fordern in Ihrem Antrag eine stärkere Isolation Thomas Feist. Syriens. Das ist immer ein zweischneidiges Schwert – das wissen wir alle –; denn es wäre nicht das erste Mal, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass man es in einem neuen System auch mit Funktions- neten der FDP) trägern aus dem vorherigen System zu tun hat. Deswe- gen versuchen wir dort, wo es möglich und sinnvoll ist, Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): noch Unterstützung zu geben. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten über Sanktionen – diese werden Ich nenne als Beispiel dafür die Auswärtige Kultur- immer dringlicher – und ein klares Bekenntnis gegen das und Bildungspolitik. Natürlich konnten wir nicht anders syrische Regime. Heute ist der richtige Zeitpunkt dafür. – die Regierung hat hier sehr verantwortungsvoll ent- Sicherlich wäre ein früherer Zeitpunkt noch besser ge- schieden –, als diejenigen, die nicht unbedingt notwen- wesen – Ihr Antrag stammt von Dezember letzten Jahres –; dig sind, um in den Goethe-Instituten oder den deut- aber es ist gut, dass wir uns heute dafür Zeit nehmen. schen Auslandsschulen zu unterrichten, zurückzuholen. Aber es ist wichtig, für die syrische Opposition, vor allen Wir sind uns in diesem Hause über wesentliche Dingen für die Intellektuellen, Anlaufpunkte offenzuhal- Punkte einig. Frau Müller, Sie haben das kurz angespro- ten. Ich bin unserer Staatsministerin sehr dankbar dafür, chen: Es gibt immer einige Spinner, die dagegen spre- dass wir das nach wie vor tun; denn bei einem Regime- chen. So gab es bereits gestern eine Aktuelle Stunde zu wechsel braucht man Brücken. Wir haben gesehen, wie (B) einem abstrusen Aufruf, den sechs Bundestagsabgeord- hervorragend das in Ägypten funktioniert hat, gerade (D) nete der Linken unterschrieben haben. Ich kann Ihnen, durch das Engagement der Goethe-Institute auch in meine Damen und Herren von der Linken, nur sagen: Es schwieriger Zeit. wäre wichtig, dass sich Ihre Führung eindeutig dagegen ausspricht und sich klar davon distanziert. Dieser Aufruf Ich darf noch zu einzelnen Punkten kommen. Keine ist menschenverachtend und zynisch. Angst, ich werde die zwölf Minuten Redezeit nicht ganz ausschöpfen! Ich habe Ihnen zwei Minuten geschenkt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und ich werde auch dem Hohen Haus sozusagen noch bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- ein paar Minuten zukommen lassen. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist wichtig, dass die nächsten Schritte wirklich Mehr als 5 000 Tote, Zehntausende in Internierungsla- Sanktionen bringen, die fühlbar werden. Das Waffenem- gern, psychische und physische Folter, dazu können und bargo, das Einfuhrverbot für Ölprodukte und den wollen wir nicht schweigen. Exportstopp für Technologie nach Syrien haben Sie an- Nun zu dem Antrag der Grünen. Frau Müller, Sie ha- gesprochen. Dazu ist in Ihrem Antrag ein Punkt zu fin- ben völlig recht: Der UN-Sicherheitsrat und die Arabi- den. Darin geht es um ein Kraftwerk, das Siemens dort sche Liga sollten hier endlich klare und akzeptable bauen soll. Sie sagen, es wäre gut, wenn das in der mo- Signale setzen. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundes- mentanen Situation nicht geschähe. regierung auf, darauf hinzuwirken. Aber die Bundesre- Auf der anderen Seite reden Sie davon, dass das gierung tut genau das. Sie hat es im UN-Sicherheitsrat deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen aufgekün- nicht vermocht, die lupenreinen Demokraten in Russ- digt werden soll. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag. land oder die Kapitalkommunisten in China zu überzeu- Den kann man nicht so einfach außer Kraft setzen. Sie gen, entsprechende Positionen zu unterstützen. Daran wissen doch auch ganz genau, dass momentan – das ist müssen wir sicherlich noch arbeiten. Aber wie Sie wis- gestern angesprochen worden – keine syrischen Flücht- sen, ist es schwierig, gegen die Eigeninteressen von linge aus Deutschland abgeschoben werden. Russland, China und Syrien anzukämpfen. Dennoch dür- fen wir nicht nachlassen. Wir brauchen eine Resolution (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE des UN-Sicherheitsrats, die das Vorgehen der syrischen GRÜNEN]: Aber nach Ungarn!) Führung klar und deutlich verurteilt. – Nach Ungarn, aber nicht nach Syrien. Von Ungarn wo- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP andershin zu kommen, das war 1989 für die DDR-Bür- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ger etwas anderes. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18387

Dr. Thomas Feist (A) (Lachen der Abg. Kerstin Müller [Köln] Abschließend möchte ich noch etwas zum humanitä- (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang ren Engagement Deutschlands sagen. Sie haben die Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja Flüchtlinge in der Türkei angesprochen. Das internatio- eben!) nale Rote Kreuz und der Rote Halbmond kümmern sich um diese Flüchtlinge. Deutschland – auch das ist ein Ich denke schon, dass auch die Ungarn ihrer Verantwor- deutlicher Beweis dafür, dass wir uns um die Problema- tung gerecht werden. Wir werden auf jeden Fall von tik der Flüchtlinge kümmern – ist an der Finanzierung Deutschland aus darauf achten, dass jetzt möglichst dieser Maßnahmen mit 50 Prozent beteiligt. Ich denke, keine Flüchtlinge abgeschoben werden. das ist eine gute Nachricht.

Vizepräsidentin Petra Pau: Dies sollten wir festhalten: auf der einen Seite huma- nitäre Hilfe leisten und auf der anderen Seite schauen, Kollege Feist, gestatten Sie eine Frage des Kollegen dass Sanktionen genau das bringen, was sie bringen sol- Beck? len, nämlich den Freiheitswillen des syrischen Volkes zu unterstützen. Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Aber gern. Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Wochenende. (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sie wollten doch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zeit sparen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. Herr Kollege, Sie sprechen davon, dass Sie davon ausgehen, dass Ungarn nicht nach Syrien abschiebt. Ist (Beifall bei der SPD) Ihnen bekannt, was ich gestern in der Aktuellen Stunde bereits angesprochen habe, nämlich dass die aktuelle Er- Dr. Rolf Mützenich (SPD): lasslage in Ungarn vorsieht, weiter nach Syrien abzu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schieben, dass dies auch geschieht und dass es deshalb Wie in vergleichbaren Fällen gibt es auch im Falle unverantwortlich ist, wenn wir die Drittstaatenregelung Syriens keine einfachen Antworten. Das gilt für die Ver- nach der Dublin-II-Verordnung bei syrischen Flüchtlin- gangenheit und wird gerade in dieser Region wahr- gen für Ungarn weiter anwenden? scheinlich leider auch für die Zukunft gelten. Jedes Land (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und jede Situation ist anders. Deshalb muss auch jede (B) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Reaktion von der internationalen Staatengemeinschaft (D) KEN) wohlüberlegt und unter Umständen auch anders sein. Aber in jedem Fall muss die Gewalt vonseiten des Assad-Regimes beendet werden. Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Deswegen gibt es einen Erlass, in dem steht, dass es (Beifall im ganzen Hause) momentan nicht ratsam sei, syrische Flüchtlinge abzu- Das steht für alle Fraktionen im Vordergrund der Forde- schieben. Das haben Sie gestern auch angesprochen. Mir rungen gegenüber dem syrischen Regime. geht es nicht in erster Linie um die Formulierung, die ge- wählt worden ist, sondern mir geht es darum, dass dies Ich bekenne mich persönlich: Wir sind parteiisch und momentan ausgesetzt wird. nicht frei von Sympathien und Hoffnungen für die De- monstranten, die für Demokratie und Gerechtigkeit ein- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist treten. Aber ich fühle auch Scham und Hilflosigkeit, Gewäsch!) weil wir nicht in dem Maße reagieren können, wie es – Dafür sind die Linken bekannt, vor allen Dingen Sie, notwendig wäre, weil – das haben die Vorredner schon Kollege Gehrcke. angeführt – die Rahmenbedingungen dafür nicht gege- ben sind, weil es in dem Gremium, das nach dem Zwei- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schönen ten Weltkrieg für Frieden und Kooperation geschaffen Dank!) worden ist, für weitergehende Handlungen keine Einig- Die Grünen sagen, dass Assad zurücktreten muss. keit gibt. Es ist nicht leicht, dass man nicht mehr tun Das ist etwas, was wir durchaus teilen. Die Frage ist nur, kann. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu. ob die deutsche Regierung jemanden auffordern kann, Syrien ist ein ethnisch und religiös gespaltener Staat, zurückzutreten und sich freiwillig vor dem Internationa- der von seiner Geschichte geformt ist. Aber ich will vor len Strafgerichtshof seiner Verantwortung zu stellen. einer leichtfertigen Reaktion, wie man sie oft in der Be- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richterstattung sieht, warnen. Viele Menschen in Syrien NEN]: Auffordern schon! Aber ob das was – Kurden, Christen, Drusen und andere – wollen ge- nützt, ist die Frage!) nauso Freiheit und Gerechtigkeit gegenüber dem Re- gime und unterstützen nicht vordergründig Assad. Sie Das sind Fragen, die in der weiteren Beratung sicher haben ihre eigene Biografie mitgebracht. Ich denke, die- noch eine Rolle spielen werden. Wir sind heute in der sen Unterschied sollten wir beachten. Wir sollten nicht ersten Beratung. Wir werden noch weiter darüber reden. dem fatalen Irrtum anheimfallen, anzunehmen, dass eth- 18388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Rolf Mützenich (A) nische oder religiöse Auseinandersetzungen immer teure im Sicherheitsrat erheben, müssen wir uns natür- (C) machtpolitisch missbraucht werden. Wir haben in der ei- lich auch immer wieder die geschichtliche Verantwor- genen europäischen Geschichte gesehen, wie ethnische tung des Westens in der Vergangenheit in Erinnerung und religiöse Konflikte – wie im ehemaligen Jugosla- rufen. wien – für Machtpolitik missbraucht worden sind. Die- Dennoch: Die syrische Opposition bekommt von uns ser einfachen Logik dürfen wir in Syrien nicht folgen. alle Sympathien und alle Unterstützung. Das sollte nicht Deshalb habe ich allen Respekt vor jenen, die in Syrien nur verbal geschehen, sondern auch im Rahmen des zur- gegen dieses Regime demonstrieren, egal welcher zeit Möglichen. Damit komme ich zur Rolle der Türkei. Ethnie oder Religion sie angehören. Ich finde es beeindruckend, dass insbesondere Minister- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ präsident Erdoğan seine Haltung gegenüber Syrien in ei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nem wahrscheinlich schwierigen Umdenkprozess geän- CDU/CSU und der FDP) dert hat und dass heute die Türkei eine andere Rolle einnimmt als in den vergangenen Wochen. Das hat auch Genauso differenziert müssen wir die Rolle der Ara- der Opposition genützt. So konnten sich syrische Oppo- bischen Liga betrachten. Sie hat sich mit den Umbrü- sitionelle in der Türkei treffen. Vertreter des Deutschen chen in der arabischen Welt verändert. Sie ist differen- Bundestages hatten Gelegenheit, dabei in der Türkei mit zierter und angemessener geworden. Sie handelt ihnen zu reden. Dass die Opposition auch von weiteren vielleicht noch nicht mutig genug; aber ich denke schon, Nachbarländern so unterstützt wird, geht letztlich auf dass wir die Arabische Liga und die Verantwortlichen das Konto der Türkei. Deswegen sollte die Bundesregie- heute stärker darin unterstützen sollten, das Regime in rung die Türkei bei ihrer Haltung jedwede Unterstützung Syrien an den Pranger zu stellen. Die Suspendierung war zusagen, nicht nur bezüglich der Flüchtlinge, sondern richtig. Aber im Grunde muss sie nach dem morgen vor- insbesondere auch politisch. liegenden Bericht der Beobachtermission tätig werden und über die geschlossenen Kompromisse hinausgehen. Ich bedaure, dass die dritte Rede von Präsident Assad nicht den geringsten Anlass zur Hoffnung gegeben hat. Kollegin Müller hat es angesprochen: Der Leiter der Er hat weder signalisiert, dass er bereit wäre, auf Gewalt Beobachtermission ist ein suspekter Akteur. Er wurde zu verzichten, noch gab es irgendein Anzeichen dafür, vom Assad-Regime in dieser Rolle gewünscht, und die dass er der Opposition Angebote machen wird. Das ist Arabische Liga ist dem gefolgt. Das kann man nicht ak- nicht erträglich. Das müssen wir insbesondere auch zeptieren. Ich finde, morgen sollte die Arabische Liga Russland sagen. Russland muss klargemacht werden, sehr deutlich machen, dass sie dies nicht mehr goutiert, dass es, wenn es schon meint, eine Schutzfunktion über- dass sie in eine andere Richtung geht und gegenüber nehmen zu müssen, auch auf eine Änderung des Verhal- (B) dem syrischen Regime viel deutlicher aktiv wird als in tens von Präsident Assad hinwirken muss. (D) der Vergangenheit. Ansätze dafür sind vorhanden. Es waren mutige Beobachter in der Mission, die gesagt ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben: Ich kann mein Amt nicht mehr ausführen. Ich habe der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- so viel Gewalt und so viele Schandtaten erlebt, dass ich SES 90/DIE GRÜNEN) mich zurückziehe. – Es hat mutige Vertreter in der Diese Verantwortung hat Russland; sonst macht es sich Beobachtermission gegeben, die sich den Machenschaf- auf internationaler politischer Bühne schuldig. ten dieses Regimes ausgeliefert fühlten und von ihrem Amt zurückgetreten sind. Gezielte Sanktionen vonseiten der Europäischen Union oder auch von einzelnen Ländern sind richtig, wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Einfrieren von Konten oder die gezielte Außerkraft- DIE GRÜNEN) setzung einzelner Handlungsoptionen der Akteure des Ein weiterer Aspekt, der meines Erachtens für ein dif- syrischen Regimes. Weiterhin aktuell ist für Deutschland ferenziertes Bild mit berücksichtigt werden muss, ist die aber auch – wir hatten ja im letzten Jahr fast zur selben Rolle des Westens gegenüber Syrien. Diese ist ebenso Zeit einen entsprechenden Antrag gestellt – die Kündi- wie die Rolle des Westens gegenüber Russland – ich gung des Rückübernahmeabkommens, die Aussetzung werde gleich noch kurz darauf eingehen – von den Er- von Abschiebungen. Wir sollten das nicht auf verschlun- fahrungen geprägt, die Syrien machte, als es in der Ver- genen Pfaden umsetzen, sondern ein ganz deutliches gangenheit zu Verwerfungen in den Nachbarländern ge- Zeichen setzen, indem wir dieses Rückübernahmeab- kommen ist. So hat Syrien zum Beispiel eine Menge kommen kündigen und keine Abschiebungen mehr vor- Flüchtlinge aus dem Irak – wir kennen die Situation dort – nehmen. und aus dem Libanon aufnehmen müssen. Die Syrer ha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ben diese Bürgerkriege vor Augen und auch die sehr schwierigen Situationen, die damit in der Vergangenheit Zum Schluss möchte ich der Bundesregierung noch verbunden waren. Wenn es all diese Ereignisse in der un- eine Überlegung mit auf den Weg geben: Frau Staats- mittelbaren Nachbarschaft von Syrien in der Vergangen- ministerin, ich möchte Sie wirklich bitten, noch einmal heit nicht gegeben hätte, wären heute möglicherweise zu überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, alle europäi- noch mehr Syrer bereit, gegen ihr Regime auf die Straße schen Botschafter, zumindest zu Konsultationen, zu- zu gehen und zu kämpfen. Doch jetzt haben sie auch im- rückzuziehen. Ich glaube, damit würden wir der Opposi- mer diese Bilder aus der Vergangenheit vor Augen. tion ein deutliches Signal geben. Das Argument, das Wenn wir, völlig zu Recht, Vorwürfe gegen andere Ak- bisher dagegen gesprochen hat, nämlich dass man sich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18389

Dr. Rolf Mützenich (A) so der einzigen Möglichkeit berauben würde, um mit der rück. Leider hat sich dann vieles sehr dramatisch entwi- (C) Opposition in Kontakt zu treten, trägt heute nicht mehr. ckelt, wie wir zur Kenntnis nehmen müssen. Dieses Vorgehen wäre zumindest erwägenswert. Der arabische Frühling ist spätestens seit den Ereig- Vielen Dank. nissen in Libyen und in Syrien fast zu einem arabischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Drama geworden. So hoffnungsvoll es begonnen hat, so DIE GRÜNEN) problematisch ist die Situation speziell in Syrien und Li- byen. Nun werden Libyen und Syrien häufig miteinan- der verglichen – auch darin, was wir machen können und Vizepräsidentin Petra Pau: was wir nicht machen können. Natürlich gibt es Ver- Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die gleichsmöglichkeiten: Die Leute gehen auf die Straße, FDP-Fraktion. weil sie mit der Situation unzufrieden sind. Es gibt aber (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch jede Menge gigantischer Unterschiede zwischen Libyen und Syrien. Deshalb ist eine Vergleichbarkeit der Situation nicht gegeben. Dr. Rainer Stinner (FDP): Wie schön. Ein großer Unterschied ist, dass Libyen ein relativ isoliertes Land mit geringen Auswirkungen auf andere Vizepräsidentin Petra Pau: Nachbarstaaten ist. Das ist in Syrien völlig anders. Die Ich hoffe, ich habe Sie jetzt nicht allzu sehr über- Problematik der Situation liegt darin begründet, dass Sy- rascht. rien im Zentrum einer gefährlichen Region liegt. Alles das, was in Syrien passiert, hat Auswirkungen auf den Libanon, auf Iran, auf Israel, auf die gesamte Region. Dr. Rainer Stinner (FDP): Deshalb ist Syrien ein Pulverfass, und deshalb müssen Nein, vielen Dank. – Liebe Frau Präsidentin! Liebe wir uns darüber Gedanken machen, wie wir hier am bes- Kolleginnen und Kollegen! Die Süddeutsche Zeitung hat ten vorgehen. für einen Artikel vom 20. Dezember 2000 folgende Überschrift gewählt: „Damaszener Morgenluft“. In die- Ich begrüße ausdrücklich, dass die Arabische Liga ei- sem Artikel wurde auf die Reformen eingegangen, die nen Paradigmenwechsel vorgenommen hat. Das war für der damals neue Präsident Assad junior, der ein halbes diese Länder nicht einfach. Frau Müller, über Ihren Vor- Jahr vorher installiert worden war, in Angriff genommen schlag, darauf hinzuwirken, dass die Beobachter abzie- hat. Das heißt, seine Amtsübernahme ist positiv bewertet hen, müssen wir aber noch einmal intensiv reden. Wir worden und gab Anlass zur Hoffnung. Assad hatte das (B) müssen uns wirklich überlegen, ob dieser Vorschlag (D) berüchtigte Mezze-Gefängnis, in dem Tausende von Ge- richtig ist. Ich bezweifle das zum jetzigen Zeitpunkt, fangenen gefoltert worden sind, aufgelöst. Die Süddeut- Frau Müller. Wenn die Arabische Liga ihre Beobachter- sche Zeitung schrieb: mission fortsetzt – heutigen Agenturmeldungen zufolge Die Presse in Syrien ist so frei wie noch nie. Sogar soll die Zahl der Beobachter auf 300 verdoppelt werden –, die Gründung privater Zeitungen wird diskutiert. heißt das, dass sie mit im Boot ist und für das in Haftung Wenn Intellektuelle mehr Freiheit fordern und die genommen werden kann, was passiert. Ich glaube, es ist Regierung kritisieren, lässt Baschar al-Assad sie richtig und wichtig, dass wir die regionalen Kräfte ein- gewähren. Anfragen seines Sicherheitsdienstes, ob binden. Ich habe großen Respekt vor der veränderten man gegen die Kritiker wie in alten Tagen vorgehen Rolle der Arabischen Liga. Dass sie nicht so handelt, wie solle, beschied der Präsident abschlägig. wir es wollen, ist völlig klar. Wir müssen uns aber auch überlegen, wo diese Leute herkommen. Es gab noch nie Das war damals nach Beobachtung von uns allen ein den Fall, dass es die Arabische Liga gewagt hat, einen Hoffnungsschimmer in Syrien. Die Süddeutsche Zeitung Mitgliedstaat so zu behandeln wie Syrien. Das ist ein hat es so ausgedrückt, wie wir es sicherlich auch alle neuer Schritt. Wir fordern mehr; aber wir sollten die empfunden haben. Es gab Hoffnung, dass dieser junge, Arabische Liga in ihrem Handeln unterstützen. im Westen ausgebildete Präsident als Nachfolger seines Vaters anders vorgehen würde. Leider hat die Zeit ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zeigt, dass dieses Hoffnungspflänzchen Monat für Mo- Ähnlich sieht es mit der Rolle der Türkei aus. Herr nat, Jahr für Jahr zertrampelt worden ist. Syrien ist in Mützen den Folgejahren eher zu einer Art Schurkenstaat gewor- ich, ich stimme dem, was Sie dazu ausgeführt ha- den. ben, völlig zu. Wir können dankbar sein, dass sich die Türkei einmischt. Wir müssen auch froh darüber sein Dennoch haben wir als Opposition es damals für gut – und dies bestärken –, dass uns, dem Westen, nicht im- befunden, dass der damalige Außenminister Steinmeier mer automatisch die Rolle des Weltpolizisten zukommt, als hochrangiger Vertreter erstmals Syrien besucht und der die Probleme lösen muss. Ich hoffe, es wird in Zu- auch hier den syrischen Außenminister empfangen hat. kunft öfter passieren, dass schlagkräftige regionale Part- Wir fanden das gut; denn es ist richtig und wichtig ner dafür sorgen, dass sich die Situation verändert. Des- – auch heute noch –, zu versuchen, auch auf Staaten, mit halb finde ich es sehr gut, dass die Arabische Liga denen man Probleme hat, politischen Einfluss zu neh- weitermacht, und deshalb finde ich es auch sehr gut, dass men. Wir haben das damals ausdrücklich unterstützt. Ich die Türkei sich nach langem Zögern eindeutig positio- nehme von dieser Unterstützung auch heute nichts zu- niert hat. 18390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

Dr. Rainer Stinner (A) Die Europäische Union und Deutschland haben den teilweise der Fall war. Ich will mich mit dem anderen (C) syrischen Nationalrat, also die Oppositionsbewegung, Unsinn nicht beschäftigen. anerkannt. Herr Ghaliun war am 14. November letzten (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sie brauchen sich Jahres hier in Berlin und hat mit Außenminister Westerwelle gesprochen. Damit haben wir sehr deutlich nur einmal persönlich zu distanzieren, Herr gemacht, auf welcher Seite wir stehen. Gehrcke!) Ich habe mich immer an das gehalten, was die linken In Syrien erleben wir in diesen Tagen interessanter- und demokratischen Kräfte in den betroffenen Ländern weise eine Spaltung der Baath-Partei. Es gibt eine neue selbst vorschlagen und fordern. Ich will Ihnen einmal Baath-Partei; es gibt dort neue Entwicklungen, die wir vorlesen, welche Forderungen der Nationale Koordinie- genau beobachten müssen. Auch das Bild dieses Re- rungsrat – dort sind die linken und demokratischen gimes bröckelt natürlich, und das müssen wir im Auge Kräfte der Opposition vertreten – aufgestellt hat: behalten. Wir halten dabei an drei Ablehnungen fest: Aus heutiger Sicht sieht die Perspektive für die Zu- kunft nicht sehr positiv aus. Wir müssen zunächst einmal – das muss von allen Mitgliedern unterschrieben werden – versuchen, zu erreichen, dass das Morden aufhört. Des- nein zur Gewalt, nein zur konfessionellen Spaltung halb stimme ich allen Vorrednern zu, dass es darum geht, des Landes und nein zur ausländischen Einmi- zu versuchen, mit Sanktionen so viel wie möglich zu er- schung. reichen. Ich bin sehr froh darüber, dass alle Vernünftigen im Deutschen Bundestag einhellig der Meinung sind, Das sind die Forderungen. Ich finde sie richtig und dass wir dies tun sollten. teile sie. Es besteht natürlich die Gefahr eines Bürgerkrieges. Ich schlage Ihnen erstens vor, dass wir nächste Woche Außerdem besteht die Gefahr, dass sich weitreichende – wir werden eine namentliche Abstimmung beantra- Spill-over-Effekte ergeben. Das ist außerordentlich pro- gen – über zwei Punkte entscheiden. Der Deutsche Bun- blematisch. Es kann sogar passieren, dass nach Über- destag muss sich gegen jegliche Form – ohne Tricks – winden des Assad-Regimes die Aleviten, die circa 10 bis von Abschiebungen nach Syrien aussprechen, und das 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die aber das muss möglichst von allen Fraktionen getragen werden. Regime stellen, plötzlich zu Verfolgten werden. Wir (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- müssen dann besorgt sein, ob es nicht eventuell einen neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Völkermord mit umgekehrten Vorzeichen gibt. Mit all GRÜNEN) diesen Dingen müssen wir uns beschäftigen. (B) Ich bin zweitens dafür, dass wir uns auf einige Sanktio- (D) Ich plädiere dafür, dass die Bundesregierung ihre nen hier einigen. Ich möchte unbedingt, dass wir uns ge- sinnvolle Einflussnahme fortsetzt und dass sie zusam- meinsam gegen Rüstungsexporte und Waffenlieferungen men mit anderen europäischen Staaten das Sanktionsre- nach Syrien und in die gesamte Nahostregion ausspre- gime verstärkt. Ich plädiere vor allem dafür, dass wir die chen. Regionalkräfte ermuntern, ihren Einfluss geltend zu ma- chen. Das ist wahrscheinlich sinnvoller und wirkungs- (Beifall bei der LINKEN) voller als all das, was wir hier tun können. Ich habe auch nichts dagegen, wenn gegen die Reprä- Vielen Dank. sentanten dieses Regimes Reiseverbote verhängt wer- den. Aber ich unterstütze keine Sanktionen, die die Be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie völkerung treffen. Darüber kann man nächste Woche in bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- namentlicher Abstimmung entscheiden. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will jetzt zu den einzelnen Forderungen etwas sa- gen. Die Forderung „Nein zur Gewalt“ richtet sich in Vizepräsidentin Petra Pau: erster Linie an das Regime Assad. Das muss ausgespro- Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die chen werden, und es wird auch von der Linken ausge- Fraktion Die Linke. sprochen. Von Assad geht die staatliche Gewalt aus. Er (Beifall bei der LINKEN) setzt staatliche Gewalt ein. Es ist in keiner Weise akzep- tabel und auch nicht begründbar, wie die staatliche Ge- walt in Syrien eingesetzt wird. Das soll hier klar ausge- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): sprochen werden. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! – Kolleginnen und Kollegen, ich hätte mir nach der gestrigen Veranstal- (Beifall bei der LINKEN) tung – eine Debatte ist es ja nicht gewesen – Ich möchte aber auch feststellen, dass wir davon ab- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- raten, dass auf der anderen Seite Gewalt eingesetzt wird NEN]: Natürlich! Vielleicht meinen Sie Herrn oder dass von außen zur Gewalt aufgerufen wird. Hier Maurer!) gibt es eine Differenz mit meinen Freunden in Syrien. Sie sagen, Verhandlungen mit dem Assad-Regime sind sehr gewünscht, dass man heute einmal tatsächlich über unsinnig, bringen nichts. Ich sehe aber keinen anderen Syrien und über die Probleme des Landes redet, was nur Weg als Verhandlungen. Das ist eine nicht ganz einfache Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18391

Wolfgang Gehrcke (A) Frage. Syrien, das sich in Teilen schon in einem Bürger- Wer nicht will, dass weiter geschossen wird, sollte (C) krieg befindet, darf nicht weiter in einen Bürgerkrieg ab- auch bereit sein, zu Verhandlungen überzugehen. Da gleiten. muss man Druck auf das Regime ausüben. Ich bin nicht für unverbindliche Verhandlungen. Ich will den Kollegen Hans-Ulrich Klose zitieren – das mache ich nur selten –, der zu diesem Thema am (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE 16. Januar etwas sehr Vernünftiges gesagt hat. Er hat ge- GRÜNEN]: Vielleicht sollte Gysi noch einmal sagt: „Internationale Bemühungen sollten sich darauf zu Assad fahren wie damals zu Milosevic!) konzentrieren, überhaupt Gesprächskontakte zwischen beiden Konfliktparteien herzustellen.“ Er sagte weiter- Ich bin für klare Verhandlungen, die ein Ergebnis brin- hin, die Alternative dazu sei der Bürgerkrieg. Ich sehe es gen, dass das Morden und die Gewalt in Syrien aufhö- ähnlich. Man muss miteinander reden, wenn man verhin- ren. Das ist die Position, die ich vorschlagen möchte. dern will, dass weiter aufeinander geschossen und ge- Das ist eine Position, die auch in Syrien sehr breit akzep- mordet wird. tiert wird. Gehen Sie nicht nur von Ihren Bildern von au- ßen aus, sondern reden Sie mit den politischen Kräften, (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE die in der Opposition sind, dann werden Sie zu anderen GRÜNEN]: Assad redet und mordet trotzdem! Ergebnissen kommen. Das ist das Problem!) Schönen Dank. Man muss miteinander reden, um zu Vereinbarungen zu kommen. Ich sehe keinen anderen Weg. (Beifall bei der LINKEN) Ich bin auch dafür, dass hier deutlich gegen ausländi- sche Einmischung, gegen militärische Bedrohung und Vizepräsidentin Petra Pau: das Spiel mit militärischer Drohung Stellung bezogen Ich schließe die Aussprache. wird. Wir – ich jedenfalls bin es – sind alle gebrannt von dem, was in Libyen passiert ist. Es fing harmlos an, und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf es endete bei 50 000 Toten in diesem Krieg. Ich weiß, Drucksache 17/8132 an die in der Tagesordnung aufge- wie der Irakkrieg in Szene gesetzt worden ist. Ich führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- möchte keine Wiederholung. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE so beschlossen. GRÜNEN]: Wollen Sie etwa Syrien mit der Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Irak-Situation vergleichen? Das ist absurd!) ordnung. (B) (D) Erinnern Sie sich doch daran, was der Kollege Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Mißfelder hier ausgeführt hat. Waffengewalt bleibt auf destages ein auf Mittwoch, den 25. Januar 2012, 13 Uhr. der Tagesordnung. Sie können viele Zitate finden, dass der Bürgerkrieg in Syrien mindestens von außen ange- Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende, so- heizt wird, weil man kein Interesse an einer Vereinba- weit dies möglich ist. rung hat. Die Sitzung ist geschlossen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist ja abstrus! Gewäsch ist das!) (Schluss: 15.36 Uhr)

Anlagen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18393

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Alpers, Agnes DIE LINKE 20.01.2012 Möhring, Cornelia DIE LINKE 20.01.2012

Altmaier, Peter CDU/CSU 20.01.2012 Nahles, Andrea SPD 20.01.2012

Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 Dr. Nüßlein, Georg CDU/CSU 20.01.2012 DIE GRÜNEN Poß, Joachim SPD 20.01.2012 Behrens, Herbert DIE LINKE 20.01.2012 Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 20.01.2012 Claudia DIE GRÜNEN

Brand, Michael CDU/CSU 20.01.2012 Roth (Esslingen), Karin SPD 20.01.2012

Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 20.01.2012 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 20.01.2012

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 20.01.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 20.01.2012

Dreibus, Werner DIE LINKE 20.01.2012 Schneider (Erfurt), SPD 20.01.2012 Carsten Ferner, Elke SPD 20.01.2012 Schwabe, Frank SPD 20.01.2012 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 20.01.2012 (B) Dr. Solms, Hermann FDP 20.01.2012 (D) Freitag, Dagmar SPD 20.01.2012 Otto

Friedhoff, Paul K. FDP 20.01.2012 Steinbrück, Peer SPD 20.01.2012

Dr. Harbarth, Stephan CDU/CSU 20.01.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 20.01.2012

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 Thönnes, Franz SPD 20.01.2012 DIE GRÜNEN Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 Jung (Konstanz), CDU/CSU 20.01.2012 DIE GRÜNEN Andreas Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 Kipping, Katja DIE LINKE 20.01.2012 DIE GRÜNEN

Kumpf, Ute SPD 20.01.2012 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 20.01.2012

Laurischk, Sibylle FDP 20.01.2012 Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 DIE GRÜNEN Leutheusser- FDP 20.01.2012 Schnarrenberger, Weinberg, Harald DIE LINKE 20.01.2012 Sabine Werner, Katrin DIE LINKE 20.01.2012 Luksic, Oliver FDP 20.01.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 20.01.2012 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ 20.01.2012 DIE GRÜNEN Wolff (Wolmirstedt), SPD 20.01.2012 Waltraud Meierhofer, Horst FDP 20.01.2012 Zapf, Uta SPD 20.01.2012 Menzner, Dorothée DIE LINKE 20.01.2012 18394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

(A) Anlage 2 Dieser Sektor umfasst mittlerweile über 7 Millionen (C) Menschen in Deutschland. Die Arbeitnehmereinkommen Zu Protokoll gegebene Rede haben im letzten Jahrzehnt europaweit einen beispiello- sen realen Rückgang erlitten. Der Zuwachs des gesell- zur Beratung des Antrags: Tarifsystem stabili- schaftlichen Wohlstands kommt fast nur noch den Ein- sieren (152. Sitzung, Tagesordnungspunkt 19) kommen aus Gewinn und Vermögen zugute. Das kann und will meine Fraktion so nicht akzeptieren. Ottmar Schreiner (SPD): Eine Debatte zu diesem auch für meine Fraktion sehr wichtigen Themenkomplex Deshalb werden auch wir in der nächsten Sitzungs- haben wir im letzten Jahr zum Antrag der Fraktion woche einen Antrag einbringen, der eine Änderung der Bündnis90/Die Grünen – 17/4437 – geführt. Bereits zu gesetzlichen Rahmenbedingungen fordert, um diesen diesem Zeitpunkt waren sich die Oppositionsfraktionen Erosionsprozess des Tarifvertragssystems zu stoppen. darüber einig, hierzu eine Anhörung von Sachverständi- Einig sind wir uns mit den anderen beiden Oppositions- gen durchzuführen. In der Ausschussberatung des Aus- fraktionen, dass als unterste Haltelinie ein gesetzlicher schusses Arbeit und Soziales am 26. Oktober 2011 konn- flächendeckender Mindestlohn zwingend erforderlich ten wir daher die Durchführung einer öffentlichen ist. Dreh- und Angelpunkt ist darüber hinaus das Arbeit- nehmer-Entsendegesetz. Es bedarf einer Ausdehnung Anhörung erreichen. Sie wird am 6. Februar 2012 sein. des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen, Heute debattieren wir über den Antrag der Linksfrak- damit zum einen für alle Branchen die Allgemeinver- tion. Berechtigtes Ziel beider Anträge ist es, das Tarifsys- bindlicherklärung geöffnet wird, aber auch ausländische tem in Deutschland zu stabilisieren. Unser Tarifsystem, Unternehmen bei der Einhaltung von Arbeitsstandards in das über viele Jahre und Jahrzehnte gute Dienste geleistet die Pflicht genommen werden können. Wenn Löhne all- hatte, wird immer notleidender. Ein fairer Interessenaus- gemeinverbindlich erklärt werden, sollten dies möglichst gleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmerschaft die kompletten Lohntabellen sein, damit der Sog nach und den Interessen der Arbeitgeberschaft ist vielfach unten durchbrochen wird. nicht mehr möglich. Wir wollen die Stärkung der Tarifautonomie, eine Seit Mitte der 90er-Jahre befindet sich das deutsche stärkere Tarifbindung und eine Ausweitung der Flächen- Tarifvertragssystem in einem Erosionsprozess. Das Pro- tarife. Wir wollen die existierenden hohen Hürden für blem der sogenannten „weißen Flecken“ in der Tarif- die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen absen- landschaft wird immer größer. Tarifvertragsschwache ken. Hierzu werden wir Vorschläge machen. und tariffreie Zonen nehmen überhand. Ursächlich hier- (B) für ist zum einen der sinkende gewerkschaftliche Orga- (D) nisationsgrad. Viel wichtiger ist jedoch die abnehmende Anlage 3 Tarifbindung durch Tarifflucht der Unternehmen. Durch die Möglichkeit eines sogenannten „Blitzwechsels“ in Amtliche Mitteilungen eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung können sich Un- Der Bundesrat hat in seiner 891. Sitzung am 16. De- ternehmen zum Beispiel bei einer drohenden Tariflohn- zember 2011 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen erhöhung kurzfristig aus dem Arbeitgeberverband verab- zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- schieden. Es herrscht gegenüber den Gewerkschaften satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: praktisch ein massives Drohpotenzial seitens der Arbeit- geber. – Gesetz über die Feststellung des Bundeshaus- haltsplans für das Haushaltsjahr 2012 (Haus- Um das Ausmaß dieses Erosionsprozesses in der Tarif- haltsgesetz 2012) landschaft zu beleuchten, möchte ich nur einige Zahlen nennen: Während in den 80er-Jahren circa 80 Prozent der – Viertes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Beschäftigten in Deutschland von einem Tarifvertrag er- Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze fasst wurden, sind es mittlerweile nur noch etwa 60 Pro- zent. Die Tarifbindung ist also um ein Viertel zurückge- – Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrech- gangen. Innerhalb der europäischen Kernländer ist tes Deutschland bei der Tarifbindung der Beschäftigten Schlusslicht. Österreich, Belgien und Frankreich liegen – Gesetz zur Änderung des EG-Verbraucherschutz- durchsetzungsgesetzes und zur Änderung des Un- zum Beispiel bei fast 100 Prozent. Bei der Tarifbindung terlassungsklagengesetzes der Betriebe ist die Lage noch dramatischer: In West- deutschland sind sage und schreibe 34 Prozent der Be- – Gesetz zur Änderung des Seefischereigesetzes und triebe tarifgebunden, im Osten sind es lediglich 17 Pro- des Seeaufgabengesetzes zent. – Gesetz über die Statistik der Überschuldung pri- Das Nichtvorhandensein einer gesetzlichen Lohnun- vater Personen (Überschuldungsstatistikgesetz – tergrenze in Verbindung mit diesem Erosionsprozess in ÜSchuldStatG) der Tariflandschaft führt dazu, dass die Löhne immer mehr ausfransen. Hierzu muss man sich nur die Zahlen – Gesetz zur Optimierung der Geldwäschepräven- zur Entwicklung der Niedriglohnbeschäftigung anschauen. tion Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012 18395

(A) – Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstruktu- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben (C) ren in der gesetzlichen Krankenversicherung mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 (GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG) Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung gefasst: Auswärtiger Ausschuss Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- – den Sparbeitrag der Krankenhäuser im Jahr 2012 mentarischen Versammlung der NATO vor dem Hintergrund der Tarifsteigerungen und der 55. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung Qualitätssicherung in den Krankenhäusern zurück- der NATO vom 13. bis 17. November 2009 in Edin- zunehmen und den neuen Orientierungswert frist- burgh, Vereinigtes Königreich gerecht einzuführen, – Drucksachen 17/7232, 17/7907 Nr. 1 –

– den Ländern die Möglichkeit zu geben, in Abhän- Haushaltsausschuss gigkeit von der konkreten Versorgungssituation ausnahmsweise Anforderungen an die Leitung von – Unterrichtung durch die Bundesregierung Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) anzu- Haushaltsführung 2011 passen, um die Förderung von MVZ zur Versor- Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- gung im ländlichen Raum nicht zu verhindern. Die ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige Struktur von MVZ muss dann so angelegt werden, Ausgabe bei Kapitel 17 02 Titel 632 01 – Aufwendungen dass Anreize für Ärztinnen und Ärzte hinsichtlich für Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherr- der Arbeitsbedingungen geschaffen sowie flexible schaft – bis zur Höhe von 5 960 642 Euro und mobile Versorgungsformen unter diesem Dach – Drucksachen 17/ 8077, 17/8207 Nr. 1 – leichter verwirklicht werden können. – Unterrichtung durch die Bundesregierung – Gesetz zur Errichtung einer Visa-Warndatei und Haushaltsführung 2011 zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige – Gesetz zur Wiedergewährung der Sonderzahlung Ausgabe bei Kapitel 30 02 Titel 632 50 – BAföG Schüle- rinnen und Schüler – bis zur Höhe von 26 Mio. Euro – Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Ver- – Drucksachen 17/8078, 17/8207 Nr. 2 – (B) kündung und Bekanntmachung sowie der Zivil- (D) prozessordnung, des Gesetzes betreffend die – Unterrichtung durch die Bundesregierung Einführung der Zivilprozessordnung und der Ab- Haushaltsführung 2011 gabenordnung Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige – Gesetz zur Aufhebung von Sperrregelungen bei Ausgabe bei Kapitel 30 02 Titel 661 50 – BAföG Zinszu- schüsse und Erstattung von Darlehensausfällen an die der Bekämpfung von Kinderpornographie in Kreditanstalt für Wiederaufbau – bis zur Höhe von Kommunikationsnetzen 41,1 Mio. Euro – Zweites Gesetz zur Neuregelung energiewirt- – Drucksachen 17/8079, 17/8207 Nr. 3 – schaftsrechtlicher Vorschriften Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben – Gesetz zu dem Abkommen vom 3. Februar 2011 mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- dem Königreich Spanien zur Vermeidung der Dop- ner Beratung abgesehen hat. pelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuer- verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/7713 Nr. A.1 – Gesetz zu dem Abkommen vom 17. Juni 2010 zwi- Ratsdokument 15566/11 schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- Drucksache 17/7713 Nr. A.3 Ratsdokument 15620/11 land und dem Ministerrat der Republik Albanien Drucksache 17/7918 Nr. A.1 über die Seeschifffahrt Ratsdokument 16394/11 Drucksache 17/8227 Nr. A.3 – Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von EuB-BReg 194/2011 Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutz- Drucksache 17/8227 Nr. A.4 gesetz – BKiSchG) EP P7_TA-PROV(2011)0472 Drucksache 17/8227 Nr. A.6 Ratsdokument 16532/11 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie den Antrag Datenschutz und Verbrau- Innenausschuss cherschutz in sozialen Netzwerken stärken, Grund- Drucksache 17/6985 Nr. A.10 rechte schützen auf Drucksache 17/1589 zurückzieht. Ratsdokument 12957/11 18396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 153. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Januar 2012

(A) Drucksache 17/7423 Nr. A.13 Ratsdokument 15426/11 (C) Ratsdokument 14367/11 Drucksache 17/8082 Nr. A.10 Drucksache 17/7423 Nr. A.14 Ratsdokument 16798/11 Ratsdokument 14369/11 Drucksache 17/8227 Nr. A.30 Drucksache 17/7423 Nr. A.15 Ratsdokument 16650/11 Ratsdokument 14378/11 Drucksache 17/8227 Nr. A.31 Drucksache 17/7423 Nr. A.16 Ratsdokument 16795/11 Ratsdokument 14381/11 Drucksache 17/8227 Nr. A.32 Ratsdokument 17245/11 Drucksache 17/8227 Nr. A.33 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft Ratsdokument 17486/11 und Verbraucherschutz

Drucksache 17/7713 Nr. A.10 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ratsdokument 15396/11 Drucksache 17/7713 Nr. A.11 Drucksache 17/8082 Nr. A.12 Ratsdokument 15397/11 Ratsdokument 16842/11 Drucksache 17/7713 Nr. A.12 Ratsdokument 15398/11 Drucksache 17/7713 Nr. A.13 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ratsdokument 15399/11 und Entwicklung Drucksache 17/7713 Nr. A.15 Ratsdokument 15425/11 Drucksache 17/7549 Nr. A.11 Drucksache 17/7713 Nr. A.16 Ratsdokument 15025/11

(B) (D)

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