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Beyer/Schulze-Marmeling

Noch nie zuvor ist die Vergabe einer Fußball- Weltmeisterschaft so kritisiert worden wie die an das Emirat Katar. Boykottiert Katar 2022!

In diesem Band fassen Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling die Katar- Warum wir die FIFA stoppen müssen

Kontroverse kompakt zusammen und erklären, Boykottiert 2022! Katar weshalb dieses Turnier zu boykottieren ist.

Zweiter Band der Reihe »WERKSTATT AKTUELL«. Beyer/Schulze-Marmeling AKTUELL

ISBN 978-3-7307-0545-2 VERLAG DIE WERKSTATT WERKSTATT

C-Werkstatt Aktuell_Bd2 Boykottiert Katar.indd Alle Seiten 12.04.21 10:53 Bernd-M. Beyer/Dietrich Schulze-Marmeling

Boykottiert Katar 2022! Warum wir die FIFA stoppen müssen

Werkstatt aktuell, Band 2

Beyer/Schulze-Marmeling

Boykottiert Katar 2022!

Warum wir die FIFA stoppen müssen

VERLAG DIE WERKSTATT Zu den Autoren

Bernd M. Beyer, Jahrgang 1950, ist Mitgründer des Verlags Die Werkstatt und Mitglied der Deutschen Akademie für Fuß- ballkultur. Zuletzt von ihm erschienen: »71/72 – Die Saison der Träumer«.

Dietrich Schulze-Marmeling, Jahrgang 1956, gehört zu den profiliertesten Fußballautoren hierzulande. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur. Zuletzt von ihm erschienen: »Trainer! Die wichtigsten Männer im Fußball«.

1. Auflage Werkstatt aktuell, Band 2 Copyright © 2021 Verlag Die Werkstatt GmbH, Siekerwall 21, 33602 Bielefeld www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck und Bindung: CPI, Leck ISBN 978-3-7307-0545-2 Inhalt

Warum Katar? 6 Das FIFA-Schmuddelkabinett 20 DIESEN MÄNNERN HABEN WIR DIE WM IN KATAR ZU VERDANKEN

Keine Freiheiten in Katar 35 ZUR POLITISCHEN SITUATION IM LAND DES WM-GASTGEBERS

Vom Außenseiter zum Hätschelkind 50 FUSSBALL IN KATAR

Katar und : Geld für Tore und Raketen 63 EINWURF – VON MARTIN KRAUSS

Eine Hand wäscht die andere 68 KATAR UND DER EUROPÄISCHE FUSSBALL

»Willkommen im Paradies« 83 KATAR UND DER FC BAYERN MÜNCHEN

Sieg, Tod – und Gerechtigkeit! 98 EINE POLITISCHE GESCHICHTE DER FUSSBALL- WELTMEISTERSCHAFTEN – UND DER SIE BEGLEITENDEN POLITISCHEN KAMPAGNEN

Ein notwendiges Netzwerk 133 DIE INITIATIVE BOYCOTTQATAR2022 DIE ANDERE MEINUNG: RONNY BLASCHKE

Nationalspieler für Menschenrechte 149 WIE DER BOYKOTT-GEDANKE DEN PROFIFUSSBALL ERREICHTE

Aktiv gegen Qatar 2022 156 EINIGE VORSCHLÄGE FÜR PROTESTAKTIONEN ZUM WM-TURNIER 1

Warum Katar? Erinnert sich noch jemand an den 2. Dezember 2010? Es wäre übertrieben zu sagen, das sei der Nine-Eleven des internatio- nalen Fußballs gewesen, aber ein riesiger Schock und eine Zäsur waren es allemal. In Zürich öffnete FIFA-Präsident Sepp Blatter vor laufenden Kameras ein Blatt Papier, auf dem groß »Qatar« gedruckt stand. Die Entscheidung war gefallen. Von den 22 Mitgliedern des FIFA- Exekutivkomitees hatten in der vierten und letzten Runde 14 für das Emirat als Ausrichter der WM 2022 gestimmt. Acht Voten waren auf die USA entfallen. Viele hatten das befürchtet. Ein Tur- nier mitten in der Wüste? In einem autoritären Mini-Staat ohne nennenswerte Fußball-Tradition? Was sollte das? Hinzu kam, dass die Entscheidung der Gestank von Korrup- tion umwehte. Natürlich waren WM-Turniere auch in der Vergan- genheit schon gekauft worden – aber niemals zuvor war dies so schnell so offensichtlich geworden wie in der Causa Katar: Ein halbes Jahr nach der Entscheidung wurden bereits zehn Mit- glieder des FIFA-Exekutivkomitees verdächtigt, ihre Stimme ver- kauft zu haben. Für viele Fußballfans war mit der Vergabe der WM 2022 an das Emirat eine rote Linie überschritten. Doch so absurd die Entschei- dung auf den ersten Blick anmutete – sie war der logische Endpunkt einer Entwicklung. Die Weltturniere hatten immer gigantischere Ausmaße angenommen. Die immensen politischen, ökonomischen und logistischen Forderungen der FIFA führten dazu, dass für den Weltverband vor allem jene Länder als WM-Ausrichter immer stärker in den Fokus rückten, die eine geringe demokratische Kon-

6 trolle auszeichnete und deren Regierungen bereit waren, für derlei Großveranstaltungen Unsummen auszugeben.

Klein, aber reich

Katar zählt 2,7 Millionen Einwohner, von denen gerade einmal 300.000 Staatsbürger des Landes sind. Die Mehrheit der Bevöl- kerung besteht aus weitgehend rechtlosen Arbeitsmigrant*innen. Mit 11.627 Quadratkilometern ist das Land kleiner als 13 der 17 deutschen Bundesländer. Für die FIFA waren aber andere Parameter entscheidend: Katar ist eines der weltweit reichsten Länder und kann das mit dem Turnier verbundene Infrastruktur- programm problemlos schultern. Die Drecksarbeit auf den vielen Baustellen erledigen derweil Gastarbeiter aus Nepal, Indien, Bangladesch sowie anderen asiatischen und afrikanischen Län- dern. Auch die politischen Strukturen sagten der FIFA zu. Katar ist eine absolute Monarchie und wird von einem Clan regiert, der auch das Fußballgeschäft bestimmt. Obwohl bevölkerungsarm und klein – Katar ist für die FIFA ein deutlich stärkerer und ein- flussreicherer Partner als es Südafrika 2010 und auch Brasilien 2014 gewesen sind. Katar ist einer der mächtigsten Geldgeber und Investoren weltweit. In Deutschland ist Katar sogar einer der größten Investoren. Die Qatar Holding, eine Tochtergesellschaft des katarischen Staatsfonds Qatar Investment Authority (QIA), hält 17 % der Aktien von VW, dem größten deutschen Unternehmen, und ist damit der drittgrößte Aktionär des Autoherstellers. Die Kataris halfen VW aus der Patsche, als es im Jahr 2009 bei der Über- nahme von Porsche zu Problemen kam. Im 20-köpfigen Auf- sichtsrat des Unternehmens sitzen zwei Vertreter des Wüsten- staats. An Siemens hält Katar 3,27 %, an Hapag Lloyd 14 % und an der Deutschen Bank 6,1 %. Als die Deutsche Bank 2014 ins Taumeln geriet, wurde sie von Katar mit dem dringend benö- tigten Eigenkapital versorgt. Eine Zeit lang war die katarische

7 Herrscherfamilie sogar größter Einzelaktionär bei der Deut- schen Bank, bis der chinesische Mischkonzern HNA Group an ihr vorbeizog. In England besitzt Katar 5,5 % der Anteile an der renom- mierten Barclays Bank und 20 % des Londoner Flughafens Hea- throw, Europas größtem Airport. An der Supermarktkette Sains- bury ist das Emirat mit 21,9 % beteiligt, das legendäre Londoner Kaufhaus Harrods gehört den Kataris komplett. Auch der in der britischen Hauptstadt errichtete, 310 Meter hohe Wolkenkratzer »The Shard« gehört zu 95 % den Katarern. Die QIA ist mit 10,3 % zudem größter einzelner Anteilseigner der Londoner Börse. In Frankreich ist Katar beim Mischkonzern Lagardère mit 13 % Top-Aktionär und hält Beteiligungen am Mineralölkonzern Total. In der Schweiz gehören sowohl die Credit Suisse (5,21 %) zum Portfolio der Kataris als auch die wiederholt wegen Men- schenrechtsverletzungen, Korruption und Steuermanipulation ins Gerede gekommene Unternehmensgruppe Glencore, welt- weit größter Rohstoffhändler. 2016 stiegen Glencore und Katar gemeinsam beim russischen Ölkonzern Rosneft ein. Die strategi- schen Partner erwarben 19,5 % des Staatskonzerns.

Nicht nur die FIFA

Dass die WM 2022 in Katar stattfindet, ist nicht nur auf dem Mist eines Haufens korrupter FIFA-Funktionäre gewachsen. Der damalige FIFA-Boss Sepp Blatter: »Es gab direkte politische Ein- flüsse. Europäische Regierungschefs haben ihren stimmberech- tigten Mitgliedern empfohlen, für Katar zu stimmen, weil sie große wissenschaftliche Interessen mit dem Land verbinden.« In Deutschland war einer der eifrigsten Pro-Katar-Lobbyisten der damalige Bundespräsident Christian Wulff, der sich schon für den Einstieg des Emirats bei VW stark gemacht hatte. Vor seinem Amtsantritt reiste Wulff zweimal nach Doha, begleitet von der Führungsspitze von VW und Porsche. Keine drei Monate

8 im Amt, empfing er im Jahr 2010 Scheich Hamad Bin Kha- lifa al Thani, den Emir von Katar, und dessen drei Ehefrauen im Schloss Bellevue. Der Bundespräsident in seiner Tischrede: »Viele« der »hochrangigen Gäste hier im Saal aus bedeutenden Unternehmen, den größten Unternehmern Deutschlands«, seien »in Katar präsent«. Sie seien »bereit«, die »vielfältigen Investi- tions- und Geschäftsmöglichkeiten in Katar deutlich stärker als bisher zu nutzen«. Deutschlands Interesse gelte »dem Zugang zu den katarischen Gasvorkommen«. Die deutschen Unternehmen böten ihre »Mitwirkung auch an der weiteren Modernisierung« des Landes an, »vom Auf- und Ausbau von Flug- und Seehäfen, Brücken, Straßen- und Schienenwegen bis hin zu Forschung und Bildung. (…) Ich bin davon überzeugt, dass deutsche Unter- nehmen und Forscher dazu beitragen können.« 2011 besuchte Wulff die in Katar beheimatete Aspire Aca- demy, eines der weltweit größten Trainingszentren für Spitzen- sport. Der Bundespräsident ließ sich dabei fotografieren, wie er einige Elfmeter schoss. Laut Sepp Blatter hatte Wulff versucht, ihn zu einer Stimmabgabe pro Katar zu bewegen, aber der FIFA- Boss stimmte für die USA. Auch den DFB versuchte Wulff zu überzeugen. Die deutsche Wirtschaft gehört zu den Profiteuren der WM in Katar und den dafür notwendigen Baumaßnahmen. Laut der Tageszeitung Die Welt entwarf etwa das Büro des Frankfurter Stararchitekten Albert Speer (AS&P) acht der zwölf WM-Stadien. Gebaut werden sie unter anderem von der Essener Hochtief AG, an der Katar beteiligt ist. Ein weiterer Lobbyist in Sachen Katar ist der ehemalige Außen- und Wirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gab- riel. Im Januar 2020 holte ihn die Deutsche Bank in ihren Auf- sichtsrat. Der Spiegel bezeichnete Gabriel als einen Aufsichtsrat »von Katars Gnaden«. In Frankreich agierte Staatspräsident Nicolas Sarkozy als Chef-Lobbyist Katars. Der im März 2021 wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilte konservative Politiker unterhielt beste Beziehungen in den arabischen Raum. Sein erfolgreicher

9 Wahlkampf soll maßgeblich vom lybischen Diktator Muammar al-Gaddafi finanziert worden sein. Insgesamt sollen 50 Millionen Euro an Sarkozy geflossen sein. Als Gegenleistung habe der zukünftige Präsident al-Gaddafi militärische Ehren in Paris, gute Geschäfte mit Frankreich und Unterstützung bei der Wiederinte- gration in die internationale Staatengemeinschaft versprochen. Mit Sarkozy zogen auch die Kataris in den Élysée-Palast ein. Nur drei Wochen nach Sarkozys Amtsantritt im Mai 2007 war Katars Emir Hamad bin Khalifas al-Thani erstmals Gast in der Residenz des Präsidenten. Anschließend wurde sein Premiermi- nister Hamad bin Jassem al-Thani regelmäßig von Sarkozy emp- fangen. Kurz vor der Entscheidung der FIFA über die Vergabe der Turniere 2018 und 2022 lud Frankreichs Präsident den Emir zum Dinner in den Élysée-Palast. Mit am Tisch saß UEFA-Boss Michel Platini, der dann einige Tage später pro Katar votierte. In seinem Buch In den Sand gesetzt – Katar, die FIFA und die Fußball-WM 2022 zitiert Glenn Jäger den Publizisten Werner Rügemer: »Sar- kozy hatte im November 2010 im Regierungssitz Élysée ein Treffen arrangiert, zu dem Michel Platini eingeladen war. (…) Es ging um die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 durch die FIFA. Platini nahm den wohl unausgesprochenen, aber deut- lichen Wunsch mit, sich in seiner Funktion bei der FIFA für die Vergabe an Katar einzusetzen. Er habe gewusst, was er tun müsse, sagte Platini später.« Thomas Kistner schreibt in seinem Klassiker FIFA MAFIA – Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball (2012): »Platini hat zum Glück rechtzeitig seine private Liebe zum WM-Fußball in Katar entdeckt. Sonst hätte Frankreichs größter Fußballsohn gegen massive heimatliche Wirtschaftsinteressen gestimmt, das Emirat betreibt – neben der Energieversorgung – ja regelrecht den Aufkauf urfranzösischer Institutionen, 4,8 Milliarden Euro hat Katar nur in Gebäude investiert und wird dabei sogar steuer- lich bevorzugt. (…) Auch hätte Platini den Wunsch seines Präsi- denten ignoriert.«

10 Sündenfall Argentinien ‘78

Was für die FIFA tatsächlich zählt, hatte der Verband erstmals im Vorfeld und während der WM 1978 dokumentiert. 1966 hatte die FIFA Argentinien zum Austragungsort der WM 1978 gekürt. 1975 war die Entscheidung seitens der FIFA nochmals bestätigt worden, weil Zweifel aufgekommen waren, ob das wirtschaftlich marode und politisch ins Chaos abgleitende Land zu einer Ver- anstaltung dieser Größenordnung überhaupt in der Lage sei. Am 24. März 1976 wurde die peronistische Regierung durch einen Militärputsch beseitigt. FIFA-Boss João Havelange war vom Putsch der Militärs begeistert: »Jetzt ist Argentinien in der Lage, die Weltmeis- terschaft auszurichten!« Auch Hermann Neuberger, Boss des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), »Vize« der FIFA und Organi- sationschef der WM in Argentinien, war von den neuen Machtha- bern angetan. Nach einem Gespräch mit Junta-Chef Videla sagte der deutsche Funktionär: »Die Wende zum Besseren trat mit der Übernahme der Macht durch die Militärs Ende März dieses Jahres ein. (…) Ganz gleich, wie man diesen Wechsel politisch bewertet, wir jedenfalls haben dadurch Partner mit Durchsetzungsver- mögen bekommen.« Das Demokratieverständnis der Südameri- kaner sei mit dem der Europäer nicht vergleichbar. Durch Dikta- turen würden die Menschen »ab und zu mal wieder wachgerüttelt in Richtung gesundem Demokratieverständnis, wenn sie vorher vom Weg abgekommen sind«. Ohnehin müsse man »mit dem Begriff der Diktatur sehr vorsichtig« sein, »weil wir sonst sehr viele Länder der Welt als Diktatur ansprechen müssten«. Zu diesem Zeitpunkt berichtete Amnesty International bereits über die Foltermethoden der neuen Machthaber und WM-Gastgeber: »Elektroschocks an allen Körperteilen, fast Erstickenlassen durch Untertauchen des Kopfes unter Wasser, Schläge mit der Faust, dem Knüppel und Gewehrkolben, Fuß- tritte, Zigarettenverbrennungen, Entzug von Essen, Trinken und Schlaf, manchmal über Wochen hinaus, sexuellen Missbrauch,

11 Desorientierungstaktik zum Beispiel durch Augenverbinden, die berüchtigte Papageienschaukel, der Grill, bei welchem der nackte Gefangene auf eine heiße Platte gelegt und geschlagen wird.« Auch das Problem der sogenannten »Verschwundenen« – in den Jahren der Militärdiktatur wurden ca. 30.000 Menschen an unbekannte Orte verschleppt, gefoltert und ermordet – war bereits bekannt. Dabei kooperierte die Junta mit sogenannten kriminellen »Todesschwadronen«, die insbesondere Einwan- derer aus den Nachbarländern und Angehörige der jüdischen Gemeinde Argentiniens terrorisierten. Um der Welt bei der WM ein »sauberes Argentinien« präsentieren zu können, wurden Elendsviertel gewaltsam aufgelöst, ihre Bewohner zum Teil gefoltert und ermordet. 1982 wurde die WM in Spanien ausgetragen. Spanien hatte den Zuschlag zeitgleich mit Argentinien erhalten, also auf dem FIFA-Kongress vom 6. Juli 1966. 1982 war Spanien eine Demo- kratie, aber zum Zeitpunkt der WM-Vergabe war das Land vom klerikal-faschistischen Regime des General Francisco Franco regiert worden, das mithilfe des Sports versucht hatte, aus seiner internationalen Isolation auszubrechen.

FIFAcrazy statt democrazy

Die verlockende Aussicht, ihr Land vier Wochen lang in ein Schaufenster zu stellen, an dem die ganze Welt vorbeiflaniert, fördert indes nicht nur bei autokratischen, sondern auch bei demokratischen Staaten und deren Regierenden die Bereitschaft, den FIFA-Granden den roten Teppich auszurollen. Für den Zeitraum des Turniers müssen die jeweiligen WM- Austragungsländer einen Teil ihrer Souveränität an die FIFA abtreten. Wie eine WM zu gestalten ist, wird vom Weltfußball- verband bis in Detail diktiert. Die FIFA geriert sich als diktato- rische Nebenregierung, aus democracy wird für einige Wochen FIFAcracy. Hierzu gehört auch die Suspendierung des nationalen

12 Steuerrechts. Das Austragungsland muss der FIFA und ihren Partnern die Befreiung von der Einkommens- und Umsatzsteuer zusichern. Selbst im Falle Südafrikas, das dringend auf Steuer- einnahmen angewiesen war, kannte die FIFA keine Gnade. Hinzu kommt, dass der Weltverband Exklusivrechte für seine internationalen Sponsoren verlangt, beispielsweise beim Getränkeverkauf. So musste etwa vor der WM 2014 der bra- silianische Senat dem »Budweiser Bill« zustimmen. Mit dieser Regelung wurde das in Brasilien herrschende Stadionverbot für alkoholische Getränke aufgehoben, was vor allem einem der FIFA-Hauptsponsoren zugute kam: der Brauerei Budweiser. Eine entsprechende Vereinbarung hatte die brasilianische Regierung bei der WM-Vergabe akzeptiert, bis 2012 aber war die Vorlage vom Parlament des Landes noch nicht verabschiedet worden. Da forderte FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke Vollzug: »Es wird und es muss als Teil eines Gesetzes den Fakt geben, dass wir das Recht haben, Bier zu verkaufen. (…) Das ist etwas, über das wir nicht verhandeln werden.« Die eigentlichen Kosten einer WM für Stadien und sonstige Infra­struktur überlässt die FIFA traditionell weitgehend dem Gastgeber. Die Gewinne streicht der Verband überwiegend selbst ein. Wohlhabende Ausrichternationen wie Deutschland, Russ- land und vor allem Katar mag das nicht weiter stören, aber in einem Land wie Südafrika hinterließ die WM einen fatalen Schul- denberg. Das Land selbst musste zunächst einmal kräftig zahlen, insbesondere für die Bereitstellung der von der FIFA geforderten Stadionlandschaft. Hier betrugen die Kosten für das Austra- gungsland ca. 1,4 Milliarden Euro; ursprünglich geplant hatte man mit der Hälfte dieser Summe. Bei der WM 2006 in Deutsch- land fielen die Ausgaben für Stadien mit 1,8 Milliarden Euro zwar noch höher aus, allerdings wurden diese zu 66 % von Stadionbe- treibern, Fußballklubs und privaten Investoren gedeckt. Südafrika investierte insgesamt sogar 3,6 Milliarden Euro in das Turnier 2010, höchstens ein Drittel davon floss in die heimische Wirtschaft zurück. Die FIFA zog mit einem Gewinn

13 von geschätzt 3 bis 4 Milliarden Euro davon. Weitere Profiteure waren westliche Konzerne und asiatische Firmen. Allein die deutsche Wirtschaft verbuchte im Zusammenhang mit der WM in Südafrika Aufträge im Umfang von 1,5 Milliarden Euro. Dem Gastgeber blieb eine Stadionlandschaft, für die es anschließend keine Verwendung gab und die in der Folge Verluste in Millionen- höhe verursachte. Genau betrachtet war diese WM weniger eine Südafrikas als eine der FIFA in Südafrika. FIFA-Präsident Joseph Blatter wurde nicht müde zu betonen, dass auch »die Armen« von der ersten WM auf afrikanischem Boden profitieren würden. Aus den Auflagen der FIFA ließ sich eine solch philanthropische Absicht nicht herauslesen. Da ging es primär um eine saubere Fußballshow und den Schutz von exklu- siven Sponsoreninteressen. In Kapstadt untersagte die FIFA die Nominierung eines Stadions im ärmlichen Vorort Athlone, weil, so ein FIFA-Delegierter, »eine Milliarde Fernsehzuschauer diese Hütten und eine derartige Armut nicht sehen wollen«. Im Falle Südafrikas lautete der Preis fürs »Hübschmachen«, dass rund um die Stadien sowie allgemein in Zonen, wo sich WM-Touristen herumtrieben, das Elend nicht bekämpft, sondern vertrieben wurde. Menschen wurden umgesiedelt in elende Blechhütten- Ghettos am Stadtrand. Um die Stadien errichtete die FIFA Exklusivzonen, was auch schon bei vorangegangenen Turnieren der Fall gewesen war, etwa auch bei der WM 2006 in Deutschland. Das Geld, das die Fans aus aller Welt dort für Getränke, Speisen und Accessoires ausgaben, wurde von der FIFA und ihren Lizenznehmern gleich wieder aus Südafrika herausgesogen. Heimische Kleinhändler wurden aus dieser Exklusivzone vertrieben, wie auch die traditionellen Gar- küchen vor den Stadien, die noch in deren Bauphase die Bau- arbeiter versorgt hatten. Für die lokale »Straßenökonomie« war in der FIFAcracy kein Platz. Zwar schuf die WM im Baugewerbe zahlreiche Arbeitsplätze, doch viele von ihnen besaßen allenfalls temporären Charakter. Am Bau der Stadien partizipierten vor allem europäische und nordamerikanische Unternehmen. Der

14 WM-bedingte Bauboom bewahrte Südafrika zwar kurzfristig vor einer Wirtschaftskrise, zeitigte aber keine nachhaltige Wirkung. Die WM wurde nicht – wie von der FIFA und Südafrikas Regie- rung angekündigt – zum Nukleus eines nationalen Wiederauf- bauprogramms.

Das Manko der Demokratien

Aus Sicht der FIFA besitzen demokratisch verfasste Staaten, wie etwa Brasilien, erhebliche Nachteile, wie FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke im Jahr vor dem WM-Start befand. Der Franzose beklagte die politische Struktur des WM-Austragungslandes: »Es gibt verschiedene Personen, Bewegungen und Interessen, und es ist durchaus schwierig, in diesem Rahmen eine WM zu organisieren.« So erdreistete sich beispielsweise die zustän- dige Arbeitsbehörde auf der Stadionbaustelle der Millionen- metropole São Paulo, einen partiellen Baustopp zu verhängen. Vorausgegangen war der bereits siebte tödliche Unfall eines Arbeiters – nicht erst in Katar forderte das FIFA-Bauprogramm also Arbeiterleben. Der ehemalige brasilianische Nationalspieler und Bundesligaprofi Giovane Elber führte die Unfälle auf den enormen Zeitdruck zurück. FIFA-Boss Blatter vergoss Kroko- dilstränchen – um wenig später die Gastgeber der »Trödelei« zu bezichtigen. Ausgerechnet im fußballverrückten Brasilien stieß die FIFA- Gigantomanie jedoch erstmals auf massiven Protest. Im Jahr vor der WM gingen Millionen von Brasilianern auf die Straße, um gegen die FIFA und die eigene Regierung, gegen die Verschwen- dung von Ressourcen zugunsten der WM und zulasten von Schulen, Krankenhäusern und Infrastruktur zu demonstrieren. Auch ehemalige (Romário) und noch aktive () National- spieler solidarisierten sich. Romário: »Ich bin nicht gegen die WM. Aber ich bin gegen die unmäßigen Kosten des Turniers. Ich habe immer wieder gesagt, dass Brasilien eine Gelegenheit ver-

15 schwendet, ein besseres Land zu werden.« Sepp Blatter erklärte lapidar: »Fußball ist mehr wert als alle sozialen Querelen.« Und sein Generalsekretär Jérôme Valcke war froh, dass die nächste WM in Russland ausgetragen wurde: »Das mag jetzt ein wenig verrückt klingen, aber manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser. Wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, vielleicht wie Putin sie 2018 hat, ist es für uns Organisatoren leichter als in Ländern wie Deutsch- land, in denen es auf verschiedenen Ebenen verhandelt werden muss.« Der Sportphilosoph und Soziologe Gunter Gebauer glaubt, dass Olympische Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften nur noch »in Staaten mit autoritärer Führung« stattfinden können. Auch die Journalistin Nicole Selmer konstatiert einen wach- senden Widerspruch zwischen der FIFA-Gigantomanie und demokratisch verfassten Gesellschaften: »Ein Veranstaltungs - konzept, das auf immer neue Rekorde, immer mehr Ausgaben und immer weniger Beteiligung der Menschen setzt, wird zu Widerstand führen. Zumindest in demokratischen Staaten, deren Bevölkerung gewillt ist, ihre Rechte auf Versammlungs- und Mei- nungsfreiheit auszuüben.«

Hand in Hand mit Diktatoren und Autokraten

Die FIFA-Oberen lieben Länder, in denen starke Männer durch- regieren und dafür sorgen, dass die Organisation eines großen Turniers nichts zu wünschen übrig lässt. Auch wenn dabei Demo- kratie, soziale Rechte und Menschenleben auf der Strecke bleiben. Denn autokratische Regime garantieren zwei wesentliche Fak- toren: politische Durchsetzungskraft und hohe staatliche Inves- titionen. Länder wie Russland und Katar bekommen nicht den Zuschlag trotz demokratischer Defizite – sondern wegen dieser.

16 Autokraten lieben große Sportereignisse, sie betrachten sie als Teil der Systemkonkurrenz. Fußball-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele sollen die Überlegenheit und Dynamik autoritärer und nationalistischer Regime gegenüber den kraft- losen, komplizierten Demokratien beweisen. Dies war schon Mussolinis Motiv bei der Ausrichtung der WM 1934 in Italien – auch damals bestand das Turnier vor allem aus einem großen Bauprogramm. Autoritarismus und sportliche Mega-Events ver- tragen sich blendend. Manch deutscher Sporthistoriker bekommt noch heute feuchte Augen, wenn er über Olympia 1936 und den deutschen Sportführer Carl Diem redet. Für die FIFA und die Spitzen vieler nationaler Fußballverbände sind Diktatoren, Autokraten und »Korrumpels« kein Problem, son- dern Teil der »Familie«. Weltsportführer und Autokraten sind See- lenverwandte. Beide Seiten lieben das Gigantische, Monströse und schwelgen in Allmachtsfantasien. Weltsportführer gerieren sich häufig als bessere Politiker und eigentliche Herrscher der Welt. João Havelange und Sepp Blatter spekulierten gar auf den Frie- densnobelpreis. Blatters Traum von einer totalen, globalen Kon- trolle des Fußballspiels durch die FIFA gebar in seiner Schweizer Heimat einen Witz: »Was ist der Unterschied zwischen Gott und Sepp Blatter? Gott behauptet nicht, dass er Sepp Blatter wäre.« Diktatoren, Autokraten und »Korrumpels« üben im Welt- fußball einen starken Einfluss aus. Diktatoren und Autokraten haben schon immer versucht, Spieler und Mannschaften zu ins- trumentalisieren. Demokraten ebenfalls, wenngleich weniger augenfällig, aufdringlich und erfolgreich. Parallel zum scheinbar ungebremsten Fußball-Boom lässt sich bereits seit vielen Jahren eine starke Politisierung des Spiels beobachten, die im Vorfeld der WM 2018 in Russland einen neuen Höhepunkt erreichte. Politiker, darunter auch viele zwielichtige Gestalten, suchen intensiv die Nähe zum Spiel und seinen Helden. Keine Gelegenheit wird aus- gelassen, um ein Foto mit einem Star zu organisieren, nach Mög- lichkeit inklusive Trikotübergabe. Fußballer haben offensichtlich große Mühe, sich dieser Instrumentalisierung zu entziehen. Sei

17 es, weil sie die Diktatoren, Autokraten und »Korrumpels« nur als Freunde und Förderer des Spiels sehen; sei es, weil die Politik für sie ein komplett fremdes Feld ist, das sie nicht zu beurteilen wissen. Bei vielen Spielern trifft wahrscheinlich beides zu. Pressefreiheit und demokratische Grundrechte sind für die FIFA-Spitze genauso wenig ein Thema wie für die Putins, Erdo- gans, Orbáns und Co. Während der WM 2018 hatte das ägyp- tische Team sein Quartier im Lande des Tyrannen Ramsan Achmatowitsch Kadyrow aufgeschlagen, dem Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Kadyrow werden schwerste Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen. Bei der Folterung von Oppositionellen wirkt er gerne höchstpersön- lich mit. Die russische Bürgerrechtlerin Swetlana Gannuschkina kritisierte die FIFA: »Die FIFA hätte das nicht zulassen dürfen, dass eine Mannschaft in der Tschetschenischen Republik ihren Trainingsstützpunkt haben kann. Das hätte auf keinen Fall pas- sieren dürfen.« Aus der FIFA-Zentrale in Zürich hieß es lapidar, der ägyptische Verband sei für die Wahl des Quartiers verant- wortlich. Da wurden dann wieder einmal die eigenen Verband- statuten ignoriert: »Die FIFA bekennt sich zur Einhaltung aller international anerkannten Menschenrechte und setzt sich für den Schutz dieser Rechte ein.« Wenzel Michalski von der Men- schenrechtsorganisation Human Rights Watch: »Die Moral, die dort auf dem Papier steht, die findet sich in der Realität nicht wieder. Das heißt, es ist eigentlich schon ein verlogenes und geheucheltes Verhalten, wenn ich ausgerechnet an diesem Ort (…) ja, ein Trainingslager aufbaue und damit diesen Ort und sein politisches Tun, die Zwangsherrschaft, legitimiere.« Die Journalistin Nicole Selmer ist der Meinung, dass sich seit dem Abdanken von Sepp Blatter im Februar 2016 einige Dinge zum Positiven verändert haben. Neue Gremien wie der FIFA-Rat seien geschaffen, Posten anders besetzt worden, zudem gebe es nun mehr Transparenz, was die Vergabekriterien für WM-Tur- niere betrifft. Aber es bleibt, so Selmer, ein großer Makel an der FIFA haften: »Das zentrale Problem ist sie nie angegangen. Denn

18 die Bestechungen, Lügen und Skandale in der Geschichte des Weltverbands liegen in seiner Machtfülle begründet. Die FIFA entscheidet quasi alleine über Turniervergaben, Werbedeals, Sperren von Verbänden und Spielern, und solange sie dieses Entscheidungsmonopol hat, wird sie anfällig für Korruption und resistent gegen Demokratisierung bleiben. Der einzige Weg, die FIFA zu verändern, besteht darin, ihr die Macht zu nehmen.«

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Das FIFA- Schmuddelkabinett DIESEN MÄNNERN HABEN WIR DIE WM IN KATAR ZU VERDANKEN

Am 2. Dezember 2010 entschieden in Zürich 22 Männer über die Vergabe der WM-Turniere 2018 und 2022. Tatsächlich nur 22? Denn eigentlich bestand das bis 2016 existierende FIFA-Exeku- tivkomitee aus 24 Mitgliedern: dem Präsidenten, acht Vizepräsi- denten und 15 weiteren Mitgliedern, die vom Kongress des jewei- ligen Kontinentalverbandes gewählt und vom FIFA-Kongress eingesetzt worden waren. Zum Zeitpunkt der Entscheidung im Dezember 2010 waren allerdings nur noch 22 Funktionäre an Bord. Amos Adamu (Nigeria) und Reynald Temarii (Tahiti) durften nicht abstimmen, da sie bei dem Versuch erwischt worden waren, ihre Stimmen zu verkaufen. Eigentlich ein völlig normaler Vorgang. Auch bei den Vergaben der WM-Turniere 2002, 2006 und 2010 waren Funktionärsstimmen gekauft worden. Bei der Wahl des FIFA- Präsidenten sowieso. Es war auch nicht die FIFA, die Adamu und Temarii auf die Schliche gekommen war und sie an den Pranger gestellt hatte. Überführt worden waren die beiden Funktionäre von Undercover-Journalisten der britischen Sunday Times. FIFA- Boss Sepp Blatter war empört – nicht über seine beiden Korrum- pels, sondern über die hinterfotzigen Fallensteller von der Presse. Verglichen mit einigen anderen Mitgliedern des Schmuddel- kabinetts waren Adamu und Temarii jedoch eher kleine Fische.

20 Die meisten anderen Mitglieder des Exekutivkomitees waren nicht weniger käuflich. De facto war es eine kriminelle Vereini- gung, die die Turniere an Russland und Katar vergab. Allein schon deshalb hätte man beiden Ländern die WM entziehen und eine neue Entscheidung herbeiführen müssen. Seit 2016 existiert das FIFA-Exekutivkomitee nicht mehr, es ist abgeschafft und durch einen 37-köpfigen FIFA-Rat ersetzt worden, bestehend aus dem Präsidenten, acht Vizepräsidenten und 28 einfachen Mitgliedern. Heute sitzt mit dem Ägypter Hany Abo Rida nur noch einer der 22 Entscheider von 2010 in dem neuen Gremium. Die Männer, die über die Vergabe der WM-Tur- niere von 2018 und 2022 entschieden haben, sind diese:

Jacques Anouma (Elfenbeinküste) Der Ivorerer saß von 2007 bis 2015 im FIFA-Exekutivkomitee. Anouma soll für seine Stimme pro Katar 1,5 Millionen US-Dollar kassiert haben.

Franz Beckenbauer (Deutschland) Einer Behauptung Sepp Blatters zufolge hat der »Kaiser« vor der Entscheidung über die WM-Turniere 2018 und 2022 bei den Australiern abkassiert, die sich als Gastgeber für das Jahr 2022 beworben hatten und von Beckenbauers Vertrautem Fedor Rad- mann beraten wurden. In der ersten Runde der Abstimmung für die WM-Endrunde 2022 erhielt Australien eine Stimme. Am 13. Juni 2014 wurde Beckenbauer von der FIFA-Ethikkommis- sion provisorisch für 90 Tage gesperrt, weil er Fragen des Vor- sitzenden der Untersuchungskammer, Michael J. Garcia, zur Ver- gabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 nicht beantworten wollte. Als er schließlich doch dazu bereit war, wurde die Sperre am 27. Juni 2014 wieder aufgehoben. Im Februar 2016 wurde Beckenbauer wegen des Verstoßes gegen das FIFA-Ethikregle- ment von der FIFA-Ethikkommission verwarnt und mit einer Geldstrafe in Höhe von 7.000 Schweizer Franken belegt. Becken- bauers Verstrickung in den Kauf des »Sommermärchens« – also

21 der WM-Endrunde 2006 in Deutschland – lässt sich in Zusam- menhang mit Mohamed bin Hammam erläutern.

Mohamed bin Hammam (Katar) Im Jahr 2000 überwiesen Franz Beckenbauer und sein Manager Robert Schwan 6,7 Millionen Euro an das katarische Mitglied im FIFA-Exekutivkomitee, bin Hammam, der dieses Geld dann wei- terverteilte. Vermutlich ging es um den Kauf von Stimmen für Deutschlands WM-Bewerbung. Bin Hammam kann sich an den Verwendungszweck nicht erinnern. Auf die Frage eines Jour- nalisten, ob er denn wisse, wofür er das Geld aus Deutschland bekommen habe, antwortete Bin Hammam: »Ich weiß es nicht. Nein, natürlich weiß ich es. Aber entschuldigen Sie – das inter- essiert doch nur Sie, keine anderen.« Die FIFA-Ethikkommission vermied es, ihn zu befragen. Begründung: Er sei 2012 für alle Fuß- balltätigkeiten gesperrt worden und unterstehe somit nicht mehr der FIFA-Gerichtsbarkeit. Der Journalist Thomas Kistner ver- mutet, dass der Weltverband den Unternehmer und Funktionär aus Katar mit Rücksicht auf das Austragungsland der WM 2022 geschont habe: »Die Behauptung erstaunt schon deshalb, weil die FIFA-Ethiker selbst bin Hammam in ihrem Untersuchungsreport als ›Haupttäter‹ bezeichnen. Weshalb soll ein Haupttäter, der zudem Schlüsselzeuge in der WM-2006-Affäre ist, nicht befragt werden dürfen – was hat eine Sperre, die er wegen einer ganz anderen Bestechungsaktion 2011 erhalten hatte, damit zu tun?«

Josef »Sepp« Blatter (Schweiz) Von 1998 bis 2016 Präsident der FIFA. Seine Wahl 1998 verdankte er u. a. dem Kauf von afrikanischen Stimmen. Der englische Ent- hüllungsautor David Yallop sprach von 22 Stimmen, die sich der Schweizer für je 50.000 US-Dollar gesichert habe. Auch bei seiner Wiederwahl 2002 soll Geld geflossen sein. Blatters Wahlkämpfe wurden vom Emir von Katar unterstützt, der ihm einen Privatjet zur Verfügung stellte. Des Weiteren leistete Katar sogenannte Ent- wicklungshilfe, vornehmlich in Afrika und Asien, wo für Blatter die

22 meisten Stimmen zu holen waren. Der FIFA-Boss avancierte zur per- sonifizierten Korruption im Weltfußball schlechthin, bis es einigen Großsponsoren im Jahr 2015 dann doch zu bunt wurde. Als die Schweizer Bundesanwaltschaft gegen Blatter wegen des Verdachts der ungetreuen Geschäftsbesorgung und möglichen Veruntreuung ein Strafverfahren eröffnete, forderten Coca-Cola, McDonald‘s, Bud- weiser und Visa seinen Rücktritt, der Sportartikelhersteller Adidas beteiligte sich nicht an der Forderung. Blatter hatte zeitweise auf der Lohnliste des Konzerns gestanden und war dessen Mann in der FIFA. Während mit Gazprom ein weiterer Großsponsor zu den Vorfällen schwieg, verzichtete der südkoreanische Autohersteller und FIFA-Partner Hyundai gar auf eine Rücktrittsforderung gegen Blatter. Aus guten Gründen. Man war ja Teil und Mitfinanzier eines offensichtlich korrupten Systems. Am 21. Dezember 2015 sperrte die Ethikkommission der FIFA Blatter für acht Jahre für alle mit dem Fußball verbundenen Tätigkeiten. Am 24. Februar 2016 wurde die Sperre von acht auf sechs Jahre reduziert.

Charles Gordon »Chuck« Blazer (USA) Der New Yorker war von 1990 bis 2011 Generalsekretär des Kontinentalverbandes Confederation of North, Central America and Caribbean (CONCACAF). Dem FIFA- Exekutivkomitee gehörte er zwischen 1996 und 2013 an. Sein Spitzname war »Mister zehn Prozent« – weil er bei jedem Deal, den er für die CONCACAF abschloss, zehn Prozent für die eigene Tasche abschöpfte. 2011 wurde Blazer wegen Steuerbetrugs verhaftet. In der Folge erklärte sich Blazer bereit, Informationen an das Federal Bureau of Investigation (FBI) und an die US- amerikanische Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) weiterzureichen. Er schwärzte seine FIFA-Kollegen Mohamed bin Hammam (damals Präsident der Asian Football Confedera- tion/AFC) und Jack Warner (damals FIFA-Vize) an und gestand, gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Exekutivkomitees von den WM-Bewerbern Marokko (WM 1998) und Südafrika (WM 2010) Schmiergelder kassiert zu haben. Bei den Bewerbungsver-

23 fahren für die WM-Turniere 2018 und 2022 schnitt er vertrau- liche Gespräche mit. Auf Blazers Informantentätigkeit ist auch zurückzuführen, dass am 27. Mai 2015 eine Reihe von FIFA-Offi- ziellen in Zürich verhaftet wurde. Im Juli 2015 wurde Blazer von der Ethikkommission der FIFA lebenslang gesperrt. Der 2017 verstorbene Funktionär residierte im New Yorker Trump Tower, wo er für seine etlichen Hauskatzen ein eigenes Apartment für monatlich 6.000 US-Dollar angemietet hatte.

Michel D’Hooghe (Belgien) Der Arzt gehörte dem FIFA-Exekutivkomitee seit 1989 an, von 1987 bis 2001 war er Präsident des belgischen Fußballverbandes. Gegen D‘Hooghe wurde wegen möglicher Verstöße in Zusam- menhang mit den WM-Vergaben 2018 und 2022 ermittelt. Er hatte von einem Berater des russischen Bewerbungskomitees Monate vor der entscheidenden Abstimmung ein wertvolles Gemälde geschenkt bekommen. Außerdem soll er dem Sohn eines engen Freundes beim Abschluss von Geschäften in Katar geholfen haben. Die Ethikkommission der FIFA sah aber »keine ausreichenden Beweise« für Verstöße hinsichtlich der WM-Ver- gaben 2018 und 2022. D‘Hooghe schied 2017 aus dem FIFA-Rat aus. Heute steht er dem medizinischen Komitee der FIFA vor.

Julio Grondona (Argentinien) Der im Jahr 2014 verstorbene Argentinier trug den Spitznamen »der Pate«. 1979 wurde Grondona als Günstling der damals regierenden Militärjunta Chef des argentinischen Fußballver- bandes und verblieb in diesem Amt bis zu einem Tod; seit 1988 gehörte er überdies dem Exekutivkomitee der FIFA an. Als Sepp Blatter 1998 zum Präsidenten der FIFA gekürt wurde, machte er Grondona zum Chef der Finanz- und der TV/Marketing-Kommis- sion des Weltverbandes. Grondona avancierte zu einem der wich- tigsten Strippenzieher Blatters, für seine Stimme pro Katar soll er 800.000 Euro kassiert haben. Zuvor war er bereits in dubiose Geldflüsse aus Südafrika, dem Austragungsland der WM 2010,

24 verwickelt gewesen. Seit 2011 wurde gegen Grondona in Argen- tinien wegen des Verdachts der Korruption, Geldwäsche und Steuerhinterziehung in einem hohen zweistelligen Millionenbe- reich ermittelt. Seine Stimme pro Katar begründete Grondona wie folgt: »Ja, ich habe für Katar gestimmt, weil eine Stimme für die USA (Mitbewerber für die WM 2018, Anm. d. A.) wie eine Stimme für England wäre und das ist nicht möglich. (…) Zur englischen Bewerbung (für die WM 2018, Anm. d. A.) sagte ich: ›Fassen wir’s kurz. Wenn ihr uns die Falkland-Inseln zurückgebt, dann kriegt ihr meine Stimme.‹ Sie wurden traurig und gingen.«

Issa Hayatou (Kamerun) Der Kameruner stand der Conféderation Africaine de Football (CAF), dem afrikanischen Kontinentalverband, von 1988 bis zu seiner Abwahl im Jahr 2017 als Präsident vor. Zudem war Hayatou zwischen 1990 und 2016 Mitglied des FIFA-Exekutiv- komitees. Vom Oktober 2015 bis Februar 2016 agierte er für den gesperrten Sepp Blatter interimsweise als FIFA-Präsident. 2017 schied er aus dem FIFA-Rat aus, der Nachfolgeorganisation des FIFA-Exekutivkomitees. Hayatou konnte sich lange in seinen diversen Ämtern halten, obwohl ihm die Sunday Times bereits im Jahr 2011 vorgehalten hatte, zusammen mit dem Ivorer Jacques Anouma und gegen eine Zahlung von 1,5 Millionen Dollar für Katar als Ausrichter der WM 2022 gestimmt zu haben. Zudem gehörte Hayatou zu den Empfängern von Schmiergeldern der von Adidas-Gründer Horst Dassler aus der Taufe gehobenen Ver- marktungsagentur International Sports and Leisure (ISL): Im November 2018 wurde er für den widerrechtlichen Verkauf von TV-Rechten zu einer Geldstrafe von 25 Millionen Euro verurteilt. Hayatous Amtsnachfolger als CAF-Präsident, Ahmad Ahmad aus Madagaskar, distanzierte sich scharf von seinem Vorgänger: »Ich bin kein Präsident, der persönliche Interessen verfolgt. Der afrika- nische Fußball darf nicht von Banditen verwaltet werden.« Dazu muss man wissen, dass Ahmad sich seinen Wahlkampf maßgeb- lich vom korrupten Multimillionär Phillip Chiyangwa finanzieren

25 ließ, einem Neffen von Simbabwes langjährigem Staatsober- haupt Robert Mugabe, einem der größten Menschenfeinde auf dem Globus. Als Chef des Fußballverbands von Zimbabwe wirt- schaftete Chiyangwa in die eigene Tasche, u. a. veruntreute er die Gehälter des nationalen Trainerstabs. Der Verband Zimbabwes belegte Phillip Chiyangwa im Jahr 2019 mit einer lebenslangen Sperre, weil er den Fußball des Landes in Misskredit gebracht habe.

Marios Lefkaritis (Zypern) Lefkaritis gehörte dem FIFA-Exekutivkomitee von 1996 bis 2017 an und ist Ehrenpräsident des zypriotischen Fußballver- bandes. Das im Besitz der Familie befindliche Rohstoffunter- nehmen Petrolina, zu dessen Vorständen neben anderen Fami- lienmitgliedern auch Marios Lefkaritis zählt, gilt als einer der wichtigsten Handelspartner Katars mit Flüssiggas. Kurz vor der Entscheidung über die Vergabe der WM-Turniere 2018 und 2022 erhöhte sich der Umfang der Geschäfte zwischen dem in Larnaka ansässigen Unternehmen und Katar. Bereits im Jahr 2011 hatte der katarische Staatsfonds Qatar Investment Authority (QIA) sieben Hektar auf einer Landzunge bei Larnaka erworben. Das Grundstück soll der Familie Lefkaritis gehört haben.

Nicolás Leoz (Paraguay) Der 2019 verstorbene Leoz war Träger des FIFA-Verdienstor- dens und einer der größten Strippenzieher im Fußball-Weltver- band. Wann immer von Korruption bei der FIFA die Rede war, fiel sein Name. Leoz war 27 Jahre lang Präsident des südamerikani- schen Verbandes Confederación Sudamericana de Fútbol (CON- MEBOL) und gehörte von 1998 bis 2013 dem FIFA-Exekutiv- komitee an. Er war einer von 14 FIFA-Männern, die in den USA wegen Erpressung, Geldwäsche und Betrug angeklagt wurden. Die letzten vier Jahre seines Lebens stand Leoz in seiner Heimat unter Hausarrest, nachdem die US-Justizbehörden seine Aus- lieferung beantragt hatten, der sich der Funktionär aber mit Verweis auf seine schlechte gesundheitliche Verfassung erfolg-

26 reich hatte entziehen können. Leoz hatte Anschuldigungen stets bestritten, nach denen er im Rahmen der Vergabe von Übertra- gungsrechten der Copa América mehrere Millionen Dollar vom Vermarktungsunternehmen ISL kassiert haben soll.

Worawi Makudi (Thailand) Der Vertraute des korrupten katarischen Fußballfunktionärs Mohamed bin Hammam war Generalsekretär und ab 2007 Prä- sident des thailändischen Fußballverbandes. Er saß von 1997 bis 2015 im FIFA-Exekutivkomitee, wo er seinen Beitrag zum Zustan- dekommen des deutschen »Sommermärchens« leistete. Kurz vor der Abstimmung über die Vergabe der WM 2006 hatte die zum Imperium des deutschen Fernseh-Rechtehändlers Leo Kirch zäh- lende Vermarktungsagentur CWL, deren Geschäftsführer der deutsche WM-Botschafter Günter Netzer war, Makudi einen statt- lichen Betrag überwiesen. Daraufhin stimmte der Thai für Deutsch- land. Zudem stand der Vorwurf im Raum, dass Makudi sich bei der Übertragung von Grundstücken an den thailändischen Fuß- ballverband mit Geldern aus dem FIFA-Entwicklungsprogramm GOAL bereichert habe; in der Amtszeit des FIFA-Präsidenten Sepp Blatter dienten die Entwicklungsprogramme des Weltverbands wiederholt der Verteilung und Verschleierung von Bestechungs- geldern. Trotz erdrückender Beweise hielt FIFA-Boss Sepp Blatter seine schützenden Hände über ihn. 2016 hatte die FIFA-Ethik- kommission ein fünfjähriges Verbot für alle Fußballaktivitäten gegen Makudi verhängt, das 2018 seitens der FIFA auf dreieinhalb Jahre verkürzt wurde. Im Jahr 2019 schließlich hob der Internatio- nale Sportgerichtshof CAS die Sperre gegen Makudi vollständig auf, nachdem der Funktionär weitere Zeugen und Details zu seiner Entlastung benennen konnte. Die gegen ihn verhängte Geldstrafe wurde von 10.000 auf 5.000 Schweizer Franken reduziert.

Chung Mong-joon (Südkorea) Der Sohn des Hyundai-Gründers Chung Ju-yung gilt als einer der reichsten Männer Südkoreas, dem FIFA-Exekutivkomitee

27 gehörte er von 1994 bis 2011 an. Außerdem war Chung Vize- präsident des Weltverbands und stand im Jahr 2015 bereit, Sepp Blatter zu beerben. Allerdings stand der Südkoreaner zu diesem Zeitpunkt bereits unter Beobachtung der FIFA-Ethikkommis- sion. Chung hatte seinen Kollegen im FIFA-Exekutivkomitee 2010 die Gründung eines »Global Football Fund« vorgeschlagen, den er mit einer »Spende« von 777 Millionen US-Dollar für den Fall unterstützen werde, dass Südkorea den Zuschlag für die WM 2022 erhalte. Hans-Joachim Eckert, der deutsche Vorsitzende der Ethikkommission, wertete dies als Versuch, die Mitglieder des Exekutivkomitees zu beeinflussen. Im Oktober 2015 sperrte die Ethikkommission Chung wegen Verstoßes gegen Artikel 4 des FIFA-Ethikkodex für sechs Jahre von allen fußballbezogenen Tätigkeiten. Außerdem musste der Milliardär eine Geldbuße von 100.000 Franken zahlen.

Witali Mutko (Russland) Der Russe stammt aus Putins Sankt Petersburger Clique, er begann seine politische Karriere in der dortigen Stadtverwal- tung. Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees war er zwischen 2009 und 2017. Von 2008 bis 2016 bekleidete Mutko das Amt des russischen Sportministers und galt in dieser Zeit als Kopf des systematischen Staatsdopings. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) sperrte Mutko, inzwischen einer der Vize-Minis- terpräsidenten Russlands, 2017 lebenslänglich für die Olym- pischen Spiele. Im Juli 2019 wurde die Sperre vom internatio- nalen Sportgerichtshof CAS aufgehoben. Begründung: Das IOC habe kein Recht, Mutko zu bestrafen, weil dieser weder Athlet, Trainer noch Mitglied einer Spiele-Delegation war – und »weder den Regeln noch der Gerichtsbarkeit des IOC unterliegt«. Für die renommierte Stiftung Fair Sport war das Urteil »eine absolute Farce, eine Verhöhnung der Gerechtigkeit«. Im Dezember 2017 legte Mutko die Führung des russischen Fußballverbands bis zur WM 2018 nieder – wohl als Folge der Dopingvorwürfe. Anschlie- ßend gab er auch den Posten des Organisationschefs für das

28 Turnier in Russland auf – allerdings nur formal. Wenig später erklärte Alexander Djukow, offiziell sein Nachfolger: »Mutko ist unser Präsident. Er war nie weg.« Djukow war Vorstandschef von Gazprom Neft, der Ölsparte des Energieriesen. Seit 2019 ist er tatsächlich Präsident des russischen Fußballverbands.

Michel Platini (Frankreich) Der ehemalige französische Weltklassespieler saß von 2002 bis 2015 im Exekutivkomitee der FIFA. Zuvor hatte Platini FIFA- Boss Sepp Blatter von Januar 1999 bis Juni 2002 als Berater gedient und dafür ein Honorar von zwei Millionen Schweizer Franken kassiert. Allerdings ging diese Summe erst im Februar 2011 auf seinem Konto ein. 2007 bis 2016 war Platini Präsident der europäischen Kontinentalverbandes UEFA. Gewählt wurde er mithilfe der kleineren Verbände (hauptsächlich aus Osteuropa) und wegen seines Versprechens, die EM-Endrunde auf 24 Teil- nehmer auszuweiten. Einige Wochen nach Platinis Wahl wurde die EM 2012 an die Ukraine und Polen vergeben. Bei der Wahl für die WM-Austragungsorte 2018 und 2022 votierte Platini für Russland und Katar. Von den Russen gab es dafür ein Picasso- Gemälde. Die Kataris honorierten das Votum des Franzosen mit einem lukrativen Managerjob für dessen Sohn Laurent, der zum Europa-Chef von Qatar Sport Investments ernannt wurde. Als Platini im Jahr 2015 die Nachfolge von Sepp Blatter als Präsi- dent der FIFA anstrebte, schob die Ethikkommission des Welt- verbandes diesem Ansinnen einen Riegel vor. Weil die Schwei- zerische Bundesanwaltschaft Korruptionsermittlungen gegen Platini aufgenommen hatte, sperrte ihn die FIFA am 8. Oktober 2015 für 90 Tage für alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit Fußball. Nach Auffassung der Kommission hatte Blatters ein- gangs bereits erwähnte Zahlung an Platini nichts mit einer neun Jahre zurückliegenden Beratertätigkeit zu tun, wohl aber mit der im Jahr 2011 anstehenden Wahl des FIFA-Präsidenten, bei der Platini die Kandidatur des Schweizers unterstützt und sich dies augenscheinlich hatte honorieren lassen; obendrauf soll sich

29 Platini versichert haben lassen, dass er Blatter nach dessen vier- jähriger Amtszeit 2015 beerben werde. Am 21. Dezember 2015 sperrte die Ethikkommission Platini schließlich für acht Jahre und erlegte ihm eine Geldstrafe in Höhe von 80.000 Schweizer Franken auf. Am 19. Juni 2019 wurde Platini wegen des Ver- dachts der »aktiven und passiven Korruption« in Zusammen- hang mit der Vergabe der WM 2022 an Katar in Frankreich in Polizeigewahrsam genommen und verhört, aber bereits in der darauffolgenden Nacht wieder entlassen.

Hany Abo Riad (Ägypten) Der Ägypter, ein Verbündeter des katarischen Funktionärs Mohamed bin Hammam, wurde verdächtigt, für seine Stimme pro Katar Geld genommen zu haben, bestreitet dies aber. Er begleitete bin Hammam zu einer Versammlung des karibischen Fußballverbands, auf der dieser und Jack Warner versuchten, Stimmen für die Wahl bin Hammams zum FIFA-Präsidenten zu kaufen. Von 2009 bis zu seiner Auflösung 2016 Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees, seither im FIFA-Rat.

Rafael Salguero (Guatemala) Der Rechtsanwalt war von 1976 bis 1990 Präsident des guate- maltekischen Fußballverbands. Dem Exekutivkomitee der FIFA gehörte er von 2007 bis 2015 an. 2016 wurde Salguero in den USA verhaftet, der Korruption angeklagt und unter Hausarrest gestellt. Laut US-Justizministerium hatte er für seine Stimme zur Wahl Russlands als Austragungsort der WM 2018 eine Mil- lion Dollar kassiert. 2019 wurde er verurteilt. Seine Strafe galt durch den zweijährigen Hausarrest als abgesessen.

Ricardo Teixeira (Brasilien) Der Brasilianer war vor seinem Einstieg in den Fußball ein »ver- krachter Finanzjongleur« (Thomas Kistner, Süddeutsche Zei- tung). In den Fußball heiratete er sich ein: 1967 ehelichte Tei- xeira Lúcia Havelange, die Tochter des späteren FIFA-Bosses

30 João Havelange. Mit Schwiegervaters Hilfe wurde Teixeira 1989 Präsident des brasilianischen Fußballverbandes CBF und blieb dies bis 2012. Dem FIFA-Exekutivkomitee gehörte er von 1994 bis 2012 an. Thomas Kistner kürte den Brasilianer »zur größten Skandalfigur des nationalen Sports«. Die Vorwürfe reichten von Vetternwirtschaft über Spesenbetrug, unverzollte Einfuhren, Geldwäsche bis zur Steuerhinterziehung. Dass Tei- xeira gemeinsam mit seinem Schwiegervater Havelange von der Sportmarketingagentur International Sport and Leisure (ISL) Schmiergeldzahlungen in Höhe von insgesamt 21,9 Millionen Schweizer Franken erhalten hat, ist gerichtsfest belegt. Teixeira ist auch Architekt des fragwürdigen Ausrüstervertrags des US- amerikanischen Sportartikelherstellers Nike mit dem brasi- lianischen Fußballverband. Dank dieses Ende der 1990er-Jahre zustande gekommenen Vertrags durfte Nike zu einem großen Teil bestimmen, wo, gegen wen und mit welchen Spielern die Nati- onalmannschaft auflief. Dafür flossen insgesamt 326 Millionen US-Dollar an den CBF, von denen einige wiederum in Teixeiras Tasche wanderten. Teixeira war zunächst auch Chef des Organi- sationskomitees für die WM 2014 in Brasilien. Mit der CBF han- delte er einen Vertrag aus, der ihn mit 50 Prozent an den Gewinnen des Turniers beteiligte. Einen möglichen Verlust musste der Ver- band zu 99,99 Prozent tragen. In Trump’scher Manier prahlte Tei- xeira, er könne »jede Untat begehen, die ich will«. Als Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees soll er auch für seine Stimme pro Katar Geld erhalten haben. In Brasilien stand Teixeira wiederholt im Zentrum parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. 2001 charakterisierte ein Untersuchungsbericht von Parlament und Senat Teixeiras CBF als »kriminellen Ort, wo Anarchie, Inkom- petenz und Verlogenheit herrschen«. 536 der 1.129 Seiten wid- meten sich dem Kopf des mafiösen Unternehmens. Zu Teixeiras Gegenspielern gehörten auch Brasiliens Fußballlegende Pelé und Romário. Nachdem Pelé Teixeira 1993 öffentlich der Korruption beschuldigt hatte, lud João Havelange den 1970er-Weltmeister von der Auslosung der WM-Endrunde 1994 aus. Romário, der für

31 die sozialistische Partei im Parlament von Brasilia saß, kritisierte die unmäßigen Kosten für das Turnier 2014, und als Profiteur Tei- xeira 2012 von seinen Ämtern als Fußballfunktionär zurücktrat, jubelte Rómario: »Heute können wir feiern. Wir haben einen Krebs des brasilianischen Fußballs ausgerottet.« Ricardo Teixeira flüch- tete vor weiteren Ermittlungen nach Miami, wo er sich im noblen Sunset Beach Resort für siebeneinhalb Millionen US-Dollar eine Villa mit acht Schlafzimmern und sieben Bädern gekauft hatte.

Jérôme Valcke (Frankreich) Zwar war der frühere Journalist an den Abstimmungen über die WM-Turniere nicht beteiligt, verdient hier aber trotzdem einige Zeilen. Denn der Franzose war von 2007 bis 2016 Generalse- kretär der FIFA. In seine Amtszeit fällt somit die Entscheidung pro Katar. Valcke war zunächst FIFA-Direktor für Marketing & TV. In dieser Funktion soll er trotz eines bestehenden Vertrages zwischen der FIFA und dem langjährigen Partner Mastercard Sponsorenverhandlungen mit dessen Konkurrent Visa geführt und damit das Erstverhandlungsrecht von Mastercard verletzt haben. Ein New Yorker Gericht verurteilte den Weltverband daraufhin zu einer Strafzahlung in Höhe von 90 Millionen US- Dollar. Die FIFA trennte sich von Valcke, aber Verbandspräsident Sepp Blatter sorgte dafür, dass der Franzose nur ein halbes Jahr später zurück in der Familie war. Nun sogar als Generalsekretär. Im September 2015 entband die FIFA Valcke »mit sofortiger Wir- kung bis auf Weiteres« von all seinen Aufgaben. Valcke hatte im Vorfeld der WM 2014 in Brasilien einen Ticket-Schwarzmarkt mit- organisiert. Die US-Justizbehörden warfen ihm darüber hinaus die Weiterleitung von illegalen Zahlungen im Zusammenhang mit der WM 2010 vor. Und schließlich wurde ihm vorgehalten, dass er vor Zeugen noch vor der Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 an Katar gesagt habe, dass das Land den Zuschlag erhalten werde. Den Weltverband hatte Valcke in seiner Amtszeit um schlappe 11,7 Mil- lionen US-Dollar für Privatflüge und Luxusreisen erleichtert.

32 Ángel María Villar Llona (Spanien) Der ehemalige Mittelfeldspieler von Athletic Bilbao und der spa- nischen Nationalelf stand drei Jahrzehnte dem spanischen Fuß- ballverband Real Federación Española de Fútbol (RFEF) vor. Dem Exekutivkomitee der UEFA gehörte er ab 1992 an, dem der FIFA ab 1998. Überdies leitete Villar Llona viele Jahre die Justiz- und die Schiedsrichter-Kommission der FIFA. 2015 verhängte die FIFA-Ethikkommission eine Verwarnung und Geldstrafe gegen den Spanier, nachdem sich dieser zunächst geweigert hatte, gegenüber den damaligen FIFA-Ermittlern um Michael Garcia zu den umstrittenen Vergaben der WM 2018 und 2022 auszusagen. 2017 wurde Villar Llona in Spanien bei einem Antikorruptions- einsatz festgenommen. Ihm wurden u. a. Korruption, Fälschung und Unterschlagung vorgeworfen. Zu diesem Zeitpunkt war der Freund und Unterstützer des neuen FIFA-Präsidenten Gianni Infantino Vizepräsident sowohl der UEFA als auch der FIFA und neben dem Ägypter Hany Abo Rida im neuen FIFA-Rat das ein- zige verbliebene Mitglied der ehemaligen FIFA-Exekutive, das an der Abstimmung über die Turniere 2018 und 2022 beteiligt gewesen war. Die RFEF suspendierte ihn. Wenig später trat Villar Llona von seinen Posten bei der FIFA und UEFA zurück.

Jack Warner (Trinidad und Tobago) Der Geschäftsmann war bis 2011 Präsident der Caribbean Foot- ball Union (CFU) und der CONCACAF sowie Vize-Präsident der FIFA. Im März 2014 berichtete die britische Tageszeitung Daily Telegraph, dass auf Jack Warners Konto wenige Tage nach der Wahl Katars knapp 1,5 Millionen Euro eingegangen seien – über- wiesen von einer Firma des korrupten katarischen Fußballfunk- tionärs Mohamed bin Hammam. Dabei ging es um Warners Rolle bei der Vergabe der WM-Turniere 2018 und 2022. Die Ethik- kommission war der Ansicht, dass Warner »ein Drahtzieher von Systemen, die die Gewährung, Annahme und den Empfang ver- deckter und illegaler Zahlungen beinhalteten, sowie anderer Sys- teme zur Bereicherung« gewesen sei. Im Juli 2019 wurde Warner

33 von einem New Yorker Bundesrichter wegen der Annahme von Schmiergeldern in Zusammenhang mit der Vergabe von TV- Rechten zu einer Strafe von 79 Millionen US-Dollar verurteilt. Warner hatte zuvor bereits von seiner Abstimmung für den 2006er-WM-Austragungsort Deutschland profitiert: Der DFB finanzierte Warner die Restaurierung einer Kirchenorgel in seiner Heimat mit 20.000 US-Dollar, der Funktionärsgattin wurden Kniestrümpfe und manches andere geschenkt. Vor der WM 2006 soll Warner sich in einem Umfang von mindestens einer Million US-Dollar zudem am Wiederverkauf von WM-Tickets bereichert haben.

Bleiben noch Şenes Erzik (Türkei), Geoff Thompson (England) und Junya Ogura (Japan), von denen nichts oder wenig Anrü- chiges bekannt ist.

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Keine Freiheiten in Katar ZUR POLITISCHEN SITUATION IM LAND DES WM-GASTGEBERS

Am 4. Oktober 2020 nahmen die katarischen Behörden Mohammed al-Sulaiti fest, nachdem er regierungskritische Posts auf Twitter veröffentlicht hatte. Amnesty International berich- tete: »Vier Fahrzeuge ohne offizielle Kennzeichnung fuhren vor seinem Haus in Doha vor und Angehörige der Staatssicherheit in Zivil nahmen ihn mit, ohne sich auszuweisen. Katarische Bekannte von Mohammed al-Sulaiti bestätigten, dass gegen ihn keine Anzeigen oder ausstehende Haftbefehle vorlagen. Er befindet sich nun ohne Anklage in Haft.« Dies war bereits die zweite willkürliche Inhaftierung von al- Sulaiti. Schon 2018 war er auf der Durchreise zu einem Türkei- Urlaub auf dem Flughafen in Doha festgenommen worden, mögli- cherweise aufgrund einer privaten Denunziation. Damals musste er fünf Monate ohne Anklage in Haft verbringen. Anschließend wurde ohne rechtliche Grundlage ein unbefristetes Reiseverbot gegen ihn verhängt. Mohammed al-Sulaiti ist katarischer Staats- bürger, lebte jedoch seit 2015 in den USA, wohin er nun nicht mehr zurückkehren konnte. Über das Reiseverbot gegen ihn äußerte er sich kritisch in den sozialen Medien und bat andere katarische Staatsbürger*innen, ihre eigenen Erfahrungen mit den Behörden zu teilen. Daraufhin erfolgte die neuerliche Inhaf- tierung. Auf Nachfrage von Menschenrechtsorganisationen erklärten die Behörden, er werde wegen »Verbrechen gegen die nationale Sicherheit« festgehalten.

35 Der Fall beschreibt nur eine von vielen Menschenrechtsverlet- zungen, die sich in Katar ereignen. Stark eingeschränkt in dem Land sind die Meinungs- und Religionsfreiheit, das Recht auf freie sexuelle Orientierung, die Gleichberechtigung von Frauen oder auch das Koalitionsrecht von Arbeitnehmern. Bei der Ver- folgung von unliebsamen Personen geht Katar intransparent und brutal vor. Amnesty International hat »in den vergangenen Jahren immer wieder Berichte aus Katar über Folter oder anderen Formen der Misshandlung erhalten, mit deren Hilfe man Gefan- gene zu ›Geständnissen‹ oder zur Herausgabe von Informationen gezwungen hat«. Bei den Festnahmen träten oftmals Beamte in Zivil in Aktion, die sich nicht ausweisen. Einer offiziellen UN- Untersuchungsgruppe, die 2019 das Haftzentrum der Staats- sicherheit besichtigen wollte, wurde der Zutritt verwehrt. Keine guten Nachrichten aus einem Land, das für würdig befunden wurde, die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 auszurichten.

Demokratie?

Katar ist eine absolute Monarchie, Staatsoberhaupt ist der mit großer legislativer wie exekutiver Machtfülle ausgestattete Emir. Eine Gewaltenteilung existiert nicht, Parteien sind verboten, all- gemeine Wahlen gibt es bisher nur auf kommunaler Ebene. Wahl- berechtigt ist ohnehin nur eine kleine Minderheit: Von rund 2,7Mil- lionen Einwohner*innen sind nur knapp 300.000 katarische Staatsbürger*innen. Ausländer*innen wird in der Regel die Einbür- gerung verwehrt, sie erhalten weder ein dauerhaftes Aufenthalts- recht noch besitzen sie in Katar Wahlrecht. Der Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung bleibt ihnen ebenfalls verwehrt. Die Verfassung Katars sieht eine Beratende Versammlung vor, eine Art Parlament mit stark eingeschränkten Kontroll- und Mit- wirkungsrechten. Bisher wurden die Mitglieder dieser Versamm- lung stets vom Emir bestimmt. Nach einem Referendum aus dem Jahr 2003 sollten sie fortan zu zwei Dritteln gewählt und zu einem

36 Drittel ernannt werden. Erste Wahlen zur Beratenden Versamm- lung waren für 2007 angekündigt, wurden jedoch seitdem mehr- fach verschoben. Nach neuester Ankündigung sollen sie im Oktober 2021 stattfinden. Bis jetzt besteht das »Parlament« also weiterhin ausschließlich aus Mitgliedern, die vom Emir ernannt wurden, und ist daher ein »reines Abnickgremium«, wie die Heinrich-Böll-Stif- tung urteilt. Selbst nach Wahlen wäre ein Regieren gegen den Emir nahezu unmöglich, da wesentliche Entscheidungen mit Zwei- drittel-Mehrheit verabschiedet werden müssen. Da der Emir ein Drittel der Sitze benennt, besitzt er de facto eine Sperrminorität. In ihrem jährlich veröffentlichten »Freedom in the World Report« stufte die internationale Nichtregierungsorganisation Freedom House Länder auf einer Skala von 1 bis 7 ein. Wie im Jahr zuvor schon erhielt Katar 2020 die zweitschlechteste Bewer- tung, eine 6 (= »nicht frei«). Im aktuellen Demokratie-Index der britischen ZeitschriftThe Economist kommt Katar auf Platz 126 von 167 Ländern (»Spitzenreiter« ist Nordkorea) und wird als »autoritäres System« eingestuft.

Meinungs- und Pressefreiheit?

Offiziell ist die Pressezensur in Katar abgeschafft. Aufgrund der Willkür staatlicher Stellen gegen unliebsame Meinungen herrscht aber in den Medien eine starke Selbstzensur. Öffentliche Kritik am Emir und dem Herrscherhaus sind weiterhin verboten. Ausländi- sche Presseerzeugnisse unterliegen ohnehin der Zensur, ebenso die zugelassenen ausländischen Kabelsender. Der vom katarischen Herrscherhaus betriebene, in Arabien weit verbreitete TV-Sender Al-Jazeera betreibt nach Ansicht vieler Beobachter zunehmend eine tendenziöse Berichterstattung im Sinne des Emirats und zugunsten islamistischer Organisationen wie der Muslimbrüder. Laut »Reporter ohne Grenzen« lag Katar 2020 in der »Rang- liste der Pressefreiheit« auf Platz 129 (von 180), im Jahr 2008 war es immerhin noch auf Platz 74 zu finden, seither ging es

37 stetig bergab. Die Rückstufung erfolgte in einem Zeitraum, in dem das Land seine internationalen sportlichen Kontakte for- cierte und mehrere Sportereignisse durchführte, unter anderem die Box-WM 2015, die Handball-WM 2015, die Straßen- Radrenn-WM 2016, die Leichtathletik-WM 2019, die Fußball- Klub-WM 2019 und 2020. In diesen Jahren etablierte sich Katar auch als Winter-Trainingslager für hochkarätige Profiklubs wie den FC Bayern München (ab 2013). Dass zunehmende sport- liche Außenkontakte sich positiv auf die politische Situation des Landes auswirken würden, erweist sich also bisher als Wunsch- denken. Das Gegenteil scheint der Fall. Wie schlecht es um die Meinungsfreiheit in Katar bestellt ist, zeigt eines von vielen Beispielen. Im Fall des Studenten Mohammed al-Ajami genügte ein Gedicht, das er im August 2010 in seiner Wohnung in Kairo vorgetragen hatte, um jahrelang inhaftiert zu werden. Ein Zuhörer verbreitete den Vortrag über YouTube. Als al- Ajami im März 2011 in seine Heimat Katar reiste, wurde er umge- hend festgenommen und ohne Kontakte zur Außenwelt inhaftiert. In einer geheimen Gerichtsverhandlung wurde der Dichter wegen »Beleidigung des Emirs« zu einer lebenslangen Haftstrafe ver- urteilt. UN-Menschenrechtsexperten kritisierten, das Urteil sei »unvereinbar mit internationalen Standards, die die Rechte auf freie Meinungsäußerung auch in Form von Kunst schützen«. Nach Protestaktionen von Menschenrechtsgruppen wie Amnesty Inter- national wurde die Haftzeit auf 15 Jahre herabgesetzt. Im März 2016 begnadigte ihn schließlich der Emir.

Religionsfreiheit?

Der Islam wahhabitischer Prägung ist in Katar Staatsreligion. Es handelt sich dabei um eine sehr konservative und streng ausge- legte sunnitische Glaubensrichtung, die sich eng an den Wortlaut des Koran hält. Nach Artikel 1 der katarischen Verfassung ist die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung.

38 Die katarischen Bürger*innen (die aber wie erwähnt nur eine Minderheit der dort lebenden Menschen ausmachen) gehören ganz überwiegend dieser Staatsreligion an, sind also Sunniten wahhabitischer Richtung. Eine Alternative zum Islam gibt es für sie nicht, denn der Religionsaustritt bzw. der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion gilt als ein Kapitalverbrechen und kann theoretisch mit der Todesstrafe geahndet werden. Allerdings sind in den letzten Jahren keine Exekutionen in dieser Hinsicht durchgeführt worden. Dagegen sind häufiger mehrjährige Haftstrafen wegen Blas- phemie verhängt worden, auch gegen Ausländer. Grundsätzlich sind Nicht-Muslime dem islamischen Recht unterworfen, vor allem bei Familien- und Sorgerechtsfragen. Meist wird dabei den Aus- sagen der Männer mehr Gewicht beigemessen als denen der Frauen (laut Länderbericht des Katholischen Missionswerks, 2014). Prinzipiell genießen nicht-islamische Religionsgemeinschaften, soweit sie staatlich registriert sind, die Erlaubnis, ihre Religion auszuüben. Christliche Kirchen sprechen allerdings eher von einer »Kultfreiheit«, die ihnen gewährt werde. Sie dürfen Gottesdienste durchführen und kultische Rituale wie Taufe oder Abendmahl vor- nehmen, aber ihre Symbole – wie etwa das Kreuz – nicht öffentlich zeigen. Auch kontrolliert die Regierung den Vertrieb nicht-islami- scher religiöser Literatur. Eine Missionstätigkeit für nicht-islami- sche Religionen kann mit Gefängnis bestraft werden.

Antisemitismus!

Aus naheliegenden Gründen leben keine Juden in Katar. Antise- mitische Äußerungen oder Karikaturen in den privaten Medien Katars beispielsweise wurden in der Vergangenheit geduldet. 2019 beschäftigte sich das zu den renommiertesten Denkfab - riken der Region zählende Middle East Research Institute (MERI) mit den katarischen Schulbüchern des Schuljahres 2018/19. Sitz des 2014 gegründeten und auch von der EU finanziell unter-

39 stützten Instituts ist Erbil im kurdischen Teil des Iraks. Die MERI-Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass die Schul- bücher in Katar mit antisemitischen Äußerungen und kruden Verschwörungstheorien regelrecht übersät sind. Hierzu passt, dass Katar bzw. Teile seiner Oberschicht zahl- reichen Medienberichten zufolge fundamentalistische Islamisten in vielen Teilen der Welt unterstützen: Hamas, Muslimbrüder, die libanesische Hisbollah, dschihadistische Terrorgruppen in Syrien oder Libyen sowie der Islamische Staat (IS) und Al Kaida erfreuen sich großzügiger finanzieller Zuwendungen aus Katar – mit stiller Duldung der katarischen Führung. Oft erfolgen die Zahlungen verdeckt über Stiftungen. Fast alle der aufgeführten Gruppen sind – neben anderen Idio- tien – eindeutig antisemitisch ausgerichtet. Eine besonders enge Beziehung pflegt Katar zur Hamas, die die Errichtung eines isla- mistischen Palästinenserstaats anstrebt – auch auf dem Boden des Staates Israel. Katar hat in den letzten Jahren Millionen US- Dollar in den Gazastreifen investiert, wo die Hamas mit harter Hand regiert. Die Gründungscharta der Hamas ist Juden gegenüber mili- tant feindlich orientiert und rechtfertigt deren Tötung. So heißt es in Artikel 7 der Charta: »Die Stunde der Auferstehung wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn.« In Artikel 22 wird den Juden unterstellt, sie würden danach streben, »gewalttätige und mächtige Reichtümer anzuhäufen und sich ihrer zur Verwirklichung ihres Traums zu bedienen. So erlangen sie durch das Vermögen Kontrolle über die internatio- nalen Medien. Durch das Vermögen lösten sie Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt aus, um ihre Interessen zu ver- wirklichen und Gewinne zu erzielen. Sie standen hinter der fran- zösischen Revolution, den kommunistischen Revolutionen und den meisten Revolutionen hier und da, von denen wir gehört

40 haben«. In Artikel 33 beruft sich die Hamas auf die »Protokolle der Weisen von Zion«, eine 1903 erstmals im Russischen Kaiser- reich publizierte Fälschung, die eine jüdische Weltverschwörung behauptet. Vom Gaza-Streifen aus, der von der Hamas kontrolliert wird, wird Israel mit Raketen beschossen. Hamas-Vertreter haben in der Vergangenheit den Holocaust geleugnet oder relativiert. Wichtige Führungskader der Hamas leben im politischen Exil in Katar. Das Emirat zählt zu den wichtigsten Finanziers der Orga- nisation.

Frauenrechte?

Auf kommunaler Ebene besitzen Frauen in Katar seit 1998 das aktive und passive Wahlrecht. Allerdings hat dies nur in seltenen Einzelfällen dazu geführt, dass Frauen einen Sitz in einem kom- munalen Stadtrat einnehmen konnten. Inzwischen ist ihnen auch das Wahlrecht für die Beratende Versammlung gewährt; diese Wahl hat aber wie erwähnt bis heute nicht stattgefunden. In der Rechtspraxis werden Frauen bei häuslicher Gewalt und bei Scheidungen deutlich benachteiligt. Die Entschädigungs- zahlungen für Männer liegen nach Verletzungen oder Tod sehr viel höher als für Frauen. Vor allem weibliche Hausangestellte, nahezu ausschließlich Arbeitsmigrantinnen, leiden unter den Ver- hältnissen. Laut einer Untersuchung von Amnesty International erfahren sie Zwang zur Überarbeitung, Erniedrigungen, sexuelle Misshandlung – trotz einiger Reformen, die ihre Situation verbes- sern sollten. 40 von 105 befragten Hausangestellten beschrieben beispielsweise, »wie sie beleidigt, geschlagen oder angespuckt wurden«. Zeigt eine Frau in Katar eine Vergewaltigung an, kann sie islamischem Recht entsprechend wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr bestraft werden. 2016 ist dies sogar einer niederländischen Touristin passiert. Sie hatte bei den Behörden

41 ausgesagt, an der Hotelbar unter Drogen gesetzt worden zu sein. Später sei sie allein in einer fremden Wohnung mit zerrissenen Kleidern aufgewacht. Der beschuldigte Mann wurde zu 140 Peit- schenhieben verurteilt. Sie selbst wurde wegen Ehebruchs ver- haftet, drei Monate ins Gefängnis gesteckt und kam erst nach der gerichtlichen Verurteilung (ein Jahr Gefängnis auf Bewährung, 750 Euro Geldstrafe) wieder auf freien Fuß.

Freie sexuelle Orientierung?

»Der wichtigste Grund gegen eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar ist die homophobe Gesetzgebung des islamischen Regimes.« Zu dieser Ansicht kommt der Autor Benjamin Wein- thal in einem Artikel für die in New York erscheinende Wochen- zeitung »Gay City News«. Homosexualität ist in Katar verboten und wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Nach den strengen Regeln der Scharia könnten sogar Auspeitschungen und Hinrichtungen vorge- nommen werden. 1996 wurde ein US-Bürger zu einer sechsmo- natigen Haftstrafe und 90 Peitschenschlägen verurteilt. In einer Untersuchung von Reiseländern wurde laut Benjamin Weinthal Katar hinter Nigeria als das zweitgefährlichste Land für die LGBTQ-Gemeinde genannt. Fazit des Autors: Es sei überfällig, dass Sportverbände wie die FIFA damit aufhören, »Nationen zu belohnen, die die Homosexualität kriminalisieren«. Das britisch- irische Gay Football Supporter’s Network hat, wie auch andere LGBTQ-Organisationen, zum Boykott der WM aufgerufen. Als großer Erfolg wird seitens der FIFA das Zugeständnis gewertet, dass während der WM in den Stadien die Regenbogen- flagge als Symbol der LGBTQ+-Community gezeigt werden darf. Der WM-Cheforganisator Hassan Al Thawadi hat erklärt, man werde die »andere Kultur« der Besucher »respektieren«. Aller- dings erwarte man von den Besuchern den gleichen Respekt, indem sie ihre Zuneigung in Katar nicht öffentlich zeigen. Denn

42 das »gehört nicht zu unserer Kultur«. Anders gesagt: Herr Al Tha- wadi verlangt von den Besuchern, auf eine homophobe Kultur Rücksicht zu nehmen und die Missachtung eines wesentlichen Grundrechtes zu »respektieren«. Übrigens können auch gegen heterosexuelle Paare Sank- tionen verhängt werden, wenn sie gegen das konservative isla- mische Recht verstoßen. Unverheiratete Paare dürfen nämlich nicht zusammenwohnen. Auch Ausländern drohen diesbezüglich Sanktionen bis hin zu Gefängnisstrafen.

Arbeiterrechte?

Im Mittelpunkt internationaler Kritik im Vorfeld der WM stand vor allem das in Golfstaaten wie Katar praktizierte Kafala- System. Demnach benötigen Arbeitsmigrant*innen (und damit rund 90 Prozent aller Arbeitnehmer*innen in Katar) für die Ein- reise und das Arbeitsverhältnis einen Bürgen. In der Regel ist dies der Arbeitgeber, der den Pass einbehält und damit eine Ausreise oder einen Arbeitsplatzwechsel gegen seinen Willen verhindern kann. Die Folge waren/sind sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse: Beschäftigte wurden um ihren Lohn geprellt, gefährlichen und unwürdigen Arbeitsbedingungen unterworfen, in elenden Wohn- containern zusammengepfercht. Besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhren vor allem die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die WM-Stadien, wo allerdings nur ein geringer Teil der Arbeitsmigranten tätig ist. Laut dem Journalisten Benjamin Best (s. a. Interview in diesem Kapitel), der den Film »Gefangen in Katar« produzierte, leben die meisten Arbeiter unter erbärmlichen Bedingungen. Zwischen 2009 und 2019 allein seien mindestens 1.426 Arbeiter aus Nepal ums Leben gekommen. 522 davon an einem plötzlichen Herztod. Der britische Guardian sprach im Februar 2021 von mindestens 6.500 Menschen, die seit 2010 bei den Bauarbeiten in Katar ihr

43 Leben ließen. Häufigste Ursache für das Sterben ist wahrschein- lich die extrem harte Arbeit in brutaler Wüstenhitze. Die tatsächliche Zahl an Opfern ist vermutlich deutlich höher. Der Guardian errechnete sie aus offiziellen Angaben der Herkunftsländer der Migranten, doch nicht aus allen Ländern konnten die Journalisten Zahlen ermitteln. Und die katarischen Stellen mauern ohnehin. »Katar hat seit 2012 keine Statistik über die Zahl der toten Arbeiter veröffentlicht«, erklärt Nicholas McGeehan, Direktor der in London ansässigen Menschenrechts- organisation Fair Square Projects, in einem Interview mit der Deutschen Welle. Nicht nur die Zahl der getöteten Arbeiter sei ein Problem, sondern auch die der ungeklärten Todesfälle, die etwa 75 Prozent aller Toten ausmache. »Die katarischen Toten- scheine listen die Todesursache meist als ›natürliche Ursachen‹ oder ›Herzstillstand‹ auf, was keine Todesursachen sind. Und wenn ein Tod ungeklärt ist, gibt es keine Entschädigung und keine Antworten für die Familien – weder eine Autopsie noch eine Untersuchung. Sie geben die Statistiken nicht heraus, weil sie wissen, was die Statistiken sagen.« Amnesty International und die internationale Arbeitsgewerk- schaft ILO prangerten die Zustände jahrelang an, bis es selbst der FIFA peinlich wurde – nachdem der Weltverband noch 2016 erklärt hatte, dass er keine Verantwortung für »breitere gesell- schaftliche Probleme« in einem Gastgeberland trage. Ab 2017 hat Katar aufgrund des politischen Drucks schritt- weise mehrere Reformen durchgeführt, mit denen die Situation der Arbeitsmigrant*innen verbessert und die problematischsten Aspekte des Kafala-Systems behoben werden sollen. Unter anderem wurden ein monatlicher Mindestlohn in Höhe von etwa 230 Euro eingeführt, ein Wechsel des Arbeitsplatzes wird erleich- tert. Gleichwohl sind 230 Euro im Monat in einem reichen Land wie Katar ein Witz. Kritiker bemängeln, dass die Änderungen nicht weit genug gehen, da viele Arbeiter*innen immer noch für weniger als einen Euro pro Stunde arbeiten, wenn sie überhaupt bezahlt werden.

44 Das wichtigste Recht von Arbeitnehmer*innen, die Bildung von Gewerkschaften, ist in Katar nach wie vor untersagt. Amnesty International bezweifelt, dass die angekündigten Reformen faktisch umgesetzt werden: »Die vorhandenen Kontrollsys- teme sind nicht geeignet, um Missbrauch festzustellen, und es bleibt weiterhin schwierig für Arbeiterinnen und Arbeiter, sich zu beschweren, ohne dadurch ihr Einkommen und ihren rechtli- chen Status aufs Spiel zu setzen.« Tausende Arbeiter*innen seien weiter skrupellosen Arbeitgebern ausgesetzt. Und das Kafala- System? »Das Kafala-System hat zwar einen anderen Namen bekommen, besteht in seinen Grundfesten aber weiter«, kritisierte Regina Spöttl. Die Nahost-Expertin von Amnesty International berichtete im November 2020, dass Hausangestellte ihre Arbeit- geber von einer geplanten Ausreise 72 Stunden vor deren Antritt informieren müssen. Dadurch hätten Arbeitgeber Zeit, Vergeltung zu üben. Sie könnten Angestellte beschuldigen, sich unerlaubt der Arbeit entzogen oder gestohlen zu haben. Dann liefen die Betrof- fenen Gefahr, in Haft zu landen. Viele Arbeitgeber konfiszierten immer noch die Pässe der Migrant*innen. Und viele Arbeiter*innen würden ihre Löhne verspätet oder gar nicht erhalten. In der Praxis betreffen die Verbesserungen ohnehin nur die WM-Baustellen. Dort, wo die FIFA und die meisten Medien nicht hinschauen, hat sich bezüglich Verpflegung oder medizinischer Versorgung kaum etwas geändert. Einer WDR-Dokumentation von Benjamin Best zufolge sind die Zustände auf den meisten Baustellen und in den Unterkünften der Arbeitsmigrant*innen weiterhin schlimm und werden einige der Arbeiter*innen wei- terhin um ihren Lohn betrogen. Der FC-Bayern-München-Fanclub »Nr. 12«, im Januar 2020 Mitveranstalter einer äußerst informa- tiven Veranstaltung über die Zustände in Katar, fragte ein Jahr später bei seinen Gewährsleuten vor Ort nach. Ergebnis: »Trotz leichter Verbesserungen in manchen Bereichen hat sich an den grundsätzlichen Gegebenheiten für die Arbeiter wenig verändert. Durch Corona hat sich die Situation der Arbeiter in Katar sogar noch einmal deutlich verschlechtert.« Demzufolge würden viele

45 von ihnen nach Corona-Ausbrüchen über Nacht in ihre Heimat- länder abgeschoben. Und zwar »nicht selten ohne ihren Lohn zu erhalten und ohne ihr Hab und Gut an sich nehmen zu können«.

Und die FIFA?

In der Menschenrechtserklärung der FIFA vom Mai 2017 heißt es: »Die FIFA ist bestrebt, innerhalb der Organisation und bei all ihren Tätigkeiten ein diskriminierungsfreies Umfeld zu schaffen. Mit wirksamen Kontroll- und Vollzugsmechanismen bekämpft sie jede Form von Diskriminierung nach Maßgabe von Art. 4 der FIFA- Statuten, wonach jegliche Diskriminierung eines Landes, einer Einzelperson oder von Personengruppen aufgrund von Hautfarbe, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Behin- derung, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand, sexueller Orientierung oder aus einem anderen Grund verboten ist.« Das klingt vielversprechend. Die Frage ist, wie sich diese hehre Absicht mit dem Beschluss vereinbaren lässt, das WM-Tur- nier 2022 in Katar auszutragen. Es sei denn, die FIFA-Herren sind der Meinung, dort herrsche ein »diskriminierungsfreies Umfeld«. Zynisch ist die Haltung allemal.

»Das waren fürchterliche Bilder«

Der Journalist und Filmemacher Benjamin Best hat Katar mehr- fach besucht und dort auch verdeckt recherchiert. Dabei hat er erschütternde Beobachtungen gemacht.

Benjamin, du hast in Katar mit etlichen Arbeitsmigrant*innen gesprochen. Die FIFA behauptet, dass sich die Situation der Arbeiter auf den WM-Baustellen und in den Unterkünften binnen der letzten zwei Jahre sichtbar verbessert habe. Stimmt das?

46 Meiner Erfahrung nach gilt das, wenn überhaupt, nur für einen Teil der Arbeiter auf WM-Baustellen. Auch beim Begriff »WM- Baustelle« muss differenziert werden. Punkt eins: Für die FIFA und das WM-OK zählen nur die WM-Stadien als WM-Baustellen. Aber natürlich gehört die gesamte Infrastruktur zur WM in Katar. Das Prestigeprojekt U-Bahn, die Hotels, Straßen, das Sicherheits- personal, die Fahrer usw. Diese Arbeiter zählt die FIFA nicht mit. Die Stadionarbeiter machen nur einen kleinen Teil der über zwei Millionen Gastarbeiter in Katar aus, etwa 30.000. Punkt zwei: Meine Recherchen haben gezeigt, dass es auf den WM-Baustellen zudem Unterschiede gibt. Es gibt Arbeiter, die über Subunter- nehmen angestellt sind und die weiter in unmenschlichen Ver- hältnissen leben. Mein Eindruck ist, dass sich die sogenannten Verbesserungen nur auf einen kleinen Teil der Arbeiter beziehen. Ansonsten werden die neuen Gesetze fast gar nicht angewendet. Das ist auch weiterhin ein großer Kritikpunkt von Amnesty Inter- national und Human Rights Watch.

Du hast 2019 – ohne offizielle Genehmigung – eine Unterkunft für Arbeiter besucht. Was hast du dort beobachten können? Das waren fürchterliche Bilder: enge, kleine dunkle Zimmer mit Stockbetten für acht bis zehn Personen. Dreckige Unterkünfte mit Außentoiletten. Sperrmüll im Außenbereich. Kurz gesagt, das war eine schlimme Situation. Unmenschlich.

Es gab immer wieder Klagen, dass Löhne nicht ausbezahlt worden seien. Hat sich daran etwas geändert? Ich habe in Katar über 120 Arbeiter kennengelernt, die teilweise bis zu acht Monate lang kein Gehalt bekommen hatten. Andert- halb Jahre später warten diese Arbeiter immer noch auf ihr volles Gehalt. Mittlerweile habe ich viele Kontakte zu Gastarbeitern in Katar und immer wieder erzählen sie mir, dass sie verspätet ihren Lohn erhalten.

47 Der Guardian hat errechnet, dass seit der WM-Vergabe nach Katar rund 6.500 Arbeitsmigrant*innen ums Leben gekommen seien. Wie beurteilst du diese Zahl? Ich halte diese Zahl für realistisch. Das sind offizielle Zahlen aus Indien, Nepal, Sri Lanka, Bangladesch und Pakistan. Ich hatte für meine Berichterstattung die offiziellen Zahlen der nepalesischen Regierung: Im Jahr 2020 waren das mehr als 1.500 tote Gast- arbeiter. Wie viele dieser Menschen im Zusammenhang mit WM- Projekten gestorben sind, ist unklar. Laut WM-OK gab es insge- samt 37 tote Arbeiter im Zusammenhang mit dem Stadionbau. Mir haben jedoch Augenzeugen berichtet, dass es tote Stadion- arbeiter gegeben habe. Diese habe ich in der offiziellen Statistik nicht gefunden, und das WM-OK hatte abgestritten, dass es diese Todesfälle gegeben hat.

Welche Rolle spielt Fußball im Alltag der rund 300.000 katari- schen Staatsbürger*innen? Es gibt eine Profiliga und Fußball wird im TV übertragen. Es gibt im Land eine Begeisterung für Fußball. Aber natürlich ist Katar alles andere als eine Fußballnation.

Können Frauen Fußballteams bilden oder als Zuschauerinnen ins Stadion? Seit 2008 müssen FIFA-Mitglieder Frauenfußball finanziell för- dern. Ohne »Frauen-Programm« kann sich ein Land nicht für eine WM bewerben. Katars Frauenmannschaft bestritt andert- halb Monate vor der Vergabe das erste Länderspiel. Der Spiegel berichtete 2019 über 15 Spiele dieses Frauennationalteams, das letzte fand 2014 statt. Auf der FIFA-Homepage wird die Mannschaft nicht mehr geführt. In Katar gilt die Scharia, Frauen sind nicht gleich- berechtigt. Zuschauerinnen dürfen jedoch ins Stadion …

… und die Arbeitsmigrant*innen? Haben sie die Möglichkeit, ihre Fußball-Leidenschaft in Katar auszuleben? Können sie in ihrer Freizeit kicken? Die Stadien oder dort gar WM-Spiele besuchen?

48 Arbeitsmigranten spielen rund um ihre Unterkünfte Fußball und Cricket. Die Eintrittskarten für die WM-Spiele werden sie sich nicht leisten können. Aber: Sollten – wie schon bei der Leichtath- letik-WM 2019 – Zuschauer in den Stadien fehlen, wird die kata- rische Regierung Gastarbeiter in die Stadien setzen.

Wie gestaltet sich deine Arbeit vor Ort? Kannst du dich frei bewegen, frei recherchieren? Wie läuft die Zusammenarbeit mit den staatlichen Organisationen? In Katar gibt es keine freie Presse und keine Meinungsfreiheit. Aus diesem Grund bin ich zur letzten Recherche verdeckt nach Katar gereist. Im Anschluss habe ich dann die FIFA und die katarischen Behörden mit meinen Recherchen konfrontiert. Ich würde das nicht »Zusammenarbeit« nennen. Die gesamte Kommunikation läuft ausschließlich über das WM-OK. Diverse Anfragen an das Arbeitsministerium oder katarische Baufirmen über die letzten zwei Jahre wurden nie beantwortet. Natürlich gibt es Journalisten, die offiziell nach Katar reisen. Hier kann es allerdings sein, dass die Regierung nur das präsentiert, was einen guten Eindruck hinterlässt. Entsprechend werden dann auch Interviewpartner bereitgestellt.

Benjamin Best wurde 1976 in Berlin geboren und arbeitet als freier Journalist und Filmemacher überwiegend für den WDR und die ARD. Seine Filme und Beiträge laufen u. a. in der »Sport- schau« und der WDR-Sendung »Sport inside«. Im Zeitraum von Juni 2019 bis Oktober 2020 entstanden Bests Filme »Gefangen in Katar« (Teil 1–3). Für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. von CNN als »Journalist of the Year 2011«, als »Sportjournalist des Jahres 2019« (Medium Magazin) und mit dem Leipziger »Preis für die Freiheit und die Zukunft der Medien 2020«.

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Vom Außenseiter zum Hätschelkind FUSSBALL IN KATAR

Katars Fußballgeschichte begann spät. 1960 wurde der nationale Fußballverband Qatar Football Association (QFA) gegründet, der zehn Jahre später in die FIFA und 1972 in den asiatischen Regio- nalverband Asian Football Confederation (AFC) aufgenommen wurde. Das erste offizielle Länderspiel wurde am 27. März 1970 in Bahrain angepfiffen, Katar unterlag dem Gastgeber des erst- mals ausgetragenen Golfpokals mit 1:2. Wenige Tage später zog man auch gegen Kuwait mit 2:4 den Kürzeren. Das dritte Spiel bei dem Turnier, an dem neben Katar auch die Nationalmann- schaften von Bahrain, Saudi-Arabien, Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Kuwait, Jemen und Irak teilnahmen, endete mit einem ersten Achtungserfolg. Von Saudi-Arabien trennte man sich unentschieden (1:1). Den ersten Sieg fuhr Katar im zehnten Länderspiel ein: Am 22. März 1974 besiegte man Oman beim Golfpokal in Kuwait deutlich mit 4:0. 1975 war Katar dann erstmals bei der Asienmeisterschaft dabei. Im Irak gewann Katar zwei seiner sechs Gruppenspiele. Drei gingen verloren, eine Begegnung endete unentschieden. Erst am 26. März 1976 lief Katar erstmals auch daheim auf. Zum Auftakt des Golfpokals wurde Saudi-Arabien in Doha mit 1:0 besiegt. Die WM 1978 in Argentinien war die erste, zu deren Qualifika- tion sich Katar meldete. Einem Auftaktsieg gegen Bahrain (2:0) folgten drei Niederlagen. Kuwait unterlag man mit 0:2 und 1:4,

50 Bahrain im Rückspiel mit 0:3. 1981 wurde Katars U20 überra- schend Vizeweltmeister. In Australien schlug der Außenseiter im Viertelfinale Brasilien mit 3:2, im Halbfinale England mit 2:1. Im Finale traf Katar auf die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes mit u. a. Rüdiger Vollborn, Ralf Loose, Michael Zorc und Roland Wohlfarth – und unterlag klar mit 0:4. Bei den Olympischen Sommerspielen 1984 in Los Angeles maß sich dann auch erstmals die A-Nationalmannschaft des Emi- rats mit Gegnern außerhalb des asiatischen Fußballverbands – Bilanz: ein Unentschieden gegen die Olympiaauswahl Frank- reichs (2:2), zwei Niederlagen gegen Chile (0:1) und Norwegen (0:2). 1986 folgten dann die ersten Länderspiele gegen A-Natio- nalmannschaften aus Europa und Südamerika. Im Februar/März empfing Katar in Doha Griechenland (0:1), Ungarn (0:3) und Paraguay (1:1 und 0:3) zu Freundschaftsspielen. Am 2. Dezember 2010 kürte die FIFA Katar zum Austragungs- land der WM 2022. Bis dahin hatte die Auswahl des Emirats 354 Länderspiele bestritten (139 Siege, 93 Unentschieden, 122 Niederlagen). Die positive Bilanz kam vor allem zustande, weil Katar sich in der Regel mit Gegnern maß, die sich allenfalls auf Augenhöhe befanden. So spielte man in einem Zeitraum von 40 Jahren (1970–2010) nur 32-mal gegen nicht-asiatische Gegner. Einschließlich des olympischen Fußballturniers von 1984 kam der Gegner dabei 16-mal aus Europa, war aber in der Regel nicht hochklassig. Katar spielte gegen die A-Nationalmannschaften von Ungarn (0:3, 1:4, 1:1), Schweden (0:0, 2:3), Finnland (0:0, 0:1), Russland (2:5), Norwegen (1:6), Belgien (0:2), Kroatien (2:3), Griechenland (0:1) und Bulgarien (2:3). Härtester afrika- nischer Gegner war die Elfenbeinküste (1:6), stärkster südameri- kanischer war Argentinien (0:3).

51 Die Qatar Stars League

Seit 1963 wird in Katar eine nationale Meisterschaft ausge- tragen. Der Liga gehören aktuell zwölf Vereine an. Der Zuschau- erzuspruch war von Anfang an schwach. Von den ca. 300.000 katarischen Staatsbürger*innen sind nur wenige Fußball-affin. Um die Liga aufzupeppen, bemühte man sich um Altstars aus Europa und Südamerika, die in Katar mit wenig Aufwand ihre Pension aufbessern können. Die ersten Promis waren 2003 Pep Guardiola, Claudio Caniggia, Gabriel Batistuta, Romário und die Ex-Bundesligaspieler Mario Basler und Stefan Effenberg. Ihnen folgten u. a. die de-Boer-Brüder Frank und Ronald, der franzö- sische Weltmeister Marcel Desailly und der Ex-Schalker Emile Mpenza. Am Zuschauerzuspruch änderte dies nicht viel. 2019 wechselten Barças Pass-Monster Xavi Hernández (39) und Atlético Madrids Mittelfeldspieler Gabriel Fernández Arenas (37) zum al-Sadd SC, Katars Rekordmeister und Rekordpokal- sieger. Beide haben ihre Karriere mittlerweile beendet, Xavi ist derzeit Cheftrainer von al-Sadd. Die Zahlungskraft der katari- schen Vereine wird laut Presseberichten auch dadurch gefördert, dass die Regierung jedem Erstligisten pro Saison umgerechnet 8,5 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Trotz Stars und Gratis-Eintritt kommen zu vielen Erstliga- spielen nicht mehr als 100 Zuschauer. Die vielen ausländischen Arbeitskräfte identifizieren sich mit den Vereinen in ihren Hei - matländern oder den globalen Fußballmarken wie Real Madrid, Barcelona, Bayern oder Manchester United. Mittlerweile setzt die Liga nicht mehr so stark auf große Namen aus dem Ausland. Die bekanntesten Legionäre sind aktuell Pierre-Michel Lasogga (29), Mehdi Benatia (33), der argentinische Ex-Nationalspieler Gabriel Mercado (33) und der 104-fache mexikanische National- spieler Héctor Moreno (33).

52 Die Aspire Academy

Katar betreibt eine intensive Nachwuchsförderung. Ihr Herzstück ist die 2004 gegründete Aspire Academy in Rayyan, westlich der Hauptstadt Doha. Hier werden Fußballer, Handballer, Leichtath- leten, Tischtennis- und Squashspieler sowie Fechter von inter- nationalen Toptrainern und Sportwissenschaftlern ausgebildet und betreut. Das Hauptaugenmerk aber liegt auf dem Fußball. Die Aspire Academy gehört zu den weltweit größten Trainings- zentren für Spitzensportler. Sie verfügt u. a. über zwölf Fußball- felder, Laufbahnen, mehrere Sporthallen, Laboratorien, Kraft - räume, eine Schule, ein Wohnheim und ein Schwimmzentrum. Qualitativ erfüllt die Anlage höchste internationale Standards. Laut Süddeutscher Zeitung kommen »die meisten der 5.500 Mit- arbeiter aus dem Ausland«. Chef der Akademie ist der Spanier Iván Bravo, ehemals Direktor für strategische Angelegenheiten bei Real Madrid. Bravo ist auch Technischer Direktor der QFA. Als Director of Football Performance & Science amtiert der Italiener Valter Di Salvio, als Fitnesscoach bei Lazio Rom, Real Madrid und Manchester United tätig, danach Leiter des Hochleistungszent- rums von Real Madrid. Director of Sport and Strategy ist ein Öster- reicher: Markus Egger, zuvor bei Red Bull Salzburg beschäftigt. Jedes Jahr sichtet die Aspire Academy etwa 5.000 Nach- wuchskicker im Alter von elf Jahren. Den besten winkt ein Sti- pendium, sie dürfen die Akademie fortan bis zum 18. Lebensjahr besuchen. Das Stipendium besteht nicht nur aus Fußball, son- dern beinhaltet auch eine schulische Ausbildung.

Über Katar hinaus

2007 startete Aspire in Afrika zur Nachwuchssichtung und -för- derung das Programm »Football Dreams«, das zunächst sieben Länder und etwa 430.000 junge Kicker in den Blick nahm. 2008 eröffnete im Senegal eine Dependance der Aspire Academy,

53 zudem wurde das Programm auf Asien und Lateinamerika aus- geweitet. Insgesamt scoutete die Aspire Academy zwischen 2007 und 2014 mehr als 3,5 Millionen Kids in 17 Ländern. Die besten Absolventen werden später nach Europa geschickt, um dort im Alter von 18 bis 20 Erfahrung und Wettkampfhärte zu sammeln – in Ligen, deren Niveau höher ist als das der Qatar Stars League. Zu diesem Zwecke erwarb die Aspire Zone Foundation 2012 den belgischen Erstligisten KAS Eupen aus dem deutschspra- chigen Osten Belgiens. Dessen Kader war bis dahin von Belgiern und Deutschen dominiert worden, dies änderte sich nun gewaltig. Zunächst kamen Spieler aus Afrika nach Eupen, vornehmlich aus dem Senegal und Nigeria. Seit dem Sommer 2014 kickten auch katarische Spieler für die KAS; in der Saison 2020/21 ist aller- dings kein Katari mehr dabei. 15 Spieler des aktuellen Kaders besitzen einen afrikanischen Background. 2015 übernahm die Aspire Zone Foundation den spanischen Drittligisten Cultural y Deportiva Leonesa. Zudem unterhält die Aspire Academy Koope- rationsvereinbarungen mit dem spanischen Erstligisten FC Sevilla sowie dem Premier-League-Klub Leeds United. Die aktuelle Auswahl des katarischen Fußball-Verbands besteht ausschließlich aus Spielern, die bei Vereinen der Qatar Stars League unter Vertrag stehen. Von den 23 auf transfer- markt.de gelisteten Spielern haben jedoch vier einen Teil ihrer Ausbildung in Eupen absolviert, einer stand früher bei Cultural y Deportiva Leonesa unter Vertrag. Der bekannteste katarische Absolvent der Aspire-Fußballaus- bildung ist Akram Afif. 2016 bekam der Flügelstürmer einen Ver- trag beim spanischen Erstligisten Villarreal und war damit der erste katarische Fußball-Profi in . Afif hielt sich bereits seit 2012 in Spanien auf, wo er für die U-19-Teams des FC Sevilla und von Villar- real kickte. Bei den Profis von Villarreal saß er allerdings ausschließ- lich auf der Bank oder auf der Tribüne. Bei Sporting Gijón, wohin er ausgeliehen wurde, kam er lediglich auf neun Einsätze. 2017 wurde er in Eupen Stammspieler, seit Januar 2018 ist Afif zurück in Katar und stürmt erfolgreich für Rekordmeister al-Saad SC.

54 In Europa bekannter als Afif ist Aspire-Academy-Zögling Henry Onyekuru. 2015 wechselte der Nigerianer aus dem sene- galesischen Ableger der Academy zur KAS Eupen, zwei Jahr später zahlte der Premier-League-Klub FC Everton eine Ablöse von 8 Millionen Euro für den Torschützenkönig der ersten bel- gischen Liga, verlieh den Linksaußen jedoch gleich wieder nach Belgien an den RSC Anderlecht. Seither spielte Onyekuru für die AS Monaco, Galatasaray Istanbul und die Nationalmannschaft seiner Heimat Nigeria.

»Katar ist kein Fußballzwerg mehr!«

In den vergangenen Jahren machten sich Katars immense Inves- titionen in das eigene Nationalteam sportlich bezahlt. 2014 gewann die U19 des Landes die Asienmeisterschaft mit einer Mannschaft, die ausschließlich aus Spielern der Aspire Academy bestand. Trainer der jungen Kataris war der Spanier Félix Sán- chez, der zuvor zehn Jahre lang als Trainer in der Nachwuchsaka- demie des FC Barcelona tätig gewesen war. 2006 war Sánchez zur Aspire Academy gewechselt, wo er bis 2013 blieb, um Talente aufzuspüren und zu entwickeln. Nach seinem Erfolg mit der U19 betreute Sánchez auch die U23 des katarischen Verbands und holte mit seinem Team 2018 Rang drei bei der Asienmeister- schaft in China. 2017 übernahm der Spanier zusätzlich den Trainerposten der A-Nationalelf Katars, die 2019 ebenfalls Asienmeister wurde, bisher der größte sportliche Erfolg des katarischen Fußballs. Das Turnier fand in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) statt. In der Gruppenphase ließ Katar den Libanon (2:0), Nordkorea (6:0) und Saudi-Arabien (2:0) hinter sich. Im Achtelfinale wurde der Irak (1:0) geschlagen, im Viertelfinale Südkorea (1:0) und im Halb- finale der Gastgeber, Nachbar und große Rivale VAE. Im Endspiel behielt Katar gegen Japan mit 3:1 die Oberhand. Mit Südkorea und Asiens Rekordmeister Japan hatte die QFA-Auswahl zwei

55 etablierte WM-Teilnehmer in die Knie gezwungen. Grundstein des Erfolgs war eine kompakte Defensive, basierend auf einem 4-4-2 mit Doppelsechs. »Die stets etwas belächelte Auswahl aus dem Wüstenstaat zeigt plötzlich internationales Format. (…) Katar ist kein Fußballzwerg mehr«, resümierte goal.com. Für den National- trainer war der prestigeträchtige Titel »nur ein weiterer Schritt in der Entwicklung unseres Teams. Damit wir irgendwann bereit sind, Katar 2022 bei der Weltmeisterschaft zu vertreten«.

Fußball – anders als Handball

Zehn Spieler im 23-köpfigen Kader des Asienmeisters von 2019 besaßen neben der katarischen noch eine weitere Staatsbürger- schaft, so beispielsweise Abwehrchef Pedro Miguel und Torjäger Almoez Abdulla. Miguel wurde in Portugal geboren, Abdulla im Sudan. Der 22-jährige Stürmer wurde nicht nur Torschützen- könig des Turniers, sondern auch zum besten Spieler gekürt. Im Finale gegen Japan gelang ihm per Fallrückzieher sein neunter Turniertreffer, womit er die Bestmarke des langjährigen Bundes- ligaprofis (Iran) übertraf. Dabei wäre der Rekord zuvor fast am grünen Tisch verhindert worden. Denn nach der Halbfinalniederlage gegen die Kataris hatte Gegner VAE Protest gegen die Wertung des Spiels eingelegt, da der katarische Gegner mit Abdulla und dem Spieler Al-Rawi zwei Akteure eingesetzt habe, die nach Vollendung des 18. Lebens- jahres nicht mindestens fünf Jahre in Katar gewohnt hatten – wie es die FIFA-Regeln verlangen. Abdulla erklärte demgegenüber, seine Mutter sei in Katar geboren – was ihm laut FIFA-Statuten die entsprechende Spielberechtigung gewährt. Von offizieller Seite gab es keine Bedenken, der VAE-Protest wurde abgewiesen, Katar trat mit Abdulla und al-Rawi im Finale an. Als Katar im Jahr 2015 die Handball-WM ausgerichtet und überraschend das Finale gegen Frankreich erreichte hatte, bestand die Mannschaft des Gastgebers zum Großteil aus ein-

56 gebürgerten, hoch dotierten Spielern, die keine familiäre Verbin- dung zum Land besaßen. Nur vier Spieler waren in Katar geboren. Trocken kommentierte damals der Spiegel: »Den Kern ihrer Nati- onalmannschaft bilden gebürtige Osteuropäer, angefeuert wird das Team von bezahlten Jubel-Spaniern.« Anders als Katars Handballer sind die Fußballer des Staates keine in anderen Ländern rekrutierte Legionärstruppe. Die Regularien der beiden Weltverbände unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt. Wer im Fußball einmal für eine A-National- mannschaft ein Pflichtspiel bestritten hat, darf später nicht für ein anderes Land auflaufen. Im Handball ist dies anders: Nach einer dreijährigen Frist kann jeder Spieler den nationalen Ver- band wechseln. Die Handballer Žarko Marković, Danijel Šarić und Rafael Capote hatten bereits diverse Länderspiele für ihre Heimatländer Montenegro, Serbien und Kuba auf dem Buckel, ehe sie für Katar antraten. Da Katars Fußballnationalmannschaft nicht auf Ex-National- spieler anderer Länder zurückgreifen kann, verdankt die kleine Fußballnation ihren Aufstieg in erster Linie einer guten Aus- bildungspolitik und belegt damit einmal mehr, dass sich auch aus geringen personellen Ressourcen viel machen lässt; wie in Europa etwa das Beispiel Island zeigt. Anders als bei den Nordeu- ropäern wurde der Erfolg Katars allerdings mit einem immensen finanziellen Aufwand erzielt. In der 210 Nationen umfassenden FIFA-Rangliste hat sich Katar in der jüngsten Vergangenheit deutlich verbessert. Während das Emirat bis 2018 nur im Mittelfeld zu finden war (um Rang 90), kam man im Dezember 2020 auf Platz 58 – noch vor Bulga- rien, Slowenien oder auch Südafrika. Zwar konnte sich Katars Nationalelf sportlich bisher noch nie für eine WM-Endrunde qua- lifizieren, doch auch dort gibt es Fortschritte zu verzeichnen: Bei der Qualifikation für die WM 2018 erreichte man immerhin die dritte Runde, belegte dann aber in einer Gruppe mit Iran, Südkorea, Syrien, Usbekistan und China den letzten Platz und schied aus. Für das Turnier 2022 ist Katar als Gastgeber natürlich gesetzt.

57 Bürger zweiter Klasse?

Im aktuellen Kader von Katars Fußballnationalmannschaft haben acht der 23 Spieler einen afrikanischen Background – viermal wird der Sudan angegeben, zweimal Ägypten, je einmal Algerien und Tansania. Ein neunter Spieler mit doppelter Nati- onalität stammt aus Frankreich. Aber sechs der neun Spieler wurden in Doha geboren. Laut einer Recherche von Danyel Reiche von der Georgetown University in Katar handelt es sich bei diesen Spielern um Gastar- beiter- und Einwandererkinder, die entweder mit ihren Eltern nach Katar kamen oder dort geboren wurden. Die meisten dieser Spieler besitzen nicht die »volle« katarische Staatsbürgerschaft. Da sie als Einwandererkinder nicht dieselben Privilegien wie katarische Staatsbürger genießen, sind sie »Bürger zweiter Klasse«. Danyel Reiche im Interview mit ARD-Radio-Recherche-Sport: »Wer die katarische Staatsbürgerschaft hat, der muss sich langfristig nicht die ganz großen Sorgen im Leben machen.« Er habe zum Beispiel Zugang zu einer kostenlosen Krankenversorgung. Die »volle« Staatsbürgerschaft ist bis heute nur wenigen Einwanderern gewährt worden, und eingebürgerte Sportler erhalten nur einen sogenannten »Mission Passport«. Reiche: »Katar, wie auch einige andere Golfländer, nutzt da eine Lücke im internationalen System, in dem es teilweise Athleten in internationale Wettbewerbe schickt, die nur einen ›Mission Passport‹ haben. Das heißt, das ist eigent- lich ein Ausweis, der nur verwendet wird, um an diesen internatio- nalen Wettbewerben teilzunehmen.« Danyel Reiche ist der Auffas- sung, dass die Sportverbände einheitliche und weltweit geltende Regeln erstellen müssten. Der Welt-Leichtathletikverband habe vor zwei Jahren vorgemacht, wie es gehen könnte. Nur wer die »volle« Staatsbürgerschaft eines Landes besitzt, darf dieses auch auf der internationalen Bühne vertreten. ARD-Radio-Recherche- Sport: »Vor der Fußball-WM-2022 im Wüstenstaat rückt damit neben den Menschenrechtsverletzungen auf den WM-Baustellen ein weiteres Thema in den Fokus: die Rechte der Sportler in Katar.«

58 WM-Vorbereitung in Brasilien und Europa

Um sich intensiver auf das Turnier im eigenen Land vorzu- bereiten, absolviert Katar ein aufwändiges Vorbereitungs- programm. 2019 nahm die Nationalelf neben Japan als Gast- mannschaft an der Copa América in Brasilien teil. »Wir werden gegen sehr erfahrene Mannschaften antreten«, prognostizierte Nationaltrainer Félix Sánchez, »die auf einem anderen Niveau spielen als die Gegner beim Asien-Pokal. Da viele junge Spieler in unserem Team stehen, geht es in erster Linie darum, bei diesem hochklassig besetzten Turnier so viel Erfahrung wie möglich zu sammeln.« Katar unterlag Argentinien (0:2) und Kolumbien (0:1) und erreichte ein Unentschieden (2:2) gegen Paraguay. Eine Woche vor dem Start der Copa América ging ein Freundschaftsspiel gegen Gastgeber Brasilien mit 0:2 verloren. Auch bei der kom- menden Copa wird Katar wieder dabei sein: Im Juni 2021 stehen in Kolumbien Spiele gegen Peru, Ekuador, Brasilien, Venezuela und den Gastgeber auf dem Programm. Von dort geht es für die Mannschaft von Sánchez dann weiter zum Gold Cup, der Kon- tinentalmeisterschaft für Nord-, Mittelamerika und die Karibik, wo sich Katar mit Panama, Honduras und Grenada messen wird. Außerdem nimmt Katar als Gast und außer Konkurrenz an der europäischen Qualifikation für die WM 2022 teil und spielt hier in Gruppe 1 gegen Portugal, Serbien, Irland, Luxemburg und Aserbaidschan. Katars Heimspiele werden in Europa ausge- tragen. An der Regelung gibt es viel Kritik. Inwieweit dafür geld- werte Leistungen seitens Katars erbracht worden sind, ist unklar. Für das FIFA-Hätschelkind Katar gelten eben andere Regeln als für andere kleinere Fußballnationen. Weil Katar ein wichtiger Geld- geber des internationalen Fußballs ist. Der frühere DFL-Geschäfts- führer und Bundesligamanager Andreas Rettig kommentiert: »Man sieht, dass sich in der heutigen Zeit mit Kapitaleinsatz jede Grenze verschieben lässt. Mich überrascht überhaupt nichts mehr.«

59 EINWURF – KAFALA IM FUSSBALL: Die Fälle Zahir Belouni und Abdelslam Quaddou

2007 wechselte Zahir Belouni, ein Franzose mit algerischen Wur- zeln, vom Schweizer Klub FC La Tour zum katarischen Zweit- ligisten SC al-Jaish. 2011 führte er den Klub des Militärs als Kapitän in die erste Liga des Emirats. Für Katars Armee sollte Belouni auch bei der Militär-WM in Brasilien auflaufen. Hierfür stellte man ihm einen temporären Pass aus. Nach der Rückkehr aus Brasilien wurde das Papier wieder eingezogen. Wenig später wurde Belouni von al-Jaish an Al Markhiya aus- geliehen, einen anderen katarischen Zweitligisten. Der frisch gebackene Erstligist al-Jaish wollte Platz für einen neuen Aus- länder schaffen. Beim neuen Arbeitgeber sollte Belouni zu den gleichen Konditionen spielen wie beim alten. Der Stürmer bestritt auch einige Spiele für Al Markhyra, sah aber kein Gehalt. Als Belouni deshalb vor Gericht zog, weigerte sich der abgebende Klub al-Jaish, das Ausreisevisum des Spielers zu unterschreiben. Belouni: »Ich hatte keine Ahnung, dass es im 21. Jahrhundert ein System wie Kafala gibt, das dein Leben zerstören kann.« Auch die französische Politik konnte dem Fußballprofi nicht helfen. Vielleicht mochte sie ihm aber auch nicht helfen. Als Staats- präsident François Hollande, Premier Manuel Valls und Außenmi- nister Laurent Fabius zu einem Staatsbesuch nach Katar kamen, schenkten sie Belouni zwar 20 Minuten Gehör. Doch ohne dass sich anschließend etwas bewegte. »Es wird dir niemand so direkt sagen, aber es gibt zu viele wirtschaftliche Interessen, wenn es um Katar geht. Von Katar lässt du lieber die Finger«, sagt Belouni. Ende 2013 hatte der Albtraum endlich ein Ende. Belouni durfte aus Katar ausreisen, allerdings erst nachdem er, von Depressionen zermürbt, eine rückwirkende Erklärung unter- zeichnet hatte, in der er seinen Vertrag kündigte und damit alle

60 Gehaltsforderungen in Höhe von ca. 70.000 Euro aufgab. Die taz schrieb über seine Rückkehr: »Als gebrochener Mann kam er an einem Winterabend am Pariser Flughafen Charles de Gaulle an und fiel, eine der beiden kleinen Töchter auf dem Arm, seiner Mutter um den Hals. Wegen seiner Familie, sagt er, habe er in Katar beschlossen, sich nicht umzubringen. Viel mehr als diese, ein Trauma und einen Berg Schulden besaß er nicht mehr, als er das Emirat verlassen durfte.« Zuvor hatte Belouni auch Katars WM-Botschafter Zinédine Zidane und Pep Guardiola um Hilfe gebeten. Zidane reagierte überhaupt nicht, Guardiola erst nach Belounis Rückkehr nach Frankreich. Belouni: »Er sagte, er freue sich für mich, aber nun gebe es keinen Grund mehr, über den Fall zu sprechen.« Belouni sah dies anders und schrieb ein Buch über seine Erlebnisse im Emirat, das 2015 erschienen ist: »Dans les griffes du Qatar – Chantage, mensonges et trabison« (»In den Klauen Katars. Erpressung, Lügen, Verrat«). Nicht ganz so übel wie Belouni erging es dem 46-fachen marokkanischen Nationalspieler Abdelslam Quaddou – vielleicht auch, weil er prominenter als der Franzose war. Am 8. August 2011 hatte der 32-jährige Innenverteidiger beim Qatar SC einen Zwei-Jahres-Vertrag unterschrieben. Zuvor hatte Quaddou für Fulham, Stade Rennes, Olympiakos Piräus, den FC Valen- ciennes und AS Nancy gespielt. Im September 2012 kontak- tierte Quaddou die Dispute Resolution Chamber (DRC) der FIFA, nachdem er sechs Monate kein Gehalt gesehen hatte. Quaddou wollte Katar verlassen, aber der Qatar SC verweigerte ihm das Ausreisevisum. Erst als Quaddou damit drohte, seinen Fall Men- schenrechtsorganisationen zu melden, erhielt er das Papier. Die DRC entschied zu seinen Gunsten und verurteilte den Verein zur Zahlung sämtlicher Außenstände. Brendan Schwab, Leiter der Asienabteilung der Spielergewerkschaft Fédération Interna- tionale des Associations de Footballeurs Professionnels (FIFPro), war zufrieden: »Das Urteil zeigt, dass die Verantwortlichen in Katar nicht denken müssen, dass sie mit allem davonkommen

61 können, dass sie die Regeln nicht akzeptieren müssen, dass sie mit Geld alles kaufen können.« Nach seiner Rückkehr nach Europa kritisierte Quaddou vehe- ment die Arbeitsbedingungen in Katar: »Wenn du in Katar arbei- test, gehörst du jemandem. Du bist nicht mehr frei, du bist ein Sklave.« Die WM 2022, so der Marokkaner, sei ein »Turnier der Sklavenhändler«.

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EINWURF – VON MARTIN KRAUSS Katar und Israel: Geld für Tore und Raketen

Im Dezember 2020 verbreitete die Deutsche Presse-Agentur die Nachricht vom Einstieg eines Scheichs aus den Vereinigten Ara- bischen Emiraten beim Erstligisten Beitar . Von einem »historischen Tag« frohlockten die Funktionäre von Beitar – was im Hinblick auf arabisches Sponsoring indes nur bedingt richtig ist. Denn das erste offizielle Investment aus der Region am Persi- schen Golf in den israelischen Profifußball fand bereits 14 Jahre vorher statt. 2006 eröffnete in der überwiegend von arabischen Israelis bewohnten Stadt Sakhnin im Norden des Landes das »Doha Sta- dium« – größtenteils finanziert mit Millionen aus Katar. In der 8.500 Zuschauer fassenden Arena spielt der israelische Erstligist FC Bnei Sakhnin, kein Spitzenklub, 2004 aber immerhin schon mal israelischer Pokalsieger. Offiziell kam das Geld für das Doha Stadium vom Nationalen Olympischen Komitee Katars. Es seien etwa sechs Millionen US-Dollar an Spenden gesammelt worden. Im Jahr 2014 engagierte sich Katar erneut im israelischen Profi- fußball: Neben Bnei Sakhnin wurde auch der Zweitligist Maccabi Nazareth gefördert. 4,5 Millionen Dollar flossen an die beiden Klubs, die sich als arabische Vereine verstehen, auch wenn in ihren Kadern – wie bei fast allen israelischen Profiklubs – sowohl jüdische als auch arabische Israelis unter Vertrag stehen.

63 Katar finanziert den Hamas-Terror

Das Engagement Katars muss irritieren. Schließlich gilt das Land als Finanzier von Terror. Etliche Quellen legen nahe, dass die Königsfamilie des Emirats im geografischen Raum Israel- Palästina an der Finanzierung von terroristischen Gruppen beteiligt war und ist. Im Jahr 2014 hatten die arabischen Nach- barstaaten Katars die diplomatischen Beziehungen zunächst für die Dauer von neun Monaten unterbrochen und von 2017 bis Ende 2020 nochmals eingefroren. Die sich politisch immer mehr dem Westen annähernden Regime Saudi-Arabiens und der Ver- einigten Arabischen Emirate warfen Katar vor, den Islamischen Staat, die Muslimbruderschaft, die Taliban sowie verschiedene Al-Qaida-Mitglieder zu unterstützen. Dass etwa das saudische Regime damit von Vorwürfen an die eigene Adresse, gleichfalls Terror zu unterstützen, ablenken möchte, sei am Rande erwähnt. Aber Katar ist, anders als Saudi-Arabien, auch mit der Islami- schen Republik Iran eng verbunden, der ebenfalls vorgeworfen wird, in der Region als Terrorfinanzier aufzutreten. Die Regie- rung in Doha bestreitet diese Vorwürfe. Die ab 2021 erfolgte diplomatische, politische und vor allem wirtschaftliche Wieder- annäherung der Golfstaaten ist auf Vermittlung der USA unter der Administration von Donald Trump zustande gekommen. Bemerkenswert ist, dass fast alle Gründe, die 2014 und 2017 zur Isolation Katars führten, 2021 fortbestehen. Katar gilt weiterhin als Terrorfinanzier, aber ökonomische und politische Gründe lassen es für die anderen Golfanrainer sinnvoll erscheinen, mit den Kataris wieder in den Austausch zu treten. Unbestritten ist weiterhin das katarische Engagement im Gazastreifen, der von der Hamas regiert wird. Jenem Flügel der palästinensischen Befreiungsbewegung PLO, der von einer ganzen Reihe von Staaten – darunter neben Israel und den USA auch die EU – als terroristische Organisation geächtet wird. Von der Hamas befehligt und oft von Katar finanziert werden vom Gazastreifen aus Angriffe auf das israelische Kernland gestartet.

64 In jüngster Zeit hat sich bezüglich der Haltung der arabi- schen Welt zum Staat Israel einiges geändert: Nicht nur Ägypten und Jordanien, auch die Vereinigten Arabischen Emirate, der Sudan, Bahrain und Marokko haben diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Obwohl Katar Israel als Staat nicht anerkennt, gibt es immer wieder Informationen über informelle Kontakte zwischen den beiden Ländern. Israels Geheimdienst- minister Eli Cohen erklärte Anfang November 2020, dass auch Katar – neben Saudi-Arabien, Oman, Niger und dem mittlerweile bestätigten Marokko – bald diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen könnte. Dies dürfte und müsste dann auch Auswir- kungen auf die Politik des Emirats im Gazastreifen haben.

Anerkennung über den Sport

Katar will – gerade mithilfe des Sports – Anerkennung in der Welt erheischen. Das Emirat wird ja nicht nur die Fußball-WM 2022 ausrichten, es hatte sich zuvor schon mit enormem finanziellen Aufwand in den Weltsport eingekauft: In der Leichtathletik fand 2019 die Freiluft-WM statt, 2010 die Para-WM, 2006 die Hallen- WM und seit 2010 ist der »Qatar Athletic Super Grand Prix« Teil der für Weltklasseleichtathleten extrem wichtigen Veranstal- tungsserie »IAAF Diamond League«. Der Radsport gastierte 2016 mit seiner Straßen-WM im Emirat. Die Schwimmer wollen 2023 ihre WM dort austragen, mit der Kurzbahn-WM waren sie schon 2014 da. Die Tischtennis-WM fand 2004 statt, die Hand- ball-WM 2015, die Turn-WM 2018, die Gewichtheber-WM 2005. Die Liste ist schier unendlich, wo sich Katar, das oft als reichstes Land der Erde bezeichnet wird, überall sportlich eingekauft hat. Der Sport brachte tatsächlich auch eine kleine Öffnung des Landes. Im Jahr 2009 durfte – freilich erst nach massivem inter- nationalen Druck – die israelische Tennisspielerin Shahar Peer zu einem internationalen Turnier einreisen. Ähnliches soll auch bei der Fußball-WM 2022 gelten. Hassan al-Thawadi, General-

65 sekretär des WM-Organisationskomitees, sagte im Dezember 2019, dass Israelis als Gäste zum Turnier kommen dürfen. »Jeder ist willkommen«, erklärte er gegenüber dem US-amerikanischen TV-Sender ESPN. Das gelte auch für den Fall, dass sich die israe- lische Nationalmannschaft für die WM qualifizieren sollte. »Wir vermischen nicht Sport und Politik, aber wir würden hoffen, dass die Palästinenser es (die Qualifikation, Anm. d. A.) auch schaffen.« Die palästinensische Auswahl spielt die noch bis Sommer 2021 laufende Qualifikation für Katar 2022 in einer Gruppe mit Usbekistan, Saudi-Arabien, Singapur und Jemen. Israel versucht sich gegen Dänemark, Österreich, Schottland, Färöer- Inseln und Moldawien durchzusetzen. Während Palästina also in der asiatischen WM-Qualifikation startet, tritt das gleichfalls zum asiatischen Kontinent gehörende Israel dort nicht an. Seit Anfang der 1990er-Jahre spielt Israel bereits unter dem Dach des europäischen Verbandes UEFA, nachdem sich in der Vergan- genheit immer wieder asiatische Nationalteams – darunter auch Katar – geweigert hatten, in der WM-Qualifikation gegen Israel anzutreten und das Land aus dem asiatischen Verband ausge- schlossen wurde. Fun Fact am Rande: In der europäischen WM- Qualifikation tritt – außer Konkurrenz – nun auch Katar an. Die Ankündigung, dass auch Israelis 2022 zur WM nach Katar reisen dürfen, wurde in Israel verhalten aufgenommen. In der offiziellen Liste der Länder, deren Staatsbürger Visa für Katar erhalten, taucht Israel bis jetzt nicht auf. Wie kam es unter diesen Bedingungen zu dem irritierenden Engagement Katars im israelischen Profifußball? Das Geld für den Bau des Doha Stadium in Sakhnin stammte zwar vor allem aus dem Emirat, es gab aber auch finanzielle Unterstützung aus Israel. Zu den umgerechnet sechs Millionen US-Dollar von Katar kamen 3,7 Millionen von israelischen Organisationen und staat- lichen Stellen. Als der israelische Fußball dann im Jahr 2014 die zweite Offerte aus Katar erhielt – die insgesamt 4,5 Millionen Dollar an Bnei Sakhnin und Maccabi Nazareth –, bestand eine besondere Situation: Damals stand bei keinem der beiden Ver-

66 eine ein jüdischer Profi unter Vertrag, und auch israelisches Geld wurde damals nicht in die Klubs investiert – abgesehen von den Fernsehgeldern, die natürlich jedem Erst- und jedem Zweitligisten zustehen. Es dürfte also der Versuch der Kataris gewesen sein, Hegemonie zu erlangen – und das noch mit einer Geldsumme, die für die Scheichs weniger als ein Trinkgeld darstellt. Die Hegemonie sollte bei der arabischen Bevölkerung Israels erheischt werden und zwar explizit bei der Bevölkerung im israelischen Kernland, zu dem Sakhnin und Nazareth gehören. Die parallel laufende Unter- stützung der Hamas im Gazastreifen ergänzte sich aus katarischer Sicht. Torschüsse und Raketenabschüsse – alles powered by Katar.

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Eine Hand wäscht die andere KATAR UND DER EUROPÄISCHE FUSSBALL

Katar ist ein bedeutender Finanzier des Weltfußballs, nicht nur die FIFA, auch der europäische Spitzenfußball hängt am Tropf von Öl und Gas. Neben Katar sind auch die Vereinigten Arabi- schen Emirate (VAE) und Russland – in Gestalt von Oligarchen wie Roman Abramowitsch und dem staatlichen Energieriesen Gazprom – im europäischen Fußball engagiert. Saudi-Arabien würde auch gerne mitmischen, bemühte sich im Jahr 2020 um die Übernahme des Premier-League-Klubs Newcastle United. 80 Prozent der Klubanteile sollten an den saudischen Staats- fonds Public Investment Fund gehen, hinter dem Muhammad bin Salman steht. Der saudische Kronprinz wird u. a. von den US-Geheimdiensten für die bestialische Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Kashoggi verantwortlich gemacht. Als die allgemeine Unruhe um die saudischen Pläne mit New- castle United nicht abebben wollte, zogen die Saudis ihr Über- nahmeangebot zurück. Hatice Cengiz, die Verlobte Kashoggis, war erleichtert: »Lasst diese Niederlage eine starke Botschaft für Saudi-Arabiens Führung sein, dass sie ihr Geld nicht benutzen kann, um ihre Menschenrechtsverstöße zu verdecken oder die- jenigen zu schützen, die für den Mord an Jamal verantwortlich sind.«

68 So bleibt den Saudis in der Premier League bis heute eine 50-prozentige Beteiligung am Abstiegskandidaten Sheffield United. Die hatte im Jahr 2013 Prinz Abdullah bin Mosa’ad bin Abdulaziz Al Saud realisiert, als United noch in Englands dritter Liga kickte. »Die Regionalmacht Saudi-Arabien steht in ihrer sportlichen Geopolitik erst am Anfang«, schreibt der Autor Ronny Blaschke. Andere Ölstaaten sind längst weiter, wie etwa ein Blick auf das Viertelfinale der Champions-League-Saison 2019/20 offen- bart: Vier der darin spielenden Teams wurden von Golfstaaten gesponsert. Paris Saint-Germain gehört Qatar Sports Invest- ments (QSI), einer Tochtergesellschaft des Staatsfonds von Katar. Bayern München betreibt Werbung für Qatar Airways und absolviert seit 2011 sein Wintertrainingslager im Emirat. Bei Manchester City besitzt die Abu Dhabi United Group Invest- ment & Development Limited 86,21 Prozent der Anteile, Trikot- sponsor ist die nationale Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, Etihad Airways, nach der auch das Stadion von City benannt ist. Und Olympique Lyon schließlich warb auf seiner Brust für Emirates, die Fluggesellschaft des Emirats Dubai. Das Finale zwischen Paris Saint-Germain und dem FC Bayern war dann ein rein »katarisches«.

Katar und »die Guten«

Erstmals auf sich aufmerksam machte Katar im europäischen Fußball mit dem Einstieg beim FC Barcelona. Bis zur Saison 2011/12 war Barça weltweit der letzte Großklub, der ohne kom- merzielle Werbung auf dem Trikot spielte. Das Barça-Trikot galt als heilig und war von profanen Dingen rein zu halten. Ein erster Tabubruch war bereits 2006 erfolgt, allerdings in einer Form, die vermittelbar war. Denn der Trikotsponsor stand für eine gute Sache: UNICEF, das Weltkinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Zudem erhielt der FC Barcelona keinen Cent für die Werbung,

69 sondern verpflichtete sich im Gegenteil auf fünf Jahre zur Zah- lung von jährlich 1,5 Mio. Euro an die UN-Organisation. Barça-Boss Joan Laporta wollte die Katalanen als »Modell des Guten in der Fußballwelt« (Financial Times Deutschland) ver- markten. Der UNICEF-Deal, so Laporta, sei gleich in zweifacher Hinsicht historisch: »Zum einen tragen wir zum ersten Mal Wer- bung auf unserem Trikot. Zum zweiten zeigt diese Vereinbarung, dass wir in Sachen Solidarität weltweit der führende Verein sind.« Kritiker warnten allerdings schon damals, dass die UNICEF-Wer- bung als Einfallstor für kommerzielle Partner dienen könnte. Das österreichische Fußballmagazin Ballesterer kommentierte: »Aber wer gibt sich schon die Blöße, gegen eine Spende an HIV-infizierte Kinder zu protestieren? Die Barcelona-Chefetage musste den Widerstand der Fans gar nicht mehr brechen. Er wurde ausgehe- belt, noch bevor er sich hätte formieren können.« Am 13. Juni 2010 wurde Sandro Rosell Präsident des Klubs. Als Nike-Manager und Chef der von ihm gegründeten Firma Bonus Sports Marketing hatte Rosell fragwürdige Deals mit dem brasi- lianischen Fußballverband abgeschlossen. Dessen korrupter Boss, Ricardo Teixeira, war ein Intimus des neuen Barça-Präsidenten. Rosell unterhielt bereits seit Jahren geschäftliche Beziehungen in Katar. 2007 war Bonus Sports Marketing in den Genuss eines großzügigen Auftrags der Aspire Academy gekommen.

Katar statt UNICEF

Am 10. Dezember 2010, dem internationalen Tag der Menschen- rechte, und nur einige Tage, nachdem Katar den Zuschlag für die WM 2022 erhalten hatte, gab der FC Barcelona bekannt, dass in der Saison 2011/12 erstmals ein zahlender Sponsor auf seinem Trikot werben werde. 111 Jahre war der Klub ohne kommerzielle Trikotwerbung ausgekommen, nun nahm die Qatar Foundation for Education, Science and Community Development die Blau­ grana-Brust in Beschlag. Barça und die Qatar Foundation unter-

70 schrieben einen Vertrag, der über den Zeitraum von fünf Jahren 165 Millionen Euro in die Klubschatulle spülte. Damit kassierten die Katalanen für Trikotwerbung jährlich sechs bis sieben Milli- onen mehr als der nationale Rivale Real Madrid. Es war damals der größte Trikotsponsoringdeal in der Geschichte des Fußballs. Der Vertrag lief bis 2016, dem vorgesehenen Ende von Rosells Amts- zeit. Rosell rechtfertigte die Partnerschaft mit dem 80 Mio. Euro Schuldenberg, den ihm sein Vorgänger Laporta hinterlassen habe. Die Klublegende Johan Cruyff übte in seiner in der Tages- zeitung El Periódico erscheinenden Kolumne scharfe Kritik an dem seiner Meinung nach vulgären Deal: »Kein anderer Klub hat sein Trikot mehr als 100 Jahre sauber gehalten. So etwas verkauft man nicht für Geld. Wir haben das Trikot all die Jahre sauber gehalten und sind trotzdem wettbewerbsfähig geblieben. Diese Einzigartigkeit haben wir für sechs Prozent des Budgets verkauft.« Die kostenfreie UNICEF-Werbung sei »einzigartig in der Sportwelt« gewesen und eine »tolle Botschaft an alle, dass man für Geld nicht alles kaufen kann. Geld ist wichtig. Aber es gibt Wichtigeres«. Nicht nur Cruyff zürnte. Alfons Godall, unter Laporta Vizeprä- sident des Klubs, warf Rosell vor, er verfolge mit dem Coup auch persönliche wirtschaftliche Interessen. Zudem handele es sich bei Katar um »ein politisches Regime, das Frauen schlecht behan- delt, das obskur, chauvinistisch und undemokratisch ist«. Dieser Haltung entgegnete Sandro Rosell, man wolle dem Land »in eine demokratische Zukunft helfen«. Gleichwohl gab der Barça-Boss zu: »Bis heute gibt es niemanden, der mehr zahlt.«

Die Qatar Foundation

Barças Partner Qatar Foundation ist eine 1995 gegründete pri- vate Stiftung. Vorsitzende ist Mozah Bint Nasser Al Missned, zweite der drei Frauen des bis 2013 regierenden Emirs. Die Mode-Ikone vieler arabischer Frauen gilt als liberale Moderni-

71 siererin und Schreckgespenst der konservativen Kräfte in der Region. Ziel ihrer Stiftung ist die Entwicklung Katars zu einem Hochschul- und Forschungszentrum. Mozah Bint Nasser: »Öl und Gas werden irgendwann zu Ende gehen. Aber das Wissen bleibt.« Außerdem sei Bildung die wichtigste Waffe gegen Extremismus und Terrorismus. Entsprechend sponsert die Qatar Founda- tion zahlreiche Bildungs- und Sozialprojekte, so erscheint sie als liberal-modernistischer Flügel der konservativen Monarchie. Doch die Stiftung hat auch ein anderes Gesicht. Die Qatar Foundation wird der Unterstützung der Hamas bezichtigt und sponsert auch den prominenten ägyptischen Islamisten und Prediger Yussuf al-Qaradawi, nach dem die Stiftung eines ihrer Stipendien benannt hat. Al-Qaradawi ist eine Vaterfigur der Muslimbruderschaft. Beim katarischen TV- Sender Al Jazeera hatte er ein eigenes Format namens »Scharia und Leben«. Dort ließ er sich unter anderem über die Gefahren der weiblichen Masturbation aus, bewertete 100 Peitschen- hiebe für Schwule und Lesben als gerecht und verteidigte Selbstmordattentate in Israel. Palästinenser, so al-Qaradawi, sollten anstreben, zu menschlichen Bomben zu werden. Weil es völlig legitim sei, auf diese Weise schwangere israelische Frauen zu töten. Im Gegensatz zu einigen anderen Hasspredi- gern leugnete al-Qaradawi den Holocaust nicht – die Ermor- dung der europäischen Juden habe tatsächlich stattgefunden, sei aber eine Strafe Allahs gewesen. Allah, so der Islamist, habe das jüdische Volk »wegen seiner Verkommenheit gestraft. Die letzte Strafe wurde von Hitler vollzogen. (…) Das war ihre gött- liche Bestrafung«. Und Al-Qaradawi versäumte nicht, einen wei- teren Holocaust zu versprechen: »So Gott will, wird das nächste Mal diese durch die Hand der Gläubigen erfolgen.« Der homo- sexuelle Barça-Fanklub Peña Blaugrana de Gays y Lesbianas war besorgt über den »moralisch verwerflichen« Deal mit dem Emirat. Die Tageszeitung El Mundo befürchtete vor diesem Hin- tergrund sogar, der FC Barcelona werde nun zum Werbeträger islamistischen Gedankenguts.

72 Pep Guardiola und Katar

Dass die Mitglieder des FC Barcelona mit einer überragenden Mehrheit für den Katar-Deal stimmten, war wesentlich Pep Guar- diola zu verdanken. Der damalige Cheftrainer war dem Emirat bereits seit Jahren verbunden. Er hatte seine Spielerkarriere bei al-Ahli in der Hauptstadt Doha ausklingen lassen. Später war Guardiola als Repräsentant Katars in Erscheinung getreten und hatte das Emirat auch bei dessen WM-Bewerbung unterstützt. Der Mann, der sein katalanisches Volk von Madrid geknechtet sieht, sagte allen Ernstes: »Katar ist ein demokratisches Land, sonst hätte es die WM nicht bekommen.« Anders als in der Welt gemeinhin angenommen, genössen Frauen in Katar, so Guardiola, sehr wohl Rechte: »Ich habe sie dort arbeiten, Auto fahren und auf der Straße gehen sehen.« Und: »Ungerechtigkeiten gibt es überall auf der Welt.« Für Guardiola war entscheidend: »Mich haben sie dort gut behandelt.« Katar sei »zweifellos das liberalste islamische Land der Welt«, eines, das sich in Richtung Westen noch weiter öffnen möchte. In Katar hätten die Menschen »alle Freiheiten der Welt, innerhalb des Rah- mens, den ihnen die Regierung steckt«. Die französische Fachzeit- schrift France Football behauptete, Guardiola habe für seine Bot- schaftertätigkeit mindestens elf Millionen Euro kassiert. Nach zwei Jahren wurde die Qatar Foundation im Jahr 2013 auf der Trikotbrust des FC Barcelona von Qatar Airways abge- löst. Im Sommer 2017 räumte Katar seinen Platz auf der Barça- Brust für das japanische Internetunternehmen Rakuten, das pro Jahr gut 60 Millionen Euro zahlte.

Die Bundesliga kommt

Im Januar 2006 veranstaltete der FC Bayern sein Wintertrai- ningslager in den Vereinigten Arabischen Emiraten – genauer: in Dubai. Die Mannschaft unterbrach ihren Aufenthalt dort für

73 eine kurze Visite in den Iran, der zu dieser Zeit vom Antisemiten Mahmud Ahmadinedschad regiert wurde. Bei ihrer Ankunft wurden die Bayern in einen Nebenraum des Teheraner Flugha- fens geführt, der sonst nur Staatsgästen vorbehalten war. Bis auf Trainer Felix Magath und Manager Uli Hoeneß erschien der Bayern-Tross komplett im Trainingsanzug – um nach außen hin den rein sportlichen Charakter der Reise zu betonen. Mitten im internationalen Konflikt um das iranische Atomprogramm bestritt der deutsche Rekordmeister im 100.000 Zuschauer fas- senden Teheraner Azadi-Stadion ein Testspiel gegen Persepolis Teheran. Für eine Antrittsgage in Höhe von 250.000 Euro. Manager Uli Hoeneß versuchte, die Kritiker zu beruhigen: »Wir spielen für das iranische Volk, nicht das Regime.« Die Gast- geber sahen dies gleichwohl anders: »Die politischen Aspekte sind für uns genauso wichtig wie die finanziellen«, erklärte Per- sepolis-Vorstand Mohammad Hassan Ansarifard. Der Besuch der Bayern zeige, »dass es keine politischen Bedenken gegen den Iran gibt«. Auch Irans damaliger Sportminister Mohammad Alia- badi betonte die »politische Bedeutung« des Spiels, die dadurch unterstrichen wurde, dass während dessen Fernsehübertragung quer über den Bildschirm in englischer Sprache Propaganda für das iranische Atomprogramm lief. Mit seinem Besuch in Teheran hatte der FC Bayern eine Schwelle überschritten. Die Ahmadi- nedschad-Regierung hatte dem Klub deutlich vor Augen geführt, wer bei derartigen Deals die Musik bestimmt. 2011 absolvierte der FC Bayern dann erstmals sein Winter- trainingslager in Katar. Seither ist man dort Stammgast. Auch Schalke 04 verbrachte die Zeit zwischen den beiden Saison- hälften wiederholt in der katarischen Aspire Academy. Beide Klubs lobten die fantastischen Trainingsbedingungen vor Ort. Profiteur war aber auch Katar. Das System funktioniert ganz einfach: Wer am Abend zum Essen eingeladen wird, wird am folgenden Morgen kaum schlecht über seinen Gastgeber reden. Schon gar nicht, wenn er – wie Karl-Heinz Rummenigge – von diesem zusätzlich zum Trainingslager auch noch zwei Rolex-

74 Uhren im Wert von rund 100.000 Euro geschenkt bekommt. Dummerweise wurde der Bayern-Vorstandsvorsitzende mit diesen Mitbringseln bei der Rückkehr aus Katar auf dem Münchner Flughafen von humorlosen Zollbeamten erwischt. Ein Gericht verurteilte Rummenigge zu 140 Tagessätzen – unterm Strich: 249.900 Euro. Hinzu kam die Zollgebühr.

Katar kauft PSG

2011 sicherte sich die Qatar Sports Investments (QSI) zunächst 70 Prozent der Anteile am französischen Fußballklub Paris Saint- Germain. Ein Jahr später übernahm man PSG komplett. Im März 2013 wollte Katar angeblich für rund 960 Millionen Euro auch noch Arsenal London kaufen, aber ein Deal kam nie zustande. Paris und PSG eigneten sich für das katarische Engagement aus zwei Gründen. Erstens: Die Übernahme wurde, wie der Autor Glenn Jäger schreibt, durch »die massive Verstrickung zwischen französischem und katarischem Kapital« begünstigt. 2015 waren 51 französische Unternehmen in Katar vertreten, hinzu kamen noch gut 100 Joint Ventures. Noch umfangreicher waren Katars Investitionen in Frankreich. Der Staatsfonds Qatar Investment Authority war u. a. Großaktionär beim Baukonzern Vinci, bei Total (Öl), beim Atomkonzern Areva, beim Luft- und Raumfahrt- konzern Airbus Group, beim Sportrechtekonzern Lagardère. Die wichtigsten Medienkonzerne Frankreichs gehörten Konzernen, an denen Katar beteiligt war oder mit denen strategische Koope- rationen bestanden. Last but not least befanden sich zahlreiche Immobilien in Paris, an der Côte d’Azur und in Monte Carlo im Besitz der Katarer. Zweitens: PSG war im Jahr 1970 von einem Business-Konsor- tium gegründet worden, das die nationale Fußballlandkarte um einen starken Hauptstadtklub bereichern wollte. Der zügige Auf- stieg des Klubs aus dem Nichts firmierte als Musterbeispiel für den wachsenden Einfluss von Business und Sponsorship im Fußball –

75 mit wechselnden Besitzern: 1973 übernahm der Modeschöpfer Daniel Hechter PSG, 1991 der französische TV-Sender Canal+, 2006 das US-amerikanische Private-Equity-Unternehmen Colony Capital, das ihn fünf Jahre später an die QSI weitergab. Präsident von QSI war seinerzeit Tamim bin Hamad Al Thani, vierter Sohn von Machthaber Hamad bin Chalifa Al Thani und seit 2013 Staatsoberhaupt des Emirats. Laut Süddeutscher Zei- tung wurde der Kauf des Pariser Fußballklubs von Staatspräsi- dent und PSG-Fan Nicolas Sarkozy eingefädelt. Sarkozy hatte Hamad al Thani noch vor dessen Einstieg bei PSG den französi- schen Verdienstorden verliehen. Im Januar 2012 sicherte sich der katarische Fernsehsender Al Jazeera die Übertragungsrechte an der für vier Jahre und zahlte dafür 240 Millionen Euro. Präsident von PSG wurde der ein halbes Jahr zuvor zum Vor- stand der QSI bestellte Geschäftsmann Nasser Al-Khelaifi, ein ehemaliger Tennisprofi, der von seinem Tenniskumpel Tamim bin Hamad Al Thani zudem zum »Minister ohne Amt« berufen wurde. Auch als Minister blieb Al-Khelaifi Vereinspräsident in Paris, Vorsitzender der QSI und CEO der beIn Media Group, zu der u. a. der TV-Sender Al Jazeera gehört. Die QSI investierte riesige Summen in die PSG-Mannschaft, die für Katar PR betreiben und zur globalen Vermarktung des Landes beitragen sollte. Zur Saison 2012/13 verpflichtete man Zlatan Ibrahimovic. Dessen Nettogehalt betrug ca. 15 Millionen Euro – die Einkommensteuer des schwedischen Stürmers sollen die Kataris übernommen haben. Ibrahimovic war damit nach dem Kameruner Samuel Eto’o, der beim russischen Erstligisten Anschi Machatschkala noch fünf Millionen netto mehr erhielt, der bestbezahlte Fußballer der Welt. Derweil nahm die »europäische Präsenz« in Katar weiter zu. 2014 bestritten Paris Saint-Germain und Real Madrid ein Freund- schaftsspiel im Jassim-Bin-Hamad-Stadion von Doha (15.000 Plätze), dort fand einige Monate später vor 14.000 Zuschauern auch das italienische Supercup-Finale zwischen dem SSC Neapel und Juventus Turin statt. Und auch 2016 war das Duell zwischen

76 Meister und Pokalsieger Italiens im Jassim-Bin-Hamad-Stadion zu Gast. Die Partie zwischen dem AC Milan und Juventus Turin verfolgten 11.356 Fans vor Ort, nach Umbauten bot das Stadion inzwischen nur noch knapp 13.000 Plätze.

Fußball kontra Islamismus?

Katars PSG-Engagement wird unterschiedlich bewertet. Scharfe Kritiker Katars und des Islamismus‘ können solchen Verbin- dungen auch etwas Gutes abgewinnen. Aus einer Vogelperspek- tive betrachtet sei es ja ein Fortschritt, dass sich Katar dem Fuß- ball zuwendet, weil Fußball für diejenigen, die den Koran »wie eine IKEA-Anleitung lesen«, wie es das französische Satirema- gazin Charlie Hebdo einmal formulierte, eigentlich eine Sünde ist. Für den französischen Sozialwissenschaftler Gilles Kepel, Autor von »Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa« waren die islamistischen Attentate im Januar 2015 gegen Charlie Hebdo und den jüdischen Hyper-Cacher-Markt aus der Sicht des islamistischen Terrors »perfekt« gewesen – der Anschlag vom 13. November 2015 anlässlich des Länderspiels Frankreich gegen Deutschland aber kontraproduktiv. Die isla- mistische Szene in den Gefängnissen, so Kepel, habe sich sehr über die Anschläge vor dem erregt: »Mein Onkel saß im Stadion, mein Bruder usw.« Laut Kepel dürften diese Reaktionen in der dschihadisti- schen Sympathisantenszene, in der nahezu jeder ein Fußballfan sei, dazu geführt haben, dass der Islamische Staat und andere islamistische Terrorgruppen einen Angriff auf die EM 2016 in Frankreich unterließen. In Frankreich existiere also eine Szene, die antisemitisch, antifranzösisch, frauenfeindlich und homo- phob und natürlich extrem religiös ist, aber einigen westlichen Gepflogenheiten immerhin so weit verbunden, dass sie keine Angriffe auf Fußballturniere wünsche.

77 Diese Szene wird durch unterschiedliche Aktivitäten Katars unterstützt: durch das Hochpäppeln von Paris Saint-Germain, was für die islamistische Fanszene einen Sympathieträger schafft. Und durch die ideologische Arbeit von vermeintlichen Wohltätigkeitsorganisationen. Denn da gibt es nicht nur die erwähnte Qatar Foundation. Ein ähnlich barmherziges Image pflegt auch die die 1992 gegründete Wohltätigkeitsorganisation Charity. Sie hilft Waisen in Afghanistan, fördert Entwicklungs - projekte in der Dritten Welt und hilft bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen in Pakistan. Im Herbst 2019 strahlte der deutsch-französische TV-Sender Arte eine Dokumentation der Journalisten Georges Malbrunot und Christian Chesnot aus, die das schöne Bild einer rein huma- nitären Stiftung stark relativierte. Demzufolge verfolgt Qatar Charity mit Millionensummen »ein Missionierungs- und Finan- zierungsprogramm zur Stärkung des politischen Islams in Europa, mit 140 Moscheebauten, Kulturzentren und Schulen, die alle auf die eine oder andere Art mit der Muslimbruderschaft zusammenhängen«. Laut dem Report reichen die Verbindungen der finanzstarken Organisation bis in die Spitze Katars und die Herrscherfamilie Al-Thani. Offenbar gibt es auch Kontakte zu ter- roristischen Gruppen. Laut dem Washington Institute for Near East Policy unterstützte Qatar Charity u. a. die Islamische Front in Syrien, ein Sammelbecken dschihadistischer Organisationen.

Der nette Herr Infantino

Im Sommer 2016 verließ Zlatan Ibrahimovic Paris wieder und für die folgende Saison verzichteten die PSG-Besitzer auf große Investitionen. Darob kursierte das Gerücht, die Kataris würden sich zurückziehen. Staatspräsident François Hollande, der Sar- kozy im Mai 2012 abgelöst hatte, schien beunruhigt, wie Infor- mationen der Süddeutschen Zeitung nahelegen: »François Hol- lande soll Emissäre des Emirs in den Elysée geladen haben, um

78 sicherzustellen, dass Katar sich nicht insgesamt von Frankreich entliebe und seine Milliarden aus vielen Firmenbeteiligungen zurückziehe.« Die Sorge war unbegründet, schon bald floss mehr Geld als je zuvor. Zur Saison 2017/18 wurde der Brasilianer Neymar für 222 Millionen Euro beim FC Barcelona losgeeist und avancierte damit zum teuersten Spieler der Fußballgeschichte. Auch der französische Nationalstürmer Kylian Mbappé wechselte von AS Monaco zu PSG – Ablöse: 180 Millionen Euro. Damit hatte der Hauptstadtklub sich binnen Kürze die beiden teuersten Spieler der Fußballgeschichte geleistet – was aber nicht ohne kleine Tricks funktionieren konnte: Um die Financial-Fairplay-Rege- lung der UEFA zu umgehen, wurde Mbappé zunächst bis zum Sommer 2018 nur ausgeliehen. Insgesamt soll PSG im Zeitraum von 2011 bis 2019 geschätzte 1,2 Milliarden Euro in den Kauf neuer Spieler investiert haben – so viel wie kein anderer Verein der Welt in dieser Zeit. Sowohl PSG als auch der mit Geld aus den Vereinigten Ara- bischen Emiraten gesponsorte englische Erstligist Manchester City verstießen wiederholt gegen das Financial Fairplay. Doch solange Gianni Infantino Generalsekretär der UEFA war, konnten die beiden Klubs auf Gnade setzen. Die Enthüllungsplattform Football Leaks präsentierte im November 2018 Dokumente, aus denen hervorging, dass der 2016 zum FIFA-Präsidenten gekürte Infantino in seiner Zeit bei der UEFA gezielt die Arbeit von verbandsinternen Kontrollgremien hintertrieben hatte. Der Schweizer Funktionär sorgte dafür, dass die massiven Verstöße der beiden »Scheich-Klubs« nur milde bestraft wurden. Anfang Mai 2017 griff Qatar Airways der von Affären zer- mürbten und diskreditierten FIFA und ihrem Präsidenten unter die Arme. Als zahlungskräftige Sponsoren kündigten, füllte die Fluggesellschaft das Loch in der Kasse. Qatar Airways wurde offi- zielle FIFA-Partner-Airline. Am 21. November 2020 nahm eine Boeing 777-300ER der Fluglinie – lackiert in den Farben des WM- Turniers Qatar 2022 – offiziell ihren Dienst auf und verband Doha

79 mit Zürich, dem Sitz der FIFA. Qatar Airways Group Chief Execu- tive, Akbar Al Baker: »Wir freuen uns sehr, unsere Partnerschaft mit der FIFA und den Gastgeberstatus von Qatar bei der FIFA Fuß- ball-Weltmeisterschaft Qatar 2022TM zu feiern, indem wir dieses einzigartige Flugzeug in unserer Flotte begrüßen.« Baker verkün- dete bei dieser Gelegenheit die Erweiterung des Streckennetzes auf 125 Zielorte. Bis zur WM würde der Flughafen in Doha seine Kapazität auf mehr als 58 Millionen Passagiere im Jahr erhöhen.

»Qlasico«: FC Bayern gegen Paris Saint-Germain

Im Sommer 2020 standen die PSG-Besitzer kurz vor dem Ziel ihrer Träume: Nachdem man in den drei vorangegangenen Jahren bereits im Achtelfinale gescheitert war, hatte ihr Klub end- lich das Finale der Champions League erreicht. Die französische Meisterschaft war längst zur Pflichtübung geworden: In sieben von acht Spielzeiten seit 2013 hatte PSG den Titel geholt. Was für die Kataris allein zählte, war der große europäische Triumph. Gegner der Pariser/Kataris im Finale 2020 war der FC Bayern München. Der sportinformationsdienst schrieb vor dem Show- down in Lissabon: »Irgendwo am Persischen Golf knallen ver- mutlich noch immer die Rosenwasser-Korken. Bayern München gegen Paris Saint-Germain, zwei vom Emirat alimentierte Ver- eine im Finale des wichtigsten Klub-Wettbewerbs der Erde – kann es etwas Schöneres geben?« Qatar Airways prophezeite auf Twitter: »Die Welt wird stillstehen.« Versehen mit dem Hashtag #Qlasico, in Anlehnung an den echten Clásico zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid. In den sozialen Medien sahen viele die Paarung kritischer. Bayern gegen Paris sei ein Spiel um die »offenen Meisterschaften von Katar«. Der Fan habe die Wahl zwischen »ein bisschen Katar und viel Katar«. »Ein bisschen Katar« waren die Bayern, »viel Katar« Paris. Im Vorfeld des Finales platzierte Qatar Airways

80 tagtäglich Botschaften, in denen die Verbindung Katars und der Airline mit den beiden Finalisten betont wurde. Wie Katar und Qatar Airways vom Finale profitierten, erzählte Hendrik Schiphorst, der Geschäftsführer der internatio- nalen Sportbusinessagentur Sportfive, imDeutschlandfunk dem Journalisten Daniel Theweleit. Grundsätzlich sei es natürlich so, »dass die Vereinssponsoren von Erfolgen von ihren Vereinen profitieren, denn die Reichweiten des jeweiligen Vereins erhöhen sich natürlich mit dem sportlichen Erfolg. Daran partizipieren auch alle Partner.« Die Champions League sei eine der zehn größten Sportveranstaltungen der Welt. Über die Saison ver- folgten 1,7 Milliarden Menschen die Spiele in der Königsklasse. Die höchste Einschaltquote würde natürlich das Finale verbu- chen. Man könne mit TV-Spots oder Zeitungsanzeigen oder in den sozialen Medien mit entsprechenden Kampagnen immer darauf hinweisen, »dass man selber ja auch Partner des teilneh- menden Vereins ist, und somit erzielt man automatisch einen Abstrahleffekt«. Theweleit: »Die Klubs legitimieren damit einen Staat, in dem Grundrechte umgangen werden. Und die Flugge- sellschaft mit ihren Bildern von Traumstränden und den berühm- testen Städten der Welt eignet sich besonders gut, um die dunkle Seite Katars mit positiven Assoziationen zu überdecken.« Für Danyel Reiche, Professor an der Georgetown University in Doha, ging es beim Sponsoring durch Qatar Airways »nicht nur um den Werbe-Effekt für das Unternehmen, sondern auch um die politischen Ziele des Landes: Branding, Softpower, natio- nale Sicherheit. Denn das Land ist von zwei sehr großen Ländern umgeben, Iran und Saudi-Arabien, und die Urangst der Katarer ist, dass ihnen das widerfährt, was Kuwait 1990 durch die Inva- sion des Irak widerfahren ist. Ich denke, dass die Strategie, in den Sport zu investieren, um sich dadurch weltweit bemerkbar zu machen, gut funktioniert hat.« Für Danyel Reiche manifestierte das Finale »einen erneuten geopolitischen Sieg Katars gegen- über Saudi-Arabien – während Saudi-Arabien damit gescheitert ist, einen Premier-League-Verein, Newcastle United, zu über-

81 nehmen, stehen zwei Vereine im Champions-League-Finale, die von Katar unterstützt werden«. Die geopolitischen Interessen Katars mag man nachvoll- ziehbar finden. Doch ist das Agieren des Emirats verbunden mit der Unterstützung des internationalen Islamismus bzw. einer extrem reaktionären Auslegung des Islams sowie mit einem immensen Geldfluss in den europäischen Fußball. Das hat Kon- sequenzen, mit denen man sich weder politisch noch als Fuß- ballfan abfinden sollte.

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»Willkommen im Paradies« KATAR UND DER FC BAYERN MÜNCHEN

2011 absolvierte der FC Bayern München sein erstes Trainings- lager in Katar bzw. in der Aspire Sports Academy. Der Vorstands- vorsitzende des Klubs, Karl-Heinz Rummenigge, begründete diesen Besuch damit, dass Katar die besten Trainingsbedin- gungen der Welt biete. Im Tagesspiegel kommentierte Stefan Herrmanns: »Wie solche Trainingsbedingungen zustande kommen, dass es für Bauarbeiter aus Nepal in Katar nicht gerade die besten Arbeitsbedingungen der Welt gibt, darauf konnten die Bayern leider keine Rücksicht nehmen.« Im August 2020 beschrieb Andreas Bock in 11Freunde, wie der FC Bayern seine Katar-Visiten verkauft: »Wenn Mitarbeiter des FC Bayern auf dem hauseigenen YouTube-Kanal über diesen Ort sprechen, schwärmen sie von den ›hervorragenden Trai- ningsbedingungen‹, und dem Zuschauer werden als Beweis Bilder von trainierenden und gut gelaunten Fußballprofis gezeigt. Es könnten Imagefilmchen von Wellnessprodukten oder für Reise- anbieter von Aktivurlauben sein; alles ist schön weichgezeichnet und in Zeitlupe geschnitten, dazu erklingt leicht verdauliche Ins- trumentalmusik, die man aus vorabendlichen Infotainment-Sen- dungen im Privatfernsehen kennt. Willkommen im Paradies.« Der FC Bayern schweigt also nicht einfach nur zu den politi- schen Verhältnissen in Katar. Er betreibt mit seinen jährlichen Aufenthalten aktiv Werbung für das Land. Auch wenn Rumme-

83 nigge das bestreitet. Das sei »keine politische Äußerung«, nie- mand solle »Dinge vermischen, die nicht zusammengehören«.

Zu Gast in Riad

2015 hängte der FC Bayern an sein inzwischen bereits obligatori- sches Trainingslager in Doha ein Testspiel in Riad an, der Haupt- stadt von Saudi-Arabien. Im König-Fahd-Stadion wurde al-Hilal mit 4:1 besiegt. Der Bundesligist kassierte hierfür eine Gage im Millionenbereich, die laut Süddeutscher Zeitung der Bayern- Partner Volkswagen an die Säbener Straße überwies. Der Besuch der Bayern fiel in eine Zeit, als sich der demokrati- sche Teil der Weltöffentlichkeit über die Folterung des saudischen Bloggers Raif Baldawi empörte. Baldawi hatte auf der von ihm gegründeten Website Freie Saudische Liberale für Religionsfreiheit bzw. einen säkularen Staat und geschlechtliche Gleichberechtigung geworben. 2014 wurde Baldawi wegen »Beleidigung des Islam« zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben – aufgeteilt in 20 Por- tionen à 50 Hiebe – verurteilt, nachdem ihn ein islamisches Rechts- gutachten zum »Ungläubigen« erklärt hatte. Das Gericht warf Bal- dawi vor, Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig zu betrachten. Für die Richter war dies ein Verstoß gegen das Anti- Terror-Gesetz. Der erste Teil der Strafe wurde einige Tage vor dem Eintreffen des FC Bayern in Saudi-Arabien vollstreckt. Die zweiten 50 Hiebe sollte Baldawi während des Besuchs erhalten, aber das Opfer war bei der ersten Auspeitschung so schwer verletzt worden, dass die Fortsetzung der Folter aufgeschoben wurde. Einen Tag vor dem Freundschaftsspiel des deutschen Rekordmeisters wurde in Mekka eine Frau öffentlich enthauptet. Damit sich die Enthaup- tung möglichst schmerzhaft gestaltete, war das Opfer nicht einmal narkotisiert worden. Es war seit Jahresbeginn bereits die siebte Hinrichtung in Saudi-Arabien. Das Regime in Riad wird häufig als »islamisch-konservativ« verharmlost. Tatsächlich ist es eines der barbarischsten auf unserem Planeten.

84 Frauen waren bei der Partie gegen al-Hilal übrigens nicht zugegen – ihnen war das Betreten eines Fußballstadions in Saudi-Arabien bis 2018 verboten. Den FC Bayern focht aber auch das nicht an. Für Trainer Pep Guardiola war es »eine Ehre, hier zu sein«. Das Spiel sei »ein guter Test für uns in der Vorbereitung auf die Rückserie« gewesen. Und Karl-Heinz Rummenigge zog als Fazit zum Trainingslager: »Bayern München ist nicht verant- wortlich für Katar. Natürlich lesen wir auch, dass dort gewisse Dinge passieren, die uns hier in Deutschland allen nicht gefallen. Aber ich glaube, das ist eine Aufgabe der Politik und nicht die des Sports beziehungsweise Fußballs.« Nach der Rückkehr vom Persischen Golf hagelte es Kritik. Dagmar Freitag (SPD), Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestags: »Fußballer müssen ja keine Politiker sein, aber sie sollen sich der Menschenrechtslage bewusst sein und durchaus mal ein Zeichen setzen.« Für Özcan Mutlu, den sportpolitischen Sprecher der Grünen, hatte es der Branchenführer verpasst, mit einer Absage des Testspiels ein »starkes Signal für Demokratie und Menschenrechte zu setzen«. Protest rührte sich aber auch bei den Fans des Klubs. Ein Mit- glied des FC Bayern schrieb nach der Rückkehr der Mannschaft aus Riad einen offenen Brief an den Vereinsvorstand:

»Sehr geehrte Damen und Herren, obwohl mir der Verein, den ich seit meinem elften Lebensjahr unterstütze, weiterhin sehr viel bedeutet und mir sportlich der- zeit eine Freude bereitet wie selten zuvor in meinem Leben, kann ich verschiedene Entscheidungen der Vereinsführung derzeit mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Die bezieht sich vorrangig auf die Kooperation des FC Bayern München mit den Staaten Katar und Saudi-Arabien. Die inzwi- schen über Jahre andauernde Zusammenarbeit des Vereins mit einem Staat, der Arbeitskräfte zum Bau von Stadien in einer Form einsetzt, die von Amnesty International als ›moderne Sklaverei‹ bezeichnet wird, und dabei bereitwillig Todesfälle in Kauf nimmt,

85 ist bereits schwer erträglich. Dass Karl-Heinz Rummenigge, der immerhin den Verein (und damit auch mich als Mitglied) in der Öffentlichkeit vertritt, dann auch noch die Dreistigkeit besitzt, diese im aktuellen sportstudio nicht nur mit den angeblich welt- besten Trainingsbedingungen, sondern mit ›Aberglauben‹ (!) zu rechtfertigen, empfand ich bereits als Beleidigung derjenigen, denen das Thema Menschenrechte am Herzen liegt. Das Testspiel in Saudi-Arabien (…) ist leider der Tropfen, der für mich das Fass zum Überlaufen bringt. (…) Wie kann ein Verein, der sich offiziell für eine freie Gesellschaft und eine friedliche Welt einsetzt, dies ignorieren? Auch wenn der FC Bayern nicht die Politik Saudi-Arabiens und Katars bestimmt, so legitimiert er sie mit seiner Anwesenheit doch zumindest. Ich habe an meinen Verein höhere Ansprüche als den, in erster Linie Geld zu verdienen und Titel zu gewinnen. Und eine Absage des Testspiels mit Verweis auf die politische Situation in Saudi-Arabien wäre ein starkes und wichtiges Zei- chen eines Vereines gewesen, der Millionen Fans auf der ganzen Welt erreichen kann.«

Der Platinsponsor

Anfang 2016 verkündete der FC Bayern den Abschluss eines Sponsorenvertrags mit dem Hamad International Airport in Doha. Dem damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier schien das völlig in Ordnung zu sein: »Dass Katar ein starker Investor in Deutschland ist und hier ausschließlich wirt- schaftliche Beziehungen zwischen Bayern München und katari- schen Unternehmen betroffen sind, dagegen ist aus außenpoli- tischer Sicht nichts einzuwenden.« Aus außenpolitischer Sicht … Auf der Jahreshauptversammlung 2016 übte das Düssel- dorfer Bayern-Mitglied Christian Nandelstädt in einer Rede Kritik an der Katar-Politik des Klubs. Spätestens jetzt wussten die Bayern-Bosse, dass ihre Katar-Politik bei einem Teil der Fans

86 und der Öffentlichkeit nicht gut ankam. Und dass man dies nicht länger ignorieren konnte: Hoeneß lud Nandelstädt zu einem Gespräch ein. 2019 durfte der Fan die Frauenmannschaft ins Trainingslager nach Katar begleiten, wo er mit Mitarbeitern des Klubs und Spielerinnen eine Mädchenschule besuchte, mit dem Generalsekretär des katarischen Fußballverbands diskutierte und einen Vortrag der International Labour Organization (ILO) hörte. Nandelstädt sieht die Beziehungen zu Katar weiterhin kri- tisch, aber ein Boykott des Trainingslagers kommt für ihn nicht in Betracht. 2018 wurde Qatar Airways ein sogenannter Platin Partner des FC Bayern, das Logo der Fluggesellschaft prangt seither auf dem Trikotärmel. Die Homepage der katarischen Staats- linie feiert ein »Dreamteam zum Abheben«, der Sponsoringdeal beschert den Münchenern jährlich zehn Millionen Euro. Vor Unterschrift unter den Vertrag mit Qatar Airways kontak- tierten die Bayern das Bundeskanzleramt, das sich seinerseits bei Human Rights Watch über die Lage in Katar informierte. Die NGO merkte an, dass Katar unverändert ein repressiver Staat sei und dass eine Kooperation an der Reputation des FC Bayern kratzen könnte. Das Magazin 11Freunde zitiert Nicholas McGeehan, damals Golf- und Katar-Experte bei Human Rights Watch: »Ich habe dem Klub geraten, über Themen wie Menschenrechte in Katar öffentlich zu sprechen und notwendigen Reformen die Unterstützung zuzusagen.« Die Bayern ignorierten diesen Rat. Stattdessen äußerte Rummenigge, die Partnerschaft sei ein »weiterer Schritt in unserer Internationalisierungsstrategie«.

Kritische Fans? Nein, danke!

Mit anderen Bayern-Fans verfuhr die Klubführung nicht so offen und freundlich wie mit Christian Nandelstädt. Am 16. Januar 2020 lud der »Club Nr. 12«, ein etwa 4.500 Mitglieder zählender Zusammenschluss kritischer Fans, zur Diskussion ein. Titel der

87 Veranstaltung im Münchener »EineWeltHaus«: »Katar, Men- schenrechte und der FC Bayern – Hand auf, Mund zu?« Auch der Klub war eingeladen worden, reagierte aber nicht. Obwohl man seinen Anhängern noch ein Jahr zuvor auf der Vereinshomepage einen »direkten Dialog« über die Katar-Problematik verspro- chen hatte. Für den Klub-Vertreter stand ein leerer Stuhl auf dem Podium, mit einem Bayern-Trikot über der Lehne. Auf dem Podium saßen zwei Wanderarbeiter (»migrant wor- kers«) aus Nepal, ein ehemaliger Mitarbeiter von Human Rights Watch sowie ein Fanvertreter. Die Gäste aus Nepal berichteten eindrucksvoll über ihre Erfahrungen in Katar: Viele Unternehmer hielten sich noch immer nicht an die Gesetze, das Gros der Arbeiter bekäme von Reformen nichts mit. Stattdessen würden sie weiterhin menschenunwürdig behandelt und viele Pässe würden einbehalten; laut Amnesty International arbeiten übri- gens nur zwei Prozent der Arbeitsmigrant*innen auf den Sta- dion-Baustellen. Vor der Veranstaltung des Club Nr. 12 hatte es ein Treffen im Rathaus mit Abgeordneten der im Stadtrat vertretenen Parteien gegeben. Zu dem war auch der FC Bayern eingeladen gewesen, hatte aber erneut durch Abwesenheit geglänzt. Brigitte Wolf, Stadträtin der Linken, die das Treffen initiiert hatte: »Eine Ant- wort haben wir nie erhalten. Auch keine Absage. Ein Austausch scheint nicht gewollt.« Anschließend forderten die Stadträte Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) auf, sich in seiner Funk- tion als OB und Verwaltungsbeirat des FC Bayern dafür einzu- setzen, »dass unser Verein das Emirat Katar u. a. öffentlich auf- fordert, detaillierte Daten zu Todesfällen von migrant workers zu veröffentlichen und unabhängig aufzuklären«. Außerdem müsse man sich in einer schriftlichen Selbstverpflichtung »zur Einhal- tung von Menschenrechtsstandards, auch in Geschäftsbezie- hungen, bekennen« (Stellungnahme des Club Nr. 12). In seiner schriftlichen Antwort auf Fragen der Stadträte versprach der FC Bayern einen runden Tisch mit dem General- sekretär von Katars WM-Organisationskomitee sowie Fans

88 und NGOs. Diese für den August 2020 angedachte Veranstal- tung kam laut Klub aufgrund der im Frühjahr desselben Jahres einsetzenden Corona-Pandemie nicht zustande, sie werde aber nachgeholt. Die Bitte der Politiker, der FC Bayern möge Katar auffordern, Todesfälle von Arbeitern unabhängig und detailliert untersuchen zu lassen, lehnte der Klub ab. Man könne nicht, hieß es, »NGO spielen«. Den kurzen Einleitungsvortrag bei der Veranstaltung im Eine- WeltHaus hielt ein langjähriges aktives Mitglied des FC Bayern. Er hatte zwei Monate zuvor auf der Jahreshauptversammlung 2019 des Vereins einen Antrag auf Erweiterung der Satzung ein- gebracht: Der Klub solle sich zur Einhaltung der Menschenrechte gemäß den Leitprinzipien der Vereinten Nationen verpflichten. Der Antrag wurde nicht zugelassen. Im März 2020, wenige Wochen nach der Veranstaltung des Club Nr. 12, erteilte die FC Bayern München AG, vertreten durch ihren Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge und dessen Stellvertreter Jan-Christian Dreesen, diesem Mitglied ein unbefristetes Hausverbot für die Spiele der zweiten Mannschaft im Stadion an der Grünwalder Straße, das Trainingsgelände an der Säbener Straße sowie die Allianz Arena. Begründung: »Nach- weisliche Beteiligung bzgl. des unerlaubten Einbringens und Ein- satzes eines Banners« bei einem Spiel der »Zweiten«. Das Banner wandte sich gegen die bei den Fans unbeliebten Montagsspiele. Angeblich, so der FC Bayern, habe das Stück Stoff gegen die Brandschutzrichtlinien verstoßen. Die Branddirektion München habe deshalb gegenüber dem Klub eine Rüge ausgesprochen. Eine Nachfrage bei der Direktion ergab, dass die Bayern-Oberen gelogen hatten. Die Brandschützer hatten diese Rüge nie erteilt. Vielmehr hatte der Klub sie konsultiert und »um eine Beratung zum weiteren Vorgehen gegen den Besucher« ersucht.

89 Auf dem Platz und daneben: Business as usual

Im Februar 2021 nahm die Kampagne für einen Boykott der WM 2022 erheblich an Fahrt auf. Katar war Austragungsort der Klub- WM, was aber an vielen Menschen zunächst vorbeiging, weil diese sich zu jener Zeit eher mit den anhaltenden Auswirkungen der Corona-Pandemie als mit einem – vor diesem Hintergrund sinnfrei erscheinenden – Prestige-Wettbewerb beschäftigten. Unmittelbar vor der Klub-WM, am 5. Februar, einem Freitag- abend, traten die Bayern in der Bundesliga bei Hertha BSC an. Die 90 Minuten im Olympiastadion waren Business as usual, der Tabellenführer besiegte den Hauptstadtklub mit 1:0. Zwei Tage vor der Begegnung in Berlin hatte eine von der DFL eingerichtete Taskforce »Zukunft des Profifußballs« ihren Ergeb- nisbericht veröffentlicht. Dieser enthielt u. a. folgende Aussage: »Bundesliga und 2. Bundesliga schützen und achten die Men- schenwürde orientiert an den UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte.« Die Taskforce versprach »die Ausarbeitung von verbindlichen Kodizes und eines Menschenrechtskonzeptes«, das für alle Akteure im Profifußball gleichermaßen gelten sollte, »unter anderem: Verbände, Clubs, deren Vorstände, Fans, sowie Spieler- und Trainer*innen, aber auch Sponsoren und Partnern der Liga und Vereine«. Für den FC Bayern war allerdings Business as usual nicht nur auf dem Rasen des Olympiastadions angesagt, sondern auch in Sachen Katar. Nach dem Spiel fuhren die Bayern zum Flughafen Berlin-Bran- denburg, von wo aus eine Maschine der Qatar Airways die Mann- schaft nach Doha zur Klub-WM bringen sollte. Die Herren hatten es eilig, denn schon am 8. Februar sollte dort das Halbfinale mit den Bayern stattfinden. Der Abflug war für 23.15 Uhr geplant gewesen, verzögerte sich jedoch, weil das Flugzeug zu spät enteist worden war. Und als Flug QR 7402 dann um drei Minuten nach Mitternacht endlich startklar war, wurde ihm mit Verweis auf das

90 seit 24 Uhr geltende Nachflugverbot die Startgenehmigung ver- wehrt. Man musste also auf den kommenden Morgen warten. Die Bayern-Bosse tobten. Dass sie wie »normale Fluggäste« behandelt worden waren, empörte den Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge und den Ehrenpräsidenten Uli Hoeneß zutiefst. Hoeneß sprach von einem »Skandal ohne Gleichen« und meinte damit keineswegs die Arbeitsbedingungen und Lebens- verhältnisse der Arbeitsmigrant*innen in Katar. Er erinnerte daran, dass der FC Bayern nicht irgendwer sei, sondern als Bot- schafter für ganz Fußballdeutschland, nein, sogar ganz Deutsch- land ins Emirat fliegen würde. Für die deutsche Wirtschaft besaß die Mission sicherlich einen Sinn, für die Kasse des FC Bayern ebenfalls. Aber dass »ganz Fußballdeutschland« auf dem Flug- hafen zum Spalier angetreten sei, ist nicht überliefert. Tatsäch- lich interessierte die Klub-WM selbst in Kreisen eingefleischter Bayern-Anhänger allenfalls mäßig.

»Nicht der Abflugort ist das Problem, sondern das Ziel«

Den Vogel schoss allerdings nicht Uli Hoeneß, sondern Karl- Heinz Rummenigge ab: Die Flughafen-Verantwortlichen, wet- terte der Funktionär, wüssten gar nicht, »was sie unseren Spie- lern damit angetan haben«. Wie bitte? Qatar Airways gehört zu den weltweit zehn Fünf- Sterne-Fluggesellschaften. Wer in einer ihrer Maschinen Platz genommen hat, wird vom Personal intensiv umsorgt – erst recht, wenn er zum Tross des FC Bayern zählt. Über die Strapazen, die die Mannschaft während der Wartezeit in der Maschine erleiden musste, berichtete das Magazin 11Freunde detaillierter: »Wer nachempfinden will, wie sich die Bayern im Moment der Maximal- belastung gefühlt haben könnten, sollte einmal versuchen, über acht Stunden ruhig auf dem Bett zu liegen, anschließend in eine vierstündige Sitzhaltung überzugehen, allein feinste Speisen

91 und Getränke zu sich nehmen (werden auf Wunsch gebracht) und dann versuchen, nach einer Ruhepause von nur einem Tag Sport zu treiben.« Jeder der Arbeiter, der am Bau der katarischen WM-Stadien mitgewirkt hatte, in denen die Bayern in den folgenden Tagen spielten, wäre vermutlich überglücklich gewesen, hätte er für eine Nacht seinen Platz in der Baracke gegen einen Platz im Luxusflieger eintauschen dürfen. In der Süddeutschen Zeitung nutzte Holger Gertz eine Besprechung des Buches »71/72 – Die Saison der Träumer« für einen Seitenhieb auf die Katar-Bayern: »Man liest, dass die Glad- bacher in der Winterpause 71/72 nach Israel ins Trainingslager geflogen sind, als Zeichen der Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden. Man liest das alles zu einer Zeit, in der sich die Groß- herzoge des FC Bayern darüber aufregen, dass sie am Airport Berlin nicht rechtzeitig losgekommen sind zu einem Kaspertur- nier in Katar, dem Land der ausgebeuteten Arbeitsmigranten. Dabei ist nicht der Abflugort das Problem dieser Reise, sondern das Ziel.« Natürlich, kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, könne man sich darüber ärgern, dass ein Flugzeug wegen des Nachtflugverbots nicht mehr abheben darf, weil 30 Sekunden oder auch eine, zwei oder drei Minuten fehlten. Aber die Wort- wahl der beiden immer noch wichtigsten Repräsentanten des FC Bayern offenbare ebenso wie ihre Argumentationslinie, »dass die Selbstwahrnehmung des Profifußballs nach einer kurzen Phase der Besinnung während der ersten Lockdowns vor einem Jahr längst wieder pathologische Züge angenommen hat«. Die härteste Kritik kam indes aus den Reihen der eigenen Fans. Die Gruppe Red Fanatic München schrieb auf ihrer Seite: »›Ich schäme mich für das hässliche Gesicht des FC Bayern‹, so hat sich Karl-Heinz Rummenigge Ende Februar 2020 noch geäu- ßert. Doch bei den Aussagen und Verhaltensweisen Rumme- nigges in den letzten Wochen und Monaten, stellt sich vielen Bay- ernfans mittlerweile die Frage, wer sich für wen schämen muss.

92 Für Kritik und Werturteile gegenüber Personen und Gruppen aus dem Vereinsumfeld und darüber hinaus, ist der Noch-Vorstands- vorsitzende der FC Bayern München AG seit Längerem bekannt. Selbstreflexion, Realitätssinn und eine angemessene Sensibilität der eigenen Aussagen wären von Zeit zu Zeit sicherlich ange- brachter als der egozentrische Blick auf andere Beteiligte. Die Frage, wer sich nun für wen schämen muss, beantwortet Kalle in guter Regelmäßigkeit selbst. Was aber ein Skandal ist, wird in unantastbarer Selbstherrlichkeit natürlich auch stets selbst bestimmt. Ein verspäteter Abflug zur FIFA Klub-Weltmeister- schaft in den Wüstenstaat Katar gehört – Rummenigge zufolge – eindeutig in diese Kategorie. Eine ›Verarsche‹ sei es demnach gewesen, dass die Mannschaft nach verspäteter Starterlaubnis von dem unmenschlichen Nachtflugverbot gestraft wurde. Die Menschrechtsverletzungen in Katar hingegen sind eher Tabu- als Skandalthema im Jargon der Vereinsoffiziellen des FC Bayern. Die Reise zu dem FIFA-Turnier – noch dazu mitten in einer Pandemie – ist offenbar ähnlich alltäglich wie die Arbeits- und Lebensumstände der dortigen Menschen.«

Liverpool setzt (zumindest) ein kleines Zeichen

Erwartungsgemäß gewannen die Bayern das zweitklassige Tur- nier. Im Halbfinale schlug man den afrikanischen Champion al Ahly SC aus Kairo mit 2:0, im Finale die UANL Tigres aus dem mexikanischen Monterrey mit 1:0. Spielort des Finales war das Education City Stadium in ar-Rayyan, über das die Frankfurter Rundschau schrieb: »Wegen seiner einem Diamanten ähnelnden Fassade wird es Wüstenjuwel genannt, doch an diesem Schmuck- stück klebt Blut. Wie der Guardian berichtete, starb im Zusam- menhang mit den Bauarbeiten der Arena mindestens ein Arbeiter aus Nepal.«

93 Bei der Siegerehrung holten sich auch die beiden brasiliani- schen Schiedsrichterinnen – Edina Alves Batista, die im Finale als Vierte Offizielle amtierte, sowie ihre Landsfrau Neuza Back – nach dem Sieg der Bayern bei FIFA-Boss Gianni Infantino ihre Medaillen ab. Anschließend gingen sie an Joaan bin Hamad bin Khalifa Al Thani vorbei, dem Präsidenten des katarischen Natio- nalen Olympischen Komitees und Mitglied der Herrscherfamilie. Anders als bei den Spielern und Trainern zuvor bot der Katari keinen Corona-Faustgruß an, er würdigte die Schiedsrichte- rinnen nicht eines Blickes. Die FIFA beeilte sich, den Vorgang als »Missverständnis« dar- zustellen. Für die US-amerikanische Menschenrechtsanwältin Minky Worden hingegen, die die Entwicklung in Katar für Human Rights Watch beobachtet, besaß die Szene höchste Symbol- kraft: »Katar hat viele Versprechen gegeben, als es mit dem WM- Zuschlag ins Scheinwerferlicht gerückt ist. Doch die Reformen zu Frauenrechten sind sehr weit zurückgeblieben. Es gibt Fort- schritte, aber nicht annähernd so viele wie versprochen.« Wie man die Teilnahme an der Klub-WM dazu nutzen kann, zumindest ein kleines Zeichen zu setzen, hatte der FC Liverpool im Jahr zuvor gezeigt. Die FIFA hatte die »Reds« im Luxushotel Marsa Malaz Kempinski einquartieren wollen, das auf einer künstlich angelegten Insel vor Doha liegt. Aber der englische Klub weigerte sich, die 5-Sterne-Herberge zu beziehen. Grund der Ablehnung war eine Recherche des Guardian: Die Zeitung hatte 2018 herausgefunden, dass die Unterkunft gegen eine Reihe von Arbeitsgesetzen verstoßen hatte. Wanderarbeiter berichteten von Löhnen unterhalb des Mindestlohns. Einige Beschäftigte hätten in 12-Stunden-Schichten bei 45 Grad Celsius arbeiten müssen. Der Tageslohn habe nicht einmal 10 Euro betragen. 2015 hat der FC Liverpool den vom britischen Unterhaus verabschiedeten UK Modern Slavery Act unterzeichnet. Zur modernen Sklaverei zählen unterschiedliche Formen der Aus- beutung von Arbeitskraft, wie etwa Zwangsarbeit, Kinderarbeit oder Menschenhandel. Mit dem UK Modern Slavery Act will die

94 britische Regierung diese Formen der Ausbeutung eindämmen. Hierzu verpflichtet sie Unternehmen, die eigene Organisation und die Lieferketten auf Formen moderner Sklaverei zu über- prüfen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diese ein- zuschränken oder ganz zu verhindern. Über die Anstrengungen muss das Unternehmen jährlich öffentlich berichten. Der Klub teilte der FIFA mit, dass er in ein anderes Hotel auf das Festland wechseln werde, das nicht unter derartigen Arbeits- bedingungen gebaut worden sei. Auf Anfrage einer NGO erklärte der Klub, ungeklärte Todesfälle auf den WM-Baustellen sollten untersucht werden.

»Menschenrechtsverletzungen sind keine Kultur.«

Zurück aus Doha, begab sich Karl-Heinz Rummenigge ins ZDF- Sportstudio. Dort warb er vor laufenden Kameras um Verständnis für das Austragungsland, in dem »eine andere Kultur und andere Religion« herrsche. Moderator Jochen Breyer konterte dies tro- cken und treffend mit der Feststellung: »Menschenrechtsverlet- zungen sind keine Kultur.« Mit seinem Verweis auf die »andere Kultur und Religion« rela- tivierte der Bayern-Boss die Bedeutung von Menschenrechtsver- letzungen. Der Verweis auf die »andere Kultur« ist eurozentris- tisch, vielleicht sogar rassistisch. Denn übersetzt heißt dies nichts anderes als: Der Araber ist noch nicht so weit. Möglicherweise ist er sogar – auf Grund seiner Geschichte, Kultur und Religion – zur Demokratie gar nicht fähig. Dieser Anzug passt ihm nicht. Forderungen, der FC Bayern müsse sich gegenüber dem Regime in Katar stärker positionieren und deutlichere Zeichen setzen, erteilte Karl-Heinz Rummenigge in der TV-Sendung eine Absage: »Wir beim FC Bayern sind der Meinung, dass man in einem Dialog viel mehr erreicht als in einer permanent kritischen Haltung.« Die Partner in Doha würden »unsere Überzeugungen

95 kennen, zum Beispiel bei der Frage von Arbeiterrechten. Aber sie werden uns nur zuhören auf der Grundlage von Respekt und Ver- trauen«. Die Wahrheit ist: Ohne die Existenz einer »permanent kriti- schen Haltung« würde dieser Dialog kaum stattfinden. Man kann kaum davon ausgehen, dass FIFA und FC Bayern aus eigener Initiative mit den Verantwortlichen in Katar über Arbeiter- und Menschenrechte diskutiert hätten. Der Weltverband und sein Klub-Weltmeister haben sich der Zustände in Katar reichlich spät angenommen. Erst als Kritik und Protest zunahmen, wechselte man in Zürich und München den Sound und zeigte sich dialogbe- reit. Nun gingen den Fußball die Verhältnisse in Katar doch etwas an. Nun hieß es, das WM-Turnier und die Besuche des FC Bayern würden eine Reform der Verhältnisse bewirken. Plötzlich war der Fußball dazu in der Lage, Dinge zu verändern. Es gäbe keinen Dialog, es gäbe keine Bemühungen seitens der FIFA und des FC Bayern, gäbe es nicht die vielen Menschen, die eine WM in Katar ablehnen oder dem Turnier zumindest kritisch gegenüberstehen. Und je lauter sich diese artikulieren, desto besser für die FIFA und den FC Bayern – sofern beim Weltver- band und dem Klub die Verbesserung der Situation in Katar ganz oben auf der Agenda steht. Würden es FIFA und der FC Bayern diesbezüglich ernst meinen, würden sie eine Bewegung wie #BoycottQatar2022 als hilfreichen Bundesgenossen ansehen. »Realpolitik« und eine »harte« Boykottkampagne müssen nicht in einem Widerspruch zueinander stehen. Wer einen sol- chen konstruiert und das Problem hauptsächlich in einer radi- kalen Kritik an den herrschenden Verhältnissen oder in den Boykottbeschlüssen norwegischer Klubs sieht, der meint es mit seiner Realpolitik vermutlich nicht sehr ernst. Der macht sich primär um das eigene Image und das von Katar Sorge. Und entsprechend stark entfernt sich in Wahrheit die »Realpolitik« von der Realität: Kleinste Verbesserungen werden zu großen Reformen hochgejazzt, zum Beispiel von Karl-Heinz Rumme- nigge. Er findet, dass Katar bei den Menschen- und Arbeits-

96 rechten »schon ein ganzes Stück nach vorn gekommen« sei – natürlich dank der Bemühungen des FC Bayern. Kosmetik reicht, um selbstzufrieden nicken zu können. Um die Menschen vor Ort geht es nicht. Es geht allein um die eigene Situation. Anlässlich des »katarischen« Champions-League-Finals zwischen dem FC Bayern und Paris Saint-Germain hat Andreas Bock in 11Freunde das Dilemma des Karl-Heinz Rummenigge gut auf den Punkt gebracht: »Man sollte wissen, dass die Bayern- Granden aus einer Zeit stammen, in der Anhänger und Jour- nalisten nur eins interessierte: die Meisterschaft. Es gab keine kritischen Ultras, nicht mal nervige Fans, die Transparente mit Botschaften aufhängten oder gar Diskussionen zu Themen wie Rassismus oder Menschenrechte organisierten. Fußball war Fuß- ball, und Politik war Politik. So trennten Profis und Funktionäre etwas, das in Wahrheit nie zu trennen war. Vor der WM 1978 in Argentinien fragte der ›Stern‹ die Nationalspieler, ob sie guten Gewissens in ein Land reisen könnten, in dem Oppositionelle verschleppt und ermordet werden. (…) Karl-Heinz Rummenigge, damals 22 Jahre alt, fand wenigstens: ›Ich kann nicht akzep- tieren, was da los ist – trotzdem möchte ich gerne mitspielen.‹ Eigentlich ist es immer noch so: Rummenigge möchte gerne mit- spielen. Mit den englischen Scheichklubs und den Oligarchenver- einen. Und so muss er ständig abwägen: Wäre der finanzielle und sportliche Schaden größer als der Imageschaden, den der Klub erleidet, wenn er, sagen wir, im Winter nach Spanien oder Por- tugal reisen würde?«

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Sieg, Tod – und Gerechtigkeit! EINE POLITISCHE GESCHICHTE DER FUSSBALL- WELTMEISTERSCHAFTEN – UND DER SIE BEGLEITENDEN POLITISCHEN KAMPAGNEN

Die Pioniere des internationalen Fußballs haben stets betont, dass Sport nichts mit Politik zu tun habe. Eine Vermengung von beidem beraube den Sport seines überparteilichen und überkon- fessionellen Charakters und untergrabe sein Potenzial, inner- halb einer Gesellschaft oder zwischen unterschiedlichen Ländern verbindend zu wirken. Niemand brachte das so treffend auf den Punkt wie der Kosmopolit und Gründer des Fußballmagazins Kicker, Walther Bensemann, der einmal schrieb: »Der Sport ist eine Religion, ist vielleicht das einzige wahre Verbindungsmittel der Völker und Klassen.« Das mag in mancherlei Hinsicht so sein. Allerdings lädt gerade der scheinbar klassenlose, politikfreie und somit unge- heuer massenwirksame Sport dazu ein, ihn für Botschaften und Machtdemonstrationen zu benutzen. Das gilt vor allem für Groß- ereignisse wie die Fußball-WM oder die Olympischen Spiele, die rund um den Globus Milliarden Zuschauer*innen erreichen. In der Regel sehen die Gastgeber dieser Ereignisse darin die Chance, sich positiv zu präsentieren – draußen in der Welt, aber auch beim eigenen Volk. Handelt es sich dabei um Länder mit funk- tionierender Demokratie und um die Demonstration eines sport- lichen Fairness-Gedankens, ist wenig dagegen zu sagen. Aber

98 ein kurzer Gang durch die Geschichte der Fußball-Weltmeister- schaften zeigt, dass es allzu oft auch anders gehandhabt wurde. Dabei haben ab Anfang der 1960er-Jahre immer wieder auch verschiedene Initiativen auf fragwürdige Verhältnisse in den Gastgeberländern oder gesellschaftliche Probleme im Umfeld der jeweiligen WM aufmerksam gemacht.

Uruguay 1930: »Victory or Death«

Schon bei der ersten WM-Endrunde mischten sich politische und sportliche Ambitionen. Uruguay, seinerzeit ein wirtschaftlich und politisch stabiles Land, feierte im Jahr 1930 sein hundert- jähriges Bestehen und wollte dieses Jubiläum durch die Aus- tragung der WM veredeln. Um nationalen Glanz zu verbreiten, wurden kaum Kosten und Mühen gescheut; gigantisch war allein der Bau des »Jahrhundert-Stadions«, des »Centenario«, das 100.000 Zuschauern Platz bieten sollte. Uruguay also trug seine Bewerbung mit Verve vor und über- rumpelte die europäischen Fußballnationen, die die Kosten einer WM-Austragung fürchteten. Nachdem sich die FIFA für den Aus- tragungsort jenseits des Atlantiks entschieden hatte, reagierten die Europäer beleidigt. Die meisten Verbände sagten eine Teil- nahme ab. Mit Mühe und Not konnte FIFA-Präsident Jules Rimet Frankreich, Belgien, Rumänien und Jugoslawien zur Fahrt nach Uruguay überreden, alles andere als sportliche Hochkaräter. Im Wettbewerb setzte sich der Gastgeber durch, der schon die olympischen Fußballturniere von 1924 und 1928 gewonnen hatte. Im Finale gegen den großen Nachbarn Argentinien heizten sich die nationalen Leidenschaften auf. Unter den Gästefans kur- sierte der Slogan »Victoria o muerte! Argentinia sí, Uruguay no!« (»Sieg oder Tod! Ja zu Argentinien, nein zu Uruguay«); bewaff- nete Soldaten hielten die argentinischen Anhänger in Schach. Die Uruguayer wiederum wollten, so formulierte es eine Zeitung, »ihren Sieg selbst bis ins Innere der Erde« verkündet wissen.

99 Unterm Strich stärkte das erste WM-Turnier den sportli- chen Nationalismus, doch kurioserweise wurde gerade damit die Attraktivität des Wettbewerbs für viele Teilnehmerländer erhöht. Die großen Turniere dienten fortan immer mehr dazu, nationale Identitäten zu verstärken und die Überlegenheit »nationaler Eigenschaften« zu demonstrieren.

Italien 1934: Mussolinis Turnier

Als der FIFA-Kongress 1932 Italien mit der Austragung der nächsten WM beauftragte, herrschten in Rom bereits Musso- linis Faschisten. Sie wollten mit dem Turnier ihr internatio- nales Renommee polieren und die Überlegenheit des Fachismus gegenüber demokratischen Systemen darstellen. Entsprechend offensiv hatten sie sich um die Austragung beworben. Mit der Zusage, für ein finanzielles Debakel selbst einzustehen, über- trumpften sie den Konkurrenten Schweden. Die Regierung von Benito Mussolini investierte enorme Summen in die Turniervorbereitung. In Turin, Florenz, Neapel, Rom und Mailand entstanden neue Arenen, oder es wurden bereits existierende renoviert. Zur Verstärkung der heimischen Nationalmannschaft wurden in Südamerika Nachfahren italieni- scher Emigranten rekrutiert und eingebürgert. Laut FIFA-Statut hätten sie drei Jahre in Italien leben müssen, bevor sie für das Land spielberechtigt waren. Für zwei der »Argentinier« im ita- lienischen WM-Kader traf das nicht zu, worüber die FIFA indes großzügig hinwegsah. Berüchtigt wurde das Turnier vor allem durch die Härte, mit der die italienische Mannschaft agierte, und die skandalöse Milde, mit der die Schiedsrichter dies zuließen. Ohne die Hilfe der »Unparteiischen« hätten die Gastgeber kaum das Endspiel erreicht. Der schwedische Referee Ivan Eklind beispielsweise sah den brutalen Attacken der Italiener im Halbfinale ungerührt zu; zuvor hatte er sich mit Mussolini getroffen. Eklind half den

100 »Azzurri« auch bei ihrem Finalsieg kräftig, indem er Gegner Tschechoslowakei unter anderem einen klaren Foulelfmeter ver- weigerte. Selbst der NS-regimetreue Kicker kritisierte, »dass hier in diesem Spiele nicht das Können und die Kunst, sondern die Rohheit und die Brutalität einen Triumph davontragen konnten. (…) Das, was sich auf dem Rasen abspielte, hatte mit Fußball und Sport gar nichts mehr zu tun«.

Frankreich 1938: »Unterführer des deutschen Sports«

Das Turnier in Paris, das im Juni 1938 stattfand – und damit 14 Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs –, stand bereits ganz im Zeichen von Hitlers Expansionspolitik. Im spanischen Bürger- krieg wirkte die deutsche Wehrmacht wesentlich daran mit, das Blatt zugunsten des diktatorischen Franco-Regimes zu wenden. In der Tschechoslowakei betrieb das Deutsche Reich die Anne- xion der Sudetenregion. Und im März, nur drei Monate vor dem WM-Anpfiff, besetzten Wehrmachts- und SS-Verbände Öster- reich, um den sogenannten »Anschluss« des Landes ans Deut- sche Reich durchzusetzen. Letzteres hatte unmittelbare Auswirkungen auf das WM-Tur- nier, da Österreich qualifiziert war, aber nach Auflösung des Öste- reichischen Fußball-Bundes nicht mehr als eigenständiger Ver- band teilnehmen konnte. Reichstrainer Sepp Herberger musste eine politisch genehme »großdeutsche« Auswahl zusammenbas- teln, um die internationale Stärke des österreichischen Fußballs zumindest dem Schein nach anzuerkennen. Als ersten Gegner bekamen die »Großdeutschen« im Achtel- finale – Gruppenspiele gab es nicht – mit der Schweiz einen sport- lich wie politisch unangenehmen Gegner zugelost. In Zürich war es ein Jahr zuvor bei einem Länderspiel zu massiven politischen Demonstrationen gekommen. Die Schweizer Historiker Brändle und Koller zitieren einen Gestapo-Bericht, in dem es hieß: »Auf

101 dem Hauptbahnhof wurden Hakenkreuzfahnen demonstrativ zerrissen. Frauen fuhren sich damit über das Gesäß. Flugblätter, verfasst von Heinrich Mann und solche, die sich auf den Krieg in Spanien bezogen, wurden geworfen.« So war die WM-Begegnung der beiden Mannschaften von vornherein politisch aufgeladen – sowohl auf dem Rasen als auch auf den Rängen. Die Spieler begegneten sich mit übergroßer Härte, die französische L’Équipe sah »mehr eine Schlacht als ein Spiel«. Und die Zuschauer standen fast ausschließlich auf- seiten der Eidgenossen – sieht man von den wenigen deutschen Schlachtenbummlern ab, die eisern das »Horst-Wessel-Lied« anstimmten und dafür von Schweizern und Franzosen heftig ausgepfiffen wurden. Nach dem 1:1 in der ersten Begegnung wurde ein Entschei- dungsspiel notwendig, wobei sich die Stimmungslage auf den Rängen nicht änderte. Nach der 2:4-Niederlage und dem frühen deutschen WM-Aus schimpfte die frustrierte BerlinerFußball - woche über »eine Kulisse von einseitigsten, unsportlichsten Fanatikern, die an der deutschen Fußballmannschaft irgendwel- chen politischen Ärger glaubten austoben zu können«. Damit sei es dem Publikum gelungen, die »deutsche Mannschaft zu ent - nerven und die Entscheidung gegen sie zu erzwingen«. In der Schweiz dagegen sorgte der Erfolg über den unge- liebten Nachbarn für überschäumenden Jubel; auf den Straßen wurde getanzt und die Nationalflagge geschwungen. Der Jubel hatte eine unübersehbare politische Dimension, die im bürger- lichen Lager eher patriotisch, im linken Lager eher antifaschis- tisch orientiert war.

Brasilien 1950: In einer neuen Weltordnung

Sowohl 1942 als auch 1946 war das WM-Turnier wegen des Zweiten Weltkriegs ausgefallen, doch nun sollte es endlich statt-

102 finden. Durch den Krieg hatte sich die Weltordnung grundle- gend verändert. Nicht mehr das Vormachtstreben faschistischer Regimes beherrschte die politische Landschaft, sondern der Ost- West-Konflikt. Alle osteuropäischen Staaten wurden nun »real- sozialistisch« regiert und zählten zur Einflusssphäre der Sowjet- union; zugleich waren die USA zur Weltmacht aufgestiegen. Vor dem Krieg hatte die UdSSR nicht der FIFA angehört, die jedoch, anders als das strikt antikommunistisch orientierte Inter- nationale Olympische Komitee (IOC), schon früh das Ziel ver- folgt hatte, die Sowjetunion zum Beitritt zu bewegen. Sowohl die UdSSR als auch die großen Fußballnationen Ungarn, Tschecho- slowakei und Jugoslawien traten der FIFA bei. Die Kriegstreiber Deutschland und Japan hingegen wurden ausgeschlossen. Am Ende ging beim WM-Turnier 1950 aus Osteuropa aber lediglich Jugoslawien an den Start. Das Land wurde zwar sozia- listisch regiert, verstand sich aber gegenüber der sowjetischen Hegemonialmacht als »blockfrei«. Die technisch starken Kicker vom Balkan, Halbfinalisten bei der ersten WM 1930, schlugen sich gut und gewannen zwei Gruppenspiele gegen Mexiko und die Schweiz deutlich. Die entscheidende Partie gegen Gastgeber Brasilien verloren sie nach nahezu ausgeglichenem Spiel vor 142.000 Zuschauern mit 0:2. Die UdSSR hatte wie die übrigen realsozialistischen Staaten ihre Fußballer nicht zur WM geschickt. Zwar hatte die sowjeti- sche Führung 1949 das Vorhaben beschlossen, »in der unmittel- baren Zukuft die globale Vormachtstellung in wichtigen Sport - arten zu erlangen«. Doch unter der Fuchtel Stalins hatte der sowjetische Fußballverband den internationalen Spielverkehr nur zögerlich aufgenommen, weil man bei Niederlagen den Zorn des Diktators fürchtete. Und ein frühes Scheitern war wahrscheinlich, denn das WM- Turnier 1950 kam für die meisten Ostblock-Mannschaften noch zu früh. Die Sowjets beispielsweise hatten noch kein einziges offi- zielles Länderspiel absolviert. Und die traditionell starken Fuß- ballnationen Ungarn (WM-Finalist 1938) und Tschechoslowakei

103 (WM-Finalist von 1934) waren noch mit der sozialistischen Umorganisation ihres Sport beschäftigt. In Ungarn bildeten sich erste Konturen des »Wunderteams« um Ferenc Puskás und Nándor Hidegkuti heraus, das bald Furore machen sollte: Gold beim olympischen Fußballturnier 1952, sensationeller 6:3-Sieg gegen England 1953 im heiligen Wembley. Und bei der WM 1954 war man haushoher Favorit …

Schweiz 1954: Das deutsche »Wir-Gefühl«

Der unerwartete 3:2-Erfolg über die starken Ungarn im WM- Finale von 1954, das »Wunder von Bern«, wurde noch im Wank- dorf-Stadion von tausenden deutschen Schlachtenbummlern mit der ersten Strophe der Nationalhymne gefeiert: »Deutsch- land, Deutschland über alles …« Neun Jahre nach Kriegsende war das (nicht nur) gegenüber dem Ausland eine schreckliche Entgleisung, die ein Kommentator in der französischen Zeitung Le Monde so quittierte: »Die Erde zittert. Jung, fest, begeistert singen die Deutschen. Machtvoll, auf dass es die ganze Welt höre und wisse, dass Deutschland wieder einmal über alles erhaben ist. Nun fröstelt mich mehr und mehr, und ich sage mir ›Achtung‹!« DFB-Präsident Peco Bauwens schürte diese Vorbehalte noch, als er sich bei der Titelfeier im Münchner Löwenbräu-Keller zu einer »Sieg-Heil-Rede« (Süddeutsche Zeitung) verstieg, dem Führerprinzip huldigte und den Beistand des germanischen Kriegsgottes Wotan beschwor. Im Ausland sah man derlei Töne auch vor dem Hintergrund einer bundesdeutschen Debatte um die Wiederbewaffnung – ein Jahr später rief die Bundeswehr zum ersten Appell. Die BRD-Politiker verhielten sich allerdings deutlich zurück- haltender als der unselige DFB-Präsident. Bewusst versuchte man, den WM-Titelgewinn nicht politisch aufzuladen. In Bern ließ sich kein namhafter Repräsentant sehen, und auch nach dem

104 »Wunder« eilte kein Minister zum siegreichen Team; Kanzler Adenauer hielt ohnehin nichts von Fußball. Dennoch bewerten Historiker den Titelgewinn als einschnei- dendes Ereignis für die Entwicklung der Bundesrepublik. Er trug nicht nur zu einem neuen »Wir-Gefühl« der Nachkriegsgesell- schaft bei, sondern schaffte auch Identitäten mit dem jungen demokratischen System, das noch vor dem großen Wirtschafts- wunder einen allseits bestaunten Erfolg hervorgebracht hatte. Der Sieg von Bern, so der Zeithistoriker Arthur Heinrich, »trug erheblich dazu bei, dass die Demokratie von den Westdeutschen angenommen wurde«. Auch territorial verkleinert konnte man Weltspitze sein.

Schweden 1958: Ein beleidigter Titelverteidiger

Dass die nationalistischen Neigungen vieler Deutschen nur schlummerten, aber nicht vergangen waren, zeigte sich vier Jahre später. Im Halbfinale verlor der Titelverteidiger mit 1:3 gegen Gastgeber Schweden, wozu auch ein berechtigter Platz- verweis gegen den Düsseldorfer Abwehrspieler Erich Juskowiak beigetragen hatte. Die völlig überzogenen Reaktionen an der Heimatfront machten aus einer sportlichen Entscheidung eine politische Affäre. Die Kommentare deutscher Journalisten erinnerten zuweilen an Kriegsberichterstattung. »Die deutsche Mannschaft ließ sich tausendfach beleidigen und blieb im Felde«, schrieb die Welt. »Was haben wir den Schweden getan? In beiden Weltkriegen hat kein deutscher Soldat schwedischen Boden betreten«, klagte das Sport-Magazin. Und die Saar-Zeitung sah in den schwedischen Gastgebern gar »ein mittelmäßiges Volk, das sich nie über natio- nale oder völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat und den Hass über uns auskübelte, der nur aus Minderwertigkeits- komplexen kommt«.

105 Als Beleg für schwedischen Fanatismus wurden Fahnen- träger genannt, die vor den vollbesetzten Tribünen ihre Flagge schwangen und die Besucher zur Anfeuerung der eigenen Mannschaft mit den traditionellen »Heja«-Rufen animierten. Herberger-Biograf Jürgen Leinemann berichtete hingegen vom »lärmenden Auftreten« bundesdeutscher Fans, die eine »befremdliche Mischung aus Großmäuligkeit und unterschwel- liger Angst vor Enttäuschung« gezeigt hätten. Entsprechend fremdenfeindlich verhielten sich einige Wutbürger in West- deutschland, die schwedischen Touristen die Autoreifen zersta- chen oder das Tanken verweigerten. Der spätere Bundestrainer Helmut Schön, 1958 Herbergers Assistent, kommentierte: »Hier war – durch eine angebliche Ungerechtigkeit – ein nationaler Bodensatz aufgerührt worden, der nichts mit Sport zu tun hatte.« Zu diesem Bodensatz gehörte auch sein eigener Chef, DFB- Präsident Peco Bauwens, der versicherte: »Nie mehr werden wir dieses Land betreten, nie mehr werden wir gegen Schweden spielen.« Doch wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. Für die Qualifikation zur WM 1966 wurde dem DFB-Team als Gegner ausgerechnet Schweden zugelost.

Chile 1962, England 1966: Afrika im Abseits

Seit ihrer Premiere waren die Endrunden-Turniere der WM vor allem eine Angelegenheit der Fußball-Hochburgen Europa und Südamerika. Nachdem immer mehr afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialherren erkämpft und eigene Regierungen etabliert hatten, nahm dort das Interesse an WM-Teilnahmen signifikant zu. Zur WM 1962 meldeten sich Tunesien (unabhängig seit 1956), Marokko (seit 1956), Sudan (seit 1956), Ghana (seit 1957) und Nigeria (seit 1960). Doch die FIFA verweigerte Afrika einen festen Platz in der Endrunde, viel- mehr musste die siegreiche Mannschaft der Afrika-Qualifikation

106 noch gegen ein europäisches Team antreten – Marokko unterlag ausgerechnet gegen seine frühere Kolonialmacht Spanien. Ähn- lich verfuhr die FIFA mit den Nationalmannschaften aus Asien. Dort zog Südkorea im Entscheidungsspiel gegen Jugoslawien den Kürzeren. So waren am Ende erneut ausschließlich Mann- schaften aus Europa (10), Südamerika (5) sowie mit Mexiko ein Vertreter Nord- und Mittelamerikas beim Turnier in Chile ver- treten. Bei der Weigerung der FIFA, Mannschaften aus Afrika und Asien feste Endrundenplätze zu garantieren, dürfte die euro- zentristische, post-koloniale Haltung führender Verbandsfunk- tionäre eine Rolle gespielt haben. Fußball galt zu allererst als englisches, dann britisches, schließlich europäisches Spiel. Der aktuelle Präsident, Sir Stanley Rous, war ein ausgeprägter Euro- zentriker mit rassistischem Einschlag. Für einen leidenschaft- lichen Commonwealth-Vertreter wie ihn war der Prozess fort- schreitender Dekolonialisierung in Afrika und Asien offenbar nur schwer zu akzeptieren. Und soweit es ging, hielt die FIFA die Neulinge auf Abstand. Vier Jahr nach Chile meldeten sich zur bevorstehenden WM 1966 in England nicht weniger als 15 afrikanische Länder: Algerien, Ägypten, Äthiopien, Gabun, Ghana, Guinea, Kamerun, Liberia, Libyen, Mali, Marokko, Nigeria, Senegal, Sudan und Tunesien. Doch das FIFA-Establishment in Gestalt des WM- Organisationskomitees blieb eisern: Unter den 16 Endrunden- Teilnehmern sollte lediglich ein einziger Platz für die Bewerber aus Afrika, Asien und Ozeanien reserviert sein. Daraufhin protestierten die afrikanischen Verbände, drohten mit Boykott, und als die FIFA-Führung stur blieb, zogen sie nach und nach ihre Meldungen zurück. Am Ende blieben von den Bewerbern außerhalb Europas und Amerikas nur noch Nord- korea und Australien übrig. In den Entscheidungsspielen setzte sich Nordkorea klar gegen die »Aussies« durch, durfte nach Eng- land fahren und sorgte dort für eine Sensation, weil es in der Vor- runde Italien aus dem Turnier warf.

107 Doch ganze ohne Wirkung verhallte auch der afrikanische Boykott nicht. Bei den folgenden WM-Endrundenturnieren erhielten Afrika und Asien/Ozeanien jeweils einen festen Start- platz zugeschrieben. Wenig genug. Erst die Erweiterung des Teilnehmerfeldes auf zunächst 24, später 32 Mannschaften ver- schaffte den früheren »Außenseitern« ein größeres Teilnehmer- kontigent. Mittlerweile entsenden sowohl Afrika als auch Asien/ Ozeanien fünf Teams zu einer Endrunde.

Mexiko 1970: Israels einzige Teilnahme

Die WM-Endrunde 1970 in Mexiko war die erste und bisher ein- zige, an der Israel teilnahm. Dass israelische Kicker nicht öfter an einer WM teilnahmen, lag und liegt wesentlich auch an den politischen Konfrontationen zwischen dem jüdischen Staat und seinen islamisch geprägten Nachbarländern – und auch darüber hinaus. In der Qualifikation zur WM 1958 etwa hatten sich sämt- liche Gegner aus dem asiatischen und arabischen Raum gewei- gert, gegen Israel anzutreten, weshalb die Nivchéret zu zwei Entscheidungsspielen gegen Wales antreten musste, in denen sie ausschied. 1962 kreierte die FIFA eine eigene Qualifikations- gruppe mit Zypern und Äthiopien, in der sich Israel zwar durch- setzte, danach aber gegen das übermächtige Italien chancenlos war. Vier Jahre später wurde das Land – wie bereits 1954 – einer europäischen Qualifikationsgruppe zugeschlagen, in der es in vier Spielen vier Niederlagen kassierte. Für das Turnier 1970 wiederum hießen Israels Qualifikationsgegner Neuseeland und Nordkorea. Das asiatische Team wurde disqualifiziert, weil es sich geweigert hatte, gegen Israel anzutreten. Nach zwei Zu-null- Siegen gegen Neuseeland setzten sich die Israelis in den zwei Entscheidungsspielen gegen Australien durch. Als später der asiatische Fußballverband auf Betreiben ver- schiedener arabischer Nationalverbände Israel endgültig von

108 seinen Wettbewerben ausschloss, orientierten sich die geäch- teten jüdischen Fußballer Richtung Europa. Seither kicken sie unter den Fittichen der UEFA, was ihre Qualifikationschancen sportlich nicht verbessert hat. Für die hehre Idee eines völkerverbindenden Fußballs, der religiöse und ethnische Schranken umdribbeln soll, sind diese Vorgänge nicht gerade ein überzeugender Beweis. Aber es gibt noch eine andere Geschichte, und die erzählt das Leben des Ema- nuel Schaffer, jenes jüdischen Nationaltrainers, der im Jahr 1970 die Nivchéret zur WM nach Mexiko führte. Schaffer war ein Holocaust-Überlebender, der nach Israel emigrierte, nachdem seine Familie von den Nazis ermordet worden war. Trotz dieser schrecklichen Vergangenheit absol- vierte er einen Trainerkurs in Köln, freundete sich mit dem dort für die Ausbildung der Fußballlehrer zuständigen Hennes Weis- weiler an und wurde zum Pionier der deutsch-israelischen Sport- beziehungen. Seine Nationalelf trat in Mönchengladbach gegen die Borussia an, im Gegenzeug kamen die damals meisterlichen »Fohlen« mit Günter Netzer und Berti Vogts zu Freundschafts- spielen nach Israel und setzten damit Zeichen der Versöhnung. Diese Spiele wurden zum Ausgangspunkt eines intensiven Sportaustauschs zwischen beiden Ländern. Mit Schaffer erreichte die Nivchéret beim olympischen Fuß- ballturnier 1968 das Halbfinale und qualifizierte sich für die WM- Endrunde, was in Israel eine ähnliche Begeisterung auslöste wie 1954 das »Wunder von Bern« in der Bundesrepublik. In Mexiko verlor man zwar gegen den späteren WM-Vierten Uruguay mit 0:2, holte aber gegen die starken Italiener und Schweden jeweils ein Unentschieden. Beim 1:1 gegen Schweden erzielte Spielma- cher und Kapitän Mordechai Spiegler den bisher einzigen Treffer für Israel bei Fußball-Weltmeisterschaften. »Es waren 25 Meter, ein starker Rückenwird, und das Tor muss in Richtung Jerusalem gestanden haben«, sagte Spiegler.

109 Bundesrepublik Deutschland 1974: Unpatriotisch zum Titel

Mit begeisterndem Fußball hatte die DFB-Elf um Beckenbauer und Netzer die Europameisterschaft 1972 gewonnen. Bei der zwei Jahr später anstehenden WM-Endrunde im eigenen Land erwartete das westdeutsche Fußballvolk wie selbstverständlich den Titelgewinn, und zwar wieder mit Gala- vorstellungen. Es war die Erwartungshaltung erfolgsverwöhnter Konsumenten, ein nationales Prestigedenken war weniger damit verbunden. Entsprechend nörgelig war zunächst die Stimmung bei den ersten Spielen der DFB-Elf, als es kein »Ramba Zamba« à la 1972 zu sehen gab. Nur 1:0 beim Auftakt gegen Chile in West- Berlin? Pfeifkonzert – und auf den Rängen wenig Schwarz-rot- gold, dafür Transparente gegen die faschistische Junta in Chile. Nur 2:0 gegen Australien in Hamburg? Erneut ein Pfeifkonzert – und ein wütender Beckenbauer, der beleidigt Richtung Publikum rotzt. Die 0:1-Niederlage gegen die DDR in Hamburg? Natürlich: Pfeifkonzert. Zur Distanz der Fans gegenüber der Mannschaft hatten eine ganze Reihe von Faktoren beigetragen. Da war der Bundesliga- Skandal, der nur wenige Jahre zurücklag und den gesamten deut- schen Profifußball diskreditiert hatte. Da waren die Äußerungen von Leistungsträgern wie Beckenbauer, Breitner oder Netzer, die trocken wissen ließen, man spiele doch nicht für den Adler auf der Brust, sondern jeder für sich selbst. Und ans Mitsingen der Nationalhymne dachte eh niemand. Auch herrschte im Trainingslager, das der DFB in der spar- tanischen Sportschule im schleswig-holsteinischen Malente aufgeschlagen hatte, ein ganz anderer Geist als der mythische »Geist von Spiez« anno 1954. Vielmehr moserte man über die strenge Kasernierung und feilschte derart entschlossen um eine – durchaus angemessene – Siegprämie, dass der von der Geld- gier seiner Spieler entnervte Bundestrainer Helmut Schön mit

110 Abreise drohte. Die betont individualistische Haltung der Profis passte zur politischen Landschaft der Bundesrepublik, wo die erste Euphorie der sozialliberalen Reformpolitik einer gewissen Ernüchterung gewichen war und statt des Visionärs Willy Brandt nun der »Macher« Helmut Schmidt regierte. Aber in den Medien und bei den Zuschauern kamen die hedonistische Haltung der deutschen Nationalspieler und deren siegesbewusste Lässig- keit – die allerdings eher pomadig gewirkt hatte – nicht gut an. Das änderte sich erst nach dem Offenbarungseid gegen die DDR, als Schön und Beckenbauer den Spielstil der Mannschaft änderten. Fortan setzte man auf Kampfkraft und verstärkte Defensive. »Terrier« Berti Vogts wurde zur neuen Leitfigur. So erreichte man den Schulterschluss mit den Rängen: Wenn schon kein »schönes Spiel«, dann wenigstens Kampf um jeden Zenti- meter. Dass die Bundesrepublik mit diesem schlichten Rezept schließlich Weltmeister wurde, lag wesentlich an der Dusseligkeit der Holländer. Die waren der Schön-Truppe taktisch haushoch überlegen. Aber das Team um den überragenden Johan Cruyff hatte im Finale eben »nicht richtig gekämpft«. Der Titelgewinn war ein sportliches Projekt, kein patrioti- sches. Kanzler Schmidt wäre es nicht im Traum eingefallen, die siegreichen Spieler in ihrer Kabine aufzusuchen. Diese Haltung unterstrich auch die Berichterstattung in den Medien. Von »wir« und »unser« war in den Zeitungen kaum die Rede, wenn über die DFB-Elf gesprochen wurde. Die Historikerin Christiane Eisen- berg resümierte: »Vor dem Hintergrund der Entspannungspolitik (…) waren nationalistische Äußerungen jeder Art verpönt.« Während des Turniers wählte die FIFA einen neuen Prä- sidenten. Dabei setzte sich der Brasilianer João Havelange gegen den englischen Amtsinhaber Sir Stanley Rous durch. Der erste Nicht-Europäer an der Spitze des Weltverbands gewann dank eines bis dahin in der internationalen Sportwelt beispiel- losen Wahlkampfes, der ihn in 86 (!) Länder führte. Die meisten Stimmen gab es für Havelange an der Peripherie des Weltfußballs zu holen – bei den Fußballeliten Afrikas und Asiens. Der brasilia-

111 nische Präsidentschaftsbewerber versprach den dortigen Funk- tionären die Ausweitung des Turniers auf 24 Teilnehmer, sagte Unterstützung beim Bau von Stadien und den Ausbildungspro- grammen für Funktionäre, Trainer, Schiedsrichter und Ärzte zu und kündigte die Einführung einer Jugend-WM an, mit deren Austragung nun vorwiegend Asien und Afrika bedacht wurden. Damit die Delegierten der von Havelange umworbenen Länder auch tatsächlich zur Präsidentenkür erschienen, übernahm der Sohn eines nach Brasilien ausgewanderten belgischen Waffen- händlers die Reisekosten der Funktionäre. Gegen die dynami- sche Kampagne des Unternehmers Havelange war der ehema- lige Schullehrer Rous chancenlos, auch weil sich Adidas-Besitzer Horst Dassler auf die Seite des Brasilianers geschlagen hatte. Der deutsche Sportartikelhersteller versprach sich von der auf Expansion ausgelegten Politik des Brasilianers die Erschließung neuer Märkte für seine Produkte mit den drei Streifen. Als Finanziers seiner Kampagnen konnte Havelange zudem Konzerne wie Coca-Cola, den damaligen Unterhaltungs- elektronik-Riesen JVC und die Fast-Food-Kette McDonald’s gewinnen – Marken, die mithilfe der FIFA globaler wurden und ihr bisweilen negatives Image aufpolieren konnten. Unter Have- lange erfuhr die FIFA eine merkantile Ausrichtung und avancierte zum Milliardenkonzern. Unter der Führung des neu gewählten FIFA-Präsidenten wurden die Ambitionen aufstrebender Ent- wicklungsnationen mit den marktpolitischen Absichten von multi- und transnationalen Interessengruppen aus der ersten Welt verknüpft.

»Chile socialista« (1974)

Nach dem Militärputsch gegen die sozialistische Allende-Regie- rung vom 11. September 1973 gab es in Chile Massenverhaf- tungen. Weil die Gefängnisse nicht ausreichten, errichteten die Militärs provisorische Lager, in denen Häftlinge verhört und

112 gefoltert wurden. In der Hauptstadt Santiago wurde dafür auch das Nationalstadion benutzt, in dem bis Anfang November 1973 mehrere tausend Männer inhaftiert waren, während Frauen in dem zum gleichen Komplex gehörenden Schwimmbad festge- halten wurden. Die chilenische Nationalmannschaft befand sich zu dieser Zeit in der Qualifikation für die WM 1974 in Deutschland und hatte die zwei Play-off-Spiele gegen den Tabellenersten der 9. Europagruppe, die Sowjetunion, erreicht. Nach einem 0:0-Hin- spiel in Moskau am 26. September 1973 war das Rückspiel am 21. November im Estadio Nacional in Santiago angesetzt. Jenem Stadion, in dem kurz zuvor noch politische Gefangene gequält worden waren. Da sich das UdSSR-Team weigerte, dort anzu- treten, wertete die FIFA, die mit der Spielstätte kein Problem hatte, die Partie mit 2:0 für Chile, das damit für die Endrunde in Deutschland qualifiziert war. Nach dem Militärputsch hatten sich in etlichen größeren bundesdeutschen Städten Komitees gegründet, die die Verbre- chen der Diktatur in Chile anprangerten und die Verfolgten des Regimes unterstützten. Das chilenische Team trug seine Vorrun- denspiele bei der WM 1974 gegen die BRD, die DDR und Aust- ralien in Westberlin aus. Beim Eröffnungsspiel zwischen Chile und dem Gastgeber am 14. Juni protestierten die Aktivisten mit Sprechchören und Transparenten im Stadion gegen die Diktatur. Bei der Partie Chiles gegen Australien am 22. Juni liefen zehn Aktivisten auf das Spielfeld, provozierten eine Unterbrechung und entrollten eine riesige chilenische Fahne mit der Aufschrift »Chile Socialista«. Da das Spiel live nach Chile übertragen wurde, erfuhren viele Menschen auf diese Weise zum ersten Mal davon, dass es in Europa Aktionen gegen die Militärherrschaft in ihrem Land gab.

Text: Gert Eisenbürger

113 Argentinien 1978: Folter und Schiebung

Als Argentinien 1966 von der FIFA den Zuschlag für die Endrunde 1978 erhielt, war kurz zuvor der demokratisch gewählte Präsi- dent des Landes durch einen Militärputsch abgesetzt worden. Die Wahl der FIFA fiel also auf eine Diktatur, die sieben Jahre später zwar durch eine brüchige Demokratie abgelöst wurde. Doch die Unruhen, die Argentinien in dieser Zeit erschütterten, lösten bei der FIFA die Besorgnis aus, ob die WM-Endrunde überhaupt würde stattfinden können. Insofern begrüßten die FIFA-Granden den neuerlichen Militärputsch im Jahr 1976. Denn mit den neuen Diktatoren, so DFB-Präsident und WM-Organisations-Chef Her- mann Neuberger, gab es nun endlich »einen Partner mit Durch- setzungsvermögen«. Das vom ehemaligen Wehrmachtshauptmann Neuberger so geschätzte »Durchsetzungsvermögen« der Militärjunta bestand unter anderem darin, linke und demokratische Oppositionelle brutal zu verfolgen. Bereits im März 1977 sprach der argenti- nische Journalist und Schriftsteller Rodolfo Walsh von 15.000 verschwundenen Personen. Diese wurden häufig von den staat- lichen Sicherheitskräften zunächst entführt, dann gefoltert und schließlich aus dem Flugzeug über dem offenen Meer abgeworfen. Zu den ersten Maßnahmen der neuen Machthaber gehörte die Konstituierung des WM-Organisationskomitees Ente Autár- quico Mundial 78 (EAM), dessen Leitung General Omar Actis oblag, der jedoch auf dem Weg zu seiner ersten Pressekonfe- renz einem Attentat zum Opfer fiel. Die Junta beschuldigte die linksperonistischen Montoneros, tatsächlich hatte aber wohl Actis’ Nachfolger, Konteradmiral Carlos Alberto Lacoste, ein Intimus des brasilianischen FIFA-Präsidenten João Havelange, die fünf Todesschützen auf Actis beauftragt, wie es der Jour- nalist Eugenio Méndez in seinem Buch »Lacoste: quién mató al Gral. Actis« (»Lacoste, wer hat General Actis getötet?«) berichtet. Denn Actis hatte die staatlichen Ausgaben für das Turnier als zu hoch kritisiert, worüber Havelange schwer erzürnt war. Der

114 britische Investigativjournalist Andrew Jennings verdächtigt sogar den FIFA-Präsidenten selbst als Auftraggeber des Mordes. Schließlich habe Havelange ein freundschaftliches Verhältnis zu Argentiniens Diktator General Videla gepflegt. Zu den deutschen Unternehmen, die mit dem Junta-Regime kooperierten, gehörte damals auch der spätere DFB-Sponsor Mercedes-Benz. Im Oktober 1976 entließ dessen Tochter Mer- cedes-Benz Argentina 116 Angestellte, darunter 17 Gewerk- schafter. Diese Betriebsräte wurden – teilweise vom Werksge- lände weg – von den Militärs verschleppt; zwei überlebten, der Verbleib der 15 weiteren ist weiter ungeklärt. Das Unternehmen hatte seine Mitarbeiter bei den zuständigen Stellen angeschwärzt und half den Schergen der Diktatur mit Passbildern aus Perso- nalakten. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich die argenti- nische Niederlassung des schwäbischen Autobauers rührend um geflüchtete Nazi-Verbrecher gekümmert hatte, so u. a. um Adolf Eichmann, den das Unternehmen unter falschen Namen auf seiner Lohnliste führte. Doch nicht nur deutsche Automobilhersteller wussten im perfekten Doppelpassspiel mit der Junta zu überzeugen, auch die FIFA zeigte sich gegenüber den Gastgebern erkenntlich und ließ Argentinien Weltmeister werden: Vor dem letzten Spiel der zweiten Finalrunde lagen Argentinien und Brasilien in der Gruppe B punktgleich, aber die Seleção wies das um einen Treffer bessere Torverhältnis auf. Argentiniens Titel-Mission drohte zu scheitern, aber die FIFA hatte sich für den Gastgeber eine Son- derregelung ausgedacht. Die Spiele der Albiceleste wurden erst abends angepfiffen, während alle anderen mittags oder nachmit- tags stattfanden. Dies galt auch für die letzten Spieltage einer Gruppe: Während in den übrigen Gruppen die letzten Begeg- nungen zeitgleich über die Bühne gingen, durften die Argentinier als Letzte ran. So stieß Brasilien also bereits um 16:15 Uhr an und mühte sich zu einem 3:1-Sieg über Polen. Als die Argentinier um 19:15 Uhr gegen Peru anstießen, wussten sie, dass sie ihren Gegner mit mindestens vier Toren Differenz schlagen mussten,

115 um weiterzukommen. Peru spielte nur eine Viertelstunde mit, dann überließ man den Argentiniern das Feld, die ihnen nun ein halbes Dutzend Tore einschenkten – zwei mehr als notwendig. Heute darf als gesichert gelten, dass dieser 6:0-Sieg Argenti- niens erkauft war. 1986 schrieb die Enthüllungsjournalistin Maria Laura Avignolo in der Sunday Times, die Begegnung sei auf höchster politischer Ebene verschoben worden. Die argenti- nische Junta habe dem wirtschaftlich am Boden liegenden und ebenfalls von Militärs regierten Peru 35.000 Tonnen Getreide geschickt und einen bis dahin eingefrorenen 50-Millionen- Dollar-Kredit freigegeben. Avignolos britischer Kollege David Yallop bestätigte später die Recherchen und wusste außerdem zu berichten, dass drei peruanische Nationalspieler jeweils 20.000 Dollar »zur Sicherung des richtigen Ergebnisses« ein- gesteckt hätten. Im Februar 2012 sagte der linke peruanische Ex-Senator Genaro Ledesma vor einem Gerichtshof in unter Eid aus, dass General Francisco Morales Bermúdez, Chef der peruanischen Militärjunta, und sein argentinischer Kol- lege Jorge Videla die Partie höchstpersönlich manipuliert hätten. Argentinien habe für die sechs Tore 13 lästige peruanische Dis- sidenten aufgenommen, die das Regime in Buenos Aires ver- schwinden lassen sollte. Ledesma: »Videla musste Weltmeister werden, um das Image des Landes aufzupolieren.« Argentinien hatte also das Endspiel gegen die Niederlande erreicht und begann prompt einen Disput über die Wahl des Schiedsrichters. Zu den aussichtsreichsten Kandidaten gehörte der Israeli Abraham Klein. Aber die Argentinier erhoben Ein- spruch: Klein könne nicht unparteiisch sein, denn die Juden würden per se mit den Niederlanden sympathisieren. Das wirkte und die FIFA besetzte den Italiener für das Finale. In den 120 Minuten, die Argentinien zum 3:1-Sieg und zum WM- Titel brauchte, war Gonella der mit Abstand schwächste Mann auf dem Rasen.

116 »Fußball ja, Folter nein!« (1978)

Seit März 1976 wütete im Gastgeberland des Endrundenturniers von 1978 eine Diktatur. Anfang 1977 hatte es bei verschiedenen deutschen Lateinamerikagruppen erste Überlegungen zu mögli- chen Aktionen gegeben. Dann trat die argentinische Menschen- rechtsorganisation CADHU (Comisión Argentina de Derechos Humanos) mit konkreten Vorschlägen für eine Kampagne an die in Bonn sitzende, unabhängige Informationsstelle Lateiname- rika e. V. (ila) heran. Bei den ersten bundesweiten Treffen wurde kontrovers dis- kutiert, ob man zu einem Boykott der WM aufrufen oder das zu erwartende Interesse genutzt werden sollte, um möglichst viele Menschen auf die täglich von der Regierung Argentiniens began- genen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufmerksam zu machen. Die Entscheidung fiel auf Letzteres, das Motto lautete: »Fußball ja – Folter nein«. Vor allem die Exil-Vertreter der größten argentinischen Widerstandsgruppen hatten sich bei den Treffen gegen einen Boykott ausgesprochen. Sie setzten darauf, mit spektakulären Aktionen während der WM in Argentinien die Weltöffentlichkeit für ihre Sache gewinnen zu können. Zudem erwarteten sie, dass sich in den Stadien der Unmut über die Diktatur Bahn brechen werde, weil sich das Militär wegen der weltweiten TV-Übertra- gungen mit unmittelbaren Repressalien zurückhalten werde. Doch die Hoffnungen erwiesen sich als Illusion: Weder waren die Widerstandsgruppen in der Lage, im hochgesicherten Umfeld der WM Aktionen durchzuführen, noch gab es in den Stadien grö- ßere Unmutsbekundungen. Sprechchöre hörte man zuhauf, aber statt den Niedergang der Diktatur zu fordern, jubelten die Leute begeistert dem neuen Titelträger zu: »Argentina Campeón!« (»Argentinien – Weltmeister!«). Für die Kampagne in der Bundesrepublik erwies sich das Motto »Fußball ja – Folter nein« gleichwohl als Glücksgriff, weil die WM tatsächlich viele Leute dazu brachte, sich mit der

117 politischen Lage in einem Land auseinanderzusetzen, das sie ansonsten kaum interessiert hätte. Die Kampagne erreichte nicht nur die Solidaritätsgruppen und die »linke Szene«, sondern fand auch viel Resonanz in Kirchen und bei Gewerkschaften. Vor allem die von der Initiative verbreiteten Spielpläne, die Infos zu den Menschenrechtsverletzungen enthielten, wurden stark nachgefragt. Mehrere zehntausend Menschen unterschrieben einen Aufruf an die Bundesregierung, 500 argentinische politi- sche Gefangene als Flüchtlinge aufzunehmen. Große Aufmerk- samkeit erregte in diesem Zusammenhang auch das Schicksal der beiden deutschen Studenten, die zu den rund 30.000 von der Militärjunta Entführten, den sogenannten »Verschwundenen«, zählten: Manfred Zieschank, der wegen eines Praktikums nach Argentinien gereist war, und Elisabeth Käsemann, die in einem Sozialprojekt in Buenos Aires arbeitete und sich dort einer linken Widerstandsgruppe angeschlossen hatte. Große Resonanz gab es auf eine Fernsehpredigt des evange- lischen Pfarrers und damaligen Generalsekretärs der deutschen Sektion von Amnesty International, Helmut Frenz. Am 25. Juni 1977 sprach er in der samstäglich nach den beliebten ARD- Shows ausgestrahlten Sendung »Das Wort zum Sonntag« über die schweren Menschenrechtsverletzungen in Argentinien und über politische Verantwortung. Dann bezog er sich direkt auf ein Testspiel der DFB-Auswahl gegen das argentinische Team drei Wochen zuvor, am 5. Juni 1977 in Buenos Aires: »Es war ja ein ›Freundschaftsspiel‹! Freundschaft! Wer sind denn unsere ›Freunde‹ dort? Die Unterdrücker oder die Unterdrückten?« 14 Tage vor diesem »Freundschaftsspiel«, am 24. Mai, war Elisabeth Käsemann von den argentinischen Militärs, die sie bereits im März 1977 entführt hatten, erschossen worden. Was Helmut Frenz damals noch nicht wusste: Es war deutschen Stellen bekannt, dass die junge Frau im April/Mai noch lebte. Mit dem Spiel in Argentiniens Hauptstadt hätte man ein Druckmittel gehabt, sie zu retten. Denn ein Ausfall der Partie wäre für die Junta nicht nur ein propagandistisches Debakel gewesen, son-

118 dern hätte auch die WM als Gesamtes infrage gestellt. Das sah 37 Jahre später auch Karl-Heinz Rummenigge so, der beim Spiel in Buenos Aires eingewechselt worden war: In einem in der ARD am 5. Juni 2014 ausgestrahlten Dokumentarfilm über Elisabeth Käsemann (»Das Mädchen« von Eric Friedler) erklärte der frü- here Stürmer: »Wenn wir gemeinsam, die Nationalmannschaft mit dem DFB und mit der deutschen Politik, da Druck gemacht hätten: Es wäre sicher möglich gewesen, dass man die Frau befreit hätte.« Doch daran zeigte der DFB seinerzeit kein Interesse. Statt- dessen beschwerte sich dessen damaliger Präsident Hermann Neuberger am 1. Juli 1977 in einem empörten Brief beim Inten- danten des Saarländischen Rundfunks über Helmut Frenz: »Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie die Äußerungen des Herrn F., die wir Ihnen in Fotokopie beifügen, überprüfen und veranlassen könnten, dass solche Dinge sich nicht wiederholen.« Amnesty International befragte 22 Nationalspieler nach der Situation in Argentinien: »Bedrückt es Sie, dass dort gefoltert wird?« Nur vier Spieler äußerten sich positiv zu den Protesten, darunter nur ein Starspieler: Paul Breitner kritisierte den DFB offen, er lag ohnehin mit den Funktionären über Kreuz, sah aber auch kein Problem darin, sein Geld bei Real Madrid im francofa- schistischen Spanien zu verdienen. Insgesamt erreichten die Protestierenden ihre konkret for- mulierten Ziele nicht. Doch es gelang in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern, die Imagekampagne zu demas- kieren, die Argentinien mit der WM verbinden wollte. So ging das 78er-Turnier nicht, wie von der Junta erhofft, als Ruhmesblatt in die WM-Geschichte ein, sondern als trauriger Schandfleck.

Text: Gert Eisenbürger

119 Spanien 1982: Rechtzeitiger Tod des Diktators

Für die junge spanische Demokratie bot die WM 1982 eine exzel- lente Gelegenheit, sich nach Überwindung der Franco-Diktatur als weltoffenes Land auf dem Weg in die Europäische Gemein- schaft zu präsentieren. Im Prinzip könnte man also an dieser Stelle dem Fußball-Weltverband gratulieren. Hatte die FIFA mit der Wahl des Austragungslandes, anders als bei Argenti- nien 1978, hier tatsächlich demokratisches Fingerspitzengefühl bewiesen? Keineswegs, denn die Vergabe hatte bereits 16 Jahre zuvor stattgefunden, auf dem FIFA-Weltkongress von 1966. Und damals regierte in Spanien noch Diktator Franco. Nur gut 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die FIFA ihr wichtigstes Fußball-Event also einem totalitären, faschistischen Staat zugesprochen, der bis zu jenem Zeitpunkt zehntausende Regimegegner inhaftieren oder gleich hinrichten hatte lassen. Für Francisco Franco war der Fußball – ganz in der Tradition anderer autoritärer Regime – Mittel zur Machtdemonstration und Propaganda-Werkzeug zugleich. Wie eng Sport und Politik im Franco-Spanien miteinander verschlungen waren, offenbart ein Blick auf den Europokal der Nationen von 1960, der heute als erste offizielle Fußball-Europameisterschaft gilt: Das Turnier sah im Viertelfinale das Duell zwischen Spanien und der Sow- jetunion vor, das jedoch nicht zustande kam. Der Generalísimo höchstselbst stoppte den Abflug der spanischen Mannschaft zum Hinspiel nach Moskau. Eine Partie auf Feindesboden war schlicht unvorstellbar. Die starke spanische Mannschaft schied aus, die UdSSR holte sich den Titel. Da der Fußball im Faschismus seine Überlegenheit nur demonstrieren kann, wenn ausschließlich nationale Spieler erfolgreich sind, hatte Franco bereits 1953 verfügt, dass in der Primera División keine Ausländer verpflichtet werden durften. Davon erhoffte sich der Caudillo eine Stärkung der National-

120 mannschaft. Allerdings sollte es elf Jahre dauern, ehe sich trotz der Dominanz auf Klubebene – Real Madrid gewann sechs Euro- papokaltitel zwischen 1956 und 1966 – der Erfolg auch mit »La Roja« einstellte: Im Finale der Europameisterschaft 1964 war Spanien Gastgeber, und diesmal konnte Franco das Aufei- nandertreffen mit der Sowjetunion nicht verhindern. Durch den Finalsieg der Spanier über die verfeindeten Kommunisten wurde das Turnier für die Faschisten zum perfekten Propaganda-Coup. Auf dem FIFA-Kongress 1966 überstrahlte der Europameis- tertitel die finstere Diktatur, Spanien wurde zum WM-Gastgeber 1982 gekürt. Aber was unter den Franquisten als Wiederholung des Propaganda-Triumphes von 1964 eingeplant war, wurde nach Tod des Caudillo zum Fußballfest einer jungen Demokratie. Der 16. Juni 1982 hätte ein historischer Tag für den afrika- nischen Fußball werden können. Algerien schlug den zweifa- chen Weltmeister und späteren Finalisten Deutschland mit 2:1 und durfte sich nun berechtigte Hoffnung auf den ersten Einzug eines afrikanischen Teams in die zweite Runde machen. Doch im letzten Spiel der Vorrundengruppe 2 standen sich Deutsch- land und Österreich im nordspanischen Gijón gegenüber. Damit beide Teams statt Algerien weiterkamen, musste die DFB-Elf gewinnen, während die ÖFB-Auswahl nicht höher als 0:1 ver- lieren durfte. Nach elf Minuten schoss Horst Hrubesch die Deutschen in Führung, anschließend stellten beide Teams die Angriffsbemühungen ein. Die Folge der »größten Verbrüderung zwischen BRD und Österreich seit März 1938«, wie der österrei- chische Radioreporter Edi Finger grantelte, war, dass Algerien ausschied – punktgleich mit Deutschland und Österreich, aber mit der gegenüber den Europäern schlechteren Tordifferenz. Ita- liens Gazzetta dello sport schimpfte über eine »elende Farce«, in Frankreich konstatierte die Liberation: »Wenn die Algerier heute Rassismus rufen, haben sie nicht ganz Unrecht.« Die spanische Zeitung El Comercio behandelte das Spiel folgerichtig als Betrug und platzierte es im Polizeibericht ihrer Ausgabe. Deutschlands und Österreichs Fußballfunktionäre ließ dies alles unberührt.

121 Auf die wütenden Proteste algerischer Fans im Stadion von Gijón angesprochen, reagierte Hans Tschak, Delegationschef des ÖFB: »Algerier haben uns als Nazi-Schweine beschimpft. Natürlich ist heute taktisch gespielt worden. Aber wenn jetzt deswegen 10.000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfa- chen wollen, zeigt das doch nur, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die große Klappe auf- reißen zu können.« Im Halbfinale verübte Deutschlands Torhüter Schumacher ein brutales Foul am Franzosen Battiston und reagierte auf dessen schwere Verletzung mit Arroganz statt Mitgefühl. Die DFB-Funk- tionäre zogen es vor wegzuschauen. Die Angelegenheit bekam auch eine politische Note: Der »hässliche Deutsche« war wieder in aller Munde. Die Bösewichte der Weltgeschichte waren nun auch die Bösewichte des Weltfußballs. Verdientermaßen verlor das DFB-Team das Finale gegen Italien. Es wäre kein Titelgewinn gewesen, über den man sich hätte freuen dürfen.

Frankreich 1998: black-blanc-beur?

Obwohl Gastgeber Frankreich Weltmeister wurde, kritisierte der französische Rassist und Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen die »rassische Zusammensetzung« der L’Équipe Tricolore. Spieler wie Sabri Lamouchi, Zinédine Zidane, Youri Djorkaeff, Christian Karembeu und Bernard Lama wurden von Le Pen konsequent als »Ausländer« bezeichnet, die die französische Nationalität nur gewählt hätten, um international Fußball spielen zu können. Das Team, mit dem Frankreich ins Turnier ging, war das mul- tikulturellste, das eine WM je gesehen hatte, und der 3:0-Final- sieg über Brasilen geriet zum harten Schlag ins Gesicht von Rassisten und Rechtsextremisten. Aus den Nationalfarben »bleu-blanc-rouge« (blau-weiß-rot) wurde über Nacht »black- blanc-beur« – schwarz, weiß und die dunkle Tönung der maghre-

122 binischen Einwohner. Das französische Team demonstrierte der ganzen Welt, »dass Rassenvielfalt ein nationales Guthaben sein kann, wenn alle gemeinsam ein Ziel verfolgen«, wie der Spiegel schrieb. Die siegreiche Équipe Tricolore wurde zum Symbol eines neuen Republikanismus und der Überlegenheit republikanischer Werte. Für Staatspräsident Chirac hatte »Frankreich seine Seele wiedergefunden«. Der Philosoph Pascal Bruckner sah sein Land aus einer »Depression« heraustreten, die Frankreich zehn Jahre niedergedrückt habe: »Der Sieg wird wahrgenommen wie eine Wiedergeburt unserer selbst nach einer Periode der Finsternis.« Der Schriftsteller Jean d’Ormesson frohlockte, der Fußball sei das »konstitutive Element – vielleicht das einzige – eines neuen Gesellschaftsvertrags«. Doch die mit dem Sieg von black-blanc- beur verbundenen Hoffnungen entfalteten keine Nachhaltigkeit. Nur vier Jahre nach dem WM-Triumph konnte Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen den Kandidaten der Sozialisten, Premierminister Lionel Jospin, auf Platz drei ver- weisen, unterlag in der Stichwahl dann jedoch Amtsinhaber Jack Chirac.

Deutschland 2006: Party-Patriotismus

32 Jahre nach dem nüchtern absolvierten WM-Turnier von 1974 fand die Endrunde erneut in Deutschland statt; mithilfe welcher dunklen Machenschaften, soll hier nicht weiter erörtert werden. Sportlich sah sich der DFB 2006 nicht als Favorit, denn in den vorangegangenen EM- und WM-Endrunden war die DFB-Elf früh ausgeschieden. Auch gesellschaftlich herrschten andere Voraussetzungen als 1974. Deutschland war inzwischen wieder- vereint und galt international nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch als Macht. Der Anschluss der DDR hatte nationale Emotionen mobilisiert, die im Ausland gewisse Besorgnisse aus- lösten. Diese wurden verstärkt durch eine Reihe fremdenfeindli- cher Ausschreitungen. Den Vorbehalten versuchte die Bundesre-

123 gierung auf internationalem Parkett mit verbaler Zurückhaltung und einer Charme-Offensive entgegenzuwirken. Dafür wurde auch der Sport eingespannt. Fußball, Politik und Wirtschaft, die »Deutschland AG«, gingen mit der WM ein Bündnis ein, für das wesentlich die Fußball- freunde Schröder und Fischer standen, also Kanzler und Außen- minister, nebst dem weltweit populären »Kaiser« Beckenbauer. Das Turnier sollte die neue Berliner Republik global präsentieren, mit einem sympathischen Gesicht, das sich auch im WM-Motto ausdrückte: »Die Welt zu Gast bei Freunden.« Die politische Zwiespältigkeit bildete sich auch unter den Fans ab. Kaum jemand konnte sich der schwarz-rot-goldenen Euphorie entziehen, die von den Fanmeilen ausging und gesamt- deutsch bis ins letzte thüringische Dorf schwappte. Eine gewal- tige Einheitsfeier, die – unter anderen Voraussetzungen – ein wenig an die Gefühlslage nach dem »Wunder von Bern« erinnerte. Neuentdeckter Patriotismus spielte dabei sicherlich ebenso eine Rolle wie der Wunsch, sich der Welt als guter Gastgeber mit einem gelungenen Fußballfest zu präsentieren. Der Erfolg der eigenen Mannschaft war dabei zwar nicht nebensächlich, aber deutlich weniger wichtig als 1974. Selbst knappe Vorrundensiege – wie das 1:0 gegen Polen – lösten gewaltige Euphoriewellen aus. Seither rätseln Sozialwissenschaftler darüber, ob die massen- hafte Präsenz nationaler Symbolik bei diesem und späteren Tur- nieren auf politische Normalität hindeutet oder eher auf einen unangenehmen Nationalismus. Während die meisten Autoren den »unverkrampften Patriotismus« der Fangemeinde lobten, blieben andere skeptischer. Die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Sche- diwy befragte bei den WM-Turnieren 2006 und 2010 sowie bei der EM 2008 die Teilnehmer*innen von Fanmeilen. Ergebnis laut Süddeutscher Zeitung: »Motive der Fans seien ausdrücklich Vaterlandsliebe und Nationalstolz, der Sport selbst landete eher auf dem hinteren Platz.« Das eigentliche Problem dabei: Mit der Zeit, so Schediwy, »empfanden die Fans gerade den Nationalstolz zunehmend als natürlich«. Aus einer gruppendynamischen Laune

124 heraus wird das Gesicht schwarz-rot-gold geschminkt. Mit der Zeit wird es selbstverständlicher, sich national zu gebärden. Und am Ende, beispielsweise in ökonomisch schwierigen Zeiten, kann Nationalstolz zu einem Identitätsanker werden, der sich gegen »Fremde« und »Andere« richtet. Die AfD weiß davon zu profitieren.

Südafrika 2010: Erste WM auf dem »schwarzen« Kontinent

Für die WM 2010, die nach dem inzwischen wieder suspen- dierten Rotationsprinzip auf jeden Fall in Afrika stattfinden sollte, hatten sich neben Südafrika zunächst noch die vier nord- afrikanischen Länder Marokko, Ägypten, Tunesien und Libyen beworben. Tunesien und Libyen verabschiedeten sich vorzeitig aus dem Rennen. Als das 24-köpfige FIFA-Exekutivkomitee am 15. April 2004 in Zürich über das Austragungsland 2010 ent- schied, stimmten die vier Afrikaner im Gremium geschlossen gegen die Republik am Kap. Von allen Bewerbern besaß Südafrika die besten Vorausset- zungen. Das Land verfügte über eine international wettbewerbs- fähige Industrie und trug fast ein Drittel zum gesamten Brutto- inlandsprodukt Afrikas bei. Ähnlich wie Brasilien war Südafrika Erste und Dritte Welt zugleich, gleichwohl wurden die Vormacht- stellung und der Führungsanspruch der Nation am Kap im Rest des Kontinents schon eine Zeitlang mit Argwohn betrachtet. Dort war man sich nicht sicher, ob Südafrika wirklich ein afrika- nisches Land sei oder nur ein »Lakai« des Westens. Noch Mitte der 1990er-Jahre hatte Nigerias damaliger Außenminister Süd- afrika als »ein weißes Land mit einem schwarzen Präsidenten« charakterisiert. Es waren keineswegs altruistische Gründe, aus denen Afrika 2010 erstmals in den Genuss einer WM geriet. Der französi- sche Soziologe Patrick Vassort, ein Experte für die Beziehungen zwischen Sport und Politik: »Aus kommerzieller Hinsicht ist

125 die Weltmeisterschaft 2010 ein exzellentes Sprungbrett für die Expansion in den afrikanischen Markt, genau wie sie es 1994 für den amerikanischen und 2002 für die asiatischen Märkte war.« Sofern die WM 2010 eine neue, verbesserte Stellung Afrikas im Weltfußball dokumentierte, war es eine domestizierte, inst- rumentalisierte Stellung, die sich auf die lokalen Fußball-Eliten beschränkt und von deren Kollaborationsbereitschaft abhängt. Blatters Votum für Südafrika und seine Bemühungen, die WM 2010 zu einem pan-afrikanischen Projekt zu deklarieren, dienten primär der langfristigen Sicherung seiner Machtbasis als FIFA- Präsident. In Europa wurde die Wahl Südafrikas bis zum Anpfiff des Tur- niers durch die Brille des Afrika-Pessimismus betrachtet. Lange wurde angezweifelt, ob die WM überhaupt in Afrika stattfinden könne. Die Medien berichteten permanent von Problemen mit der Infrastruktur, Verzögerungen beim Bau der Stadien, von Aids und Kriminalität. Schließlich mussten jedoch auch die größten Skeptiker einräumen, dass sie das Austragungsland grob unter- schätzt hatten. Der Mehrwert, den diese WM für Afrika erzielte, ließ sich nicht in Dollar, Euro oder Rand berechnen – er ist eher politisch-psychologischer Natur. Bartholomäus Grill, Afrika- Korrespondent der Zeit: »Seit dem Ende der Kolonialherrschaft in den 1960er-Jahren gab es kein Ereignis, das das afrikanische Selbstbewusstsein mehr beflügelt hat.« Grill entdeckte in Südaf- rika einen »Optimismus wie seit dem Untergang der Apartheid nicht mehr«. Beim ersten Turnier auf dem afrikanischen Kontinent trium- phierte Spanien. Spanien? Oder doch eher Katalonien? Im Finale jedenfalls liefen sechs Katalanen für »La Roja« auf. Nach dem Schlusspfiff drehten zwei von ihnen, Xavi Hernández und Carles Pujol, ihre Ehrenrunde mit der Senyera, der Fahne der autonomen Gemeinschaft Kataloniens. Einen Tag zuvor hatten in Barcelona Hunderttausende unter dem Motto »Adéu Espanya« für katala- nische Unabhängigkeit demonstriert.

126 »Kick for one World … but kick Daimler« & »Star of Apartheid« (2010)

Die erstmalige Austragung einer Fußball-Weltmeisterschaft auf dem afrikanischen Kontinent wurde von allen Seiten begrüßt. Nach dem Ende der legitimierten, rassistisch-kapitalistischen Apartheid im Jahr 1994 sahen viele in der 2010er-WM die wei- tere Chance für ein »Nation Building« durch ein internationales Sportevent; ähnliches war 1995 bereits mit der Rugby-WM für eine gewisse Zeit erreicht worden. Daher war die kritische Beglei- tung der Fußball-WM in der früheren Anti-Apartheid-Szene und bei Südafrikaner*innen nicht unumstritten. Gleichzeitig war es aber auch das sozioökonomische und politische Erbe der Apart- heid, das zur kritischen Begleitung der Meisterschaft aufforderte. Zwei internationale Kampagnen, getragen von südafrikanischen und deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen, gründeten sich im Vorfeld der WM. »Kick for one World« griff die Regularien der FIFA auf und an. Frühzeitig wurden die Anforderungen an große, erst noch zu bauende Stadien kritisiert. Denn es war absehbar, dass deren Kapazitäten nach der WM nie wieder in vollem Umfang benötigt werden. Nicht nur die Investitionen, auch die Folgekosten für die infrastrukturellen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Fußballgroßereignis trug vornehmlich der südafrikanische Staat. Während die FIFA ihre bis dahin profitabelste WM ausrichtete und Sepp Blatter sich zum Satz hinreißen ließ, er wäre danach »der glücklichste Mann der Welt«, blieb Südafrika auf einem Ver- lust von circa 2,7 Milliarden Dollar sitzen. Gelder, die damit – etwa für soziale Belange – für immer verloren waren. Ein südafrikanischer Träger der »Kick for one World«-Kam- pagne war die NGO Streetnet aus Durban. Die Selbstorganisation (informeller) Straßenhändler*innen kritisierte den Ausschluss ihrer Mitglieder durch den von der FIFA festgelegten Bannkreis um die Stadien sowie das Verkaufsverbot von Nachahmerpro- dukten lizenzierter FIFA-Produkte. Aus Sicht von Streetnet

127 waren die Armen in den Städten die Verlierer der WM – sowohl als Verkäufer*innen als auch als Fußballbegeisterte, denn gerade einmal zwei Prozent der Tickets für das Turnier konnten von Südafrikaner*innen erworben werden. Forderungen nach kos- tenlosen Public-Viewing-Möglichkeiten für die heimische Bevöl- kerung wurde seitens der FIFA ignoriert. Die Kampagne griff aber auch oftmals vermittelte »Afrika- bilder« auf und an, kritisierte die Berichterstattung zahlreicher deutscher Medien im Vorfeld, die sich intensiv um unzureichende Infrastruktur und vor allem um Kriminalität und vermeintliche Unsicherheit im Land drehte. Es waren dieselben Medien, die sich im Vorfeld der Fußball-WM in Deutschland 2006 mit Vehemenz gegen »angebliche No-go-areas« aussprachen, um vor potenzi- ellen rassistischen Übergriffe zu warnen. Jetzt aber wurde erwar- tete Gewalt und Kriminalität das beherrschende Thema. Eine zweite Kampagne – »Star of Apartheid« – griff ein weiteres Erbe der Apartheid mit besonderem Bezug zu Deutschland auf. Bereits 2002 hatten südafrikanische Aktivist*innen, unter ihnen die Khulumani Support Group, vor einem New Yorker Gericht 23 Unternehmen – darunter der Rüstungskonzern Rheinmetall und die DaimlerChrysler AG – wegen Beihilfe für Menschenrechtsver- letzungen während der Apartheid verklagt. Der deutsche Auto- bauer, so die Kläger, habe etwa der südafrikanischen Armee und Polizei Nutzfahrzeuge samt Komponenten geliefert, die im Fort- gang zur Niederschlagung politischer Proteste eingesetzt wurden. Diese Geschäftsbeziehung hatte auch nach dem Jahr 1966 Bestand, als die UN-Vollversammlung die Apartheid als »Verbre- chen gegen die Menschlichkeit« bezeichnet hatte. Zur WM 2010 in Südafrika – das Verfahren war zu diesem Zeitpunkt schwebend, die Klage wurde erst 2013 als nicht aus- reichend begründet abgewiesen – war Daimler sogenannter Generalsponsor der deutschen Nationalelf. Auf ihren Trainings- anzügen trug »die Mannschaft« den Mercedes-Stern. Insbeson- dere für die südafrikanische Organisation Khulumani und den

128 Trägerkreis, bestehend aus den NGOs medico-international, KASA, KOSA und SODI, ein inakzeptabler Zustand. Ihre Forde- rungen an Daimler zielten auf eine Anerkennung des in Südaf- rika begangenen Unrechts, Entschädigungszahlungen sowie das Öffnen der Archive für eine unabhängige Aufarbeitung dieses Teils der Unternehmensgeschichte. Eine Vielzahl von Aktivi- täten wurde durchgeführt: von eigens produzierten Liedern, über Mobi-Videos für Flashmobs, eine Unterschriftenaktion bis hin zum Verschicken von Briefen an Daimler und den damaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger. Deren Antworten waren Inbe- griffe des Verdrängens, Leugnens und Bagatellisierens. Bis heute hat sich der inzwischen als Daimler AG firmierende Konzern nicht mit diesem Teil seiner Geschichte auseinandergesetzt.

Text: Andreas Bohne

»Kick for one World« reloaded (2014)

Die Kampagne »Kick for one World« fand bei der WM in Brasilien ihre Fortführung. Dabei spielte vor allem der dortige Gewerk- schaftsdachverband CUT eine wichtige Rolle in der Mobilisierung. Von Deutschland aus beteiligte sich insbesondere das Netzwerk Koordination Brasilien (KoBra). Sie kritisierten die fehlende Ein- beziehung zivilgesellschaftlicher Gruppen und Gewerkschaften. Bereits früh hatten sich in Brasilien ähnliche Entwicklungen wie in Südafrika abgezeichnet, insbesondere was die Auflagen der FIFA bezüglich Sponsorenverträgen sowie die aufwändigen Neu- und Umbauten von Stadien betraf. Als drei Jahre vor der WM erste Berichte von Zwangsräumungen in den WM-Spiel- städten Rio de Janeiro, São Paulo und Porto Alegre zunahmen, rief das Proteste hervor: Breite zivilgesellschaftliche Bündnisse aus »Recht-auf-Stadt«-Aktivist*innen, Favela-Bewohner*innen und anderen NGOs kämpften gegen diese Vertreibungen; nach ihren Angaben waren insgesamt 250.000 Menschen in Brasi-

129 lien von Zwangsräumungen für WM-Stadien und -Infrastruktur betroffen. Im April 2011 starteten Gewerkschaften die Kampagne »fair games fair play«, die sich für menschenwürdige Arbeitsbedin- gungen einsetzte. Eine Vielzahl von Streiks wurde durchgeführt, viele durchaus mit Erfolg bezüglich der Abgeltung von Über- stunden oder Lohnerhöhungen. Die Verdrängung von Straßen- händler*innen trat auch in Brasilien wieder auf. Doch anders als zuvor in Südafrika gelang es (inter)nationalen Kampagnen, die FIFA zu Zugeständnissen zu bewegen: So konnten 4.000 Stra- ßenhändler*innen in den von der FIFA ausgewiesenen Sperr- zonen verkaufen, ein sehr kleiner Tropfen auf den heißen Stein. Stattdessen verbuchte die FIFA erneut Rekordumsätze, der brasilianische Staat blieb überwiegend auf den Kosten sitzen, jegliche sozio-ökonomische Effekte waren maximal nur kurz- fristig und politische Handlungsräume wurden eingeschränkt.

Text: Andreas Bohne

Russland 2018: Die WM des Autokraten

Als bei der Ehrung des 21. Fußball-Weltmeisters ein kräftiger Schauer über das Moskauer Luschniki-Stadion niederging, konnte man für einen Moment glauben, der enttäuschte Fußball- gott sei in Tränen ausgebrochen. Nur einer blieb dabei trocken: Russlands Herrscher Waldimir Putin, dessen Bodyguards recht- zeitig mit einem Schirm zur Stelle waren. Aber dem Hausherrn war es bei dem Turnier ohnehin nicht um Fußball gegangen, son- dern darum, die Vorzüge eines autoritär regierten und kulturell extrem konservativen Staates gegenüber den seiner Meinung nach verweichlichten, liberalen Gesellschaften des Westens zu demonstrieren. Dass es diesen an »richtigen Männern« mangelt, hatten russische Hooligans mit einem Blitzbesuch bei der EM 2016 in Frankreich demonstriert: Durchtrainierte junge Kampf-

130 sportler hatten englische Bierbäuche in die Flucht geschlagen. Die einer paramilitärischen Einheit ähnelnden Gewalttäter genossen die Unterstützung zumindest von Teilen der russischen Politik und des dortigen Fußballverbands. »Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht, Jungs!«, sagte etwa Igor Lebedew, stellvertretender Präsident des russi- schen Parlaments und Mitglied im Vorstand des Fußballverbands. Gianni Infantino, den neuen FIFA-Boss, schien lediglich zu interessieren, dass Putin und Co. ihm ein perfekt organisiertes Turnier versprochen hatten – ohne Ausschreitungen von Hooli- gans. Die Süddeutsche Zeitung schrieb, Infantino klebe »wie ein Kaugummi an Potentaten«. Für die prekäre Menschenrechtslage in Russland interessierte sich der oberste aller Fußballfunktio- näre kein bisschen. Auch nicht für die nordkoreanischen Zwangsarbeiter, die beim Stadionbau halfen und wie Sklaven in mit Stacheldraht umzäunten Containeranlagen untergebracht wurden. Der Men- schenrechtsanwalt Andrej Jakimow erzählte dem norwegischen Fußballmagazin Josimar: »Sie werden fast rund um die Uhr über- wacht, haben kaum Kontakt mit anderen, erhalten minimale Löhne. Es sind ungelernte Arbeiter, die wenig bis gar nicht mit modernem Werkzeug umgehen können.« Die Arbeiter kämen auf Befehl des nordkoreanischen Regimes nach Russland. Jakimow: »Man wirbt sie für zehn Jahre an, indem man ihnen höhere Reis- rationen und den ewigen Dank Kim Jong-uns verspricht«, erklärt Jakimow. Doch 90 Prozent des Lohns in ausländischer Währung reiße sich das Regime selbst unter den Nagel und sichere so den Devisenzufluss ins Land – seit Jahrzehnten ein generelles Geschäftsmodell. Die WM 2018 reflektierte paradigmatisch die Zunahme von Nationalismus und Rassismus. So waren in Dänemark schon vor dem Turnierstart die farbigen Nationalspieler , Yussuf Poulsen, Matthias Jørgensen und Pione Sisto rassistisch beleidigt worden. In Schweden wurde der Spieler Jimmy Durmaz in den sozialen Netzwerken mit rassistischen Schmähungen und

131 Morddrohungen überschüttet, nachdem der auch im Besitz eines türkischen Passes befindliche Mittelfeldspieler in der Vorrunden- partie gegen Deutschland einen Freistoß verschuldet hatte, den Toni Kroos zum Siegtreffer für die DFB-Elf versenkte. Die schwe- dische Nationalmannschaft stellte sich in einem YouTube-Video geschlossen hinter Durmaz und skandierte: »Fuck Racism!« Ganz anders die DFB-Elf. Nachdem die türkisch-stämmigen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan im Anschluss an eine Fotosession mit dem türkischen Autokraten Recep Erdogan vor Turnierbeginn öffentlich rassistisch attackiert worden waren, blieb eine kollektive Solidaritätsbekundung ihrer deutschen Mannschaftskollegen aus. Kroatiens Spieler wiederum feierten ihre Siege in der Kabine mit dem Gruß der Ustascha-Faschisten und dem Song »Bojna Cavoglave« der rechtsextremistischen Rockmusikers Thompson. In der Schweiz entflammte einmal mehr die Diskussion über den »ethnischen Charakter« der Natio- nalelf: Zwei Drittel des eidgenössischen Kaders waren Kinder von Einwanderern, überwiegend aus der Balkanregion, die nun zur Zielscheibe von Vorurteilen und Hass wurden. Wie es anders geht, zeigte Weltmeister Frankreich, das wie schon beim Turniersieg 1998 vom multi-ethnischen Charakter seiner Nationalmannschaft profitierte: Die Eltern von , N’Golo Kanté und stammen aus Guinea, Mali und Angola, der Vater des Jungstars Kylian Mbappé war aus Kamerun eingewandert, Samuel Umtiti wurde noch in Kamerun geboren. Auf der Innenseite der französischen Trikots stand: »Nos diffé- rences nous unissent« (»Unsere Unterschiede einigen uns«). Auch Gianni Infantino verließ Russland mit einer Medaille. Nach der WM verlieh ihm sein Freund Wladimir Putin für seinen »enormen Beitrag zur Organisation der Fußball-WM 2018« den »Orden der Freundschaft«. Infantino bedankte sich artig: »Ich möchte mich bei Ihnen, sehr geehrter Präsident, und bei allen Menschen in Russland bedanken und Ihnen gratulieren, dass Sie die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten ausgerichtet haben.«

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Ein notwendiges Netzwerk DIE INITIATIVE #BOYCOTTQATAR2022

Nachdem im Jahr 2010 die Entscheidung der FIFA für das Aus- tragungsland Katar gefallen war, regte sich viel Unverständnis und Protest dagegen, es gab Petitionen und ein Hickhack um die Verlegung in den Winter. Doch die öffentliche Diskussion erlahmte schließlich, sieht man davon ab, dass Amnesty Inter- national regelmäßig über sklavenähnliche Arbeitsbedingungen an den WM-Baustellen im Emirat berichtete und die FIFA ebenso regelmäßig versicherte, dass sich das alles bessern werde. Frust und Entsetzen über die Entscheidung aber hallten nach, die Stimmungslage unter sehr vielen Fans war (und ist bis heute) eindeutig. Nur gab es kein Netzwerk, keine Organisation, die die Kritik an Katar aufnahm und bündelte. Das war unsere Aus- gangslage im Frühjahr 2020.

Vorläufer 1978

Was von Anfang an bei uns mitschwang, war die Erinnerung an die WM 1978 in Argentinien. Einem Land, das damals von einer Militärjunta diktatorisch regiert wurde. Wie an anderer Stelle in diesem Buch ausführlicher dargestellt, entstand damals (nicht nur) in Westdeutschland ein breites Bündnis von Menschen- rechts- und Dritte-Welt-Gruppen sowie linken und gewerk- schaftlichen Organisationen. Unter dem Motto »Fußball ja, Folter nein« wurde eine starke politische Kampagne gestartet, die die

133 Verhältnisse in Argentinien und die Verwicklung der westlichen Industrienationen in die Machenschaften der Militärjunta durch- leuchtete. Auch wenn die WM stattfand, war die Aufklärungs- arbeit doch so erfolgreich, dass das schöne Bild, das die Junta- Generäle sich von dem Turnier erhofft hatten, ins Gegenteil verkehrt wurde. Bis heute verzichtet kein Rückblick auf dieses Turnier darauf, die seinerzeit schlimmen politischen Verhält- nisse im Gastgeberland zu thematisieren. Natürlich sind die Rahmenbedingungen von Katar 2022 und Argentinien 1978 nicht die gleichen. Eine starke Opposition im Lande, eine breite Solidaritätsbewegung von außen, wie sie 1978 existierten, sie gibt es bezüglich Katar nicht. Aber: Die »Fanbewe- gung« in Deutschland steckte Ende der 1970er-Jahre noch in den Kinderschuhen, von politischer oder Kommerz-kritischer Fanar- beit war keine Rede. Heute zählen bei vielen »politischen« Fan- gruppen Menschenrechtsfragen indes zu den wichtigen Themen. Die Kritik an der FIFA – nicht nur wegen Katar – ist über die Fan- tribünen hinaus laut und unüberhörbar geworden.

Wann ergeben Boykott-Aktionen Sinn?

Sportliche Großereignisse wie die Fußball-WM oder die Olympi- schen Spiele stoßen in demokratisch verfassten Ländern zuneh- mend auf Widerstand in der Bevölkerung. Zu den Spielen 2000 bildete sich in Australien eine breite »Anti-Olympic Alliance«, eine ähnliche Bewegung gab es 2010 in Vancouver. 2015 sagten die Hamburger in einem Referendum »Nein« zu einer Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2024; schon ein paar Jahre zuvor hatten die Berliner abgewunken. Später gab es negative Volksbefragungen in München, Garmisch-Partenkirchen, Inns- bruck, Calgary und anderen Orten, die für Olympische Winter- spiele vorgesehen waren. Auch vor den WM-Turnieren 2010 in Südafrika und 2014 in Brasilien gab es massive Proteste, die teilweise unter dem

134 Motto »FIFA go home!« standen. In der Regel richteten sich diese Gegenbewegungen gegen Naturzerstörung, Ressourcenvergeu- dung, soziale Ungleichheit und Korruption – Missstände, die alle- samt befördert werden durch die von der FIFA und dem Interna- tionalen Olympischen Komitee (IOC) angestrebte Gigantomanie ihrer Wettbewerbe. Wann aber ist der Punkt, an dem aus einem lokalen Protest der direkt Betroffenen eine große, globale Boykott-Kampagne entstehen sollte?

Als Prüfsteine dafür könnten gelten:

 Führt das Gastgeberland einen völkerrechtswidrigen Krieg? Das muss im Fall Katar insofern bejaht werden, als das Emirat islamistische Terrorgruppen finanziert, die in Syrien, Libyen und Afghanistan in Bürgerkriege verwickelt sind. Zudem war Katar von 2015 bis 2017 am Krieg im Jemen beteiligt.

 Wie steht es um die Menschenrechte im Gastgeberland? Das entsprechende Kapitel in diesem Buch gibt dazu für Katar eine eindeutige Antwort: sehr schlecht. Frauen oder Minder- heiten wie Homosexuelle werden dort nicht »nur« gesellschaft- lich diskriminiert. Entscheidend ist, dass diese Diskriminie- rungen in Katar gesetzlich verankert sind. Auch das zuweilen angeführte Argument, in Menschenrechts- fragen würden Kritiker mit Bezug auf Katar »eurozentristisch« argumentieren, sticht nicht. Denn die maßgebliche UNO-Men- schenrechtskonvention wird – zumindest verbal – von allen UNO-Mitgliedsstaaten und auch von der FIFA akzeptiert. Sie gilt keineswegs nur für Europa. Menschenrechte sind unteilbar. Der Hinweis auf vorhandene »Traditionen« oder »Kulturen«, mit denen Menschenrechtsverletzungen relativiert werden, miss- achtet nicht nur diesen Gedanken der Unteilbarkeit, sondern ist seinerseits eurozentristisch, weil er anderen Ländern eine prinzi- pielle Rückständigkeit unterstellt. In Wahrheit sind es nicht »der

135 Islam« oder eine »arabische Tradition«, die Menschenrechts- verletzungen hervorbringen, sondern es sind die herrschenden Strukturen, im Falle Katars der absolut regierende Clan des Emirs. Darauf Rücksicht zu nehmen, nutzt ausschließlich diesen Herrschenden. Nicht deren Interessen sollten unser Bezugspunkt sein, sondern die Situation der von ihnen Beherrschten. Sind etwa die Demokratie-Defizite in Russland oder China eine »Tradition«, weil es in diesen Ländern nie eine funktionie- rende bürgerliche Demokratie gegeben hat? War die Apartheid in Südafrika eine »Kultur«, weil sie bereits seit Beginn des 20. Jahr- hunderts praktiziert wurde? Sollen wir für den Missbrauch Jugendlicher durch katholische Geistliche Verständnis auf- bringen, weil er vermutlich seit Jahrhunderten praktiziert wird? Stand nicht der Nationalsozialismus am Ende einer langen »Tra- dition« des Antisemitismus und der Judenverfolgung in Deutsch- land? Wo also landen wir, wenn wir die Messlatte der Menschen- rechte biegen und beugen, um jenen vermeintlichen »Kulturen« Rechnung zu tragen? Daher sollten wir es lassen.

 Verstärkt das Turnier soziale Missstände? Hier wären vor allem die ebenfalls an anderer Stelle beschrie- benen sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen (nicht nur) auf den WM-Baustellen Katars anzuführen. Es ist dies der einzige Punkt, bei dem die FIFA – auf Druck von NGOs – aktiv geworden ist. Ver- besserungen hat es gegeben, doch sind diese längst nicht ausrei- chend – auch weil sie nur dort greifen, wo es sich unmittelbar um WM-Baustellen handelt.

 Geht das Turnier mit schlimmen ökologischen Folgen einher? Dies wird zunehmend ein Argument bei den Olympischen Winter- spielen. Im Fußball entsteht nach WM-Turnieren häufig das Pro- blem, die (oft neu errichteten) großen Arenen sinnvoll zu nutzen, wodurch eine unsinnige Ressourcenverschwendung entsteht. Das wird – trotz einiger Pläne für Rückbau oder Umwidmung – auch im Mini-Staat Katar der Fall sein. Der ökologische Aspekt wird

136 im Emirat verschärft durch die Tatsache, dass die Stadien auf halbwegs annehmbare Temperaturen heruntergekühlt werden müssen; auch wenn dies hauptsächlich mittels Solarstrom erfolgen soll. Abgesehen davon ist Katar ein ökologischer Spitzenreiter – im negativen Sinn. Das Land weist – abgesehen vom kleinen Insel- staat Palau – weltweit die höchsten Kohlendioxid-Emissionen pro

Kopf der Bevölkerung auf (2018: 30,8 Tonnen CO2) und liegt damit weit vor den USA (16,14), Deutschland (9,15) oder China (7,95). Es ist zu vermuten, dass die Stadionbauten und die Infrastruktur- projekte im Gefolge der WM – beispielsweise der Bau der U-Bahn Doha Metro und eine Straßen- wie Schienenanbindung aller WM- Stadien – an diesem Spitzenplatz wenig verändert haben, all den schönen Solarstrom-Stadiondächern zum Trotz.

 Besitzt das Gastgeberland eine nennenswerte Fußballtradi- tion? Einfache Antwort: nein. Siehe dazu gesonderten Text in diesem Buch. Wäre das alleinige Bestreben gewesen, eine WM-Endrunde im arabischen und nordafrikanischen Raum stattfinden zu lassen, hätten sich genügend Staaten mit langer Fußball- und Fantradi- tion finden lassen. Allerdings sind diese Länder als Gastgeber wenig interessant für die FIFA, weil sie auf finanzielle Hilfen und Förderung angewiesen wären, statt bereitwillig und mit eigenen Geldmitteln die Wünsche des Weltverbandes zu erfüllen.

 Ist die Entscheidung für das Gastgeberland fair zustande gekommen? Die Frage beantwortet sich von selbst. Selbst wenn (was unrea- listisch ist) keine Korruption im Spiel gewesen sein sollte: Den Ausschlag gab die finanzielle Potenz des Emirats, nicht seine Qualität als Land des Fußballs. Das verbindet sich blendend mit dem Interesse der FIFA, größtmöglichen Gewinn aus dem Tur- nier zu ziehen. Sportliche Fairness sieht anders aus. Unterm Strich gibt es nicht das eine Argument, das eine Boy- kott-Bewegung gegen Katar 2022 rechtfertigt. Es ist die Vielzahl

137 an Faktoren, die ein WM-Turnier in diesem Land unerträglich macht. Mit vielen falschen Schritten wurde schließlich eine rote Linie überschritten. Für Fußballfans ist es Zeit zu sagen: Jetzt reicht es uns!

Warum »Boycott Qatar 2022«?

Am Anfang unserer Katar-Initiative stand die Überlegung, mit einer politischen Erklärung eine inhaltliche Basis zu finden. Als plakative Überschrift und Zielvorstellung wählten wir: »Boycott Qatar 2022«. Diese Zuspitzung wurde manchmal auch mit Blick auf den Zeitfaktor infrage gestellt: Ist es nicht längst zu spät, eine Boykottbewegung zu initiieren? Die Entscheidung steht doch seit zehn Jahren fest, demnächst beginnen die Qualifikations- spiele, an denen alle Fußballnationen teilnehmen – wer glaubt denn da noch an einen erfolgreichen Boykott! Dennoch halten wir diese Formulierung für richtig. Denn sie ist weniger gedacht als Forderung an Verbände wie den DFB, nicht an der WM teilzunehmen – das wäre zwar angemessen und wünschenswert, doch darauf zu hoffen, fällt uns mittlerweile sehr schwer. Vielmehr ist es ein Appell an die Medien, kritisch über das Turnier und das Land, in dem es stattfindet, zu berichten. Vor allem aber ist es ein Appell an uns, die Fans, selbst. Nämlich all das zu durchkreuzen, was sich FIFA, DFB, Sponsoren und Fern- sehsender von dem Event erhoffen: hohe TV-Zuschauerzahlen, möglichst mit spektakulärem Public Viewing. Eine reibungslose, glatte Show. Ein gutes Geschäft mit allerlei Waren, auf denen das WM-Logo prangt. Ein positives Image für Coca-Cola, Adidas, McDonald’s und andere FIFA-Sponsoren, die für viel Geld ihren Namen mit dem Turnier verknüpfen. Das alles können wir boy- kottieren, indem wir nichts davon kaufen und andere zum glei- chen Boykott auffordern. Fans haben eine Macht als Konsument*innen. Der DFB hat das in den letzten Jahren schon feststellen müssen, weil sich der

138 Imageverlust der A-Nationalmannschaft stark auf das Merchan- dising-Geschäft der »Mannschaft« auswirkte. Merken Coca-Cola & Co, dass es Gift für ihre Kasse ist, wenn sie solche Turniere sponsern, dann werden sie es künftig lassen. Und spätestens dann wird auch die FIFA zwangsläufig umdenken müssen. Denn bei ihr zählt nichts mehr als der Sound, wenn das Geld in die Kassen rauscht. Das alles steht im Übrigen keineswegs im Widerspruch zu einem »Dialog«, von dem die FIFA, die Bosse von Bayern Mün- chen und einige Kommentatoren so gerne sprechen. Erstens wird die Notwendigkeit eines solchen Dialogs überhaupt erst entdeckt, wenn die Proteste massiv werden. Und zweitens sind die Erfolgsaussichten eines Dialogs umso größer, je mehr Druck vonseiten der Fußballfans ausgeht. Das ist unsere Form, bei dem Dialog »mitzureden« und ihn nicht der FIFA zu überlassen: eine politische Kampagne, die unseren Protest und unsere Ziele deut- lich sicht- und hörbar manifestiert.

Politische Akzente

Es geht also nicht darum, zu Hause zu bleiben und den Fernseher auszuschalten. Unsere Aktivitäten zu Katar 2022 verbinden sich mit einer starken Aufklärungskampagne: über das, was bei der FIFA seit Jahrzehnten falsch läuft. Und über die elenden poli- tischen Verhältnisse in Katar. Wir hoffen auf viele Veranstal- tungen, auf Gegen-Turniere, auf Protestaktionen in den Stadien, Protestbriefe an die Verantwortlichen. Wir hoffen auf Anti-FIFA- Aufkleber auf den Fanmeilen und an allen anderen Orten. Solche Aktivitäten stützen zugleich die langjährigen und nachhaltigen Kampagnen von NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch, deren hartnäckige Arbeit auch in Katar Verbesse- rungen herbeiführen kann. Im Übrigen halten wir die Argumentation für falsch, ein WM- Turnier könne schon durch die zahlreichen ausländischen Besu-

139 cher eine Liberalisierung des Gastgeberlandes forcieren. Solche Hoffnungen haben sich in der Vergangenheit immer wieder als Illusion erwiesen, sei es bei der WM 1934 in Italien, den Olym- pischen Spielen 1936 in Berlin oder den Olympischen Spielen 2008 in Peking. Das Gegenteil war der Fall: Die Repression im Land verschlimmerte sich, lediglich für die Zeit des Turniers wurde eine »cleane« Fassade errichtet. Auch die WM 2018 in Russland hat nicht zu einer Demokra- tisierung des Landes beigetragen. In Wahrheit sind die Verhält- nisse seither schlechter geworden. Profitiert haben nur die FIFA und das Putin-Regime. »Das Menschenrechtsengagement des organisierten Sports ist bislang nichts weiter als ein moderner Ablasshandel, um die sündhaften, aber so profitablen Geschäfte weiterbetreiben zu können«, schreibt Johanes Kopp in der taz. Und Katar wird nach den bisherigen Erfahrungen da keine Aus- nahme sein. Alle internationalen Sportkontakte änderten nichts daran, dass es dort mit der Pressefreiheit seit zwölf Jahren bergab geht, wie die Organisation Reporter ohne Grenzen festgestellt hat. In den ersten Jahren nach der Turniervergabe 2010 küm- merte es die FIFA herzlich wenig, dass auf den WM-Baustellen moderne Sklavenarbeit herrschte und viele Arbeiter starben. Erst die hartnäckige Aufklärungsarbeit von NGOs und einiger Medien hat die FIFA dazu bewogen, gewisse Verbesserungen von der Regierung einzufordern. Es zeigt sich erneut: Nur ste- tige Kritik kann auf die Dauer Veränderungen bewirken. Und genau das ist unser Ziel. Es geht nicht um Vorbehalte gegen eine islamische Region, nicht um den Austragungstermin im Winter, nicht einmal um die vor Ort herrschende Hitze. Ein WM-Turnier darf nun mal nicht ausschließlich in unseren Breitengraden stattfinden. Im Gegen- teil: Wenn die politischen Bedingungen einigermaßen stimmen, begrüßen wir jedes Turnier außerhalb Europas. Das Beispiel Südafrika mag das veranschaulichen: Solange dort ein staatli- cher Rassismus in Form der Apartheid herrschte, wäre ein WM-

140 Turnier in Südafrika untragbar gewesen. Als das Apartheidre- gime endlich der Vergangenheit angehörte, freuten wir uns sehr darüber, dass 2010 erstmals ein WM-Turnier auf afrikanischem Boden ausgespielt wurde.

Die »Politik der Ferienanlage«

Das wäre vollkommen anders zu bewerten gewesen, hätte man die Apartheid seinerzeit lediglich für die Dauer des WM-Turniers bzw. für die Zusammenstellung eines »gemischten« Olympia- teams Südafrika aufgehoben. Wäre man in Südafrika also der Methode der NS-Diktatur gefolgt, die im Jahr 1936 zwei (Halb-) Juden in die deutsche Olympiamannschaft aufnahm, um dem Anschein Genüge zu tun. Das mag selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Denn genau diese Logik verbirgt sich hinter der Formulierung im »Bekenntnis der FIFA zu den Menschenrechten« vom Mai 2017. Dort heißt es: »Die FIFA ist zudem bestrebt, negative Auswir- kungen auf die Menschenrechte, die über ihre Geschäftsbezie- hungen einen direkten Bezug zu ihren Tätigkeiten, Produkten oder Dienstleistungen haben, zu vermeiden oder einzudämmen.« So erklärt sich die Fixierung des FIFA-»Dialogs« auf die katari- schen WM-Baustellen: Nur dort, wo die FIFA durch die WM-Ver- gabe unmittelbarer Auslöser für Menschenrechtsverletzungen ist, sieht sie sich (wenn überhaupt) gefordert. Alles andere inte- ressiert sie nicht. Das ist die Sichtweise des ignoranten europäischen Urlaubers, eine »Politik der Ferienanlage«: Mich soll lediglich interessieren, ob mein Ferienhäuschen sauber gebaut wurde und ob ich mich für die Dauer meines Aufenthalts einigermaßen frei bewegen kann. Also beispielsweise im Stadion die Regenbogenfahne schwingen darf, was während der WM in Katar angeblich erlaubt sein soll. Dass die weitaus meisten Arbeitsmigrant*innen weiterhin in sklavenähnlichen Verhältnissen schuften, dass die Repression

141 gegen Schwule und Lesben weitergeht, hat mich nicht zu interes- sieren. Ich soll nur die freundliche Fassade sehen, die das katari- sche Regime vier Wochen lang seinem Land verordnet. Die Art und Weise, wie die FIFA ihr »Bekenntnis zu den Men- schenrechten« abgefasst hat, bedeutet letztlich, dass sie mit jeder Diktatur ins Geschäft kommen kann. Solange diese zu gewissen Kompromissen während der Veranstaltung bereit ist. Unsere Sichtweise muss über den unmittelbaren Kontext des WM-Turniers hinausgehen. Auch zeitlich sind Menschenrechte unteilbar. Eine Diktatur, die lediglich für vier Wochen ein freund- liches Gesicht zeigt, bleibt eine Diktatur und darf kein WM-Gast- geber sein.

Was macht die Initiative #BoycottQatar2022?

Die meisten Aktivitäten, die in Hinblick auf die WM sinnvoll wären, können wir als Initiative natürlich nicht selbst leisten, das meiste müssen Gruppen vor Ort initiieren. Wir sehen uns dabei als Netzwerk, das Unterstützung geben kann: Ideen austauschen, Verbindungen unter den Gruppen herstellen, Erfahrungen ver- mitteln, Referenten benennen, Material wie Aufkleber und Info- Flyer bereitstellen. Wir haben vor, im Frühjahr 2022 (wenn die Corona-Restriktionen sich hoffentlich erledigt haben) ein bun- desweites Treffen zu organisieren, das den bisherigen Austausch forciert und sich koordinierte Aktionen für die »heiße Phase« direkt vor und während der WM überlegt. Die inhaltliche Basis unserer Aktivitäten bildet die Home- page www.boycott-qatar2022.de, auf der diverse Hintergrund- berichte sowie Interviews mit Publizisten wie Nicole Selmer oder Ronny Blaschke zu lesen sind. Die Seite wird ständig erweitert und durch Postings auf Facebook bzw. Tweets auf Twitter flan- kiert. Wichtig dabei: Wir sind offen für Diskussionen. Wer einen kritischen Blick auf die FIFA und Katar hat, kommt auch dann zu

142 Wort, wenn er (wie der Autor Ronny Blaschke in diesem Buch) den Slogan »Boycott Qatar« problematisch findet. Die Unterstützer*innen der Kampagne werden auf unserer Homepage namentlich aufgeführt, Einzelpersonen ebenso wie Gruppen. Einige dieser Gruppen, beispielsweise die Schalker Fan-Ini, Ente Bagdad Mainz, Gesellschaftsspiele e. V. Berlin oder die KSC-Fans gegen Nazis, befinden sich bereits in einem regel- mäßigen Austausch. Weitere Gruppen sind gerne dazu einge- laden. Jeder Name als Unterstützer*in zählt. Und jede Idee ist willkommen. Schreibt uns unter [email protected]. Wir bleiben am Ball.

Internet: www.boycott-qatar2022.de

Hashtag: #boycottqatar2022

143 DIE ANDERE MEINUNG: ES GEHT NICHT NUR UM UNSERE TRADITIONEN – VON RONNY BLASCHKE

Wer einen Boykott der WM fordert, müsste in der Konsequenz die ganze Fußballindustrie boykottieren.

In Katar gibt es keine freien Wahlen und unabhängigen Medien. Homosexuelle müssen mit Verfolgung rechnen, gewerkschaft- liche Strukturen werden überwacht. Gemessen an unseren Tra- ditionen in Westeuropa, gemessen an Rechtsstaatlichkeit, Pres- sefreiheit und Säkularismus, darf es keine WM in Katar geben. Doch es geht nicht nur um unsere Traditionen. Die FIFA hat mehr als 200 Mitgliedsverbände. Die meisten von ihnen verbinden mit der WM in Katar Profit, Einschaltquoten und Party. Politische Themen bleiben in vielen Ländern Afrikas oder Asiens im Hintergrund. Wer einen Boykott der WM fordert, müsste in der Konsequenz die ganze Fußballindustrie boykottieren. Der FC Bayern, finan- zielles Hauptargument der Bundesliga, reist seit einem Jahrzehnt ins Wintertrainingslager nach Doha. Auch die deutsche Industrie nimmt gern Geld aus Katar entgegen. Niedersachsens Minister- präsident Stephan Weil besuchte 2015 die Handball-WM in Katar, wohl auch, um für Volkswagen zu werben. Die Deutsche Bahn ist am milliardenschweren Streckenausbau am Golf beteiligt. Ob FIFA oder UEFA, ob Real Madrid, Manchester City oder der FC Bayern: Etliche Verbände und Klubs aus demokratisch regierten Ländern lassen sich von den staatlichen Fluglinien aus Doha, Dubai oder Abu Dhabi sponsern. Und die Regionalmacht Saudi-Arabien steht mit ihrer sportlichen Geopolitik erst am Anfang. Der Fußball ist globalisiert. Vereine etablieren Niederlas- sungen in China. Kritische Töne zur Unterdrückung der Uiguren

144 in Xinjiang oder zur Einschränkung der Bürgerrechte in Hong- kong braucht man von europäischen Klubs nicht zu erwarten, denn sie fürchten den Zorn der Kommunistischen Partei. Die- selben Vereine machen sich seit Jahrzehnten von Sportartikel- herstellern abhängig, die Näherinnen in Niedriglohnländern ausbeuten. Ihre Sponsoren und TV-Partner gehören zu multina- tionalen Konzernen. Ein breiter WM-Boykott ist unrealistisch. Wir sollten uns von der Utopie verabschieden, dass sich die Kommerzlogik des Profi- fußballs überwinden lässt. Wer dieses Hobby dennoch nicht auf- geben will, kann auch in einem schlechten System etwas Gutes bewirken. Fans des FC Bayern sind mit Gastarbeitern in Katar in Kontakt. Menschenrechtsorganisationen veröffentlichen Infor- mationen. Auch in anderen Städten können Vereinsmitglieder Netzwerke knüpfen, auf Sponsoren zugehen und Abgeordnete in ihren Wahlkreisen auf das Thema hinweisen. Viele NGOs haben ein beachtliches Portfolio zu Fußballthemen entwickelt. In den Monaten bis zur WM werden Bücher, Dokus und Konfe- renzen zum Thema entstehen. Die entscheidende Frage ist, ob das den Arbeitsmigranten in Katar hilft oder nur das moralische Gewissen in Europa fördert. Gut gemeinte Kritik kann auch als Bevormundung ankommen. Die Sommerspiele 2008 in Peking und die Winterspiele 2014 in Sotschi. Die Fußball-Weltmeisterschaften 2010 in Südafrika, 2014 in Brasilien und 2018 in Russland. Die Formel-1-Rennen in Bahrain oder die Eishockey-WM 2014 in Minsk. Die Liste der umstrittenen Sportereignisse scheint endlos zu sein, aus west- europäischer Perspektive. Demokratiedefizite oder Korruption, Sicherheitsbedenken oder Umweltverschmutzung: Stets werden politische und kulturelle Entwicklungen nach vermeintlich deut- schen Maßstäben bewertet. Die Debatte ist destruktiv, als ginge es um die Bestätigung eigener Vorurteile. Und nach den Sport- ereignissen wandert die Empörung dann weiter. Auch künftig sollten wir über Menschenrechtsverletzungen in Katar sprechen, aber wir sollten das Blickfeld erweitern. In den 22

145 Staaten der arabischen Welt leben mehr als 420 Millionen Men- schen. In vielen Ländern hat der Fußball den Regimen als Macht- instrument gedient, doch er hat auch Bevölkerungsgruppen zueinander geführt. Das Nationalteam des Irak hat 2007 die Asi- enmeisterschaft gewonnen und einer gespaltenen Gesellschaft Hoffnung vermittelt. 2011, während des Arabischen Frühlings, protestierten in Ägypten, Algerien und Tunesien auch tausende Ultras. Die palästinensischen Gebiete erhalten keine Anerken- nung von den Vereinten Nationen, aber ihre Nationalmannschaft beschert ihnen einen Funken Staatlichkeit. Der Nahe Osten und Nordafrika lassen sich wunderbar mithilfe des Fußballs erkunden. Wir sollten die erste WM im arabischsprachigen Raum nicht nur als Kränkung, sondern auch als Chance begreifen. Dazu gehört es auch, sich mit den Motivationen des Gastge- bers zu beschäftigen. Die katarische Herrscherfamilie lässt die 300.000 Staatsbürger am Wohlstand teilhaben. In Medizin, Bil- dung und Jobvergabe genießen sie Privilegien, ihr Prokopfein- kommen ist eines der höchsten weltweit. Katar braucht keine WM für Marketing oder für den sozialen Frieden. Für den Emir ist Fußball vor allem ein Element der Sicherheitspolitik. Für eine Bewertung Katars ist der historische Hintergrund von Bedeutung: 1971, im Jahr der Unabhängigkeit von Groß- britannien, hatte das Emirat nur 100.000 Einwohner und stand unter dem militärischen Schutz Saudi-Arabiens. Doch Katar wollte sich aus der Umklammerung lösen und leitete eine Moder- nisierung ein. 1990 marschierte der übermächtige Irak in Kuwait ein, die USA mussten zur Befreiung anrücken. In den kleineren Golfstaaten setzte sich das Bewusstsein durch, dass sie bei einem vergleichbaren Angriff klar unterlegen wären. Die Armee Saudi-Arabiens zählt 200.000 Soldaten, die von Katar 12.000. Daher verfolgt Katar eine Strategie der Soft Power. Der Emir ließ den Nachrichtensender Al Jazeera aufbauen, öff- nete die Wirtschaft für ausländische Investoren, schloss Part- nerschaften mit renommierten Universitäten aus Europa und den USA. 2005 öffnete in Doha eine der größten Sportakade-

146 mien der Welt. Jährlich finden dort Dutzende Wettbewerbe statt. 2011 erwarb Katar die Mehrheit an Paris Saint-Germain. Zudem wurde Qatar Airways der erste Trikotsponsor des FC Barcelona. Katar steckte bis heute wohl mehr als eine Milliarde Euro in den europäischen Fußball. Wie wichtig dieses Netzwerk für Katar ist, zeigte sich ab 2017. Saudi-Arabien verhängte eine wirtschaftliche Blockade über Katar. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Ägypten schlossen sich an und setzten ihre Beziehungen mit Doha ebenfalls aus. Riad stellte Lebensmittelimporte ein und kappte Reisewege. Zeitweise fürchteten viele Katarer eine saudi- sche Invasion. Doch Doha konnte sich behaupten im regionalen Wettstreit um Touristen, Fachkräfte und die Niederlassung von Start-ups. Anfang 2021 gab Saudi-Arabien die Blockade auf. In Riad hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man während der Pandemie auf eine Zusammenarbeit angewiesen ist. Auch für die Zukunft, denn die lukrativen Öl- und Gasvorkommen sind endlich. Katar hat mithilfe des Fußballs Wurzeln in der Weltpolitik geschlagen. Doha gilt als wichtiger Vermittler in der Region, mit belastbaren Kontakten in den Westen, aber auch in den Iran und nach Israel. Diplomaten und Konzerne pflegen einen pragma- tischen Umgang mit Katar, denn sie versprechen sich bessere Beziehungen in Dohas Einflusszonen im Nahen Osten. Im Fuß- ball wird emotionaler diskutiert, viele europäische Fans fühlen sich beleidigt, wenn Länder wie Katar, China oder Russland an Einfluss gewinnen. In Katar leben 2,3 Millionen Arbeitsmigranten. Rund um die neuen WM-Stadien sollen nur rund 30.000 von ihnen beschäftigt sein. Wegen der internationalen Aufmerksamkeit sollen Arbeits- schutz, Versorgung und Kontrollen im Umfeld des Fußballs sogar besser sein als anderswo, etwa in Fabriken oder im Straßenbau. Doha würde auch ohne WM einer Baustelle gleichen. So zynisch es klingen mag: Erst durch den Fußball ist Europa auf die vielen toten Gastarbeiter in Katar aufmerksam geworden.

147 Nach Maßstäben Europas, dessen Gewerkschaften sich über Generationen herausgebildet haben, ist Katar rückständig. Nach Maßstäben der Golfregion, die Arbeiterbewegungen nicht kennt, ist Katar ein Zukunftsmodell. Auch die Nachbarn Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate setzen auf das Kafala- System, aber sie dulden weniger Einmischung. Katar lässt inter- nationale Organisationen für Arbeitsrechte ins Land, früher war das undenkbar. In wenigen Jahren sind einige Reformen entstanden, doch sie können nur wirksam werden, wenn sich das ganze System weiterentwickelt und Kontrollmöglichkeiten zulässt, durch Gewerkschaften, Medien und Zivilgesellschaft. Neunzig Prozent der katarischen Bevölkerung sind Einwan- derer. Ob sich bei den Einheimischen irgendwann die Einsicht durchsetzen wird, dass Gastarbeiter mehr sein können als billige Hilfskräfte? Dass sie Kultur, Konsum und Gemeinwesen berei - chern können? Als westeuropäische Fans können wir uns diffe- renziert an der Debatte beteiligen. Mit Neugier, auf Augenhöhe – und ohne Boykott.

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Nationalspieler für Menschenrechte WIE DER BOYKOTT-GEDANKE DEN PROFIFUSSBALL ERREICHTE

Die Diskussion um einen Boykott der WM in Katar erhielt im Feb- ruar 2021 eine starke Dynamik. Da rief mit dem norwegischen Klub Tromsø IL erstmals ein europäischer Profiklub seinen natio- nalen Verband zum Boykott auf. Die Initiative ging vom Tromsø- Funktionär Tom Høgli aus. Der Schweizer Wochenzeitung (WOZ) sagte der ehemalige Nationalspieler: »Wir bringen Kindern über den Fußball Dinge wie Fairplay oder Teamwork bei. Und dann wird das wichtigste Fußballturnier der Welt in Katar veranstaltet, einem Land, in dem die Arbeiter praktisch keine Rechte haben und zu Tausenden auf den Baustellen sterben.« Sein Ziel, so Høgli, sei es, »dass sich alle Klubs, die Verbände und letztlich auch die Sponsoren öffentlich zu den Vorkommnissen in Katar äußern und erklären müssen«. Schweigen oder Wegschauen dürfe keine Option mehr sein: »Es steht nichts weniger als die Glaubwürdig- keit unseres Sports auf dem Spiel, die Zukunft des Fußballs.« Weitere Profiklubs des Landes schlossen sich dem Zweit- ligisten an, so auch Rekordmeister Rosenborg Trondheim. Bei dessen virtueller Mitgliederversammlung votierten 202 der 256 Stimmberechtigten für einen Verzicht der Nationalmannschaft auf die WM-Endrunde. Der norwegische Fußball ist sehr demokratisch organisiert. Die Vereine sind dazu verpflichtet, ihre Mitglieder einmal jähr-

149 lich über die Vereinspolitik, Änderungen ihrer Satzung u. ä. abstimmen zu lassen. Jedes Mitglied über 15 Jahre ist stimm- berechtigt. Mitte März 2021 beschloss die Generalversammlung des norwegischen Fußballverbandes, am 20. Juni eine außeror- dentliche Mitgliederversammlung abzuhalten – einziges Thema: ein möglicher WM-Boykott. Zur Abstimmung sind neben Ver- bandsführung und Regionalverbänden auch alle Vereine der ersten, zweiten und dritten Liga sowie die der obersten Frauen- ligen zugelassen. Boykott-Befürwortern in Norwegen geht es um mehr als nur die WM in Katar. Hallgeir Gammelsæter, Professor für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Sportorgani- sationen an der Universität Molde, schreibt in einem Kommentar für das norwegische Fußballmagazin Josimar Fotballblad: »Ist dieser Protest nicht vielmehr eine Reaktion auf die FIFA und ihre Führungsfiguren? Die FIFA hatte zehn Jahre Zeit, um den Zuschlag an Katar zu überdenken, aber es sieht nicht so aus, als würde sich etwas grundsätzlich in der FIFA ändern. Der Boykott durch das kleine Norwegen hilft nicht, sagt man, aber der Glaube an eine Veränderung von innen scheint auch nicht sehr groß zu sein.« Hoffnung macht Gammelsæter der große Erfolg einer anderen Graswurzelbewegung, die auch einmal sehr klein ange- fangen hat: »Fridays for Future«.

T-Shirt-Demonstrationen

Am 24. März startete Norwegen mit einem 3:0-Sieg über Gib- raltar in die Qualifikation für die WM in Katar. Auf den T-Shirts, die die Spieler vor dem Anpfiff trugen, war zu lesen: »Human Rights. Off and on the pitch« (»Menschenrechte auf und neben dem Platz«). Für Gjert Moldestad, Sprecher der Norsk Supporte- rallianse, des Dachverbands von mehr als 40 norwegischen Fuß- ball-Fanklubs, war die Geste der Nationalspieler gut, aber nicht ausreichend: »Es ist lobenswert, dass die Nationalmannschaft

150 ihre Stimme einsetzt, um Einfluss zu nehmen. Aber für uns Fan- klubs ist klar, dass ein Boykott der einzig richtige Weg ist. Wir waren der Meinung, dass man den Boykott hätte beschließen sollen, bevor wir in die Qualifikation eingestiegen sind. Deshalb schauen viele Menschen die Spiele der Norweger nicht an. Ich selbst habe keine einzige Minute davon gesehen. Es gibt also schon eine Art Boykott.« Einen Tag nach Norwegen stieg auch die deutsche National- mannschaft in die Qualifikation und den Protest ein. Als Manuel Neuer und Co. in Duisburg Island empfingen, zogen die Start- elfspieler kurz nach der Hymne ihre Trainingsjacken aus und trugen T-Shirts mit jeweils einem großen Buchstaben darauf – zusammen ergab das den Begriff »Human Rights«, Menschen- rechte also. Als die Norweger zum zweiten Qualifikationsspiel gegen die Türkei aufliefen, wiederholten sie ihre Aktion. Nun mit einer zusätzlichen Botschaft. Unter »Menschenrechte auf und neben dem Platz« waren noch die Worte »Norwegen« und »Deutsch- land« platziert – hinter diesen war ein Haken zu sehen, darunter stand: »Next?« (»Wer ist der Nächste?«). Die Nächsten waren die Niederländer, die gegen Lettland mit dem Slogan »Football Supports Change« (»Fußball unterstützt Wandel«) aufliefen. In einer begleitenden Erklärung hieß es: »Der Fußball sollte Wandel unterstützen. Auch in Katar. In Katar wollen wir Weltmeister werden, aber nicht, ohne über den Teller- rand zu schauen.« Der niederländische Fußballverband erklärte, er sei schon 2010 gegen eine WM in Katar gewesen. Das unter- scheidet ihn vom DFB. In Dänemark gab die Arbejdernes Landsbank, die siebtgrößte Bank des Landes und Sponsor des Nationalteams, bekannt, man werde – im Falle einer Qualifikation der Mannschaft – keine VIP- Anlässe in Katar veranstalten. Casper Fischer Raavig, Initiator einer Boykott-Kampagne in Dänemark, nahm den Nationalmann- schafts-Ausrüster Hummel ins Visier: »Wir versuchen, ihn zu einer Reaktion zu bewegen, weil sich Hummel auch als ›stolzer Sponsor

151 der LGBTQ-Community‹ bezeichnet.« Raavig sieht auch die däni- schen TV-Stationen, die das Turnier übertragen werden, in der Pflicht: »Sind sie sich bewusst, dass das katarische Regime eine massive PR-Kampagne lancieren wird, sobald das Turnier startet? Und wie werden sie in der Berichterstattung damit umgehen?« Dass die deutschen Nationalspieler das Kind – also Katar – bei ihrer T-Shirt-Demonstration nicht beim Namen nannten, stieß vielfach auf Kritik. Jan Göbel kommentierte auf Spiegel.de: »Die Aktion war so vorsichtig wie möglich. Sie nahm zunächst überhaupt keinen Bezug auf den nächsten WM-Gastgeber. Von Katar selbst war zumindest auf den T-Shirts nichts zu lesen. Der Rahmen war festgelegt, kein Wort zu viel, nur das Nötigste.« Als RTL-Reporterin Laura Wontorra von Leon Goretzka wissen wollte, was genau die Aktion bedeute, erhielt sie keine deutliche Antwort: »Es ist ja ziemlich eindeutig gewesen, ähem. Wir haben, äh, einfach in der Mannschaft darüber gesprochen, ähem. Wir haben natürlich auch, äh, die WM vor uns, ähem, da wird immer wieder drüber diskutiert. Das, äh, möchten wir auch der Gesell- schaft klarmachen, dass wir das nicht, äh, also dass wir das nicht, äh, ignorieren, sondern dass wir ganz klar sagen, was für Bedin- gungen da herrschen müssen, und äh, das haben wir heute auch versucht, von unserer Seite klarzumachen.« In einigen Kommentaren – vorwiegend in den sozialen Medien – wurden den Spielern Doppelmoral und ein Mangel an Glaubwürdigkeit unterstellt. Hierzu trug auch ein vom DFB über den offiziellen Twitter-Account der Nationalelf verbrei- tetes und mit pseudo-dramatischer Musik unterlegtes »Making of …«-Video über die Aktion bei. Ein Fan twitterte: »Solche Mar- keting-Videos nehmen dem Thema doch die Ernsthaftigkeit, finde ich. Ist eine schöne Aktion, und wir wissen alle, dass die Spieler es selbst gemalt haben. Aber langsam wird der DFB immer mehr zu einer Marke und ist in seiner Botschaft kaum noch authentisch.« Deutlicher als sein FC-Bayern- und Nationalmannschaftskol- lege Leon Goretzka positionierte sich Führungsspieler Joshua Kimmich: Er erteilte einem Boykott eine deutliche Absage. Für

152 ihn, so Kimmich, käme ein solcher »ungefähr zehn Jahre zu spät. Die Gedanken hätte man sich machen müssen, als die WM an Katar vergeben wurde«. Kimmich hätte den DFB fragen sollen, warum man im Dezember 2010 keinen Gedanken an die Men- schenrechtsverletzungen im Emirat verschwendete und wie der Vertreter des DFB im Exekutivkomitee abgestimmt hatte. Und warum der Verband auch noch Jahre nach der Abstimmung zur Lage der Menschenrechte in Katar kein Wort verlor – wie auch Kimmichs Arbeitgeber, der FC Bayern. Verglichen allerdings mit der Rolle, die die deutsche Natio- nalmannschaft vor der WM 1978 eingenommen hatte, als das Turnier im von einer brutalen Militärjunta regierten Argentinien stattfand, war die Aktion im Frühjahr 2021 eine eindeutige Ver- besserung. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zeigte die Aktion inmitten der Corona-Pandemie, »dass es Fußballprofis gibt, die zwar derzeit in einer Blase, aber nicht abgeschnitten von den Problemen der Welt leben«.

Diskussion um Toni Kroos

Während seine Nationalmannschaftkollegen eine konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Katar scheuten, bekannte sich einer, der bei den ersten Qualifikationsspielen nicht dabei war, ganz unmissverständlich. Im gemeinsam mit seinem Bruder Felix betriebenen Podcast Einfach mal Luppen sagte Toni Kross zu Katar: »Dass dieses Turnier dahin gegeben worden ist, halte ich für falsch.« Explizit sprach der Mittelfeld- spieler von Real Madrid die Lage der Arbeitsmigrant*innen an und erwähnte auch die Strafverfolgung von Homosexuellen. Kroos war ebenfalls gegen einen Boykott, aber für die Fortset- zung der Kritik »auch während so einem Turnier«. Der Politikwissenschaftler Danyel Reiche warf Kroos dar - aufhin vor, er stehe »auf der falschen Seite der Geschichte«. Sein Arbeitgeber Real Madrid werde von Emirates, der staatlichen Flug-

153 gesellschaft der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), gespon- sert, die damit auch für einen Teil seines Gehalts aufkomme. Statt Katar den Weg in die Moderne zu erschweren, solle der deutsche Nationalspieler das Land doch lieber unterstützen und einfordern, dass auch die VAE dem Weg ihres Nachbarn folgen. Dass in den VAE und in Saudi-Arabien noch schlimmere Zustände als in Katar herrschen, ist zwar richtig. Die Forderung, auch deren Sponsorentätigkeit ins Visier zu nehmen, ebenfalls. Aber wie neutral ist eigentlich Danyel Reiche? Der Politikwis- senschaftler arbeitet auf dem Campus der US-amerikanischen Georgetown-Universität in Doha. Dieser wird von der Qatar Foundation finanziert. Im Zeitraum 2014 bis 2019 überwies die Stiftung mehrere hundert Millionen Dollar an die Georgetown- Universität. Und wie Kimmich und Kroos so lehnt sich auch Danyel Reiche nicht gegen seinen Sponsor auf. Kritik an der Aktion der Nationalspieler kam auch aus der Beratungsgruppe für Menschenrechte der FIFA, einer Einrich- tung von Gianni Infantinos Gnaden, in der neben ausgewiesenen Menschenrechtsaktivisten wie Coca-Cola und Adidas auch die langjährige deutsche Sportfunktionärin Sylvia Schenk einen Platz gefunden hat. Während viele Kommentatoren und Fans die Aktion der DFB- Elf als opportunistisch brandmarkten, ging Schenk bereits das sehr allgemein gehaltene öffentliche Bekenntnis zu den Men- schenrechten zu weit. Bezüglich der Situation der Arbeitsmig- rant*innen, so Schenk, gäbe es »keinen Grund für Protest. Dies sollte auch dem Deutschen Fußball-Bund bekannt sein«. Die »restlichen« Menschenrechtsverletzungen in Katar ließ Schenk unerwähnt. Offensichtlich besteht die Funktion der Beratungs- gruppe darin, Ausrichternationen, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, Legitimation zu verleihen: Man attestiert ihnen einfach, sie seien auf dem Weg der Besserung. Ein klassischer Fall von »Sportwashing« also. Differenzierter als Schenk und im Sinne einer Strategie des gepflegten Doppelpasses äußerte sich Lisa Salza von Amnesty

154 International Schweiz: »Wir haben uns für den Dialog ent- schieden – wobei dieser natürlich nur im Wechselspiel mit öffent- lichem Druck erfolgreich sein kann.« Für den Volkswirtschaftler Sebastian Krautheim, der an der Universität Passau zu NGO- Kampagnen und deren Einfluss auf multinationale Konzerne forscht, spielt Amnesty International »hier im Rahmen einer Good-Cop-Bad-Cop-Strategie den Good Cop, der der katarischen Regierung und der FIFA einen Ausweg anbietet«. Bei früheren Großveranstaltungen im Sport, so Krautheim, habe ein Turnier eher von Missständen im Austragungsland abgelenkt. »Das dürfte dieses Mal anders sein, weil die Vorwürfe schwer wiegen und untrennbar mit dem Event selbst verknüpft sind.« Diese Ausgangslage biete NGOs starke Angriffspunkte, erläu- tert Krautheim gegenüber der WOZ. »Das Risiko eines PR-Desas- ters war selten so groß wie bei dieser WM.« Katars Regierung und die FIFA bräuchten Amnesty International als Kronzeugin, um ein solches zu verhindern. Das gebe der Menschrechtsorganisa- tion einen starken Hebel, um Verbesserungen für die Arbeitsmig- rant*innen zu erreichen. »Insofern ergänzen sich die Strategien: Je mehr Boykottaufrufe und Beinahe-Boykotte, desto einflussrei- cher wird Amnesty.« Ganz sicher können NGOs wie Amnesty oder Human Rights Watch durch ihre nachhaltige Arbeit in Katar konkrete Ver- besserungen aushandeln. Doch der Ansatz, den etwa Boycott- Qatar2022 verfolgt, geht darüber hinaus. Denn es werden nicht nur die Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen in den Blick genommen, sondern die gesamte Menschenrechtssituation in Katar. Und vor allem: die problematische Politik der FIFA, die Länder wie Katar überhaupt für geeignet hält, ein solches Tur- nier auszutragen.

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Aktiv gegen Qatar 2022 EINIGE VORSCHLÄGE FÜR PROTESTAKTIONEN ZUM WM-TURNIER

#BoycottQatar2022 verstehen wir nicht nur als Aufforderung, den Fernseher auszuschalten, wenn die Spiele aus Katar übertragen werden. Wichtig ist, den Ärger und Protest auf fantasievolle und viel- fältige Weise öffentlich auszudrücken. Sicherlich werden Faninitia- tiven, Menschenrechtsgruppen und andere Organisationen dazu im Vorfeld des WM-Turniers noch viele gute Ideen entwickeln. Einiges von dem, was sich an Aktionen abzeichnet oder was uns selbst als Vorschlag vorschwebt, möchten wir an dieser Stelle auflisten. Bei manchen Aktivitäten können wir mit BQ2022 Unterstützung leisten. Fußballturniere: Vor und während des WM-Turniers können Fans lokal Fußballturniere durchführen. So hat etwa die Schalker Fan-Initiative bereits die Aktion #back2bolzen gestartet, die am Ende dieses Beitrags noch ausführlicher vorgestellt wird. Veranstaltungen: Es gibt zahlreiche Referenten, die sich mit der Situation in Katar intensiv beschäftigt haben, die darüber Bücher verfasst, Dokumentarfilme gedreht oder sich um die Belange aus- ländischer Arbeiter*innen in dem Emirat gekümmert haben. Wenn Gruppen an ihrem Ort Veranstaltungen planen, kann BQ2022 Kon- takte herstellen. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder Gruppen aus dem LGBTQ+- Spektrum sind kompetente Ansprechpartner für Veranstaltungen. Choreos: Im Vorfeld der WM wären Fan-Choreografien, die sich gegen die FIFA-Entscheidung für Katar richten, eine zielfüh- rende Sache.

156 Info-Flyer: Die wichtigsten Motive und Ziele der Kampagne sind in einem Flyer zusammengefasst, der sowohl gedruckt wie auch als Pdf verbreitet wird und gerne angefordert werden kann. Aufkleber: Wir wollen Aufkleber mit dem Logo der BQ2022- Kampagne und auch mit anderen Katar-2022-kritischen Motiven herstellen. Wir freuen uns darauf, wenn diese Aufkleber massen- haft verklebt werden und geben sie gerne zum Solidaritätspreis ab. Maskottchen »Infandino«: Die Idee ist, ein »alternatives« WM-Maskottchen zu kreieren, eine Art Prototyp des korrupten Funktionärs. In den sozialen Medien könnten wir eine Abstim- mung darüber abhalten, wem der »Goldene Infandino« verliehen werden soll. Heiße Kandidaten könnten etwa jene zwölf Herren sein, die für die FIFA-Entscheidung pro Katar verantwortlich sind und die auch in diesem Buch vorgestellt worden sind. Mail- und Postkartenaktionen: Per massenhaften Mails oder Postkarten können wir unseren Protest gegen all jene zum Ausdruck bringen, die an der WM als Veranstalter, Mitspieler oder Sponsoren beteiligt sind, also beispielsweise FIFA, DFB, die Botschaft von Katar, Coca-Cola, Adidas, McDonald’s, Visa etc. Auch Nationalspieler können angeschrieben werden, um sie für die Probleme zu sensibilisieren. Postkarten, auf denen vorne das BQ2022-Logo aufgedruckt ist, können (wiederum zum kleinen Solidaritätspreis) demnächst bei der Initiative bezogen werden. Internationale Vernetzung: Ideal wären international koor- dinierte Aktionen von Fangruppen aus aller Welt. Wir werden uns bemühen – und sind für jede Unterstützung, jeden Kontakt dankbar. Die finale Fete: Am Wochenende des WM-Finales (17. und 18. Dezember, also 4. Advent) könnte die »finale Fete« organisiert werden, bei der gerade nicht WM-Fußball geguckt wird, sondern ein bisschen diskutiert, vorgelesen oder referiert und viel gefeiert wird – vielleicht sogar mit Künstler*innen oder Publizist*innen aus dem Nahen Osten bzw. aus dem arabischen Raum, die in Deutschland im Exil leben.

157 Zurück zu den Wurzeln unseres Sports!

#back2bolzen Zurück zu den Wurzeln des Spiels, das wir doch eigentlich alle so lieben! In diesem Geist will die Schalker Fan-Initiative e. V. ab der zweiten Jahreshälfte 2021 mit ihrer Kampagne #back2bolzen vereinsübergreifend Fußballfans in aller Welt erreichen. Das Ziel: Statt sich die Übertragungen aus Katar anzuschauen, sollen möglichst viele Menschen, Organisationen und Vereine an den Spieltagen der FIFA-WM 2022 zwischen dem 21. November und dem 18. Dezember 2022 selbst aktiv werden. Nämlich indem sie selbst Fußball spielen oder Menschen, die spielen, unterstützen, mit ihnen feiern und Freude am Spiel haben. Eben #back2bolzen. Dazu organisieren alle Interessierten an ihren Standorten Spiele oder Turniere, ob klein oder groß, ob auf der Straße, der freien Wiese, dem Bolzplatz oder in einer Halle; ganz gleich, ob mit Wenigen oder mit ganz Vielen. Die Initiatoren selbst spielen natürlich auch: Die Schalker Fan-Initiative e. V. wird für den Finaltag am 18.12.2022 ein Hal- lenturnier organisieren – nicht für den großen Sport-Kommerz, sondern für das große Miteinander. Wichtig ist dabei, dass alle Bolz-Freund*innen als Teil dieser Kampagne unter dem Namen und Hashtag #back- 2bolzen agieren – während der WM und später auch gerne darüber hinaus. Meldet euch bei uns wegen der Dateien, mit Ideen und Aktionen. Die Fan-Ini stellt Druckvorlagen zur Verfügung, die für Tur- nierplakate, Banner, T-Shirts usw. genutzt werden können und sollen! Bilder und kleine Videos von den Spielen wollen unter #back- 2bolzen in die Welt: Auf Twitter, Instagram, Facebook, und gerne auch auf der Kampagnen-Website, wenn die Teilnehmenden uns Bilder schicken. Die Aktiven müssen sich nicht mit der Schalker Fan-Initiative identifizieren – sondern mit der Kampagne!

158 So kann und soll die Aktion richtig groß und vielfältig werden. Und Spaß machen!

Schalker Fan-Initiative gegen Rassismus und Diskriminierung e. V. Kurt-Schumacher-Straße 120 45881 Gelsenkirchen Telefon: 0209 / 24 104 Telefax: 0209 / 24 204 E-Mail: [email protected] https://fan-ini.de https://www.facebook.com/schalkerfanini https://twitter.com/schalkerfanini

159 Bisher in der Reihe „Werkstatt aktuell“ erschienen:

Band 1 Lars M. Vollmering: »Wir stellen fest, was wirklich zählt – Wie Corona unseren Fußball verändert«

Dieses Buch und weitere unserer Bücher erhalten Sie beim Buchhändler Ihres Vertrauens – oder direkt auf www.werkstatt-verlag.de

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Beyer/Schulze-Marmeling

Noch nie zuvor ist die Vergabe einer Fußball- Weltmeisterschaft so kritisiert worden wie die an das Emirat Katar. Boykottiert Katar 2022!

In diesem Band fassen Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling die Katar- Warum wir die FIFA stoppen müssen

Kontroverse kompakt zusammen und erklären, Boykottiert 2022! Katar weshalb dieses Turnier zu boykottieren ist.

Zweiter Band der Reihe »WERKSTATT AKTUELL«. Beyer/Schulze-Marmeling AKTUELL

ISBN 978-3-7307-0545-2 VERLAG DIE WERKSTATT WERKSTATT

C-Werkstatt Aktuell_Bd2 Boykottiert Katar.indd Alle Seiten 12.04.21 10:53