Vorwort und Einleitung – Sabine Kunst: Mut und Gewissensbindung. Was – Olaf Zimmermann: Vorwort / S. 13 Luthers Fähigkeit, sich trotz aller Gefahr für seine Überzeu- – Gabriele Schulz: Zu diesem Buch / S. 15 gungen einzusetzen, uns heute noch sagen kann / S. 76 Der lange Weg zum Reformationsjubiläum – Hartmut Lehmann: Luther in der Welt heute – Stefan Rhein: Vom Thesenanschlag zur sehen. Das Reformationsjubiläum 2017 als einzig- Lutherdekade. Das Reformationsjubiläum 2017 artige Chance / S. 78 10 als Einladung zum Diskurs / S. 21 – Volker Leppin: Luther 2017 – eine ökumenische – StephanDisputationen: Dorgerloh: Von freien Christen und Chance / S. 81 mündigen Bürgern. Luthers Reformation / S. 24 – Athina Lexutt: Das Lob der Anfechtung / S. 83 – Gabriele Schulz im Gespräch mit Udo Dahmen: – Hiltrud Lotze: Politisches Handeln Reformation und Musik als Chance / S. 27 braucht ­Gewissen / S. 86 – DieterReflexionen Georg Herbst: Am Anfang war das Wort – – Christoph Markschies: Womöglich mit und was kommt danach? / S. 29 wuchtigen Hammerschlägen / S. 88 – Arne Lietz: Pluralismus als gemeinsame Signatur. – Reinhard Kardinal Marx: Einssein mit Christus. Europäische Perspektiven in der Luther­dekade Inwieweit sind die Konfessionen bereits »eins«? / S. 90 und zum 500. Reformationsjubi Reformationsläum­ im Jahr 2017 – : Die Reformation­ war eine stärken / S. 31 Bildungs-Bewegung. Philipp Melanchthon – Reformationsjubiläum – Weggefährte Luthers und »praeceptor Germaniae« / S. 92 auch gegen den Strich gebürstet – Regine Möbius: Mein Luther – ihr Luther? / S. 94 – Petrajubiläum Bahr: Lob des Geheimnisses – Luther lesen! 2017– Johann Michael Möller: Die Präsenz der Vom »falsch Zeugnisreden«: Medienrevolutionen Reformation / S. 97 und ihre Folgen / S. 35 – Michael Müller: Martin Luther und Berlin / S. 99 – Heinrich Bedford-Strohm: Der Herzschlag – Bernd Neumann: Das Reformationsjubiläum 2017 als von Gemeinschaft / S. 37 Chance begreifen. Das kirchliche Kulturengagement – Wolfgang Böhmer: Luthers Wirkungsspur ist breit. rückt stärker ins öffentliche Bewusstsein / S. 102 Von der Reformation zum Kulturprotestantismus / S. 39 – Cornelia Pieper: Von Wittenberg in die Welt. – André Brie: Für einen Häretiker / S. 41 Die Lutherdekade in der Auswärtigen Kultur-­ und – Tom Buhrow: In weiter Ferne und doch nah? Bildungspolitik / S. 105 Reformationsjubiläum – das ist doch erst 2017, für – Peter Reifenberg: … ein glühender Backofen einen aktiven Medienmenschen des 21. Jahr- voller Liebe / S. 107 hunderts eigentlich ein Datum in weiter Ferne. / S. 43 – Georg Ruppelt: Thron und Altar / S. 110 – Stephan Dorgerloh: Zum Melanchthonjahr. – Stephan Schaede: Luther gehört uns nicht / S. 112 Die Lutherdekade eröffnet ihr nächstes Themenjahr – Olaf Zimmermann: Luther gehört euch wirklich »Reformation und Bildung« / S. 45 nicht! Die Evangelische Kirche sollte ihre Tore weit, – Markus Dröge: Empirische Erkenntnisse sehr weit öffnen / S. 115 theologisch reflektieren / S. 49 – Heinz Schilling: Luther historisch einordnen / S. 117 – Torsten Ehrke: Schluss mit der Luther-Apologie / S. 51 – Carsten »Storch« Schmelzer: Luther und die – Volker Faigle: Die Reformatoren waren nie in Afrika. Hölle. Oder: Über die Abschaffung des Fegefeuers / S. 121 Streiflicht zur Entwicklung der lutherischen Kirchen – André Schmitz: Reformationsjubiläum als Fest in Afrika und zu gegenwärtigen Herausforderungen / S. 55 der Standhaften / S. 123 – : Reformation und Bildung? – Friedrich Schorlemmer: »Die ganze Welt ist in der Reformation durch Bildung! / S. 58 Habsucht ersoffen wie in einer Sintflut«. Über – Hermann Gröhe: Die Gegenwartsbedeutung gemeinen Nutz und Wucher bei Martin Luther / S. 125 der Losungen. Zum 250. Todestag Nikolaus Ludwig – Irmgard Schwaetzer: Frauen ins Pfarramt / S. 128 von Zinzendorfs / S. 60 – Thomas Sternberg: Luther und die Folgen für – Thies Gundlach: Erinnerungskultur und Jubiläums­ die Kunst. Martin Luther nahm die Bilderfrage nicht gestaltung. Wie entsteht Geschichtsbewusstsein und was so ernst und hat dadurch die freie Entwicklung der bedeutet es für das Reformationsjubiläum 2017 / S. 63 Kunst befördert / S. 130 – Wolfgang Huber: Die Ambivalenz des Reformators / S. 65 – Rupert Graf Strachwitz: Luther und der Staat. – Margot Käßmann: Im Kontext unserer Zeit. Kann sich die Kirche der Reformation zur Zivilgesell- Das Reformationsjubiläum 2017 und die politische schaft bekennen? / S. 132 Dimension des Freiheitsbegriffes / S. 67 – Johannes Süßmann: Heute würde Luther twittern. – Stephan J. Kramer: Und willst Du nicht mein Reformation und Neue Medien / S. 135 Bruder sein … Gedanken zum Reformationsjahr aus – : Von der Wartburg in die Moderne. Zur jüdischer Sicht / S. 70 weltgeschichtlichen Bedeutung der Reformation / S. 137 – : Ein Ereignis von internationaler – Wolfgang Thierse: Wir Kinder der Reformation. Relevanz. Das Reformationsjubiläum 2017 / S. 72 Über den Folgenreichtum der Reformation / S. 139 Aus Politik & Kultur Olaf Zimmermann und Theo Geißler Herausgegeben von – Cornelia Kulawik: Eingeübte Regelmäßigkeit – Ellen Ueberschär: Gesellschaftlicher Resonanzraum. und feste Rituale. Was bedeutete das Gebet für Martin Deutscher Evangelischer Kirchentag 2017 in Berlin Luther in seinem Glaubensleben? / S. 74 und Wittenberg? / S. 141 – Olaf Zimmermann: Die Sprache ist Deutsch. Martin Luther hätte wohl für die Aufnahme von Deutsch ins Grundgesetz plädiert / S. 144 – Olaf Zimmermann: Ohne Bilder keine Reformation. Lutherbildnisse – 500 Jahre Verherrlichung und Spott / S. 146 – Stefan Zowislo: Den Anlass in der Gesellschaft verankern. Kirche und Staat haben ein volles Aufgabenheft / S. 148

Anhang: Anträge und Debatten im Deutschen zum Reformationsjubiläum – Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches­ Ereignis würdigen. Antrag der CDU/CSU und der SPD-Bundestagsfraktion / S. 151 – Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches­ Ereignis würdigen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus (20. Ausschuss) / S. 156 – Die Luther-Dekade 2008–2017 und die Vor- bereitung auf das Reformationsjubiläum 2017. Öffentliches Gespräch des Ausschusses für Kultur und Medien / S. 158 – Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang. Antrag der CDU/CSU-, der SPD-, der FDP-Bundestagsfraktion und der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen / S. 170 – Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) / S. 176 – Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang. Auszug aus dem Plenarprotokoll vom 20. Oktober 2011 / S. 179 – Autorinnen und Autoren / S. 196

Aus Politik & Kultur Nr. 10

Disputationen: Reflexionen zum Reformations-­ jubiläum 2017

Herausgegeben von Olaf Zimmermann und Theo Geißler 4 Impressum

Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

2. erweiterte und veränderte Auflage Berlin, Oktober 2015

Nachdruck von Beiträgen aus Politik & Kultur, Zeitung des Deutschen Kulturrates

Deutscher Kulturrat e.V. Mohrenstraße 63 10117 Berlin Telefon: 030 . 226 05 28 - 0 Fax: 030 . 226 05 28 - 11 [email protected] www.kulturrat.de

Herausgeber: Olaf Zimmermann und Theo Geißler

Idee und Konzept: Stephan Dorgerloh, Stefan Rhein und Olaf Zimmermann

Redaktion: Verena Schmidt, Gabriele Schulz

Gestaltung: 4S, Berlin

Herstellung: BGZ Druckzentrum, Berlin

Gefördert aus Mitteln Der Beauftragten der ­ Bundesregierung für Kultur und ­Medien aufgrund eines Beschluss des ­Deutschen Bundestags

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- ­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-934868-29-8 ISSN: 18652689 Inhalt 5

Vorwort und Einleitung

Vorwort Olaf Zimmermann 13

Zu diesem Buch Gabriele Schulz 15

1. Kapitel: Der lange Weg zum Reformationsjubiläum

Vom Thesenanschlag zur Lutherdekade Das Reformationsjubiläum 2017 als Einladung zum Diskurs Stefan Rhein 21

Von freien Christen und mündigen Bürgern Luthers Reformation Stephan Dorgerloh 24

Reformation und Musik als Chance Gabriele Schulz im Gespräch mit Udo Dahmen 27

Am Anfang war das Wort – und was kommt danach? Dieter Georg Herbst 29

Pluralismus als gemeinsame Signatur Europäische Perspektiven in der Lutherdekade­ und zum 500. Reformationsjubi­läum im Jahr 2017 stärken Arne Lietz 31

2. Kapitel: Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet

Lob des Geheimnisses – Luther lesen! Vom »falsch Zeugnisreden«: Medienrevolutionen und ihre Folgen Petra Bahr 35

Der Herzschlag von Gemeinschaft Heinrich Bedford-Strohm 37 6 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Luthers Wirkungsspur ist breit Von der Reformation zum Kulturprotestantismus Wolfgang Böhmer 39

Für einen Häretiker André Brie 41

In weiter Ferne und doch nah? Reformationsjubiläum – das ist doch erst 2017, für einen aktiven Medien-­ menschen des 21. Jahrhunderts eigentlich ein Datum in weiter Ferne. Tom Buhrow 43

Zum Melanchthonjahr Die Lutherdekade eröffnet ihr nächstes Themenjahr »Reformation und Bildung« Stephan Dorgerloh 45

Empirische Erkenntnisse theologisch reflektieren Markus Dröge 49

Schluss mit der Luther-Apologie Torsten Ehrke 51

Die Reformatoren waren nie in Afrika Streiflicht zur Entwicklung der lutherischen Kirchen in Afrika und zu gegenwärtigen Herausforderungen Volker Faigle 55

Reformation und Bildung? Reformation durch Bildung! Kerstin Griese 58

Die Gegenwartsbedeutung der Losungen Zum 250. Todestag Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Hermann Gröhe 60

Erinnerungskultur und Jubiläumsgestaltung Wie entsteht Geschichtsbewusstsein und was bedeutet es für das Reformationsjubiläum 2017 Thies Gundlach 63 Inhalt 7

Die Ambivalenz des Reformators Wolfgang Huber 65

Im Kontext unserer Zeit Das Reformationsjubiläum 2017 und die politische Dimension des Freiheitsbegriffes Margot Käßmann 67

Und willst Du nicht mein Bruder sein ... Gedanken zum Reformationsjahr aus jüdischer Sicht Stephan J. Kramer 70

Ein Ereignis von internationaler Relevanz Das Reformationsjubiläum 2017 Michael Kretschmer 72

Eingeübte Regelmäßigkeit und feste Rituale Was bedeutete das Gebet für Martin Luther in seinem Glaubensleben? Cornelia Kulawik 74

Mut und Gewissensbindung Was Luthers Fähigkeit, sich trotz aller Gefahr für seine Überzeugungen einzu­setzen, uns heute noch sagen kann Sabine Kunst 76

Luther in der Welt heute sehen Das Reformationsjubiläum 2017 als einzigartige Chance Hartmut Lehmann 78

Luther 2017 – eine ökumenische Chance Volker Leppin 81

Das Lob der Anfechtung Athina Lexutt 83

Politisches Handeln braucht Gewissen Hiltrud Lotze 86

Womöglich mit wuchtigen Hammerschlägen Christoph Markschies 88 8 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Einssein mit Christus Inwieweit sind die Konfessionen bereits »eins«? Reinhard Kardinal Marx 90

Die Reformation war eine Bildungs-Bewegung Philipp Melanchthon – Weggefährte Luthers und »praeceptor Germaniae« Christoph Matschie 92

Mein Luther – ihr Luther? Regine Möbius 94

Die Präsenz der Reformation Johann Michael Möller 97

Martin Luther und Berlin Michael Müller 99

Das Reformationsjubiläum 2017 als Chance begreifen Das kirchliche Kulturengagement rückt stärker ins öffentliche Bewusstsein Bernd Neumann 102

Von Wittenberg in die Welt Die Lutherdekade in der Auswärtigen Kultur-­ und Bildungspolitik Cornelia Pieper 105

… ein glühender Backofen voller Liebe Peter Reifenberg 107

Thron und Altar Georg Ruppelt 110

Luther gehört uns nicht Stephan Schaede 112

Luther gehört euch wirklich nicht! Die Evangelische Kirche sollte ihre Tore weit, sehr weit öffnen Olaf Zimmermann 115 Inhalt 9

Luther historisch einordnen Heinz Schilling 117

Luther und die Hölle Oder: Über die Abschaffung des Fegefeuers Carsten »Storch« Schmelzer 121

Reformationsjubiläum als Fest der Standhaften André Schmitz 123

»Die ganze Welt ist in der Habsucht ­ersoffen wie in einer Sintflut« Über gemeinen Nutz und Wucher bei Martin Luther Friedrich Schorlemmer 125

Frauen ins Pfarramt Irmgard Schwaetzer 128

Luther und die Folgen für die Kunst Martin Luther nahm die Bilderfrage nicht so ernst und hat dadurch die freie Entwicklung der Kunst befördert Thomas Sternberg 130

Luther und der Staat Kann sich die Kirche der Reformation zur Zivilgesellschaft bekennen? Rupert Graf Strachwitz 132

Heute würde Luther twittern Reformation und Neue Medien Johannes Süßmann 135

Von der Wartburg in die Moderne Zur weltgeschichtlichen Bedeutung der Reformation Peter Tauber 137

Wir Kinder der Reformation Über den Folgenreichtum der Reformation Wolfgang Thierse 139 10 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Gesellschaftlicher Resonanzraum Deutscher Evangelischer Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg? Ellen Ueberschär 141

Die Sprache ist Deutsch Martin Luther hätte wohl für die Aufnahme von Deutsch ins Grundgesetz plädiert Olaf Zimmermann 144

Ohne Bilder keine Reformation Lutherbildnisse – 500 Jahre Verherrlichung und Spott Olaf Zimmermann 146

Den Anlass in der Gesellschaft verankern Kirche und Staat haben ein volles Aufgabenheft Stefan Zowislo 148

Anhang: Anträge und Debatten im Deutschen Bundestag zum Reformationsjubiläum

Reformationsjubiläum 2017 als ­welthistorisches Ereignis würdigen Antrag der CDU/CSU und der SPD-Bundestagsfraktion Deutscher Bundestag, Drucksache 16/9830 — 26.06.2008 151

Reformationsjubiläum 2017 als ­welthistorisches Ereignis würdigen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus (20. Ausschuss) Deutscher Bundestag, Drucksache 16/13054 — 25.03.2009 156

Die Luther-Dekade 2008–2017 und die Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 Öffentliches Gespräch des Ausschusses für Kultur und Medien Deutscher Bundestag, Protokoll Nr. 17/23 — 06.10.2010 158

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang Antrag der CDU/CSU-, der SPD-, der FDP-Bundestagsfraktion und der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Deutscher Bundestag, Drucksache 17/6465 — 06.07.2011 170 Inhalt 11

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7219 — 29.09.2011 176

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang Auszug aus dem Plenarprotokoll vom 20. Oktober 2011 Deutscher Bundestag, Drucksache 17/133, 15720 A bis 15728 C — 20.10.2011 179

Autorinnen und Autoren 196 12 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Vorwort und Einleitung Vorwort und Einleitung 13

Vorwort

Olaf Zimmermann

Im September 2008 startete Christoph Mark- tretungsanspruch der Evangelischen Kirche schies unsere Luther 2017-Kolumne mit ei- (EKD), gezeigt. Eine gemeinsame Anstren- ner Beschreibung der »wuchtigen Hammer- gung von Bund, Ländern und EKD zur Vor- schläge« mit denen Luther die Reformation bereitung der Reformationsfeierlichkeiten ist vorantrieb. Damals waren die Feierlichkeiten nur in Ansätzen zu erkennen. Noch weitge- 2017 zum 500. Jahrestag des Thesenanschla- hend außen vor sind die zivilgesellschaftli- ges noch ein Jahrzehnt entfernt. Jetzt sind chen Kräfte aus dem Kultur-, Sport-, Umwelt- wir schon so nah an den Termin herange- und Sozialbereich, ohne die ein solches Ju- rückt, dass die Sorge wächst, ob die nun noch biläum nur schwer stemmbar ist. verbleibende Zeit wirklich ausreicht, um ein Doch neben diesen Alarmzeichen gibt es angemessenes Programm für dieses außer- auch ermutigende Meldungen. Der Bund ist gewöhnliche Jubiläum zu gestalten. die Instandsetzung der Luthergedenkstätten Zur Vorbereitung und Hinführung auf das beherzt angegangen, die Evangelische Kir- Jubiläumsjahr startete ebenfalls 2008 die Lu- che hat entschieden, 2017 zur Unterstützung therdekade, die mit Themenjahren Lust auf des Reformationsjubiläums in Berlin einen das Reformationsjubiläum machen soll. So Kirchentag durchzuführen und die Vorberei- spannend einige Themen, Veranstaltungen tungen von wichtigen Großausstellungen im und Ausstellungen in den Dekadenjahren Land zum Thema laufen planmäßig. Sogar waren, so muss man doch feststellen, dass die Lutherbibel wird zum Jubiläum in einer der Funken in der Breite der Gesellschaft für neuen Übersetzung erscheinen. das Thema Reformation noch nicht überge- Und zur Freude der Bevölkerung wird es sprungen ist. Vielleicht hat man einfach zu in vielen, vielleicht sogar in allen Bundes- viel gewollt, wenn man in den Themenjahre ländern, einen einmaligen Feiertag am 31. auch noch den 450. Todestag Melanchthons Oktober 2017 geben zum Gedenken an die oder den 500. Geburtstag Lucas Cranachs des Veröffentlichung der 95 Thesen, die Martin Jüngeren gleich mit abfeierte. Luther dann vor genau 500 Jahren an die Tür Am schwierigsten bei der Vorbereitung der Schlosskirche in Wittenberg geschlagen des Reformationsjubiläums hat sich aber haben soll. die föderale Konkurrenz zwischen den Bun- Trotzdem, die Zeit wird nun sehr knapp, desländern und die unklare Rolle des Bun- das Reformationsjubiläum als das zu feiern, des, gepaart mit einem gefühlten Alleinver- was es ist, einer der fundamentalsten Wende- 14 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

punkte in der Weltgeschichte. Die politische und religiöse Dimension dieser Umwälzung, die sich schon Jahrzehnte vor dem Jahr 1517 ankündigte und die nicht nur mit den Namen Martin Luther verbunden ist, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deshalb ist es notwendig, in der kurzen verbleiben- den Zeit die Kräfte von Staat, evangelischer Kirche und Zivilgesellschaft zu bündeln, um 2017 eine breite Diskussion über die Refor- mation und ihre Wirkungen in der Gegenwart in der Gesellschaft zu initiieren. Vorwort und Einleitung 15

Zu diesem Buch

Gabriele Schulz

Im Januar 2013 erschien der erste Band des innert an vergangene Reformationsjubiläen, Buches »Disputationen: Reflexionen zum Re- an die politische und kirchenpolitische Inst- formationsjubiläum«. Die Idee und Konzepti- rumentalisierung der Reformation und zeigt on zu diesem Buch wurde von Stephan Dor- die große Chance auf, die in der Reformati- geloh, Stefan Rhein und Olaf Zimmermann onsdekade liegt. Ein Jahrzehnt lang soll die entwickelt. Dieser Band stieß auf so ein reges Aufmerksamkeit auf das Wirken des Refor- Interesse, dass die Exemplare, die für einen mators Martin Luther, seine Weggefährten zweiten Band zurückgelegt wurden, der als und Mitstreiter gelegt werden. Dabei geht »Doppelpack« vorgesehen war, schnell ver- es nicht so sehr um Historisches, sondern kauft waren. Die Herausgeber, Olaf Zimmer- vielmehr um den Blick in Gegenwart und Zu- mann und Theo Geißler, entschieden sich kunft. Was hat uns die Reformation heute daher für eine zweite, erweiterte und über- noch zu sagen? Welche Bedeutung hat sie arbeitete Ausgabe der Disputationen, die mit in einer multireligiösen Gesellschaft? Ste- diesem Band vorgelegt wird. phan Dorgerloh, von 2008 bis 2011 als Prälat Die in diesem Band versammelten Beiträ- Beauftragter des Rates der EKD für das Re- ge stellen erneut einen Zwischenstand der formationsjubiläum, nähert sich aus theo- Beschäftigung in Politik & Kultur mit dem logischer Sicht diesem Thema. Er erinnert Reformationsjubiläum 2017 dar. Bereits zur an die einschneidende Wirkung für das Den- Eröffnung der Reformationsdekade (2008- ken Luthers und seiner Zeit die Gnade Got- 2017) im September 2008 erschienen die ers- tes und nicht den strengen Richter in den ten Beiträge zur Ausgestaltung des Reforma- Mittelpunkt des Lebens im Diesseits zu stel- tionsjubiläums und auch die erste Kolumne len. Er leitet hieraus den Gedanken an die unter der Überschrift »Luther 2017« in Politik Verantwortung für Freiheit ab und setzt sich & Kultur. Seither wurden 47 weitere Kolum- davon ausgehend mit den kulturellen Wir- nen veröffentlicht. Für diesen Band wurden kungen der Reformation auseinander. An- die zum Reformationsjubiläum erschienenen lässlich des Themenjahres »Reformation Beiträge neu zusammengestellt. und Musik« (2012) befragt Gabriele Schulz Im ersten Kapitel stellen Stefan Rhein und den Künstlerischen Direktor der Popakade- Stephan Dorgerloh die Reformationsdekade mie Baden-Württemberg Udo Dahmen nach vor. Beide Beiträge wurden für diesen Band den Potenzialen der populären Musik für die aktualisiert und erweitert. Stefan Rhein er- Verkündigung. Udo Dahmen traut gerade der 16 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

populären Musik zu, den Menschen einen sollte, sich mit einer der wesentlichen Tra- Zugang zu Kirche und Religion zu eröffnen ditionen der freiheitlichen Gesellschaft aus- und Begegnungen zu ermöglichen. Der Kon- einanderzusetzen. Torsten Ehrke warnt vor takt mit den Menschen, das Durchbrechen einer Überhöhung Luthers und der Reforma- einer Abgehobenheit ist aus seiner Sicht ein tion und erinnert an die Schattenseiten im tiefgreifend reformatorischer Ansatz. Dieter Wirken des Reformators. Volker Faigle wei- Georg Herbst schließlich setzt sich kritisch tet den Blick zum afrikanischen Kontinent mit der Dachmarkenkampagne von EKD und und kommt zum Schluss, die Reformatoren Staat »Am Anfang war das Wort« auseinan- waren nie in Afrika. Kerstin Griese sieht die der. Arne Lietz weitet den Blick um eine eu- Notwendigkeit die Reformation immer wie- ropäische Dimension und unterstreicht die der neu lebendig werden zu lassen, das be- Relevanz der Reformation für ein pluralisti- trifft ihrer Ansicht nach vor allem den refor- sches Europa. matorischen Bildungsgedanken. Hermann Im zweiten Kapitel werden die bisher er- Gröhe setzt sich mit der Gegenwartsbedeu- schienenen 48 Kolumnen in alphabetischer tung der Herrnhuter Losungen auseinan- Reihenfolge zusammengeführt. Sie offenba- der. Thies Gundlach stellt die Frage, wie Ge- ren die sehr unterschiedlichen Zugänge zur schichtsbewusstsein entsteht und welche Reformation und die theologische, wie auch Relevanz es für das Reformationsjubiläum gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung hat. Wolfgang Huber stellt die Ambivalenz der Reformation für Staat und Gesellschaft in des Reformators Luther in den Mittelpunkt der Mitte Europas und darüber hinaus. Alle seiner Betrachtungen und klammert dabei Autorinnen und Autoren wurden für ihren den Antisemitismus Luthers nicht aus. Mar- Beitrag gebeten, ihren persönlichen Zugang got Käßmann sieht das Erfordernis die Re- zum Reformationsjubiläum 2017 in den Mit- formation im Kontext unserer Zeit zu sehen telpunkt des Textes zu rücken. Daraus ent- und so den reformatorischen Impuls wieder steht eine große Vielfalt und Spannweite an lebendig werden zu lassen. Stephan J. Kramer Beiträgen in der Beschäftigung mit der Re- nähert sich der Reformation aus jüdischer formation und ihren Wirkungen bis heute. Sicht und formuliert die Erwartung, dass sich Petra Bahr rät Luther zu lesen und sich so die Kirche theologisch mit Anti-Judaismus der Aktualität des reformatorischen Gedan- auseinandersetzt. Mit der internationalen kens zu nähern. Heinrich Bedford-Strohm Relevanz des Reformationsjubiläums setzt skizziert das geplante ökumenische Chris- sich Michael Kretschmer auseinander. Cor- tusfest. Wolfgang Böhmer geht auf die Be- nelia Kulawik befasst sich mit dem Gebet als deutung der Reformation für Mitteldeutsch- Reflexionsmöglichkeit. Sabine Kunst stellt in land ein. André Brie beschreibt, welche Be- den Mittelpunkt Luthers Fähigkeit, trotz aller deutung für ihn die sprachliche Kraft der Gefahr für seine Überzeugungen einzustehen Texte Luthers hat. Medienmann Tom Buhr- und formuliert hieraus aktuelle Handlungs- ow zieht eine Parallele von der Reformation anforderungen. Hartmut Lehmann reflektiert als Medienrevolution zum heutigen Medi- vergangene Lutherjubiläen und fordert eine enwandel. Stephan Dorgerloh setzt sich mit interkonfessionelle Auseinandersetzung mit dem Melanchthonjahr, das ganz im Zeichen den 95 Thesen. Volker Leppin erkennt im Re- der Bildung stand, auseinander. Markus Drö- formationsjubiläum eine Chance für Öku- ge wirbt dafür, dass es in einer multireligi- mene. Athina Lexutt nimmt als Ausgangs- ösen Gesellschaft für jeden spannend sein punkt die Theologie des Mittelalters und Vorwort und Einleitung 17

sieht einen wesentlichen reformatorischen Schwaetzer erinnert daran, dass die Ordi- Impuls im Lob der Anfechtung. Hiltrud Lot- nierung von Frauen ein wichtiges Signal der ze plädiert dafür, dass politisches Handeln Evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert war. Gewissen braucht. »Womöglich mit wuchti- Thomas Sternberg räumt mit dem Vorurteil gen Hammerschlägen« ist das Motto im Bei- auf, dass der Protestantismus per se bilder- trag von Christoph Markschies. Einssein mit feindlich ist. Mit dem Verhältnis von Staat, Christus und die Perspektiven eines gemein- Kirche und Zivilgesellschaft beschäftigt sich samen Christusfestes von Katholiken und Rupert Graf Strachwitz. Johannes Süßmann Protestanten sind Thema von Reinhard Kar- stellt die Medienrevolution in das Zentrum dinal Marx. Christoph Matschie rückt wiede- seiner Überlegung und glaubt, dass Luther rum die Bildung in den Mittelpunkt und sieht heute twittern würde. Peter Tauber spannt in der Reformation eine Bildungs-Bewegung. den Faden von der Wartburg in die Moder- Regine Möbius reflektiert vorherige Luther- ne. Olaf Zimmermann ist der Meinung, das Jubiläen, speziell das Luther-Gedenken in Luther für die Verankerung von Deutsch im der DDR. Johann Michael Möller fragt nach Grundgesetz wäre und setzt sich mit der Wir- der Präsenz der Reformation. Michael Müller kung des Bildes in der Reformation ausein- stellt voraus, dass Luther zwar nie bis Ber- ander. Stefan Zowislo sieht Staat und Kirche lin kam, die Ideen der Reformation in Berlin in der Verantwortung das Reformationsjubi- aber eine zentrale Rolle spielten und fortwir- läum in der Gesellschaft zu verankern. ken. Bernd Neumann möchte das Reformati- In der Dokumentation werden Bundes- onsjubiläum 2017 als Chance begreifen. Cor- tagsanträge sowie Bundestagsdebatten zum nelia Pieper verweist auf die internationale Reformationsjubiläum aus der 16. (2005– Dimension des Reformationsjubiläums. Mit 2009) und 17. (2009–2013) Wahlperiode des der Sprachkraft Luthers und seinem theolo- Deutschen Bundestags dokumentiert. In der gischen Denken befasst sich Peter Reifenberg. 18. Wahlperiode (2013–2017) fand zwar ein Georg Ruppelt erinnert an Luther-Jubiläen nicht öffentliches Fachgespräch zum Refor- und insbesondere den damit verbundenen mationsjubiläum im Ausschuss für Kultur Durchhalteparolen im Kaiserreich. Stephan und Medien des Deutschen Bundestags statt. Schaede und Olaf Zimmermann setzen sich- Eine entsprechende Befassung im Plenum mit der Frage auseinander, inwiefern das Re- des Deutschen Bundestags fand nicht statt. formationsjubiläum ein innerkirchliches Er- Im Antrag »Reformationsjubiläum 2017 als eignis ist oder ob die Zivilgesellschaft nicht welthistorisches Ereignis würdigen« (Bun- in deutlich stärkerem Maße beteiligt wer- destagsdrucksache 16/9830) fordern Abge- den muss. Heinz Schilling appelliert, dass ordnete der CDU/CSU- und der SPD-Bun- Luther historisch eingeordnet werden muss. destagsfraktion die Bundesregierung auf, das Carsten »Storch« Schmelzer setzt sich mit Reformationsjubiläum zu unterstützen, da- der Hölle und Luthers Auseinandersetzung mit es seiner weltweiten Bedeutung entspre- mit dem Römerbrief auseinander. André chend begangen werden kann. Sie sehen so- Schmitz postuliert das Reformationsjubilä- wohl die Kulturpolitik im Inland als auch die um als Fest der Standfesten im Sinne einer Auswärtige Kulturpolitik entsprechend in der stets neu erforderlichen, persönlichen Aus- Pflicht. Mit diesem Antrag befasste sich der einandersetzung mit der Gegenwart. Fried- Tourismusausschuss des Deutschen Bundes- rich Schorlemmer liest Luther mit Blick auf tags und empfiehlt dessen Annahme unter die Finanz- und Wirtschaftskrise. Irmgard der Drucksache 16/13054. Am 6. Oktober 2010 18 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

führte der Ausschuss für Kultur und Medien Wolfgang Börnsen (Bönstrup), MdB (CDU/ des Deutschen Bundestags ein öffentliches CSU); Iris Gleicke, MdB (SPD),Patrick Kurth Gespräch zum Thema »Die Luther-Dekade (Kyffhäuser), MdB (FDP); Michael Kretsch- 2008–2016 und die Vorbereitung auf das Re- mer, MdB (CDU/CSU). Das Bundestagspro- formationsjubiläum 2017« (Ausschussproto- tokoll (Protokoll 17/133) wird im Auszug do- koll 17/23) durch. Angehört wurden Staats- kumentiert. minister Bernd Neumann, MdB (Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien), Petra Bahr (Kulturbeauftragte der Evange- lischen Kirche in Deutschland), Prälat Ste- phan Dorgerloh (Leiter der Geschäftsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wittenberg) und Stefan Rhein (Geschäfts- führung Luther-Dekade, Wittenberg). In dem Gespräch ging es um den Stand der Vorberei- tungen auf das Reformationsjubiläum 2017. Das Protokoll des Gesprächs wird dokumen- tiert. Die CDU/CSU-, die SPD- und die FDP- Bundestagsfraktion sowie die Bundestags- fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben in der 17. Wahlperiode den Antrag »Das Re- formationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Er- eignis von Weltrang« (Drucksache 17/6465) in den Deutschen Bundestag eingebracht. Sie begrüßen darin die bereits ergriffenen Aktivitäten der Bundesregierung das Refor- mationsjubiläum zu begehen. Zugleich for- dern sie die Bundesregierung auf, im In- und Ausland die Bedeutung des Reformationsju- biläums stärker herausstellen, mit den Län- dern und Gemeinden zusammenzuarbeiten und die kulturelle Bedeutung des Reforma- tionsjubiläums zu berücksichtigen. Der Aus- schuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung (Drucksache 17/7219) den An- trag anzunehmen. Die Bundestagsdebatte zu diesem Antrag fand am 20. Oktober 2012 statt. Redner waren: Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff; Siegmund Ehrmann, MdB (SPD); Staatsministerin im Auswärtigen Amt Cornelia Pieper, MdB; Lu- krezia Jochimsen, MdB (DIE LINKE); Agnes Krumwiede, MdB (Bündnis 90/Die Grünen); Vorwort und Einleitung 19 20 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017 1

Der lange Weg zum Reformationsjubiläum

Mit Beiträgen von: Udo Dahmen, Stephan Dorgerloh, Dieter Georg Herbst, Arne Lietz, Stefan Rhein und Gabriele Schulz Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 21

Vom Thesenanschlag zur Lutherdekade Das Reformationsjubiläum 2017 als Einladung zum Diskurs

Stefan Rhein — erweiterter Beitrag aus Politik & Kultur 5/2008

»Martin Luther stand gerade am heutigen schlagen wurden« (Exemplar in der Thürin- Tage vor einhundert Jahren auf, aus seiner gischen Universitäts- und Landesbibliothek Zelle, und wagte im Namen der hochgelob- Jena). Eine Steilvorlage der Geschichte: Zehn ten heiligen Dreifaltigkeit getrost, schlägt Jahre vor dem 500. Jahrestag des Thesenan- seine ersten Thesen vom Ablaß zwischen schlags scheint eben dieser nunmehr zum zwölf Uhr und zwischen eins um Mittag an sicheren Datum erhoben zu sein. diese Schlosskirchentür.« Von exakter histo- Gezweifelt hatten daran, wie gesagt, un- rischer Gewissheit war der orthodox-lutheri- sere Vorfahren bis Mitte des 20. Jahrhun- sche Theologe Wolfgang Franz getragen, als derts nicht, auch wenn Luther selbst an kei- er in Wittenberg am 31. Oktober 1617 zu sei- ner Stelle vom Thesenanschlag spricht und ner »Jubel-Predigt« zum Reformationsjubi- die kraftvollen Hammerschläge, die eine läum anhob. Diese Gewissheit ist verflogen, neue Zeit eröffnen sollten, erst im Jahr 1697 seit der katholische Kirchenhistoriker Erwin im Bild imaginiert wurden, mit einem Kup- Iserloh 1961 die Historizität des Thesenan- ferstich von Christoph Weigel, betitelt »Re- schlags bestritt und nur ein briefliches Ver- formationis Lutheri initia«. Am Beginn der senden der 95 Thesen behauptete. Was auf protestantischen Erinnerungskultur steht den ersten Blick als eine fachwissenschaft- gleichwohl der Reformator selbst, der sich liche Quisquilie daher kommt, führte zu ei- am 1. November 1527 zusammen mit einem ner allgemeinen Verunsicherung: Die Refor- Freund einen kräftigen Schluck auf die »Ver- mation schien ihres spektakulären Beginns nichtung der Ablässe vor 10 Jahren« gönnte. beraubt, Luther entmythologisiert, das Re- Später ging es weit weniger lustig zu, da die formationsfest ohne Symbolkraft. So nimmt Reformationsfeiern eine kaum überschau- es nicht Wunder, dass der Fund eines neuen bare Zahl von Predigten, akademischen und Belegs für den Thesenanschlag es 2007 sogar öffentlichen Festreden hervorbrachten. Nach in die Feuilletons deutscher Tageszeitungen vorsichtigem Beginn 1567 wurde bereits 1617 brachte: Georg Rörer, der Privatsekretär Lu- in vielen Teilen des Reichs oft an mehreren thers, vermerkte um 1540 im gemeinsamen Tagen deklamiert und gepredigt, durchweg Bibelarbeitsexemplar, dass »am Vortag von mit antikatholischer Polemik, ein Glaubens- Allerheiligen im Jahre des Herrn 1517 von Dr. fest im Zeichen der lutherischen Orthodoxie, Martin Luther Thesen über den Ablass an das »mit hertzlicher andacht unndt danck- die Türen der Wittenberger Kirchen ange- sagung celebriret unndt feyerlich begangen« 22 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

wurde. Auch 1717 blieb Luther das auserwähl- halt war die Tat.« Das Reformationsjubiläum te Werkzeug Gottes gegen die Herrschaft des 1967 fiel in die Eiszeit des Staat-Kirche-Ver- Papstes oder wurde als ein neuer Moses ge- hältnisses in der DDR. In den Lutherstätten priesen, der die wahrhaft Frommen aus der sollte mit Hilfe des Konzepts der »Frühbür- Knechtschaft des neuen, römischen Babylons gerlichen Revolution« die Reformation säku- herausführte. Bereits damals gab es Kritik larisiert werden. Die SED beanspruchte die am Reformationsjubiläum, nicht unerwar- Deutungs- und Organisationshoheit und tet von katholischer Seite, doch auch inner- marginalisierte die kirchlichen Veranstaltun- protestantisch, wie etwa der Hallesche Ju- gen z. B. durch termingleiche Oktoberrevolu- rist Johann Peter Ludewig in seiner Kritik an tionsfeierlichkeiten. In der BRD gab es vor al- Jubiläumspomp und Personenkult ausführt. lem lokale Feiern der Landeskirchen, um zur Doch er wurde nicht nur 1717 nicht gehört, Wahrung des Bildes von der Evangelischen sondern erst recht nicht 1817, da jetzt Luther Kirche in Deutschland (EKD) als letzter ge- zum deutschen Helden und zum bürgerli- samtdeutscher Institution den ostdeutschen chen Idealtypus avancierte – oft prachtvoll Gliedkirchen den zentralen Festakt zum 31. inszeniert in Festumzügen und Stadtillumi- Oktober 1967 zu überlassen. Auch hallten die nationen, nicht zuletzt auch auf dem Wart- Debatten um die Authentizität des Thesen- burgfest (18./19. Oktober 1817), auf dem Lu- anschlages noch nach, als der Spiegel titelte: ther ganz nahtlos zum Kronzeugen zeitge- »Luthers Thesen: Reformator ohne Hammer«. nössischer Anliegen wurde – als Begründer Was steht uns 2017 bevor? Gewiss kein der deutschen Sprache im Sinne nationaler Kampf zwischen Staat und Kirche, da die Einigung oder als Archeget eines andauern- Organisationsstruktur der Jubiläumsvorbe- den Prozesses zunehmender Glaubens- und reitungen von einer vertrauensvollen Balan- Gewissensfreiheit. Luther als Bürger und Pa- ce kirchlicher (EKD, Landeskirchen, Lutheri- triot: Als solcher tritt er einen wahren Sie- scher Weltbund) und staatlicher (Bund, Län- geszug in der populären Druckgrafik an, in der, Kommunen) Akteure geprägt ist. Zwei der auch der Thesenanschlag als kraftvoller Perspektiven scheinen sich in den Vorder- Auftritt des Reformators, umgeben von ei- grund zu drängen: Die nationale Zentrierung ner Schar bewundernder Bürger, inszeniert könnte von einer programmatischen Inter- wurde und in der Luther sogar zum Begrün- nationalität abgelöst werden. Und: Das Re- der des deutschen Weihnachtsbaumes wer- formationsjubiläum 2017 ist kein (bzw. nicht den konnte. nur) Anlass zur Retrospektion, sondern Ein- 1917 tritt in den Fest- und Jubiläumsschrif- ladung zur Prospektion, Einladung, Luthers ten vor allem der »Deutsche Luther« dem Diskurse im 21. Jahrhundert fortzuschrei- Leser entgegen, vor allem dem Leser, denn ben. Welche Themen im Fokus stehen, soll unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs im Rahmen einer Lutherdekade entfaltet wurde nur selten öffentlich gefeiert. Zugleich werden. Diese beginnt am 20./21. Septem- gab es, vor allem unter liberalen Theologen, ber 2008 in Wittenberg und greift damit den eine Neuentdeckung des geistlichen Luther, Beginn der Wittenberger Tätigkeit Luthers ein Ernstnehmen seiner Theologie als des im September 1508 auf. Wann Luthers re- eigentlichen Kerns seiner Wirkung. Gegen formatorische Wende war, ist nicht bekannt. die Dominanz des hammerschwingenden Sie war wohl weniger ein spektakuläres Er- Luthers setzte Adolf von Harnack: »Nicht eignis, wie dies das sogenannte »Turmerleb- das Anschlagen der Thesen, sondern ihr In- nis« suggeriert, dass Luther durch die Lektü- Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 23

re des Römerbriefes plötzlich zur Erkenntnis le Teilnehmer bei der gemeinsamen Reflexi- des liebenden Gottes kam, sondern eher ein on über Toleranz, Freiheit, Zivilcourage oder allmähliches Entdecken und Erfahren Got- Gewissen angesprochen. Luthers Impuls zur tes nicht mehr als eines strengen Richters, Teilhabe aller an Bildung realisiert sich heu- sondern als eines gnädigen Vaters. te in schulischen Schreibwerkstätten oder Ein solches Entdecken, Herantasten will in Auftritten von Schulbands mit verjazzten auch die Lutherdekade ermöglichen; Tagun- Luther-Liedern. Die nationale Verengung der gen, Workshops, kulturelle Bildungsprojek- Luther-Memoria wird aufgebrochen durch te etc. wie auch erlebnisbezogene Angebote eine Vielzahl internationaler Aktivitäten sollen das Wissen über Luther und die Re- gerade auch in Wittenberg. So lädt der Lu- formation erweitern und die Diskussion über therische Weltbund regelmäßig zu kirchen- die Aktualität reformatorischer Themen be- und theologiehistorischen Kursen Teilneh- fördern. Somit will die Zeit von September mer aus der ganzen Welt ein, besonders aus 2008 bis Oktober 2017 als inhaltliche und der südlichen Hemisphäre. Auch im Kultur- öffentliche Hinführung zum Reformations- bereich entfaltet Luther Wirkungen, sei es jubiläum verstanden werden, als Einladung mit seiner umstritten-streitbaren Persön- zur Auseinandersetzung mit Themen, wie lichkeit in Theater und Oper, sei es mit sei- sie zum Beispiel bereits von den 95 Thesen nen sprachkräftigen Texten in Lesungen und vorformuliert werden: Ökonomisierung des Disputationen. Lebens und des Glaubens, Streitkultur und Luther als Monument, in Erz auf hohem Zivilcourage, Bildung und Menschenbild etc. Podest: Das war die Sicht jahrhundertelanger Die Lutherdekade kann sich mit ihrem Erinnerungskultur in Sachen Luther und Re- prozesshaften Charakter auf ihren Namens- formation. Als übergreifendes Label der aktu- geber berufen: »Dieses Leben ist keine Fröm- ellen Auseinandersetzung mit dem reforma- migkeit, sondern ein Fromm-Werden. Keine torischen Werk Luthers kann vielleicht fol- Gesundheit, sondern ein Gesund-Werden. gendes Projekt betrachtet werden: Nach den Kein Wesen, sondern ein Werden. Keine Ruhe, Gestaltungsentwürfen eines italienischen sondern ein Üben. Wir sind es noch nicht, Landschaftsplaners entsteht in Nachbar- werden es aber« (Auslegung zu Philipper 3,13). schaft zur Wittenberger Schlosskirche in den Dass auch die Lutherdekade »ein Wer- Jahren bis 2017 ein Luther-Garten, in dem den« und »ein Üben« ist, lässt sich sieben auf Einladung des Lutherischen Weltbun- Jahre nach ihrem Anfang mit Fug und Recht des alle christlichen Kirchen der Welt Bäu- behaupten. Vor allem in den Reformations- me pflanzen, die gemeinsam die Form einer stätten Mitteldeutschlands hat sich in die- Lutherrose ergeben. Damit dokumentieren ser Zeit durch umfängliche Baumaßnahmen sie ihre Verbundenheit zum Ursprungsort der vieles verändert. So sind Luthers Sterbehaus Reformation. Von Wittenberg in die Welt und in Eisleben, das Melanchthonhaus in Wit- wieder retour: Unter anderem stehen jetzt tenberg, Luthers Elternhaus in Mansfeld und bereits Bäume von Gemeinden aus den USA, das Lutherhaus in Eisenach mit völlig neu- aus Südafrika, aus Indonesien, ja sogar von en Konzeptionen in erweiterten Räumlich- der katholischen Kirche, gepflanzt von Kuri- keiten neu eröffnet worden. Projekte kultu- enkardinal Walter Kasper höchstpersönlich. reller und religiöser Bildung fanden in vie- Das aktuelle Reformationsgedenken: weltof- len Schulen, Museen und Kirchen statt. Vor fen, einladend, auf Augenhöhe, mit der Pers- allem die »DenkWege zu Luther« haben vie- pektive des gemeinsamen Werdens. 24 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Von freien Christen und mündigen Bürgern Luthers Reformation

Stephan Dorgerloh — Politik & Kultur 5/2008 Er war seit 2008 als Prälat Beauftragter des Rates der EKD in Wittenberg und verant- wortlich für die Lutherdekade. Seit 2011 ist er Kultusminister von Sachsen-Anhalt.

Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte Martin der zitternde Delinquent. Dem gehen ange- Luther seine berühmten 95 Thesen in Wit- sichts seines vorbeiziehenden Lebens schnell tenberg. Der junge Universitätsprofessor lud die entlastenden Argumente aus. Dabei hat- damit, dem alten universitären Brauch fol- te er sich so gemüht durch Reinheit des Her- gend, zur Disputation, zum wissenschaftli- zens und durch »Akte der Gottesliebe« die chen Streit über den Ablass und Ablasshan- Gnade Gottes zu erlangen. Vergeblich. Was del ein. Der Thesenanschlag gilt somit zu er an guten Taten in die Waagschale wer- Recht als Geburtsstunde der Reformation. fen kann, ist ein kleines Häuflein, während Diese umfassende Erneuerung von Kirche die Sünden- und Schuldschale schon fast und Gesellschaft mit all ihren Brüchen und den Boden berührt. Die ewige Verdammnis Aufbrüchen kann hier nur exemplarisch in scheint unabwendbar. drei Themenfeldern skizziert werden: Frei- Luthers abgründige Richterangst schreit heit und Kirche, Bürger und Bildung, Kultur förmlich nach Befreiung. Zumal er glaubte, und Aufbruch. dass er jederzeit zum Gericht geholt werden Es sind vor allem zwei Einsichten, die zur kann. Seiner Seelennot halfen weder die trös- quellenbasierten und bibelzentrierten Er- tenden Gespräche der Seelsorger noch das neuerung von Kirche und Theologie führen: Heraufrutschen der Lateran-Stufen in Rom. Rechtfertigung durch die Gnade Gottes und Erst 1515, Luther ist inzwischen Doktor der Freiheit vor Gott. Theologie an der Wittenberger Universität Die eigene Sündenanfechtung und die und hält die berühmte Römerbriefvorlesung, Sorge um sein Seelenheil trieben Luther jah- findet er die theologische Antwort für sei- relang qualvoll um. Wie kann ich, Martin Lu- ne Seelenqual: »Denn ich schäme mich des ther, so vor den Richterstuhl Gottes treten, Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft dass ich Gnade finden kann? Luther stellte Gottes, die selig macht alle die daran glauben, sich, wie die meisten Menschen seiner Zeit, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. das Jüngste Gericht analog zu einer welt- Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, lichen Gerichtsverhandlung vor. Auf dem die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben Richterstuhl ein streng dreinblickender Rich- in Glauben; wie geschrieben steht: der Ge- ter, der sich gnadenlos auf Recht und Gesetz rechte wird aus Glauben leben« (Röm. 1,16 f). stützt. Ihm zur Seite ein Ankläger, der alle Wer an Christus glaubt, hat einen Retter im Taten und Untaten vorträgt, stehend davor, Gericht. Als alles im Gerichtssaal nach einer Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 25

vernichtenden Anklage verloren scheint, tritt Land Schulen für alle Kinder geben. Die Ein- Jesus Christus auf. Er stellt sich vor den An- führung der allgemeinen Schulpflicht und geklagten. Der Richter schaut somit auf sei- Bildungsteilhabe in protestantischen Ter- nen Sohn. Angesichts dieses seines Sohnes ritorien sind die Folge. Bildung als Voraus- spricht der Weltenrichter den Menschen für setzung für gesellschaftliche Teilhabe führt immer und ewig frei. Der Glaube an Chris- uns mitten in die Debatte um den vielfach tus hat den Angeklagten im Gericht gerettet. attestierten »Bildungsnotstand« unserer Zeit. Was für ein Friede und was für eine Frei- Die Lutherdekade als Bildungsdekade ver- heit müssen in Luther angesichts dieser Wie- standen, bietet uns die Chance, altehrwürdi- derentdeckung der biblischen Wahrheit, der ge Gräben und ideologische Stellungen zu Gnade Gottes gewachsen sein? Statt Angst verlassen und Bildung, wie Ausbildung, von vor Richter Gnadenlos, kann seine Liebe der frühkindlichen Bildung bis zur berufli- zum gnädigen Gott wachsen und reifen. Sein chen Fort- und Weiterbildung zu erneuern. Glaube hat ihn gerettet. Wer solche Freiheit Wer den mündigen Christ und Bürger for- gewinnt, der geht nicht zurück, der kann dert, muss den Impuls der Reformation auf- nicht anders, der will, dass alle Menschen nehmen: »Bildung für alle«. Für unsere Zeit diese Befreiung von Druck und selbst ge- heißt es: »Beste Bildung für alle«, ob Migran- schaffenen Angsträumen erleben. Diese Be- ten- oder Einzelkind, ob mit Behinderungen freiung und der Glaube an die Gnade Gottes oder Hochbegabungen. Mündige Christen wird die Lutherdekade zu einer Dekade der werden sich in der Lutherdekade dafür stark Freiheit machen. Gerecht werden aus Gnade machen, dass mündige Bürger ausgebildet und im Glauben an Christus und gerade nicht werden, dass nicht nach sozialer Herkunft aus Werken und Eigenmächtigkeit der Men- Bildungschancen verteilt werden, dass über- schen ist eine der großartigsten Wiederent- kommene Strukturen nicht zu Hindernissen deckungen der Reformation. In der Luther- für Bildungswege werden. Von der Reforma- dekade ist Raum zu fragen: Wie sollen wir tion können wir dabei lernen, dass bestimm- leben, was dürfen wir hoffen, was können wir te Strukturen sich nicht erneuern lassen und glauben? Dafür gilt: In der Schrift und nur für Neues auch neue Formen und Struktu- in der Schrift kann ich Freiheit finden – sola ren nötig sind. Den Geist der Reformation scriptura, sola fide, solus Christus, sola gratia. braucht, wer gegen Besitzstände und Tradi- Der Christ ist nach reformatorischer Auf- tionalisten, mächtige Beharrer und ängstli- fassung mündiger Christ. Der Bildungsan- che Verwalter zu Felde zieht. »Und wenn die spruch und -impetus der Reformation ha- Welt voll Teufel wär und wollt uns gar ver- ben in dieser Überzeugung ihre Wurzeln. Der schlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, Glaubende muss (Bibel) lesen und verstehen, es sollt uns wohl gelingen.« reflektieren und bewerten können. Der mündige Christ singt! Das allgemeine Glaube muss gebildeter Glaube sein. Doch Priestertum fand seinen liturgischen Aus- die Reformatoren, allen voran Melanchthon, druck im gottesdienstlichen Gemeindege- gehen noch weiter. Als Reaktion auf die Bil- sang als Beitrag zur Verkündigung des Wor- dungsnot von Kindern, Kaufleuten, Pfarrern tes. Der Gemeindegesang brauchte Lieder und Politikern fordert Melanchthon, »das und so wurde Luther zum Kirchenliederdich- menschliche Leben als fröhliche Schule« zu ter, der neben Eigenkompositionen wie dem verstehen und zu formen. Deshalb soll es flä- bekannten Weihnachtslied »Vom Himmel chendeckend in Stadt und vor allem auf dem hoch da komm ich her« auch auf alte Volks- 26 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

weisen zurückgriff. Ganz nebenbei wurde die Theologie der Reformation singend ver- breitet. So legte die Reformation den Grund- stein zu einer großen und vielfältigen musi- kalischen Kultur von wachsender Bedeutung. Von Johann Walter, dem Torgauer Zeitgenos- sen Luthers, über Paul Gerhard bis hin zu Jo- hann Sebastian Bach reichen hier die Linien evangelischer Kirchenmusik. Die zahlreichen Formen gottesdienstlicher Vokal- und Ins- trumentalmusik sind bis heute ein beson- deres Kennzeichen evangelischen Christen- tums. (Evangelische) Kirchenmusik wirkt in ihrer Ausstrahlung weit über den kirchlichen Raum hinaus. Das gemeinsame Singen, ob Gospel oder Choräle, Musicals oder Volkslie- der sind ein Erbe, das man nur lebendig hält, wenn man es klingen lässt. Die Lutherdeka- de als singende Dekade. Neben der Musik entfaltet die Reforma- tion vor allem in der Literatur und Sprache ihre vielfältigen kulturellen Wirkungen. Ein zentrales Anliegen ist es, die Bibel in die Volkssprachen zu übersetzen und die ver- ständliche Predigt zu einem unverzichtba- ren Bestandteil des Gottesdienstes werden zu lassen. So wurde die Reformation für vie- le Völker zur Schöpferin ihrer Schriftsprache und führte zu einem spezifischen Verhältnis des Protestantismus zu Sprache und Wort. Dieses schlug sich in Dichtung und Literatur nieder, zunächst innerhalb der Kirche, dann aber auch in der Breite einer sich verselb- ständigenden säkularen Kultur. Bis 2017 wird es darum gehen, als »Kirche im Aufbruch« von den Wurzeln der Reforma- tion her Impulse für eine lebendige Kirche im 21. Jahrhundert zu finden und zu erpro- ben. Gleichzeitig gilt es, die Modernisierun- gen und Grundgedanken der Reformation für unsere Gesellschaftsentwicklung einzubrin- gen. Die reiche protestantische Kultur wird uns dabei beflügeln. Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 27

Reformation und Musik als Chance

Gabriele Schulz im Gespräch mit Udo Dahmen — Politik & Kultur 5/2011

Das Jahr 2012 steht im Rahmen der Reforma- darf. Natürlich gibt es mittlerweile durchaus tionsdekade 2017 unter dem Motto »Refor- starke Bestrebungen in den unterschiedli- mation und Musik«. Im Ausblick auf dieses chen Kirchenmusikhochschulen, populäre Jahr führte Gabriele Schulz ein Gespräch mit Musikstile in die Ausbildung zu integrieren Udo Dahmen, Künstlerischer Direktor, Ge- und es findet zum Teil auch statt. Es ist aber schäftsführer und Professor der Popakade- nach wie vor so, dass die Kirchenmusikerin- mie Baden-Württemberg in Mannheim. nen und Kirchenmusiker im Wesentlichen nicht für die populäre Musik ausgebildet Herr Dahmen, Sie haben bei einem werden. Wer aber auch jüngere Menschen Treffen der Synode der Evangelischen wieder stärker an die Kirche heranführen Kirche in Baden-Württemberg gesagt, möchte, der sollte nach meiner Meinung dass in der Kirche auch ­extremere dringend nachbessern. ­Musikstile Platz hätten. Was meinen Sie damit? Können Sie sich eine ­Zusammenarbeit Es geht um populäre Musik und ich kann mir der Kirchenmusikhochschulen mit durchaus vorstellen, dass Hip-Hop und be- ­Ihrer Institution, der Popakademie, stimmte Arten von Heavy Metal in der Kir- vorstellen? che Platz finden könnten. Es gibt durchaus Das kann ich mir nicht nur vorstellen, son- Strömungen innerhalb der populären Musik, dern es gibt auch Kontakte zu Kirchenmu- die als White Hip-Hop oder White Metal be- sikhochschulen, z. B. der in Tübingen. Dar- zeichnet werden, die im Wesentlichen einen über hinaus kommen auch viele Studieren- christlichen Hintergrund haben und zu ei- de an der Popakademie aus dem christlichen nem erheblichen Teil von jungen Christen Bereich. gespielt werden. Ich denke einfach, dass da Potenzial zu heben ist. Wie sehen Sie selbst die ­Kirchenmusik? Ist es eine Verkündigung oder eine Meinen Sie, dass die Kirchenmusiker ­Umrahmung des Gottesdienstes? dafür ausreichend bzw. richtig Im besten Fall ist sie beides. Ich würde es aus­gebildet sind oder sehen Sie wichtig finden, wenn wir heutzutage in der einen Ergänzungsbedarf?­ Kirche beide Elemente, Verkündigung und Ich sehe einen erheblichen Ergänzungsbe- populäre Musik, verbinden könnten. 28 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Sehen Sie eher die Jugendgottes­dienste als einen Ort für die populäre Musik oder sollte sie auch in normalen Gottes- diensten ihren Platz finden? Das ist in meinen Augen ein Mehrgenerati- onenprogramm. Die Rolling Stones sind mit ihren Fans alt geworden. Dementsprechend gibt es gesellschaftliche Bereiche, in die die Kirche mit ihrem doch verengten Musikange- bot nicht mehr durchdringt. Das ist die eine Seite. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich auch in der Gesellschaft die Rele- vanz von Popmusik verändert hat. Popmusik wird heute anders betrachtet als vor 30 oder 40 Jahren. Auch diese Musik hat inzwischen einen festen Platz in der Kultur unserer Ge- sellschaft.

Die Reformationsdekade, die bis 2017 geht, hat im kommenden Jahr das ­Thema »Reformation und Musik«. Die ­Reformation hat eine wichtige Bedeu- tung für die Musik bzw. die Musik hat die ­Reformation vorangebracht. Ich denke dabei an Martin Luther, der auch Kirchenmusiklieder geschrieben hat oder auch an Paul Gerhard. Sehen Sie das Jahr »Reformation und Musik« auch als eine Chance, den von Ihnen angemahnten­ Veränderungsprozess voranzubringen? Der reformatorische Gedanke Luthers soll- te uns heute wieder mit dem gleichen Geist erfüllen: Es geht darum, wirklich große Be- völkerungskreise zu erreichen. Die populä- re Musik könnte hierzu einen sehr wichtigen Beitrag leisten.

Vielen Dank für das Gespräch. Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 29

Am Anfang war das Wort – und was kommt danach?

Dieter Georg Herbst — Politik & Kultur 1/2012

Eine neue Dachmarkenkampagne – eigent- nen, Einrichtungen aus Kultur und Wissen- lich keine Nachricht, die zu einer Meldung schaft, Kirchengemeinden und Tourismus- im deutschen Blätterwald führt. Dennoch verbänden. Eine solche Klammer, ein Dach, berichtenswert ist sie, weil es sich beim Ab- scheint sinnvoll zu sein. Zum anderen soll sender um die EKD handelt. Ja, die Evange- die Kampagne »eine gezielte und zugleich lische Kirche spricht tatsächlich von einer breite öffentliche Aufmerksamkeit« erzeu- »Dachmarkenkampagne«, von einer »Marke- gen, wie es Präses Nikolaus Schneider, Vor- ting- und Kommunikationskampagne«. »Am sitzender des Rates der EKD, bei der Präsen- Anfang steht das Wort« heißt sie – der erste tation der Kampagne am 17. Oktober 2011 in Satz aus dem Johannesevangelium. Anlass Berlin ausdrückte. Fraglich ist, ob die Kampa- der Kampagne ist das Reformationsjubiläum gne dieses ehrgeizige Ziel erreicht. Ein Grund 2017. Gestaltet hat sie die renommierte­ Wer- für diesen Zweifel ist, ob die EKD vielen Men- beagentur Scholz & Friends. Sie hat unter schen die Bedeutung des Themas vermitteln anderem für Saturn das Motto »Geiz ist geil« kann. Zwar sind wir Menschen stets offen für erfunden. Die Kampagne der EKD scheint Neues – wir können unser Gehirn gar nicht der Agentur offensichtlich nicht sexy genug, daran hindern, sagt Hirnforscher und Lern- um sich mit ihr auf der eigenen Website zu experte Manfred Spitzer von der Universi- brüsten. Finanziert wird die Kampagne vom tät Ulm. Doch Neues allein reicht nicht aus: Bund, der EKD und den Ländern. Allein die Es muss auch wichtig für uns sein oder wer- Bundesregierung wird sich mit 35 Millionen den können. Grundsätzlich ist dies alles, was Euro aus dem Etat des Beauftragten für Kul- uns einerseits vor Gefahren und Missbeha- tur und Medien an der Finanzierung von in- gen schützt oder andererseits dazu beiträgt, haltlichen Projekten der Lutherdekade bis dass wir uns besser fühlen – z. B. sicherer, an- zum Jubiläumsjahr 2017 maßgeblich betei- geregter oder überlegener. Angesichts die- ligen; außerdem will der Bund gemeinsam ser Erkenntnisse stellt sich die Frage, war- mit den Ländern die Sanierung authentischer um sich die »breite Öffentlichkeit« mit dieser Reformationsstätten finanziell unterstützen. Kampagne beschäftigen sollte. Gewiss: Die Welche Ziele verfolgt diese Dachmarken- Reformation hatte tief greifende Bedeutung kampagne? Zum einen soll sie eine Klammer für die Evangelische Kirche und die Men- bilden um die Aktivitäten der vielen Beteilig- schen in aller Welt. Doch was bedeutet dies ten aus Bund, Ländern, Regionen, Kommu- heute noch? Zu den Themen, die derzeit vie- 30 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

le Menschen beschäftigen, gehören Arbeits- kampagne bei vielen Menschen möglichst losigkeit, Eurokrise und die Frage, wie sie im klare innere Bilder von den wichtigen Bot- nächsten Jahr über die Runden kommen. Wie schaften aufbauen. Wird dies gelingen? Aus passen Luthers Botschaften in diese Welt? heutiger Sicht eher nicht. Schon das Mot- Dies müsste die Kampagne klar und anschau- to der Kampagne weist darauf hin, dass das lich darstellen. Wort im Mittelpunkt steht, Markenexperten Ein weiterer Grund für den Zweifel an der würden sagen: im Mittelpunkt des Selbstver- breiten Wirkung: Die Kampagne erfordert ständnisses über die Markenpersönlichkeit. Interesse und intensive Beschäftigung. Von Die meisten Menschen schauen jedoch lieber diesem Interesse lässt sich heute nicht mehr als dass sie lesen, besonders wenig am The- selbstverständlich ausgehen, so das Ergebnis ma Interessierte. Die Pressefotos zeigen das zahlreicher wissenschaftlicher Studien. Ex- Motto »Am Anfang war das Wort« in über- perten schätzen, dass wir 90 % der Informati- großen Buchstaben gestaltet, in denen sich onen nebenbei und ohne große gedankliche Bücher befinden. Solche Motive sind nicht Beteiligung aufnehmen. Der breite Erfolg der geeignet, klare innere Bilder der Botschaf- Kampagne wäre daran gebunden, dass de- ten entstehen zu lassen. ren Botschaften in wenigen Sekunden auf- Insgesamt scheint die Dachmarkenkam- genommen werden können – Studien zufol- pagne typisch für die Situation der Evange- ge werden Anzeigen 1,7 Sekunden beachtet, lischen Kirche: Sie versucht aus Anlass des Plakate 1 Sekunde. Reformationsjubiläums, die Aufmerksam- Die schnelle Kommunikation erschwert, keit vieler Menschen auf sich zu lenken – wie dass die Botschaften für unser menschliches wichtig dies ist, lässt sich schon daran erken- Gehirn sehr abstrakt sind. Nikolaus Schnei- nen, dass von 2008 bis 2010 rund eine hal- der: »Aufklärung und Demokratie, Individu- be Million Menschen aus der Evangelischen alität und Menschenwürde, Religionsplurali- Kirche ausgetreten sind. Hierfür müsste sie tät und Toleranz sind ohne die Reformation jedoch, vorwärts gewandt, die Bedeutung der und ohne Martin Luther nur schwer denk- Kirche für den Alltag und die Gefühlswelt der bar. Reformation ist für diese Entwicklungen Menschen aufzeigen. Stattdessen präsentiert nicht alles, aber ohne Reformation wäre vie- sie komplexe, schwierige, abstrakte Themen les nicht so gekommen, wie es nun ist.« Viele für viele Menschen unverdaulich verpackt. Menschen werden sich unter solchen kom- Vermutlich wird die Kampagne aus heutiger plexen Begriffen kaum etwas vorstellen kön- Sicht nur den zunehmend kleiner werden- nen. Jedoch ist gerade die klare Vorstellung den Kreis von Menschen erreichen, die sich von einem Thema das, was über die Kom- ohnehin für die EKD und deren Themen in- munikationswirkung wesentlich entscheidet. teressieren. Forscher sprechen von der »Superdimensi- on Klarheit« – je klarer unsere Vorstellungen von einer Sache, desto schneller und geziel- ter fällen wir unsere Entscheidungen. Mehr noch: Abstrakte Begriffe sind kaum geeignet, innere Bilder vor unserem geisti- gen Auge entstehen zu lassen, die besonders stark wirken. Um die hoch gesteckten Ziele zu erreichen, müsste also die Dachmarken- Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 31

Pluralismus als gemeinsame Signatur Europäische Perspektiven in der Luther­ dekade und zum 500. Reformationsjubi­ läum im Jahr 2017 stärken

Arne Lietz — Politik & Kultur 2/2015

Die Lutherdekade und das Reformationsju- trennten und verfeindeten Konfessionen zu biläum 2017 müssen wichtige Impulse auch gewährleisten und das Zusammenleben ex- in der aktuellen europäischen Diskussion um klusiver Wahrheitsansprüche auf Toleranz Religionstoleranz, Freiheit und Verantwor- und wechselseitigen Respekt zu gründen.« tung des Individuums sowie unserer euro- Im Hinblick auf den aktuellen europäischen päischen Identität setzen. Diskurs zum Islam und dem erneut aufflam- »Die Reformation ist ein Ereignis von welt- menden Rechtspopulismus und Antisemitis- geschichtlicher Bedeutung. Die epochalen mus sollte diese Signatur von den politischen Veränderungen, die sie hervorbrachte, hat- und religiösen Verantwortlichen hervorge- ten Wirkungen quer durch alle Kontinente. hoben und die in Europa eingeübte Religi- Was von ihr ausging, ist darum ein Ereignis onstoleranz zur Richtschnur für Entschei- nicht nur von nationaler, sondern von euro- dungen und dem gesellschaftlichen Mitein- päischer, ja, weltweiter Relevanz.« So brachte ander werden. Unsere nationalen Sprachen es der ökumenisch arbeitende wissenschaft- sind ein weiterer europäischer und kulturhis- liche Beirat der Lutherdekade in seiner ersten torischer Aspekt der Reformation. Die Bibel- von 23 Thesen auf den Punkt und weitet den übersetzungen waren in vielen europäischen Debattenraum auf eine europäische, ja sogar Sprachen wichtige Kristallisationspunkte internationale Dimension aus. Das ist richtig oder Grundlage für die Herausbildung der und wichtig zugleich. In den weiteren The- jeweiligen Schriftsprachen. Allein aus die- sen des Beirates werden die Auswirkungen sem Grund feiert Slowenien den Reformati- für Europa präzisiert. onstag als nationalen Feiertag. Die Reforma- »Indem die Reformation das Auseinander- tion in Europa brachte oder verstärkte damit treten der westlichen Kirche in eine Mehr- ein verbindendes Element auf unserem Kon- zahl Widerspruch und Gemeinsamkeit ver- tinent. Sie ist für die nationalen Identitäten bindender Konfessionen auslöste, hat sie die unerlässlich und bildet gleichzeitig den Kern religiös-kulturelle Differenzierung und Plu- unseres europäischen Selbstverständnisses ralisierung zur Signatur Europas gemacht.« »In Vielfalt geeint« ab. Das gesprochene, ge- In einer weiteren These heißt es: »Zugleich sungene oder geschriebene Wort forderte hat diese Entwicklung Europa genötigt, Re- ebenso die Demokratisierung der Bildung. gelungen zu entwerfen, um das friedliche Das internationale Kulturfestival im Rahmen Neben- und später auch Miteinander der ge- der »Weltausstellung der Reformation«, die 32 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

2017 an 95 Tagen in der Lutherstadt Witten- Die deutsche Politik und die Evangelische berg stattfinden soll, könnte mit Sprachen- Kirche in Deutschland haben bereits zum pavillons diesen Aspekt aufnehmen. Anfang des neuen Jahrtausends begonnen Die Reformation und die Impulse von das Reformationsjubiläum 2017 anzugehen. Martin Luther mit seinem Thesenanschlag Im Deutschen Bundestag gab es 2008 unter im Jahre 1517 ordneten sich in einen euro- dem Titel »Reformationsjubiläum 2017 als päischen geisteswissenschaftlichen Diskurs welthistorisches Ereignis würdigen« und 2011 ein und waren dennoch entscheidend für re- »Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – ligiöse und weltliche Reformen, die den eu- Ein Ereignis von Weltrang« zwei fraktions- ropäischen Kontinent für immer entschei- übergreifende Anträge, welche die Bundes- dend veränderten. Damit ist die Reformation regierung aufforderten, die Bereiche Tou- und ihre Jubiläen in ganz Europa ab 2017 eine rismus, Kultur und auswärtige Kultur- und wichtige kulturhistorische und gesellschafts- Medienpolitik zu verbinden. politische Basis, die sich hervorragend als Viele Aktivitäten sind von der Deutschen gemeinsames Thema für eine europäische Welle, dem Goethe-Institut, Der Beauftrag- Identität eignet. ten der Bundesregierung für Kultur und Me- Neben Deutschland mit seiner Lutherde- dien, dem Auswärtigen Amt, der Deutschen kade und vorläufigem Höhepunkt 2017 sind Zentrale für Tourismus, der Kultusminis- insbesondere Dänemark, die Schweiz, Nor- terkonferenz und vielen Landesregierun- wegen, die Beneluxlander, Finnland, Schwe- gen bis hin zu Rathäusern initiiert worden. den, Ungarn und Polen bereits dabei, ihre Re- Dabei wird auch die europäische Dimension formationsgeschichte zu hinterfragen und mit einbezogen. Jubiläen vorzubereiten. Das findet nicht nur Im Antrag 2011 heißt es »Deutschland in den nationalen Parlamenten, Kirchen oder steht dabei im Mittelpunkt der internatio- Kulturinstitutionen, sondern auch auf regi- nalen Vernetzung«. Und etwas weiter wird onaler und lokaler Ebene statt. Manchmal die Bundesregierung aufgefordert, sich auch sind die lokalen Ebenen ausschlaggebend für auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, nationale Aktivitäten. Europa vernetzt sich dass die Lutherdekade und das Reformati- hier bereits hervorragend auf Städteebene. onsjubiläum in den entsprechenden Pro- Ein von der Lutherstadt Wittenberg be- grammen der Europäischen Kommission gonnenes Netzwerk umfasst bereits Ha- stärker verankert und berücksichtigt werden, dersleben in Dänemark, die Region Orland sowie den Antrag der Kultusministerkonfe- in Norwegen, Turku in Finnland und Emden renz, das Thema »Stätten der Reformation« als »Reformationsstadt Europas«. Die Refor- für die Bundesrepublik Deutschland für das mation war oft ein städtisches Ereignis und Europäische Kulturerbesiegel anzumelden, die lokale Verortung verdeutlicht wie durch entsprechend zu unterstützen. Das wurde ein Brennglas die spezifischen historischen erfolgreich umgesetzt. Situationen, in denen die Reformation statt- Als Europaabgeordneter habe ich mich gefunden, begonnen oder sich weiterentwi- dafür eingesetzt, dass eine interparlamen- ckelt hat. Dieser Ansatz entspricht auch der tarische Gruppe entsteht, um das Europäi- Initiative »A Soul for Europe«, »die europa- sche Kulturerbesiegel und den Tourismus zu weit auf die Kooperation zwischen Zivilge- dessen authentischen europäischen Orten sellschaft und Politik setzt und somit aktiv beispielsweise durch ein europaweites The- ›Europa von unten‹ baut«. menjahr stärker hervorzuheben. Als Vizeprä- Der lange Weg zum Reformationsjubiläum 33

sident der über 100 Abgeordneten starken Möglichkeit, die europäischen Aktivitäten Gruppe freut es mich, dass der Kultur- und zu verstärken und Deutschland nachhaltig Bildungsausschuss des Europaparlamentes zu vernetzen. bereits 2018 als »Europäisches Jahr des kul- turellen Erbes« setzen möchte. Vor dem Hin- tergrund, dass die europäischen Reformati- onsjubiläen nach 2017 folgen, konnte 2018 in dem in Brüssel entstehenden »Haus der Eu- ropäischen Geschichte« im temporären Aus- stellungsbereich eine Wanderausstellung zur Reformation in Europa platziert werden, die dann für mehrere Jahre durch Europa tourt. Um eine Vernetzung mit den anderen eu- ropäischen Ländern zu verstärken, sollten die »Stätten der Reformation« in einem Kul- tur- und Tourismusmanagement koordiniert werden, weitere europäische »Stätten der Re- formation« im Europäischen Kulturerbesie- gel zu etablieren, um das Thema nachhaltig und touristisch als europäisches Thema zu verankern. Um die vielen kulturhistorischen, wissenschaftlichen, institutionellen sowie touristischen Investitionen zu stärken, sollte eine deutsche Kontaktstelle geschaffen wer- den, die auch nach 2017 die deutschen aber auch zunehmenden europäischen Aktivitä- ten zur Reformation unterstützt, vernetzt und interdisziplinär zusammenfuhrt. Als europäische Netzwerke haben sich ne- ben einer Vielzahl touristischer Zusammen- schlüsse das Projekt »Refo500« und durch die Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) das Projekt »Reformations- stadt Europa« gebildet. Die bisherige staat- liche Geschäftsstelle in der Lutherstadt Wit- tenberg bietet eine sehr gute Voraussetzung, um die Herausarbeitung des europäischen Reformationserbes und die Diskussion um die Bedeutung der Reformation bis in die Ge- genwart auch nach 2017 aufrechtzuerhalten. Die diesjährige Eröffnung des kommenden Themenjahres in Straßburg betont die Re- formation als europäisches Ereignis. Ein drit- ter Bundestagsantrag zum Thema böte die 34 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017 2

Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet

Mit Beiträgen von: Petra Bahr, Heinrich Bedford-Strohm, Wolfgang Böhmer, André Brie, Tom Buhrow, Stephan Dorgerloh, Markus Dröge, Torsten Ehrke, Volker Faigle, Kerstin Griese, Hermann Gröhe, Thies Gundlach, Wolfgang Huber, Margot Käßmann, Stephan J. Kramer, Michael Kretschmer, Cornelia Kulawik, Sabine Kunst, Hartmut Lehmann, Volker Leppin, Athina Lexutt, Hiltrud Lotze, Christoph Markschies, Reinhard Kardinal Marx, Christoph Matschie, Regine Möbius, Johann Michael Möller, Michael Müller, Bernd Neumann, Cornelia Pieper, Peter Reifenberg, Georg Ruppelt, Stephan Schaede, Heinz Schilling, Carsten »Storch« Schmelzer, André Schmitz, Friedrich Schorlemmer, Irmgard Schwaetzer, Thomas Sternberg, Rupert Graf Strachwitz, Johannes Süßmann, Peter Tauber, Wolfgang Thierse, Ellen Überschär, Olaf Zimmermann und Stefan Zowislo Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 35

Lob des Geheimnisses – Luther lesen! Vom »falsch Zeugnisreden«: Medienrevolutionen und ihre Folgen

Petra Bahr – Politik & Kultur 1/2011

Zu den beabsichtigten Nebeneffekten, die schriften verlassen. Selber lesen! Dieser Satz mit dem Gedenken an große historische Er- ist nicht nur im Kern die Zusammenfassung eignisse einhergehen, gehört normalerweise des reformatorischen Bildungsideals, das die Wiederentdeckung eines Werkes, das oft mündige Christinnen und Christen vor Au- als Klassiker mit Goldschnitt in den Bücher- gen hat, die in den heiligen Texten ihren pro- regalen verstaubt, bis eine neue Generation fanen Alltag wiederentdecken, der sich im von Leserinnen und Lesern es für ihre Zeit Horizont der Bibel ganz neu und anders deu- entdeckt. So geht es jedenfalls den großen ten lässt. Selber lesen sollte auch das Mot- Figuren unserer Kultur. Komponisten werden to der Reformationsdekade sein. Man muss wieder aufgeführt und verschollene Parti- gar nicht mit den gewichtigen theologischen turen entdeckt, Dichter werden wieder auf- Texten anfangen. Die berüchtigten 95 The- gelegt und verlorene Briefe werfen ein neu- sen eignen sich nicht gerade als Einstieg und es Licht auf ihn, Dramatiker, deren Sprache die Heidelberger Disputation braucht schon als altertümlich und fade galten, sprechen in einiges an philosophischen Hintergrundin- neuen Inszenierungen frech und ungeniert formationen. Es gibt aber Texte, die kommen in unsere Gegenwart, als hätten sie direkt für einem sofort entgegen in ihrer Alltagsnähe unsere Zeit geschrieben. und Lebensklugheit. Und sie eignen sich für Klassiker erkennt man daran, dass sie jede Leserinnen und Leser aller Konfessionen und Zeit und ihre Rezeption überleben. Das gilt Überzeugungen. Wie Luthers Kommentar allerdings nur unter der Voraussetzung, dass zum 8. Gebot im großen Katechismus, einer Menschen sie wieder in die Hand nehmen, Art Handapparat zu den christlichen Essen- den Staub wegpusten und sich auf Entde- tials: zehn Gebote, Vaterunser, Abendmahl ckungsreise machen. Luther lesen – das ist so und Taufe, eine Haustafel mit Gebeten und eine Entdeckung. Luther lesen, das ist wahr- Überlegungen zu allen Gelegenheiten, zur lich nicht nur was für Kirchenhistoriker und Orientierung und als Lebensbuch in Zeiten Pfarrerinnen. Seine Sprache ist prall und le- vor Wikipedia. Wie war das noch mal? Nach- bensnah, seine Gedanken voller Hintersinn schlagen! Im 8. Gebot geht es ums »falsch und geistiger Kraft. Wer den Geist der Frei- Zeugnisreden«. Ein Tatbestand aus der Ge- heit wirklich spüren will, der sollte sich nicht richtswelt, sollte man meinen. Doch Luther auf die Secondhandinformationen von Bio- setzt eine andere Pointe. Natürlich hält auch graphien, Reiseführern und Jubiläumsfest- er ein Plädoyer für das rechte Recht ohne ge- 36 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

kaufte Zeugen und verleumderische Aussa- Falsch ist nicht nur die Lüge, sondern diese gen. Niemand soll sich mit Geld und guten hämische Bekundung des »Ich weiß was, was Worten einen Richterspruch kaufen können. Du nicht weißt und jetzt sage ich es laut«. Lu- Typische Machtkritik, wie sie Luther so oft in ther lebt auf der Schwelle einer Medienrevo- Alltagstexte schmuggelt. Eigentlich geht es lution, die er sich durchaus zu Nutze macht. Luther aber um die destruktiven Folgen der, Er guckt nicht mit kulturkritisch gerümpf- wie er sagt, gefährlichsten Waffe: der Zun- ter Nase auf den neuen Buchdruck und seine ge und der Sprache. Falsche Prediger und Möglichkeiten. Aber er reflektiert kritisch auf falsche Richter sind da nur die Spitze eines die Nebenfolgen eines Mediums, das in Win- Eisbergs, der unsere soziale Welt unterkühlt. deseile Nachrichten über alle Welt verstreut, »Die heißen Afterredner, die es nicht dem gehen sie sie nun an oder nicht. So werden Wissen lassen, dass sie über andere haben, Menschen vernichtet. Wer so agiert, der ist sondern fortfahren und ins Gericht greifen für Luther nicht weniger als ein »Dieb und und, wenn sie ein Stücklein von einem ande- ein Mörder«. Er ruiniert nicht nur den guten ren wissen, tragen sie es in alle Winkel, tut- Ruf, er vergreift sich an fremder Würde und zeln und trauen sich, dass sie mögen eines Ehre. »Denn ob du das Schwert auch nicht anderen Unlust oder Vergehen rügen wie die führest, so brauchst du doch deine giftige Sau, so sich im Kot wälzen und mit dem Rüs- Zunge dem Nächsten zu Schand und Scha- sel darin wühlen.« Das ist das berühmte Lu- den.« Luther lesen lohnt sich! therdeutsch. Das »falsch Zeugnisreden« ist deshalb so gefährlich, weil es im Geheim- nisverrat, im medial und privat angeheiz- ten Klatsch und im gezielten Ausplaudern von Informationen über andere, und seien sie noch so bruchstückhaft, in Wahrheit da- rum geht, sich Gottes Blick anheischig zu machen. »Sie nehmen das Gericht Gottes vorweg« geht der Kommentar zum 8. Gebot weiter. Eine menschliche Gesellschaft lebt davon, dass jeder einzelne Geheimnisträger bleiben darf. Die Freiheit des Individuums besteht darin, dass es eine undurchlässige Grenze gibt zwischen dem, was ich bin und weiß, und dem, was der Rest der Welt von mir kennt. Nein, für Luther steht mehr und anderes auf dem Spiel in der Welt der Ge- rüchte und der gezielten Taktbrüche als ein wenig Klatsch und ein paar falsche Zungen- schläge in einschlägigen Journalen oder in der Teeküche. Die Idee der Individualität, die davon lebt, dass wir ein Geheimnis sind, das nur Gott lüftet und das vor aller Welt einen verborgenen Kern haben darf, lebt von dieser Regel: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.« Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 37

Der Herzschlag von Gemeinschaft

Heinrich Bedford-Strohm — Politik & Kultur 2/2016

»So halten wir nun dafür, daß der Mensch ge- spaltendem Streit geführt hat, das können recht wird ohne des Gesetzes Werke, allein wir als evangelische und katholische Chris- durch den Glauben.« Dieser Satz des Paulus tinnen und Christen heute längst gemein- aus seinem Brief an die Gemeinde in Rom sam sagen. Es hat seine kirchentrennende hat immer wieder Geschichte geschrieben. Bedeutung verloren. Christinnen und Chris- Und ganz besonders vor 500 Jahren, als er für ten haben im gemeinsamen ökumenischen Martin Luther die Grundlage seiner Forde- Gespräch der letzten Jahrzehnte den Blick rung nach einer Reform der Kirche an Haupt auf den uns verbindenden Auftrag freigear- und Gliedern war. Nicht die Bußleistungen beitet: »damit sie alle eins seien« (Joh 17, 21). gegenüber der Kirche sollten die Grundlage Es ist vor diesem Hintergrund erfreulich für die tiefe Gewissheit des Heils sein. Nicht und folgerichtig zugleich, wenn sich evange- Ablässe oder buchhalterisch festgehaltene lische und katholische Christen in Deutsch- gute Werke, nicht das hinreichend hohe mo- land zusammen auf den Weg machen, um ralische Punktekonto bei Gott. Sondern al- das Jahr 2017 als gemeinsames Christusfest lein die Beziehung zu Christus. Allein die- zu begehen. Bereits im Sommer 2014 kam der ses tiefe Gefühl in der Seele, dass Christus prominent besetzte Ökumenische Arbeits- bei mir ist, dass Christus mich liebt, dass kreis evangelischer und katholischer Theo- Christus für mich einsteht, wo ich für mich logen (ÖAK) zu dem Ergebnis: »Ökumene hat selbst nicht mehr einstehen kann. Diesen nicht nur mit Texten zu tun, sondern auch Gedanken hat der Theologe und Kirchen- mit der gegenwärtigen Praxis. […] Die Be- lieddichter Paul Gerhardt so zum Ausdruck sinnung auf die Reformation stärkt die Öku- gebracht: »Nichts, nichts kann mich verdam- mene und die ökumenische Theologie. Sie men, nichts nimmt mir meinen Mut; die Höll macht deutlich: Die Kirchen sind füreinander und ihre Flammen löscht meines Heilands und nicht gegeneinander da. Jede Kirche ge- Blut. Kein Urteil mich erschrecket, kein Un- winnt an Profil nicht gegen die anderen Kir- heil mich betrübt, weil mich mit Flügeln de- chen, sondern im Miteinander mit ihnen.« cket mein Heiland, der mich liebt.« Ende Juni 2015 nun haben die Deutsche Bi- Was Luther neu einschärfen wollte, wur- schofskonferenz und die Evangelische Kir- de damals als Weg zu Christus an der Kirche che in Deutschland den Planungsstand zu vorbei sowie als Entmachtung der Kirche ver- konkreten gemeinsamen Aktivitäten 2016 standen. Was im 16. Jahrhundert zu kirchen- und 2017 öffentlich gemacht. Wir hoffen, 38 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

dass überall im Land viele evangelische und so wertvolle gesellschaftliche Bindungsres- katholische Gemeinden ihren Teil dazu bei- sourcen erhalten. Die sozialphilosophische tragen, 2017 zu einem großen Glaubensfest Reflexion kommt vor dem Hintergrund dieses werden zu lassen und wir so, wie es Rein- Sachverhaltes zu bemerkenswerten Schlüs- hard Kardinal Marx auf den Punkt gebracht sen. So hält Jürgen Habermas fest: »Säku- hat, »der vollen sichtbaren Einheit der Kir- larisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer che näher kommen«. Rolle als Staatsbürger auftreten, weder reli- Das gemeinsame Christusfest verbindet giösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahr- 50 Millionen Menschen in Deutschland mit heitspotential absprechen, noch den gläu- einer Gemeinschaft von über 2 Milliarden bigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in Christinnen und Christen weltweit. 2017 bie- religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen tet uns die Gelegenheit, der Kraft von Religi- Diskussionen zu machen. Eine liberale po- on in Europa neu nachzuspüren. 500 Jahre litische Kultur kann sogar von den säkula- nach Luther stellt sich die Frage nach Gott risierten Bürgern erwarten, dass sie sich an in unserer Zeit ähnlich radikal. War es frü- Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträ- her die brennende Frage, wie bekomme ich ge aus der religiösen in eine öffentlich zu- einen gnädigen Gott, so steht heute ebenso gängliche Sprache zu übersetzen.« Für den grundsätzlich zur Debatte: Ist der Gott mei- Soziologen Hans Joas ist hier »ein eloquen- ner Eltern und Großeltern für mein Leben tes Plädoyer an die säkulare Seite« formuliert, relevant? Ein großes ökumenisches Chris- »den täglichen Übersetzungsleistungen der tusfest 2017 setzt hier ein klares Zeichen Gläubigen mehr entgegenzukommen.« Das und stiftet Gemeinschaft im Kreis all jener breite Engagement von Kirchen, Ländern Menschen, die fest an die Relevanz der Frage und Bund für das Reformationsjubiläum so- nach Gott für unsere Zeit glauben. Also von wie die weit fortgeschrittenen Planungen der Menschen, die davon überzeugt sind: Die- Länder für einen einmaligen Sonderfeiertag se Welt braucht uns als Christen. Denn die am 31.10.2017 haben hier ihren tieferen Sinn. Welt braucht Menschen, die ihre Angst über- 500 Jahre Reformation sind eine Einla- winden und beginnen, aus der Freiheit zu le- dung auf den Herzschlag von Gemeinschaft ben. Sie braucht Menschen, die Versöhnung zu horchen. Und dies erstmals in Deutsch- stiften, weil sie selbst versöhnt sind und das land unter den Bedingungen eines freiheit- auch spüren. Die vergeben können, weil sie lichen Rechtsstaates, in dem die Wahl von wissen, dass sie selbst nur aus Vergebung Religion und Konfession Ausdruck indivi- leben können. Dies sind feste ökumenische dueller Freiheit und nicht gesellschaftlicher Überzeugungen, die das auf 2000 Jahren Ge- Konventionen ist. Auf diesem Weg eröffnet schichte gegründete Fundament eines Chris- 2017 eine Perspektive, in der aus Erinnerung tusfestes 2017 ausmachen. echte Teilhabe werden kann. 500 Jahre Reformation lenken damit den Blick auf die unverfügbaren Ressourcen un- serer modernen Gesellschaft – also all jener Grundlagen, die eben nicht ohne Weiteres zu ersetzen sind. Und es sind insbesonde- re die Religionen, die in besonderer Weise kollektive Erinnerungen und Erfahrungen über viele Generationen hinweg sichern und Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 39

Luthers Wirkungsspur ist breit Von der Reformation zum Kulturprotestantismus

Wolfgang Böhmer — Politik & Kultur 4/2009

Reformation ist mehr als das Reformieren in- hen. Das Entstehen der protestantischen nerkirchlicher Regeln. Ihre Wirkung ist nicht Landeskirchen stärkte die Autonomie der begrenzt auf Kirche und Theologie. »Viel- Fürstentümer, letztlich die allmähliche Her- mehr hat«, wie der Wissenschaftliche Beirat ausbildung des spezifisch deutschen Födera- des Kuratoriums zur Vorbereitung des Re- lismus, wenngleich bis dahin noch schmerz- formationsjubiläums im Jahr 2017 in einem volle Wege beschritten und blutige Kriege ersten Thesenpapier mit Recht hervorhebt, durchlebt werden mussten. »der ihr verpflichtete Protestantismus das Der unmittelbare Bezug zwischen dem gesamte private und öffentliche Leben, ge- Glauben des Landesherrn und der konfes- sellschaftliche Strukturen und Wirtschafts- sionellen Prägung seiner Untertanen lag handeln, kulturelle Wahrnehmungsmuster gewiss nicht in der ursprünglichen Absicht und Mentalitäten ebenso wie Rechtsauffas- der Reformatoren. Er ist ein Zwischenschritt sungen, Wissenschaftskonzepte und künst- von der früheren Einheitlichkeit zur heuti- lerische Ausdrucksformen mitgeformt«. gen individuellen Vielfalt, allerdings mit Ganz gewiss betrifft dies die gesellschafts- landsmannschaftlichen Nachwirkungen bis politische Entwicklung in Deutschland. Die in unsere Zeit. Letztlich ging die Entwick- Reformation ist von ihren Wurzeln her ge- lung weiter in Richtung einer konsequente- rade auch eine Bewegung selbstbewusster ren Trennung von Kirche und Staat, wie sie Bürger und Kommunen gewesen. Sie hat we- heute unseren Verfassungen zu Grunde liegt. sentlich zu ihrer Emanzipation beigetragen Zweifellos hat die Reformation unser und im Ganzen die kommunale und bürger- modernes Bild vom Menschen, von seiner schaftliche Struktur der deutschen Länder Identität und Individualität nachdrücklich maßgeblich gestärkt. gestärkt. Wo der Wert einer Person in ihrer Auch der Föderalismus in seiner heutigen persönlichen Anerkennung von Gott her be- Gestalt ist ohne den Beitrag der Reformati- gründet liegt, treten konkurrierende Aspekte on nicht denkbar. Natürlich gingen bei den wie Geschlecht, sozialer Stand, Nationalität deutschen Reichsfürsten des 16. Jahrhun- oder Vermögen zurück. Gedanken der per- derts politische Fragen mit den Fragen des sönlichen Freiheit und Gleichheit, zugleich Glaubens einher. Die Reformation bot Gele- aber auch von Verantwortung und Solidari- genheit, Probleme mit Kaiser und Papst auf tät haben daraus bleibende Impulse erhal- eine bislang nicht gekannte Weise anzuge- ten. Wo Individualität anerkannt wird, wird 40 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Mündigkeit entweder vorausgesetzt oder inhaltlichen Vorbereitung die Frage, wie es zumindest angestrebt. Der mündige Christ gelingen kann, den Impulsen Luthers und der soll verstehen, was und woran er glaubt. Das Reformation in unserer heutigen, oftmals so Wort Gottes in verständlicher Volkssprache, wenig christlichen Welt Ausdruck zu verlei- Katechismus, Predigt und Meditation, aber hen. Dies betrifft Diakonie und Bildung, Kul- auch die Bedeutung des im Lied formulier- tur und Recht, Ökonomie und Medien und ten Glaubens, das alles hat die kulturelle Ent- ebenso die Zukunft unseres Zusammenle- wicklung in den Ländern der Reformation bens in der Einen Welt. stark beflügelt und entfaltet. Deutsche Spra- che, Dichtkunst und Rhetorik haben von da- her prägende Anregungen erhalten. Glaube soll nach dem Willen der Refor- matoren gebildeter Glaube sein. Mündige Christen sind auch mündige Bürger. Der Bil- dungsanstoß macht die reformatorische Be- wegung zu einem maßgeblichen Vorbereiter der europäischen Aufklärung. Das Mitein- ander von evangelischem Glauben und auf- klärerischem Geist war und ist gewiss span- nungsvoll, muss es auch sein. Dass ein die Antagonismen überwindendes Miteinander in Deutschland einen aufklärerisch inspirier- ten Kulturprotestantismus entstehen ließ, hat zu den bis heute beeindruckendsten Leis- tungen unserer Kulturnation unzweifelhaft beigetragen. Die Wirkungen der Reformation sind also in der Tat nicht begrenzt auf die Kirche und die Theologie. Sie betreffen, in Deutschland wie in vielen anderen Ländern, das gesamte öffentliche und private Leben. Deshalb ist es gerechtfertigt, dass sich der Staat an der Vor- bereitung des Reformationsjubiläums im Jahr 2017 beteiligt. Dies gilt natürlich in ganz be- sonderer Weise für »Luthers Land«, das heu- tige Land Sachsen-Anhalt mit den bedeuten- den Lutherstätten in Wittenberg, Eisleben und Mansfeld. Wir engagieren uns, indem wir uns als Gastgeber auf Besucher aus aller Welt vorbereiten und wichtige Baumaßnahmen zur Erhaltung des zum UNESCO-Weltkultur- erbe gehörenden Gebäudeensembles der Re- formation und Veranstaltungen vorbereiten. Wichtig ist auch aus staatlicher Sicht bei der Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 41

Für einen Häretiker

André Brie — Politik & Kultur 3/2012

Wer könnte ohne Luther auskommen! Ein seillaise des 16. Jahrhunderts wurde«. Ich bin linker Atheist, dessen Dogmen noch gründli- auch mit dem Luther-Satz aufgewachsen: »… cher gescheitert sind als die der katholischen man muss die Mutter im Hause, die Kinder Kirche, schon gar nicht, jedenfalls, wenn er auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem lernwillig sein mag. Dass unsere hochdeut- Markt drum fragen und denselbigen auf das sche Sprache auf die Verbreitung und Wir- Maul sehen, wie sie reden und darnach dol- kung seiner Bibelübersetzung zurückgeht, metschen …«. Es fällt mir allerdings schwer, wurde jedenfalls in meiner Schulbildung mir vorzustellen, wie Luther mit dieser Me- noch vermittelt. Selbst mein jüdischer Vater thode klar käme, den vermüllten Augiasstall brachte aus der englischen Emigration eine der heutigen deutschen Sprache auszumis- Bibel der »Britischen und Ausländischen Bi- ten, die von Redaktionen, Internet, interna- belgesellschaft nach der deutschen Überset- tionaler Kommerzkultur »outgesourct« wur- zung D. Martin Luthers« mit, die zu meiner de, so heißt das wohl im aktuellen Deutsch, beständigen Lektüre gehört. Und zu den mar- und für Augiasstall wird man vielleicht auch xistischen Wurzeln meines Denkens gehör- schon »pigsty« sagen müssen. te selbstverständlich Friedrich Engels’ »Di- Luther ist in vieler Hinsicht hochaktuell. alektik der Natur« mit dem berühmten Satz Als der Herausgeber der »FAZ« Frank Schirr- zur Renaissance als einer »Zeit, die Riesen macher kürzlich schrieb, er beginne zu glau- brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denk- ben, dass die Linke Recht habe, blieb er eini- kraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielsei- ge Jahrhunderte oder zwei Jahrtausende hin- tigkeit und Gelehrsamkeit«. Es gibt wohl kei- ter den Glaubens-, ja Wissensmöglichkeiten nen vergleichbaren Zeitabschnitt mit einer zurück. Mit einem Blick in Luthers Schriften größeren Zahl an geistigen Größen, doch En- »An den christlichen Adel deutscher Nation« gels nennt nur vier Namen als Beispiele: Le- oder »An die Pfarrherrn wider den Wucher« onardo da Vinci, Albrecht Dürer, Machiavelli­ hätte er auch schreiben können: »Luther hat- und selbstverständlich Martin Luther, von te Recht! Oder Jesus hatte Recht! Oder Mo- dem er sagte, er »fegte nicht nur den Augias- hammed hatte Recht!« Wenn nicht macht- stall der Kirche, sondern auch den der deut- volle Interessen so wenig eingeschränkt schen Sprache aus, schuf die moderne deut- herrschten, was brauchte man gegenwärtig sche Prosa und dichtete Text und Melodie eigentlich mehr, um die erforderlichen po- jenes siegesgewissen Chorals, der die Mar- litischen Veränderungen durchzusetzen, als 42 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Luthers Erkenntnis: »Hier müsste man wahr- rum sollte ich durch dasselbe Nachdenken lich auch den Fuggern und dergleichen Ge- nicht dieselbe Wahrheit finden, da ich eben- sellschaften einen Zaum ins Maul legen. Wie so viel bin als sie? Wie sehr habe ich bisher ist’s möglich, dass es göttlich und gerecht zu- mich selbst herabgesetzt und verachtet! Ich gehen sollte, dass in einem Menschenleben will, dass es nicht länger so sei!« Bis heute er- so große, königliche Güter auf einen Haufen innere ich mich lebhaft, welchen Aha-Effekt gebracht werden könnten?« diese und die weiteren Zeilen in mir auslös- Oh, Luther kann mich auch zornig ma- ten. Und welche Scham, eine solche Selbst- chen. Seine Hetzschriften wider die gegen verständlichkeit so spät und durch eine sol- Hunger und Rechtlosigkeit aufgestandenen che Äußerlichkeit für mich zu entdecken. Bauern, die Täufer, Hexen und gegen die Ju- Auch bei Marx war das Ziel das freie Indi- den empören mich umso mehr, als sie von ei- viduum (»… eine Association, worin die freie nem so großen und bewunderungswürdigen Entwicklung eines Jeden, die Bedingung für Manne stammen, und er in allen Fällen sei- die freie Entwicklung aller ist«). Doch die ne Meinung von einem gewissen Verständ- emanzipatorischen Subjekte waren kollek- nis und partieller Toleranz bis zu blutiger tiv (die Klasse, die Gesellschaft, die Partei), Rhetorik wandelte. Schlimmer: So weit ich und für die SED waren individuelle Freiheit es einzuschätzen vermag, änderte er wohl und libertäre Ansprüche Bedrohung und Ver- nicht seine Meinung, sondern opferte sie der rat. Einmal las ich in einer Schulklasse über Machtpolitik. Frieden und atomare Abrüstung. Die Lehre- Und doch sind es sein Mut, seine Festig- rin und die Schülerinnen und Schüler woll- keit und Konsequenz, für Überzeugungen ten anschließend dafür demonstrieren. Doch auch unter bedrohlichsten Umständen ein- natürlich durften sie es nicht. Auch Friedens- zustehen, die mich an Luther fesseln und in demonstrationen mussten von Oben organi- einem viel zu langen Weg beigetragen ha- siert werden. Es hat auch dann noch gedauert, ben, mich selbst freier zu machen. Kirchli- eine ganze epochale Wende, bevor aus mei- chen Bann, kaiserliche Acht vor Augen, auf ner intellektuellen Einsicht auch persönliche dem Reichstag zu Worms zu erklären: »Daher Praxis wurde. Das kostet heute und hierzu- kann und will ich nichts widerrufen, weil wi- lande nicht das Leben wie zu Luthers Zeiten, der das Gewissen etwas zu tun weder sicher nicht einmal mehr einen Parteiausschluss, noch heilsam ist«, das war eine Haltung, zu nur noch die unsäglich zählebigen, aber ba- der ich selbst viele, viele Jahre und unter un- nal gewordenen Verratsvorwürfe. »Häresie« vergleichlich einfacheren Umständen nicht hieß es in Luthers Bannbulle, der Verstoß ge- bereit und fähig war. gen das Dogma, wie Häresie im »Codex Iuris Ich muss schon älter als dreißig gewesen Canonici« definiert wird. Damals praktisch sein, als ich Fichtes »Die Bestimmung des ein Todesurteil. Aus Überzeugung zu reden, Menschen« las: »Ich habe andern eine Teil- zu widersprechen, zu handeln – einfach und nahme für die höchsten Angelegenheiten der offensichtlich noch immer kein selbstver- Menschheit, einen Ernst, eine Genauigkeit ständlicher Anspruch. Luther bleibt dafür ein zugetraut, die ich in mir selbst keinesweges beständiger Anstoß. gefunden hatte. Ich habe sie unbeschreiblich höher geachtet als mich selbst. Was sie etwa Wahres wissen, woher können sie es wissen, außer durch eigenes Nachdenken? Und wa- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 43

In weiter Ferne und doch nah? Reformationsjubiläum – das ist doch erst 2017, für einen aktiven Medien­ menschen des 21. Jahrhunderts eigentlich ein Datum in weiter Ferne.

Tom Buhrow — Politik & Kultur 5/ 2014

Allerdings begegnet mir das Thema nun samen Akzent in die Politik der Gegenwart. schon seit Jahren mit steigender Häufigkeit Vom Freiheitsgedanken über das Arbeits- in den Medien. Als Profi würde ich sagen: ethos bis hin zur Massenkommunikation – Thema bereits nachhaltig platziert. Denn von vielen Zügen moderner demokratischer selten hat sich ein Jahrestag so lange im Vo- Gesellschaft heißt es ja heute, dass sie sich raus in ganzseitigen Artikeln und im überre- ohne die Reformation nicht oder nicht so gionalen Feuilleton niedergeschlagen. Kürz- entwickelt hätten. lich etwa mit Udo di Fabios Nachdenken über Besonders der Blick auf die Anfänge mo- die Wurzeln unseres heutigen Verständnis- derner Medienkommunikation, auf die große ses von Toleranz und Vielfalt in der Refor- Umwälzung im 16. Jahrhundert, die den heu- mation (FAZ 21. April 2014). Auch bemerke te nicht mehr wegzudenkenden öffentlichen ich, dass Politiker wie Außenminister Frank- und demokratischen Diskurs ermöglicht hat, Walter Steinmeier ihre Arbeit an reformato- lohnt sich für mich als Journalisten und In- rischen Ideen abgleichen – wie in einem Vor- tendanten des WDR. Denn wir befinden uns trag zum 490. Magdeburger Reformationsju- auch heute wieder in einem fundamentalen biläum Ende Juni dieses Jahres. Veränderungsprozess, ausgelöst durch die di- Äußerer Anlass dieser Reflexionen sind gitale Revolution. Medienhistorisch gesehen meist die Themenjahre der EKD, etwa zu Bil- war die Reformation wohl auch mehr Revolu- dung, Freiheit, Musik, Toleranz und aktuell tion als Reformation. Luther und die Verbrei- zur Politik. Sie geben dem Nachdenken über tung des Buchdrucks, auch die Erfindung des die Bedeutung der Reformation einen Fokus Flugblatts, das sind geradezu Allgemeinplät- auf die Gegenwart. ze. Die wirkungsvolle Vereinigung von revo- Die Evangelische Kirche nutzt so das Ju- lutionärer Botschaft und grundstürzend neu- biläum für eine Dekade, die ihren ureigenen en Verbreitungswegen, das sind gewichtige Themen Aufmerksamkeit verschaffen und Bezüge, die niemand mehr bestreitet. Auch sie in die Diskussion bringen soll – außer- nicht die Medienwissenschaftler, deren Auf- wie innerkirchlich. Damit erinnert sie sich gabe es ist, sie kritisch zu betrachten. und die Öffentlichkeit an ihre Anfänge, de- Allerdings ‒ da die ganze Dekade der nen heute der Beginn vieler gesellschaftli- Evangelischen Kirche ja fragt, »was sagt uns cher Entwicklungen zugeschrieben wird. Und die Reformation heute?« ‒ finden auch Me- das setzt ohne Zweifel auch einen bedeut- dienhistoriker einen neuen Blick, den sie 44 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

aus der Perspektive des wahrlich ebenfalls en umwälzt, sondern Gesellschaft im Wort- grundstürzenden 21. Jahrhunderts auf das 16. sinne total erfasst, ist also nicht nur tech- Jahrhundert werfen können. Denn heute wird nisch, formal und infrastrukturell; sie stellt Crossmedialität diagnostiziert, das Ineinan- auch die Frage nach der Zukunft der Inhalte derschmelzen bislang getrennter Wege des selbst, und zwar unüberhörbar. Darüber und Inhaltes zu seinem Publikum. Der Siegeszug im sinnvollen Zusammenhang mit der Fra- der gedruckten Schriften wäre damals nicht ge nach der Aktualität der Reformation so ohne Lieder, Predigten, öffentliches Reden grundsätzlich, mit langem Atem und öffent- so unaufhaltsam gewesen und ‒ Bildersturm lich zu diskutieren, wie es die EKD tut, das hin oder her ‒ auch nicht ohne Bilder. nehme ich als verdienstvolle Anregung auch Vielleicht hat die Erkenntnis, dass sich für die Mediensphäre und erst recht für den schon vor 500 Jahren unterschiedliche Me- öffentlich-rechtlichen Rundfunk. dien übergreifend ergänzt und gegenseitig, eben »crossmedial«, verstärkt haben, heute etwas Beruhigendes für uns. Und noch etwas zeigt der Blick so weit zurück in die Geschichte: Das neue Medium hätte nicht den Verbreitungsgrad erfahren, hätten sich die Menschen nicht brennend für das interessiert, was gedruckt wurde. Im Falle der Reformation: Die Reflexion über das Verhältnis des Menschen zu Gott war von so brennendem Interesse, dass damit die Me- dieninnovation Buchdruck auf eben solch brennendes Interesse stieß. Ein, wie ich fin- de, höchst aktueller Befund, der bis heute die wesentliche Quelle aller erfolgreichen Mas- senkommunikation bezeichnet. Stellte sich den Reformatoren noch die Frage, wie die Übermacht einer Institution, nämlich der römischen Papstkirche, und der damit verbundene Missbrauch von Macht zu kontrollieren sei, steht heute die Macht und die Autorität von etablierten Institu- tionen per se in Frage. Und spätestens seit den NSA-Enthüllungen kann man als poli- tischer Mensch, und erst recht als Journalist, der Frage nicht ausweichen: Wer ist an die Stelle sichtbarer Institutionen mit Insigni- en der Macht getreten, wer ist es eigentlich, der heute die Öffentlichkeit kontrolliert, die doch selbst die Macht kontrollieren sollte? Die Herausforderung durch die digitale Re- volution, die ja nicht nur Kultur und Medi- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 45

Zum Melanchthonjahr Die Lutherdekade eröffnet ihr nächstes Themenjahr »Reformation und Bildung«

Stephan Dorgerloh — Politik & Kultur 5/2009

Tag und Nacht steht er seit 150 Jahren auf ei- nossen sie nicht zufällig nebeneinander in nem Sockel vor dem Wittenberger Rathaus. der Reformationsgedächtniskirche Witten- Was er, Philipp Melanchthon, wohl selber bergs, der Schlosskirche. dazu sagen würde? Ein kleiner Baldachin Am 19. April 2010 jährt sich zum 450. Mal schützt ihn vor Sonne und Regen. In der der Todestag Philipp Melanchthons, des Hand hält er sein wohl bekanntestes Werk: kleinen Mannes und großen Geistes. Dies die Confessio Augustana (CA). ist Anlass genug, den »praeceptor germa- Diese Bekenntnisschrift, die nach vielen niae« mit einem Themenjahr »Reformation Verhandlungen, Kompromissangeboten und und Bildung« in der Lutherdekade zu ehren. Abstimmungen 1530 auf dem Reichstag zu Dass Philipp Melanchthon vielen als »Leh- Worms Kaiser und Reich verlesen wurde, ist rer Deutschlands« in Erinnerung ist, liegt zum Gründungsdokument der Protestanten nicht zuletzt in seinem vielfältigen Eintre- geworden. Als Philipp Melanchthon zu sei- ten für die Reformation der Schullandschaft, nem 300. Todestag 1860 auf dem Wittenber- der Universitätsausbildung wie auch seinen ger Marktplatz ein Denkmal gesetzt werden grundsätzlichen Überlegungen zur Men- sollte, prominent neben seinem Mitstreiter schenbildung. Dennoch ist damit nur ein Teil Martin Luther, der dort schon seit 1821 stand, seines Wirkens beschrieben. Auch als politi- werden kritische Stimme laut, die fürchten, scher Kopf, als vernetzter Europäer und als »Luthers Größe« würde durch ein zweites ökumenischer Theologe erwarb er sich einen Denkmal herabgesetzt. Das Wittenberg des Ruhm, der weit über die Grenzen Kursach- 16. Jahrhunderts kennt beide als treue Kol- sens hinaus strahlte. Wer war dieses Wun- legen, benachbarte Familien und wohl auch derkind der Reformation? Freunde. Auch wenn beide in der Wittenber- ger Zeit Seit’ an Seit’ mit Schriften und Dis- Der Pädagoge putationen, in Religionsgesprächen und am Melanchthon besetzt 1518 als junger Grie- Universitätskatheder für die neue Lehre strit- chisch-Professor den zweiten Lehrstuhl die- ten, warben und verhandelten, so vergaß die ser Art in Deutschland. Drei Tage nach sei- frühe Reformationserinnerung schnell den ner Ankunft in Wittenberg hält der 21-Jäh- Anteil Philipp Melanchthons. Umso heller rige seine hochgelobte Antrittsvorlesung sollte Luthers Stern am Reformationshim- über notwendige Universitäts- und Studien- mel strahlen. Dabei beerdigten die Zeitge- reformen. Was für ein Auftakt! Bildung lei- 46 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

tet der junge Gelehrte vom lateinischen Be- locken. 100 Pfund Reisekosten waren im kö- griff »eruditio« ab, zu Deutsch »Entrohung«. niglichen Haushalt schon eingeplant. Doch Sein Bildungsanspruch verkürzt sich nicht Melanchthon spannt sein europäisches Netz- in Ausbildung oder Wissenserwerb. Ihm geht werk von Wittenberg aus. Über 9.000 Briefe es um Persönlichkeitsbildung in einem wei- sind von ihm erhalten. Nicht alle gehen ins ten Sinn. Für den Humanisten bedeutet dies Ausland, aber der Briefwechsel mit dem dä- den Gang zur Quelle. Aber nicht nur auf bil- nischen König Christian III. zur Erneuerung dungstheoretische Überlegungen gründet von Schule und Universität in Kopenhagen sich sein exzellenter Ruf. Er verfasst Schul- zeigt exemplarisch seine Rolle als Ratgeber bücher, die in hoher Auflage breite Aufnah- für Könige und Fürstenhäuser. Seine Schrei- me in vielen Schulen und Universitäten fan- ben beeinflussen den Gang der Reformation den. Seine Einführungen in Logik und Gram- in vielen Ländern und seine Studenten wer- matik werden zu Standardwerken. Darüber den zu Botschaftern der Reformation: von hinaus erarbeitet der hochgelehrte Magis- Ungarn bis Frankreich, von Finnland bis Ita- ter grundlegende Schriften, Lehrbücher und lien. Über 2.000 Studenten, darunter viele Kommentare in einer Vielzahl wissenschaft- Ungarn und Skandinavier, verleihen Witten- licher Disziplinen: von der Astrologie bis zur berg binnen weniger Jahre die Aura einer in- Botanik, von der Geologie bis zur Staatsphi- ternationalen Universitätsstadt. Die Zimmer losophie. Melanchthon hält neben Vorlesun- in der Stadt werden knapp. So öffnet auch gen an der Philosophischen Fakultät bald Melanchthon seine Türen für Hausschüler auch Lehrveranstaltungen bei den Theolo- und zahlreiche Gäste aus aller Herren Län- gen. Von den zahlreichen Schulgründungen, dern, die seinetwegen nach Wittenberg kom- die durch ihn inspiriert und unterstützt wur- men. Manche Hausgäste quartieren sich mo- den (bis hin zu Personalvorschlägen) ist die natelang ein, wie etwa der Serbe Demetrius, Gründung des ersten deutschen Gymnasiums mit dem Melanchthon die CA ins Griechische in Nürnberg 1525 besonders hervorzuheben. übersetzt. Elf verschiedene Sprachen seien Hierfür entwirft er selber einen Lehrplan mit heute an seinem Tisch erklungen, teilt Me- den Kernfächern Latein, Griechisch, Rheto- lanchthon in einem Brief mit. »Latein und rik und Mathematik. Seine zahlreichen Stu- Griechisch, Hebräisch und Ungarisch, ja so- denten verbreiteten Melanchthons Überle- gar Türkisch und Arabisch« sprachen die gungen zu Schul- und Universitätsordnun- Gäste in seiner Studierstube, schreibt er an gen samt Lehrplangestaltung, Methodik und anderer Stelle. Latein ist das Englisch dieser Inhalt in vielen Ländern Europas. Bis nach neuen Bildungselite. In der Trauerrede klingt England reicht sein Ruf, wo er als »Einer der diese Facette seines Wirkens noch einmal Könige der Bildung« betitelt wird und ihn ein an: »Um unseren Philipp zu hören, sind von englischer Dichter besingt: »Ein Mann, sehr allen Gegenden Deutschlands, was sage ich besonnen, bar jeder Streitsucht, ein Mann Deutschlands, vielmehr von fast allen Pro- von höchster Gelehrsamkeit und Toleranz, vinzen und Königreichen ganz Europas, aus wie es in unseren verderbten Zeiten keinen Frankreich, England, Ungarn, Siebenbürgen, zweiten gibt.« Polen, Dänemark, Böhmen, auch aus Itali- en, ja aus Griechenland zu allen Zeiten Stu- Der Europäer denten in großer Zahl nach Wittenberg ge- Der englische König Heinrich VIII. mühte strömt, weil sie vom Ruf seines Namens an- sich vergeblich, Melanchthon auf die Insel zu gelockt wurden.« Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 47

Der Politiker in immer neuen Auflagen weit verbreitet. Da- »Wir sind zum wechselseitigen Gespräch bei liegt die Infizierung mit Luthers theologi- geboren«, lautet ein vielzitiertes Melanch- schen Erkenntnissen und Überlegungen ge- thonwort. Darin wird der Konfessionspoli- rade einmal drei Jahre zurück. Er hat schnell tiker und Politikberater Melanchthon sicht- von diesem »Evangelium gelernt«. Mit Bil- bar, der in unübersichtlichen Zeiten und po- derstürmern und den Fundamentalisten der litischen Gemengelagen der theologischen Wiedertäufer konnte er wenig anfangen. Für Wahrheit zum Sieg verhelfen wollte. Als Melanchthon galt das Pauluswort, sich nicht Kriegswaise, von den Schrecken des Krieges »durch Philosophie und eine falsche Lehre leidgeprüft, war es ihm ein Herzensanliegen, verführen« (Kor 2,8) zu lassen. Die mensch- nicht nur die Spaltung der christlichen Kir- liche Vernunft gewinnt in seinem Denken che zu verhindern, sondern vor allem auch an Bedeutung. Darum kann er formulieren: klärende Auswege aus dem gärenden Religi- (die) »Philosophie ist eine wahre und gute onskonflikt zu finden, der kriegerisch am Ho- Schöpfung Gottes, sie ist nämlich das Urteil rizont aufzog. Dabei darf man sich den Uni- der Vernunft selbst, das Gott in natürlichen versitätsprofessor nicht als einen Elfenbein- und gemeinschaftlichen Dingen der mensch- turm-Gelehrten vorstellen. Da Luther unter lichen Natur wahr und sicher gegeben hat«. kaiserlicher Acht und päpstlichem Bann Insbesondere die Theologie soll vernünftig- steht, darf er das sächsische Herrschaftsge- argumentative Rechenschaft ablegen über biet nicht verlassen. Melanchthon avanciert den Glauben. Sein Verständnis reformatori- zum »Außenminister der Reformation«. Ein scher Theologie lässt sich an der CA und in Drittel seines Lebens ist der schmächtige der weiterentwickelten Confession Augusta- Mann auf Reisen zu Reichstagen und Reli- na variata ablesen. Seine zahlreichen Gebe- gionsgesprächen, auf Visitationen, bei Dis- te, die sich auch in Briefen finden, zeigen ei- putationen und Verhandlungen unterwegs. nen gottesfürchtigen Gelehrten, der eine tie- Sein Meisterstück wird er auf dem Augsbur- fe Frömmigkeit alltäglich lebte. ger Reichstag abliefern, der sich über viele Wochen von Mai bis September 1530 hinzog. In der Lutherdekade wird Philipp Melanch- Mit den schmalen Torgauer Artikeln im Ge- thon mit einem eigenen Themenjahr geehrt. päck, entstand dort, geprägt durch Verhand- Bildungsgerechtigkeit und die Demokratisie- lungen, Kompromisse, Reaktionen auf Sch- rung der Bildung, die Quellenkenntnis und reiben etc., die Confessio Augustana (CA). das Kanonwissen der Generation Wikipedia, Auch wenn in allem Verhandeln die Theo- interdisziplinäres Denken wie auch die euro- logie seine Leitlinie bleibt, so durchschaut päisch-ökumenische Vernetzung gehören im er doch den machtpolitischen Kalkül hinter kommenden Jahr auf die thematische Speise- vielen konfessionellen Konflikten. karte. Was verbirgt sich nun hinter den The- menjahren der Lutherdekade? Sie strukturie- Der Theologe ren die Jahre bis zum Reformationsjubiläum Es ist der Gräzist Melanchthon, der schon thematisch und berücksichtigen dabei so- 1521 die erste Systematik reformatorischer wohl die Jubiläumsdaten der Reformations- Theologie, die »Loci Communis« vorlegt. Da- geschichte als auch den breiten Fächer re- rin werden die theologischen Grundbegriffe formatorischer Impulse. Entstanden ist ein der Reformation erläutert. Dieses Grundla- Spannungsbogen, der auch die ökumenische genwerk wird vielfach weiterbearbeitet und wie internationale Dimension berücksichtigt 48 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

und kulturelle wie touristische Planungen abbildet. Nun sind die Landeskirchen und Kirchengemeinden ebenso wie die kulturel- len Institutionen, Museen und Tourismus- verbände eingeladen und aufgerufen, die- se thematischen Schwerpunkte mit Leben zu erfüllen. Vielerorts sind bereits jetzt Pla- nungen, auch für noch weit entfernt liegen- de Themenjahre (2012 Leipzig – 800 Jahre Thomaskirche oder 2015 Cranachjubiläum) schon in Gang gekommen. Auch wenn Re- gionalgeschichte oder landesspezifische Be- sonderheiten Abweichungen nötig erschei- nen lassen, so liegt mit den Themenjahren nun der fest verabredete Fahrplan für die in- haltliche Gestaltung der Lutherdekade vor. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 49

Empirische Erkenntnisse theologisch reflektieren

Markus Dröge — Politik & Kultur 6/2015

Ob es historisch wahrscheinlich ist, dass ber 1517. Politisch brisant war, dass Luther die 95 Thesen Martin Luthers an die Tür der die Thesen am 31. Oktober 1517 zusätzlich an Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen Albrecht von Mainz schickte, wohl wissend, wurden, ist für meinen persönlichen Zugang dass sie dessen Ablassinstruktion deutlich zur Reformation unwesentlich. Etwas ande- widersprachen. res bewegt mich an diesem epochemachen- Ein unbekannter Dozent in der Provinz den Text: Die innere Motivation, die den Au- tut, was sein Gewissen ihm aufträgt, um der gustinermönch getrieben hat, diese Thesen Menschen willen, deren Bedrückung er er- zu verfassen. Als Seelsorger und Theologe kannt hat – das ist der Punkt, an dem ich hatte er in vertraulichen Beichtgesprächen meinen Zugang zur Reformation gefunden erfahren, welche seelischen Belastungen und habe. Diese »Methode« Luthers, empirische Gewissensqualen der damalige Missbrauch Erkenntnisse theologisch zu reflektieren und der Buße bewirkte. Buße soll Menschen be- dann in die gesellschaftliche Öffentlichkeit freien. Wenn die Bußpraxis der Kirche aber hinein auf Veränderung zu drängen, ist für den weltlichen Interessen der Regierenden mich vorbildhaft. Bis heute gehört es zum dienen muss, wird sie zum Instrument der geistlichen Auftrag, nach dieser Maxime zu Unterdrückung. Luther reflektierte die Buße handeln. »Tretet vor Gott und vor den Men- neu und setzte sich auseinander mit der Ab- schen für alle ein, die euren Beistand brau- lassinstruktion des Albrecht von Branden- chen«. Dieses Versprechen legen evange- burg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz. lische Pfarrerinnen und Pfarrer bei ihrer Dieser hatte einen Jubelablass für den Neu- Ordination ab. Luthers 95 Thesen zeigen, bau der Peterskirche in Rom ausgerufen, be- welche immensen Auswirkungen es haben hielt aber einen beträchtlichen Teil der Ein- kann, wenn auch nur einer den Mut hat, das nahmen ein, um seine Schulden beim Bank- zu sagen, was Sache ist – so wie das Kind im haus Fugger zu begleichen. Luther stellte Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. Natür- das Ergebnis seiner Analyse dann in Thesen- lich war diese Zivilcourage nicht nur Martin form zur Disputation. Wo immer er sie ange- Luther zu eigen. Die reformatorische Bewe- schlagen hat, allein wichtig ist die Tatsache, gung hat viele mutige Bekenner hervorge- dass sie tatsächlich wissenschaftlich disku- bracht. Und die Freiheit des Gewissens ist tiert wurden. So bezeugt es ein Gutachten auch nicht ein christliches Privileg. Men- der Wittenberger Universität vom Dezem- schen aller Weltanschauungen, die einem 50 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

ethisch gebundenen Gewissen folgen, ha- schleierhaft, wenn nicht gleichzeitig zumin- ben diese »Methode« immer wieder ange- dest das Zuckerfest als gesetzlicher Feier- wandt. Heute sind es in vielen Weltgegen- tag in Berlin eingeführt wird. Dasselbe trifft den Menschenrechtsaktivisten,­ die uner- für die Anhänger der mosaischen Religi- schrocken und unbestechlich der Wahrheit on, Hindus, Feueranbeter und was es sonst die Ehre geben. nicht alles noch gibt, zu […].« (Protokoll des Obwohl die Reformation nicht die einzi- Abgeordnetenhauses­ von Berlin, 17. Wahl- ge Traditionsquelle heutiger Gewissensfrei- periode, Plenarprotokoll 17/67, S. 6890). So heit und Zivilcourage ist, haben wir im Jahr klingt es, wenn alles, was irgendwie Religion 2017 guten Grund das Jubiläum gesamtge- ist, ohne Beachtung der Inhalte in einen Topf sellschaftlich zu begehen. Es gilt kritisch zu geworfen wird. Bei ernsthafter Betrachtung würdigen, welche Wellen und Wirkungen von aber dürfte es keinem, gleich welcher Religi- der Reformation ausgegangen sind. Die »Me- on oder Weltan­schau­ung, schwerfallen, die thode« Luthers ist dabei selbstverständlich Chance des Reformationsjubiläums zu erken- auch gegen ihn selbst anzuwenden: Wir ha- nen, um Gewissensfreiheit und Zivilcourage ben zu analysieren, wo die Reformation nicht stark zu machen. Auch ein Feueranbeter tut nur Segen gebracht hat, wo Luthers Denken, gut daran, sich eine der wesentlichen Tradi- Reden und Tun menschenverachtende und tionen bewusst zu machen, die das Wertesys- menschenzerstörende Wirkungen gezeitigt tem unserer freiheitlichen Gesellschaft trägt. hat; am gravierendsten in seinen unsägli- chen Aussagen über das Judentum. Wir ha- ben Freiheit und Menschenwürde auch ge- gen Luther selbst zu verteidigen. Gerade da- rin wird sich die Botschaft der Reformation zu bewähren haben. Mein Zugang zur Reformation führt mich konsequenterweise dazu, die Feier des Re- formationsjubiläums nicht nur als Aufgabe und Herausforderung für evangelische Chris- tinnen und Christen zu sehen. Wir brauchen 2017 keine Protestantenparty. Wir brauchen ein vertieftes Nachdenken über Gewissens- freiheit und Menschenwürde als Grundlage unserer Gesellschaft. Dies an der Reforma- tion festzumachen, ist manchem nicht auf den ersten Blick einsichtig.­ Zugespitzt hat der Abgeordnete Wolfgang Brauer von der Fraktion der Linken am 25. Juni 2015 im Ab- geordnetenhaus von Berlin die Frage in der Debatte um einen bundesweiten, einmali- gen gesetzlichen Feiertags am 31. Oktober 2017 gestellt: »Weshalb sollen Muslime das Reformationsjubiläum in einem angemesse- nen Rahmen begehen? Das ist mir irgendwie Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 51

Schluss mit der Luther-Apologie

Torsten Ehrke — Politik & Kultur 2/2009

»Ich Martinus Luther, genant Doctor der hey- gen als wahren Propheten erscheinen zu las- ligen schrifft, Augustiner tzu Wittenbergk, sen, der Übermenschliches geleistet habe. Es fug meniglich zu wissen, das durch meyn wil- entstand das »verlogene Bild eines Halbgot- len, radt und zuthat auff montag noch Sanct tes oder vielmehr eines Heiligen mit rosigen Nicolai ym M.D.XX. Jar vorprennet seyn die Wangen, lockigem Haar, väterlicher Miene Bucher des Pabsts von Rhom und ettlich und sanftmütiger Sprache« (Lucien Febvre). seyner Jungernn.« Das Luther-Jubiläum im Jahr 2017 ist ein »Martin Luther – Ein Name wie ein Don- schöner Anlass, das in Deutschland gehät- nerhall! Geht es nicht auch weniger pathe- schelte Lutherbild endlich einmal zu revidie- tisch?«, fragte Olaf Zimmermann in seiner ren. Jedes Jahrhundert zimmerte sich seinen Einführung zu dieser Kolumnenreihe. Darauf eigenen Luther. Letztlich ist so eine Symbol- gibt es eine klare Antwort: Es geht. figur entstanden, die gehörig verzeichnet ist. – Es wäre sicherlich sehr interessant für die Luther der deutsche Nationalheilige Leserinnen und Leser der Politik & Kultur, Martin Luther gehört heute zu den bekann- an dieser Stelle einmal einen Beitrag über testen Persönlichkeiten der deutschen Ge- das Luther-Jubiläum 1917 zu lesen. – Auch schichte. Geht es nach einigen populären der Umgang mit Luthers Theologie ist em- Darstellungen, so war Luther es, der die ge- pörend selektiv. Höchste Zeit also, die übli- samte abendländische Kirche veränderte. Er che Luther-Apologie zu überwinden und die erfreut sich, von Jahrhundert zu Jahrhundert quasi-hagiographische Darstellung seines immer größer werdender Beliebtheit, und er- Lebens und Wirkens zu beenden. Wenden wir fährt als anti-papistischer Held noch heute uns also einigen wenigen, gerne ausgeblen- bei Kritikern der katholischen Kirche größte deten oder ungerechtfertigt positiv beschrie- Verehrung. Gerade nach 1945 war die Sehn- benen Seiten Luthers zu. sucht nach einem positiven erinnerungskul- turellen Bezugspunkt in der deutschen Ge- Luther der rituelle Bücherverbrenner schichte, der vor 1933 lag, enorm groß. Am 10. Dezember 1520 brannte in Wittenberg Seine kulturtouristische Vermarktungsfä- vor dem Elstertor ein Feuer. Der Bergmann- higkeit hat Luther allemal unter Beweis ge- sohn, Nachfahre von Bauern und ehemaliger stellt. Regelmäßige Lutherjubiläen trugen Augustinermönch, der Bibelprofessor Martin das ihre dazu bei, den Gelehrten und Theolo- Luther (eigentlich: Luder) verbrannte eigen- 52 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

händig die Bannandrohungs-Bulle »Exurge gewesen sind und noch sind. Summa, wir ha- Domine« (Erhebe dich, Herr!) von Papst Leo ben rechte Teufel an ihnen. Wenn ich könnte, X., das kanonische Rechtsbuch, die Schriften wo würde ich ihn [den Juden] niederstrecken des Ingolstädter Professors Johannes Maier und in meinem Zorn mit dem Schwert durch- aus Eck (gen. Johannes Eck) und andere Bü- bohren. Jawohl, sie halten uns [Christen] in cher mit den Worten: »Weil du die Warheit unserem eigenen Land gefangen, sie lassen Gottes verderbt hast, verderbe dich heute der uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut Herr.« Das ist die erste in Deutschland nach- gewinnen, sitzen sie dieweil hinter dem Ofen, weisbare rituelle Bücherverbrennung. Luther faulenzen, pompen und braten Birnen, fres- freute sich über diese »Hinrichtung unliebsa- sen, sauffen, leben sanft und wohl von un- men Gedankenguts« (Katja Lehman) später serm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere mehr als über jede andere Tat seines Lebens. Güter gefangen durch ihren verfluchten Wu- Apologeten feiern noch heute diesen Akt cher, spotten dazu und speien uns an, das wir der Barbarei als symbolische Tat der endgül- arbeiten und sie faule Juncker lassen sein … tigen Abkehr von Rom. Dies ist unwahr. Wahr sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.« ist vielmehr: Erst brennen die Bücher, dann Ja, was war da zu tun? Nun, Martin Luther die Menschen. Die Reformation brauchte nur wusste Rat: »Erstlich, das man jre Synago- kurze Zeit, bis sie anfing, Abweichler aus ih- ga oder Schule mit feur anstecke und, was ren eigenen Reihen zu verbrennen. Neuere nicht verbrennen will, mit erden überheu- Untersuchungen ergaben, dass es insbeson- fe und beschütte, das kein Mensch ein stein dere die protestantischen Kernlande waren, oder schlacke davon sehe ewiglich … – Zum in denen später der Hexenwahn am ausge- anderen, das man auch jre Heuser des glei- prägtesten sein Unwesen trieb. chen zerbreche und zerstöre, denn sie trei- ben eben dasselbige drinnen, das sie in jren Luther der judenfeindliche Schülen treiben. Dafur mag man sie etwa un- Gottesbarbar ter ein Dach oder Stall thun, wie die Zigeuner, Luther hat den Anti-Judaismus nicht erfun- auff das sie wissen, sie seien nicht Herren in den, er war weit verbreitet. Zunächst ging es unserem Lande. – Zum dritten, das man jnen ihm auch darum, die Juden zum Protestantis- nehme all jre Betbüchlein und Thalmudis- mus zu bekehren, nachdem doch der »Doctor ten, darin solche Abgötterey, lügen, fluch und uber alle Doctor jm gantzen Bapsttum« die lesterung geleret wird. – Zum vierten, das letzten Wahrheiten erkundet hatte. Als die man jren Rabinen bey leib und leben verbie- renitenten Juden sich diesem Ansinnen je- te, hinfurt zu leren. – Zum fünften, das man doch nicht beugten, wandelte er sich zum er- die Jüden das Geleid und Straße gantz und bitterten Judenfeind. Viele seiner Äußerun- gar auffhebe. – Zum sechsten, das man jnen gen bereicherten später die Sprache der Nati- den Wucher verbiete und neme jnen alle bar- onalsozialisten und seine Ideen zum Umgang schafft und kleinot an Silber und Gold, und mit Juden wurden in den Pogromen der Fa- lege es beiseit zu verwaren. – Zum sieben- schisten in letzter Präzision umgesetzt. den, das man den jungen, starcken Jüden So lesen wir in »Von den Jüden und iren und Jüdin in die Hand gebe flegel, axt, karst, Lügen« (1543): »Ein solch verzweifeltes, spaten, rocken, spindel und lasse sie jr brot durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes verdienen im schweis der nasen.« Zwar war Ding ist’s um diese Juden, so diese 1400 Jah- Luthers Antisemitismus religiös und nicht re unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück rassistisch begründet, aber er lieferte über Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 53

Jahrhunderte das Vokabular für Verbrechen die Bauern nieder. Die ursprüngliche refor- gegen die Juden. Martin Luther – ein Name matorische Volksbewegung war am Ende. wie Donnerhall? Ja, vor allem in den Ohren Träger der Reformation waren nun die Ter- der Juden. Völlig zu Recht hat Thomas Mann ritorialherren, die mit dem König bzw. Kai- 1945 für Luther den Begriff des »stiernacki- ser um ihre partikularistische Macht rangen. gen Gottesbarbaren« geprägt. Es bildete sich eine unselige Staatsnähe der lutherischen Kirche heraus. Luther der brutale Apologet Luther – der selbsternannte Erneuerer der der Obrigkeit alten Kirche – war Ideengeber des Macht- Mit seinem Pamphlet »Wider die räuberi- staates geworden und ebnete der Verstaat- schen und mörderischen Rotten der Bau- lichung der Religion den Weg. ern« (1525) erreichte Luther den moralischen und theologischen Tiefpunkt seines Wirkens. Luther der gnadenlose Die Schrift erteilte eine uneingeschränkte Gnadentheologe Lizenz zur brutalen Tötung der aufständi- Anfang des 16. Jahrhunderts standen für die schen Bauern. Die Morde seien eine religiös christliche Kirche viele Fragen auf der Ta- verdienstliche Tat, ja nachgerade eine allge- gesordnung, neben der äußeren Kirchenre- meine Christenpflicht: »Der Esel will Schlä- form »an Haupt und Gliedern« und der mo- ge haben, und der Pöbel will mit Gewalt re- ralischen Erneuerung von Klerus und Kir- giert sein. Das wußte Gott wohl; drum gab chenvolk auch die Frage nach dem Heilsweg er der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, des Menschen, die für Luther zum zentralen sondern ein Schwert in die Hand. … Drum Problem wurde. Seine Antwort hierauf war soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, das vollständige Angewiesensein auf Got- heimlich oder öffentlich, wer da kann, und tes allein im Glauben gewisse Gnade. Gott gedenken, dass nichts Giftigeres, Schädliche- erwarte nicht Fasten, Wallfahrten und reich res, Teuflischeres sein kann, denn ein auf- ausgeschmückte Kirchen, sondern einzig den rührischer Mensch. Gleich als wenn man ei- Glauben an Christus. Luther vertrat damit nen tollen Hund totschlagen muss …« eine radikale gnadentheologische Position, Luther predigte, dass, wer seine Feinde tö- die dem Vertrauen des Einzelnen auf seine tete, im Dienst der Liebe, im Dienste Gottes ihm eigenen Willenskräfte im Verhältnis zu stehe und dafür im Himmel belohnt würde: Gott keinen Raum ließ. Das Leben des Ein- »… steche, schlage, würge hie, wer da kann. zelnen sei als eine immerwährende Buße vor Bleibst du drüber tot, wohl dir, seligliche- Gott zu verstehen. Die Vergebung der Sün- ren Tod kannst du nimmermehr überkom- denschuld liege allein bei Gott. Er lehnte die men. Denn du stirbst im Gehorsam göttli- Vorstellung ab, der Mensch könne von sich chen Wortes und Befehls, Röm. 13, 4, und im aus Gott gegenüber Verdienste und Ansprü- Dienst der Liebe …« che erwerben. Luther spürte, dass seine kirchenpoliti- Der Glaube, so Luther, war nur in der schen Ziele durch das freiheitliche Gedan- Schrift Gottes zu erkennen. Er stellte die Bi- kengut der revolutionären Bauernschaft ge- bel einseitig ins Zentrum seiner Theologie. fährdet waren. Deshalb stellte er sich vor- Deshalb ließ er in den religiösen Auseinan- behaltlos auf die Seite der Obrigkeit. Die dersetzungen auch nur die Bibel als Autorität Fürsten, die eben die Reichsritter aus der Po- zu. Die katholische Kirche hielt dagegen am litik ausgeschaltet hatten, warfen nun auch Prinzip der Gleichrangigkeit von Schrift und 54 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Tradition fest. Das Traditions- und Sukzessi- chen Erneuerung der Kirche erkennen.« Nun, onsprinzip war und ist ein wesentliches Ele- meines Erachtens sollte dieser Stellenwert ment katholischen Glaubenlebens. So wie es aber auf keinen Fall überwertet werden. Tref- Vinzenz von Lérins zusammengefasst hatte, fender finde ich die Forderung des österrei- dass zu glauben sei, »quod ubique, quod sem- chischen Historikers und Publizisten Fried- per, quod ab omnibus creditum est« (Com- rich Heer, der – gegen die katholische Ver- monitorium II, 5) – was überall, was immer, einnahmung Luthers – befand, dass es wieder was von allen geglaubt wurde. Die Traditi- »hoch an der Zeit [ist], an den Ketzer Martin on hat interpretierende Autorität gegenüber Luther zu erinnern …«. der heiligen Schrift. Somit hielt die katholi- Ja, wir haben nun einige Jahre Zeit, uns – sche Kirche ihre Hochschätzung der mensch- neben allem Verdienstlichen, wozu an dieser lichen Kräfte bei. Ja, gutes Handeln ist vor Stelle schon einiges ausgeführt wurde und Gott verdienstlich. Ja, es gibt eine Vergeltung noch vieles ausgeführt werden wird – auch im Jenseits, aber nur, weil der Mensch aus an den Ketzer Luther zu erinnern, den Anti- freiem Willen Gutes oder Böses getan hat. semiten, den Kulturbanausen, den Ideologen Luther dagegen leugnet die Rechtsfähigkeit des Obrigkeitsstaates, der als Zertrümme- des Menschen vor Gott: »Wenn Gott ihn rei- rer der »falschen Kirche« und Gründer einer tet, geht er, wohin Gott will … Wenn der Sa- »neuen Gemeinschaft der Heiligen« zutiefst tan ihn reitet, geht er, wohin Satan will. Es gescheitert ist. Dann können wir den Namen steht nicht in seinem Belieben, den einen Martin Luther auch aussprechen ohne – wie oder den anderen zu wählen oder zu ihm zu vom Donner gerührt – im Pathos zu erstarren. laufen.« (Martin Luther, Vom unfreien Wil- len, Göttingen 1937, S. 54). Nichts für ungut, aber das soll die Frohe Botschaft des Jesus von Nazareth sein? Für die reformierte Kirche galt: Glaube al- lein, Christus allein, Schrift allein, Gnade al- lein. Für die katholische Kirche: Glaube und Liebe, Christus und Kirche, Schrift und Tra- dition, Gnade und Werke. Mit dieser Haltung entfaltete der Katholizismus seine Anzie- hungskraft sowohl auf die Volksfrömmigkeit als auch auf die intellektuellen Eliten Euro- pas. Als bedeutende Konvertiten seien bei- spielhaft genannt der Kölner Psalmendich- ter Kaspar Ulenberg, der schlesische Dichter Angelus Silesius (Johannes Scheffler) und der holländische Maler Jan Vermeer van Delft.

Epilog Papst Johannes Paul II. schrieb aus Anlass des 450. Todestages über Luther: »Das Ge- denken an ihn lässt uns heute … den hohen Stellenwert seines Wirkens zu einer geistli- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 55

Die Reformatoren waren nie in Afrika Streiflicht zur Entwicklung der lutherischen Kirchen in Afrika und zu gegenwärtigen Herausforderungen

Volker Faigle — Politik & Kultur 3/ 2013

Weltweit bekennen sich 74 Millionen Men- xen Kirche aus, in der nach wie vor die von schen auf allen Kontinenten der Erde zur den Gläubigen nicht mehr verstandene alte lutherischen Konfession. Nach der Sta- Kirchensprache »Ge’ez« in Gebrauch ist. tistik zählt zwar immer noch Europa zum In Namibia gehören fast drei Viertel der mitgliedsstärksten Kontinent des Lutheri- Bevölkerung einer der drei lutherischen Kir- schen Weltbundes (LWB), gefolgt von Afri- chen an, die aus der deutschen und finni- ka mit über 20 Millionen Mitgliedern. Ne- schen Missionstradition entstanden sind. ben den Lutheranern stellen jedoch auch die Eine davon, ähnlich wie in Südafrika, ist die von Huldrych Zwingli (Zürich) und Johan- deutschsprachige lutherische Kirche, die aus nes Calvin (Genf) ausgehenden Reformier- der Auswanderertradition hervorgegangen ten eine stattliche Anzahl von Christen auf ist. Seit vielen Jahren streben die sogenann- dem afrikanischen Kontinent. Von den Refor- ten weißen und schwarzen Kirchen in Nami- matoren ist in Afrika jedoch wohl am besten bia und Südafrika nach einer gemeinsamen Martin Luther bekannt. Die bedeutendsten Kirchenstruktur. lutherischen Kirchen Afrikas sind in Äthio- Die leidvollen Erfahrungen der Trennung, pien, Tansania, Madagaskar, Nigeria, Nami- insbesondere aus der Apartheidzeit, werden bia und Südafrika zu finden. nur langsam überwunden. Insgesamt ist je- Geradezu spektakulär wächst die Mit- doch festzustellen, dass das Luthertum auf gliederzahl der Lutheraner in Äthiopien. Sie dem gesamten Kontinent mit ca. vier bis fünf hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre ver- Prozent eine Minderheit unter den christli- vierfacht und ist heute auf knapp sechs Mil- chen Konfessionen und ca. zwei Prozent un- lionen Mitglieder angewachsen. Attraktiv ter der Gesamtbevölkerung Afrikas darstellt. macht die Äthiopische-Evangelische Kirche Großen Zulauf erhalten in Afrika im Allge- Mekane Yesus u.a., dass in ihr in den gängi- meinen nicht die aus der europäischen Mis- gen Landessprachen gepredigt und gelehrt sionstradition entstandenen Kirchen, wie wird. Ganz im Sinne des Anliegens von Mar- die Lutheraner, Methodisten oder Anglika- tin Luther, der als »Kirchensprache« im Got- ner, sondern eher evangelikale, ja oft auch tesdienst die lateinische Sprache durch die kurios fundamentalistische christliche Strö- deutsche ablöste und empfahl, dem Volk mungen, die sowohl ihren Ursprung in Afrika »aufs Maul« zu schauen. Anders sieht dies selbst haben oder aus der »Neuen Welt« nach in der altehrwürdigen Äthiopisch-Orthodo- Afrika importiert werden. 56 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Erst spät gelangte die lutherische Lehre nach Lutheraner in Afrika gefunden. Aus den An- Afrika. Mit zu den ersten deutschen Missio- fängen der Mission sind heute zum Teil gro- naren zählen die Herrnhuter, die im Jahre ße, selbstbewusste lutherische Kirchen ge- 1734 unweit vom heutigen Kapstadt den Ort worden, die neben der Wortverkündigung be- Gnadenthal gründeten. Bei der Herrnhuter achtliche Beiträge in den Bereichen Bildung Brüdergemeinde, bekannt hierzulande auch und Diakonie leisten. Die Entsendung des durch den Herrnhuter Adventsstern, handelt klassischen Missionars aus dem Norden hat es sich um eine Kirche, die ihre Wurzeln in ihr Ende gefunden. An eigenen Hochschu- der böhmischen Reformation hat und sich len, z. B. in Makumira/Tansania oder Pieter- dem Luthertum eng verbunden weiß. Den maritzburg/Südafrika werden einheimische Herrnhutern folgten Missionare verschie- Theologen ausgebildet. Die Zusammenar- denster Missionsvereine aus Deutschland. beit der deutschen evangelischen Kirchen Manche begannen ihre Arbeit auch zeitgleich und deren Missionswerke, des Evangelischen mit der Kolonialherrschaft. Aber auch luthe- Entwicklungsdienstes und Brot für die Welt rische Missionare aus Skandinavien und spä- mit Kirchen in Afrika hat sich bezüglich des ter USA waren in Afrika tätig. Allen ging es finanziellen Engagements in den vergange- jedoch weniger um die Ausbreitung des »Lu- nen Jahrzehnten im Wesentlichen auf den thertums«, sondern viel eher um den Kampf entwicklungspolitischen Bereich, auf die gegen den »Aberglauben in Afrika«. Die An- Sektoren Bildung, Gesundheit, insbesonde- fänge dieser Missionsbewegung liegen also re HIV/Aids, und Schaffung von notwendigen in einem eher pietistisch geprägten Anliegen. Kirchenverwaltungsstrukturen konzentriert. Eine Überhöhung oder gar Kult um Martin Der kritische Dialog über Glaubensinhalte Luther ist Afrika unbekannt. Einem großen hielt jedoch nicht Schritt mit den theologi- Teil der protestantischen Missionare kann, schen Entwicklungen in den jeweiligen Län- bei aller Würdigung ihrer großartigen Leis- dern des Südens oder des Nordens. Dieses tungen, nach heutiger Auffassung nachge- Auseinandertriften stellt ein bedauerliches sagt werden, dass sie nicht kultursensibel ge- Defizit dar. So steht zum Beispiel gegenwär- nug vorgegangen sind. Und das nicht nur in tig die weltweite Gemeinschaft der Luthera- der Kleiderfrage für Afrikaner. Deutlich wird ner vor einer besonderen Zerreißprobe in der dies auch durch das nach Afrika importierte Frage der theologischen Bewertung der Ho- Liedgut durch die Missionare. Wer einen auf mosexualität. Auf der einen Seite stehen die Kiswahili gehaltenen lutherischen Gottes- Kirchen insbesondere in Nordamerika und dienst in Ostafrika mitfeiert, wird sich sofort Europa, auf der anderen Seite ihre Partner- heimisch fühlen: Die Mehrzahl der Choräle kirchen in Afrika. Der Lutherische Weltbund sind aus dem deutschen Sprachraum über- ist derzeit bemüht, die weltweite lutherische nommen und Wort für Wort übersetzt. Längst Gemeinschaft vor einem Zerbrechen zu be- sind diese Lieder inzwischen »inkulturiert« wahren. und werden nach wie vor gerne gesungen, al- Die Kirchen in Europa haben seit der Re- len voran: »Eine feste Burg ist unser Gott.« formation einen bitteren Lernprozess in Fra- Jedoch hat inzwischen auch neues, afrika- gen von Freiheit und Toleranz hinter sich. nisches Liedgut Einzug gehalten. Die Trom- Ein weiteres Kapitel dieses Weges scheint mel, von Missionaren als satanisches Werk- sich in Bezug auf Afrika anzubahnen. Die zeug abgetan, hat endlich nach langem Zö- Lutheraner im Norden werden auf dem Weg gern wieder Eingang in den Gottesdienst der zum Reformationsjubiläum im Jahre 2017 mit Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 57

ihren Verbündeten in Afrika wohl ein beson- deres Kapitel von »Reformation und Glaube« und »Reformation und Toleranz« hinsicht- lich sich anbahnender Verwerfungen auf- schlagen müssen. 58 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Reformation und Bildung? Reformation durch Bildung!

Kerstin Griese — Politik & Kultur 2/2010

»Aufs erste erfahren wir jetzt in deutschen aller Munde und im aktuellen Koalitionsver- Landen durch und durch, wie man allenthal- trag ist von der »Bildungsrepublik Deutsch- ben die Schulen zergehen lässt.« land« die Rede. Die Bedeutung der Ressour- Diese Feststellung, die auch dem Mun- ce Bildung ist jedoch keine Entdeckung des de des UN-Sonderberichterstatters für das 20. bzw. 21. Jahrhunderts, denn bereits 1524 Recht auf Bildung, Vernor Munoz, kommen schrieb Luther an die Ratsherren aller Städte könnte, stammt von Martin Luther aus dem deutschen Landes, dass sie christliche Schu- Jahr 1524 – hat aber an Aktualität nichts ver- len aufrichten und halten sollen: »Sondern loren. Wieder einmal ist das deutsche Bil- das ist einer Stadt bestes und allererstes Ge- dungssystem reformbedürftig. Spätestens deihen, Heil und Kraft, dass sie viel feiner, seit PISA ist Deutschland auch in der »ge- gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlerzo- fühlten« Bildungskrise: Seitdem reißen die gener Bürger hat, die könnten darnach wohl schlechten Nachrichten in Sachen Bildung Schätze und alles Gut sammeln, halten und nicht ab. Das deutsche Bildungssystem ist recht brauchen.« leistungsschwach und hochselektiv. Kinder Zu Recht sind Bildung und Protestantis- aus armen und sog. bildungsfernen Famili- mus in der deutschen Geistesgeschichte eng en, mit Migrationshintergrund und Behin- verknüpfte Begriffe. Philipp Melanchthon hat derungen haben in diesem System schlech- sich durch seine grundlegende Schul- und te Chancen, ihre Begabungen zu entdecken Universitätsreform den Ruf als »Praeceptor und ihre Potenziale zu entfalten. Ihr Recht Germaniae« (Lehrer Deutschlands) erworben. auf Bildung ist unter diesen Bedingungen Er unterwies nicht nur Luther in der griechi- nicht verwirklicht. schen Sprache, sondern war auch Motor sei- So alarmierend diese Befunde auch sind, ner Bibelübersetzung. Antrieb war beiden der eine größere gesellschaftliche Aufmerksam- Wunsch, Menschen zum Verstehen zu befä- keit haben sie erst im Zusammenspiel mit ak- higen. Sie sollten die Bibel lesen können, um tuellen demografischen und wirtschaftlichen sich selbst ein Bild machen zu können, um Prognosen erhalten. Denn plötzlich wurde sich eine Meinung zu bilden und urteilsfähig deutlich, dass Deutschland angesichts eines zu werden. Melanchthon und Luther erkann- mittelfristig zu erwartenden Fachkräfteman- ten, dass Sprache ein wesentlicher Schlüssel gels einmal mehr in eine Bildungskatastro- der Erkenntnis ist und mehr als »nur« Ver- phe steuert. Seitdem ist Bildung wieder in ständigung von ihrer Kenntnis abhängt. Lan- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 59

ge wurde diese Perspektive auf den Spracher- mension von Bildung nicht vergessen wer- werb in Deutschland vernachlässigt: Aktu- den. Denn spätestens die Finanzkrise offen- ell stehen wir vor der Herausforderung, die barte eine weitere Bildungskrise: Es zeigte Grundlagen der Mehrsprachigkeit, die vie- sich, dass auch in sogenannten gebildeten le Kinder und Jugendliche in Deutschland Schichten und bei den »Bildungsgewinnern« durch ihren Migrationshintergrund mitbrin- ein eklatanter Mangel an ethischer Orien- gen, so zu entwickeln und zu fördern, dass tierung möglich ist und Verfügungswissen nicht nur Verständigung möglich wird, son- ohne Orientierungswissen nicht weiter hilft. dern dass sie sowohl in der deutschen als Bildung hat immer ein reformatorisches auch in weiteren Sprachen beheimatet sind. und damit auch revolutionäres Moment, sie Melanchthon und Luther waren sich darin setzt Potenziale frei, deckt Abhängigkeiten einig, dass Bildung kein exklusives Gut für auf und bringt Prozesse und Menschen in Be- Wenige sein darf, sondern dass es der »aller- wegung. Reformation war und ist ohne Bil- besten Schulen, beide für Knaben und Maid- dung nicht möglich. lein« – wie Luther schrieb – bedarf, damit Le- ben in Gemeinschaft gelingen kann. Dieser inklusive Gedanke muss für die heutige Zeit fortgeschrieben werden. Mehr denn je gilt es, Bildung zu demokratisieren und den hier vorherrschenden Matthäus-Effekt »Denn wer da hat, dem wird gegeben werden« (Matthäus­ 25, 29) zu durchbrechen. Die Erkenntnis, dass nicht nur Geschlecht, sondern auch die Le- benslage Armut und die elterliche Bildung über das Gelingen und Scheitern von Bil- dungskarrieren entscheiden, muss sich in grundlegenden Schul- und Bildungsrefor- men niederschlagen. Dazu gehört auch die Bildung von An- fang an, welche die Lust am Entdecken, Ver- stehen und Gestalten fördert und keinen künstlichen Gegensatz zwischen Lernen und Spielen konstruiert. Alle Kinder sollten die Chance bekommen, gemeinsam mit anderen Kindern, in Kindertageseinrichtungen oder Einrichtungen der Tagespflege diese Erfah- rungen zu machen und so ihre Begabungen zu entwickeln, denn, um es mit Luther zu sagen, sie sind »jung und müßig, geschickt und lustig dazu«. Bei allem Eifer um die kognitive Seite der Bildung, um Verfügungswissen und damit auch um wirtschaftliche Prosperität, darf die kulturelle und hier auch die religiöse Di- 60 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Die Gegenwartsbedeutung der Losungen Zum 250. Todestag Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs

Hermann Gröhe — Politik & Kultur 4/2010

Das Jahr 2010 ist evangelischerseits durch er überdies frühzeitig vom Gedanken der die zwei bedeutsame Ereignisse geprägt: Zum Konfessionen verbindenden Ökumene moti- einen durch den gerade zurückliegenden viert und getragen. Glühende Herzensfröm- 2. Ökumenischen Kirchentag in München, migkeit und verantwortliches, christliches der auf beeindruckende Weise wieder weit Zeugnis für diese Welt waren ihm zwei Seiten über 100.000 Christinnen und Christen al- ein- und derselben Medaille. Zinzendorf, der ler Konfessionen zum gemeinsamen Fei- Laientheologe aus angesehenem Adelsge- ern, Diskutieren und Beten versammelt hat. schlecht, war ein kreativer und eigenständi- Zum anderen durch die Gedenkfeierlichkei- ger Geist und kirchlicher Grenzgänger. Letz- ten anlässlich des 450. Todestages von Phi- teres brachte ihn beispielsweise in so man- lipp Melanchthon, dem großen Theologen, che Konflikte mit Vertretern der Amtskirche Wegbegleiter Luthers und »Praeceptor Ger- seiner Zeit. Er verband die klare Orientie- maniae«. Neben diesen beiden Großereig- rung an Luther und der Bibel durchaus mit nissen droht ein weiteres wichtiges Jubiläum der Offenheit für spiritualistische, ekstati- fast ein wenig in Vergessenheit zu geraten, sche und mystisch geprägte Frömmigkeits- nämlich der 250. Todestag Nikolaus Ludwig formen. Vieles davon war sicherlich nicht nur Graf von Zinzendorfs (9. Mai). Der Name Zin- für seine damaligen Zeitgenossen, sondern zendorf ist eng verbunden mit der Geschich- ist auch für uns immer noch befremdlich: te des Pietismus. Während viele andere Ver- Hierzu gehören beispielsweise seine »Blut- treter des klassischen Pietismus eine ganz und Wundenfrömmigkeit« mit ihren dras- verinnerlichte Form der Frömmigkeit pfleg- tischen Ausmalungen der Passion Christi, ten und sich in abgesonderten Zirkeln aus sein eigentümliches Verständnis der christ- der für sie als gänzlich verdorben befunde- lichen Ehe als asketische »Streiterehe« oder nen Welt zurückzogen, stand für ihn und sei- die oft überspannt erscheinenden Bilder und ne Anhänger das sogenannte aktive »Strei- Sprachmetaphern der frühen Brüdergemeine. tertum« für das Evangelium im Mittelpunkt: Doch die Wirkungsgeschichte spricht Aus der tiefen persönlichen Verbundenheit eindeutig für Zinzendorf. Sein Werk lebt bis mit dem Heiland Jesus Christus entsprang heute fort, und zwar in Form der Herrnhuter für ihn ganz notwendigerweise der Ruf in Brüdergemeine und der mittlerweile welt- das Hinausgehen in die Welt zum missionari- bekannten Herrnhuter Losungen. Die Lo- schen Zeugnisdienst. Zeit seines Lebens war sungen gehören für unzählige Christinnen Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 61

und Christen auf der ganzen Welt zur täg- existentielle Erfahrung im Zentrum, dass die lichen, geistlichen Besinnung und Andacht Bibel Anrede Jesu Christi ist. (…) Dadurch, dazu. Auch auf meinem Schreibtisch liegt das dass der auferstandene Jesus Christus noch Lösungsbüchlein stets griffbereit. Doch ich heute durch die Schrift redet, gerät sie in empfange die segensvollen Worte der Bibel, eine unerhörte, beinahe bedrohliche Gleich- dank modernster Technik, mittlerweile auch zeitigkeit zu ihren Leserinnen und Lesern regelmäßig auf meinem Handy. (…). Im Wort der Schrift ist uns Jesus Chris- Was für eine atemberaubende Erfolgs- tus genauso nahe, wie es der irdische Jesus geschichte! Die Losungstexte, die es heut- seinen Jüngern war.« (Peter Zimmeling, Ein zutage in 46 Sprachen und einer weltwei- Leben für die Kirche – Zinzendorf als Prak- ten Auflage von 1,75 Millionen Exemplaren tischer Theologe, 2010) Diese Erkenntnis ist, gibt, sind von einer gleichermaßen einfachen wie ich finde, gerade in einer Zeit wie der wie genialen Grundidee getragen: Jeder Tag unserigen, in der auch im Protestantismus unseres Lebens soll bewusst unter ein be- die Vertrautheit mit dem Wortlaut der Bibel stimmtes Wort Gottes gestellt werden. Da- mehr und mehr zu schwinden droht, höchst mit kommt ein zentrales theologisches An- bedeutsam und aktuell. Bis heute schätzen liegen Zinzendorfs zum Ausdruck, nämlich wir die wunderschönen Lieder Zinzendorfs in die Nähe und Unmittelbarkeit Christi gerade unserem Evangelischen Gesangbuch wie z. B. auch im Alltag und Diesseits unserer Tage »Jesu, geh voran« (EG 391) oder »Herz und und in der Mitte unseres Lebens zu erfah- Herz vereint zusammen« (EG 251). Und wir ren und zu bekennen. Dietrich Bonhoeffer entdecken gerade wieder aufs Neue, in einer wird einmal, knapp zweihundert Jahre später Gegenwart, die von so vielen Verunsicherun- und wenige Monate vor seinem Tod, sagen: gen und so zahlreichen Sehnsüchten geprägt »Nicht die platte und banale Diesseitigkeit ist, wie wichtig ein lebendiger christlicher der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Be- Glaube ist, der den Menschen nicht nur ein- quemen oder der Lasziven, sondern die tiefe fach intellektuell nachvollziehbare Antwor- Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der ten auf die Fragen und Herausforderungen Erkenntnis des Todes und der Auferstehung der Zeit zu geben vermag, sondern auch auf immer gegenwärtig ist, meine ich. (…) Später emotionale Weise Orientierung zu schenken erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, und hoffnungsvolle Lebensbezüge zu stiften dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des imstande ist. Der christliche Glaube ist im- Lebens glauben lernt.« Die Tiefe eines jeden mer dann besonders attraktiv und anziehend, einzigartigen Tages im Lichte der Verheißun- wenn er das Wort der Schrift lebendig und gen Gottes sehen zu können, dazu wollen die anschaulich werden lässt und sich mitten in Losungen unsere Augen öffnen. die Verantwortlichkeiten dieser Welt zu stel- Ziel bei allen Bemühungen Zinzendorfs len bereit ist. Oder mit den eigenen Worten war stets die Sorge um die wahre Gotteskind- Zinzendorfs: »Wir wollen uns gerne wagen, schaft im Glauben, der im Wort Gottes der in unseren Tagen der Ruhe abzusagen, die’s Heiligen Schrift gründet und in die konse- Tun vergisst. Wir wolln nach Arbeit fragen, quente Nachfolge ruft. Peter Zimmeling hat wo welche ist, nicht an dem Amt verzagen, es in seinem neuen Buch über Zinzendorf wie uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen folgt ausgedrückt: »Die Bibel ist für ihn nicht aufs Baugerüst.« (EG 254,1) primär Quelle von dogmatischen Aussagen. Es dürfte kein Zufall sein, dass kein an- Vielmehr steht bei seinem Bibelgebrauch die derer als der bereits erwähnte Dietrich Bon- 62 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

hoeffer viele dieser theologischen Impulse Zinzendorfs in seiner Tegeler Haft auf viel- fältige und intensive Weise reflektiert und geistlich aufgegriffen hat. An einer Stelle in »Widerstand und Ergebung« bemerkt er pro- phetisch: »Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen –, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert.« Die Herrnhuter Losungen begleiteten und trugen Dietrich Bonhoeffer in den schwers- ten Stunden am Ende seines Lebens. Die Lo- sungen offenbarten in der Zeit der Beken- nenden Kirche und in der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte auch ihre poli- tische Bedeutsamkeit, und vielleicht kann man sogar sagen: ihre regelrechte politische Sprengkraft. Bonhoeffers zahlreiche Ausle- gungen der Losungstexte in seinen letzten Briefen legen dafür ein bleibend gültiges Zeugnis ab. Am letzten Tag seines Lebens legte er seinen Mithäftlingen noch die Ta- geslosung aus. Es handelt sich um einen Text aus dem ersten Petrusbrief, aus demselben Brief, aus dem auch das Motto des diesjäh- rigen 2. Ökumenischen Kirchentages ent- nommen war. Der Text aus 1. Petrus 1,3 lau- tete: »Gelobt sei Gott und der Vater unse- res Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung …«. Kann es für uns ein größeres Zeugnis für die bleiben- de Bedeutsamkeit der Herrnhuter Losungen geben? Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 63

Erinnerungskultur und Jubiläumsgestaltung Wie entsteht Geschichtsbewusst- sein und was bedeutet es für das Reformationsjubiläum 2017

Thies Gundlach — Politik & Kultur 5/ 2013

Im Jahr 1992 wurde in einem nicht unerheb- gelingt so nicht. Man kann für das Verständ- lichen Umfang der 500-jährigen Entdeckung nis und für die Gestaltung des Reformations- Amerikas gedacht; aber natürlich wurde ge- jubiläums 2017 aus diesen Reflexionen über nau besehen 1492 nicht Amerika entdeckt, das Erinnern einiges lernen: Dass der Augus- sondern eine kleine Insel in der Karibik. Die tinermönch und Theologieprofessor Martin Spannung zwischen historischer Exaktheit Luther 95 Thesen zur Bußpraxis verfasste, ist und aktueller Gedächtniskultur ist eine prin- historisch unstrittig; ob aber er selbst oder zipielle, denn das Erzählen von Geschichten ob jemand anders oder ob überhaupt jemals hat im Gegensatz zur historischen Rekons- die 95 Thesen an die Schlosskirchentür zu truktion von Geschichte mit Vergegenwär- Wittenberg geschlagen wurden, ist historisch tigung zu tun. Geschichte zu aktualisieren umstritten, existenziell aber irrelevant. Denn braucht vedichtende, also dichterische Bega- dieser Thesenanschlag wurde schon zu Le- bung, sonst wird aus »der« Geschichte nicht benszeiten Luthers zum Symbol jener Re- »meine« bzw. »unsere« Geschichte. Natür- formbewegung, die in wenigen Jahren ganz lich kann dieses Prinzip missbraucht wer- Europa ergriff und zu tiefgreifenden Wand- den, man kann sich Geschichte zurechtlegen, lungen der ganzen intellektuellen, kulturel- sie mit Pathos aufladen oder mit Interessen len und politischen Welt führte. Faktisch also überlagern; dagegen hilft nur Historisie- wird beim 500. Jubiläum 2017 nicht der histo- rung. Aber man kann bei dieser Historisie- rischen Wahrhaftigkeit des Thesenanschla- rung nicht stehen bleiben, sonst bleibt die ges gedacht, sondern dem symbolischen Be- Geschichte in der Geschichte stecken. Man ginn einer umfassenden Dynamik. Es geht muss das Risiko des Missbrauchs kennen und auch beim Reformationsjubiläum um ver- reflektieren, aber nicht scheuen und vermei- dichtetes Erinnern und Erzählen, – und zwar den. Will man für ein Geschichtsdatum eine immer so, dass die zeitbedingte Relevanz in aktuelle Relevanz und eine zukunftsweisen- die Geschichte hineingelesen wird. Aus ei- de Bedeutung entfalten, darf man es nicht al- ner historischen Erinnerung wird durch den lein der historischen Forschung überlassen. Bezug auf den »Zeitgeist« eine existentiell Sie können die historischen Fakten in ihrer relevante Erzählung. Und nur wer relevant Fremdheit und Distanz zu den heutigen Le- erzählen kann, kann im Wettbewerb des Er- benssituationen aufzeigen, aber ein Erweis innerns bestehen. Heute fragt eine Genera- der gegenwärtigen Relevanz der Erinnerung tion des 21. Jahrhunderts nach dem, was am 64 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Reformationsjubiläum relevant und wichtig Vertrauens. Von der Reformation lässt sich ist. Jede Interpretation und entsprechende nach meiner Überzeugung daher für das 21. Gestaltung des Jubiläums ist daher »zeit- Jahrhundert erzählen als Befreiung aus der geistbedingt«; wer bei der Jubiläumsgestal- Angst, gleichsam als eine Entängstigungs- tung den Zeitgeist vermeiden will, feiert al- Bewegung, die in der Einkehr bei Gott grün- lein. Welche Fragen aber treiben die Gegen- dete und zum verantwortlichen Aufbruch in wart um? Welches »Zurück in die Zukunft« die Welt führte. Dieses neue Selbstbewusst- interessiert heute, nicht allein die reforma- sein des aus der Angst seiner Zeit befreiten torisch geprägten Kirchen, auch nicht nur die Menschen vermag die Aktualität und Rele- Christen, sondern alle Menschen? Die Re- vanz der Erinnerungen an die Reformation formation hat das Gewissen des einzelnen bündeln. Natürlich: Wer solche Freiheit in Menschen ins Zentrum gestellt und einen die Mitte des Geschehens stellt, darf sich Mentalitätswandel initiiert, der sich zwei- über entstehende Vielfalt nicht wundern. fellos nicht sofort und überall durchsetzte, Und man hätte es mit Heiligen zu tun, wäre der aber wesentliche Tiefenschichten des dieses Licht der Freiheit nicht auch in der Lebens prägte. Durch die reformatorische Reformation wieder verraten und verdeckt, Entdeckung ist eine neue innere Freiheit des geleugnet und missbraucht worden. Weder Menschen in die Welt gekommen, die seither Martin Luther noch die anderen Reforma- nie wieder gänzlich zu vertreiben gewesen toren waren frei von Schuld. Der höchst po- ist. Reformation ist die (Wieder-)Entdeckung lemische Umgang mit den Altgläubigen und einer inneren Freiheit, weswegen sich die al- dem Papst, die brutalen Aussagen des alten lermeisten wirkmächtigen Erzählungen um Luthers über die Juden, die grausame Verfol- diese neue Freiheit ranken: Luthers Thesen- gung der Täufer und der Bauern u.a.m. wer- anschlag, Luthers mutige Antwort vor Kaiser fen schrecklich dunkle Schatten auf diesen und Reich, Luthers Heirat mit Katharina, aber einzigartigen Aufbruch. Aber darüber sollte auch Zwinglis Wurstessen in der Passionszeit, die Entdeckung der Reformation nicht ver- Calvins gesellschaftlicher Gestaltungswil- gessen werden: Dass nämlich auch heute le, Melanchthons Bildungsoffensive, Bugen- noch davon erzählt werden kann, wie jener hagens neu fundierte Nächstenliebe u.a.m., kleine Mönch Martin Luther vor dem gro- – die Reformationserzählungen, die durch ßen Kaiser und dem ganzen Reich in Worms die Jahrhunderte hindurch fasziniert haben, Freiheit und Mut gezeigt hat. Und dies wird sind Geschichten der Freiheit und des Mu- mit den vermeintlich gesagten Worten: »Hier tes, des Aufbruches und des Selbstbewusst- stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe seins. Und selbst das neue, wenn auch noch mir. Amen« sehr treffend erinnert. nicht moderne Frauenbild der Reformation atmet diesen aufrechten Gang. Existentiell gesehen lebt die Reformation in der Erinne- rung der Menschen von einer Mischung aus angstloser Freiheit und mutigem Selbstbe- wusstsein, die sich nicht nur gegen die da- maligen Autoritäten von Kirche und Staat behaupteten, sondern auch bewährten in den existentiellen Dimensionen der Nähe und der Liebe, der Freundschaft und des Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 65

Die Ambivalenz des Reformators

Wolfgang Huber — Politik & Kultur 2/2012

In der Lutherdekade, die auf das Reforma- witterte, wirkt auf uns Heutige befremdlich tionsjubiläum des Jahres 2017 hinführt, war – auch wenn unser manchmal reichlich harm- das Jahr 2011 dem Thema »Reformation und loses und oft genug nur vermeintlich aufge- Freiheit« gewidmet. Wie zentral dieses The- klärtes Weltbild zu Rückfragen Anlass gibt. ma für Luther war, geht bündig aus seiner Luthers mitunter polemischer Charakter, Schrift »Von der Freiheit eines Christenmen- seine ambivalente Rolle in den Bauernkrie- schen« (1520) hervor. Deren berühmte Dop- gen, seine beschämenden Aussagen zu den pelthese lautet: »Ein Christenmensch ist ein Juden und sein Kommentar zu den Expansi- freier Herr über alle Dinge und niemand un- onsbestrebungen des Osmanischen Reichs – tertan. Ein Christenmensch ist ein dienstba- all dies gehört in das Bild seiner Person hin- rer Knecht aller Dinge und jedermann unter- ein. Gesundheitliche Belastungen trugen zu tan.« Die Freiheit des Glaubens und die Liebe seinem manchmal aufbrausenden Wesen bei. zum Nächsten sind in diesen beiden Sätzen Wir reden von einem Menschen mit seinem aufs engste miteinander verknüpft. Die Be- Widerspruch. Vergangene Jubiläumsfeiern freiung aus den Verkehrungen des mensch- für Martin Luther wie für die Reformation lichen Daseins und die Befreiung zu einem haben diese Ambivalenz mitunter verdrängt. verantwortlichen Leben gehören zusammen; Zurückliegende Jubiläen können auch »Freiheit von …« und »Freiheit zu …« bilden als Lehrstunden dafür dienen, wie Luther eine Einheit. Entscheidend am Erbe der Re- für das »nationale Erbe« vereinnahmt wur- formation ist die Lebensform verantworte- de. So sehr wir Luthers Beitrag zur deutschen ter Freiheit. Kultur, insbesondere die Prägekraft, mit der Die Lutherdekade ist kein Jubeljahrzehnt. er die deutsche Sprache gestaltete, würdi- Gerade, wer den reformatorischen Aufbruch gen, so wenig Anlass haben wir, die Überle- als einen Aufbruch zur Freiheit versteht, wird genheitsgesten zu wiederholen, mit denen Schatten und Grenzen der Person Martin Lu- Luther und ein vermeintliches »deutsches thers wie der Reformation insgesamt nicht Wesen« zusammengebracht wurden. Deut- aussparen. Wie tief Luthers Empfindungen sche im Inland wie auch im Ausland wurden mit der mittelalterlichen Welt verbunden unter Berufung auf Luther lange Zeit dazu blieben, braucht nicht verschwiegen zu wer- verführt, Patriotismus und Nationalismus den. Dass es Phasen in seinem Leben gab, in miteinander zu verwechseln. All das wird denen er hinter jedem Busch einen Teufel im Blick sein, wenn auf dem Weg zum Jahr 66 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

2017 nicht nur Leben und Theologie Martin des Zusammenlebens. Sie entwarf das Bild Luthers, sondern die Reformation und ihre einer christlichen Gemeinschaft, die sich Wirkungsgeschichte insgesamt verstärkt in ohne geistliche Standesunterschiede Gott den Blick treten. Dabei wird es vor allem da- zuwenden und priesterlich füreinander ein- rum gehen, die Bedeutung zu entfalten, die treten. Kein Stand zeichnet sich vor den an- der reformatorischen Entdeckung der Frei- deren durch eine besondere Weihe oder ein heit für Gegenwart und Zukunft zukommt. besonderes Gelübde aus; deshalb ist die Kulturell hat die Reformation vor allem Übernahme jeder ethisch zu verantworten- deshalb gewirkt, weil sie eine Bildungsbewe- den weltlichen Aufgabe zugleich eine »Be- gung war. Jeder sollte einen eigenen Zugang rufung« im geistlichen Sinn. zum biblischen Wort haben; schon deshalb Hier liegt der Ursprung der neuzeitlichen musste dem verbreiteten Analphabetismus Vorstellung vom Beruf. Auch die Prägung die- ein Ende gemacht werden. Eine gemeinsame ses Worts geht auf Luther zurück. Mit ihm Sprache war dafür nötig; deshalb hat Luthers vollzieht sich eine unerhörte Aufwertung des Bibelübersetzung tief auf die Entwicklung Diesseits; denn der weltliche Beruf gilt nun der deutschen Sprache eingewirkt. In der re- als wichtiger Bewährungsraum des Glaubens. formatorischen Tradition ist Bildung eine der Diese Auffassung vom Beruf hat die moderne Folgen der christlichen Freiheit. Philipp Me- Welt, gerade auch das Feld wirtschaftlicher lanchthon gab für diese Bildung eine klare Verantwortung geprägt. Nicht nur auf Calvin, Parole aus: »Wähle dir vom Besten das Bes- sondern auch auf Luther muss man achten, te aus, und zwar, was zur Kenntnis der Na- wenn man den reformatorischen Wurzeln der tur und zur Bildung des Charakters beiträgt. modernen Wirtschaftsweise nachgehen will. Vor allem ist hierbei die griechische Bildung Der Gedanke der geistlichen Gleichheit vor vonnöten, die die gesamte Naturwissenschaft Gott wurde zugleich zu einer entscheiden- umfasst, um über die Ethik sachkundig und den Triebkraft auf dem Weg zur Demokratie, gewandt sprechen zu können.« die sich in protestantisch geprägten Staa- Ich zitiere diese Worte, weil sie zeigen, ten wie den Niederlanden und der Schweiz, wie sich die Reformation in die europäische aber auch in Großbritannien und den USA Bildungsgeschichte eingezeichnet hat. Eu- die Bahn brach. ropa in seiner durch Antike und Christen- Die kulturellen Wirkungen der Reforma- tum geprägten Gestalt und eine Bildung, die tion, des Aufbruchs zur Freiheit, reichen diese Gestalt erschließt, gehören zusammen. tief hinein in die politische Kultur unserer »Beste Bildung für alle« ist der Impuls der Zeit. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Reformation. »Beste Bildung für alle«, ob Lutherdekade, das kulturelle Gedächtnis zu Migranten- oder Einzelkind, ob mit Behin- stärken und unserem kulturellen Bewusst- derungen oder hochbegabt – das ist die He- sein das nötige Maß an historischer Tiefen- rausforderung unserer Zeit. Mündige Chris- schärfe zu verleihen. ten treten für die Bildung mündiger Bürger ein. Bildungschancen können deshalb nicht nach der sozialen Herkunft verteilt werden; überkommene Strukturen dürfen den freien Zugang zur »besten Bildung für alle« nicht behindern. Von vergleichbarer Bedeutung ist der Einfluss der Reformation auf die Kultur Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 67

Im Kontext unserer Zeit Das Reformationsjubiläum 2017 und die politische Dimension des Freiheitsbegriffes

Margot Käßmann — Politik & Kultur 5/2012

Als Botschafterin des Rates der Evangeli- uns trennt. In einer säkularisierten Gesell- schen Kirche in Deutschland (EKD) für das schaft ist zudem ein gemeinsames Zeugnis Reformationsjubiläum bin ich beauftragt, der Christinnen und Christen von Bedeutung. Kontakte in unterschiedliche gesellschaftli- Es geht auch um die weltweite Ökumene, che Bereiche und vor allem auch zu Kirchen die als Bewegung seit 1910 existiert und seit außerhalb Deutschlands zu knüpfen, um 1948 mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen dazu beizutragen, dass wir 2017 nicht ein institutionalisiert ist, auch im Lutherischen binnenkirchliches oder rein deutsches Jubi- und Reformierten Weltbund eine Stimme hat. läum feiern. Dazu dienen Vorträge, Gesprä- Wie ist die Verbindung zu den Kirchen in aller che, Predigten und schriftliche Beiträge. Zur- Welt? Welchen spezifischen Beitrag leisten zeit finde ich vor allem folgende Überlegung die Evangelischen? Was bedeutet das Jubilä- interessant: Reformationsjubiläen waren um in Chile, in Korea, in Tansania? 2017 wird stets von ihrem Kontext geprägt. Was zeigt ein Reformationsjubiläum mit ökumenischer sich schon heute als das Besondere am Jubi- Dimension sein. läumszeitpunkt 2017? Erste Überlegungen: Dialog der Religionen Ökumene 2017 ist das erste Gedenkjubiläum des The- Es ist das erste Jubiläum nach hundert Jah- senanschlags nach dem Holocaust. Wir müs- ren ökumenischer Bewegung. Das betrifft ei- sen offensiv mit dem fatalen Erbe Luthers in nerseits den römischen Katholizismus. Wir dieser Beziehung umgehen in einer Zeit, die sind auf je eigene Weise »Erbin der Alten Kir- sich bewusst ist, dass der Dialog der Religio- che« (Luther, Wider Hans Worst 1541), es geht nen notwendig ist. Mir scheint wichtig, hier um eine gemeinsame Geschichte. 1999 wur- einen neuen Akzent zu setzen. Nach sechzig de in Augsburg in der Gemeinsamen Erklä- Jahren jüdisch-christlichem Dialog können rung der römisch-katholischen Kirche und wir sehen, dass die Kirche der Reformation des Lutherischen Weltbundes zur Rechtferti- dialogfähig ist. Das ist eine aktuelle Heraus- gung festgehalten: So wie die beiden Kirchen forderung auch mit Blick auf Muslime. Wet- ihre Lehre heute formulieren, werden sie von terte Luther wider die Türken, so leben wir den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts nicht heute gemeinsam in einem Land. Gleichzei- getroffen. Bei aller bleibenden Differenz und tig sind Christen in aller Welt die am meisten dem je eigenen Profil verbindet uns mehr als verfolgte Religionsgemeinschaft. Wir brau- 68 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

chen einen Dialog und er muss theologisch gegenseitig und auch in ihren Ämtern aner- gegründet sein. Zum Reformationsjubiläum kennen und miteinander Abendmahl feiern. 2017 muss der Dialog der Religionen sich als Auch wenn diese Gemeinschaft bekenntnis- Anliegen des Protestantismus erweisen. verschiedener Kirchen manches Mal als »Mi- nimalökumene« diskreditiert wurde: Es ist Frauen ein gelebtes Modell, Spaltung zu überwin- Es ist das erste Jubiläum, bei dem die große den. Das Reformationsjubiläum 2017 kann Mehrheit der evangelischen Kirchen in aller die Leuenberger Konkordie als gelebtes Mo- Welt Frauen zu Pfarrerinnen ordiniert und dell, Spaltung zu überwinden, hervorheben. auch als Bischöfinnen akzeptiert. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Bildung Zeichen, dass auch Leben in einer Familie, Das Reformationsjubiläum 2017 ist das ers- mit Sexualität und Kindern von Gott geseg- te, das in einer Zeit gefeiert wird, in der die netes Leben ist. Die Reformatoren wollten historisch-kritische Methode der Bibelexe- deutlich machen: Weltliches Leben ist nicht gese weitgehend anerkannt ist. Die Voraus- weniger wert als priesterliches oder klöster- setzung für einen mundigen Glauben war liches. Es geht darum, mitten im Alltag der für Luther, dass jede und jeder selbst die Bi- Welt den Glauben zu leben. Theologische bel lesen konnte, Grundlage dafür war eine Grundlage der Überlegungen war die Tau- Bildung für alle. Bildungsgerechtigkeit und fe. Gott sagt dem Menschen Gnade, Liebe, Bildungsteilhabe. Er hatte dafür theologi- Zuwendung, Lebenssinn zu. Jeder, der aus sche Gründe: Glaube war für ihn gebildeter der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Glaube, also ein Glaube nicht aus Konventi- Papst. Von daher hat Luther auch den Res- on und nicht aus spiritueller Erfahrung allein, pekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind sondern durch die Bejahung der befreienden getauft und stehen damit auf gleicher Stufe. Botschaft des Evangeliums. Heute können Das war ein theologischer Durchbruch und wir sagen, dass dieses Bibellesen auch bein- zugleich eine gesellschaftliche Revolution. haltet, die Entstehung der biblischen Bücher Es hat allerdings noch Jahrhunderte gedauert, wahrzunehmen. Beim Reformationsjubilä- bis die Kirchen der Reformation begriffen ha- um 2017 muss deutlich sein: Den Kirchen der ben, was Priestertum aller Getauften meint. Reformation geht es um gebildeten Glauben Nämlich, dass Frauen auch de facto Pfarrerin und der schließt auch den historisch-kriti- und Bischöfin werden können. Beim Jubilä- schen Blick auf den biblischen Text ein. um 2017 ist deutlich: Kennzeichen der evan- gelischen Kirche ist, dass aus theologischer Freiheit Überzeugung Frauen Pfarrerin sein können 2017 wird das erste Reformationsjubiläum und auch Bischöfin. sein, bei dem es in Deutschland eine klare Trennung von Kirche und Staat gibt und ein Spaltung überwinden klares Bekenntnis zu Verfassung und Men- Das Reformationsjubiläum 2017 ist das ers- schenrechten. In Luthers Freiheitsbegriff te nach der Leuenberger Konkordie von 1973. geht es zuerst um die Glaubensfreiheit, die In Europa wurde mit der Leuenberger Kon- uns Christus schenkt. In der Konsequenz kordie 1973 ein wichtiges Signal gesetzt: geht es auch um Freiheit des Gewissens, um Trotz aller Differenzen können sich die aus Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit. Das der Reformation hervorgegangenen Kirchen hat auch politische Konsequenzen. Nach der Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 69

Erfahrung des Versagens unserer Kirchen und auch ihrer Verführbarkeit in der Zeit des Nationalsozialismus haben wir gelernt, dass Kirche Widerstand leisten muss, wo Menschen- und Freiheitsrechte mit Füßen getreten werden. Das sind auch Erfahrungen der Kirche in der DDR. Das sind auch Erfah- rungen in aller Welt: in Südafrika, in Argen- tinien, im Iran. Das Reformationsjubiläum 2017 muss auch die politische Dimension des reformatorischen Freiheitsbegriffs aufzeigen. Es wird darum gehen, das Jubiläum bewusst im Kontext unserer Zeit zu feiern. Das wird spannend. 70 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Und willst Du nicht mein Bruder sein ... Gedanken zum Reformations- jahr aus jüdischer Sicht

Stephan J. Kramer — Politik & Kultur 1/ 2014

Vom 500-jährigen Jubiläum der Reformati- Mit Blick auf die Juden ging es ihm darum, sie on trennen uns noch weniger als vier Jahre, erfolgreicher zum Christentum bekehren zu doch wird bereits weit im Vorfeld über die können, wenn die von ihm geforderten Än- Reformation debattiert, mal pietätvoll, mal derungen der Kirche erst durchgesetzt wor- kritisch, mal theologisch und dann wieder den seien. Als diese Hoffnung nicht aufging, politisch. Eigentlich verständlich, handel- zeigte Luther seine Judenfeindschaft wieder te es sich beim Beginn der Reformation um ganz unverhohlen. In der Schrift »Von den ein monumentales Ereignis in der Geschich- Juden und ihren Lügen« forderte er Christen te Deutschlands, des Christentums und des auf, Synagogen, jüdische Häuser und jüdi- Abendlandes. sche Religionsbücher zu verbrennen. Ich maße mir nicht an, zu der innerchrist- Wer also von Luthers »enttäuschter Liebe lichen Diskussion über Luther und die Refor- zu den Juden« spricht, verkennt den Kern der mation beizutragen. Vielmehr möchte ich Sache. Wie es die Kirche seit der Frühpha- das Thema von Luthers Verhältnis zum Ju- se ihrer Existenz getan hatte, sprach auch dentum und auf die historische Relevanz von Luther den Juden nach dem Erscheinen von Luthers Judenfeindschaft aus jüdischer Sicht Jesus die Existenzberechtigung als Juden ab. aufgreifen. Dass Martin Luther ein Antisemit Und da die Juden trotz Luthers Hoffnungen war, ist heute, glaube ich, unumstritten. Ich ihrem Glauben treu blieben, ließ er den alten weiß wohl, dass es ein populäres Zitat aus Judenhass ganz offen aufflammen. Das war seiner Schrift »Dass Jesus Christus ein ge- keine enttäuschte Liebe. Das war der Zorn borener Jude sei« gibt. Dort sagte der Refor- auf einen Unwürdigen, der sich dem Willen mator, wenn er ein Jude gewesen wäre und des Gebieters nicht beugt. Hier hat Luther die Christen gesehen hätte, so wäre er »eher also nichts reformiert, sondern das Grund- eine Sau als ein Christ« geworden. Gelegent- prinzip des christlichen Antijudaismus treff- lich wird dieses Zitat als ein Zeichen für eine lich verwendet: Den Juden wird das Recht auf freundliche Gesinnung Luthers gegenüber das Dasein abgesprochen. Das Judentum darf den Juden propagiert. In Wirklichkeit war es eben nicht geben. Luther durch und durch mit der damals vor- Die praktische Umsetzung dieses Prin- herrschenden kirchlichen Auffassung ein- zips fand im Laufe der Jahrhunderte diverse verstanden, das Judentum habe keine Exis- Formen, von der Zwangstaufe über Ghetto- tenzberechtigung. isierung – so wohnten die Juden wenigstens Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 71

nicht unter den »reinen« Christen – bis hin Jahr 2009 der damalige Präses der Evangeli- zur Vertreibung. Die Nazis zogen aus der Ab- schen Kirche im Rheinland Nikolaus Schnei- lehnung jüdischer Existenz schließlich die der formuliert: »Nach meiner festen Über- radikalste Konsequenz, die physische Ver- zeugung beschreiten Christinnen und Chris- nichtung. So ist die Shoa durchaus im Zu- ten, Kirchen und ihre Missionsgesellschaften sammenhang mit der jahrtausendelangen einen theologischen Irrweg, wenn sie im Na- Verneinung des Rechts der Juden auf Exis- men des Evangeliums versuchen, Jüdinnen tenz zu sehen. An dieser Vorläufertradition und Juden von jüdischem Glauben und jü- hat Martin Luther einen nicht unerheblichen discher Lebensgestaltung abzubringen und Anteil – und zwar nicht nur wegen des von sie zu Mitgliedern christlicher Gemeinden ihm zu seinen Lebzeiten verbreiteten Juden- zu machen.« hasses, sondern auch wegen der Wirkungs- Es wäre zu wünschen, dass diese Positi- geschichte seiner antisemitischen Lehren. on von der evangelischen Kirche noch um- Nun geht es natürlich nicht darum, das fassender vertreten wird, und zwar nicht nur Christentum als einen Vorläufer des Nazi- aus politischen, sondern eben ganz klar aus tums darzustellen, auch nicht implizit. Es theologischen Gründen. Das Reformations- gab ja auch zu Luthers Zeiten die andere Po- jahr und die Vorbereitung darauf sind eine sition – etwa bei Philipp Melanchthon oder gute Gelegenheit zu betonen, dass Juden als seinem Onkel Johannes Reuchlin. Und na- Juden die Heilsfähigkeit besitzen und dazu türlich sind die Kirchen von heute, weder die nicht erst Christen werden müssen. Eine Fes- evangelische noch die katholische, mit Blick tigung dieser Aussage in allen Bereichen und auf ihr Verhältnis zu Juden dort, wo sie vor auf allen Ebenen des evangelischen Lebens – Jahrhunderten, ja noch vor Jahrzehnten wa- das gilt natürlich auch für die katholische ren. Heute gehört die Anerkennung des Ju- Kirche – würde den jetzt schon fruchtbaren dentums zur Grundüberzeugung der Mehr- Dialog zwischen Juden und Christen weiter heiten der beiden Konfessionen. Indessen fördern und das geistige Fundament unserer ist ein historischer roter Faden des Antise- Gesellschaft stärken. mitismus, der sich durch viele Bereiche der abendländischen Geschichte zieht, auch hier nicht zu verkennen. Wenn die evangelische Kirche in Deutschland ein halbes Millennium seit Luthers Thesen feiert, sollte sie auch Lu- thers Antisemitismus als Teil ihrer Geschich- te bewusst thematisieren. Keine existenzielle Gefahr für uns heutige Juden, aber doch ein unnötiges Ärgernis sind Missionierungsver- suche, wie sie von bestimmten evangelika- len Kreisen in Deutschland betrieben wer- den. Wer Juden die Heilsfähigkeit abspricht, spricht dem Judentum letztendlich ebenfalls die Daseinsberechtigung ab. Das ist belei- digend. Selbstverständlich weiß ich, dass es in der EKD massiven Widerstand gegen die Judenmission gibt. Sehr eindeutig hat es im 72 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Ein Ereignis von inter- nationaler Relevanz Das Reformationsjubiläum 2017

Michael Kretschmer — Politik & Kultur 6/2011

Im Jahr 2017 feiern wir das Reformationsjahr. wollen wir daher gezielte Fragen stellen: Der 500. Jahrestag von Luthers Thesenan- Wie kam es zu diesem Umdenken? Welche schlag ist ein Ereignis von Weltrang. Denken Auswirkung hat die Reformation nicht nur wir allein an Chile, wo der Reformationstag auf unsere Glaubenslandschaft, unsere Bil- nationaler Feiertag ist. Oder an Südkorea, wo dung, Kultur und das soziale Leben, auf un- der Protestantismus seit Jahren einen enor- sere Sprache, Musik und Literatur? men Zulauf erfährt. Die Lutherdekade findet Egal ob man sich einer der christlichen mit Kulturveranstaltungen, Ausstellungen, Kirchen zugehörig fühlt oder nicht, die Re- Kongressen und Tagungen statt. formation um 1517 wirkt sich bis heute auf Jedes Jahr der Lutherdekade ist einem uns alle aus. Sie hat das neuzeitliche Leben Thema gewidmet, in welchem sich die Refor- und unsere Gesellschaft in Deutschland und mation widerspiegelt, sei es Bildung, Freiheit, in der Welt maßgeblich mit geprägt. Musik, Toleranz oder Politik. So erfolgt die Aufgrund dieser essentiellen Relevanz Auseinandersetzung mit der Person Luthers für unser Selbstverständnis in Deutschland und seinen Mitstreitern, wie Melanchthon haben wir uns in der CDU/CSU dafür ent- oder Calvin, auf die die Reformation zurück- schieden, einen Antrag zum Reformations- zuführen ist. Es geht aber auch um die Dar- jubiläum in den Bundestag einzubringen. stellung der vielschichtigen Auswirkung der In diesem Antrag bekennen wir uns dazu, in Reformation auf weite Teile unserer Gesell- Deutschland »die historische Bedeutung der schaft. Die Reformation steht für den Über- Reformation als gesellschaftliches, kulturel- gang vom Mittelalter zur Neuzeit und damit les und religiöses Ereignis für Deutschland, zur Freiheit. Die Person Luthers ist für uns Europa und die Welt in besonderer Form zu das Symbol der Reformation, ein Symbol für würdigen und die christliche Verwurzelung eine Zeitenwende, nicht nur in Deutschland. sowie die Beiträge des christlichen Glaubens Für weltweit über 400 Millionen Protestan- und der Kirche zur sozialen Verantwortung, ten ist Deutschland das Ursprungsland ihres zur Ausbildung moderner Grundrechte und Glaubens und Luther der große Reformator. den Grundlagen der Demokratie zu disku- Die Reformation hatte aber nicht nur Aus- tieren«. wirkungen auf die Religion. Sie hat unserer Neben dem feierlichen Gedenken und Gesellschaft eine grundlegend neue Ausrich- dem Bekenntnis zur Reformation bietet das tung gegeben. Innerhalb der Lutherdekade Jubiläum im Jahr 2017 auch eine Basis, um Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 73

einen neuzeitlichen Diskurs über die Grund- eine wichtige Rolle. In den benannten Gre- lagen unserer Kultur und unser Verhältnis zu mien zur Vorbereitung der Lutherdekade wir- anderen Kulturen zu führen. Wir wollen uns ken internationale Wissenschaftler und ka- unserer christlichen Werte bewusst werden, tholische Theologen mit. Dies ist innerhalb sie aber auch in einem neuen Kontext sehen eines religiösen Diskurses durchaus nicht und über das Verhältnis von Staat und Kirche selbstverständlich. sowie die Entwicklungen hin zu einer säku- Das Verhältnis von Kirche und Staat und laren Welt diskutieren. die Ökumene sind immer noch hoch sensible Die Ganzheitlichkeit der Reformation be- Themen. Das sehen wir aktuell an den Dis- dingt die politische Verantwortung des Bun- kussionen zum Papstbesuch in Deutschland. des, sich an der Ausgestaltung der Luther- Die Kritik an seiner Rede im Bundestag oder dekade und des Reformationsjubiläums zu die Äußerungen zu angeblichen »Machtan- beteiligen. Bereits seit einigen Jahren stellt sprüchen« des Papstes vor seinem Treffen der Bund jedes Jahr knapp eine Million Euro mit der Spitze der Evangelischen Kirche in zum Unterhalt der Luthergedenkstätten be- Deutschland sprechen eine sehr deutliche reit und beteiligt sich zudem an deren Sanie- Sprache. rungen. Mit den fünf Millionen Euro, die in Wir möchten daher mit Konferenzen, diesem Jahr im Haushalt des Beauftragten Ausstellungen und öffentlichen Dialogen der Bundesregierung für Kultur und Medien zu mehr Offenheit und gegenseitigem Ver- eingestellt wurden, fördern wir darüber hi- ständnis beitragen. Deutschland steht beim naus gezielt Kulturprojekte zum Reformati- Reformationsjubiläum im Mittelpunkt der onsjubiläum. Diese Förderung wollen wir bis internationalen Vernetzung. Umso wichtiger zum Jahr 2017 fortschreiben. Angesichts der ist es, dass es uns in den kommenden Jahren strikten Sparvorgaben der Haushalte ist das gelingt, den Funken der Begeisterung und ein starkes Bekenntnis der Politik zur Bedeu- das Verständnis für unsere Kultur hinaus- tung der Reformation. zutragen. Die Reformation betrifft Christen Neben der rein finanziellen Beteiligung und Nichtchristen gleichermaßen. Nicht nur wirkt der Bund mit Vertretern von Politik und in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Kirchen sowie Wissenschaftlern auch in den zur Vorbereitung der Lutherdekade geschaf- fenen Gremien, dem Kuratorium und Len- kungsausschuss, mit. Ziel ist es, einen mög- lichst breiten gesellschaftlichen Dialog zu führen. Wir wollen, dass sich die Menschen weltweit zu diesem Dialog eingeladen fühlen und ihr Interesse geweckt wird, Deutschland als die Urstätte ihres Glaubens zu besuchen. Darüber hinaus bietet dieses Ereignis die Möglichkeit, ökumenische Kontakte weiter zu vertiefen und die interreligiöse Debatte zu intensivieren. Die Internationalität und der interreligiö- se Dialog spielten daher bei der Vorbereitung des Reformationsjubiläums von Beginn an 74 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Eingeübte Regelmäßigkeit und feste Rituale Was bedeutete das Gebet für Martin Luther in seinem Glaubensleben?

Cornelia Kulawik — Politik & Kultur 2/ 2014

Martin Luther erlebte die Frömmigkeit sei- Luther das weltliche Leben theologisch stark ner Zeit vielfach als eine erschreckend ver- auf. Arbeit ist Gottesdienst. Er zitiert hierfür äußerlichte Frömmigkeit. Er bezieht sich in den Kirchenvater Hieronymus: »Alle Werke diesem Zusammenhang öfter auf einen Ab- der Gläubigen sind Gebet«, und wiederholt schnitt aus der Bergpredigt: »Wenn ihr be- das Sprichwort: »Wer treulich arbeitet, der tet«, so Jesus, »sollt ihr nicht sein wie die betet zwiefaltig«. Das heißt, hier ist theolo- Heuchler«. Viele Gebete, viele Rituale und gisch angelegt, was für den Protestantismus sakramentale Handlungen waren nach sei- so typisch werden wird: Um Christ zu sein, ner Wahrnehmung entleert, weil sie nicht bedarf es nicht des Kirchganges. Sondern aus dem Glauben heraus ihre Kraft be- oft unausgesprochen schwingt der Verdacht zogen, sondern eher eine Angst dahin- mit, es handele sich hier doch nur um veräu- ter stand, man wurde ohne diese »Wer- ßerlichte Rituale. Es komme vielmehr darauf ke«, wie Luther es nennt, das Heil verlie- an, was innerlich geglaubt wird. Doch Luther ren, keine Vergebung der Sünden erhalten würde stark verkürzt werden, wenn nur dies und aus dem Stand der Gnade herausfallen. in den Blick käme: Denn der Gegenpol zu Vor diesem Hintergrund betont er den Glau- diesem äußerlich eher unauffälligen, ganz ben als das alles Entscheidende. Christliches normalen weltlichen Leben eines Christen Leben lässt sich nicht aufspalten: zum ei- ist für Luther das Gebet. Hier gewinnt er sei- nen in ein weltliches Tun, zum anderen in ne Kraft. Ein Christ lebe zwar immer im Geist ein geistliches Leben. Vielmehr umfasst der des Gebets, trotzdem solle auch das äußer- Glaube den ganzen Menschen, all sein Tun liche, mündliche Gebet nicht verstummen. und Lassen. Der Christenmensch, so Luther, Er geht dabei von einer Grunderfahrung aus, ist vor Gott gerecht und das heißt, er muss die auch heute recht gut nachvollzogen wer- nicht ständig um sein Heil bangen. Er weiß den kann. Es scheint ein recht moderner Ge- es mit Tod und Teufel aufzunehmen, bei all danke: Das Beten fällt uns nicht von selbst seinem Tun ist er sich der Gegenwart Gottes zu. Viele spüren nicht automatisch das Be- gewiss. Er begeht keine groben Untaten, aber dürfnis, regelmäßig zu beten. Sondern wir ansonsten lebt er wie jeder andere. Nicht da- brauchen als Menschen hierfür äußere Hil- durch werde ich Christ, dass ich dies oder je- festellungen, feste Zeiten, Rituale. Das heißt, nes tue, sondern weil mir Christus geboren in seiner kritischen Ablehnung aller veräu- und gegeben ist, schreibt er. Damit wertet ßerlichten Frömmigkeit schlägt er jetzt nicht Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 75

zur anderen Seite aus und meint, es müsse Spannung nachzugehen. Denn entleerte Ri- jetzt immer alles aus innerster Regung und tuale halten bis heute viele ab, in den institu- aus freier Initiative geschehen. Sondern er tionalisierten Kirchen auch nur irgendetwas tritt einer Selbstüberforderung entgegen, in- für den eigenen Glauben zu suchen. Zum an- dem eben nicht ständig hinterfragt werden deren können und sollen die Kirchen Raum muss, ob das Gebet auch wirklich ganz aus bieten, äußere Hilfestellungen und feste Zei- einem selbst komme. Vielmehr bedarf es ei- ten zum Gebet. ner eingeübten Regelmäßigkeit des Betens und dabei können vorgegebene Texte eine große Hilfe sein. So gibt es einen ausführlichen Brief, den Luther an seinen Freund schreibt, es ist zu- gleich sein Barbier, zu dem er offensichtlich regelmäßig geht. »Wie man beten soll. Für Meister Peter, Barbier«, so ist dieser Brief überschrieben. Und hier beschreibt Luther sehr anschaulich, wie er öfter »durch fern- liegende Geschäfte oder Gedanken kalt und unlustig zum Beten« geworden ist. Und dann hält er sich an äußeren Dingen fest. »Ich nehme mein Psalmbüchlein, laufe in die Kammer oder, wenn Tag oder Zeit dazu ge- eignet ist, in die Kirche unter die Leute und fange an, die zehn Gebote, das Glaubensbe- kenntnis und, je nachdem ich Zeit habe, eini- ge Sprüche von Christus, von Paulus oder aus dem Psalmen bei mir selbst mündlich herzu- sagen, gerade so, wie es die Kinder machen. Darum ist’s gut, dass man am frühen Mor- gen das Gebet das erste und am Abend das letzte Werk sein lasst; man hüte sich dabei fleißig vor jenen falschen, trügerischen Ge- danken, die sagen: Warte noch ein wenig; in einer Stunde will ich beten, ich muss vorher noch dies oder das erledigen. Denn mit sol- chen Gedanken kommt man vom Gebet weg in die Geschäfte hinein, die halten und um- fangen einen dann, so dass aus dem Gebet an diesem Tage nichts mehr wird«. Zum einen die Ablehnung Luthers von veräußerlichten Ritualen, zum anderen seine Einsicht in die Notwendigkeit fester Zeiten und Texte als Hilfe für die eigene Glaubenspraxis: Das Re- formationsjubiläum bietet die Chance dieser 76 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Mut und Gewissensbindung Was Luthers Fähigkeit, sich trotz aller Gefahr für seine Überzeugungen einzu­ setzen, uns heute noch sagen kann

Sabine Kunst — Politik & Kultur 3/ 2015

Jedes Ding hat seine Zeit, und auch jeder Luthers Mut kann nicht beschrieben werden, Mensch hat seine Zeit. Ist das Leben vorü- ohne zugleich die starke Gewissensbindung ber, erinnern sich seine Zeitgenossen noch in den Blick zu nehmen, die er zur Grundlage einige Zeit an ihn, und dann irgendwann seines Handelns gemacht hat. Er hat es sich gerät er in Vergessenheit. Andere hingegen nicht leicht gemacht, sondern lange Zeit in- bleiben noch Jahrhunderte lang im Gedächt- tensiv mit sich gerungen. Nachdem ihm sein nis der Nachwelt und prägen das Leben ihrer Gewissen aber die Überzeugung vermittelt Nachfahren. Ein solcher Mensch war Mar- hatte, dass er nicht länger schweigen durfte, tin Luther, dessen Wirken weit über seinen ist er ihm gefolgt. Auch uns gebietet unser Tod hinaus bis heute Auswirkungen entfaltet. Gewissen, ethischen Grundsätzen zu folgen Für mich ist bis in die Gegenwart beson- und etwa für Frieden, Gerechtigkeit und die ders Martin Luthers unbändige Tatkraft be- Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Was eindruckend. Gerade in den ersten Jahren wir im Einzelnen damit verfolgen, müssen seines Wirkens stand er nahezu ganz für sich wir sorgfältig prüfen. Wir sollten es uns nicht allein. Viele Mächtige lehnten seine Mah- zu leicht machen und vorschnellen Parolen nungen ab. Die kirchlichen Autoritäten, de- Vertrauen schenken. Gut und böse, richtig nen Luther sich aufgrund seiner ganzen Prä- und falsch, ethisch und verwerflich sind gung verpflichtet sah, und scheinbar auch die nicht immer leicht voneinander abzugren- anderthalb Jahrtausende umfassende kirch- zen. Es bedarf mitunter großer Unterschei- liche Tradition schienen Luthers Erkennt- dungskraft, um das Richtige vom Falschen zu nisse zu widerlegen. Es braucht Mut, um in trennen und den Irrtum zu vermeiden. Wir dieser Lage die Selbstzweifel zu überwinden können mit unseren Überzeugungen gegen und für die Wahrheit einzutreten. Was es be- unsere Mitmenschen stehen und von Selbst- deutet, unter Gefahr nicht nur für die soziale, zweifeln befallen werden. Eine aufrichtige, sondern für die physische Existenz dennoch intensive Prüfung unseres eigenen Gewis- das für Recht erkannte gegen eine schein- sens kann dann helfen, diese Last von uns bar übermächtige Front von Gegnern zu ver- zu nehmen. In der Bibel, im Ersten Korin- treten, können wir uns kaum mehr vorstel- therbrief heißt es: Ein jeder aber prüfe sich len. Unser Leben ist nicht in Gefahr, wenn selbst. Es lohnt sich, das auch heute wieder wir zum Mainstream konträre Auffassungen ins Bewusstsein zu rufen. Wir alle sind auf- vertreten. gerufen, uns immer wieder selbst zu prüfen, Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 77

ob wir unsere Entscheidungen aus egoisti- schen Motiven oder unter Bindung an Ge- meinschaftswerte treffen. Das Wirken Martin Luthers hat ‒ unge- achtet vieler für uns nicht mehr nachvoll- ziehbarer Positionen, wie seiner Ablehnung der jüdischen Religion und der sozialen Be- freiungsbewegungen seiner Zeit ‒ auch heu- te noch große Aktualität. Der Reformator hat das Verständnis dafür geweckt, dass jeder einzelne Mensch ungeachtet seines Standes wertvoll ist. Jede Tätigkeit sah er als gleich- wertig an und stellte fest: »darin ist die Gän- semagd dem König gleich, dass sie einen Be- ruf von Gott hat«. Der Mensch hat einen Auftrag, in dieser Welt zu wirken. Der Mensch soll sich nicht zurücklehnen und sein Leben dem Schicksal überlassen, sondern er soll sich für eigene Belange und für diejenigen seiner Mitmen- schen und der Gesellschaft engagieren. Nicht passive Schicksalsergebenheit, sondern ak- tives Engagement ist gefragt. Dies gilt heute so wie damals. 78 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Luther in der Welt heute sehen Das Reformationsjubiläum 2017 als einzigartige Chance

Hartmut Lehmann — Politik & Kultur 6/ 2013

Bei den seit dem Jahr 2008 mit viel Aufwand mation zu holen. Es ging, wie wir aus den betriebenen Vorbereitungen für das Refor- Akten der seinerzeit in Ostberlin verant- mationsjubiläum 2017 spielen, so scheint es, wortlichen Gremien wissen, Honecker und drei verschiedene Konzepte eine besonde- Genossen freilich nicht primär um die Ideen re Rolle. Das sind erstens die Planungen für des Rom gegenüber widerborstigen Theolo- Reisen zu den zentralen Orten der Reforma- gieprofessors aus Wittenberg, sondern um tion, konkret: an die Wirkungsstätten von Devisen, um möglichst viel Devisen in harter Martin Luther. Das ist zweitens die Heraus- Währung. Mich stimmt es deshalb nachdenk- arbeitung des besonderen protestantischen lich, wenn im Hinblick auf 2017 erneut immer Profils in Zeiten einer progressiven Säkula- wieder von den Luthertouristen die Rede ist, risierung. Und das ist drittens der vor allem die der maroden Wirtschaft in Lutherländern von Politikern mit Verve vorgetragene Hin- wie Sachsen-Anhalt neuen Schwung verlei- weis darauf, dass die Reformation ihren Ur- hen sollen. Nichts dagegen, dass Bund und sprung in Deutschland hatte: 1517 also als Länder Millionen ausgeben, damit die Lu- der große weltgeschichtliche Moment der therstätten 2017 glänzend präsentiert wer- Deutschen. den können. Die Ankurbelung des Tourismus Das erste Konzept könnte man als die Or- kann jedoch nicht der eigentliche Sinn des ganisation von Wallfahrten oder von Pilger- Jubiläums 2017 sein, auch wenn diesen Tou- reisen ins Lutherland bezeichnen, das zwei- risten, wie neuerdings zu lesen ist, mit dem te, die Suche nach einem unverkennbaren Bau einer provisorischen Kathedrale in Wit- protestantischen Profil, als eine Art kon- tenberg ein besonderes spirituelles Erlebnis fessionelle Selbstvergewisserung, das drit- vermittelt werden soll. te schließlich als Ausdruck von nationalem Das zweite Konzept erinnert mich an Stolz. Alle drei Konzepte sind, so ist hinzu- das erste große Lutherjubiläum, das gefei- zufügen, nicht besonders originell. Erinnern ert wurde, an 1617 Im unmittelbaren Vorfeld wir uns beispielsweise an den 500 Geburts- des Dreißigjährigen Krieges, im Frühjahr 1617 tag von Martin Luther im Jahre 1983 Damals als die konfessionellen Spannungen sich be- versuchte die Regierung der DDR mit gro- reits zu gefährlichen machtpolitischen Kon- ßem Aufwand, möglichst viele Touristen an frontationen steigerten, machten reformier- die mit nicht unerheblichen Mitteln restau- te Theologen und Politiker aus der Kurpfalz rierten originalen Schauplätze der Refor- den Vorschlag, die Erinnerung an die 100. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 79

Wiederkehr des Beginns der Auseinander- über die finanzielle Unterstützung der Vor- setzungen Luthers mit dem Papsttum im bereitungen auf 2017 von fast allen Rednern Herbst des gleichen Jahres förmlich zu fei- mit Nachdruck betont wurde, es gelte im ern. Lutherische Politiker und Theologen aus Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik nach- Kursachsen griffen diesen Vorschlag ohne drücklich zu betonen, dass die Reformation Zögern auf. Aus den Predigten, die im Herbst ihren Ursprung in Deutschland hatte, fühlt des Jahres 1617 gehalten wurden, spricht kon- man sich unwillkürlich an das Lutherjubilä- fessioneller Stolz. Es sind, von wenigen Aus- um von 1883 erinnert. Luther hätte den Weg nahmen abgesehen, Abgrenzungspredigten zur deutschen Einigung unter preußischer gegenüber dem seit dem Tridentinum wieder Führung gebahnt und somit zur politischen erstarkten Katholizismus. Im Rückblick steht Größe des Deutschen Reichs, wurde damals das Jubiläum von 1617 deshalb für eine wei- in tausenden Reden und Schriften verkün- tere Verschärfung der konfessionellen Kon- det; Bismarck sei der kongeniale Nachfolger flikte. Speziell in der Kurpfalz, die bei der Luthers; nur die Deutschen seien in der Lage, Auslösung des Dreißigjährigen Krieges eine Luther richtig zu verstehen, so der Historiker unglückliche Rolle spielte, schlug die Rück- Heinrich von Treitschke, dessen Lutherrede besinnung auf 1617 um in protestantischen zum Bestseller wurde. Nur mit banger Sor- Triumphalismus. ge kann man im Rückblick diese selbstbe- Kaum nötig anzufügen, dass die heutige wussten und zugleich naiven Formulierun- konfessionelle Landschaft anders ist. Aber gen lesen. Denn je mehr die Deutschen da- auch heute ist der Schritt von einer durch- mals »ihren« Luther lobten, desto suspekter aus sinnvollen protestantischen Selbstver- wurde dessen Erbe den Angehörigen ande- gewisserung hin zu einem selbstbezogenen rer Nationen und anderer Kulturen. Und je Triumphalismus nicht sehr weit. In dem Pro- blinder die damaligen Deutschen sich unter gramm, das die Reformationsbeauftragten Berufung auf Luther selbst in ein besonders der Universitäten Halle, Jena und Leipzig im günstiges Licht zu rücken versuchten, desto vorigen Jahr für eine Tagung im August des weniger waren sie in der Lage, die kulturellen Jahres 2017 vorgelegt haben, werden z. B. als Leistungen anderer Nationen zu würdigen. »protestantische Paradigmen« folgende Be- Was also tun, um 2017 diese Gefahren zu griffe genannt: Bildungsaffinität, Individua- vermeiden? Gibt es denn keine andere Art lität und Modernität, Selbstreflexivität und und Weise, 2017 an 1517 zu erinnern? Lassen Rationalität sowie Toleranz und Bekennt- Sie mich drei alternative Szenarien knapp nis. Es geht den Autoren dieses Programms skizzieren. offensichtlich darum, 2017 eine besonders Eine erste Möglichkeit bestünde darin, die positive Bilanz des Protestantismus zu prä- Erinnerung an den Beginn der Reformation sentieren. Grautöne fehlen. Ebenso wichtig zusammen mit allen Mitgliedern der großen wäre es, so meine ich, darüber nachzuden- lutherischen Weltfamilie zu feiern. Erinnern ken, welche Rolle der Antikatholizismus und wir uns: Am Beginn des 21. Jahrhunderts lebt der Antisemitismus in der protestantischen die Mehrzahl der aktiven Lutheraner nicht Tradition gespielt haben. mehr in Deutschland, auch nicht mehr in Auch das dritte Stichwort, das die Dis- Norwegen, Schweden, Dänemark und Finn- kussion im Hinblick auf das Reformations- land, sondern in Ländern wie Namibia, Tan- jubiläum beherrscht, ist nicht eigentlich neu. sania, Nigeria, Madagaskar, Äthiopien, Brasi- Wenn etwa 2011 in der Bundestagsdebatte lien, Chile, Kanada und den Vereinigten Staa- 80 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

ten. Gerade außerhalb von Europa sind viele christliche Tradition noch etwas bedeutet, lutherische Gemeinden derzeit lebendiger näher zusammenrücken. Das Jubiläum 2017 und vitaler als in den traditionell protestan- bietet dazu eine einzigartige Chance. tischen Ländern. Dort wächst das Luthertum, Ausgehend von der gemeinsamen Erklä- während es hier schrumpft. rung des Einheitsrates der Katholischen Kir- Von gemeinsamen Feiern zwischen luthe- che und des Lutherischen Weltbundes, die rischen Gemeinden in Deutschland und Eu- vor kurzem unter dem Titel »Vom Konflikt ropa auf der einen und lutherischen Gemein- zur Gemeinschaft. Gemeinsames luthe- den in außereuropäischen Ländern könnten risch-katholisches Reformationsgedenken spannende Impulse ausgehen. Nicht mehr im Jahr 2017« erschienen ist, könnte das 2017 Wittenberg und Berlin stünden im Zentrum; anstehende Jubiläum schließlich dazu be- gefeiert würde vielmehr an vielen Orten. nützt werden, die immer noch bestehende Nicht mehr die deutschen Lutheraner bean- Kluft zwischen den beiden großen Kirchen spruchten die Initiative, geradezu das Mono- ein Stück weiter zu schließen. Als Vorberei- pol, in Sachen Lutherfeiern. Gefeiert würde tung auf 2017 könnten lokale Projekte zur vielmehr von allen, die in Luthers Tradition Aufarbeitung der konfessionellen Konflikt- stehen. Lutheraner der unterschiedlichsten geschichte lanciert werden. Beispielsweise Couleur würden sich kennenlernen. Die Welt könnten katholische und protestantische könnte staunend zur Kenntnis nehmen, wie Jugendliche konfessionsverschiedene Ehe- reich, wie bunt und wie vital das Luthertum paare befragen, mit welchen Problemen sie am Beginn des 21. Jahrhunderts ist. Des Wei- in ihrer Ehe aufgrund der Konfessionsdiffe- teren wäre es möglich, in den kommenden renz im Laufe der Jahre konfrontiert waren, zwei, drei Jahren auf die unterschiedlichen beginnend mit der Eheschließung und wei- Kirchen, Richtungen und Gruppierungen, die ter bei der Taufe und Erziehung der Kinder. aus der von Martin Luther angestoßenen Re- Außerdem würde es sich lohnen, sich erneut formbewegung hervorgegangen sind, zuzu- mit der Theologie des Augustinermönchs Lu- gehen und zu überlegen, wie 2017 die Erinne- ther im Herbst des Jahres 1517 zu beschäfti- rung an die Reformation gemeinsam gefeiert gen. Die interkonfessionelle Interpretation werden kann. Ich denke dabei nicht nur an der 95 Thesen, die in Vorbereitung ist, böte die Reformierten, die bereits ihr Interesse dafür ein gutes Fundament. Staunend könn- am Jubiläum von 2017 sehr deutlich artiku- te man erfahren, dass der Luther der 95 The- liert haben, sondern auch an die Baptisten, sen beiden großen Kirchen »gehört«: Er hatte die Methodisten, die Adventisten und alle sich auf die Suche nach einer neuen Theolo- anderen. Viele dieser Kirchen haben in den gie gemacht und war somit Reformator; zu- Städten und Dörfern unseres Landes ihre ei- gleich war er aber noch sehr bewusst und en- genen Gemeinden. Deshalb wäre es möglich, gagiert ein Mitglied seiner alten Kirche, eben für 2017 lokale Veranstaltungen mit allen ein Reformkatholik. protestantischen Geschwistern zu organisie- ren, die einen je unterschiedlichen Schwer- punkt haben könnten. In solchen Begegnun- gen könnte ein besonderer Reiz liegen. Denn in einer Zeit der progressiven Säkularisie- rung und der extremen Fragmentierung des Christentums sollten diejenigen, denen die Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 81

Luther 2017 – eine ökumenische Chance

Volker Leppin — Politik & Kultur 1/2010

Wie einfach waren Reformationsfeiern frü- Erfolg getan. Er hat mit Macht den Gedan- her: Protestanten konnten fröhlich feiern, ken Augustins ins Gedächtnis gerufen, dass taten dies manchmal auch im Namen der der Mensch sein Heil allein der Gnade Got- ganzen Nation – und die Katholiken schau- tes verdankt. Dass dies auch für die römisch- ten bestenfalls zu, schlimmstenfalls reagier- katholische Seite auf neue Weise in den Mit- ten sie polemisch. So einfach ist dies im 21. telpunkt gerückt ist, ist auch Luther zu ver- Jahrhundert nicht mehr. Zu den größten danken. Darüber braucht man die bleibenden Errungenschaften des vergangenen Jahr- Unterschiede gar nicht zu verwischen. Der hunderts gehört die Entwicklung der Öku- wichtigste unter ihnen ist, dass für das evan- menischen Bewegung, die Christinnen und gelische Bekenntnis der Mensch diese Gnade Christen unterschiedlichster Herkunft ins Gottes allein durch den Glauben erlangt und gemeinsame Gespräch gebracht hat. Auch zu keinem darüber hinausgehenden Handeln wenn die gesteckten Ziele einer Einigung genötigt ist. lange nicht erreicht sind, auch wenn man- Wer diese Perspektive einnimmt, kann cher eine »Ökumenische Eiszeit« zu regist- die Reformation entspannter sehen, als es rieren meint – hier handelt es sich allenfalls in mancher konfessioneller Engführung hier um eine »Kleine Eiszeit«. Denn das Niveau, oder dort geschieht: Sie ist dann weder ein- auf dem man klagen darf, ist hoch. fach die Zerstörung der einen Kirche durch Freilich: Man klagt. Während die einen die Kirchenspaltung noch der emphatisch zu 2017 allzu laut jubilieren wollen, treten die bejubelnde Beginn der Neuzeit. Über beides anderen auf die Begeisterungsbremse und ist die historisch nüchterne Forschung längst sprechen statt von einem Reformationsju- hinweg: Luthers neue Theologie war nicht biläum lieber von einem bloßen Gedächtnis der einzige Ursprung aller neuzeitlichen Ent- – als gäbe es an Luther und der Reformation wicklungen, und sie war auch nicht mit ei- nur für die evangelische Seite etwas zu feiern. nem Mal »da«, hat nicht mit einem Schlag Tatsächlich ging die Wirkung der Refor- das Mittelalter beendet. Luther musste lange mation weit über die Bildung der modernen ringen, hat sich über Jahre hinweg innerhalb evangelischen Konfessionen hinaus, und der spätmittelalterlichen Frömmigkeit be- musste dies, weil das Anliegen Luthers ein wegt und noch als reifer Reformator den An- zutiefst gemeinchristliches war: Er wollte an fang nicht nur bei sich und seiner reforma- das Evangelium erinnern, und hat dies mit torischen Entdeckung gesucht, sondern bei 82 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

seinem geistlichen Vater Johannes Staupitz, erfolgenden Prozess. Dieses Geschehen ist der mit der päpstlichen Kirche nie gebrochen mit einfachen Gegensätzen von »neu« und hat: »Staupicius hat die doctrinam angefan- »alt« schwer zu fassen – entscheidend ist die gen«, sagt er noch im Frühjahr 1533. So lässt Wandlung, die Transformation, die sowohl sich sein neues Verständnis des Verhältnis- die evangelische Frömmigkeit hervorbrach- ses von Gott und Mensch nicht als radikaler te als auch die moderne römisch-katholische Bruch verstehen, sondern als eine allmähli- Frömmigkeit, die mit der mittelalterlichen che Transformation von Gedanken, wie er sie nicht einfach identisch ist. Mancher fürch- in der Frömmigkeitstheologie und vor allem tet, wenn man in dieser Weise in der Deutung der Mystik des späten Mittelalters vorgefun- der Reformation von kleinen Schritten statt den hat. Diese Transformation folgte eige- von großen Schnitten spricht, würden alle nen Entdeckungen, manchmal halfen ihm Katzen grau, mancher hätte es lieber in dem gegnerische Angriffe zur Klärung, manchmal einem Jubiläum angemesseneren Schwarz- brachten ihn auch Freunde und Gefährten Weiß – aber vielleicht kann man sich we- auf weitere Formulierungen. nigstens darauf verständigen: So wird das Dass aus diesen theologischen Gedanken Bild bunter. Geschichte wurde, verdankte sich einerseits Und wo ein Bild bunter wird, kann auch einer Zuspitzung durch Luther selbst, ande- die Auseinandersetzung damit in der Gegen­ rerseits einer glücklichen Konstellation: 1520 wart bunter, und vor allem differenzierter trat der Reformator mit dem Gedanken an werden. Das gezeichnete Bild macht es für die Öffentlichkeit, dass jeder Glaubende ein die katholische Seite möglich, nachzuvollzie- Priester sei und hebelte so die kirchenrecht- hen, wie sie selbst auch dank der Reformati- liche Unterscheidung von Klerikern und Lai- on wurde, was sie ist. Und die evangelische en aus. Dass nicht allein die Weihe den Pries- Seite mag stärker nachempfinden, welche ter macht – auch dies konnte er schon bei Abwägungen und Entscheidungen im Ein- Mystikern des 14. Jahrhunderts lesen. Nun zelnen nicht nur zur evangelischen Kirche aber radikalisierte er deren Gedanken: Auch geführt haben, sondern auch dazu, dass eine durch besondere Frömmigkeit bin ich nicht Kirche unter dem Papst erhalten blieb. Dann Priester, sondern allein durch die Taufe. Und haben beide Seiten Gründe des Nachdenkens er richtete dies als Begründung und Appell und der Freude – und können, bei allen er- an die Adeligen, denen er damit das Recht haltenen Unterschieden, das Jahr 2017 auch zur Kirchenveränderung zusprach und zu- als eine Chance nutzen, neue Schritte der gleich ein Programm vorstellte, das in vie- ökumenischen Verständigung zu gehen. lem an Reformvorschläge des 15. Jahrhun- derts anknüpfte. So bündelten sich Theolo- gie und Reform, und Fürsten hatten einen Grund, sich an die Umsetzung zu machen – eine Umsetzung, die das Selbstverständ- nis des Römischen Reiches nachhaltig än- dern sollte, und an deren Ende die Vielfalt der Konfessionen stand. Die Entwicklung erfolgte Stück für Stück, in einem in der Rückschau immer noch ra- santen, im Einzelnen aber kontinuierlich Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 83

Das Lob der Anfechtung

Athina Lexutt — Politik & Kultur 4/2012

»Mögen die Menschen in aller Welt von mir Als Misslungenes unter dem Deckmantel sagen, was sie wollen – weiß ich doch, wie des Schweigens verborgen. Im 16. Jahrhun- übel von der Anfechtung auch die ärgsten dert hat es jemand gewagt. Er hat ein Lob Angefochtenen reden –, es bleibt dabei: Mir, auf die Anfechtung gesungen, hat sich ge- ja mir allein und meiner Kraft haben es die gen die Tyrannei des Gelingens gestemmt, Menschen zu danken, wenn sie im Glauben hat ihnen allen einen Ort gegeben: dem gna- und durch den Glauben leben.« So hätte denlosen Weiterfragen, der Klage, dem Lei- Erasmus von Rotterdam seine ersten Sätze den, der Trauer, der Ohnmacht des Glaubens. formuliert, wenn er 1509 nicht das »Lob der Im 16. Jahrhundert hat es jemand gewagt. Ei- Torheit«, sondern das Lob der Anfechtung ner, den man in erinnerungskulturellem und geschrieben hätte. denkmalgesättigtem Bewusstsein auf Sockel Aber hätte er das wirklich getan? Die An- aller Art hebt und mit vielem in Verbindung fechtung ein Loblied auf sich selbst singen bringt. Nur nicht mit Scheitern, Misslingen, lassen? Sie über all diejenigen Spott ausgie- Schwäche. Im 16. Jahrhundert hat es jemand ßen lassen, die sich gegen sie auflehnen und gegen alle Trends und allen Zeitgeist gewagt: sie wegdiskutieren wollen? Wohl kaum. Denn Martin Luther. »Anfechtung« passte nicht zu einem Zeit- Was wäre nicht alles zu Luther zu sagen geist, der in satter Fortschrittsfröhlichkeit (und wird gesagt angesichts des nahenden mit frecher Attitüde dem Althergebrachten Reformationsjubiläums): seine Sprachkraft, die Schminke aus den Runzeln kratzte, so seine exegetische Erkenntnis, seine Bedeu- dass alles darunter sichtbar wurde, was man tung für die Bildung und für die Bestimmung mühsam zu verdecken suchte. Die Anfech- des Verhältnisses von Politik und Religion, tung passte ins 16. Jahrhundert so wenig wie seine neue Rede von Gewissensfreiheit, sei- in unseres. Sie gehört auf die Liste der vom ne Liebe zum Leben, seine Einsichten in das, Aussterben bedrohten Wörter, weil von An- was der Mensch wirklich ist – all dies und fechtung sich niemand mehr angefochten vieles mehr macht Luther zu einer großen wissen will. Anfechtung hat mit lebendiger europäischen Gestalt, der nachzudenken al- Kultur und kreativer Politik nichts zu tun. Ein lemal wert ist. Seine tiefen Grundeinsichten Lob der Anfechtung heute zu schreiben fie- in die Strukturen eines Menschseins, das sich le wohl niemandem ein. Sie gehört als Ne- als Gott und dem Nächsten gegenüber in Ver- gatives überwunden. Als Schwäche besiegt. antwortung stehend begreift, sind auch viel- 84 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

leicht gerade heute noch anregend. Selbst Anfechtung! Anfechtung? Muss denn nicht dort, wo es die Konsequenzen, die er aus die- der Theologe, zumal dann, wenn er profes- sen Grundeinsichten für seine Zeit gezogen sionell Theologie betreibt, ein Ausbund an hat, nicht mehr sind. Luther ist (ohne zu ver- Sicherheit sein? Einer, der sich durch nichts kennen, dass er auch Schattenseiten aufzu- in Zweifel bringen lässt? Einer, der immer weisen hat!) in vieler Hinsicht der »Gigant« eine Antwort auf alles hat? Dem man in Kri- und der »große Deutsche«, als den ihn uns senzeiten das Mikrofon unter die Nase hält, die Medien schon lange und unermüdlich damit wenigstens der uns die uns sinnlos – mit Verzeichnungen und Auslassungen – erscheinenden Widerfahrnisse sinnvoll re- präsentieren. Aber er ist auch der, der sich den kann? Der Sünde, Tod und Teufel und fragend, klagend und zweifelnd, ja verzwei- seine Gesellen und Gesellinnen niederpre- felnd in seiner Klosterzelle hin- und herge- digt und wegdiskutiert? Und der uns schließ- worfen hat. Der rasend und wütend gegen lich die schöne, neue Welt verheißt und uns sich und andere mehr Tintenfässer auf den das Paradies auf Erden malt? So einer, sagt Teufel geschleudert hat, als es sich Legen- Luther, so einer wäre kein rechter Theolo- den je hätten ausdenken können. Er ist auch ge. Denn der hätte vom Kreuz Jesu Christi der, der als Seelsorger genau um die quälen- nichts begriffen. Der hätte nichts begriffen den und das Innerste zerwühlenden Gedan- von dem, was Menschen umtreibt. Und was ken der ihm Anvertrauten wusste, die in Sor- Gott zu dem macht, was er für die Menschen gen und Ängsten gefangen waren. Luther sein will: Retter und Erlöser. Wenn ich al- ist auch der, der niemals vergessen hat, was les selbst machen kann, wenn ich mir in den ihn selbst in die Theologie hineingetrieben Fitnessstudios der Macht und der Schönheit und dort immer wieder, Zeit seines Lebens, und der Sicherheit die Muskeln antrainie- zwang, eine Spannung auszuhalten. Diese ren kann, mit denen ich alles, wirklich al- Spannung hat er als Grundgerüst menschli- les im Leben stemmen werde – wozu dann cher Erfahrung erkannt und ihr schließlich Christus? Wozu überhaupt ein Gott? Wozu eine Sprache verliehen, die eben darum von ein Gott, der uns Menschen immer wieder einer unvergleichlichen Lebenstauglichkeit entgegenkommt, ja regelrecht hinterherläuft, und Lebendigkeit ist. Der große Reformator weil er nicht will, dass wir wie die Lemminge ist auch der, der dafür eine Pointe gefunden einer nach dem anderen leeren Versprechun- hat, die ihresgleichen in der deutschen Geis- gen in den Tod hinterher springen? Wozu? tesgeschichte niemals mehr erreicht hat, in- Luther beschreibt Gott als einen, der in Je- dem er formulierte: »Uber das wil ich dir an- sus Christus Mensch ist. Der selbst weiß, was zeigen eine rechte weise in der Theologia zu es heißt zu zweifeln, zu fragen, Versuchun- studirn … Oratio, Meditatio, Tentatio« (WA gen ausgesetzt zu sein, auf Unverständnis zu 50, 658/29-659/4). Gebet (oratio), intensi- stoßen, gegen Arroganz und Machtgeilheit, ves und affektives Umgehen mit Gottes zu- gegen Intoleranz und Verbohrtheit, gegen sagendem Wort (meditatio) und schließlich Dummheit und Falschheit, gegen Gleichgül- die Anfechtung (tentatio) machen, so Luther, tigkeit und Resignation, gegen Lüge und Tod einen Theologen zum Theologen im wissen- zu kämpfen. Luther beschreibt Gott als ei- schaftlichen Diskurs. Nicht fromme Werke. nen, der die Menschen so sehr liebt, dass er Nicht durch Promotion, Vocatio oder Ordi- sie niemals loslässt. Auch und gerade dann nation erworbene Etiketten. Sondern Gebet, nicht, wenn sie gegen ihn rebellieren, wenn Meditation und Anfechtung. sie ihn foltern und ans Kreuz schlagen. Lu- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 85

ther beschreibt Gott als einen, der um die Anfechtungen weiß und dem Menschen die Hand reicht, damit der in seinen Anfechtun- gen nicht verloren ist und nicht untergeht. Die rechte Theologie erkennt und erfährt und lebt genau dies. Die rechte Theologie wird darum eine solche sein, die weder im Chefsessel überheblicher Selbstsicherheit noch im Schaukelstuhl frommer Selbstge- nügsamkeit ein Pantoffelchristentum pfle- gen wird. Und die umgekehrt auch nicht in Panzern aggressiver Besserwisserei alles nie- derwalzen wird, was sich ihr in den Weg zu stellen wagt. Die rechte Theologie wird, weil sie um die Welt und deren Fragen und Nöte, deren Ängste und Sorgen, deren Trauer und Klage weiß, diese Welt in Politik und Kultur gestalten und den Menschen zum Leben ver- helfen wollen. Luthers Lob der Anfechtung verhalf ihm im 16. Jahrhundert und verhilft uns 500 Jahre später dazu, mitten in allem Zerstörerischen und Kaputten, in allem Ge- walttätigen und Tötenden, in allem Trauri- gen und Verzweifelten genau dies wahrzu- nehmen und es beim Namen nennen zu dür- fen – ohne sich ihm ausliefern zu müssen und darin zugrunde zu gehen. Denn die An- fechtung »ist der Prüfestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit« (WA 50, 660, 1B4). 86 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Politisches Handeln braucht Gewissen

Hiltrud Lotze — Politik & Kultur 2/ 2015

Im Jahr 2017 feiern wir das Reformationsju- seitdem durch die Jahrhunderte hinweg im- biläum. Von kaum einem anderen Jubiläums- mer neu austariert worden. Das gilt auch für jahr kann man behaupten, dass es so gut vor- das Verständnis der Folgen und Lehren, die bereitet wird, wie dieses. Schon 2008 wurde wir aus der Reformation für die Politik zie- die sogenannte Lutherdekade feierlich eröff- hen und damit für unser Politikverständnis. net. Stellt sich die Frage: Warum gleich eine Dieses schließt auch die Politiker als ihre ganze Dekade für Luther und die Reforma- Hauptakteure mit ein. In dem Gottesdienst, tion?! Weil die Reformation eben nicht nur der das Themenjahr 2014 eröffnete, wurde die Theologie und die Kirche reformiert hat. von Regionalbischöfin Susanne Breit-Kess- Sie wird als Zeitenwende vom Mittelalter zur ler und Prof. Dr. Margot Käßmann in ihrer Neuzeit verstanden und hat Deutschland und gemeinsamen Predigt mehr Respekt für Po- die Welt in vielen Einzelbereichen verändert. litiker gefordert. Ob man dieser Forderung Um sich den Auswirkungen der Reformati- nun zustimmen möchte oder nicht, Politkern on unter verschiedenen Gesichtspunkten zu wird heutzutage vielmals Moral, Ehrlichkeit, nähern, diese ausgiebig und auch durchaus Aufrichtigkeit und Verantwortungsbewusst- kontrovers zu reflektieren, ist eine Dekade sein abgesprochen. ein angemessener Zeitraum. Jedes Jahr dieser Reformation und Politik oder besser Re- Lutherdekade steht unter einem bestimmten formation und Politiker, das passt für vie- Leitmotiv. In den vergangenen Jahren wur- le Menschen heutzutage kaum zusammen. den beispielsweise die Auswirkungen der Welche Auswirkungen das eher negative Reformation auf den Bereich Bildung unter Bild von Politikern auf die Demokratie hat, die Lupe genommen. Auch Reformation und ist eine Sache. Ich als Bundestagsabgeord- Musik war bereits eines der »Jahresthemen« nete lasse mich aber nicht in Christperson in der Lutherdekade. Im Jahr 2014 hieß das und Mandatsperson teilen. Die Prägekraft der Motto: Reformation und Politik. Reformation zeigt sich für mich auch heute Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im politischen Alltag. Die vorderste Aufga- wurde, ausgelöst durch Luther, neu begrün- be von uns Bundestagsabgeordneten als ge- det. Aktuelle Konfliktlinien wie das Verhält- wählte Volksvertreter ist es, auf gesellschaft- nis zwischen Gehorsam und Gewissensfrei- liche Veränderungen zu reagieren. Dazu er- heit oder Obrigkeit und Mündigkeit sind mit arbeiten, diskutieren und verabschieden wir Luthers Thesen in Frage gestellt worden und Gesetze. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 87

Allein das ist ein gewaltiger Fortschritt, der im Allgemeinen unbedingt angebracht. Aber auch der Reformation zu verdanken ist, denn pauschale Verunglimpfungen, die alle Politi- das kanonische Recht war weniger flexibel. ker in eine Ecke stellen, sind fehl am Platze. Was leitet uns in unserer Arbeit? In meinem Viel mehr wünsche ich mir mehr Verant- Handeln als Bundestagsabgeordnete bin wortungsübernahme und Dialog in unserer ich laut unserem Grundgesetz nur meinem Gesellschaft. Bürgerinnen und Bürger, die Gewissen verpflichtet. Gleichwohl ist diese sich nicht verdrossen abwenden, sondern Freiheit für mich auch eine Verpflichtung: sich einmischen und ihre Meinung vertre- Politisches Handeln braucht Gewissen. ten. Mitmachen und Verantwortung leben – Die Freiheit des Gewissens entwickel- auch das bedeutet für mich heute Reforma- te sich erst mit der Reformation und formt tion und Politik. den mündigen Menschen von heute, der sich ohne Anleitung einer Autorität ein eigenes Urteil bilden kann. Die Meinung jedes einzel- nen ist gleich viel wert, ob Frau oder Mann, arm oder reich. Mit dieser, meiner persön- lichen Meinung, stelle ich mich dem politi- schen Diskurs. In meinem Wahlkreis, in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und auch in meiner eigenen Fraktion. Nur auf dieser Basis, der Gleichheit und der Freiheit des Menschen und seiner Mei- nung, konnte sich unsere Demokratie entwi- ckeln und für mich resultiert aus dieser Frei- heit auch eine Aufgabe: sich einzumischen. Nur zu lamentieren ist für mich nicht ge- nug. Aus den uns von der Reformation gege- benen Freiheiten entspringen auch der Wille und die Aufgabe, Verantwortung zu überneh- men. Als Politikerin nehme ich diese wahr, gegenüber den Menschen, die ich vertreten darf und gegenüber mir selbst als Mensch mit Gewissen. Noch etwas lehrt uns die Reformation: To- leranz gegenüber Andersdenkenden. Sei es nun auf andere Konfessionen bezogen, oder auf andere Meinungen und Ansichten, die mir im politischen Gespräch begegnen. Neh- me ich mir die Freiheit, mein eigenes Urteil zu bilden, so gestehe ich dies auch anderen zu. In der politischen Auseinandersetzung ein Grundbaustein für das Funktionieren un- serer Demokratie. Natürlich ist inhaltliche Kritik an meiner Arbeit und an der Politik 88 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Womöglich mit wuchtigen Hammerschlägen

Christoph Markschies — Politik & Kultur 5/2008

»Womöglich mit wuchtigen Hammerschlä- dieses Jahres beginnt und bis zum Jubiläums- gen« – mit diesen Worten ironisierte einer jahr 2017 andauert. Das könnte uns nämlich meiner akademischen Lehrer die Vorstellung, darauf aufmerksam machen, dass der Wit- ein Max Schmeling mit Luthermaske habe tenberger Professor Martin Luther im Jahre am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 1517 nicht mit wuchtigen Hammerschlägen mit einem großen Vorschlaghammer und die mittelalterliche Kirchenwirklichkeit oder vier groben Nägeln ein Blatt Papier an der gar die Einheit der Kirche zerschlagen woll- Tür der Wittenberger Schlosskirche befes- te, sondern Studenten, Fachkollegen und die tigt. Er ging freilich nicht so weit wie immer kirchliche Obrigkeit freundlich zu einem Ge- wieder einmal (und so auch jüngst wieder) spräch einladen wollte – und entsprechend einige seiner Kollegen und bestritt aufgrund hat er seine Thesen wahrscheinlich nicht nur der dürren Überlieferung die Historizität des angezweckt, sondern auch seinem zuständi- Ereignisses überhaupt. Vielmehr wies dieser gen Ortsbischof in Brandenburg geschickt, Reformationshistoriker seine Studierenden der Brief ist erhalten und kann in der großen darauf hin, dass es auch im späten Mittelal- Lutherausgabe nachgelesen werden. ter schon so etwas wie Reißzwecken gab und Zögerlich und zurückhaltend – so beginnt man die gedruckten Thesen für die vielfälti- die Reformation und es tut gut, sich an diese gen Disputationen der mittelalterlichen Uni- Dimension ihrer Anfänge zu erinnern. Lu- versität mit eben solchen Reißzwecken an ther beklagt in den Thesen, die er im Herbst die Türen der großen akademischen Veran- 1517 diskutiert sehen wollte, als sensibler staltungsräume pinnte – gerade so, wie heute Seelsorger und kluger Bibelausleger einen irgendwelche Papiere an die Anschlagbretter Missbrauch eines Sakramentes der Kirche: der Universitäten. Das Bußsakrament, das die Menschen mit Nicht Nägel mit wuchtigen Hammerschlä- Beichte und Lossprechung zu ernster Selbst- gen, sondern mit sanften Druck vier Reiß- prüfung und Korrektur ihres Verhaltens füh- zwecken – diese Korrektur am geläufigen Bild, ren soll, ist durch den Ablassbetrieb in sei- mit dem unsere Vorfahren den Thesenan- ner Substanz bedroht; die Menschen kauften schlag des 31. Oktober 1517 illustriert haben Ablasszettel und konzentrierten sich auf den und das bis heute in unseren Köpfen herum- Erwerb dieser Dokumente für Lebende und spuckt, könnte ein Leitmotiv für die große Tote, aber nicht mehr auf die Erforschung ih- Reformationsdekade sein, die im September rer eigenen Gewissen, auf die Reue über ihr Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 89

Verhalten wie Denken und dessen Korrek- recht und muss zur Ordnung gerufen werden, tur. Luther beschreibt nicht nur ein theolo- zuerst zögerlich und zurückhaltend, dann gisches Problem im Umgang mit dem Buß- energisch und direkt. sakrament, sondern ein seelsorgerliches Luther hat in den Monaten und Jahren Problem der Wittenberger Stadtkirchenge- nach 1517 diese Grundeinsicht in diversen meinden: Seine Gemeindeglieder laufen zum Texten immer radikaler zur Geltung gebracht. Ablassprediger Tetzel in Jüterbog, um Ab- Sie hat an Aktualität nichts verloren und wir lassbriefe zu erwerben und also gleichsam haben nun zehn Jahre Zeit, sie nicht laut und aus dem Wittenberger Beichtstuhl fort. In lärmig, sondern fein und dezent so zu formu- den Ablassthesen von 1517 schreibt ein gut lieren, dass sie Menschen nicht nur an Fest- katholischer Universitätstheologe, der noch tagen erfreut, sondern im schwierigen Alltag gar nicht bestreitet, dass die Verdienste von dieses Landes erreicht. Und wir haben zehn Heiligen wie Franziskus von Assisi so über- Jahre Zeit, deutlich zu machen, dass hier reichlich sind, dass die Kirche diese gleich- eine zentrale Aufgabe für alle christlichen sam überschüssigen Verdienste verwenden Kirchen und nicht nur für eine Konfession kann, um Menschen ohne solche Verdienste formuliert wurde und wird. im Endgericht zu helfen. Den Reformatoren ging es 1517 (und auch danach) nicht darum, sich einen eigenen Glauben zusammenzubasteln und so die kirchlichen Traditionen oder Institutionen aus eigener Kraft zu zerschlagen. Sie woll- ten, dass das biblische Wort seine tröstende und zurechtweisende Kraft entfalten kann ohne durch menschliche Erfindungen dar- an gehindert zu werden. In den Vorlesungen, die er als Bibelprofessor in Wittenberg hielt, war Luther zunehmend auf diese Kraft des biblischen Wortes aufmerksam geworden: Es vermag, im Gottesdienst und sonst wo ausge- sprochen, traurige Menschen fröhlich zu ma- chen und übermütige Zeitgenossen auf den rechten Weg aufmerksam zu machen, entfal- tet, einmal jemandem direkt zugesprochen, eine ganz besondere Wirkung. Wenn die Kir- che von diesem eigentlichen Schatz ablenkt und an seine Stelle andere Zeremonien oder Praktiken setzt, die in Wahrheit niemals die besondere, tiefe Wirkung biblischer Worte haben können (wie beispielsweise ein mit Brief und Siegel versehener Ablasszettel aus Jüterbog), dann bringt sie die Menschen um den wahren Trost und die wirkliche Ermah- nung. Dann wird sie ihrer Aufgabe nicht ge- 90 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Einssein mit Christus Inwieweit sind die Konfessionen bereits »eins«?

Reinhard Kardinal Marx — Politik & Kultur 1/ 2015

W enn du nun mit Christo Eins bist, was willst sondern wollte mit seinen Reformbestrebun- du mehr haben?«, so heißt es in Martin Lu- gen auf Missstände aufmerksam machen, die thers Schrift »Vom wahren Christentum«. die Botschaft des Evangeliums verdunkelten. Dass ein katholischer Christ den Reforma- Nach 50 Jahren gemeinsamen ökumenischen tor Luther zitiert, wäre vor hundert Jahren, Dialogs ist es auch für einen katholischen zum 400. Jahrestag der Reformation, noch Christen möglich, Texte Luthers mit Aner- undenkbar gewesen. Lange Zeit wurde auf kennung zu lesen und von seinen Gedanken katholischer Seite ausschließlich abwertend zu lernen. Diese Entwicklung ist nicht hoch über Luther geschrieben. Sein Wirken habe genug zu schätzen. maßgeblich zur Spaltung der abendländi- Kommen wir also zurück zum Zitat: schen Kirche geführt, da war man sich ei- »Wenn du nun mit Christo Eins bist, was nig. Auch für die vielen Verletzungen und das willst du mehr haben?« Für Martin Luther einander zugefügte Leid, besonders infolge steht das Einssein mit Christus, das Sich-hi- der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, neinnehmen-lassen in die Lebensgemein- war der Schuldige in Martin Luther und sei- schaft mit dem Herrn, über allem. Darin fin- nen Mitstreitern gefunden. Durch die Ver- det alle menschliche Sehnsucht ihre tiefs- breitung seiner 95 Thesen zum Ablass habe te Erfüllung. Diese Einsicht bildet den Kern Luther Zwietracht und Streit gesät. Solche von Luthers Denken. Es ist dies ein gemein- Verurteilungen und Polemiken kennzeich- schaftsstiftendes Zitat, denn die Überzeu- neten das katholische Bild des Wittenberger gung, dass das Einssein mit Christus das Reformators. Ein Wandel trat erst mit der Lu- höchste Gut des Menschen ist, verbindet therforschung des 20. Jahrhunderts ein. Die alle Christen unabhängig von ihrer konfes- intensive Erforschung der Kirchen- und Re- sionellen Zugehörigkeit. Jesus Christus ist formationsgeschichte trug maßgeblich zu der Grund und das Ziel unseres Lebens, zu einer historisch-nüchternen Betrachtung ihm sind wir alle gemeinsam unterwegs. der Geschehnisse des 16. Jahrhunderts bei. Bei aller Freude über die positiven Ent- Vor allem die Erkenntnis, dass Luther tief in wicklungen in den letzten Jahren und über der Frömmigkeit und Mystik seiner Zeit ver- die Erkenntnis, dass uns der Glaube an Jesus wurzelt war, leitete einen Prozess des Um- Christus eint, dürfen wir aber nicht verges- denkens in der katholischen Welt ein. Luther sen, dass uns die volle Einheit untereinander zielte ja nicht auf die Spaltung der Kirche, noch nicht geschenkt ist: Wir leben immer Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 91

noch in getrennten Kirchen. Diese Tatsache und den Schmerz der Trennung nicht über- schmerzt, widerspricht sie doch zutiefst dem tünchen. Meine Hoffnung ist es, dass das Re- Willen Christi, der um die Einheit der Seinen formationsgedenken uns weiterbringt hin zur gebetet hat: »Alle sollen eins sein: Wie du, vollen sichtbaren Einheit der Kirche. Dabei Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen kann uns das Wort Martin Luthers, das heute auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, noch genauso aktuell ist wie vor 500 Jahren, dass du mich gesandt hast« (Joh 17,21). Wir den Weg weisen: All unser Denken, Tun und dürfen daher nicht nachlassen in unseren Handeln soll dazu führen, dass das Einssein Bemühungen um die sichtbare Einheit der mit Christus über allem steht. Kirche. Mit Luthers Zitat verbinde ich des- halb die Hoffnung, dass wir im Streben nach der Einheit mit Jesus Christus nicht nur ihm näherkommen, sondern uns auch unterein- ander tiefer verbinden. Einssein mit Christus und Einssein in Christus gehören zusammen. So kann das Reformationsjahr 2017 auch für die katholische Kirche eine Herausforde- rung sein, Christus noch stärker in den Mit- telpunkt zu stellen. Und es sollte Anlass sein zu einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen den christlichen Konfessionen im Blick auf eine durch Säkularisierung geprägte Gesellschaft. Der Glaube an Gott ist nicht selbstverständ- lich. Umso entscheidender ist es, dass Chris- ten gemeinsam die Frohe Botschaft verkün- den, um so Menschen in ihren vielfältigen Lebensgeschichten in Berührung mit dem Evangelium zu bringen. Gleichzeitig führt das Miteinander der Kirchen zu einem glaub- würdigeren Zeugnis in der Gesellschaft, so- dass ihre Stimme besser gehört wird, wenn sie sich für die Menschen einsetzen und un- gerechte Strukturen in Gesellschaft, Politik und Miteinander anprangern. 50 Jahre ökumenischer Dialog machen es möglich, katholischerseits mit anderen Au- gen auf die Ereignisse des 16. Jahrhunderts zu blicken. Auch für die katholische Kirche ist der 500. Jahrestag der Reformation im Jahre 2017 ein wichtiges Datum, das wir nicht ig- norieren wollen. Die ökumenische Verbun- denheit wird sich auch darin bewähren. Wir werden noch mehr voneinander verstehen 92 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Die Reformation war eine Bildungs-Bewegung Philipp Melanchthon – Weggefährte Luthers und »praeceptor Germaniae«

Christoph Matschie — Politik & Kultur 6/2010

Dies wird uns besonders vor Augen geführt, dienreform« (»De corrigendis adulescentiae wenn wir im Zusammenhang der Reforma- studiis«) hielt, ist bezeichnend und program- tionsdekade »Luther 2017« mit Blick auf den matisch. Er übte Kritik an der scholastischen 450. Todestag des kongenialen Freundes und Philosophie ebenso wie am rein äußerlichen Weggefährten Martin Luthers im Themenjahr Zeremonienwesen der Kirche. Die Unkennt- »Reformation und Bildung« das Melanch- nis der alten Sprachen hielt er für eine der thonjahr feiern. Philipp Melanchthon (1497– Wurzeln des intellektuellen Desasters seiner 1560) wurde schon zu Lebzeiten »praeceptor Zeit. Darum warnte er vor einem direkten, Germaniae« (Lehrer Deutschlands) genannt. ungebildeten, rein emotionalen Zugang zu Als ein in europäischer Tradition stehen- den existenziellen theologischen und philo- der Theologe und Philosoph machte er auf sophischen Fragen menschlichen Seins und die anthropologischen Grundbedingungen Sollens. Wer beispielsweise nichts vom Grau- und Ziele von Bildung aufmerksam. Als Pä- brot der Sprachwissenschaft halte, »[…] ren- dagoge und Bildungspolitiker verwies er auf ne wie ein Schwein in die Rosen«. den notwendigen Zusammenhang von Bür- Wie Melanchthon so betonte auch Mar- gersinn und Schulbildung für die Vitalität ei- tin Luther (1483–1546) selbst immer wieder ner couragierten Zivilgesellschaft. Mit seiner die Bedeutung einer lebensdienlichen und »Lobrede auf die neue Schule« ist er damit – wir würden heute wohl sagen: ganzheit- noch immer hochaktuell. »Wer keine Mühe lichen – Kinder- und Jugenderziehung. Vor darauf verwendet, daß seine Kinder so gut dem Hintergrund eines grassierenden »Bil- wie möglich unterrichtet werden, handelt dungsnotstandes«, weil »[…] man allenthal- nicht nur Pflichtvergessen gegenüber Gott, ben die Schulen untergehen läßt«, richtet er sondern verbirgt hinter einem menschlichen 1524 einen dringenden Appell »An die Rats- Aussehen seine tierische Gesinnung. […] Da- herren aller Städte deutschen Landes, daß her besteht gerade in einer wohlgeordneten sie christliche Schulen aufrichten und hal- Bürgerschaft ein Bedarf an Schulen, in denen ten sollen«. die Jugend, die Pflanzstätte der Bürgerschaft, Luther ermahnte die politischen Verant- ausgebildet wird.« Dass Melanchthon am 28. wortungsträger seiner Zeit zu spürbaren August 1518 seine Antrittsvorlesung an der Investitionen in die Bildung. »Das ist – so Wittenberger Universität – vor Luther und schreibt er – ungemein gut angelegt.« Mit ei- einer großen Zuhörerschaft – »Über die Stu- nem eindringlichen sozialpolitischen Votum, Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 93

ganz im Sinne des Propheten Jeremia (29,7) aus, meint der Reformator, seien Menschen »Suchet der Stadt Bestes«, begründete er die eher auf das Äußere aus und liefen somit Ge- Nachhaltigkeit solcher Investitionen in die fahr, die eigentlichen »seelischen Schätze« Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Diese zu verkennen, zu missachten oder gar zu ver- Investition läge in einem elementaren lan- derben. »Die falsche Naturliebe verblendet despolitischen Eigeninteresse, denn »[…] das die Eltern, daß sie das Fleisch ihrer Kinder Gedeihen einer Stadt [besteht] nicht allein mehr achten als deren Seelen. Kinder sind darin, daß man große Häuser, viele Kanonen ein köstlicher, ewiger Schatz, der den Eltern und Harnische herstellt. […] Vielmehr das ist von Gott zu verwahren befohlen ist, daß ihn einer Stadt Bestes und ihr allerprächtigstes der Teufel, die Welt und das Fleisch nicht Gedeihen, ihr Wohl und ihre Kraft, daß sie stehlen und umbringen.« viele gute, gebildete, vernünftige, ehrbare, Die Reformation war eine Bildungs-Bewe- wohlerzogene Bürger hat, die dann sehr wohl gung. Dieser reformatorische Impuls findet Schätze und Güter sammeln können, sie er- seine Fortsetzung auch in der gegenwärti- halten und recht gebrauchen.« gen Bildungspolitik in Thüringen. Weil wir Lutherische Pädagogik setzt konsequent die Bildungsfrage für die »soziale Frage des und biblisch gut begründet bei der Familie, 21. Jahrhunderts« halten, sind wir – wie Me- bei den Eltern, an. Kluge und verantwor- lanchthon und Luther, wie der Saalfelder tungsbewusste Eheleute sollten wissen, »[…] Reformator Kaspar Aquila (1488–1560) oder daß sie Gott, der Christenheit, aller Welt, ih- der Gothaer Friedrich Myconius (1490–1546), nen selbst und ihren Kindern kein besseres die Erfurter Johannes Lang (1487–1548) oder Werk und Nutzen schaffen mögen, als daß Justus Jonas (1493–1555) – der Überzeugung, sie ihre Kinder wohl aufziehen. Denn das ist dass gezielte Investitionen in die Bildung ihre direkteste Straße zum Himmel.« Diese von Kindern und Jugendlichen die Grundla- »Himmelsstraße« verdiene sorgfältige Pflege. ge für das common good, für die Wohlfahrt Denn ihre Vernachlässigung bleibt für Eltern dieses Landes schaffen. wie für Kinder nicht folgenlos, ja, sie ist »der »Luther-Land Thüringen« darf keine nos- größte Schade der Christenheit«. talgische Bezeichnung, sondern muss eine »Aber wiederum ist die Hölle nicht leich- permanente Inspiration und Selbstverpflich- ter verdient als an seinen eigenen Kindern. tung für mehr Bildungsgerechtigkeit sein. Die Eltern mögen auch kein schädlicheres Wenn dieser reformatorische Ansatz »Schu- Werk tun, als daß sie ihre Kinder vernachläs- le macht«, dann wird gute Schule wesent- sigen, sie fluchen lassen, schwören, schänd- lich zu einem guten, zukunftsfähigen Leben liche Worte und Lieder lernen und nach ih- und Arbeiten betragen. Diese Bildungs-Be- rem Willen leben. […] Es ist kein größerer wegung ist dann – mit Luther gesprochen – Schade der Christenheit als das Versäumnis »eine Straße zum Himmel«, die hier auf Er- an Kindern.« Luther unterscheidet »äußere«, den ganz konkrete und erkennbare Spuren »fleischliche« Fürsorge und Erziehung, die hinterlässt. auf die materielle Sicherheit und das Welt- wissen der Kinder gerichtet ist, und »innere«, »seelische« Bildung, die in den Heranwach- senden – entwicklungspsychologisch gespro- chen – ein lebensnotwendiges, elementares Grundvertrauen entstehen lässt. Von Natur 94 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Mein Luther – ihr Luther?

Regine Möbius — Politik & Kultur 3/2011

Die Bereitschaft der Christen zum problem- Reformator selbst wurde eine ideologische bewussten Denken und Handeln hat durch und wissenschaftliche Neubewertung zu- die Reformation eine andere Bewusstheit er- teil, verbunden mit einer Beerdigung Lu- fahren. Mit ihr erhielten Philosophie und Ge- thers als reaktionärem Gegenpart Thomas schichtsbetrachtung eine neue Selbststän- Münzers. Von »protestantischer Ethik« und digkeit. Das persönliche Gewissen und die »biblischem Arbeitsethos« war nun während eigene Verantwortung bekamen Vorrang vor der Luther-Feierlichkeiten aus staatlichem den durch den Klerus postulierten Normen. Mund zu hören. Beides wäre »mit den Prinzi- Freiheit in Gehorsam und Gehorsam in Frei- pien sozialistischer Arbeitsmoral aufs engste heit sind die Grundthesen reformatorischen verwandt«. Der von 1960 bis 1989 stellvertre- Denkens. tende Vorsitzender des Ausschusses für Na- Nur 30 Jahre drehe ich jetzt das Rad der tionale Verteidigung und von 1960 bis 1989 Geschichte zurück, wir schreiben das Jahr stellvertretende Vorsitzender des Staatsra- 1981. Auf kirchlicher wie auf staatlicher Sei- tes der DDR, CDU-Chef Gerald Götting, kon- te – und damit meine ich auf DDR-staatli- statierte auf einem Festakt des staatlichen cher – waren die Vorbereitungen zu den Fei- Lutherkomitees in der Berliner Staatsoper: erlichkeiten anlässlich des 500. Geburtstags »Dem Streben nach Frieden soll nach Luther Martin Luthers am 10. November 1983 in vol- auch das sogenannte Schwertamt des Staates lem Gange. War dieser Anlass für die SED- dienen, also die bewaffnete Verteidigungs- Führung doch in vielerlei Hinsicht nutz- bereitschaft.« (G. Götting: »In gemeinsamer bar: Außenpolitisch konnte man sich kir- Aktion für die Bewahrung des Lebens«, Neues chenfreundlich geben, innenpolitisch galt Deutschland, 10. November 1983) Vielleicht es, der Kirche ein bestimmtes ideologisches werden aus heutiger Sicht die damaligen Be- Korsett anzulegen. Zu diesem Zweck orga- mühungen der Evangelischen Kirche um eine nisierte Erich Honecker, der Schirmherr der eigenständige Positionierung im Kontext des Lutherehrungen war, dass er ebenfalls zum Lutherjahres als zögernd eingestuft, denn es Vorsitzenden des staatlichen Martin-Luther- war der SED in Teilen gelungen, die Kirchen- Komitees gewählt wurde, womit er sich den leitungen so einzuschüchtern, dass diese ih- Schein von Großzügigkeit geben wollte. Vie- rerseits versuchten, oppositionelle Gruppen le der staatlichen und kirchlichen Luther-Ge- im Land zum Schweigen zu bringen. Unge- denkstätten sanierte man umfassend. Dem achtet dieser Beobachtung erschien uns be- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 95

reits die Losung der Kirchentage 1983 in Er- die Teilnehmer darum, die Protestaktionen furt, Rostock, Frankfurt (Oder), Magdeburg, in den geschützten Kirchenraum zu verlegen. Eisleben, Dresden und Wittenberg, »Ver- Viele der Protestierer sahen das als Refe- trauen wagen«, als ein wichtiges und mu- renz an den Staat an und wollten sich nicht tiges Zeichen, das dem Staat signalisieren beugen. Den Ausklang des Lutherjahres 1983 sollte, die evangelische Kirche hält durchaus bildeten in Leipzig die »Ökumenischen Be- an der Hoffnung fest, es könne ein Miteinan- gegnungstage« und der Beginn der alljährlich der von Christen und dem Staat geben. Auf stattfindenden Dokumentar- und Kurzfilm- dem Wittenberger Kirchentag wurde sogar woche. Am letzten Tag der Friedensdekade ein Schwert in eine Pflugschar umgeschmie- der Evangelischen Kirchen der DDR versam- det. Damit verstärkte sich der Symbolgehalt melten sich in der Innenstadt etwa 50 De- des vom Staat so bekämpften Zeichens der monstranten vor dem Filmtheater Capitol. Friedensbewegung in der DDR »Schwerter zu Sie mischten sich unter die Schaulustigen, Pflugscharen« um ein Vielfaches. Doch im die auf die Ankunft der Schauspieler und Fil- Herbst, wenige Tage nach Beendigung der memacher warteten. Ausgerüstet waren sie Luther-Feierlichkeiten, zeigte das totalitäre mit den Kopien eines Briefes, den kirchliche SED-System, was es unter einem Miteinan- Mitarbeiter zusammen mit den aufgeheizten der von Staat und Kirche verstand und be- Jugendlichen geschrieben hatten. Er sollte gann massiv die kirchliche Friedensbewe- an das Präsidium der Dokumentarfilmwo- gung zu behindern. Bereits im Vorfeld der che übergeben werden, um Personen der Öf- Friedensdekade vom 6. bis 16. November – fentlichkeit von den Übergriffen des Macht- sie stand unter dem Motto: »Frieden schaf- apparates in Kenntnis zu setzen. Die Hoff- fen aus der Kraft der Schwachen« – hatten nung war, dass einige der Demonstranten es die Staatsorgane alle Möglichkeiten genutzt, schaffen würden, mit ihren Briefexemplaren um Demonstrationen zu verhindern. Verein- bis zu den Limousinen der Stars vorzudrin- zelt war es bereits zu Arbeitsentlassungen, gen. Längst aber war die Aktion durch einge- Zuführungen und Verhaftungen gekommen. schleuste IMs der Staatssicherheit bekannt. In Leipzig fanden sich in verschiedenen Nahezu zeitgleich stürzten mit den De- Kirchen täglich junge katholische und evan- monstranten mit Knüppeln bewaffnete »Zi- gelische Christen zusammen, deren Diskus- vilisten« in Richtung der angekommenen sionen und Kerzendemonstrationen in die Autos. Die Jugendlichen wurden überwäl- nichtkirchliche Öffentlichkeit hineinstrahl- tigt und auf Polizei- und Lastwagen geladen, ten und viele andere unzufriedene Jugendli- die plötzlich aus den Nebenstraßen kamen. che anzogen. In der Nikolaikirche wurden an Das alles dauerte nur wenige Minuten. Ins- manchen Abenden mehr als 1.000 Besucher gesamt 17 Mädchen und Jungen wurden fest- gezählt. Nach den Friedensgottesdiensten genommen. Sie kamen größtenteils aus un- stellten sich kleinere Gruppen von ca. 30 Ju- serer Jungen Gemeinde in Leipzig-Leutzsch. gendlichen schweigend mit brennenden Ker- Später erfuhren wir, dass sie in entwürdi- zen nahe der großen Stadtkirchen auf den genden Posen verhört worden waren. Gegen Leipziger Markt und protestierten stumm. sieben wurden Ermittlungsverfahren wegen Da Polizeikräfte diese friedlichen Aktionen illegaler staatsfeindlicher »Zusammenrot- mit deutlichem Nachdruck auflösten und tung« eingeleitet. Regelmäßig besuchte un- Schlimmeres zu befürchten war, bat die Kir- ser Gemeindepfarrer Martin L. die Verurteil- chenleitung in den Friedensgottesdiensten ten in der Haft. Die Reformation, die aus dem 96 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Widerspruch eines einzelnen unbekannten Mönchs gegen die Ablasspropaganda ent- standen war, wurde zu einem historischen Ereignis, dessen Tiefen- und Breitenwirkung nahezu einmalig ist. Martin Luther hat mit- tels der Reformation die weltliche und kirch- liche Ordnung zu ihren christlichen Aufga- ben zurückgeholt. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 97

Die Präsenz der Reformation

Johann Michael Möller — Politik & Kultur 6/2012

Passend zur Lutherdekade hat man in Wit- logischen Kulturbeutel inklusive. Dabei ist tenberg die Lutherzwerge erfunden, was es völlig legitim, dass die Lutherorte teilha- wohl mehr sein soll als eine harmlose Wer- ben wollen am Jahrtausendereignis dieses beidee. Denn nach Jahrzehnten der Entzau- Reformationsjubiläums. Besonders für ein berung und des Missbrauchs unserer Ge- wirtschaftlich so gebeuteltes Bundesland wie schichtsbilder ist die Zwergenperspektive Sachsen-Anhalt besteht auch die Hoffnung, offenbar zur gängigen Betrachtungsform endlich wegzukommen vom Image des struk- in unserem kleinlauten Land geworden. Lu- turschwachen Zonenrandgebiets, vom Ruf ther gewissermaßen zum Anfassen, genau- des Armenhauses einer reichen Nation. Inso- so wie neulich Helmut Kohl zum Aufkleben, fern stellt dieses Jubiläum für Mitteldeutsch- als man ihn für seine großen Verdienste mit land eine einzigartige Chance dar, aller Welt einer kleinen Briefmarke ehren zu müssen endlich vor Augen zu führen, welche Rolle glaubte. Natürlich darf man – um die Sinn- dieser Landstrich für die deutsche und euro- entleerung dieses Reformationsjubiläums päische Entwicklung einst gespielt hat. Die- deutlich zu machen – die Band Pussy Riot se ehedem preußische Provinz Sachsen war für den Lutherpreis vorschlagen. Irgendeine kein Land der Zwerge und der Nischen; von Verbindung wird sich schon herstellen las- hier ging mehrfach Weltgeschichte aus. Das sen; und man bekommt zugleich einen Ein- gilt für Sachsen und Thüringen nicht minder. druck, wie schwer wir Deutschen uns mitt- Insofern verbindet sich nach Jahrzehnten lerweile mit unserem Lutherbild tun. Jahr- der Teilung, der Verdrängung und ideologi- zehnte des ideologischen Missbrauchs haben schen Indienstnahme mit dieser Lutherde- ihre Spuren hinterlassen, genauso wie alle kade auch der Wunsch nach Geschichtsrepa- Versuche, Luther für unsere Zeit kompati- ratur in einer Region, die immer noch heftig bel zu machen. So wird uns in den nächsten mit ihrem Selbstverständnis ringt. Jahren wohl nichts erspart bleiben, was zum Das ist völlig legitim und keineswegs nur gängigen Repertoire der Werbestrategen ge- Ausdruck einer banalisierten Aneignung Lu- hört: der Lutherschnaps so wenig wie die Lu- thers in der weitgehend säkularisierten Welt theruhr oder das nachgebildete Tintenfass; Ostdeutschlands. Wer die Lutherdekade den und natürlich wird es auch eine Luther-App Kirchen überlässt, den evangelischen allzu- für das Smartphone geben und Omnibusrei- mal, verkürzt sie zu einem Nischenthema sen zu den Luthergedenkstatten, den theo- und vergibt die Möglichkeit, nach der Wie- 98 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

dervereinigung auch eine neue Wahrneh- ringschätzung hielt. Luther hat an der Wahr- mung folgen zu lassen. Denn noch immer heitsbezeugung des christlichen Glaubens fällt der Schatten der Mauer auf die gemein- nie einen Zweifel gelassen. Insofern war er same Geschichte. Noch immer sind viele der intolerant und ein Kind seiner Zeit. Sein An- abgerissenen geistigen Linien nicht wieder tipapismus und mehr noch sein Antisemitis- verknüpft; und bis heute liegen Geschichte mus sind weiß Gott kein Erbe, auf das man und Gegenwart unverbunden nebeneinander. sich berufen kann. Es hat mit Recht jenes ge- Die Teilung war eben tief und nicht nur walttätig barbarische Bild Luthers geprägt, geografischer Natur. Umso wichtiger ist es, von dem sich Thomas Mann angewidert ab- das Thema aus den kirchlichen Rückzugs- wenden musste. gebieten herauszuholen und wieder bedeut- Zur Heroisierung taugt Luther heute nicht sam zu machen für die Selbstvergewisserung mehr. Aber auch die Historisierung wird ihm unserer Zeit. Von Heldenverehrung mag zwar nicht wirklich gerecht. Was feiern wir denn keiner mehr reden. Aber die Selbstverzwer- 2017 in unserer entkirchlichten Welt? Ein gung kann es dann auch nicht mehr sein. profanes Ereignis? Eine Zäsur der Geschich- Wenn das Reformationsjubiläum tatsach- te? Oder doch auch die Selbstvergewisserung lich mehr sein soll als ein profaner Anlass für der evangelischen Gemeinde in ihrem Ver- den üblichen Rummel, dann muss der histo- ständnis von »Predigt, Taufe, Abendmahl rischen Auseinandersetzung die konfessi- und Ordnung christlichen Lebens«, wie es onelle folgen. Gerade in der profanisierten der Theologe Johannes Ehmann zu Recht re- Gesellschaft Ostdeutschlands muss man sich klamiert. aber vor der Versuchung hüten, Luther aus Ein Reformationsjubiläum ohne evangeli- seiner Theologie und Kirchengeschichte he- sche Einkehr bliebe ein bitterkaltes Ereignis, rauslösen zu wollen, um ihn zur Galionsfigur für das es keiner besonderen Hinführung be- eines überkonfessionellen Religionsgefühls darf. Die eigentliche Botschaft dieser Luther- zu machen. In dieser Art von Ökumene zu re- dekade wäre es aber, daran zu erinnern, aus den, wird doch dort nur verstanden, wo man welchem Glauben und aus welchem Gottes- überhaupt noch weiß, was da jemals wieder verständnis heraus vor 500 Jahren der Pro- unter einem Dach zusammengeführt werden zess der Selbstaufklärung Europas begann. soll. Auf das Vorbild der Leuenberger Kon- Es geht um die Präsenz dieser Reformation – kordie von 1973 zu verweisen und die Über- und nicht um ihre bloße Geschichte. windung der Konfessionsunterschiede hat in einer Gesellschaft keinen Sinn, die nicht einmal ihre eigene Kirchengeschichte mehr kennt. Und wenn ich die Überlegungen der Lutherbotschafterin Margot Käßmann dazu in dieser Zeitung lese, dann offenbaren sie doch einen sehr innerkirchlich-westdeut- schen Diskurs. Dasselbe gilt für den Dialog zwischen den Religionen. Es ist wohlfeil, dafür den bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen Begriff der Toleranz zu bemühen, den schon Goethe für eine Form der Beleidigung oder besser Ge- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 99

Martin Luther und Berlin

Michael Müller — Politik & Kultur 1/ 2016

Luther kam nie bis nach Berlin. Während sein der, vertont von Komponisten wie Johannes Gegner Johann Tetzel noch im April 1517, we- Crüger oder Johannes Sebastian Bach, haben nige Monate vor dem Anschlag der Thesen Generationen geformt und damit auch we- an die Wittenberger Schlosskirche, in der Re- sentlich Berlin und Preußen. sidenzstadt weilte, um seine Ablassbriefe zu In vielem war dieses Preußen seiner Zeit verkaufen, war Martin Luther das Städtchen voraus; galt lange als modernstes Staatswe- an der Spree mit seinen kaum 15.000 Ein- sen in Europa. Nicht zuletzt der Calvinismus wohnern keine Reise wert. als Hof- und Beamtenreligion und später der Dennoch wäre Berlin ohne Luther nicht Pietismus als staatstragende Mentalität der Berlin. So wie er und seine Lehre das Wesen preußischen Eliten sorgten für diese Fort- Preußens ganz maßgeblich prägten, hat er schrittlichkeit, die von einer von der Staats- auch den Charakter Berlins und seiner Be- räson bestimmten, pragmatisch orientierten, wohner entscheidend beeinflusst, seit die toleranten Religions- und Einwanderungspo- Bürger von Berlin und Cölln im Februar 1539 litik ergänzt wurde. Diese Aufgeschlossen- die Räte ihrer Städte beauftragten, den Kur- heit gegenüber dem Neuen und dem Frem- fürsten Joachim II. Hektor um Erlaubnis zu den gehörte zu Preußens großen Stärken und bitten, das Abendmahl zu Ostern nach pro- bestimmt bis heute den Charakter Berlins. testantischem Ritus empfangen zu dürfen. Sebastian Haffner sprach von den drei Am 1. November 1539 besuchte der Kurfürst Gleichgültigkeiten Preußens, welche nicht in der Spandauer St. Nikolai-Kirche selbst nach Konfessionen, Nationen oder dem so- den Gottesdienst. Mit dieser demonstrati- zialen Rang unterschieden, sondern in erster ven Geste des Landesherrn galt Brandenburg Linie die Leistungsbereitschaft und -fähig- mit den damals noch eigenständigen Städ- keit des Einzelnen beachteten. Seine Unter- ten Berlin und Spandau als Land der luthe- tanen durften katholisch, protestantisch, lu- rischen Kirchenerneuerung. therisch, calvinistisch, mosaisch oder, wenn Man muss nur den Namen eines Mannes sie wollten, auch mohammedanisch sein, nennen, des Pfarrers und Kirchenlieddich- konnten französischer, polnischer, hollän- ters Paul Gerhardt, um das ganze Ausmaß discher, schottischer oder österreichischer protestantischer Prägung zu ermessen, das Herkunft sein – sie alle wurden behandelt Preußen und mit ihm Berlin im Zeitalter des wie eingeborene Preußen, wenn sie ihre Dreißigjährigen Krieges erfasste. Seine Lie- Pflichten gegenüber dem Staat nur erfüllten. 100 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Wenn wir 2017 der 500jährigen Geschichte Osten? [...] Preußen ist alles andere als tot. der Reformation gedenken, wird man nicht Gewiss, der Staat Preußen existiert nicht umhinkommen, auch an die dunkelste Zeit mehr – er begann unterzugehen, als der Na- der deutschen Geschichte zu erinnern, den tionalstaat Deutsches Reich gegründet wur- Jahren der NS-Diktatur. Hitler ernannte Lu- de; der pervertierte Nationalismus Hitlers ther schon früh zum »größten deutschen Ge- hat ihm endgültig den Garaus gemacht. Aber nie« und nahm ihn zum Kronzeugen für sei- das Erbe Preußens? Zeigt nicht die unsiche- nen Antisemitismus. Und ohne die preußi- re und hektische Reaktion auf den Vorschlag schen Tugenden wie Disziplin, Loyalität und einer historischen Ausstellung, dass es wei- Effizienz wären die nationalsozialistischen terwirkt? Müssen wir nicht erkennen, dass Verbrechen nicht denkbar gewesen. Dennoch nicht nur die Spaltung Deutschlands, son- blieb der totalitäre Machtanspruch des Na- dern auch ihre andauernde Unüberwindbar- tionalsozialismus den Vertretern Preußens keit mit dem Fortwirken der europäischen eher fremd, der Widerstand gegen Hitler kam Erfahrung Preußens zusammenhängt? In gerade aus alteingesessenen preußischen Berlin sind, mehr als anderswo, die Spuren Familien. Vergleichsweise lange, wenn auch Preußens im Positiven wie im Negativen letztendlich erfolglos, widerstand die den sinnlich erfahrbar.« Staat Preußen regierende sogenannte Wei- Heute – 70 Jahre nach dem Ende des Zwei- marer Koalition aus SPD und Zentrum Hitlers ten Weltkriegs und 25 Jahre seit den Ein- Machtanspruch. Auch die Wahlergebnisse heitsfeiern – ist Berlin eine Stadt der religi- waren bei den letzten freien Wahlen für die ösen Vielfalt, in der Menschen aus aller Welt Nationalsozialisten in Preußen weitaus un- mit oder auch ohne Glauben friedlich mit- günstiger als in anderen Teilen des Reiches, einander leben. Eine der wichtigsten Weg- vor allem in den katholischen Gebieten Preu- marken für einen toleranten Umgang der Be- ßens und in Berlin fielen sie weit unterdurch- kenntnisse hat Friedrich II. gesetzt, mit sei- schnittlich aus. nem berühmten Satz: »Ein jeder soll nach Berlins damals Regierender Bürgermeis- seiner Facon selig werden.« Er ging noch ei- ter Dietrich Stobbe schrieb 1981 im Katalog nen Schritt weiter: »Und wenn Türken und zur inzwischen legendären Preußen-Aus- Heiden kämen und wollten das Land bevöl- stellung: »Welcher Teufel mich denn gerit- kern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kir- ten habe, gerade in der Vier-Mächte-Stadt chen bauen.« Der saloppe Satz Friedrichs fin- Berlin Preußen wieder aktuell machen zu det im heutigen Berlin täglich seine aktuelle wollen? So haben viele kritisch gefragt, als Bestätigung. Bei mehr als 3,5 Millionen Men- mein Vorschlag vom Juni 1977, eine Preußen- schen aus mehr als 180 Nationen, die in un- Ausstellung in Berlin veranstalten zu lassen, serer Stadt leben, braucht es tatsächlich ein eine Woge von Zustimmung auslöste. War großes Angebot an Moscheen und Kirchen das nicht der Beifall von der falschen Seite? unterschiedlicher Bekenntnisse. Die »Lan- Hatte ich denn ein Preußen-Revival im Sinn? ge Nacht der Religionen« in Berlin zeigt Jahr Ein »spätes Gloria« für den untergegangenen für Jahr die Vielfalt religiösen Lebens in Ber- Staat? Oder einen »Griff in die Geschichte« lin und widerlegt so eindrucksvoll die The- nach den berühmten preußischen Tugen- se eines früheren Berliner Bischofs, wonach den? Und war ich womöglich blind gegen- unsere Stadt »gottlos« sei. Die Lange Nacht über dem Befremden, das ein solcher Vor- unterstreicht vielmehr die Ansicht von Be- schlag anrichten konnte, im Westen wie im nedikt XVI., wonach es so viele Wege zu Gott Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 101

gibt, wie es Menschen gibt. Damit lässt sich übrigens auch wieder eine Brücke zu Luther schlagen, den Zeit seines Lebens die Gottsu- che beschäftigt hat. Sie liefert gleichsam den Grundton allen lutherischen Denkens und ermöglicht auch dem heutigen Menschen, sich ganz individuell einem Gott zu nähern, der sich jedem einzelnen von uns stets an- ders zeigt. Dies macht jedem ein christliches Bekenntnis möglich, unabhängig davon, ob er eifriger Beter oder regelmäßiger Kirch- gänger ist, oder nicht. Luthers Gottsuche ist also ein Zugang zur bunten Welt des Chris- tentums. Mit dem Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg ehren wir das Werk des großen Reformators Martin Luther, ohne das der Lauf der Geschichte unserer Stadt eine ganz andere Bahn eingeschlagen hätte. Er hat das Werden Berlins von einer kleinen Residenz- stadt zu einer Millionenmetropole entschei- dend beeinflusst, den Charakter seiner Be- wohner geprägt und ihren Geist verändert. 102 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Das Reformationsjubiläum 2017 als Chance begreifen Das kirchliche Kulturengagement rückt stärker ins öffentliche Bewusstsein

Bernd Neumann — Politik & Kultur 1/2009

Am 21. September 2008 wurde die Lutherde- deutung der Reformation mit der durch sie kade 2008–2017 in der Lutherstadt Witten- begonnenen Herausbildung der deutschen berg festlich eröffnet. Dies war der Start für Sprache, der Profilierung von Menschen- eine Fülle von Initiativen und Veranstaltun- rechten und der Demokratisierung der Bil- gen, die auf das 500-jährige Reformations- dung. In einem von den Regierungsfraktio- jubiläum im Jahr 2017 hinführen. nen hierzu am 26. Juni 2008 im Deutschen Mit dem Thesenanschlag Luthers und der Bundestag eingebrachten Beschlussantrag dadurch ausgelösten Reformation verbin- heißt es: »Die Reformation als ein zentrales den sich eine Vielzahl von kirchlichen, ge- Ereignis in der Geschichte des christlich ge- sellschaftlichen, politischen und kulturel- prägten Europas hat die Entwicklung eines len Entwicklungen, die ganz Europa geprägt Menschenbildes gefördert, das von einem haben. Die Bundesregierung hat sich daher neuen christlichen Freiheitsbegriff maßgeb- frühzeitig engagiert und zur Planung und lich beeinflusst wurde. Sie war wichtig für Durchführung der Lutherdekade und des Re- die Ausbildung von Eigenverantwortlichkeit formationsjubiläums zusammen mit der EKD, und die Gewissensentscheidung des Einzel- den verschiedenen Landeskirchen, den Lan- nen. Damit konnten sich die Aufklärung, die desregierungen von Sachsen-Anhalt, Thürin- Herausbildung der Menschenrechte und die gen und Sachsen sowie den Lutherstädten Demokratie entwickeln.« eine gemeinsame organisatorische Struktur Die Übertragung der Bibel ins Deutsche geschaffen: Über die grundsätzliche inhalt- durch Martin Luther ist wesentlich für die liche Ausrichtung und Schwerpunktsetzung Entwicklung einer einheitlichen deutschen beraten Kirchenvertreter und Politiker im Schriftsprache. Weite Teile der Bevölkerung Kuratorium. Dessen Empfehlungen werden erhielten einen bis dahin ungeahnten Zu- im Lenkungsausschuss, dem eigentlichen gang zur Bildung. Ausschlaggebend hierfür Arbeitsgremium, umgesetzt. Verschiedene ist auch die Bedeutung des Wortes in den Arbeitsgruppen begleiten und unterstützen protestantischen Kirchen, sei es gesprochen, die Gremien, Experten der Reformationsge- gelesen oder in Kirchenliedern gesungen. Die schichte erarbeiten im wissenschaftlichen Universitäten der protestantischen Länder Beirat die konzeptionellen Grundlagen hier- des 17. Jahrhunderts schließlich übernahmen für. Das Engagement der Bundesregierung eine führende Rolle in der Entwicklung der gründet vor allem auf der historischen Be- modernen Wissenschaften. Nicht zuletzt Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 103

konnte dadurch ein Zusammengehörigkeits- thentische Schauplätze der Reformation von gefühl der in einer Vielzahl von Einzelstaa- außergewöhnlicher universeller Bedeutung ten lebenden Deutschen entstehen. Im Er- sind«. Neben den Lutherstätten sind viele gebnis löste der von Martin Luther und den weitere Orte mit dem Reformator verbunden: anderen Reformatoren initiierte Prozess ei- Augsburg, Coburg, Eisenach, Erfurt, Leip- nen Modernisierungsschub aus, der schließ- zig, Mansfeld-Lutherstadt, Marburg, Möhra, lich alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Nürnberg, Schmalkalden, Torgau und Worms. Dies wirkt bis heute ungebrochen fort. Hinzu kommen Kirchenbauten, die kulturge- Die reiche Kulturlandschaft in Deutschland, schichtlich mit der Reformation in Verbin- insbesondere der kulturelle Reichtum in den dung stehen. Martin Luther bietet mit sei- Kernländern der Reformation Sachsen-An- ner Persönlichkeit und mit seinem Wirken halt, Thüringen und Sachsen beruht in we- vielfache Anknüpfungspunkte für Kulturin- sentlichen Teilen auf den Fundamenten, die teressierte, religiöse Gruppen und Vertreter in der Zeit der Reformation gelegt wurden. von Kirchen und Universitäten. Und die Tatsache, dass sich die katholischen Deutschland kann sich daher im Rahmen Zentren Deutschlands diesen Modernisie- der Kampagnen zur Lutherdekade und zum rungstendenzen nicht verschlossen, sondern Reformationsjubiläum 2017 einmal mehr als in der Gegenreformation eigene Akzente offenes und gastfreundliches Land präsen- setzten, sorgte für eine fruchtbare Konkur- tieren. renz und führte zu einer kulturellen Vielfalt Der Bund bekennt sich zu seiner Verant- auf hohem Niveau. Hierauf können wir mit wortung, die reformationsgeschichtlichen Recht stolz sein. Dies gilt es in Erinnerung Gedenkstätten, insbesondere in Wittenberg zu rufen und für die Zukunft zu bewahren. und Eisleben, zu pflegen und zu erhalten, Deutschland ist »Luther-Land«. Auf die- das reformatorische Erbe zu bewahren so- se knappe Aussage lässt sich der Blick vom wie Forschung und Lehre im Zusammenhang Ausland auf die Reformation und die Person mit Reformation und Reformationsgeschich- Martin Luthers konzentrieren. Von Deutsch- te zu fördern. Zu diesem Zweck stellt mein land ausgehend verbreitete sich die Refor- Haus der Stiftung Luthergedenkstätten im mation in der ganzen Welt. Für alle christli- Rahmen der institutionellen Förderung für chen Konfessionen ist Deutschland unstrei- ihre kulturellen und wissenschaftlichen Akti- tig die Wiege der Reformation. Dieses birgt vitäten jährlich 824.000 Euro (2009: 905.000 ein immenses touristisches und damit auch Euro) zur Verfügung. Darüber hinaus haben wirtschaftliches Potenzial, das wir tatkräftig wir uns in den letzten Jahren mit Projektmit- nutzen sollten. teln an der Generalsanierung und der Neu- Als besondere touristische Attraktionen konzeption der Dauerausstellung und der sind die Luthergedenkstätten in Eisleben Neugestaltung der Freiflächen in Höhe von und Wittenberg, die Wartburg bei Eisenach 3,6 Millionen Euro beteiligt. sowie das Augustinerkloster in Erfurt welt- Wegen der politischen und kulturellen Be- weit bekannt. Die Luthergedenkstätten und deutung des Reformationsjubiläums 2017 im die Wartburg wurden zum UNESCO-Welt- nationalen und internationalen Kontext wird kulturerbe der Menschheit erklärt. Die Lu- sich die Bundesregierung auch an der Förde- thergedenkstätten deshalb, weil sie »einen rung von Veranstaltungen und Maßnahmen bedeutsamen Abschnitt in der menschli- innerhalb der Lutherdekade und während chen Geschichte repräsentieren und als au- des eigentlichen Jubiläumsjahres beteiligen. 104 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Denn auch hier gilt, dass nur derjenige die Zukunft gestalten kann, der sich der eigenen Vergangenheit bewusst ist. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 105

Von Wittenberg in die Welt Die Lutherdekade in der Auswärtigen ­Kultur- und Bildungspolitik

Cornelia Pieper — Politik & Kultur 5/2011

Ausgehend von der kleinen deutschen Stadt der Reformatoren nicht nur für Protestan- Wittenberg entfaltete die Reformation Aus- ten ein beliebter Anziehungspunkt. Im Jahr wirkungen von weltgeschichtlicher Bedeu- 1996 hat die UNESCO zurecht die Lutherge- tung quer durch alle Kontinente. Martin Lu- denkstätten in Eisleben und Wittenberg zum ther hat – auch wenn er dies gar nicht zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt – die Ziel hatte – eine neue Konfession begrün- Spuren des Reformators, wie Geburts- und det, die sich als deutscher Exportschlager des Sterbehaus in Eisleben, Lutherhaus, Stadt- Glaubens über weite Teile der Welt verbreitet kirche, Schlosskirche und Melanchthonhaus hat und vielerorts noch heute von prägender in Wittenberg, ziehen jährlich unzählige in- Bedeutung für Gesellschaft, Politik und Wirt- teressierte Besucher an. schaft ist. So ist es nicht verwunderlich, dass Luther bietet mit seiner Persönlichkeit das Reformationsjubiläum weltweit als ein und seinem Werk als Reformator und Wis- ganz besonderes Datum wahrgenommen und senschaftler vielfache Anknüpfungspunkte begangen wird – ein Datum, dem wir uns als für Kulturinteressierte, religiöse Gruppen Deutsche ganz besonders verpflichtet fühlen. und Vertreter der Wissenschaft. Für Deutsch- Die Einflüsse der Reformation gehen weit land bietet sich hier die Gelegenheit, sich über ihre religiöse und kirchengeschichtliche gastfreundlich und weltoffen zu präsentie- Bedeutung hinaus. Die Reformatoren präg- ren und im Ausland für sich zu werben. ten mit ihrem Engagement wichtige kultur- Seit 2010 vertrete ich das Auswärtige Amt historische und gesellschaftspolitische Be- als drittes Ressort neben dem federführen- reiche in Deutschland, die internationalen den Beauftragten der Bundesregierung für Beispielcharakter haben: Luthers Bibelüber- Kultur und Medien und dem Bundesminister setzung gab beispielsweise den entscheiden- des Innern im »Kuratorium zur Vorbereitung den Schub für die Entwicklung einer einheit- des Reformationsjubiläums 2017«. Im Rah- lichen deutschen Schriftsprache und war men der Auswärtigen Kultur- und Bildungs- damit ein wichtiger Faktor bei der Bildung politik wollen wir mit zahlreichen Projek- einer deutschen Nation. Philipp Melanch- ten die Bedeutung des Jubiläums internati- thon – »Lehrer Deutschlands« – trug mit onal würdigen – so zum Beispiel mit einer für der Gründung von Schulen wesentlich zum das Jahr 2013 geplanten Wanderausstellung Aufbau unseres Bildungssystems bei. Heute in den USA und in Europa, die deutlich ma- sind die Schauplätze und Wirkungsstätten chen wird, wie die Reformation als histori- 106 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

scher kultureller Schnittpunkt zwischen den von Freiheit« mit Schülerinnen und Schülern Kontinenten auch heute noch Inspirations- aus Deutschland und aus dem Iran statt, die quelle vor allem auch im transatlantischen ihre Ergebnisse im Rahmen des Abendpro- Verhältnis ist. Zumal sich das Bewusstsein gramms zusammen mit dem Liedermacher einer religiösen Identität jenseits des At- und Bürgerrechtler Stephan Krawczyk prä- lantiks noch eher verstärkt hat. So dient die sentierten. Der große Erfolg des Symposiums Lutherdekade auch der Vergewisserung ei- zeigt, wie wichtig die Einbindung der Zivilge- ner gemeinsamen kulturellen Herkunft mit sellschaft ist. So wird Auswärtige Kulturpo- wichtigen Partnern Deutschlands in Europa litik zu einer Außenpolitik der Bürgergesell- und in der Welt. schaft. Das wird in ganz besonderem Maße Das Reformationsjubiläum soll auch An- auch für das Themenjahr 2013 »Reformation lass sein, die herausgehobene politische und Toleranz« gelten. Bedeutung von Religions- und Meinungs- Gerade dieses Bekenntnis zur engagierten freiheit noch stärker in den Gesprächen mit Zivilgesellschaft ist das auch heute noch Ak- unseren ausländischen Partnern zu betonen. tuelle an den Ideen Martin Luthers, der sag- Dies ist Teil einer werteorientierten Außen- te: »Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn politik, der ich mich verpflichtet fühle. Be- nicht der Weg schon Frieden ist.« Ich selbst sonders in den Transformationsprozessen in möchte gemeinsam mit dem Auswärtigen der arabischen Welt kann das Thema Refor- Amt diese Ideenwelt gemeinsam mit unseren mation nutzbar gemacht werden – es eignet Partnern in der Welt nutzbar machen. sich, um Anstöße für Reformansätze zu ge- ben und so positiv auf Reformprozesse ein- zuwirken, ohne sich dem Vorwurf der Bevor- mundung auszusetzen. Wir haben das Thema bei einer ersten Ver- anstaltung in Luthers Heimatstadt Witten- berg im März 2011 aufgegriffen – im Sym- posium »Wie frei ist der Mensch?«, welches das Auswärtige Amt in Kooperation mit der Geschäftsstelle »Luther 2017« durchführte. Die Ausstrahlung Luthers und der Reforma- tion auf Reformbewegungen in der Welt, ins- besondere auch der islamischen, stand im Fokus. Mit dem Symposium wurden wichti- ge Multiplikatoren erreicht und Netzwerke gefördert. Dabei begegneten sich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Wittenberger Bürger und eine Schulklasse der Evangeli- schen Schule Frohnau, die sich engagiert an der Debatte beteiligten. Nachhaltige Netz- werke können nur entstehen, wenn auch jun- ge Menschen am Dialog teilnehmen. Paral- lel zur Veranstaltung fand ein interreligiöser Schülerworkshop zum Thema »Mein Traum Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 107

… ein glühender Backofen voller Liebe

Peter Reifenberg — Politik & Kultur 6/2009

Über alle konfessionellen Grenzen hinweg ranzubringen. Theologie nach lutherischem fordert er heraus, fasziniert er durch seine Vorbild zu denken heißt, den schuldigen und Entschiedenheit, seine Sprachgewalt, Fleiß, verlorenen Menschen und den rechtfertigen- seinen scharfen Verstand und seinen Beken- den und erlösenden, rettenden Gott in den nermut: Der Gottsucher, Gottesfürchtige, Mittelpunkt zu stellen. Dem Wort wollte er Augustinermönch, Prediger und Reformator zuvörderst dienen, jedes Sprachschöpfertum Martin Luther. Die größte Provokation ge- steht unter dem Dienst am Wort des Evan- schieht allerdings durch seine theologische geliums. Nur aus der handlungsrelevanten Gestalt. Die Theologie Martin Luthers, der Dialektik dieses sprachgewaltigen Denkens freilich kein Heiliger ist, lockt zum gründ- und Sprechens lassen sich die Antithesen lichen Studium, dies zumal, wenn man in verstehen: Gesetz und Evangelium, Freiheit Worms geboren und aufgewachsen ist. und Unfreiheit, Buchstabe und Geist, verbor- An der Weimarer Ausgabe muss man sich gener und offenbarer Gott … Doch die Beja- hart abarbeiten, muss sich einlassen auf die hung des Einen heißt nicht die Verneinung antithetische Gestalt einer aus der Situation des Anderen und umgekehrt. und für sie urgierten Theologie, muss sich in Diese Theologie lässt sich bis in Einzelfra- die innere Dynamik eindenken, wie es selbst gen der Kritik unterwerfen, ein sanftes Ru- von lutherischen Predigern oftmals verges- hekissen ist sie nicht, sie eignet sich auch sen oder gar nicht mehr gekannt wird. Die nicht für Konsenstheologen, sondern fordert massenhafte Abwendung von den Kirchen zum Ja oder Nein, besser zum dialektischen – katholische wie evangelische – geschieht Ja und Nein im eingeschlossenen Dritten auf, auch deshalb, weil die Menschen die Ver- immer mit dem Blick auf die Kreatur, die vor kündigung des Wortes nicht mehr überzeu- ihrem Gott bestehen will und muss, die ver- gend als existenzumstürzendes Sprach- und spürt, dass sie angesichts Gottes marginal Denkereignis erleben. Theologie als heraus- und zentral zugleich allein auf Gottes Han- fordernde Disputation zu betreiben bedeu- deln angewiesen ist. Der Primat der Gna- tet, sie gerade nicht in ein rigides Lehrge- de vor der Handlungsmöglichkeit mag dem bäude zu zementieren, sondern sie auf die nachpostmodernen Menschen heute nicht Weise der lebendigen Suche nach Gott und mehr schmecken, da sein Selbstverständnis dem Menschen in Verkündigung und Wis- stark von einer nachneuzeitlichen Autono- senschaft als Streitsache in bestem Sinne vo- mie geprägt ist. 108 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Die Ernsthaftigkeit des Stehens vor Gott lässt sakramentalen Tröstungen, sondern der sün- Luther keine Ruhe, so sehr ist er vom Geis- dige Mensch erfährt sich radikal und verein- te Augustins geprägt. Mit der gnadenhaften zelt auf sich allein vor Gott gestellt, allein Wirklichkeit Gottes zu rechnen, ist für Lu- im Glauben an Christus, der allein im Kreuz ther Lebensinhalt schlechthin: Wie sieht die erlöst, dem allein im Glauben zu begegnen dynamische Wirklichkeit zwischen Gott und ist und dessen Wort des Evangeliums allein Mensch aus? Kann das Einzelsubjekt vor sei- genügt. Eine Theologie des Kreuzes zu leben, nem Gott bestehen? Diese subjektbezogene die die Entschiedenheit des Einzelnen betont, Frage ist revolutionär angesichts einer durch die auch in Vereinzelung führen kann, die im Kirche und Lehramt verbürgten Objektivi- Amt nur Hindernis und Afterdienst erblickt: tät. Die Frage überwältigt Luther, lässt ihn Ist sie tatsächlich leb- und universalisierbar? in ein Rechtfertigungsdrama eintreten, in Sie bleibt eine anfechtbare Theologie im Wi- dem er fast selbst zugrunde geht, so radikal derstreit, im inneren und äußeren Kampf, in und ausschließlich, so unerbittlich und un- der Unruhe nimmermüden Suchens, dem al- umkehrbar macht er seine eigene Erfahrung lein das Wort das Brot des Lebens gibt, den zum Paradigma des Verhältnisses des Men- nur der Glaube an die vergebende Liebe Got- schen vor Gott überhaupt: Wie finde ich ei- tes leben lässt. nen gnädigen Gott? Sieht Luther die Wirklichkeit des Men- Den hermeneutischen Schlüssel zum Ver- schen in einer reduktionistischen Weise? In ständnis der Schrift – und damit zum Verste- letzter Gewissheit erblickt er in Gott die Lie- hen des Menschen angesichts Gottes – findet be und stellt sich aus dem nominalistischen er in Röm 1, 17: »Denn die Gerechtigkeit Got- Ockhamismus her kommend gegen die scho- tes wird in ihm offenbart aus dem Glauben lastischen Unterscheidungen, denen er die zum Glauben.« Doch wie steht es mit dem Chiffre »Philosophie« verleiht. Dagegen steht Rechtfertigungsbedürfnis des Heutigen? Die für ihn fest: Gott ist »ein glühender Backofen Dichotomie von Gesetz und Evangelium zielt voller Liebe« (WA 36,425). gegen jeden im Grunde atheistischen Ver- Mit diesem zentralen Grundgedanken jo- such der Selbstrechtfertigung, bei dem der hanneischer Theologie finden sich Katholi- Mensch nicht auf Gott allein angewiesen sein ken und Protestanten heute eng versöhnt; will. Insofern ist die Gesetzesgläubigkeit das die Grundbotschaft von Papst Benedikt XVI. Gegenteil von Glauben im Sinne des Evange- »Deus caritas est« (2005) liest sich entspre- liums und damit als Kategorie für die Versöh- chend wie eine ökumenische Bestätigung. nung unbrauchbar. Leistungen können die Durch die spannungsgeladene Antithetik Gott-Mensch-Beziehung nicht grundlegend der Theologie Luthers wird der Bogen dieser ändern: »Wo Menschenkraft ausgeht, da geht Theologie niemals schlaff. Das Leben aus ihr Gotteskraft ein, wenn der Glaube da ist und findet innerhalb der Spannungen seine Ant- darauf wartet« (WA 7,568 f.). Alles kommt da- wort, kann sich nur von Gott her verstehen rauf an, dass Gott die Gerechtigkeit durch und in der radikalen Verpflichtung zum Glau- Gnade gewährt und anrechnet. Der identi- ben erleben. Doch wirkt dieser Glauben nicht tätsstiftende Glaube ergreift Christus und schon fatalistisch? Belässt er der Würde der der Glaubende wird durch Christus, der in Vernunft die ihr zukommende Weite? Wird ihm lebt, zum eigentlichen persönlichen Ich. das Handeln des Menschen in dieser Theo- All die entscheidenden Fragen schauen logie von einem übermächtig fordernden nicht auf die entlastende Kraft der kirchlich- Glauben verdeckt, ja a priori negativ konno- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 109

tiert? Wird des Menschen moralische Kom- Theologie sinnenfällig und wirkmächtig aus – petenz untergraben? Wenn Luther die Wil- gleich einem »Donnerwort«. Welche tiefe Er- lensfreiheit zu leugnen scheint, so ist dies kenntnis bleibt lebenstragend und prägend aus dem radikalen Gottesbezug zu verste- aus seinem Denken? Luthers letzte Worte hen; erst die Nichtigkeit des freien Willens beeindrucken zutiefst, weil sie die grundle- vor Gott macht das Gewissen zur Erkennt- gende Wahrheit über den Menschen vor dem nis frei, erst der Glaube und das Vertrauen ewigen Gott aussagen: »Wir sind Bettler. Das in Gott zeigen dem Menschen die Grenzen ist wahr« (WA 48,241). seiner weltlichen Freiheit auf. Der Wille ist stets vom Wort in Anspruch genommen, nie- mals konsistent in einer beliebigen Libera- lität, niemals im Sinne einer abstrakten be- grifflichen Einfassung, sondern entschieden vor Gott und den Menschen, nicht selbstbe- mächtigend, sondern stets unter dem Willen Gottes begnadeter Wille. Der Mensch – simul iustus et peccator – wird nur auf Gott hin ge- deutet. Sein Vermögen reduziert sich auf die Hingabe seines Glaubens; dann gilt: Mehr als angenommen sein in Christus gibt es nicht, das neue Leben kann beginnen (H. M. Barth). Menschliche Werke sind ohnmächtig an- gesichts des Willen Gottes. Was jedoch ver- mag der Wille des Menschen zu seinem Heil? Kann er die Grundrichtung des Willens än- dern? Er ist nach Luther erst dann frei, wenn er im Glauben Gott Gott sein lässt und es als Trost erfährt, den Willen Gottes als sei- nen eigenen anzunehmen, ohne vorschnell in einen metaphysischen Determinismus zu verfallen. Vor Gott stehen heißt, den Willen Gottes nicht als einen den Menschenwillen zerstörend, sondern ihn als begnadend zu erfahren. Diese Bewegung geschieht in der lebendigen Form des Bekennens im Glauben. Diese Splitter aus seiner Theologie müs- sen in der Kürze genügen. Das ein martiali- sches Lutherbild des 19. Jahrhunderts wider- spiegelnde Luther-Denkmalbild in Worms – Luther steht als erhabener weit ausschau- ender Bekenner erhöht und allein, umringt von bedeutenden Reformatoren – schreibt sich in die Seele auch des katholischen Theo- logen ein. Luther ruft seine wortgewaltige 110 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Thron und Altar

Georg Ruppelt — Politik & Kultur 3/2010

2014, drei Jahre vor dem großen Luther-Ge- »Furchtlos und treu.« denken, wird man in Deutschland und der Rede über Offenbarung Joh. 2, 10, am 2. Au- Welt an den Ersten Weltkrieg – manche sa- gust am Bismarckdenkmal, gehalten von gen auch den Zweiten Dreißigjährigen Krieg Hofprediger Lic. Doehring in Berlin. – und seine Millionen Toten erinnern. 1914 erschien ein 400 Seiten starkes, großforma- »Fürchte dich nicht, tiges und reich illustriertes Buch unter dem du wirst nicht sterben.« Titel »Eine feste Burg. Predigten und Reden Kriegspredigt über Richter 6, 23, am Kriegs- aus eherner Zeit«. Herausgegeben wurde es bettag im Dom zu Berlin, gehalten von dem von Lic. theol. Bruno Doehring, Königlichem Hof- und Domprediger Vits in Berlin. Hof- und Domprediger in Berlin. Auf dem Vorderumschlag ist in Gold auf Schwarz ein »Das Leben für die Brüder lassen.« Schwert zu sehen, dessen Knaufspitze ein Predigt über 1. Johannes 3, 16, im Dom zu Tatzenkreuz krönt und das von einer Aura Berlin, gehalten von Oberhofprediger D. Dry- in Kreuzform umgeben ist, darüber im Halb- ander in Berlin. rund der Titel. Das Buch enthält insgesamt 57 Predigten und Reden, die alle auch irgend- »Der Herr Zebaoth ist mit uns.« wo, irgendwie etwas mit Jesus von Nazareth Predigt über Psalm 46, 1–8 am Tage der Mo- zu tun haben und die gehalten wurden von bilmachung im Militärgottesdienst des 1. Ar- Männern mit wohl klingenden Titeln und meekorps Bock in Königsberg i. Pr., Militär­ Amtsbezeichnungen. oberpfarrer des I. Armeekorps. Im Folgenden seien ohne Kommentar Ti- tel dieser Reden aufgeführt, einige mit ih- »Heilige Rüstung!« ren Urhebern und dem Anlass der jeweili- »Der Geist, in dem wir kämpfen.« gen Rede. »Der Väter würdig!« »Wir fürchten uns nicht.« »Gehet ein durch die enge Pforte.« »Die rechte Christenlosung Predigt über Matth. 7, 13 und 14, am Tag der für eiserne Zeit.« Mobilmachung, Sonntag, den 2. August, ge- »Opferfreudigkeit.« halten von Hofprediger Geh. Konsistorialrat »Unser Gott, Kritzinger in Berlin. willst du sie nicht richten?« Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 111

»Tust du deine Pflicht?« daß mein Volk, mein liebes deutsches Volk, »Ein Vaterunser im Kriege.« nun der Kulturträger für die Welt geworden »Der christliche Heldenmut.« ist, der Kulturträger einer rechten, wirklich »Euer Herz erschrecke nicht!« verchristlichten Kultur, nachdem die falsche »Daß wir tüchtig sind, ist von Gott.« eines elenden Scheinchristentums sonder- »Sorget nicht für euer Leben!« lich durch Englands Schuld so jammervoll »Vom rechten Opfersinn.« Fiasko gemacht hat!? Ob wohl nicht!? »Ich muß wirken.« Aber freilich, voll und ganz wird die Ver- »Nehmt den Kampf unseres Vaterlandes heißung erst erfüllt werden, wenn wir, getreu zum Vorbild eures Christenlebens.« bis an den Tod, auch diesen letzten Feind Konfirmationsrede über 1. Tim. 6, 12 von Pas- überwunden haben und eingegangen sein tor Lic. Riemer in Berlin. werden in das Heilsland des ewigen Friedens. Und dabei denke ich nun an die teuren ge- »Der Herr hat Großes an uns getan.« fallenen Helden unseres ruhmreichen Regi- Predigt nach der Befreiung Insterburgs von ments, von unserem lieben Major Cuno von der Russenherrschaft über Psalm 126, 3 von Bredow, dem Edelmenschen, herab bis zu Superintendent Kuhn in Insterburg. dem jüngsten Leutnant und bis zu den letz- ten Toten im letzten Gliede, dessen gewiß, »Der Gewinn, den wir aus diesem Gott, der Herr, hat ihnen in seiner Gnade um großen Kriege haben sollen.« unseres Heilandes Jesu Christi willen ihre Er- »Sichel und Schwert.« dentreue mit seinem Himmelsheil belohnt. »Das Recht unseres freudigen Kameraden, seid ihr auch so treu, treu bis Stolzes auf unser Volk.« in den Tod! Er wird euch die Krone des Le- »Gott beruft unser Volk zum Seher bens geben. Wohlan, in diesem Sinne schwört einer gesegneten Zukunft.« nun euren Fahneneid als deutsch-christliche Predigt nach dem Fall Antwerpens über 4. Männer! Gott, der Herr, rüste euch dazu aus Mos. 24, 1–9 von L. Jacobskötter, Pastor am mit seinen Gaben und Kräften, dass ihr ihn Dom in Bremen. jetzt recht leistet und dann allezeit recht hal- tet! Amen.« Aus dem Schluss der »Vereidigungsrede« über Off. Joh. 2, 10 von Oberpfarrer D. Dr. Rie- mann in Charlottenburg, Militärseelsorger der Garnison: »Schreibt das Wort Disziplin groß in eu- rem Soldatenleben! Die deutsche Disziplin, die uns unsere Feinde nicht nachmachen können, verbürgt uns unsere Erfolge, und in den Erfolgen habt ihr dann auch schon eine herrliche Erfüllung der Verheißung: ›So will ich dir die Krone des Lebens geben.‹ (…) Und ist das nicht auch ein Stück wahren Glückes, wenn ihr als treue Vaterlandsver- teidiger euch einmal werdet sagen dürfen: Ich habe auch etwas dazu beitragen können, 112 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Luther gehört uns nicht

Stephan Schaede — Politik & Kultur 5/2010

Luther gehört uns nicht. Er gehört nicht den die sich mutig wähnt, eher in öffentlichen evangelischen Kirchen. Er gehört nicht den Gebäuden, am Ende sogar in Privathäusern. Kirchenbünden lutherischer Prägung. Wo ist Fehlt noch der von innen beleuchtete Lumi- das augenfälliger als in der Lutherstadt Wit- luther. Das wäre doch was: Luther als Licht tenberg! Die meisten Wittenberger sind kon- der Welt zwar nicht, aber des Wohnzimmers. fessionslos. Ein Pilgerbummel durch die pit- Nun hat Ottmar Hörl hervorgehoben, Lu- toreske Innenstadt bietet jedoch Lutherbier, ther habe die Trennung von Kirche und Staat Lutherwein, halbbitteren Lutherlikör, Lu- initiiert. Selbst wenn das stimmen sollte: Ist therkugeln, Luther auf Postkarten, T-Shirts, das das Entscheidende? Ich höre bei Luther auf Messern und Gabeln, auf Aschenbechern, 2017 immer nur Kirche und Staat: Kirchen- Fingerhüten und Postkarten. Luther ist gera- musik – staatliche Orchester, kirchliche Frei- de dort allgegenwärtig, wo kaum einer mehr heit – politische Freiheit, kirchliche Macht – was glaubt. Luther gehört wirklich nicht uns. staatliche Gewalt, religiöse Bildung – Schul- Vom baufälligen Postament vor dem Wit- bildung … Das verstehe ich nicht. Luthers tenberger Rathaus ist der Reformator übri- Geist mag zwar »zweier Zeiten Schlachtge- gens soeben verschwunden. Weg vom Markt biet« (Conrad Ferdinand Meyer) gewesen ist er allerdings nicht. Die Kurientheologen sein. Zweier Reiche Schlachtgebiet war er zu Rom wussten schon, warum sie zu des- aber nie. Die »Zwei-Reiche-Lehre« ist eine sen Lebzeiten Luther mit einer Hydra ver- Erfindung der theologischen Lutherinterpre- glichen. Lasse man seinen Kopf mit lehr- tation. Luther selbst kennt sie nicht. Er ist amtlicher Gewalt verschwinden, wachse er nicht für Reiche. Denn ihn hat das gesell- nur um ein vielfaches vermehrt wieder her- schaftliche Leben in seiner ganzen Vielfalt vor. Zum Vervielfältiger hat sich jetzt Ott- beschäftigt. mar Hörl aufgeschwungen. Der ist Künstler, Deshalb frage ich mich: Wieso eigentlich nicht Kirchenmann. Von August bis Septem- immer nur die monotone Zweifaltigkeit von ber 2010 bevölkern in einer Installation 800 Kirche und Staat? Was ist mit den anderen ein Meter große Kunststoffluther in grün, rot, gesellschaftlichen Kräften im Land? Dritte blau und schwarz den Wittenberger Markt. Kräfte sind doch wohl hoffentlich nicht nur Sie werden als Lutherbotschafter in alle Welt als Geldspender willkommen. Keine Frage: verkauft. Wo sie wohl zu stehen kommen? Sponsoren und Stifter muss es geben – ge- Mag sein in der einen oder anderen Kirche, rade für ein so besonderes Ereignis wie 2017. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 113

Ich habe großen Respekt, wenn Menschen In kurzen Schriften dachte er über die Be- bereit sind, in ein solches Datum Vermögen deutung von Kulturphänomenen nach, von zu investieren. Sie müssen aber sicher sein der Windel bis zur Schultafel. Luther erkann- können, dass ihre Spenden nicht zu einem te, was Bildung für das Leben heißt. Ihm war Ablass für ein petersdomartiges Großevent klar, dass schwärmerische Verblödung das verkommen. Leben auf ungute Weise frömmer macht. Wer Das Reformationsjahr 2017 verdient an- das Evangelium trivialisiere, bringe nicht nur ders zu werden. Bitte nur ja keine Aneinan- andere um ihren Verstand. Er gefährde deren derreihung von nationalpolitischen Gedenk- Leben. Denn das Leben ist niemals einfach stunden und kirchenpolitischen Ruckereig- und wird es auch nicht werden. Das Leben nissen. Bitte nur ja keine staatstragenden ist auch mehr als nur religiös. Kein Wunder, Freiheitsansagen! Bitte nur ja keine verklau­ dass es Luther in Gemeindevisitationen auch sulierten theologischen Richtigkeiten, wie um die Finanzierung von Schulen, den Bau sie schon immer langweilig waren! Luther von Brücken und Wegen ging. Luther lag an bietet mehr. Luther hat die Künstler seiner der Vernunft. Er lobte sie als »Erfinderin und Zeit fasziniert. Cranach hat ihn und seine Lenkerin aller Wissenschaften, der Medizin Ideen immer wieder ins Bild gebannt. Dürer und der Jurisprudenz sowie alles dessen, was schickt ihm unmittelbar nach der Veröffent- in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüch- lichung seiner 95 Thesen einen Dankesbrief tigkeit und Herrlichkeit vom Menschen be- und legt gleich noch ein Geschenk dazu. Lu- sessen wird«. Nur dürfe diese Erfinderin und ther sang und spielte Instrumente. Mitsingen, Lenkerin nicht herrenlos im menschlichen laut und aus Überzeugung, lag ihm am Her- Verstand herumflottieren. Luther 2017 kann zen. Er ist als Sänger durch die Straßen ge- hier die gesellschaftspolitische Frage aufwer- zogen und hat sich damit ein Zubrot verdient. fen, wem die faszinierenden Vernunftleistun- Luther dichtete, war ein raffinierter Rheto- gen eigentlich ihre Treue erklären wollten riker und Stilist. Luther mochte Latein. Ins und sollten. Für Luther waren es seine Glau- Kloster zog er mit Vergil und Plautus unterm bensüberzeugungen. Das gibt wissenschafts- Arm. Die waren auf alles, nur nicht auf Fröm- und kulturpolitisch zu denken. migkeit und Staatstheorie abonniert. Luther Luther gehört uns übrigens auch nicht in wollte weltliche Literatur verinnerlichen, um seinen Schwächen. Dass er von der Schweiz nicht in eine lebensgestaltende Einsilbigkeit behauptete, sie sei »nicht mehr denn Berg zu geraten. und Tal«, müssen die Kulturträger unserer Aber nicht nur das: An einer Metamor- südlichen Nachbarn provokativ korrigieren phose von Ovid hatte er ebenso viel Spaß dürfen. Man darf ihm auch nicht durchge- wie an einer saftigen Schweinekeule. Wie ein hen lassen, dass er während seiner Romrei- kleiner Junge freute er sich über die Gast- se nur von der schlechten Akustik des Ulmer freundschaft bayrischer Gastwirte, die da- Münsters, von Findelhäusern und Spitälern mals schon so römisch-katholisch waren, wie zu Florenz und dergleichen mehr zu berich- sie es heute noch sind. Luther war ein begna- ten wusste. Ich finde das ignorant, kein Wort deter Übersetzer und schrieb über die Kunst über Chorgestühle, Michelangeloplastiken, des Dolmetschens spritzige Texte. Ohne die Pintoricchiofresken und Mamorinkrustatio- Lust am ununterbrochenen Hin- und Her- nen zu verlieren. Ein Letztes noch: 2017 darf wandern zwischen verschiedenen Lebens- gerade nicht zu einer Vervielfältigung von welten geht da gar nichts, schärfte er ein. Luther selbst führen. Das hat er sich persön- 114 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

lich aus gutem Grund verbeten: »Man wollt meines Namens geschweigen und sich nit lutherisch sondern Christen nennen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nit mein […]. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollt mit meinem heillosen Namen nennen? […] Ich bin und will keines Meister sein.« Gerade den von Ottmar Hörl erwähnten Buchdruck nutzte Luther nicht zur Selbst- vervielfältigung, sondern der Sache, der er dienen wollte. Auch die gehört uns sicher nicht allein. Bis zum Reformationsjubiläum sind es noch sieben Jahre – Zeit genug, um die Kräfte jenseits von Kirche und Staat zu mobilisie- ren. Ein paar dieser Kräfte sind ja schon un- terwegs. Aber ich freue mich auf mehr, freue mich auf heitere Irritationen, auf Freches, auf runde Luthertische jenseits von Staats- kanzleien und Kirchenämtern. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 115

Luther gehört euch wirklich nicht! Die Evangelische Kirche sollte ihre Tore weit, sehr weit öffnen

Olaf Zimmermann — Politik & Kultur 6/2010

Stephan Schaede, Direktor der Evangeli- So klug gewählt diese Schwerpunkte sind schen Akademie Loccum, hat in der letzten und so geschickt sie anstehende Jubiläen wie Ausgabe von Politik & Kultur (5/2010) ge- z. B. das 800-jährige Jubiläum des Leipziger schrieben »Luther gehört uns nicht«. Er hat Thomanerchors (2012) oder den 500-jähri- seinen Ruf als Theologe vor allem an die Ver- gen Geburtstag von Lucas Cranach d. Jün- treter und Mitglieder der Evangelischen Kir- geren (2015) mit dem Reformationsjubilä- che gerichtet und unterstrichen, dass das Re- um verbinden, dennoch bleibt die wirkliche formationsjubiläum im Jahr 2017 mehr sein Begeisterung für die Lutherdekade noch aus. muss als eine Veranstaltung von Kirche und Nun mag es daran liegen, dass das eigent- Staat. Er ruft auf, dass andere gesellschaft- liche Reformationsjubiläum noch in weiter liche Akteure einbezogen werden müssen. Ferne liegt. Gleichwohl damit das Reforma- Recht hat er! tionsjubiläum tatsächlich begeistert, muss Vor gut zwei Jahren wurde mit festlichen deutlich werden, was es mit uns heute zu tun Gottesdiensten in Wittenberg die Lutherde- hat, was es für die gesamte Gesellschaft be- kade eröffnet. Über zehn Jahre hinweg soll deutet und nicht nur für die protestantischen das Reformationsjubiläum 2017, 500 Jahre Christen. Wenn jetzt auch noch der Beauf- Thesenanschlag an die Schlosskirche zu Wit- tragte der Bundesregierung für Kultur und tenberg, vorbereitet werden. Geplant sind je- Medien in den kommenden sieben Jahren je- weilige thematische Schwerpunkte. Das lau- weils 5 Millionen Euro, also zusammen stol- fende Jahr 2010 wurde unter das Motto »Re- ze 35 Millionen Euro zur Verfügung stellt, so ligion und Bildung« gestellt. Im Mittelpunkt der Haushaltsausschuss im Deutschen Bun- steht der Reformator Philipp Melanchthon, destag die Mittel genehmigt, stellt sich umso der sich in besonderer Weise um das Bil- mehr die Frage nach der gesellschaftlichen dungswesen verdient gemacht hat. Weitere und besonders auch kulturpolitischen Di- Themenjahre sind: »Reformation und Frei- mension des Reformationsjubiläums. heit« (2011), »Reformation und Musik« (2012), Keine Frage, das Reformationsjubiläum »Reformation und Toleranz« (2013), »Refor- wird für den Kulturtourismus in den drei so- mation und Politik« (2014), »Reformation – genannten Stammländern des Protestantis- Bild und Bibel« (2015), »Reformation und die mus (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin- Eine Welt« (2016) sowie das eigentliche Re- gen) eine große Bedeutung haben. Ebenso formationsjubiläum (2017). bietet es die Gelegenheit, die Wirkungsstät- 116 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

ten Martin Luthers zu restaurieren und auf vilgesellschaft. Besonders die evangelische den neuesten Stand zu bringen. Doch wäre Kirche sollte dafür ihre Tore weit, sehr weit das für ein Reformationsjubiläum zu wenig. öffnen. Die Lutherjubiläen gründeten in der Ver- gangenheit oft auf sehr engen Kooperatio- nen von Evangelischer Kirche und Staat. So wurde z. B. auf kaiserlichen Erlass der 400. Geburtstag Luthers 1883 in ganz Deutsch- land begangen. Besonders groß war der Miss- brauch der Lutherfeiern durch den Staat vor und während des ersten Weltkrieges in Deutschland. Aber auch in der jüngsten Ge- schichte kam der Staat nicht ohne Martin Lu- ther aus. Zur Feier der 500. Wiederkehr des Geburtstages des Reformators 1983 instru- mentalisierten Ost- und Westdeutschland die Feiern jeweils aus dem eigenen Blickwin- kel. In der DDR übernahm Staats- und Par- teichef Erich Honecker selbst den Vorsitz des Lutherkomitees. In einer Zeit, die, obwohl vermeintlich sä- kularisiert, von religiösen Konflikten aufge- laden ist, lohnt es sich über die Sprengkraft von Religion allgemein wie auch der Refor- mation im Speziellen heftig nachzudenken. Hier ist jede und jeder gefragt. Also nicht nur die evangelische Kirche und der Staat. Das Reformationsjubiläum ist eines der wichtigsten Kulturereignisse des nächsten Jahrzehnts und darf wegen den Erfahrungen der Lutherjubiläen in den letzten Jahrhun- derten kein rein staatliches oder kirchliches Ereignis werden. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat am 6. Oktober vor dem Kul- turausschuss des Deutschen Bundestages klargestellt, dass es trotz seiner finanziel- len Unterstützung mit ihm keine staatlichen Lutherfeiern geben wird. Der Staat hat seine Lektion aus den letzten Jahrhunderten ge- lernt. Jetzt muss auch die evangelische Kir- che zeigen, dass sie lernfähig ist. Was wir jetzt brauchen ist eine kritische und öffentliche Debatte zu Luther 2017 und der Reformationsdekade in der gesamten Zi- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 117

Luther historisch einordnen

Heinz Schilling — Politik & Kultur 3/2009

Luther 2017 – welche Bedeutung können der Intentionen und Antriebskern seines Han- Wittenberger Reformator und sein Werk An- delns lassen sich nicht aus einer Nähe Lu- fang des 21. Jahrhunderts beanspruchen und thers zu den Bedingungen unserer heutigen welche Kreise haben Anlass, der Ereignisse Existenz bestimmen. Vielmehr gilt es auf das vor 500 Jahren zu gedenken – nur die Luthe- ganz Andere und Fremde bei Luther zu ach- raner oder die Christen insgesamt und da- ten: Von seiner Wirkungsgeschichte befreit, rüber hinaus auch Nicht-Christen, die sich ist der Reformator eine der großen Gestalten der geistigen Ursprünge ihrer Existenz ver- einer für uns heute verlorenen Welt. Er und gewissern wollen? sein Werk sind nur historisch zu verstehen, Eine Antwort auf diese Fragen ist ein- wollen wir nicht wiederum nur den eigenen fach und schwer zugleich. Denn einerseits Zeitgeist in ihm »feiern«. Luther darf nicht, ist Luther im Geschichtsbild nicht nur der jedenfalls nicht vorschnell, zu dem Unsrigen Deutschen und des Luthertums nachdrück- gemacht werden, wie das bei den zurücklie- lich präsent – anders als etwa Johannes Cal- genden Zentenarfeiern die Regel war – 1617, vin, dessen 500. Geburtstages in diesem Jahr in gewisser Weise auch noch 1717 Luther, der gedacht wird. Andererseits ist es aber gera- Konfessionalist und Befreier aus papistischer de diese Allpräsenz, die die geschichtliche Knechtschaft; 1817 Luther, der Befreier und Leistung Luthers eher verdunkelt als erhellt, Heros der soeben erweckten Deutschen Na- beruht sie doch im Wesentlichen auf späte- tion (Wartburgfest 18/19. Oktober); 1917 der rer politischer Inanspruchnahme vor allem nationalistische Durchhalte-Luther, der we- durch nationale Deutungen des 19. und frü- nig später in den finsteren Jahren der natio- hen 20. Jahrhunderts. Um Mann und Werk im nalsozialistischen Selbst- und Fremddeutung Horizont ihrer Zeit zu begreifen und ihre Be- sogar zum Ahnherr Hitlers verzerrt wurde. deutung für die Gegenwart historisch sach- Allerdings kann es nicht bei der Trennung gerecht zu bestimmen, gilt es diese Halde von vergangener Lebenswelt und Wirkungs- der Lutherrezeption und des Luthermythos geschichte bleiben. Denn wie immer man abzutragen. Zudem empfiehlt es sich, zwi- seine Biographie ansetzen mag, Luther mar- schen den Intentionen des Wittenberger Bi- kiert eine »Wegscheide der Weltgeschichte« belprofessors einerseits und seinen darüber (Gottfried Schramm) und ist daher für die hinausgehenden Wirkungen andererseits zu Gegenwart unmittelbar relevant: Ohne ihn unterscheiden. wären wir, und zwar auch die Nichtchris- 118 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

ten im »Westen« nicht, was wir geworden te weit reichende, eben weltgeschichtliche sind! In der damit eröffneten entwicklungs- Konsequenzen, die durchaus ihrerseits den geschichtlichen Perspektive nimmt die Re- Modernisierungs- und Wandlungsprozess der formations- und Konfessionalisierungsfor- europäischen Neuzeit vorantrieben, aber in schung Luther und die Reformation heute einer anderen, spezifischen Weise: Die Re- allerdings deutlich anders wahr als in der ligion kehrte mit ganzer Macht als Leitkraft Nachfolge des für solche Fragen lange ka- in das private und öffentliche Leben Europas nonischen Religionssoziologen Max Weber. zurück. Und insofern ist es berechtigt, Luther Denn zum einen können Luther und Witten- im Jahr 2017 als einen »Vater im Glauben« berg keineswegs für einen modernisierenden (Peter Manns) der gesamten Christenheit zu Aufbruch gegen ein stagnierendes, zum Wan- feiern, auch wenn sich diese infolge der Re- del unfähiges Papsttum stehen. Im Gegenteil, formation in verschiedene Konfessionskir- sie waren Reaktion auf einen gewaltigen Mo- chen differenzierte. dernisierungsschub, den die Kurie, der Kir- Luthers Rücklenken zur heilsgeschicht- chenstaat und das Papsttum seit Mitte des 14. lich verstandenen Religion bedeutete indes Jahrhunderts erfahren hatten. Als ausgangs keine De-Modernisierung, wie das aus dieser des 15. Jahrhunderts mit dem Konziliarismus Wende resultierende konfessionelle Zeitalter die »Ständeopposition« der Bischöfe nieder- im Vergleich zur Rationalität und Freiheit der gerungen war, konnte der Kirchenstaat als Renaissanceepoche gelegentlich abwertend eines der ersten frühmodernen Staatswesen charakterisiert wird. Luthers Sicherung der Europas gelten – regiert vom Papst als einem Religion für die Neuzeit bedeutete vielmehr der ersten frühmodernen, souveränen Mo- das Einlenken in einen von der Religion we- narchen Europas, verwaltet von einer Büro- sentlich mitgeprägten Modernisierungska- kratie, die ihresgleichen suchte, Vorbild im nal, in dem eine weit größere und qualita- Rechtswesen, der Diplomatie und im höfi- tiv andere Dynamik freigesetzt wurde, als es schen Zeremoniell, das noch auf Jahrhunder- dem verweltlichten Renaissancepapsttum je te hin das kulturelle wie politische Leben Eu- möglich gewesen wäre. Von dieser lutheri- ropas prägte. Das alles wird von der protes- schen Zentrierung auf die Religion profitierte tantisch geprägten Geschichtswissenschaft schließlich auch die römische Kirche. In der notorisch unterschätzt und in ihrem Bild von tridentinischen Reform wurde sie zur neu- der Reformation nicht hinreichend beachtet. zeitlichen katholischen Konfessionskirche, Zum anderen, und das ist der uns heute in der die Religion wieder im Zentrum stand schwer zugängliche Kern der universalge- und die dadurch in ganz ähnlicher Weise wie schichtlichen Bedeutung Luthers, erfolgte die protestantischen Kirchen einen spezifi- die Wittenberger Reaktion auf die von Rom schen Beitrag zur frühmodernen Dynamisie- ausgehende »Modernisierungskrise« gera- rung leisten konnte. de nicht als eine weitere, die römische über- Die großen Erfolge, die die Päpste Johan- trumpfende Modernisierung. Vielmehr kam nes Paul II. und Benedikt XVI. mit ihren In- es durch Luther und die von ihm ausgelöste szenierungen des Religiösen vor allem unter reformatorische Bewegung zur Reaktivierung der Jugend feiern, wären ohne die von Luther jener Kraft, die der römische Renaissance- gegen das Renaissancepapsttum erzwunge- typ der Modernisierung weitgehend abge- ne Wende zurück zum religiösen Kern kaum schafft hatte, nämlich der Religion als heils- vorstellbar. Luther als Garant neuzeitlicher geschichtlich gerichtetem Glauben. Das hat- Religiosität – unter dieser Perspektive kön- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 119

nen sich somit auch die katholische und alle suchte. Wie dem Kaiser das einigende politi- anderen christlichen Kirchen 2017 eingela- sche Band, so war Luther das einheitliche re- den fühlen, zusammen mit den Lutheranern ligiöse Band der Christenheit Lebensaufgabe. den Reformator wo nicht zu feiern, so doch Und da das in Alteuropa, wo Religion immer zu würdigen. zugleich als »vinculum societatis«, Frieden Unter den nicht intendierten, gleichsam stiftendes Band der Gesellschaft, verstanden überschüssigen Wirkungen der Reformation, wurde, zwei Aspekte derselben Sache waren, die bis heute unsere Welt bestimmen, und wurde der Fundamentalkonflikt zwischen zwar in wachsendem Maße, sind die Diffe- Reformator und Kaiser in dem Moment un- renzierung und die Säkularisierung beson- vermeidlich, als das neu gewobene religiöse ders gewichtig: Luther stand mitten in einem Band die theologischen und kirchenrechtli- tief greifenden Prozess der Differenzierung. chen Grundlagen des kaiserlichen Politik- Er selbst hat diese Entwicklung gewaltig be- bandes in Frage stellte. Indes zeigten sich schleunigt, indem sich infolge seiner Refor- beide universalistisch gedachten Bänder – mation die »societas Christiana« religiös und das politische des Kaisers ebenso wie das kulturell in unterschiedliche Konfessionen religiöse des Reformators – als ungeeignet, und Denominationen differenzierte. Der in die aufbrechende Differenzierung der Chris- diesem Zusammenhang häufig gebrauchte tenheit oder Europas zu bändigen und im In- negative Begriff Spaltung ist zwar zeitgenös- nern der Staaten oder zwischen ihnen ein sisch; für eine analytisch-wissenschaftliche friedvolles Zusammenleben zu garantieren. Bestimmung der allgemeingeschichtlichen Was 2017 wirkungsgeschichtlich Luther Leistung ist er aber wenig geeignet. Indem zuzuschreiben ist – der Protestantismus und die Konfessionalisierung der europäischen die von Rom unabhängigen Landes- und Na- Christenheit den Konfessionsstaat hervor- tionalkirchen, war somit das Ergebnis sei- brachte, trieb sie zugleich die staatliche Dif- nes kirchenpolitischen Scheiterns, genau- ferenzierung der Christenheit voran, bis hin so wie die partikulare und säkulare europäi- zur Geburt eines internationalen Systems sche Staatenwelt der Neuzeit, die beim 500. rechtlich gleicher Partikularstaaten im Feu- Geburtstag Karls V. im Jahr 2000 als des- ersturm der europäischen Konfessionskriege. sen Erbe gefeiert wurde, nicht Resultat sei- Es war Luthers, in gewisser Weise tragisches ner Intentionen, sondern seines politischen Schicksal, als Geburtshelfer­ der geistigen, Scheiterns war. Dennoch gehört beides zum kulturellen und auch politischen Differen- unverzichtbaren Kern der Moderne, auf der zierung Europas gedient und damit zugleich auch noch unsere Gegenwart fußt – die po- der pluralistischen und liberalen Moderne litische Vielfalt und Freiheit, die in Europa Bahn gebrochen zu haben. Gewollt hatte er immer noch die Despotie eines erdrückenden indes anderes, nämlich ganz Ähnliches wie Einzelstaates verhindert hat, ebenso wie die seine Hauptkontrahenten Erasmus und Kai- religiöse, schließlich weltanschauliche Plu- ser Karl V. – wie Erasmus, der die aufbrechen- ralität, die mit Luthers Tat ihren Lauf nahm. de militante Partikularität der sich separie- »Luther 2017« meint somit einen Gedenkort, renden Nationen geißelte und ihr die fried- der keineswegs nur Christen und auch nicht volle Universalität des »populus Christianus« nur Deutsche betrifft. entgegenhielt; wie Karl V., der das in Einzel- Die von Luther wesentlich ­ermöglichte staaten auseinandertretende Europa mit der Re-Implantation von Religion und ­Glauben universalen Kaiseridee zusammenzuhalten in den europäischen Prozess der Zivilisati- 120 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

on hat ohne Zweifel auf Generationen hin auch bösen Streit, mörderische Kriege und tiefes menschliches Leid gebracht. Zugleich hat diese Renaissance des Religiösen aber ganz entscheidend das Profil des neuzeit- lichen Europa mitgeprägt. Nach Überwin- dung des Konfessionsfundamentalismus der Glaubenskriege galt nicht mehr die noch von Hugo Grotius aufgemachte Alternative, ent- weder »ein guter Christ« oder »ein guter Bür- ger« zu sein. Beides konnte und musste zu- sammengehen – nicht zuletzt dank Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die auch die säkulare Welt christlichem Handeln erschloss. Vor al- lem aber hatte die lutherische Zentrierung auf das Heil zu einer Neubelebung der Eu- ropa eigentümlichen, in die Renaissancekir- che aber weitgehend abhanden gekommenen Typus von Säkularisierung geführt. Er ist da- durch gekennzeichnet, dass die neuzeitliche »Verweltlichung« nicht Kappen der religiö- sen Emphase meint, sondern deren Transfor- mation in die weltlich-gesellschaftliche Ord- nung, die dadurch besondere Legitimität und Dignität erhält. Das belegt nichts deutlicher als das Symbol der Friedenstaube: Den West- fälischen Friede, der 1648 die neue religiöse und politische Differenzierung Europas völ- kerrechtlich sanktionierte, repräsentierte sie noch mit dem Ölzweig im Schnabel als den Frieden zwischen Gott und den Menschen. Der Friedenstaube unserer Tage ist solche Transzendenz fremd; gleichwohl hat ihr die Säkularisierung religiöse Emphase verliehen, die der Forderung nach weltlichem Frieden zwischen den Menschen besondere Legiti- mität und Nachdruck gibt. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 121

Luther und die Hölle Oder: Über die Abschaffung des Fegefeuers

Carsten »Storch« Schmelzer — Politik & Kultur 2/ 2013

Als Martin Luther 1501 nach Erfurt ritt, konn- rierte – durch bildliche Darstellungen in Be- te er nicht wissen, dass die Reise sein Leben trieb gehalten – so sehr, dass er den Bau des für immer verändern würde. Auf dem Weg Petersdoms finanzierte. Dantes Göttliche Ko- wurde er »durch einen Blitzstrahl bei Stot- mödie war bei weitem nicht das einzige Werk, ternheim nicht weit von Erfurt derart er- in dem das Purgatorium behandelt wurde. So schüttert«, dass er vor Schreck rief: »Hilf du, entstand eine Angst, die Menschen durch ihr heilige Anna, ich will ein Mönch werden!« ganzes Leben begleitete. Luthers intensive Heute klingt das sehr extrem. Warum weiht Beschäftigung mit der Rettung vor den Qua- jemand in Todesgefahr sein Leben einer Hei- len des Jenseits zeigt, wie tief diese Furcht in ligen? Luthers Versprechen erklärt sich aus seinem Denken wurzelte. seiner Weltsicht. Als Mensch des ausgehen- Er hielt sein Versprechen und trat ins den Mittelalters war seine Furcht vor dem Kloster ein. Doch obwohl er ein frommer Tod mit einer greifbaren, realen Angst vor Mönch war, der alle Übungen ableistete und dem Fegefeuer verknüpft, die ihn sehr quälte. sich selbst kasteite, verfolgte ihn noch im- Diese Angst stand für Luther mit konkreten mer die Angst vor dem Endgericht. In die- Vorstellungen in Verbindung. Hölle und Fe- ser Phase eines Lebens hegte er noch kei- gefeuer waren Orte voller Qual, Gottesferne nen Zweifel an der kirchlichen Lehre von Fe- und Einsamkeit, die ein Mensch um jeden gefeuer und Ablass. Im Gegenteil, während Preis vermeiden wollte. Da lag es nahe, Vor- seines Aufenthaltes in Rom rutschte er noch sorge zu treffen. auf Knien die heilige Treppe am Lateran hi- Es wäre falsch, Luthers Angst vor dem Jen- nauf, um seinen verstorbenen Verwandten seits als Angst vor der Hölle zu sehen. Der im Purgatorium zu helfen. Luthers Haltung katholische Glaube bot eine gewisse Sicher- zum jenseitigen Leben begann sich erst zu heit vor der ewigen Verdammnis, proble- ändern, als er sein berühmtes Turmerlebnis matischer war das Fegefeuer. Durch dieses hatte. Später erinnerte er sich, in der Ein- mussten auch die Geretteten auf dem Weg leitung zu seinen lateinischen Schriften, an ins Paradies hindurch. In der Vorstellung war dieses Ereignis. Jedes Mal, wenn er über Got- es nicht weniger furchterregend als die Höl- tes Gerechtigkeit in Römer 1,17 nachdachte, le, zumal die kirchliche Werbung gewaltige wurde sein Gewissen unruhig. Obwohl er als Bemühungen darauf konzentrierte. Der rege Mönch untadlig lebte, fühlte er sich von Gott Ablasshandel, den Luther später angriff, flo- verdammt. »Ich hasste dieses Wort ›Gerech- 122 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

tigkeit Gottes‹, das ich durch den Gebrauch blematisch, dass die Hauptstelle, auf die sich und die gewohnte Verwendung bei allen Ge- Vertreter des Purgatoriums stutzen, 2. Mak- lehrten gelehrt worden war, philosophisch zu kabäer 12, 43-46 ist. Eine Stelle, die »nicht verstehen von der, wie sie sagen, formalen zu den heiligen Schriften zählt und auch von oder aktiven Gerechtigkeit, durch die Gott den alten Vätern nicht als Heilige Schrift an- gerecht ist und die Sünder und die Ungerech- genommen worden ist.« Letztlich scheitert ten straft.« also die Lehre des Purgatoriums an beiden re- In jenem Turm hatte er eine Erkenntnis. formatorischen Grundsätzen. Am »sola fide«, Er verstand, dass Gottes Gerechtigkeit nicht weil allein der Glaube an die Erlösung durch formal zu verstehen ist, sondern als etwas, Christus rettet; am »sola scriptura«, weil die das er dem Gläubigen zuspricht. »Da fing ich Bibel keine Referenz auf das Fegefeuer ent- an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerech- halt. Endgültig hatte sich Luthers Haltung in tigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte den Schmalkaldischen Artikeln (1537) gewan- als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus delt. Dort heißt es: »Darum ist das Fegfeuer dem Glauben.« mit all seinem Gepränge, Gottesdiensten und Über das Ereignis selbst ist so gut wie Geschäftemachereien für ein bloßes Teufels- nichts sicher bekannt, aber seine Bedeutung gespenst zu halten.« Als Begründung führt für die Geschichte der Kirche und Europas Luther an, dass allein »Christus, und nicht kann kaum übertrieben werden. Luther hat- Menschenwerk den Seelen helfen soll.« Die- te gefunden, was er gesucht hatte, war aber se Begründung zeigt, worum es Luther ei- zugleich skeptisch geworden gegenüber dem, gentlich ging. Nicht um eine Lehre des Le- was er gelernt hatte. In diesem Turmzimmer bens nach dem Tod, sondern um die Rettung wurde die Basis für zwei der Hauptsätze der der Seelen. Reformation gelegt. »Sola fide« (allein aus Dennoch schüttete Luther nicht das Kind Glauben) führte fast automatisch zu »sola mit dem Bade aus. Dass er die Lehre des Pur- scriptura« (allein die Schrift). Von diesem gatoriums nicht halten mochte, bedeutet Moment an nahm Luther die Theologie der nicht, dass er auch die Hölle in Frage stellte. Kirche kritisch unter die Lupe. Bald darauf Er dachte sicher nicht, dass alle Menschen im (1517) schlug er seine 95 Thesen an die Tür Endgericht gerecht gesprochen wurden. Tat- der Schlosskirche zu Wittenberg. sächlich tat Luther möglicherweise mehr als In den Thesen wendet sich Luther zwar jeder andere, um die Lehre der ewigen Höl- gegen kirchliche Missstände wie den Ab- le auch im gemeinen Volk zu verankern. Als lasshandel, kritisiert aber nicht die kirchli- 1522 die Erstausgabe seiner deutschen Über- che Höllenlehre. Die Hölle erscheint in drei setzung des Neuen Testamentes herauskam, Thesen am Rande, sie ist nicht Gegenstand übersetzte er das griechische Wort Gehenna des Reformprogramms. Es ist bemerkenswert, konsequent mit »Helle«. Damit verankerte er dass auch das Fegefeuer noch vorausgesetzt das Wort bis heute fest in unserem Sprach- wird. Luther kritisiert zwar die Ablasspraxis, schatz. Auch wenn er keine eigenständige zieht aber die Existenz des reinigenden Feu- Theologie der Hölle vorgelegt hat, hinterlasst ers selbst nicht in Frage. Luther ein großes Erbe an diesem Punkt. Die Dass sich seine Einstellung zu diesem Abschaffung des Fegefeuers und die Erkennt- Thema mit der Zeit drastisch änderte, zeigt nis, dass Gerechtigkeit ganz aus Glauben an eine Predigt aus dem Jahr 1530, der »Widerruf Gottes Gnade kommt, sind zwei große refor- der Lehre vom Fegefeuer«. Luther sah es pro- matorische Errungenschaften. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 123

Reformationsjubiläum als Fest der Standhaften

André Schmitz — Politik & Kultur 3/ 2016

Mich beeindrucken Menschen, denen es neue Institution. Dabei war er eigentlich Re- nicht um Strukturen oder Dogmen geht, die formkatholik, sagen viele Evangelische wie für neue Ideen nicht Machbarkeitsstudien in Katholische heute. Er wollte die Kirche nicht Auftrag geben oder sich in Bedenken wiegen, spalten, er wollte sie verändern; zurückfüh- bevor sie etwas anpacken. Menschen, die tun, ren zu ihren Ursprüngen. Die seien allein in was sie meinen, tun zu müssen und sich nicht der Bibel zu finden – »sola scriptura«, hat selbst verleugnen. Einer von denen ist Martin Luther behauptet. Die ganze mächtige In- Luther – jener Mönch, der sich vor 500 Jah- stitution der Kirche seiner Zeit mit all den ren aus der Übermacht der damaligen Kirche theologischen Haarspaltereien, der päpstli- befreite, heiratete und der Kirche mit der Bi- chen Machtpolitik, den Orgien und Exzessen bel in der Hand die Leviten las. Jetzt, kurz vor im Klerus – das verträgt sich nicht mit der dem Reformationsjubiläum im Jahr 2017, ist Lehre der Bibel. Heutzutage ist Kirchenkritik er in aller Munde. en vogue und erntet oft vorschnellen Beifall. Luther Superstar, dieser Eindruck entsteht Was Luther und seine Mitstreiter damals sag- manchmal. Dabei war dies das Letzte, was er ten, war lebensgefährlich. Er blieb trotzdem wollte. Inständig hoffte er, dass es niemals standhaft. »Hier stehe ich, ich kann nicht an- eine Kirche gäbe, die sich nach ihm benen- ders«, soll er vor dem Wormser Reichstag im nen würde. Er bat ausdrücklich darum, »sich Jahr 1521 gesagt haben. nicht ›lutherisch‹ sondern ›Christ‹ [zu] nen- Wow. Diese Haltung vermisse ich so oft nen. Was ist Luther? Wie käme denn ich ar- unter heutigen Entscheidungsträgern im mer, stinkender Madensack dazu, daß man politischen, wirtschaftlichen wie im kirch- die Kinder Christi mit meinem heillosen Na- lichen Bereich. Männer und Frauen, die sich men benennen sollte?« einfach hinstellen und zu ihrer Überzeugung Diese Hoffnung hat ihm die Geschichte stehen. Die sich nicht kaufen lassen, weder nicht erfüllt. Der Lutherische Weltbund ver- durch Geld noch durch Macht. Was für ein eint 144 lutherische Kirchen mit 72 Millio- Vorbild Martin Luther in dieser Hinsicht war! nen Christen. Luther wäre wahrscheinlich Vorbild aber auch deswegen, weil er so not amused gewesen, wenn er das noch mit- ganz Mensch war. Offensichtlich hatte er bekommen hätte. So ist es mit bedeutenden schon sehr anstrengende Seiten. Choleriker Personen der Weltgeschichte: Kaum sind sie soll er gewesen sein, seine Stimmungsum- gestorben, schmieden einige Anhänger eine schwünge werden seine Mitmenschen bis- 124 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

weilen arg strapaziert haben. Die Diplomatie tung muss und wird sich nicht lohnen, würde hat er seinen ruhigeren Mitstreitern überlas- Luther womöglich heute den Leistungsapo- sen, z. B. seinem Freund Philipp Melanch- steln entgegnen. Und das Wunderbare: Dar- thon. »Leisetreter« nannte Luther ihn mal aus resultiert keine »Ist doch eh-alles-egal« – aber das meinte er nicht abwertend, son- Mentalität. Wer sich auf sich selbst und auf dern voller Respekt. Luther war trotz seiner seine eigenen Werte besinnt, der lebt glück- Eigensinnigkeit ein Teamplayer. licher. Und der wird dann auch wieder Leis- Bei allem Respekt Luther gegenüber ist tung bringen, der wird sich engagieren für das ein großes Missverständnis: Zu meinen, gute Sachen. Die Leistung bringt kein Glück. Luther sei der einzige gewesen, der große Aber wer glücklich ist, leistet etwas, ganz au- Macher, der die Reformation entscheidend tomatisch und ohne Zwang. angeführt hätte. Das war nicht so, habe ich Diese christliche – nicht evangelische! – gelernt. Reformation war eine Bewegung, die Botschaft kann die Gesellschaft voran brin- sich von mehreren Zentren aus über ganz Eu- gen. Deshalb sollte sie im Mittelpunkt des ropa verbreitete. Getragen von unzähligen Reformationsjubiläums stehen. Genauso wie mutigen Männer – und Frauen! –, die sich Martin Luthers beeindruckender Eigensinn. von der evangelischen Lehre faszinieren lie- Das Reformationsjubiläum soll keine Leis- ßen. Nicht, weil sie ein interessantes theo- tungsschau der Christenheit werden. Ein logisches Konstrukt, sondern weil sie so le- fröhliches Fest fände ich angemessener, ein bensnah war. Endlich konnten die Menschen Fest der Standhaften. Denn solche Menschen die Bibel in ihrer Sprache lesen und verste- empfinde ich stets als Segen, egal welchen hen, waren sie nicht mehr angewiesen auf Glaubens oder welcher Nationalität. »Gelehrte« und Pfaffen, die ihnen oft mit hintersinnigen Motiven und nicht nachprüf- bar die lateinische Bibel verdrehten. Endlich wurden die Menschen von der Vorstellung entlastet, sie müssten etwas leisten, um vor Gott bestehen zu können. Aus dem Glauben entstehen die guten Werke eines Christen, lehrte Luther – nicht andersherum: Mit ver- meintlich guten Werken kann sich niemand die Zuwendung Gottes erkaufen. Diese frei machende Botschaft haben Arme wie Reiche verstanden, Gebildete wie Ungebildete, die Fürsten wie das Volk. Das ist bis heute so. »Leistung muss sich wieder lohnen« lautet die moderne säkula- re Version der damaligen christlichen Ver- irrung. Menschen zerbrechen unter ihren eigenen Ansprüchen und den Erwartungen anderer. Gnädig mit sich selbst sein, wäre angesagt. Leistungsdenken führt nicht ins Glück, sondern in die Sackgassen des Burn- outs oder des Machbarkeitswahns. Eure Leis- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 125

»Die ganze Welt ist in der Habsucht ­ersoffen wie in einer Sintflut« Über gemeinen Nutz und Wucher bei Martin Luther

Friedrich Schorlemmer — Politik & Kultur 6/2008

Das frühkapitalistische Wirtschaftssystem der Arbeit des anderen müßig gehe, reich und die Weisungen der Bibel sah Luther in sei und gut lebe, während ein anderer übel scharfem Kontrast. Der Mammon sei in der lebt, wie jetzt der verkehrte Missbrauch ist. Gesellschaft geradezu der Motor des Fort- Denn Sankt Paulus sagt: ›Wer nicht arbeitet, schritts geworden. Immer wieder nimmt er soll auch nicht essen.‹ Es ist niemandem von Bezug auf einen Satz im ersten Timotheus- Gott verordnet, von den Gütern der ande- Brief: »Denn Habsucht ist eine Wurzel allen ren zu leben.« Jeder solle arbeiten. Und jeder Übels; wie etliche gelüstet hat und sind vom solle für seine Arbeit auch Geld bekommen. Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Niemand dürfe durch die Arbeit anderer so Schmerzen« (1. Tim. 6,10). reich werden oder sein, dass er seinerseits Bereits in seiner Adelsschrift von 1520 nicht mehr arbeiten muss, während der »Ar- sprach er sich gegen die Bettelei aus und beitnehmer« übel sein Dasein fristet. Es geht forderte dazu auf, eine Ordnung zu machen, um den gerechten Lohn und die faire Ver- »dass jede Stadt ihre armen Bürger versorg- teilung des erzielten Gewinns. Luther will te und keine fremden Bettler zuließe … Es keineswegs den größten Wirtschaftszweig – könnte auch jede Stadt die ihren ernähren, wie er sagt: den Handel, vernichten, sondern und wenn sie zu schwach wäre, sollte man will, dass nicht verderbliche Sitten durch den auf den umliegenden Dörfern auch das Volk Handel ins Land kommen. Das größte Un- ermahnen, dazuzugeben; müssen sie doch glück aber für die deutsche Nation »ist ge- sonst so viele Landstreicher und Buben un- wiss das Kreditwesen. Wenn das nicht wäre, ter dem Namen des Bettelns ernähren. So müsste mancher seine Seide, Samt, Goldsti- könnte man auch wissen, welche wahrhaft ckerei, Spezerei und allerlei Prunkwerk un- arm sind oder nicht.« gekauft lassen. Es besteht nicht viel länger Luther argumentiert in zwei Richtungen.­ als 100 Jahre und hat schon fast alle Fürsten- Einmal sagt er, »wer arm sein will, sollte stifte, Städte, Adel und Erben in Armut, Jam- nicht reich sein, will er aber reich sein, so mer und Verderben gebracht. Würde es noch greife mit der Hand an den Pflug und such’s 100 Jahre bestehen, so wäre es nicht möglich, sich selbst aus der Erde. Es genügt, dass die dass Deutschland einen Pfennig behielte; wir Armen angemessen versorgt sind, so dass müssten uns gewiss untereinander fressen … sie nicht Hungers sterben noch erfrieren. fürwahr, das Kreditwesen muss ein Symbol Es schickt sich nicht, dass einer aufgrund und Anzeichen dafür sein, dass die Welt mit 126 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

schweren Sünden und dem Teufel verkauft Überfluss in Bezug auf Aufwand, Kleider und ist, dass es uns zugleich an irdischem und Repräsentation leben, während die anderen geistlichem Gut gebrechen muss. Dennoch mehr und mehr verarmen. »Man muss wissen, merken wir nichts.« Wer denkt da nicht an dass zu unseren Zeiten (von denen schon der heutige Kommunalfinanzen und den horren- Apostel Paulus angekündigt hat, dass sie ge- den Schuldendienst aufgrund der Staatsver- fährlich sein werden) die Habsucht und der schuldung? Was Luther geißelt, ist durch- Wucher in der ganzen Welt nicht nur furcht- aus vergleichbar mit der dubiosen Praxis, wo bar eingerissen sind, sondern auch gewagt zu Zeiten der »New Economy« Aktienkäufe haben, sich Deckmäntel zu suchen, worun- durch Kredite finanziert wurden, um ohne ei- ter sie für recht und billig gehalten, ihr bö- genes Kapital schnelle Gewinne zu machen. ses Tun ungehindert ausüben können. Dabei Das entspräche den Leihen auf Kreditbasis. ist es beinahe dahingekommen, dass wir das Durch den Kurssturz an den Aktienmärkten Heilige Evangelium für nichts achten. Des- ging das eingesetzte, kreditfinanzierte Ka- halb ist es in dieser gefährlichen Zeit für ei- pital verloren, die Schulden aber gegen den nen jeden Menschen nötig, sich vorzusehen Kreditgeber blieben ohne Gegenwert als Si- und in den Angelegenheiten der zeitlichen cherheit. Das kann damals wie heute ins Un- Güter mit der richtigen Unterscheidungskraft glück führen, dem Missbrauch, der Habsucht vorzugehen und aufmerksam auf das heili- und dem Elend Tor und Tür öffnen. Noch ge Evangelium unseres Herrn Jesus Christus schlimmer kam es nun beim drohenden Zu- zu achten.« sammenbruch des ganzen Finanzmarktes in Über allem steht das Gebot der Nächsten- den USA. Der deutsche Außenminister er- liebe. Weil wir Menschen »dieses Gebot aus klärte im September 2008 vor der UNO-Voll- den Augen lassen und allein auf den Han- versammlung, Leichtsinn, Gier und Unver- del mit seinem Gewinn oder Verlust achten, nunft hätten in die Finanzkrise geführt und brauchen wir so viele Bücher, Gesetze, Ge- es sei noch nicht absehbar, wer weltweit mit richte, Streit, Blutvergießen und den ganzen in den Orkus gezogen wird. Hatten nicht Li- Jammer. So muss der Übertretung des Ge- beralisierung und Deregulierung die Zauber- botes Gottes auf die Zerstörung des Reiches worte geheißen? Da in den USA das finanzi- Gottes folgen, das in Frieden, Eintracht und elle Kartenhaus zusammenbricht (virtuelle brüderlicher Liebe und Treue besteht.« Das Geldwerte führen zu realen, horrenden Ver- Problem hat sich längst globalisiert. Kriege lusten!), weiß keiner mehr eine Zauberfor- werden rund um den Globus geführt – wegen mel und ausgerechnet der geschmähte Staat mörderischen Gewinnstrebens. Was zu Lu- soll nun eingreifen und ein 700-Milliarden- thers Zeiten noch recht harmlos wirkt, wird Rettungpaket schnüren. heute eine geradezu weltumspannende Ge- Gemeinwesenverantwortung mit Regeln fahr und zu einer um den Erdball herumfloa- und deren Kontrolle muss auf dem Kapital- tenden Ungerechtigkeit. markt wieder Platz greifen, statt hohe und »Lassen wir alle anderen Weisen beisei- schnelle Rendite über alles zu stellen. Gier te und nehmen uns den Kauf vor, besonders frisst letztendlich alles und alle auf. den Zinskauf (also die Kapitalanlage in Hy- Luther fordert, den Fuggern und derglei- potheken), weil er besonders hervorsticht als chen Gesellschaften einen Zaum ums Maul eine Methode, wie man ohne Sünde andere zu legen und weist auf den Widerspruch hin, Leute belasten und ohne Sorge oder Mühe dass die einen in einem überschwänglichen reich werden kann. Denn bei den anderen Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 127

Geschäftsmethoden steht ein jeder selber dass dieser Wahlspruch direkt und schamlos vor Augen der Öffentlichkeit, ob er zu teuer nicht nur gegen die christliche Liebe, son- oder falsche Ware verkauft oder ein falsches dern auch gegen das Naturgesetz verstößt.« Erbe oder falsches Gut gibt oder besitzt. Aber Der Markt regelt nicht alles von selbst! dieses schnelle und neu erfundene Geschäft Es bedarf einsichtiger Maßstäbe, die das Le- macht sich sehr oft zu einem offenbar ge- bensrecht aller am Arbeitsprozess Beteilig- rechten und zuverlässigen Schutzherrn für ten angemessen berücksichtigen. 300 Jah- die verdammte Habsucht und den Wucher. re vor Karl Marx sieht Luther, wie der Markt Obwohl dieser Zinskauf jetzt als ein erlaub- seine eigenen (Wolfs-)Gesetze hat, die kei- ter Kauf und zugelassener Handel bestätigt nen sozialen Kriterien folgen, bis der Mensch ist, ist er doch aus vielen Gründen verdam- dem Markt dient (und nicht umgekehrt) und menswert und menschenfeindlich.« Wie pro- gar selbst zur Ware wird. phetisch! »Es geschieht auch, dass einige ihre Ware Beim Darlehensgeschäft sieht Luther, wie teurer verkaufen, als sie auf dem allgemei- damit nur Sicherheit, Habsucht und Wucher nen Markt gehandelt wird und es im Handel gesucht werden. »O, wie viele Städte, Länder sonst üblich ist. Sie steigern also den Preis und Leute müssen Zins zahlen, denen man der Ware nur aus dem Grunde, dass sie wis- längst schuldig gewesen wäre, noch Geld da- sen, dass es davon im Lande nichts mehr gibt zuzugeben … Mich wundert, dass bei solchem oder in absehbarer Zeit nichts mehr herein- unermesslichen Wucher die Welt überhaupt kommen wird, man es jedoch braucht. Das noch steht.« ist eine Arglist der Habsucht, die nur auf Natürlich ist Luther Realist. Er verdammt die Bedürfnisse der Nächsten schielt, aber keineswegs den Handel mit Geld und Wa- nicht, um ihnen zu helfen, sondern um sie ren in toto. Im Gegenteil: »daß Kaufen und für sich auszunutzen und an dem Schaden Verkaufen eine notwendige Sache ist, kann seines Nächsten reich zu werden. Das sind man freilich nicht leugnen. Man kann es alles offenkundige Diebe, Räuber und Wu- nicht entbehren und kann es auch durchaus cherer.« So kommt es dann dazu, meint Lu- in christlicher Weise tun, nur muss dabei ther, dass die ganze Welt vollkommen aus- Wert und Preis einer Ware redlich bestimmt geplündert wird und alles Geld in die Kassen werden.« Aber er sieht überall Missbrauch, der Monopole fließt. Alles in den Wind der der aus Übervorteilungsabsicht geboren wird. Jahrhunderte geredet? »Die Kaufleute haben unter sich eine allge- meine Regel. Das ist ihr Wahlspruch und die Grundlage aller Geschäfte. Sie sagen: Ich kann meine Ware so teuer verkaufen, wie ich es vermag. Sie halten das für ein Recht. Tat- sächlich aber ist damit der Habsucht Raum gegeben, und der Hölle sind alle Türen und Fenster geöffnet. Denn was heißt das anders als: Ich frage nicht nach meinem Nächsten. Wenn ich nur meinen Gewinn habe und mei- ne Habsucht befriedige, was geht es mich an, wenn damit meinem Nächsten zehnfacher Schaden auf einmal entsteht? Da siehst du, 128 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Frauen ins Pfarramt

Irmgard Schwaetzer — Politik & Kultur 5/ 2015

Evangelisch zu sein, war für mich immer da- der verstärkten Mitwirkung von Laien, und mit verbunden, dass Frauen Pfarrerin sein besonders der Frauen ablesen: Auffallend können. Da ich in einer Gegend aufgewach- viele beteiligten sich an der Neugestaltung sen bin, die sehr stark vom Katholizismus von Lehre und Leben in der Kirche. Das Be- geprägt war, machte das einen wirklichen sondere an der Reformation ist daher auch, Unterschied aus. Dieser Unterschied wurde dass mit einem Mal Laien als Autoren zahl- noch dadurch unterstrichen, dass in unserer reich in Erscheinung treten. Frauen mischen Gemeinde eine Frau als Vikarin tätig war. Sie sich in die Diskussionen der Zeit ein: Argula trug einen Talar und war genauso klug wie von Grumbach, Katharina Schütz-Zell oder unser Pfarrer. Ursula Weyda beziehen als reformatorische In dieser Erinnerung an meine jugend- Publizistinnen und Flugschriftenautorin- liche Lebenswelt wird auch heute noch für nen Stellung. Über 5.000 Flugschriftendru- mich die grundlegende Veränderung deutlich, cke mit rund 1.000 Exemplaren pro Aufla- die die Reformatoren mit ihren Glaubensein- ge sind für die wenigen Jahre zwischen 1521 sichten gebracht haben: es gibt etwas, dass und 1525 erfasst! vor Gott den Menschen die gleichen Rech- Die Theologie vom Priestertum aller Ge- te gibt, das keine Hierarchie bestehen lässt. tauften hat erhebliche Folgen für Selbstver- Martin Luther formuliert diese Grundein- antwortung des Einzelnen. Vielfältige Laien- sicht der Reformatoren so: »Denn was aus bewegungen haben in den letzten Jahrhun- der Taufe gekrochen ist, das kann sich rüh- derten diese veränderte Sichtweise auf die men, dass es schon zum Priester, Bischof und Beziehung zwischen Gott und den Menschen Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem zur Geltung gebracht. Hier seien nur eini- jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben.« So ge aktuelle Beispiele genannt: der Deutsche schreibt der Reformator 1520 in seiner Schrift Evangelische Kirchentag, die Evangelische »An den christlichen Adel deutscher Nati- Frauenarbeit, das Evangelische Männerwerk, on von des christlichen Standes Besserung«. die evangelischen Akademien, evangelische Und er erklärt kurz und bündig, dass »wir Ordensgemeinschaften von Frauen und Män- alle gleichmäßig Priester sind«. Diese Er- nern. Darin eröffnen sich Möglichkeiten, Ge- kenntnis des »Priestertums aller Getauften« meinschaft im Glauben zu pflegen und die hat zunächst die Kirche grundlegend verän- vielfältigen Gaben der einzelnen Christen dert. Das lässt sich besonders deutlich an einzubringen. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 129

Eine Konsequenz dieses Kirchenverständnis- lig undenkbar, dass Menschen, die in ihrem ses ist auch, dass die Gemeindeglieder Kir- Verhältnis zu Gott, aber auch in der Struktur chenvorstände und Synoden wählen. Die 1. der Kirche immer stärker aus der Unmündig- Synode, allerdings in der reformierten Tra- keit in die Mündigkeit hineinwuchsen, sich dition Johannes Calvins wurde bereits 1571 diese auch erkämpften, nicht auch bei der nach Emden einberufen. Der programmati- Regelung weltlicher Dinge ein Mitsprache- sche erste Satz der Kirchenordnung, die dort recht haben wollten. erarbeitet und verabschiedet wurde lautet: So ist es nicht nur verständlich, sondern »Keine Gemeinde soll über andere Gemein- sogar selbstverständlich, dass 2017 das Ge- den, kein Pastor über andere Pastoren, kein denken an den Beginn der Reformation vor Ältester über andere Älteste, kein Diakon 500 Jahren nicht nur von der Evangelischen über andere Diakone den Vorrang oder die Kirche in internationaler und ökumenischer Herrschaft beanspruchen, sondern sie sollen Gemeinschaft gefeiert wird. Schon jetzt fin- lieber dem geringsten Verdacht und jeder Ge- den viele von der Bundesregierung und den legenheit aus dem Wege gehen.« Heute sind Bundesländern unterstützte Initiativen und die Kirchenvorstände und Synoden, mehr- Veranstaltungen statt, die die Auswirkungen heitlich von Laien besetzt, ganz selbstver- der Reformation auf die Entwicklung von Bil- ständlich Teil der Kirchenleitungen. dung und Medien, Demokratie, Rechtsstaat Aber noch einmal zurück zu den Frauen: und Menschenrechten zum Thema haben. So einfach war die Beteiligung der Frauen am Und so ist es nur konsequent, dass der 31. Pfarrdienst dann auch in der evangelischen Oktober 2017 ein allgemeiner Feiertag wer- Kirche nicht. Wir hatten bei unserer Vikarin den wird. Konfirmandenunterricht. Und dann tauchte auch dort das große ABER auf: konfirmieren durfte sie uns damals – in den 1950er-Jahren – noch nicht, das war wiederum dem Pfar- rer vorbehalten. Und es sollte weitere zehn Jahre, in manchen Landeskirchen sogar 20 Jahre dauern, bis die Ordination, die Zulas- sung von Frauen zum Pfarramt tatsächlich umgesetzt wurde. Heute ist die Ausübung des Pfarramts durch Frauen ein Markenzei- chen der evangelischen Kirche, so sehen es zumindest die Befragten der der V. Kirchen- mitgliedschaftsuntersuchung, die 2014 ver- öffentlicht worden ist. Das Auftreten von Laien und besonders von Frauen im öffentlichen Raum, die Wert- schätzung der unterschiedlichen Begabun- gen und Fähigkeiten, die Übernahme von Verantwortung in der Kirche musste und muss Auswirkungen auf die Entwicklung de- mokratischer Ideen und Konzepte in der Fol- ge der Reformation haben. Es war und ist völ- 130 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Luther und die Folgen für die Kunst Martin Luther nahm die Bilderfrage nicht so ernst und hat dadurch die freie Entwicklung der Kunst befördert

Thomas Sternberg — Politik & Kultur 4/ 2015

D ifferenzen zwischen Katholiken und Protes- der Bilder. Wie schon mehrfach in der Ge- tanten haben die europäische Geschichte der schichte des Christentums, war in der Re- letzten 500 Jahre wesentlich mitbestimmt. formationszeit die Frage nach den Bildern Streitigkeiten, Abgrenzungen, Kriege und ge- keineswegs nebensächlich. Karlstadt, Bucer, genseitige Verwünschungen sind nur die ext- Zwingli und Calvin behandelten mit großem remen Auswüchse von Unterschieden, die bis Ernst die zeitgenössische Streitfrage und lie- in Mentalitäten und Gewohnheiten reichten. ßen religiöse Bilder nicht zu – nicht zuletzt Die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhun- mit dem Hinweis auf das Bilderverbot der Bi- derts, der »Kulturkampf«, die »Kontrovers- bel. Exzessive Kunstzerstörungen waren vor theologie« – wie weit liegt das alles hinter 500 Jahren die Frucht solcher radikalen Ab- uns! Ökumene gilt heute eher als Fach für lehnung. Sie nahmen Bilder ganz ernst – und die Spezialisten. In den Gemeinden domi- verboten sie. niert längst gegenseitige Akzeptanz und eine Luther befasst sich mit dem Thema vor al- Fülle an Gemeinsamkeiten, die inzwischen lem mit seinen »Invocavit-Predigten« (1522) selbstverständlich geworden sind. und der Schrift »… Von den Bildern und Sa- In Deutschland ist die Reformation vor al- krament« (1524). Er steht ganz auf der Li- len anderen mit Martin Luther verbunden. nie der Tradition der westlichen Kirche: Er Die Kulturgeschichte der deutschen Länder nimmt die Bilderfrage nicht so wichtig, zu- verdankt ihm ein wesentliches Element ih- mal das Biblische Verbot nur die Götteridole rer Einheit. Die Nieder-, Mittel- und Ober- meinte. Bilder sind ihm vor allem propädeu- deutsch verbindende Sprache ist nicht zu- tische Hilfsmittel; sie führen die Analpha- letzt aus der Bibel und den Liedern Martin beten und Unkundigen zu den Inhalten der Luthers gewonnen. Bis heute prägen die kräf- Heiligen Schrift, in die Anfangsgründe der tigen Sprachbilder der genialen Übersetzung Theologie. Bilder sind »Adiaphora«, das heißt, unsere Alltagssprache. Bibelübersetzung war sie sind nicht heilsnotwenig. Wenn sicherge- eine epochale Leistung und für jeden Deut- stellt ist, dass sie nicht verehrt werden und schen – katholisch oder evangelisch – bleibt ihre Stiftung nicht als Werkgerechtigkeit an- Luthers Bibel der Maßstab. Auf einem an- gesehen wird, dann sind sie weder gut noch deren Feld der Kultur war Luthers Auffas- schlecht, dann können sie hilfreiche Zeichen sung sehr viel traditioneller, als vielfach an- sein. Für Luther ist es der didaktische, pä- genommen: in der Einschätzung der Kunst, dagogische Wert, der die Bilder auszeich- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 131

net. Wie es 250 Jahre später satirisch Chris- zum Opfer fielen. Der Titel einer Publikati- tian Fürchtegott Gellert formuliert: »Dem, on über mittelalterliche Kunstwerke in evan- der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit gelischen Kirchen lautet: »Die bewahrende durch ein Bild zu sagen«. Kraft des Luthertums«. Luther steht in der Diese, einen sprachlichen Inhalt illust- Tradition der westlichen Theologie, die der rierende Funktion wurde den Bildern, die als Kunst einen Freiraum eröffnete, den sie in Wiedergaben historisch berichteter Themen Regionen ihrer kultischen Anbindung nicht legitimiert waren, seit einem Brief des Paps- bekommen konnten. Im christlichen Wes- tes Gregor des Großen um das Jahr 600 zu- ten hat sich die Kunst so ausdifferenzieren geschrieben. Der hatte an den Bischof von und wandeln können, weil Bilder hier vor al- Marseille geschrieben, es sei ein Unterschied, lem als pädagogisches Hilfsmittel angesehen verbotenerweise Bilder anzubeten oder aus wurden. Ohne ontologische Aufladungen – ihnen den Gegenstand der Anbetung ken- vielleicht auch nur Negierung aller Probleme nenzulernen. »Denn was die Schrift denen von Repräsentanz und Abbildbarkeit – konn- bietet, die lesen können, das bietet ein Ge- te sich die Kunst in der Nische pastoraltheo- mälde den Gläubigen, welche nicht lesen logischer und religionspädagogischer Propä- können.« Es lehre, ohne Buchstaben zu lesen. deutik relativ frei entwickeln. Bis heute gilt Das bleibt die Haltung der Folgezeit, der Ka- der Vorrang der Texte vor den Bildern. rolinger, der mittelalterlichen Theologie wie Martin Luther hat die Bilder nicht so ernst der späteren Konzilien. Die Macht der Bilder, genommen und sie auf Didaktik reduziert – ihre Repräsentationswirkung, ihr Kunstcha- ganz im Sinne der früheren theologischen rakter, ihre spezifischen Qualitäten und Leis- Tradition –, hat damit den Bilderstürmerei- tungen kommen unter dieser Rollenzuwei- en Einhalt geboten und paradoxerweise die sung nicht in den Blick. freie Entwicklung der Kunst befördert. Auch Luther hat sich scharf gegen die Kunst- dafür können ihm die Kulturmenschen 500 feindlichkeit der anderen Reformatoren ge- Jahre später dankbar sein. wandt und sich öfters für lehrhafte Bilder ausgesprochen; er empfiehlt, die Reichen sollten »die gantze Bibel ynnwendig und auswendig an den heusern fur yedermans augen malen« lassen. Die Propagandablät- ter in Holzschnitten und Stichen zeigen das ebenso wie die Werke Lucas Cranachs. Sei- ne bilderfreundliche Haltung resultiert aus dem mangelnden Ernstnehmen der Kunst. Er will die Kunstwerke an ihrem Ort belas- sen sehen – solange sie nicht verehrt werden. Bilder bleiben erlaubt im Luthertum. Die alten Ausstattungsstücke, Gewänder, Re- liquiare, Geräte bleiben unangetastet im Schrank der Sakristei: So haben sich in den reformatorischen Kernländern viele Din- ge erhalten, die in anderen Gegenden der Reformation einem radikalen Bildersturm 132 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Luther und der Staat Kann sich die Kirche der Reformation zur Zivilgesellschaft bekennen?

Rupert Graf Strachwitz — Politik & Kultur 1/2012

»Es [ist] wieder an der Zeit, die Weltlichkeit Status als Körperschaften des öffentlichen der Kirche beherzt abzulegen. […] Eine vom Rechts lässt eher eine Zuordnung der gro- Weltlichen entlastete Kirche vermag gera- ßen Kirchen zur staatlichen Arena zu. Dass de auch im sozial-karitativen Bereich, den in einigen deutschen Ländern (aufgrund der Menschen […] die besondere Lebenskraft des jeweiligen Konkordate beziehungsweise Ver- christlichen Glaubens zu vermitteln.« träge) Bischöfe einen Treueeid auf die Ver- Mit dieser Bemerkung entfachte Papst Be- fassung ablegen müssen, ist ein prägnan- nedikt XVI. im September 2011 erneut eine tes Indiz dafür. Niemand käme auf die Idee, Diskussion um die Nähe der Kirchen zum Ähnliches vom Präsidenten des Deutschen Staat. Und wenn sich auch die (katholische) Olympischen Sportbundes, des Deutschen Deutsche Bischofskonferenz beeilte, darauf Gewerkschaftsbundes oder auch dem Vor- hinzuweisen, dass der Papst am bewährten sitzenden einer politischen Partei, allesamt System der Kirchensteuer nicht rütteln woll- gesamtgesellschaftlich höchst einflussreiche te, so hat er doch ausdrücklich die Enteig- Organisationen, zu verlangen. nung von Kirchengütern gutgeheißen, damit Wenn es aber stimmt, dass die Kirchen das Verhältnis von Kirche und Staat der stän- auf der Meso-Ebene angekommen sind, also digen Prüfung anheimgegeben und mögli- nicht in Anspruch nehmen können oder wol- cherweise, so lässt sich der Kontext durchaus len, die Gesamtgesellschaft zu umfassen oder interpretieren, eine Zuordnung der Kirche zu repräsentieren und die Abgrenzungen von zur Zivilgesellschaft befürwortet. Diese Zu- rein freiwilligen Assoziationsformen gleich ordnung ist den USA selbstverständlich. Dort ob religiösen oder anderen Charakters, wie dominiert Religion das Leben viel stärker als sie noch Max Weber und Ernst Troeltsch ge- in Europa, aber eine Vielzahl von Kirchen troffen haben, obsolet sind, dann hat José und Religionsgemeinschaften muss in Res- Casanova gewiss mit seiner Einschätzung pekt voreinander koexistieren und mehr als Recht, dass sich ein Staatskirchentum mit ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger ge- dem für moderne Gesellschaften prägenden hört nicht derjenigen an, in die sie hineinge- Prinzip der Religionsfreiheit nicht verträgt boren wurden. Zivilgesellschaftliches Selbst- und die Zivilgesellschaft der genuine Ort der verständnis prägt geradezu das kirchliche Le- Kirchen ist. Reinhard Marx, heute Kardinal- ben in den USA. Anders in Deutschland: Eine Erzbischof von München und Freising, zog Vielzahl von Bindungen und nicht zuletzt ihr daraus schon 2002 eindeutige Konsequenzen, Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 133

als er von einem »spezifische[n] Beitrag der fürsten anlehnte, die die Reformation mit- Kirche in der Zivilgesellschaft« sprach. Von trugen. »Aufs Ganze gesehen, wurde im lu- evangelischen Theologen und Kirchenfüh- therischen Deutschland […] nicht die freie rern ist zu diesem Thema viel weniger Ein- christliche Kirche realisiert, sondern die […] deutiges zu hören, auch wenn in den letzten christliche Fürstenherrschaft.« Jahren Zivilgesellschaft etwa an evangeli- Es waren also nicht eigentlich theologi- schen Akademien intensiver diskutiert wird sche Positionen Luthers, die diese Entwick- als an katholischen – und obwohl die zivil- lung beförderten. Im Gegenteil, seine Zwei- gesellschaftlichen Initiativen in Ostdeutsch- Reiche-Lehre wäre eher mit dem Entweltli- land vor und während der Wende von 1989 chungsgedanken Papst Benedikts kompatibel stärker mit der evangelischen Kirche zu as- gewesen. Vielmehr bedingte der kulturelle soziieren sind. Dies mag zunächst erstaunen, Rahmen, der »Zusammenhang von kirchli- wird doch die evangelische Kirche landläufig chem und nationalem Schicksal im 16. Jahr- eher als die liberale, fortschrittliche und zu- hundert« diese Entwicklung. Diese war kein kunftsorientierte wahrgenommen. Doch wird deutsches Spezifikum und schon gar nicht anscheinend die bewusste eigene Standort- ein Ergebnis der Reformation. So war Luthers bestimmung als Akteurin in der zivilgesell- Forderung nach Unterstellung der Kleriker schaftlichen Arena gescheut oder vermieden. unter die weltliche Obrigkeit schon ca. 1475 Ist sie also »weltlicher«? Eine Entweltlichung von Jan Ostrorog, Kastellan von Posen in Po- im Sinne einer Entstaatlichung scheint zu- len in einem »Memorandum, zur Neuord- mindest nicht erstrebenswert zu sein. Mir nung des Gemeinwesens zusammengestellt« scheint dies mit dem historischen und kul- in sehr ähnlicher Form erhoben worden. Das turellen Selbstverständnis des Luthertums Gemeinwesen bedurfte in der Tat dringend erklärbar zu sein. Die lutherische Kirche ist einer Neuordnung. Das über die Jahrhunder- als Landeskirche konzipiert, sich hiervon zu te zuvor gewachsene politische Ordnungs- lösen, ein großer und noch nicht vollzoge- system war zu einem undurchschaubaren ner Schritt. und an vielen Stellen defizitären, ja korrup- Schon in der 1520 veröffentlichten Schrift ten Geflecht entartet. Niccolò Macchiavel- »An den christlichen Adel deutscher Nation« lis berühmte, 1513 erschienene Schrift »Der stellte Luther fest: »Drum sag ich: dieweil Fürst« führte das Konzept eines neuen, auf weltliche Gewalt von Gott geordnet ist, die die Bedürfnisse des Menschen zugeschnit- Bösen zu strafen und die Frommen zu schüt- tenen Staates in das allgemeine politische zen, so soll man ihr Amt lassen frei gehen Gedankengut ein. Unter anderem entstanden ungehindert durch den ganzen Körper der eine territorial ausgerichtete Herrschaft und Christenheit, ohne Rücksicht auf irgend je- allmählich auch ein Gewaltmonopol in der mand, sie treffe Papst, Bischof, Pfaffen, Mön- Hand eines Souveräns. Wenn sich aber auf che, Nonnen oder was es ist.« In den Folge- der Grundlage solchen Gedankenguts Na- jahren hatte sich die lutherische Reformation tionalstaaten und Nationalkirchen heraus- einer ganzen Fülle von weitergehenden Re- bildeten, ergab sich für Deutschland das bis formationsbewegungen zu erwehren. Nach- heute durchaus virulente Problem, welcher dem aber das Reich nach wie vor katholisch Nationalbegriff zugrunde zu legen sei. Sie geführt war und die Reformation ebenso un- wurde in diesem und im folgenden Jahrhun- ter Druck setzte, konnte diese nur gelingen, dert wesentlich zugunsten der Fürsten und indem sich die Bewegung eng an die Landes- gegen das Reich entschieden. 134 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Mit diesem Hinweis soll natürlich nicht eine Staaten und betonte ihren universalen, das Auffassung wiederbelebt werden, wie sie im heißt anti-nationalstaatlichen Anspruch. 19. Jahrhundert, namentlich auch von Leo- Dies führte, etwa im Kulturkampf in den pold von Ranke vertreten wurde: Die Refor- 1870er-Jahren, zu erheblichen Konflikten, be- mation sei überhaupt wesentlich eine »na- wahrte sie aber auch vor manchen Konflik- tionale Bewegung« oder »das wichtigste va- ten, in die die evangelischen Kirchen durch terländische Ereignis«. Luthers zu allererst die Übersteigerung des Nationalismus hin- religiöser Impetus ist heute gewiss unstrittig. eingezogen wurden. Dies änderte sich auch Doch ist nicht zu bestreiten, dass politische nicht durch die republikanischen Neuord- und religiöse Neuordnung im 16. Jahrhun- nungen nach 1918 und nach 1945. Dem in- dert in enger Wechselbeziehung erfolgten, zwischen zum abstractum gewordenen Staat auch nicht, dass die weltlichen Obrigkeiten blieb – unabhängig von dessen Konstitution – Bedrohungsängste, die die Rezeption einer die evangelische Kirche verhaftet, durchaus neuen Religiosität zweifellos begünstigten, oft in kritischer Haltung, aber nicht mit der »zum Ausbau der sozialen Kontrolle über den Distanz, die die katholische Kirche wahrte Menschen durch den Staat« instrumentali- und ausbaute. sierten. Das Ergebnis ist bekannt. Es entstan- Diese erscheint daher besser gerüstet, um den in den Ländern, die sich der Reformati- mit Ordnungskonzepten des 21. Jahrhunderts on anschlossen, überwiegend national ge- – der Entnationalisierung zugunsten supra- prägte Kirchen, in Sachsen und Brandenburg nationaler Systeme einerseits und der Ent- ebenso wie im Herzogtum Preußen, in Eng- staatlichung von Politik andererseits – zu land und den skandinavischen Ländern. Die kommunizieren und sich in einem Modell Verfestigung der Idee der nationalen Staats- von mehreren Arenen kollektiven Handelns souveränität in den folgenden Jahrhunder- in der Arena der Zivilgesellschaft als wichti- ten – durch Bodin, Hobbes, Pufendorf, Her- ge Akteurin zu bewegen – und dies, obwohl der, Kant, Hegel und andere, mit Ausnahme es ihr theologisch schwerer fällt, den Respekt Bodins übrigens durchweg Protestanten und vor Pluralität zu akzeptieren, der zu den de- überwiegend mit theologischer Ausbildung, finitorischen Elementen einer guten Zivil- tat ein Übriges, um die vielfach beschworene gesellschaft gehört. Theologisch scheint es Einheit von Thron und Altar zu festigen und keine Gründe zu geben, weshalb nicht auch letztlich auch Rankes Fehlinterpretation der die Kirchen der Reformation ein eindeuti- Reformation hervorzurufen. Von Kaiser Wil- ges Bekenntnis zur Zivilgesellschaft als »ih- helm II. wird behauptet, er sei nur mit Mühe rer« Arena ablegen könnten. Dass es ihnen davon abzuhalten gewesen, als summus epi- schwer fällt, sich in der »Weltgesellschaft« scopus (der er war) im bischöflichen Ornat des 21. Jahrhunderts zu positionieren, ist mit Mithra und Stab aufzutreten. ihrer kulturellen Tradition geschuldet, die Demgegenüber ging die katholische Kir- ebenso zu respektieren ist, aber überprüft che spätestens ab dem Ende des 18. Jahrhun- werden könnte. derts einen anderen Weg. Nachdem sie auch in den katholischen Ländern einen Großteil ihres Vermögens durch Säkularisation ein- gebüßt hatte (im Wesentlichen 1803, in den Ländern der Reformation hingegen schon 250 Jahre zuvor), hielt sie Abstand zu den Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 135

Heute würde Luther twittern Reformation und Neue Medien

Johannes Süßmann — Politik & Kultur 4/2011

Auf den ersten Blick erscheinen Luthers genüberzutreten scheint. Als Kommunika- Äußerungen als Inbegriff von Authentizität. tion unter Anwesenden stellt Mündlichkeit Wenn jemand »amore et studio elucidande Nähe und Vertraulichkeit her. Damit beglau- veritatis« spricht, »aus Liebe zur Wahrheit bigt sie Aussagen und lässt sie als direkten und dem Eifer, sie erscheinen zu lassen« (so Ausdruck für die Gedanken des Sprechen- die ersten Worte der 95 Thesen von 1517), den erscheinen. Erst auf den zweiten Blick dann verpflichtet er sich selbstlos auf hö- merken wir, dass es sich um eine fingierte here Werte. Wenn er seine Ausführungen Mündlichkeit handelt. Denn die Einladung mit »Jesus« beginnt und mit »Amen« been- zur Disputation erging schriftlich. Die Vor- det, (so in »Von der Freiheit eines Christen- lesung wurde gedruckt. Die Verteidigungs- menschen« von 1520), dann adressiert er den rede lesen wir in einem sorgfältig redigier- Allerhöchsten mit, vor dem nichts verborgen ten Bericht. Zwischen Luthers Sprechakt und bleibt. Und wenn jemand unter Lebensge- uns liegt die Schrift. Der Eindruck von Un- fahr sagt, er könne nicht gegen sein Gewis- mittelbarkeit, heißt das, ist in Wirklichkeit sen sprechen, »Gott helfe mir, Amen!« (so in medial vermittelt. Er entsteht durch die Art, dem Bericht über das Verhör vor dem Worm- wie Luther die Schrift handhabte. Mit ande- ser Reichstag 1521), dann ist dies existenziell ren Worten: Er entsteht als medialer Effekt. beglaubigt. Jeder Hintergedanke wird durch Wir können die Medialität von Luthers solche Rahmungen ausgeschlossen. Als un- Äußerungen präzisieren. Luther bediente mittelbare Bekenntnisrede kommt Luthers sich des Drucks und zwar in allen Formen, Sprache uns entgegen. So hat sie im Deut- am wirkungsvollsten aber in denen, die zu schen stilprägend gewirkt. seinen Lebzeiten neu waren: der Flugschrift, Zu diesem Eindruck von Unmittelbarkeit auch des Flugblatts und des gedruckten Bil- trägt bei, dass wir Luther immer sprechen des (Luther war der erste, der sein Porträt sehen. Vor den Thesen steht eine persön- zum Markenzeichen machte). Es ist oft ge- lich gehaltene Einladung. Die Freiheit eines sagt worden, dass er mit Hilfe der damals Christenmenschen ist eine Vorlesung, der neuen Druckmedien viel mehr Menschen Auftritt vor dem Wormser Reichstag eine erreichte als jeder Kirchenreformer zuvor. Verteidigungsrede. All diese Äußerungen Selten festgestellt und wenig untersucht hat (und viele weitere) sind als Sprechakte ge- man hingegen bisher, wie er die neuen Me- staltet, in denen uns Luther als Person ge- dien eigentlich gebrauchte. 136 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Wer so fragt, stößt auf einen paradoxen Be- te. Und ein Medium für die Kommunikation fund. Die neuen Druckmedien erweiterten mit vielen unbekannten, unberechenbaren die Kommunikation über die Menschen hi- Rezipienten gebrauchte Luther, indem er sie naus, die in einer Situation anwesend waren. als Zuhörerschaft und Verbündete ansprach. Und die gedruckten Texte und Bilder befrei- Luthers Gebrauch der neuen Druckmedien ten die Kommunikation von der Kontrolle, bestand darin, dass er sie vergessen machte. die man noch über Handschriften ausüben Wie gekonnt dies geschah, lässt sich an konnte. Wer an einen Luther-Druck gelang- Luthers Wahl seiner Textsorten zeigen. Ob te und wo und wie man damit umging (al- die Disputation, zu der er mit seinen The- lein oder in der Gruppe, in der Gelehrten- sen einlud, wirklich stattfinden sollte, wis- stube oder auf dem Markt, in der Gemeinde, sen wir nicht. Klar ist jedoch, indem Luther der Gebetsbruderschaft oder bei der Haus- diese Form der Einladung wählte, konnte er andacht), das war jetzt offen. Nur deshalb seinen Angriff auf die Ablassprediger als er- konnte jene »reformatorische Öffentlichkeit« gebnisoffene Wahrheitssuche erscheinen entstehen, die soviel zum Erfolg von Luthers lassen. Von der Freiheit eines Christenmen- Neuerungen beigetragen hat. Das heißt, die schen sollte der päpstlichen Seite ein theo- gedruckten Schriften und Bilder erreichten logisches Verständigungsangebot unterbrei- nicht nur viel mehr Menschen, sie ließen ten – dafür schien die Form einer dialektisch auch ein anonymes und heterogenes Pub- vielstimmigen Vorlesung geeignet. Und wie likum entstehen. An dieses Publikum aber immer Luther in Worms wirklich aufgetre- wandte Luther sich, als spräche er jede und ten sein mag, seine Flugschrift mit der ver- jeden einzeln an. Viele seiner Flugschriften meintlich sachlich-dokumentarisch wieder- sind als »Sendschreiben« gestaltet, als – offe- gegebenen Wechselrede legte sich über das ne! – Briefe, denen ein persönlich gehaltener reale Ereignis und hat dessen Wahrnehmung Freundschaftsgruß an einen realen Adres- erfolgreich bestimmt. In der Wahl der Texts- saten vorangestellt ist. Oder Luther kleidet orte steckt also Kalkül. Die Mündlichkeit ist seine Belehrungen in einen »Sermon«, eine medial fingiert. Der Eindruck von Authenti- gedruckte Predigt, in der er als Seelsorger zität beruht auf Rhetorik. wie zu einer Gemeinde spricht. Die fingier- Man sollte diese beiden Dimensionen von te Mündlichkeit seiner Schriften stellte also Luthers Äußerungen nicht gegeneinander künstlich jene Nähe und Vertraulichkeit wie- ausspielen. Dass Luthers Äußerungen medi- der her, die das neue Medium Druck gerade al vermittelt und rhetorisch kalkuliert sind, zum Verschwinden brachte. Man wird nicht nimmt ihnen nichts von ihrer Radikalität. Es fehlgehen, wenn man darin einen Schlüssel gibt ihnen vielmehr eine historische Signa- für Luthers Erfolg erblickt. So verstreut sei- tur. Es weist Luther durch seine Medienkom- ne Leserinnen und Leser sein mochten, so petenz als einen Menschen der Neuzeit aus. fern sie sich standen, durch die Art und Wei- se, wie Luther sich an sie wandte, vermittel- te er ihnen den Eindruck, zu einer vertrau- ten Gemeinschaft zu gehören. Ein Medium für die Kommunikation von räumlich, zeit- lich und ständisch Getrennten nutzte Luther, indem er die Kommunikation wie eine un- mittelbare zwischen Anwesenden gestalte- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 137

Von der Wartburg in die Moderne Zur weltgeschichtlichen Bedeutung der Reformation

Peter Tauber — Politik & Kultur 6/2014

Fünfhundert Jahre Reformation sind ein gu- einen zuvor unvorstellbaren theologischen ter Anlass, daran zu erinnern, was das Wirken und gesellschaftlichen Erneuerungsprozess Martin Luthers bedeutet. Die Reformation ist auslöste. von epochaler religionshistorischer Bedeu- Imponiert hat mir seine Arbeit in der tung. Aber sie hatte auch Auswirkungen weit Wartburg in zweierlei Weise. Zum einen voll- über die Sphäre des Religiösen hinaus. Die brachte Martin Luther mit der Bibelüberset- Reformation ist von weltgeschichtlicher Be- zung eine theologisch akademische Leistung, deutung. Und sie war eine Zeitwende. die man gar nicht hoch genug einschätzen Die Beschäftigung mit Martin Luther war kann. Zum anderen aber gelang ihm dies in daher für mich als Protestant nicht nur aus dem Wissen, mit seinem Tun gegen die In- theologischen Gründen naheliegend. Sei- teressen der Katholischen Kirche zu versto- ne Übersetzung der Bibel, seine Darstellung ßen, der er schließlich noch immer angehör- als zugleich lebensbejahenden und prinzipi- te und die er zu erneuern trachtete. Es gab enfesten Mann hat mich begeistert. Ebenso zwar schon Übersetzungen der Bibel in das faszinierte mich als historisch interessier- Deutsche – aber in einer für das »gemeine« ten Menschen die prägende Persönlichkeit Volk letztlich doch weithin unverständlichen Luthers für die Entwicklung unserer Nation. Diktion. Luther entriss mit seiner Bibelüber- Insofern habe ich meine Besuche in Mit- setzung, die er für das einfache Volk schrieb, teldeutschland immer wieder genutzt, auf der katholischen Geistlichkeit die Herrschaft Luthers Spuren zu wandeln. Mehrfach war über das Wort. Er trug damit dazu bei, die ich auf der Wartburg, das erste Mal bereits Gläubigen zu mündigen Bürgern zu machen. als Schüler noch zu Zeiten der DDR. Es gibt Die Leistung Luthers und die darauf beru- vermutlich kein einzelnes Ereignis, dass das hende Reformation haben einen umfassen- Wirken Luthers in der Öffentlichkeit stärker den Aufbruch in Gang gebracht, der Deutsch- symbolisiert als der Anschlag seiner 95 The- land und viele andere Länder bis heute prägt. sen an die Tür der Schlosskirche zu Witten- Es hat mich immer fasziniert, dass es nicht berg am 31. Oktober 1517. Wenigstens eben- zuletzt der kleine Mönch Luther war, der mit so hat mich persönlich aber sein ungeheu- seiner Übersetzung, dem so genannten »Sep- res Wirken in der Wartburg beeindruckt, wo tembertestament«, maßgeblich dazu beitrug, er in nur elf Wochen das Neue Testament in eine einheitliche deutsche Schriftsprache zu die deutsche Sprache übersetzte und damit entwickeln. Luther hatte dem Volk auf das 138 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Maul geschaut – und im Volk wirkte die Lek- Doch Luther plädierte auch an die Verant- türe der lutherschen Übersetzung auch im wortung des Einzelnen für das Ganze. Jede sprachlichen Sinne stilbildend. Luthers Bi- Gesellschaft lebt von der Partizipation, vom belübersetzung hat damit entscheidend dazu Mitmachen. Auch hieran zu erinnern, ist das beigetragen, den deutschen Flickenteppich Reformationsjubiläum ein guter Anlass. der Kleinstaaten zu überwinden und ein ein- heitliches deutsches Nationalgefühl entste- hen zu lassen. Dies war keine bewusst be- absichtigte, aber dennoch tiefgreifende Ne- benwirkung der Übersetzungsarbeit Luthers. Der Beitrag zur Nationenbildung Deutsch- lands war gewissermaßen ein zufälliger Ne- beneffekt der Tatsache, dass Luther das Le- sen der Schrift einer breiten Bevölkerung er- möglichte. Jedoch war es sein erklärtes Ziel, dass Bildung allen zugänglich sein sollte, nicht nur dem Klerus. Seine Schrift »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen« legt hiervon Zeugnis ab. Si- cherlich müssen die Forderungen Luthers im zeithistorischen Kontext gesehen wer- den. Dennoch erschienen sie mir bereits als Schüler, der sich nach seinem Besuch in der Wartburg intensiver mit dem Wirken Luthers beschäftigte, sehr aktuell – und dies gilt bis heute. Über Sprache und Bildung löste die Refor- mation eine gesellschaftliche Dynamik aus, die zu mehr politischer Teilhalbe der Men- schen an ihrem Gemeinwesen führte. Dies galt für den Adel, die Bauern, aber vor allem für die Bürger in den Städten. Luther woll- te den mündigen Christen. Zugleich aber emanzipierten sich Untertanen und wur- den mehr und mehr zu Bürgern. »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.« Auch dies ist eine »Hinterlassenschaft« Luthers, an die heute wieder stärker erinnert werden sollte. Die Freiheit, die wir heute genießen, ist ohne das Wirken Luthers nicht vorstellbar. Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 139

Wir Kinder der Reformation Über den Folgenreichtum der Reformation

Wolfgang Thierse — Politik & Kultur 3/ 2014

Die Reformation, auf deren 500-jähriges Auch die Unterscheidung von Politik und Re- Jubiläum wir zugehen, war gewiss zunächst ligion, die Trennung von Staat und Kirche – und vor allem ein einschneidendes und fol- uns heute einigermaßen selbstverständlich – genreiches kirchengeschichtliches Ereignis. sind Ergebnis einer langen widersprüchli- Dessen Wirkungen aber betrafen und betref- chen Entwicklung seit der Reformation, eines fen nicht nur die Kirchen, sondern sie sind Prozesses der Individualisierung von Reli- von allgemeingeschichtlicher, nämlich so- gion einerseits und der Säkularisierung des wohl kulturgeschichtlicher wie national- und Gesellschaftlichen, des Politischen anderer- weltgeschichtlicher Art. Deshalb geht das seits. Angesichts des Folgenreichtums der Reformationsjubiläum nicht nur die Christen Reformation darf trotzdem nicht vergessen an, sondern auch Andersgläubige und Nicht- oder verdrängt werden, dass sie ein vor al- gläubige: Wir alle, besonders in Deutschland lem religiös verursachtes und bestimmtes aber auch in Europa und in vielen Teilen der Ereignis war. Zunächst ein Protest – gegen Welt, sind Kinder der Reformation. Ablasshandel, gegen das Papsttum. Sodann Wie wäre unsere Geschichte verlaufen, die Neubegründung christlicher Religion – wie lebten wir ohne den Beitrag Luthers zur sola scriptura, sola gratia, sola fide. Was Lu- Entwicklung der deutschen Sprache, ohne ther mit dieser Wendung gelingt, bezeich- die Kultur des evangelischen Pfarrhauses, net Heinz Schilling als »Re-Implantation von ohne den Beitrag der protestantischen Ethik Religion und Glauben in den europäischen zur Lebens- und Wirtschaftsordnung unse- Prozess der Zivilisation«. Luther wurde so rer Gesellschaft! Die Reformation hat unsere »Garant neuzeitlicher Religiosität«. Die Re- Nationalgeschichte geprägt wie kein anderes formation mit ihren Folgen hat schließlich Ereignis vor dem 20. Jahrhundert: Sie war Ur- auch die katholische Kirche erheblich verän- sache von bitteren Konfessionskriegen, von dert. Die von dem Charismatiker Luther in lange anhaltender konfessioneller Spaltung Gang gesetzte umgreifende Bewegung ge- nicht nur in Deutschland. Religiös-kulturelle riet in den nachfolgenden Jahrzehnten und Differenzierung und Pluralität gehören zum Jahrhunderten – unter dem Zwang ihrer besonderen Charakter Europas. Individuali- Selbstbehauptung und Institutionalisierung sierung, Wertschätzung der Person, Freiheit – in die Fänge politischer Mächte: Fürsten und Toleranz – deren Geschichte hat durch- wurden schnell zu »Not-Bischöfen« und zu aus mit der Reformation zu tun. Schutzherren, die evangelische Verquickung 140 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

von Thron und Altar, obrigkeitliche Fixierung dass und wie Religionsfreiheit praktisch ge- waren problematische Folgen. Zum Refor- lebt werden können – das, meine und hoffe mationsjubiläum muss deshalb die kritische ich, ist der Sinn des Reformationsjubiläums. Beschäftigung mit den Widersprüchen der Und genau dies macht dieses Jubiläum dann Kirchengeschichte seitdem gehören, auch wichtig – für die ganze Gesellschaft! die Entmythologisierung der Person Luthers, d. h. die Befreiung von seiner Idolisierung im 19. Jahrhundert, seiner preußisch-deutschen Indienstnahme als Nationalheiligen. Und überhaupt: Die Reformation, das war nicht nur Luther. Sie war vielmehr ein vielgestaltiger, internationaler Prozess mit höchst unterschiedlichen Personen und Er- scheinungsformen (von Hus über Calvin und Zwingli ...). Reden wir also von Reformati- onen und gewinnen einen internationalen Blick! Und machen wir aus dem Jubiläum ein ökumenisches Ereignis – dann hätte es zukunftsgerichteten Sinn! Ohne neue öku- menische Leidenschaft geriete das Jubiläum bloß zur apologetischen Pflege des Eigenen, des Besonderen, des Unterscheidenden. Pro- testantische Selbstbestätigung und Selbster- munterung – das soll ja durchaus sein. Aber reicht das? Ich glaube nicht! Über die Einladung an die anderen Kir- chen und Religionsgemeinschaften hinaus könnte und sollte das Jubiläum für die plu- ralistische Gesellschaft insgesamt von In- teresse sein: Die Kirchen haben seit der Re- formation einen – wie ich meine, geradezu paradigmatischen – mühevollen Erfahrungs- prozess, eine bittere Lerngeschichte in Sa- chen Toleranz und Freiheit hinter sich ge- bracht. Nämlich zu lernen, auf politische Macht oder gar auf Gewalt zu verzichten zur Durchsetzung des eigenen Wahrheits- anspruchs, sich des Missbrauchs zur Begrün- dung von Gewalt zu erwehren und ihm ener- gisch zu widersprechen – ohne gänzlich an Leidenschaft, an Überzeugungskraft zu ver- lieren und eine »lauwarme Religion« werden zu müssen. An diese Lerngeschichte zu er- innern und heute zu zeigen, ja zu beweisen, Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 141

Gesellschaftlicher Resonanzraum Deutscher Evangelischer Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg?

Ellen Ueberschär — Politik & Kultur 4/ 2013

Der Deutsche Evangelische Kirchentag wur- zur Vernunft und zu Maßhalten gesehen und de 1949 durch Gustav Heinemann, den nach- zitiert wurde. Die oberen Zehnttausend kön- maligen Bundespräsidenten, zu einer »Ein- nen nicht genug bekommen, während Ande- richtung in Permanenz« ausgerufen. Die re schlicht zu wenig bekommen. Mit dieser frühen Kirchentage im geteilten Deutsch- Losung wurde die Kraft des religiösen Argu- land waren Diskussionsforen für die politi- mentes für die Gestaltung der Gesellschaft schen und religiösen Großthemen, die das blitzlichthaft sichtbar. Eine so konkrete An- Land bewegten – die Integration der Vertrie- wendung einer Losung lässt sich nicht im benen, die Unterdrückung der Christinnen Voraus planen, aber die Grundtendenz des und Christen in der DDR, das Verhältnis der Kirchentages, in evangelischer Freiheit für Machtblöcke in Ost und West. In den 1960er- eine liberale und gerechte Gesellschaft zu Jahren gab der Kirchentag wichtige Impul- streiten, ist durch die Jahrzehnte erkennbar se für den Dialog mit dem Judentum und für geblieben. Seit der Jahrtausendwende ist die den ökumenischen Dialog zwischen der rö- Einsicht hinzugetreten, dass es heute wieder misch-katholischen und der evangelischen wichtiger wird, die Quellen, aus denen sich Kirche – in dieser Reihenfolge! In den spä- christliche Überzeugungen speisen, freizu- ten 1970er-Jahren begann das Gespräch mit legen und zum Sprudeln zu bringen. Denn den Muslimen. das Packeis einer selbstverständlichen Kirch- Die Anstöße und Ideen entwickelten lichkeit ist in fast allen Regionen Deutsch- sich selten entlang von Jahrestagen, son- lands geschmolzen. Was liegt da näher, als dern durch Vertrauen der Beteiligten und eine Großveranstaltung, die die Leichtigkeit den Mut, kontroverse Themen in einer öf- des Glaubens mit dem ernsthaften Anliegen fentlichen Diskussion auszutragen. Kirchen- politischer und gesellschaftlicher Gestaltung tage sind bis heute Resonanzräume gesell- verbindet? schaftlicher Diskussionen und religiöser Unter diesen Prämissen ist das Präsidium Großwetterlagen, die Entwicklungen auf den des Deutschen Evangelischen Kirchentages Punkt bringen, verstärken oder differenzie- an die Überlegungen für einen Kirchentag ren können. Jüngstes Beispiel ist die Losung im Jahr 2017 gegangen. Ihm gehören etwa des Hamburger Kirchentages (2013) »Soviel 30 Menschen aus Politik, Wirtschaft, Wis- Du brauchst«, die auf dem Hintergrund der senschaft an, die ehrenamtlich Verantwor- Debatte um Steuerhinterziehung als ein Ruf tung für den Kirchentag übernommen ha- 142 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

ben. Sie sind der verfassten Kirche weder per- chentages eine institutionelle Kooperation sönlich noch institutionell verpflichtet. Der mit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kirchentag ist auf Vereinsbasis organisiert, Die Idee ist, die Kräfte des Protestantismus was seine Unabhängigkeit sichert. Die ers- zu bündeln und gemeinsam einen reforma- ten Überlegungen des Präsidiums zum Jahr torischen Gottesdienst zu feiern. 2017 gingen der Frage nach, welche Positi- Der Kirchentag 2017 bedarf keiner beson- on der Kirchentag im Wechselspiel mit den deren Begründung, aber einer Botschaft. Im kirchlich organisierten Feierlichkeiten ein- Präsidium besteht weitgehend Einigkeit dar- nimmt. Kurz gefasst war die Frage: Reforma- über, dass eine Beteiligung des Kirchentages tion feiern oder bewusst einen Kontrapunkt an »Lutherfestspielen« nicht in Frage kommt. setzen? Auf dem Hintergrund dieser Über- Eine vorwiegend historische Schwerpunkt- legungen arbeitete 2009 eine Prüfgruppe setzung (Luther und die Frauen, Luther und des Präsidiums, die eine Verortung des Kir- die Theologie, Luther und der Staat etc.) ist chentages in Mitteldeutschland prüfen sollte. kein Konzept für den Kirchentag. Stattdes- Zehn Jahre vor dem Ereignis war der deutli- sen ist nach zwei ökumenischen Kirchenta- che Wunsch aus Mitteldeutschland zu hören, gen deutlich, dass die Verantwortung des Kir- der Kirchentag solle im Ursprungsland der chentages für die Gestaltung der Ökumene Reformation stattfinden. Dahinter stand der in Deutschland gewachsen ist. Der ökume- Wunsch, das durch Nazi- und DDR-Diktatur nische Fokus umfasst nicht nur die römisch- dezimierte und teilweise verschüttete Erbe katholische, sondern auch die orthodoxen der Reformation an ihren Originalschau- Kirchen und die Freikirchen. Das Reforma- plätzen zu beleben. Daraus speiste sich die tionsjubiläum bietet eine große Chance, ge- Erwartung, dass die Aktualisierung der Re- meinsam mit den anderen Konfessionen über formationsbotschaften Impulse für die am das Wesen des Christentums im 21. Jahrhun- stärksten säkularisierte Region Europas ge- dert nachzudenken. Wie geht es weiter im in- ben kann und von dort Ausstrahlungskraft terkonfessionellen und im interreligiösen Di- entwickelt. alog? Längst ist der Kirchentag zu einem der Die 2009 vom Präsidium einberufene Prü- wichtigsten Foren für den interkulturellen fungsgruppe votierte für ein Berlin-Witten- und interreligiösen Dialog geworden. Wel- berg-Konzept, das seitdem auf seine Mach- che Position messen wir der Religion in ei- barkeit hin untersucht wurde. Noch ist das ner säkularen Gesellschaft bei und wie füllen letzte Wort nicht gesprochen – ein hochkom- wir sie als Christinnen und Christen im All- plexes Projekt bedarf der ausreichenden Un- tag aus? Gemeinsame Vorbereitungsgruppen terstützung durch kirchliche und staatliche mit anderskonfessionellen Christinnen und Stellen. Aber die beiden Kirchen, die Evan- Christen wie bei Ökumenischen Kirchenta- gelische Kirche Berlin-Brandenburg-Schle- gen, der Kirchentagsfreitag als ökumenischer sische-Oberlausitz und die Evangelische Tag – hier ist vieles denkbar. Kirche Mitteldeutschlands haben eine Ein- Natürlich muss ein Kirchentag 2017 auch ladung zu einem Kirchentag in Berlin und die Chance bieten, über den Zustand des Pro- Wittenberg ausgesprochen und seitdem wird testantismus, über die Realität des Priester- intensiv an der Umsetzung gearbeitet. Für tums aller Gläubigen, über den Zustand der den Teil des Kirchentages, der in Wittenberg Kirche, der Theologie im 21. Jahrhundert und in Mitteldeutschland geplant ist, gibt es nachzudenken und eine zeitgemäße und zum ersten Mal in der Geschichte des Kir- ansteckende Formulierung der reformato- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 143

rischen Befreiungserfahrung zu finden. Die Reformation hat viele und sehr verschiedene Früchte getragen. Sie war keine einheitliche, zentral von Wittenberg gesteuerte Bewegung. Wenn der Kirchentag die Verantwortung für einen Großgottesdienst zum Reformations- jubiläum übernimmt, dann wird das Ambiva- lente und das Vielfältige theologisch und li- turgisch darin vorkommen. In diesen Kontext gehört auch die Feier der weltweiten Öku- mene, die im Kirchentag eine große Tradi- tion hat. Das internationale Interesse an ei- nem Deutschlandbesuch wird im Jahr 2017 hoch sein. Die Reformation war eine europäische Bewegung. Blicken wir heute auf Europa, dann scheinen die Zukunftsaussichten düs- ter, Europa steckt nicht nur in einer Schul- den- und Finanzkrise, sondern auch in ei- ner Orientierungs- und Wertekrise. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Finanz- krise der letzten Jahre 2017 vielleicht über- wunden sein wird – die Diskussion um das Gemeinschaftsprojekt wird weitergehen. Auf Kirchentagen war bis zum Jahr 2013 die Er- fahrung zu machen, dass Europa als »The- ma« eher leere Hallen produziert. Anders in Hamburg 2013 – die Sorge um Europa treibt die Menschen wieder um und eine hochkarä- tig besetzte Podienreihe fand viel Publikum. Wenn der Anknüpfungspunkt Reformation als europäische Bewegung fruchtbar gemacht werden kann für die Idee einer neuen euro- päischen Reformation jenseits des Primats der Ökonomie, könnte das ein neuer, über- raschender und folgenreicher Ansatz sein. 144 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Die Sprache ist Deutsch Martin Luther hätte wohl für die Aufnahme von Deutsch ins Grundgesetz plädiert

Olaf Zimmermann — Politik & Kultur 2/2011

Hätte Martin Luther, würde er heute leben, ten Deutsch für das einfache Volk schwer dafür gestritten, dass Deutsch als Landes- verständlich. Erst Luther »schaute dem Volk sprache in der Verfassung verankert wird? aufs Maul« und übersetzte so, dass der Text Natürlich eine letztendlich unbeantwort- der damals gesprochenen Sprache näher kam bare Frage, aber das Thema selbst ist span- und dennoch eine einmalige künstlerische nend wie aktuell und ein bisschen Spekulie- Eleganz besaß. Das Verstehen können, die ren macht Spaß. Forderung nach einer verständlichen Ver- »Die Sprache in der Bundesrepublik ist mittlung der biblischen Botschaft, ist eines Deutsch« will eine einflussreiche Gruppe der Kernanliegen von Martin Luther. von Politikern, angeführt von Bundestags- Nach dem reformatorischen Schriftprin- präsident , ins Grundge- zip ist die Bibel aus sich selbst verständlich, setz schreiben. Deutsch als Landessprache vorausgesetzt man versteht die Sprache, in ist Bestandteil der Verfassungen Österreichs der sie vorliegt. Die Gläubigen, zumindest und der Schweiz, warum also nicht auch in die Protestanten, durch das allgemeine Deutschland? Und andere Länder, darun- Priestertum (hoffentlich) emanzipiert, kön- ter besonders Frankreich, kämpfen gegen nen und sollen über Glaubensangelegenhei- die Übermacht des Englischen und um das ten eigenständig und selbstverantwortlich Überleben ihrer Landesprache sehr viel en- urteilen. Die Bibelübersetzungen Luthers mit gagierter als wir Deutsche. dem zeitlichen Zusammentreffen mit einer »Die deutsche Sprache jedoch ist die voll- der größten technischen Revolutionen, dem kommenste von allen« soll Martin Luther in Buchdruck, haben den Erfolg der Reforma- makellosem Latein am 19. September 1538 in tion erst möglich gemacht. Der Theologe einer seiner Tischreden gesagt haben. Und und einer der erbittersten Gegner Luthers, schon fünf Jahre vorher soll er gesagt haben: Johann Cochläus, schrieb 1522: »Auf wun- »Ich habe keine eigens festgelegte Sprache, derbare Weise wurde Luthers Neues Testa- sondern die allgemein übliche, damit mich ment durch die Buchdrucker vervielfältigt, die Leute aus dem hoch- und niederdeut- so dass auch Schuster, ja selbst Weiber und schen Sprachraum verstehen können.« Zur andere einfältige Laien, welche nur halbwegs damaligen Zeit gab es schon 14 hochdeut- deutsch lesen gelernt hatten, dieses sehr eif- sche und vier niederdeutsche Bibelausga- rig lasen, als ob es die Quelle aller Wahrheit ben, sie waren aber wegen ihres gekünstel- wäre.« Die Angst vor einer allgemeinver- Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 145

ständlichen Bibel saß aber noch tiefer. Coch- läus weiter: »Die Anhänger Luthers trugen das Buch bei sich und lernten es auswendig. Dadurch eigneten sie sich binnen weniger Monate so viel dogmatische Kenntnisse an, dass sie sich erdreisten, nicht nur mit katho- lischen Laien, sondern auch mit Priestern und Mönchen, ja sogar mit theologischen Magistern und Doktoren über Glaubensfra- gen und das Evangelium zu disputieren.« Martin Luther hat das Deutsche benutzt, um seine Theologie praktisch werden zu las- sen. Wichtig war für ihn nicht, dass es eine Nationalsprache gab, sondern dass die Be- völkerung eine gemeinsame Sprache hat- te. Er hat sich immer für das Beherrschen der »Muttersprache« eingesetzt und zu- sätzlich die Aneignung von Fremdsprachen dringend empfohlen. In diesem Sinne wür- de Martin Luther wohl dafür plädieren, dass in Deutschland Deutsch gesprochen wür- de. Und bei seiner oftmals sehr ausgepräg- ten Orientierung an der weltlichen Obrig- keit hätte er wohl auch für die Aufnahme von Deutsch ins Grundgesetz plädiert. Wiewohl er sich dem Wandel der Sprache nicht ent- zogen hätte. Das Deutsch, das in Deutschland heu- te gesprochen und geschrieben wird, wird durch Anglizismen nicht automatisch ent- stellt und durch die Sprachfärbungen der in Deutschland lebenden Migranten natürlich entwickelt. Luther sagte: »Ich meynet auch ich were geleret, vnd weys mich auch geler- ter denn aller hohen schulen sophisten von Gottis gnaden, Aber nu sehe ich, das ich auch noch nicht meyn angeporne deutsche sprach kann.« Es ist beruhigend, dass Luther bei all seiner sprachlichen Genialität, sich auch sei- ner Grenzen bewusst war. 146 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Ohne Bilder keine Reformation Lutherbildnisse – 500 Jahre Verherrlichung und Spott

Olaf Zimmermann — Politik & Kultur 6/ 2015

Wenn über die Reformation gesprochen wird, ist. Tagsüber nur wenige Farben, prächtige wird die besondere Bedeutung des Wortes farbige Stoffe waren der Oberschicht vorbe- hervorgehoben. Der Kernsatz aus dem Johan- halten. Wie müssen in dieser Zeit aufwändig nes-Evangelium ( Joh 1,1) »Im Anfang war das ausgemalte Kirchen auf die Besucher gewirkt Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott haben. Bei den damals üblichen Flügelaltä- war das Wort« wurde von der Evangelischen ren gab es eine Alltagsseite, die Türen waren Kirche und dem Staat zur »Dachmarke« für geschlossen und eine Feiertagsseite mit ge- das Reformationsjubiläum 2017 erklärt. Bei öffneten Flügeln. Die Außenseite war meist der Orientierung auf die Bedeutung des Wor- schlicht gehalten, oftmals mit einer sehr re- tes wird oft vergessen, dass die Reformati- duzierten Farbpalette. Im Gegensatz dazu on als politische Aktion schon damals durch standen die aufwändigen, farbenprächtigen, eine äußerst erfolgreiche Werbekampagne teils vergoldeten Innenseiten. Wurden sie begleitet wurde, bei der Wort und Bild ge- geöffnet, muss es den damaligen Betrach- meinsam über ein neues Medium, der Druck- tern wie ein visuelles Feuerwerk vorgekom- technik, weit verbreitet wurden. men sein. Sie waren einer der Vorboten der Heute leben wir in einer Zeit der Bilderflut. kommenden Bildzeit. Bilder bestimmen unser Leben. Fernsehen, Die aufkommende Reformation erkann- Werbung, Filme, Internet, eine Welle von te die Kraft des Visuellen. Der falsche und visuellen Eindrücken. Schon lange werden richtige Gebrauch der Bilder in der Verkün- wir von diesem Bildermeer nicht mehr zer- digung war ein Streitpunkt, auch unter den drückt, wir haben uns an diese Überflutung, großen Reformatoren. Martin Luther gehör- mehr oder weniger erfolgreich, gewöhnt. In te zu den Gemäßigten unter den Bildkriti- Millisekunden sind wir in der Lage, den vi- kern. Für ihn waren Bilder als pädagogisches suellen Reizen über unsere Augen und Ge- Mittel sinnvoll. Anders Andreas Bodenstein hirn die relevanten Informationen zu entlo- von Karlstadt, Ulrich Zwingli und Johannes cken. Vor 500 Jahren in der Zeit des Beginns Calvin, sie urteilen strenger als Luther. Der der Reformation war das noch ganz anders. reformatorische Bildersturm, vergleichbar Eine visuelle Reizüberflutung gab es nicht. mit den barbarischen Kulturzerstörungen Nachts Kerzenlicht oder absolute Dunkel- durch den sogenannten Islamischen Staat heit, dafür aber ein Sternenhimmel, der uns in der heutigen Zeit, vernichtete tausende in unserer lichtverschmutzen Zeit unbekannt hervorragende Altäre, Gemälde, Skulpturen Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 147

und Kirchenfenster. Spannend ist zu sehen, überwunden hat, dargestellt. Im 19. Jahrhun- dass die Reformation, die den Bildersturm dert wird Luther in Bildwerken immer mehr zu verantworten hat, selbst eine Bilderflut zum deutschen Patrioten stilisiert. Ein wah- auslöste. Martin Luther ist die am häufigsten rer Lutherkult setzte ein, der unter anderem bildlich dargestellte Person der deutschen in fast zahllosen Lutherdenkmahlen seinen Geschichte. Lucas Cranach d. Ä. schuf 1520 Ausdruck fand. Zur selben Zeit wurde Fami- das erste Portrait des Reformators. Von da lienleben als kleinbürgerliches Ideal auf Li- an hat die bildnerische Darstellung Luthers thografien festgehalten und in hohen Stück- jede bis dahin gekannte Grenze gesprengt. zahlen unters Volk gebracht. Bilder der Fa- Kein weltlicher Herrscher der damaligen Zeit milienidylle bei den Luthers zu Weihnachten hat auch nur eine entfernte visuelle Präsenz waren damalige Bestseller. Besonders von der wie Luther. Luther als Mönch, als Junker Jörg, Reichsgründung 1871 bis zum Ende des Ers- als Ehemann, als Professor, als Kirchenvater, ten Weltkrieges 1918 wurde Luther auf Bil- abgebildet in Druckschriften, auf Gemälden, dern politisch instrumentalisiert. 1917 kann Grafiken, Medaillen, Teller, Tassen, Gläsern. man Luther auf einer Konfirmationsurkunde Das geht fünf Jahrhunderte weiter, bis heute. die 99 Thesen anschlagen sehen und direkt Die bildnerische Lutherverehrung und Lu- neben ihm ringt ein deutscher Landser das therverdammung lag bereits zu Beginn der aus der Hölle steigende Untier mit seinem Reformation eng beieinander. In der Radie- Bajonett nieder. Nach dem ersten Weltkrieg rung »Lutherus triumphans« aus dem Jahre fingen bedeutende Bildende Künstler an, sich 1569 hält Luther Papst Leo X. triumphierend mit Luther auseinander zu setzen. Lovis Co- die geöffnete Bibel entgegen. Der durch die rinth, Ernst Barlach, Gerhard Marcks sind Reformation geschwächte Papst muss auf einige der Maler und Bildhauer, die in ihrer dem Druck von seinen Anhängern gestützt Kunst mit der Verherrlichung Luthers bra- werden. Doch auch die Gegner der Reforma- chen. Mit dem Film war ein neues bildneri- tion bedienten sich der bildnerischen Dar- sches Mittel erfunden, das für die Luther-Re- stellung um ihren Spott zu verbreiten. Im zeption wie geschaffen ist. Schon 1913 ist der Holzschnitt von Abraham Nagel »Der Ketz- erste Stummfilm »Die Wittenberger Nachti- erbaum« aus dem Jahre 1589 wird Luther mit gall« über das Leben Luthers entstanden. Seit sieben Köpfen als Stamm des Baumes darge- dieser Zeit ist der Reformator auch ein Film- stellt. In den Wurzeln wimmelt es von Höl- star in vielen Produktionen. Besonders span- lentieren und dem Teufel. Im Baum selbst nend sind die zum 500. Geburtstag Luthers wird Luthers Lebenswandel und die Zerstrit- entstandenen Spielfilme. ARD, ZDF und die tenheit der Reformatoren heftig karikiert. DEFA produzierten jeweils eigene mehrteili- Die Lutherverehrung hat in den folgenden ge Filme, die die unterschiedlichen Ost-West Jahrhunderten stetig zugenommen. Im 17. Sichtweisen deutlich zu Tage treten lassen. Jahrhundert wurde der Papst auf Bildern oft Das 500. Reformationsjubiläum 2017 steht mit dem Antichrist gleichgesetzt. Luther da- nun vor der Türe. In unserer bilderdominier- gegen als Engel mit Posaune. Die Gegner Lu- ten Welt wird das geschichtliche Ereignis Re- thers zeigten den Reformator gerne als fetten formation und ihre Protagonisten in erster Trinker und Frauenheld. Im 18. Jahrhundert Linie durch Bilder und Filme einer breiten wandelte sich das Lutherbild. In den Portraits Bevölkerung vermittelt werden. Ohne Bilder wird der Reformator jetzt gerne als Aufklä- keine Reformation – das galt schon vor 500 rer, der den mittelalterlichen Aberglauben Jahren und das gilt auch noch heute. 148 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Den Anlass in der Gesellschaft verankern Kirche und Staat haben ein volles Aufgabenheft

Stefan Zowislo — Politik & Kultur 4/ 2014

Der Chor ist vielstimmig und stimmgewal- schäftsstelle Luther 2017«. Doch die Benen- tig. 2017, das soll ein Jahr werden, in dem – nung macht Sinn, dient sie doch der klären- so Bundeskanzlerin – »et- den Differenzierung. Hier, bei der Staatlichen was vom Geist der Reformation wieder zum Geschäftsstelle »Luther 2017«, bündeln sich Menschen gelangt – besonders zu denen, die Aktivitäten und Absichten, die sieben Bun- von diesem Geist noch nie oder schon lange desländer, derzeit – weiterer Zuwachs nicht nichts mehr gehört haben«. Um einen Geist ausgeschlossen – nebst Bundesregierung, geht es auch dem Historiker Lucian Hölscher, vertreten durch Die Beauftragte für Kultur nämlich um den »der Ökumene«, und oben- und Medien, auf dem Weg »nach 2017« auf drein meint er, eine 2017er-Feier ohne »sä- die Bühne heben wollen. Dafür haben sie un- kulare Menschen« und geprägt von »Über- ter anderem eine Geschäftsstelle geschaffen, legenheitsgefühlen« gehe gar nicht. Kollege Ähnliches plant man auch für das Bauhaus- Heinz Schilling meint, »Luther ist zu wich- Jubiläum zwei Jahre darauf, mit Sitz in Lu- tig, als dass man ihn den Theologen überlas- therstadt Wittenberg und mit dem Auftrag, sen dürfte.« Johann Michael Möller, MDR- das staatliche Profil im Rahmen von Luther- Hörfunkdirektor, sorgt die Verkürzung auf dekade und Reformationsjubiläum zu prä- ein »Nischenthema«, sollte die »Lutherde- sentieren. Derart aufgestellt – Stichwort kade den Kirchen überlassen werden«. Von Differenzierung – treffen sich kirchlich und dort wiederum kommt der Ruf, alles, bloß staatlich begründete Planungen und Projek- keine »Protestantenparty« sei das Ziel, man te, vereint in dem Ziel, 2017 und den Weg wisse, gerade in Mitteldeutschland, um die dorthin als festlichen Anlass im Kalender der Ausmaße der säkularen Gesellschaft, deshalb bundesdeutschen Bürger- und Zivilgesell- seien Gemeinsamkeiten (»Staat und Kirche«) schaft zu verankern. Trumpf bei der Vorbereitung und Durchfüh- Übrigens: Hinter der Palette von sieben rung des Festjahres, man wolle schließlich Bundesländern steckt – und das liegt nume- »weite Teile« erreichen. Wenn auch, wird hier risch nahe – das Vorhaben einer als geglückt und da hinterher geschoben, klar sein müsse, zu bezeichnenden Westerweiterung. Was in die »DNA gehört uns«. Sachsen-Anhalt, dem »Ursprungsland«, be- Derart eingestimmt suchen die Akteure gann, Thüringen als »Kernland« und Sach- ihren Platz. Einer nennt sich, ein wenig sper- sen als »Mutterland« schnell folgen ließ und rig und erklärungsbedürftig, »Staatliche Ge- diese drei Länder zum Nukleus und Treiber Reformationsjubiläum – auch gegen den Strich gebürstet 149

einer staatlichen Aufstellung in Sachen »Lu- So läuft die Maschinerie auf vollen Touren. ther 2017« machte, war 2011/2012 Einladung Nach Bauherren und Architekten, also »In- genug, auch in Brandenburg als »Wiege« so- vestitionen in Steine«, die insbesondere in wie Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz als Mitteldeutschland Großes schaffen, geht es »Beitrittsländer« ministeriell, finanziell und um die Zusammenarbeit mit Agenturen und administrativ die Weichen für ein Reforma- Kreativen, also »Investitionen in Stimmun- tions-Engagement zu stellen. Dabei sind die gen«, die am Zauber des Jubiläumsjahres Begriffe »Ursprungsland« usw. keineswegs mitwerkeln. Kirchturmdenken, ganz gleich offizielle Bezeichnungen, sondern vielmehr wo, wie und von wem, wird dem »Ereignis Beschreibungen, die sich in den Diskussio- von Weltrang«, so der Deutsche Bundestag in nen mehr und mehr einschleifen. Das ver- großer Mehrheit im Jahre 2011, nicht gerecht schafft diesen Ländern, gemeinsam mit dem werden. Wir freuen uns auf die Besucher im Bund, Sitz und Stimme innerhalb der aus- »Gastgeberland Deutschland« und laden ein gefeilten staatlich-kirchlichen Gremienar- zu einem Fest, wo »keiner auf den Gedanken chitektur, an deren Spitze ein Kuratorium kommt, er sei besser oder schlechter, wich- steht, vorbereitend-flankiert von einem Len- tiger oder wertloser als der andere« (Hanns kungsausschuss und einen Wissenschaftli- Dieter Hüsch). chen Beirat. Das gemeinsame Aufgabenheft von Kir- che und Staat ist gut gefüllt. Notiert ist eine gemeinsame Kommunikationskampagne, in deren Rahmen sich das Ringen um theologi- sche Wahrheiten und werbliche Zuspitzun- gen studieren lässt. Die gemeinsam betrie- bene Website www.luther2017.de dient der umfassenden Information, benötigt jedoch im Blick auf die noch Fernstehenden ge- schmack-machende Imageanteile. Auch im Zusammenspiel mit der staatlichen »Luther 2017«-Struktur lebt die Evangelische Kirche – wie könnte es anders sein? – ihre pluralisti- sche Grundstruktur aus und nimmt sich mit dem EKD-Kirchenamt in Hannover, selbst- bewussten Landeskirchen und ihrer Laien- bewegung, dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, den Dingen an. Dazu noch, als prominente Botschafterin für das Jubiläum, Margot Käßmann, die im November 2013 neu gewählte Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer, und eine ebenfalls in Luther- stadt Wittenberg beheimatete Geschäftsstel- le. Sie alle treffen sich in diversen Leitungs- und Lenkungskreisen, an weiteren Gremien herrscht somit kein Mangel. 150 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Anhang: Anträge und Debatten im Deutschen Bundestag zum Reformationsjubiläum Anhang 151

Reformationsjubiläum 2017 als ­welthistorisches Ereignis würdigen Antrag der CDU/CSU und der SPD-Bundestagsfraktion

Deutscher Bundestag, Drucksache 16/9830 — 26.06.2008

Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Peter Albach, Dorothee Bär, Renate Blank, , Cajus Caesar, , Dr. Stephan Eisel, Dr. Hans Georg Faust, Ingrid Fischbach, Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Ute Granold, , Hermann Gröhe, Monika Grütters, , Jürgen Klimke, Manfred Kolbe, Hartmut Koschyk, Dr. Günter Krings, , , , Dr. h. c. , Philipp Mißfelder, , Eduard Oswald, Rita Pawelski, Ulrich Petzold, Sibylle Pfeiffer, Beatrix Philipp, , Dr. Norbert Röttgen, Anita Schäfer (Saalstadt), Wilhelm Josef Sebastian, Kurt Segner, , , , Dr. und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. Carl-Christian Dressel, Siegmund Ehrmann, Rainer Fornahl, Iris Gleicke, Günter Gloser, Renate Gradistanac, Monika Griefahn, Kerstin Griese, Hans-Joachim Hacker, , Klaus Hagemann, Dr. Reinhold Hemker, Dr. Barbara Hendricks, Gabriele Hiller-Ohm, Brunhilde Irber, Dr. h. c. Susanne Kastner, Fritz Rudolf Körper, Ernst Kranz, Volker Kröning, Angelika Krüger- Leißner, Ute Kumpf, Lothar Mark, , Markus Meckel, Petra Merkel (Berlin), , Heinz Paula, Christoph Pries, Steffen Reiche (Cottbus), Maik Reichel, Christel Riemann-Hanewinckel, Michael Roth (Heringen), Silvia Schmidt (Eisleben), Renate Schmidt (Nürnberg), Ludwig Stiegler, Jörg Tauss, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Simone Violka, Gunter Weißgerber, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD

Reformationsjubiläum 2017 als Die Reformation als ein zentrales Ereignis ­welthistorisches Ereignis würdigen in der Geschichte des christlich geprägten Europas hat die Entwicklung eines Men- Der Bundestag wolle beschließen: schenbildes gefördert, das von einem neuen christlichen Freiheitsbegriff maßgeblich be- I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: einflusst wurde. Sie war wichtig für die Aus- Der 500. Jahrestag des Thesenanschlags Mar- bildung von Eigenverantwortlichkeit und die tin Luthers an der Schlosskirche zu Witten- Gewissensentscheidung des Einzelnen. Da- berg, der Ausgangspunkt für die Reformation mit konnten sich die Aufklärung, die Her- war, ist für die Bundesrepublik Deutschland ausbildung der Menschenrechte und die De- in religiöser, kulturgeschichtlicher und letzt- mokratie entwickeln. Durch die Reformation endlich auch in touristischer Hinsicht von wird bis heute das religiöse Leben und die herausragender Bedeutung. kulturelle Entwicklung in Musik, Kunst und 152 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Literatur entscheidend mitgeprägt. Die Über- ein hohes touristisches Potenzial. Martin Lu- setzung der Bibel durch Martin Luther ins ther bietet mit seiner Persönlichkeit und mit Deutsche war zum Beispiel für die Entwick- seinem Werk als Reformator und Wissen- lung und Verbreitung der deutschen Sprache schaftler vielfache Anknüpfungspunkte für von wesentlicher Bedeutung. Kulturinteressierte, religiöse Gruppen und Als besondere touristische Attraktionen Vertreter von Kirchen und Universitäten. Für sind zentrale Lutherstätten, wie z. B. das die Reisenden ist der Besuch der authenti- Augustinerkloster in Erfurt, die Lutherge- schen Orte von besonderer Bedeutung. denkstätten in den Lutherstädten Eisleben Die DZT wird die Wort-/Bildmarke »Luther und Wittenberg sowie die Wartburg bei Ei- 2017 – 500 Jahre Reformation« als marktspe- senach weltweit bekannt. Letztere wurden zifisches Jahresthema in ihrer Vermarktung zum UNESCO-Weltkulturerbe der Mensch- des Reiselandes Deutschland verwenden. heit erklärt. Die Luthergedenkstätten sind Seitens der DZT wurden zur Internationalen von der UNESCO-Kommission unter Schutz Tourismus-Börse (ITB) 2008 die deutschen gestellt worden, da sie »einen bedeutsamen Städte mit Lutherbezug, die entsprechenden Abschnitt in der menschlichen Geschichte Landesmarketingorganisationen, die Evan- repräsentieren und als authentische Schau- gelische Kirche in Deutschland (EKD) sowie plätze der Reformation von außergewöhn- Vertreter des Ausschusses für Tourismus licher universeller Bedeutung sind«. Neben des Deutschen Bundestages zu einer ersten den Lutherstätten sind viele weitere Orte Sitzung des »Arbeitskreises Luther-Touris- aus dem Leben Luthers, wie unter anderem mus« eingeladen, um sich über die Inhalte Augsburg, Coburg, Eisenach, Erfurt, Leip- und Vermarktungsstrategien der Lutherde- zig, Mansfeld-Lutherstadt, Marburg, Möhra, kade und des Reformationsjubiläums 2017 Nürnberg, Schmalkalden, Torgau, Worms, so- auszutauschen. wie Kirchenbauten, die kulturgeschichtlich Im Vorfeld des Reformationsjubiläums mit der Reformation in Verbindung stehen, steht die Lutherdekade. Sie beginnt im Sep- starke Besuchermagnete. tember 2008 und soll die historische Ent- Zum Reformationsjubiläum ist mit ei- wicklung der Reformation und ihre kultur- nem erhöhten nationalen und internationa- historischen und religiösen Auswirkungen in len Besucheraufkommen zu rechnen. Nach Veranstaltungen und touristischen Angebo- Einschätzung der Deutschen Zentrale für ten aufgreifen und darstellen. So ist z. B. der Tourismus (DZT) wird durch die Lutherde- Dominikanermönch Johann Tetzel aus Pirna kade 2008 bis 2017 und das Reformations- direkt mit der Reformation verbunden. Er be- jubiläum das Kulturreiseland Deutschland trieb sehr vehement und erfolgreich Ablass- im internationalen Wettbewerb weiter ge- handel und war als Gegenspieler von Martin stärkt. Deutschland steht als Kulturreiseziel Luther mitverantwortlich für die Auslösung der Europäer mittlerweile auf Rang zwei hin- der Reformation. Philipp Melanchthon aus ter Frankreich. Laut European Travel Monitor Bretten und Johannes Bugenhagen aus Wol- der IPK International sind 2006 ca. 180.000 lin (Pommern) waren die wichtigsten Mit- Reisen aus religiösen Motiven aus anderen streiter Martin Luthers und trugen wesent- Ländern Europas nach Deutschland unter- lich zur Verbreitung der Reformation bei. nommen worden. Unter den weltweit ca. 400 Zu jedem Jahr der Lutherdekade werden Millionen Protestanten, darunter ca. 70,2 inhaltliche Schwerpunkte festgelegt. An- Millionen Lutheranern, identifiziert die DZT gedachte Formen sind Gottesdienste und Anhang 153

Konzerte, Großveranstaltungen und Aus- Thüringen, Vertreter der EKD, der verschie- stellungen, wissenschaftliche Kongresse denen Landeskirchen und des Lenkungsaus- und Tagungen, Kulturveranstaltungen und schusses an. Das Kuratorium hat zum Ziel, Schulprojekte. Mit der Vermittlung von Wis- »die Reformation und ihre Wirkung in der sen über die Reformation, Diskussionen über nationalen und internationalen Öffentlich- die Aktualität von Themen und Botschaften keit mit kirchlichen, wissenschaftlichen und der Reformation sowie erlebnisbezogenen kulturellen Vorhaben zu präsentieren«. Die- Angeboten soll den vielfältigen Interessen ses Kuratorium hat sich bereits auf die Wort- unterschiedlicher Zielgruppen Rechnung ge- marke »Luther 2017 – 500 Jahre Reformati- tragen werden. Als touristisches Großereig- on« verständigt, die im April 2008 durch eine nis kann sich Deutschland im Rahmen der Wort-/Bildmarke ergänzt wurde. Kampagnen zur Lutherdekade und zum Re- Der Deutsche Bundestag hat die bisheri- formationsjubiläum 2017 einmal mehr, wie gen Entwicklungen der Vorbereitungen zum etwa zur Fußballweltmeisterschaft 2006, als Reformationsjubiläum 2017 aufgegriffen und offenes und gastfreundliches Land präsen- am 16. Januar 2008 im Ausschuss für Touris- tieren. Für die Planung und Durchführung mus eine öffentliche Anhörung unter dem der Lutherdekade und des Reformationsju- Titel »Luther 2017 – 500 Jahre Reformation« biläums haben sich zwei zentrale Gremien durchgeführt. Die Anhörung fasste den Stand gebildet, die eng zusammenarbeiten. Zu- der bisherigen Aktivitäten und Planungen nächst konstituierte sich am 12. März 2006 der unterschiedlichen Institutionen zur Lu- unter der Leitung des sachsen-anhaltischen therdekade und zum Reformationsjubiläum Kultusministers der »Lenkungsausschuss für zusammen. Dabei wurde von allen Sachver- das Reformationsjubiläum«. Mitglieder des ständigen unterstrichen, dass der bereits er- Lenkungsausschusses sind unter anderem folgreich beschrittene Weg eines bundeslän- Vertreter der mit dem Reformationsjubilä- der- und institutionsübergreifenden Austau- um befassten Ministerien und der Lutherge- sches und einer gemeinsamen Vermarktung denkstätten Sachsen-Anhalts, der Bundesre- der touristischen Angebote intensiv fortge- gierung, der Landesregierungen von Sach- führt werden möge. Das Reformationsju- sen und Thüringen, der Lutherstädte sowie biläum 2017 soll auch für die involvierten Kirchenvertreter der EKD und verschiede- Kommunen und Institutionen nachhaltige ner Landeskirchen. Der Lenkungsausschuss Wirkungen erzielen. Die Entwicklung der koordiniert insbesondere die Vorbereitun- touristischen Produkte und die Infrastruk- gen und Durchführungen der Lutherdekade tur sind darauf abzustimmen. Darunter fällt und des Reformationsjubiläums in den Län- unter anderem die Ausweitung und Profilie- dern Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thürin- rung der kulturtouristischen Initiative »Wege gen. Auf Bundesebene hat sich am 21. März zu Luther e.V.« (Routes to Luther), die Martin 2007 das »Kuratorium zur Vorbereitung des Luther, seine Lebensorte, seine Zeit und eine Reformationsjubiläums 2017« unter der Lei- für die deutsche und europäische Geschich- tung des Vorsitzenden des Rates der Evange- te herausragende Kulturlandschaft touris- lischen Kirche in Deutschland, Bischof Prof. tisch vorstellt. Dr. Wolfgang Huber, konstituiert. Diesem Gremium gehören unter anderem Vertreter II. Der Deutsche Bundestag begrüßt der Bundesregierung, die Ministerpräsiden- die Unterstützung der »Stiftung Lutherge- ten der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und denkstätten in Sachsen-Anhalt« und der 154 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

»Wartburg-Stiftung« durch die Bundesregie- dend für einen guten nationalen und inter- rung. Beide Stiftungen pflegen die UNESCO- nationalen Auftakt zur Reformationsdekade Weltkulturerbestätten, die einen Bezug zu ist eine öffentlichkeitswirksame Eröffnung Martin Luther und zur Reformation haben. der Reformationsdekade in Wittenberg im Langjährige Maßnahmen im Rahmen des Zeitraum vom 19. September bis 31. Okto- Bund-Länder-Programms »Städtebaulicher ber 2008; Denkmalschutz« für die Städte Erfurt, Lu- therstadt Eisleben, Lutherstadt Wittenberg 3. dass das Auswärtige Amt über die Kul- sowie Eisenach haben zu einer weitgehen- turabteilungen der deutschen Auslandsver- den städtebaulichen Konsolidierung im Um- tretungen die Lutherdekade und das Refor- feld der Luthergedenkstätten sowie zu einer mationsjubiläum in seine Arbeit einbezieht. maßgeblichen Steigerung der Anziehungs- Außerdem sollen die Goethe-Institute zum kraft der jeweiligen Städte geführt. Beispiel in Form von Wanderausstellungen, Des Weiteren wurde im Rahmen des Pro- Veranstaltungsreihen und Werbung sowohl gramms »Investitionen für nationale Kultu- auf die Lutherdekade als auch auf das Refor- reinrichtungen in Ostdeutschland« das Ge- mationsjubiläum aufmerksam machen. Dar- burtshaus Martin Luthers in der Lutherstadt über hinaus sollte sich die Auseinanderset- Eisleben durch die »Stiftung Luthergedenk- zung mit Martin Luther und der Reformation stätten in Sachsen-Anhalt« umfassend re- in den von den Goethe-Instituten verwen- stauriert und um ein Ausstellungsgebäude deten Medien und Unterrichtsmaterialien sowie ein Besucherinformationszentrum er- wiederfinden; gänzt. Begrüßenswert ist auch die Mitglied- schaft des Bundesministers des Innern und 4. gegenüber der Deutschen Welle anzure- des Staatsministers und Beauftragten der gen, im Rahmen ihres gesetzlich veranker- Bundesregierung für Kultur und Medien im ten Zwecks, »Deutschland als europäisch ge- »Kuratorium zur Vorbereitung des Reforma- wachsene Kulturnation« bekannt zu machen tionsjubiläums«. sowie »das Verständnis und den Austausch der Kulturen und Völker zu fördern«, in ge- III. Der Deutsche Bundestag eigneter Weise auf die Lutherdekade und das fordert die Bundesregierung auf, Reformationsjubiläum aufmerksam zu ma- 1. im Rahmen bestehender Programme die chen; involvierten Bundesländer und Kommunen sowohl bei Investitionen in die Infrastruk- 5. auch bei anderen vom Bund finanzierten turverbesserung, wie beispielsweise eine Institutionen wie z. B. der Kulturstiftung des bessere Vernetzung der Verkehrsträger und Bundes, dem Deutschen Historischen Muse- eine effiziente Lenkung der Verkehrsströme, um oder der Klassik Stiftung Weimar dafür als auch im Rahmen der Kultur- und Denk- Sorge zu tragen, dass sie im Rahmen ihrer malförderung sowie der Städtebauförderung Budgets und ihrer Programmplanungen das zu unterstützen; Reformationsjubiläum einbeziehen;

2. nationale Tourismusverbände und die DZT 6. in Zusammenarbeit mit den Ländern zu bei der nationalen und internationalen Ver- prüfen, inwieweit die Förderung der Stiftung marktung der Lutherdekade und des Refor- Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und mationsjubiläums zu unterstützen. Entschei- der Wartburg-Stiftung fortzusetzen und aus- Anhang 155

zubauen ist. Daneben gilt es, die Sanierung anderer zentraler Stätten, Gedenkorte und Kirchen der Reformation in der Lutherde- kade besonders zu unterstützen;

7. neben Wittenberg, Eisleben und Eisenach weitere bedeutende historische Orte der Re- formation wie zum Beispiel Augsburg, Co- burg, Erfurt, Leipzig, Mansfeld-Lutherstadt, Marburg, Möhra, Nürnberg, Schmalkalden, Torgau und Worms bei touristischen Infra- strukturmaßnahmen durch das Bund-Län- der-Programm »Städtebaulicher Denkmal- schutz« weiterhin zu fördern;

8. in der Umsetzung der Maßnahmen zur Lu- therdekade und zum Reformationsjubiläum 2017 besonders den barrierefreien Zugang für den Tourismus zu beachten;

9. im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegenüber den Ländern anzuregen, die Entwicklung von mehrsprachigen touristischen Angeboten zu fördern. Zudem soll sie gegenüber den Län- dern und dem Deutschen Seminar für Touris- mus anregen, im Servicebereich die Aus- und Weiterbildung des Personals vor Ort im Hin- blick auf Fremdsprachen- und Geschichts- kenntnisse zu fördern;

10. die Möglichkeiten für eine überregionale Ausschilderung der wichtigsten Lutherstät- ten im Zusammenhang mit dem Reforma- tionsjubiläum im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten zu prüfen.

Berlin, den 26. Juni 2008

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion

Dr. Peter Struck und Fraktion 156 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Reformationsjubiläum 2017 als ­welthistorisches Ereignis würdigen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus (20. Ausschuss)

Deutscher Bundestag, Drucksache 16/13054 — 25.03.2009

zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Uda und Ausstellungen, wissenschaftliche Kon- Carmen Freia ­Heller, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), gresse und Tagungen, Kulturveranstaltungen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und Schulprojekte. sowie der Ab­geordneten Annette Faße, Engelbert Die antragstellenden Fraktionen wollen, Wistuba, Dr. Carl-Christian Dressel, weiterer Abge- dass die Bundesregierung die beteiligten ordneter und der Fraktion­ der SPD Bundesländer und Kommunen sowohl bei – Drucksache 16/9830 – Investitionen in eine bessere Verkehrsinf- rastruktur als auch bei der Kultur-, Denkmal- Reformationsjubiläum 2017 als und Städtebauförderung unterstützt. Ebenso ­welthistorisches Ereignis würdigen solle sie die nationalen Tourismusverbände und die Deutsche Zentrale für Tourismus bei A. Problem der Vermarktung der Lutherdekade und des Der vorliegende Antrag zielt darauf ab, das Reformationsjubiläums unterstützen. Über Reformationsjubiläum im Jahr 2017 als welt- die Kulturabteilungen der deutschen Aus- historisches Ereignis zu würdigen. Der 500. landsvertretungen solle auch das Auswärti- Jahrestag des Thesenanschlags Martin Lu- ge Amt auf das Ereignis hinweisen. Mit den thers an der Schlosskirche zu Wittenberg sei Ländern solle die Regierung überdies prü- Ausgangspunkt für die Reformation gewesen fen, wie die Förderung der »Stiftung Luther- und für die Bundesrepublik Deutschland in gedenkstätten in Sachsen-Anhalt« und der religiöser, kulturgeschichtlicher und touris- »Wartburg-Stiftung« ausgebaut werden kann. tischer Hinsicht von herausragender Bedeu- Schließlich solle sie die Entwicklung mehr- tung. Im Vorfeld des Jubiläums stehe die »Lu- sprachiger touristischer Angebote fördern therdekade«, die im September 2008 begon- und prüfen, wie die wichtigsten Lutherstät- nen habe und die historische Entwicklung ten im Zusammenhang mit dem Jubiläum der Reformation sowie deren kulturhistori- überregional ausgeschildert werden können. sche und religiöse Auswirkungen in Veran- staltungen und touristischen Angeboten auf- B. Lösung greifen und darstellen soll. Zu jedem Jahr der Annahme des Antrags mit den Stimmen der Lutherdekade würden inhaltliche Schwer- Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP bei punkte festgelegt. Vorgesehen seien Gottes- Stimmenthaltung der Fraktionen DIE LINKE. dienste und Konzerte, Großveranstaltungen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anhang 157

C. Alternativen Keine

D. Kosten Kosten wurden nicht erörtert.

Beschlussempfehlung Der Bundestag wolle beschließen, den An- trag auf Drucksache 16/9830 anzunehmen.

Berlin, den 25. März 2009

Der Ausschuss für Tourismus Marlene Mortler, Vorsitzende Uda Carmen Freia Heller, Berichterstatterin Engelbert Wistuba, Berichterstatter Jens Ackermann, Berichterstatter Dr. Ilja Seifert, Berichterstatter Bettina Herlitzius, Berichterstatterin 158 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Die Luther-Dekade 2008–2017 und die Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 Öffentliches Gespräch des Ausschusses für Kultur und Medien

Deutscher Bundestag, Protokoll Nr. 17/23 — 06.10.2010

Ausschuss für Kultur und Medien Mitglieder des Ausschusses Kurzprotokoll 23. Sitzung Ordentliche Mitglieder des Ausschusses: Berlin, den 06.10.2010, 17 Uhr Sitzungsort: Paul-Löbe-Haus CDU/CSU (Konrad-Adenauer-Str. 1, 10557 Berlin, Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Sitzungssaal: E.300) Grütters, Monika Poland, Christoph Vorsitz: Monika Grütters, MdB Wanderwitz, Marco Brehmer, Heike (als Gast) Tagesordnung: Hirte, Christian (als Gast)

Einziger Punkt der Tagesordnung SPD Die Luther-Dekade 2008–2017 Ehrmann, Siegmund und die Vorbereitung auf Krüger-Leißner, Angelika das Reformationsjubiläum 2017 Schmidt (Aachen), Ulla Thierse, Wolfgang, Dr. h.c. Gespräch mit: Zypries, Brigitte Staatsminister Bernd Neumann, Beauftragter der Bundesregierung FDP für Kultur und Medien Blumenthal, Sebastian Dr. Petra Bahr, Kulturbeauftragte der Deutschmann, Reiner Evangelischen Kirche in Deutschland Kurth (Kyffhäuser), Patrick Prälat Stephan Dorgerloh, Leiter der Müller-Sönksen, Burkhardt Geschäftsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wittenberg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Stefan Rhein, Geschäftsführung Krumwiede, Agnes Luther-Dekade, Wittenberg Rößner, Tabea

Anwesenheitsliste* Anhang 159

Stellvertretende Mitglieder loh, Dr. Stefan Rhein und Dr. Petra Bahr. Ziel des Ausschusses: der Veranstaltung sei es, sich kundig zu ma- chen und die Planungen für das Großprojekt DIE LINKE. kennenzulernen. Man befinde sich ja noch Sitte, Petra, Dr. am Anfang eines Prozesses, im dem sich der Bund finanziell engagieren werde. Die Gäs- * Der Urschrift des Protokolls ist die Liste te seien daher gebeten, zu Beginn über den der Unterschriften beigefügt. Stand der Arbeiten zu berichten.

Bundesregierung Prälat Stephan Dorgerloh (Leiter der Ge- Bias-Engels, BKM schäftsstelle der Evangelischen Kirche Gehrke, BKM in Deutschland, Wittenberg) dankt für die Draheim, BKM Gelegenheit, die Planungen für die Luther- Klaßen, AA Dekade vorstellen zu dürfen. Zwei Jahre sei- Schikorski, AA en seit der Eröffnung der Luther-Dekade be- Köberling, AA reits vergangen. Mithin sei die Startphase, Reichel, BK in der vieles zu etablieren gewesen sei, ab- Köhr, BKM geschlossen. Es sei ein guter Zeitpunkt, um Berggreen-Merkel, BKM mit dem Ausschuss zu überlegen, wie man Guellil, AA die Vorbereitung auf das große internatio- nale Jubiläum gestalten könne. Erfreulich Bundesrat sei, dass der Deutsche Bundestag dazu be- Gramlich-Nürnberger, LV Sachsen reits Stellung genommen und die Aktivitä- Dietzen, LV Thüringen ten überparteilich gewürdigt habe. Dies gebe Gebhard, LV Bayern Anlass zu der Hoffnung, dass es auch in den Krämer, LV Mecklenburg-Vorpommer kommenden Jahren gelingen werde, gemein- Passek, LV Saarland sam zu agieren. Forst, LV Sachsen-Anhalt Die Luther-Dekade und das Reformations- Krüger, LV Schleswig-Holstein jubiläum stellten ein gesamtgesellschaftli- Hockling, LV Baden-Württemberg ches Ereignis mit protestantischem Profil, aber ohne protestantische Profilierung dar, Fraktionen und Gruppen das Staat, Kirche und Zivilgesellschaft mit- Mühlberg, DIE LINKE. einander gestalten sollten. Damit habe man Olschansky, B90/GRÜNE bereits vor mehr als zwei Jahren begonnen, Klemesch, DIE LINKE. Strukturen etabliert und erste Vorhaben ge- Friebel, SPD meinsam umgesetzt. Leberl, CDU/CSU Inhaltlich werde die Dekade in einzelne Jahresthemen gegliedert. Es werde ein Span- Die Vorsitzende begrüßt als Gäste der öf- nungsbogen aufgebaut, der bis zu dem gro- fentlichen Sitzung zum Thema Luther-Deka- ßem Jubiläum reiche. Dabei werde die Re- de 2008 bis 2017 und Reformationsjubiläum formation nicht nur als kirchliches Ereignis, neben Staatsminister Bernd Neumann (Be- sondern als Zeitenwende vom Mittelalter zur auftragter der Bundesregierung für Kultur Neuzeit verstanden. Die Ereignisse hätten in und Medien, BKM) Prälat Stephan Dorger- vielen Bereichen bis heute Spuren hinterlas- 160 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

sen. Dies gelte für Sprache und Kultur eben- dien, aufgreifen. Es gehe dabei um die Frage, so wie für die Politik, wenn man etwa an die wie es damals gelungen sei, die neue Theo- Trennung von Staat und Kirche denke. Nach- logie und ihren Geist in Bilder zu fassen bzw. haltige Wirkungen seien für den religiösen wie die heutige Sprach- und Bilderwelt den Dialog, den Bereich des Sozialen bis hin zu Kontext von Religion und Dialog bildlich um- den Medien nachweisbar, denn die Refor- setzten. mation sei auch mit einer Medienrevoluti- Die Reformation und die eine Welt stün- on, dem Buchdruck, einhergegangen. Mög- den dann im Jahr 2016, am Vorabend des licherweise stehe man heute angesichts von großen Jubiläums, thematisch im Mittel- Globalisierung und medialer Revolution an punkt und bildeten insofern ein Vorzeichen, einer ähnlichen Schnittstelle der Geschichte. als 2017 das Reformationsjubiläum erstmals Prälat Dorgerloh betont, die Veranstalter in einem internationalen Rahmen gefeiert hätten versucht, die Jubiläen, die auf dem werde. Weg bis 2017 liegen, aufzugreifen. In diesem Die Reformationsjubiläen in den Jahren Jahr geschehe dies unter dem Stichwort Re- 1817 und 1917 seien sehr national und anti- formation und Bildung. In diesem Zusam- römisch geprägt gewesen. 2017 wolle man menhang werde an den 450. Todestag Phil- ganz bewusst in einem globalen Kontext ipp Melanchthons erinnert, den großen Geist feiern und 2016 mit der Konzentration auf an Luthers Seite. die Ereignisse, die von Wittenberg ausgin- Weitere Themen seien Reformation und gen, die Deutschland, Europa und die Welt Freiheit im Jahr 2011 und Reformation und verändert hätten, zur Einstimmung nutzen. Musik 2012. Hier habe das Jubiläum »800 Zu jedem Jahr der Luther-Dekade er- Jahre Thomaner-Chor« den Anstoß gege- scheine ein Jahrbuch, so Prälat Dorgerloh ben. Der Gemeindegesang stelle bis heu- abschließend, das die wesentlichen Reden te einen wesentlichen Grundstein dar, der und inhaltlichen Beiträge festhalte und ei- in der Reformation gelegt worden sei und nen Überblick über die vielfältigen Ereignisse der die Musikkultur in Europa in besonde- in ganz Deutschland gebe. Das betreffe nicht rer Weise präge. 2013 gehe es dann um Re- nur Mitteldeutschland, sondern Gemeinden, formation und Toleranz, das Verhältnis der Bibliotheken, Schulen und Museen in ganz Religionen und Konfessionen zueinander, Deutschland. aber auch um die schwierigen, von Intole- ranz geprägten Seiten solcher Prozesse. Im Dr. Stephan Rhein (Geschäftsführung Jahr 2014 greife man das Thema Reformation Luther-Dekade, Wittenberg) ergänzt die und Politik auf. Dann werde unter anderem Einführung aus der Sicht der staatlichen Ge- über die Entwicklung der Gewissensfreiheit schäftsstelle und führt aus, die Strukturen und der Menschenrechte verhandelt. Im wis- stünden für den Versuch, Staat und Kirche senschaftlichen Beirat sei eine Linie von der die Vorbereitungszeit gemeinsam absolvie- Reformation über die Aufklärung bis hin zur ren zu lassen. Anlässlich des letzten großen Etablierung der modernen Menschenrechte Lutherjubiläums im Jahr 1983 (500. Geburts- gezogen worden. In das Jahr 2015 falle der tag des Reformators) habe es in der dama- 500. Geburtstag von Lucas Cranach dem Jün- ligen DDR bereits eine erfolgreiche Zwei- geren. Dazu werde man den Themenkom- säulenstruktur gegeben, mit einem staatli- plex Reformation, Bild und Bibel, im heuti- chen Lutherkomitee unter der Leitung Erich gen Sprachgebrauch Reformation und Me- Honeckers auf der einen und einem von bi- Anhang 161

schöflicher Seite getragenen Lutherkomitee ten an Schloss Hartenfels in Torgau, in den auf der anderen Seite. Die heutige Struktur Städten Eisleben, Wittenberg und an ande- basiere auf einem Kuratorium, in dem un- ren wichtigen Orten gehörten. Den zweiten ter dem Vorsitz des Ratsvorsitzenden der wichtigen Aufgabenbereich stelle das tou- Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ristische Marketing dar. In diesem Zusam- auf der einen Seite staatlicherseits der Bund menhang sei positiv zu vermerken, dass sich durch den Bundesminister des Innern, den die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) Kulturstaatsminister sowie den Bundesau- früh in die Kampagne eingeklinkt, Zielmärk- ßenminister vertreten seien und für die mit- te definiert und mit den Jahren 2012, 2015 teldeutschen Länder die Ministerpräsiden- und 2017 für sich wichtige Kommunikations- ten mitarbeiteten und auf der anderen Seite jahre benannt habe. Das dritte Handlungs- hohe Kirchenvertreter beider Konfessionen feld, das den Vorlauf präge, stelle die kultu- stünden. Es gebe zwei Gremien unterhalb relle Bildung dar. Hier werde versucht, mit dieses Kuratoriums, einen Lenkungsaus- Schul- und Studierendenwettbewerben den schuss und einen wissenschaftlichen Bei- kulturellen Impuls aus der Reformationszeit rat. Der Lenkungsausschuss setze sich aus im Sinne von Demokratisierung und Bildung Vertretern der Kommunen, der Länder und in das 21. Jahrhundert zu übertragen. der Landeskirchen zusammen, wobei zurzeit Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Bay- Dr. Petra Bahr (Kulturbeauftragte der ern, Hessen und Baden-Württemberg betei- Evangelischen Kirche in Deutschland) zi- ligt seien, so dass man allmählich von ei- tiert eingangs Dietrich Bonhoeffer, der ein- ner bundesweiten Struktur sprechen könne. mal gesagt habe, Kultur sei der Spielraum Der wissenschaftliche Beirat sei internatio- der Freiheit. Deshalb glaube die Evangeli- nal besetzt und decke verschiedene Diszipli- sche Kirche in Deutschland, dass Kultur und nen wie Kirchengeschichte, Musikgeschichte, Künste bestens geeignet seien, um sich die Kunstgeschichte und allgemeine Geschich- Themen der Reformation auf neue und kre- te ab. Die Arbeitsebene schließlich bildeten ative Weise so anzueignen, dass sie für die zwei Geschäftsstellen mit Sitz in Wittenberg, ganze Gesellschaft interessant werden. Um einer Geschäftsstelle der EKD und eine in den Anwesenden eine Vorstellung zu bieten, der Obhut des Landes Sachsen-Anhalt. Die werde sie zwei konkrete Projekte vorstellen, von ihm geleitete Geschäftsstelle werde seit die in der Planung schon weit gediehen seien, Kurzem vom Freistaat Sachsen mitgetragen. weil sie sich auf das nächste und übernächste Sie habe Gemeinschaftsaufgaben von Bund, Jahr bezögen. Die EKD plane für das Jahr 2011 Ländern und Kirchen zu erledigen, wozu vor- einen Kulturkongress in Berlin, zu dem 600 rangig ein gemeinschaftliches Marketing und Expertinnen und Experten aus Kulturein- der Betrieb einer Website gehörten. richtungen und dem kirchlichen Bereich er- Der Verlauf der Luther-Dekade sei durch wartet würden, um das Thema Religion und die Vorbereitung auf ganz bestimmte The- Kultur auf dem Weg in die Luther-Dekade menfelder gekennzeichnet. Darauf seien und zum Reformationsjubiläum gemeinsam verschiedene Handlungsfelder abgestimmt, zu erarbeiten. Der Kongress werde nicht nur wozu als ein Schwerpunkt Baumaßnahmen die Konfessionsgrenzen sprengen, sondern wie der Ausbau und die Sanierung der re- auch die nationalen Grenzen, indem Teilneh- formationshistorischen Infrastruktur auf merinnen und Teilnehmer aus dem skandi- der Wartburg bei Eisenach ebenso wie Arbei- navischen Bereich, den Niederlanden, der 162 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Schweiz und Österreich ebenso wie aus Ost- schen Museum schon vor zwei Jahren mit europa hinzugezogen würden. Höhepunkt einer Calvin Ausstellung gegeben. Mittels der Veranstaltung werde die Aufführung ei- derartiger Kooperationen beweise die Evan- ner in Kooperation mit einer großen Berli- gelische Kirche, dass ihr nicht daran liege, ner Bühne in Auftrag gegebenen Kompositi- die Deutungshoheit über die Themen zu be- on zu Paulus bilden, also einem kirchlichen anspruchen, sondern sie die Diskussion der Stoff. Der schwedische Komponist Thomas Kultur, den Künsten und der gesamten Zivil- Jennefelt sei mit der Musik beauftragt wor- gesellschaft öffnen wolle. den, das Libretto erarbeite Christian Lehnert. Bei der Komposition stehe ein aktueller Pau- Staatsminister Bernd Neumann (BKM) lus, der sich mit Religionskonflikten und den konstatiert, grundsätzlich sei die Gestaltung verschiedenen Weltanschauungen auseinan- der Luther-Dekade einschließlich Reforma- dersetze, im Mittelpunkt. Es gehe mithin um tionsjubiläum Sache der Evangelischen Kir- eine Figur, die im Medium Kunst von der Ur- che in Deutschland. Unverkennbar habe die ansicht der Reformation in die aktuellen De- Reformation aber nicht nur in die Glaubens- batten des 21. Jahrhunderts führe. Es werde landschaft gewirkt, sondern auch die politi- sich bei dem Stück nicht um ein Oratorium, sche Landkarte Europas entscheidend ver- sondern um Musiktheater auf einer weltli- ändert und immense Einflüsse auf Bildung chen Bühne handeln. und Kultur entfaltet, so dass es auch eine Außerdem spricht Frau Dr. Bahr das Jahr politische Verantwortung für das Projekt der Musik 2012 an. Die Evangelische Kir- gebe, zu der sich der Staat bekenne. Darü- che in Deutschland werde dieses Jahr unter ber hinaus sei zu hoffen, dass das Jubiläum das Motto stellen: »Kirche klingt, aber Kir- über die drei Kernländer der Reformation hi- che klingt eben nicht für sich allein.« Das naus Bedeutung erlange und möglichst so- dazu entwickelte Programm solle zwischen gar über Deutschland hinaus wirke, weil die Breitenkultur und avancierter Kultur ver- Auswirkungen der Reformation eben nicht mitteln, anstatt beide gegeneinander aus- nur auf Deutschland begrenzt gewesen sei- zuspielen. Einer Stafette gleich würden quer en. Vor diesem Hintergrund sei die Bundes- durch Deutschland von München nach Kiel, regierung bereit, sich in die Kooperation ein- von Görlitz nach Aachen anhand der alten zubringen und habe im BKM-Budget für das Choräle Bündnisse geschlossen mit Musik- kommende Jahr 5 Mio. Euro ausgewiesen. Es schulen, Kindergärten und Musikhochschu- sei vorgesehen, diese Förderung bis zum Jahr len, um auf neue Art Kirche so zum Klingen 2017 fortzuschreiben, so dass der Bund mit zu bringen, dass sie auch außen wieder wahr- insgesamt 35 Mio. Euro engagiert sei. Wenn- nehmbar werde. gleich die Verantwortlichen der Kirche und Im Übrigen weist sie darauf hin, dass man der Kernländer zunächst von 40 Mio. Euro nicht nur Kooperationen mit großen Muse- Bundesbeitrag ausgegangen seien, stelle die en in Deutschland plane, sondern bereits in aktuelle Fördersumme mit Blick auf die Fi- die Tat umgesetzt habe. So beginne im Hy- nanz- und Wirtschaftskrise weit mehr dar, als gienemuseum in Dresden Anfang Oktober man habe erwarten dürfen. Über die rein fi- 2010 eine Ausstellung zum Thema Glauben, nanzielle Beteiligung hinaus wirke der Bund zu der das Kulturbüro der EKD ein Begleit- in den Gremien mit. Es handle sich dabei um programm organisiere. Eine ähnliche Koope- das Kuratorium, das als das eigentliche Kon- ration habe es mit dem Deutschen Histori- trollgremium fungiere und vom Vorsitzenden Anhang 163

der EKD geleitet werde. Parallel dazu gebe es gesamtgesellschaftliches Ereignis mit pro- einen Lenkungsausschuss, der sich mit dem testantischem Unterton zu verstehen. Damit Operativen befasse. Innerhalb der Bundes- sei ein sehr hoher Anspruch verbunden, der regierung habe der BKM die Federführung, noch verstärkt würde, wenn in den einzelnen woraus zu erkennen sei, dass es sich eben Phasen der Dekade deutlich gemacht werde, nicht nur um eine religiöse Veranstaltung dass es auch um einen interreligiösen Dia- handele, da ansonsten der Bundesminister log gehe. Unabhängig davon, ob man religiös des Innern zuständig wäre, sondern das Ge- oder musikalisch sei, biete das Jubiläum Ge- samtprojekt überwiegend unter kulturellen legenheit, sich der Wirkungen der Reforma- Gesichtspunkten zu betrachten sei. tion bis in die Gegenwart hinein bewusst zu Die Förderaktivitäten beträfen einerseits werden. Die gewählte Form der Kooperation investive Maßnahmen bezogen auf die Sa- zwischen staatlicher und kirchlicher Seite nierung bzw. Modernisierung der mit Lu- unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft sei ther zusammenhängenden Objekte und Ge- sehr zu begrüßen. Unklar sei für ihn, wer von denkstätten und andererseits Aktivitäten im Seiten der Länder neben den drei Kernlän- Zusammenhang mit dem eigentlichen Pro- dern der Reformation aktiv kooperiere. Ba- gramm der Luther Dekade und des Reforma- den-Württemberg, Bayern und Rheinland- tionsjubiläums. Pfalz seien zwar angesprochen worden, es Der Bund fördere schon seit geraumer Zeit fehle aber der Überblick. neben dem Land Sachsen-Anhalt den Un- Das Engagement des Bundes mit einem terhalt der Luthergedenkstätten institutio- jährlichen Ansatz von 5 Mio. Euro bis zum nell mit mehr als 1 Mio. Euro. Darüber hinaus Jahr 2017 bezeichnet Abg. Ehrmann als sehr habe man im Laufe der Jahre beträchtliche beachtlich. Unklar sei allerdings, welche Pri- Zuschüsse für die Sanierung der Wartburg oritäten in Sachen reformationshistorische und anderer Einrichtungen gegeben, die teil- Infrastruktur gesetzt würden und ob dabei weise Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes auch die Fläche Berücksichtigung finde. Bei seien. Im Hinblick auf das Dekaden-Pro- Investitionen gelte es, planerische Vorlauf- gramm sei bemerkenswert, dass die staatli- zeiten zu beachten. Hierzu interessieren ihn chen und die kirchlichen Träger das Refor- nähere Erläuterungen in Bezug auf Größen- mationsjubiläum gemeinsam angingen. Es ordnung, Kooperationen und weitere Akteu- werde neben einigen kleineren eine große re, insbesondere in Ländern, Kommunen und Jubiläumsausstellung geben, Veranstaltun- auf europäischer Ebene. gen und Publikationen. Die zugesagten Fi- Des Weiteren erkundigt sich Abg. Ehr- nanzmittel seien offenkundig gut angelegt, mann nach Details der Programmplanung das Projekt auf einem guten Weg. und fragt, ob die vorgesehenen Mittel in An- Bevor sie das Wort erteilt, stellt die Vor- betracht des weiten Bogens, der gespannt sitzende Einvernehmen darüber fest, dass werde, ausreichend seien und zeitig genug sich auch Abgeordnete, die nicht Mitglieder eingeplant werden könnten. des Ausschusses für Kultur und Medien sind, an der nun folgenden Diskussion beteiligen Abg. Wolfgang Börnsen (Bönstrup, CDU/ können. CSU) pflichtet Abg. Ehrmann bei, sich in An- betracht der eingestellten Mittel für das Pro- Abg. Siegmund Ehrmann (SPD) begrüßt jekt nicht mit einem Grobkonzept begnügen das vorgestellte Konzept, das Jubiläum als zu können. Es gehe dabei darum, Deutsch- 164 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

land als Ausgangspunkt für den Ursprung des Abg. Patrick Kurth (Kyffhäuser, FDP) er- Glaubens von weltweit 400 Millionen Pro- klärt, er teile zwar die positive Einschätzung testanten zu präsentieren, die anlässlich des der Aktivitäten in Bezug auf die Luther-De- großartigen Geburtstags eingeladen seien, kade und das Reformationsjubiläum, gleich- zur Urstätte ihres Glaubens zurückzukehren. wohl habe er den Eindruck, dass es zu akade- Daraus ergebe sich eine gesamtstaatliche misch und theologisch zugehe. Stattdessen Verantwortung vergleichbar mit der staat- müssten die touristischen und wirtschaftli- lichen Unterstützung des Weltjugendtref- chen Aspekte stärker in den Blick rücken. Es fens der katholischen Kirche in Köln. Dieser seien Bundesländer involviert, die aus eige- Verantwortung trage das vorgestellte Kon- ner Wirtschaftskraft nur sehr schwer in der zept Rechnung. Es sei kein kurzatmiges Pro- Lage seien, etwas zu gestalten. Das Reforma- gramm anlässlich des 500. Jubiläums, son- tionsjubiläum sei keineswegs in aller Munde, dern langfristig über zehn Jahre angelegt und sondern müsse eine adäquate gesellschaftli- geeignet, die Menschen anzusprechen, selbst che Beachtung erst noch finden. Man stehe wenn sie den Kirchen nicht besonders nahe- insofern erst am Anfang. In Anbetracht der stünden. Des Weiteren sei zu begrüßen, dass Wirkung des Ereignisses und des Schrittes ­Luther gesamtdeutsch gefeiert werden könne. vor 500 Jahren, aus dem Mittelalter in die Zuletzt sei in Ost und West getrennt gefeiert Neuzeit vorzustoßen, lohne es sich, alle zum worden, nun sei das gesamte Deutschland Mitfeiern einzuladen. Abg. Kurth sieht reich- Gastgeber und Wittenberg stehe im Mittel- lich Potenzial für eine gezielte Auslandswer- punkt. Deshalb sei der Hinweis des Abg. Ehr- bung. Im Übrigen müsse sichergestellt sein, mann angebracht, neben dem Engagement dass das Internetangebot vor dem Hinter- des Bundes das der Länder einzufordern. Sei- grund seiner weltweiten Wirkung professi- ne Fraktion beabsichtige zusammen mit der onell gestaltet sei. Darüber hinaus könnten FDP einen Antrag zu formulieren und wün- die deutschen Auslandsvertretungen helfen, sche sich, dass sich weitere Fraktionen betei- aber auch Nichtregierungsorganisationen ligten. Erfreulich sei, dass es in allen Frakti- und der universitäre Bereich. Hier gelte es, onen Abgeordnete gebe, die die Luther-De- mit entsprechenden Angeboten aufzuwar- kade von Beginn an aktiv unterstützt hätten, ten und den Eventcharakter hervorzuheben. nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie sich Gezieltes Marketing sei geboten, um poten- persönlich inspiriert fühlten. zielle Gäste zu erreichen. Vor diesem Hinter- grund habe er vor geraumer Zeit kommuna- Abg. Dr. (DIE LINKE.) erkundigt le Funktionsträger angeschrieben und sich sich nach dem Engagement des Landes Sach- nach deren Einschätzung und dem Stand der sen-Anhalt in finanzieller und anderweitiger Dinge erkundigt. In den Antworten sei viel Hinsicht. Ebenso interessiert sie der Aspekt Motivation und Engagement durchgeklun- der internationalen Unterstützung. In Anbe- gen, aber auch festzustellen gewesen, dass tracht der besonderen Bedeutung des Jubi- vieles nebeneinander her oder aneinander läums als kulturellem Ereignis frage sie sich, vorbei laufe und wenig von Netzwerkbildung ob nicht ein spezifisches Angebot für jun- und Koordination zu spüren gewesen sei. ge Menschen sinnvoll sei und möchte wis- Schließlich, so Abg. Kurth, sei im Hinblick sen, wie die besonderen Bedürfnisse junger auf das finanzielle Engagement ein Überblick Menschen berücksichtigt würden, etwa im hilfreich, was Bund, Länder, Kommunen und Hinblick auf das Mediennutzungsverhalten. unterschiedliche Einrichtungen einbringen. Anhang 165

Wenn eine Gesamtsumme definiert sei, fal- mals Haushaltsmittel für das Projekt zu re- le es leichter festzustellen, an welcher Stelle servieren. Da sie auch Mitglied im Touris- noch etwas fehlt. Darüber hinaus sei inter- musausschuss sei, interessiere sie besonders, essant, ob auch Touristikunternehmen ein- welche Möglichkeit für eine noch intensive- gebunden seien und deren Fachkompetenz re Unterstützung der nationalen und inter- in Bezug auf touristische Produkte berück- nationalen touristischen Vermarktung der sichtigt werde. Luther-Dekade und des Reformationsjubi- läums gesehen werde. Das Thema Koordina- Abg. Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE tion aufgreifend möchte sie überdies wissen, GRÜNEN) teilt mit, ihre Fraktion begrüße welche Chance die Bundesregierung sieht, nicht nur das Projekt Luther-Dekade, son- eine Zusammenarbeit aller beteiligten Bun- dern sehe darin überdies eine große Chance, desländer zu fördern. wieder mehr kirchliche Werte in die Gesell- schaft zu tragen. Insofern sei es wichtig, den Abg. Jens Ackermann (FDP) lobt die Befas- Diskurs nach außen zu transportieren und sung des Ausschusses mit dem Thema Lu- die Frage anzusprechen, was Gesellschaft ther-Dekade und Reformationsjubiläum. Er und Kirche heute bedeuteten. erinnert an eine Anhörung zum selben The- Sie widerspricht Abg. Kurth, im Zusam- ma im Tourismusausschuss in der vergan- menhang mit der Luther-Dekade touristische genen Legislaturperiode und erklärt, es sei und wirtschaftliche Gesichtspunkte in den nicht unrealistisch, in Anbetracht der 400 Mittelpunkt zu rücken. So werde das Jubi- Millionen Protestanten weltweit ein gewisses läum auf eine Touristenattraktion reduziert touristisches Potenzial für Deutschland zu und als Teil der Eventkultur missverstan- sehen. Gerade weil viele Menschen heutzuta- den. Sie erkundigt sich nach dem Verhältnis ge nicht mehr konfessionell gebunden seien, zwischen den investiven Ausgaben und den könne von der Luther-Dekade mit dem Re- Ausgaben für das Programm. Des Weiteren formationsjubiläum ein Impuls für das evan- interessiert sie, durch welche Projekte ge- gelische Leben in seiner Heimat Sachsen-An- zielt junge Menschen angesprochen werden halt ausgehen. sollen. Wenn nicht zwischen etablierter Kul- Abg. Ackermann bestätigt den Eindruck, tur und Breitenkultur unterschieden werde, es laufe im Zusammenhang mit der Vorbe- könne ein solcher Ansatz gerade für junge reitung einiges parallel, redundant, jeden- Menschen attraktiv sein. Abg. Krumwiede falls ohne Vernetzung. Deshalb möchte Abg. fragt, was über Schülerwettbewerbe hinaus Ackermann wissen, ob es in Anbetracht der geplant sei und ob das Thema Integration nationalen und internationalen Bedeutung berücksichtigt werde. Schließlich müsse die des Ereignisses nicht ratsam wäre, die weite- Begegnung der Religionen eine wichtige Rol- re Vorbereitung und Organisation unter die le spielen, wenn man das Thema Toleranz Leitung des BKM zu stellen. sinnvoll bearbeiten wolle. Abg. Christian Hirte (CDU/CSU) lobt eben- Abg. (CDU/CSU) stellt sich falls die Beratung des Themas Reformations- als Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt vor, die jubiläum im Ausschuss für Kultur und Me- sich besonders auf das Jubiläum freue und dien und die Perspektive einer verstetigten die Vorbereitungen überaus interessiert be- Förderung durch den BKM. Dennoch dürfe obachte. Sie lobt den BKM dafür, 2011 erst- man das Thema keinesfalls rein ökonomisch 166 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

sehen, auch wenn ihm als Mitglied im Tou- Baum gepflanzt habe. Der ökumenische Ge- rismusausschuss und Hauptberichterstat- danke sei von Anfang an mit berücksichtigt ter seiner Fraktion für das Thema dieser worden und die bisherige Beteiligung werde Gesichtspunkt sehr wichtig erscheine. Für diesem Gedanken gerecht. ihn sei ebenso wichtig, kleine Aktionen vor Leuchtturmprogramme seien wichtig und Ort im Blick zu behalten. Aus touristischer es werde sie geben müssen. Darüber hinaus Sicht spielten Leuchtturmprojekte eine nicht wachse das Programm der Luther-Dekade zu unterschätzende Rolle. Er pflichtet Abg. von unten, weshalb man eine breite Aufstel- Börnsen bei, das Reformationsjubiläum als lung in den Kommunen und in den verschie- nationales Projekt einzustufen. Vor diesem denen Zielgruppen brauche. Dazu gehörten Hintergrund erkundigt er sich im Hinblick Jugendprojekte, wie sie entweder in Planung auf Ausstellungen an wichtigen Orten der oder schon realisiert seien. So finde zum Bei- Reformation nach dem Sachstand. spiel eine Projektwoche an einem Gymnasi- um in Eisleben statt, das nur von rund 9 % Abg. Prof. Monika Grütters (CDU/CSU) Schülerinnen und Schülern mit konfessio- knüpft an Äußerungen zur Ökumene an. neller Bindung besucht werde. Darüber hin- Nicht das Trennende zwischen den christli- aus gebe es eine ganze Fülle an Beispielen bis chen Kirchen, die ohnehin unter Druck stün- hin zu einem Buchprojekt, das für Jugendli- den, gelte es zu betonen, sondern der ökume- che aufgelegt werde und das Thema Freiheit nische Ansatz müsse in den Vordergrund ge- zum Gegenstand habe. Das Buch sei als Mi- rückt werden. Es könne deshalb sinnvoll sein, schung zwischen Tagebuch und Jugendka- das Gemeinsame durch eine gezielte Einbe- lender konzipiert und werde im kommenden ziehung katholischer Würden- und Funkti- Jahr erscheinen. All das zeige, dass man ver- onsträger in Vorbereitung und Programm zu schiedene Zielgruppen im Blick habe. Pers- betreiben, statt die Ökumene nur beiläufig zu pektivisch benötige man aber Unterstützung, thematisieren. Hierzu hätte sie gerne nähe- so Prälat Dorgerloh, um solche Aktivitäten re Auskünfte. entwickeln und umsetzen zu können. Für Ausstellungen sei ein gemeinsames Prälat Stephan Dorgerloh (Leiter der Ge- Konzept entwickelt worden. Dabei spiele Ber- schäftsstelle der Evangelischen Kirche lin als Hauptstadt eine wichtige Rolle – hier in Deutschland, Wittenberg) geht unmit- gebe es eine Kooperation mit dem Deutschen telbar auf die zuletzt gestellt Frage ein und Historischen Museum -, aber natürlich auch gibt an, im wissenschaftlichen Beirat arbeite die Lutherstadt Wittenberg als Ort des Ge- ein katholischer Theologe mit. Darüber hi- schehens sowohl 1517 als auch 2017. Selbst- naus hätten die Katholische Bischofskonfe- verständlich gelte das auch für die Wartburg renz und der Rat der Evangelischen Kirche bei Eisenach als wichtigem nationalen Kul- in Deutschland eine Kommission eingesetzt, turdenkmal. Im Augenblick sei das Konzept die den Aspekt gemeinsam bearbeite. Man erneut in der Diskussion, weil auch Sach- habe beispielsweise verabredet, die 95 The- sen Ansprüche angemeldet habe im Hin- sen gemeinsam zu kommentieren und he- blick auf das damalige politische Zentrum, rauszugeben. Als weiteres Beispiel für die Schloss Hartenfels in Torgau, wo vor nicht ökumenische Zusammenarbeit verweist er allzu langer Zeit eine erfolgreiche Landes- auf den Luthergarten in Wittenberg, zu des- ausstellung gezeigt worden sei. Allerdings: sen Eröffnung Kardinal Walter Kasper einen Wenn es überall Leuchttürme gebe, würden Anhang 167

die dann überhaupt noch als solche wahrge- sellschaft in die Luther-Dekade führt Frau nommen? Deshalb müsse noch einmal ge- Dr. Bahr aus, das Jahr der Musik sei ein Bei- prüft werden, und das Kuratorium werde dies spiel dafür, beide Aspekte zu berücksichtigen. in Kürze tun, wie breit man sich aufstelle und Einerseits würden exponierte Leuchttürme wo man Schwerpunkte setze. der evangelischen Kirchenmusik errichtet, Zur internationalen Dimension der Ver- andererseits werde Musik als Form der kul- anstaltung berichtet Prälat Dorgerloh, man turellen Bildung gestärkt durch die Koope- habe anlässlich der Eröffnung ganz bewusst ration kirchlicher Einrichtungen mit Mu- den Präsidenten des Lutherischen Weltbun- sikschulen, vorschulischen und schulischen des aus den USA predigen lassen, um von An- Bildungsstätten. Es müsse möglich sein, in fang an deutlich zu machen, dass es sich um der Spannung zwischen beiden Polen bei- ein internationales Ereignis handele, das des gleichzeitig zu tun. Das gelte auch für touristisch übrigens sehr breit beworben den vermeintlichen Widerspruch zwischen werde. Es gebe Faltblätter in verschiedenen theologischer Leidenschaft und touristischer Sprachen. Anknüpfungspunkte und Impul- Kompetenz. Die Antwort auf die Frage, wa- se seien zahlreich vorhanden, beispielsweise rum die Leute irgendwo hinkommen sollen, in Chile, wo der Reformationstag nationaler sei denkbar einfach: Weil es etwas Spannen- Feiertag sei oder in Südkorea, wo der Protes- des gebe, das anzusehen sich lohne bzw. weil tantismus einen enormen Zulauf verzeichne. eine interessante Geschichte erzählt werde, Die Zusammenarbeit der verschiedenen die auch etwas mit den Leuten zu tun habe, Ebenen und Einrichtungen betreffend führt die die Reisen unternehmen. Prälat Dorgerloh aus, gebe es eine ganze Rei- he von Veranstaltungen, die in Planung sei- Dr. Stephan Rhein (Geschäftsführung en. Es gehe dabei nicht nur um das laufende Luther-Dekade, Wittenberg) erläutert zu Jahr, sondern man plane immer bereits für den Themen Netzwerkbildung und Touris- die folgenden Jahre und werde dies im In- mus, dass zurzeit zur Finanzierung von Ge- ternet mit Hilfe eines Veranstaltungskalen- meinschaftsaufgaben nur 60.000 Euro zur ders darstellen. Verfügung stünden. Deshalb seien der heuti- ge Tag und die Parlamentsentscheidung über Dr. Petra Bahr (Kulturbeauftragte der den Etat von so besonderer Bedeutung. Die Evangelischen Kirche in Deutschland) Geschäftsstelle, die die staatlichen Partner ergänzt, der von ihr angesprochene Kultur- koordiniere, verfüge über zwei Personalstel- kongress biete eine gute Gelegenheit, Fra- len, die ausschließlich vom Land Sachsen- gen der Vermittlung zu analysieren. Das gelte Anhalt finanziert würden. Insgesamt gebe nicht nur für junge, sondern möglicherweise Sachsen-Anhalt jährlich 180.000 Euro für die auch für ältere Leute. Auf dem Weg zum Re- Geschäftsstelle aus. In der Summe stünden formationsjubiläum 2017 stellten sich nicht also 240.000 Euro zur Verfügung um auf 400 ausschließlich religiöse Fragen. Natürlich sei Millionen Protestanten als Zielgruppe zu- das Internet ein wichtiges Stichwort, aber es zugehen. Das sei die Diskrepanz, in der man gelte ebenso, andere ansprechende Forma- sich befinde. Deswegen sei die Entscheidung te und Ort zu finden. Auch das gehöre auf des Deutschen Bundestag über das finanziel- die Agenda des Kongresses, der als Arbeits- le Engagement des Bundes ausschlaggebend, kongress konzipiert sei. Zum Thema Leucht- um zu signalisieren, dass man auf dem rich- turmprojekte und Einbeziehung der Zivilge- tigen Weg in Richtung 2017 sei. In Bezug auf 168 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

die Bedeutung des Jubiläums für den Touris- man einiges sicher noch besser machen. Er mus sei man äußerst dankbar, dass die DZT sei jedoch sicher, dass die investiven Maß- präsent sei und darüber hinaus touristische nahmen und das Programm zu einer konzep- Unternehmen eingebunden seien und ihr tionellen Einheit geführt werden könnten Know-how einbrächten. und die Beteiligung der Länder dabei einen Zur Frage nach der Länderzusammenar- angemessenen Rang einnehmen werde. Am beit teilt Dr. Rhein mit, die Gremienstruktur Beginn aller Planungen sei mit 100 Millionen sei so angelegt, dass eine Kooperation nicht Euro Gesamtkosten kalkuliert worden. Vom nur zwischen Staat und Kirche, sondern auch Bund habe man damals 39 Millionen Euro innerhalb der staatlichen Institutionen funk- erwartet. Jetzt würden Stimmen laut, die ein tioniere. Im Jahr 2008 sei die Luther-Dekade noch stärkeres finanzielles Engagement des mehr oder weniger als mitteldeutsche Ni- Bundes forderten, da man ansonsten die Pla- schenveranstaltung angelaufen, doch habe nung nicht adäquat umsetzen könne. In die- sich innerhalb der vergangenen zwei Jahre sem Zusammenhang müsse er in aller ge- eine solche Dynamik entwickelt, dass An- botenen Deutlichkeit sagen, dass auch die fragen von verschiedenen Länderseiten ganz Zivilgesellschaft in der Pflicht sei und ihren von alleine kämen. Die Gremienstruktur sei Anteil zur Finanzierung der Luther-Dekade ausreichend offen, die heute angemahnte und des Reformationsjubiläums zu tragen Länderkooperation umzusetzen. Dass der habe, zumal Kirchensteuern zur Verfügung Staatsminister erklärt habe, koordinierend stünden. Es gebe den Willen, das Projekt ge- dabei zu sein, sei dabei hilfreich. Gleichwohl meinsam zu schultern, und er sei optimis- sei wichtig, die staatliche Geschäftsstelle so tisch, dass dies auch gelingen werde. zu ertüchtigen, dass sie den Erwartungen Auf die Frage des Abg. Ehrmann nach und Wünschen entsprechen könne. dem Engagement des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ein- Prälat Stephan Dorgerloh (Leiter der Ge- gehend, teilt der Staatsminister mit, das Res- schäftsstelle der Evangelischen Kirche sort sei lediglich mittelbar über sein Pro- in Deutschland, Wittenberg) wirft ein, es gramm zum Erhalt und zur Sanierung der sei zwar grundsätzlich erfreulich, in einer Stätten des Weltkulturerbes in Deutschland schwierigen Etatzeit einen Haushaltstitel involviert. Luther-Dekade zu haben. Gleichwohl werde Zur Verbindung zwischen Reformations- in der Mitte der Luther-Dekade zu hinterfra- jubiläum und Tourismus merkt der Staats- gen sein, wie weit man mit 5 Millionen Euro minister an, es sei naheliegend, dass die jährlich komme, um für die Schlussetappe Vertreter der Kirche das Projekt anders be- entsprechend ausgestattet zu sein. trachteten als die staatliche Seite, die auch ein Interesse an der ökonomischen Nutzung Staatsminister Bernd Neumann (BKM) habe. Insofern finde er sowohl die Mischung geht auf Appelle an eine ordnenden Hand richtig als auch, dass sich der Staat trotz al- ein und betont, dass es sich primär um kei- len Engagements zurückhalte und die Lei- ne staatliche Veranstaltung handele, son- tung der Evangelischen Kirche anvertraue. dern um eine der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der Staat habe eine Pflicht zur Die Vorsitzende dankt abschließend allen Neutralität. Bei Organisation und Koordi- Gästen und dem BKM und wertet das Ge- nation, räumt der Staatsminister ein, könne spräch als positiven ersten Auftakt. Sicher Anhang 169

werde der Ausschuss sich im Verlauf der De- kade noch mehrfach mit dem Reformations- jubiläum beschäftigen.

Schluss der Sitzung: 18.25 Uhr

Monika Grütters, MdB, Vorsitzende 170 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang Antrag der CDU/CSU-, der SPD-, der FDP-Bundestagsfraktion und der Bundes­ tagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen

Deutscher Bundestag, Drucksache 17/6465 — 06.07.2011

Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), , Marco Wanderwitz, , Dorothee Bär, Reinhard Grindel, Monika Grütters, Stefan Müller (Erlangen), Christoph Poland, , (Heilbronn), Dagmar Wöhrl, Hermann Gröhe, Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Helmut Brandt, Heike Brehmer, Ingrid Fischbach, Ingo Gädechens, Ernst Hinsken, Christian Hirte, Jürgen Klimke, Ingbert Liebing, Hans-Georg von der Marwitz, Rita Pawelski, Anita Schäfer (Saalstadt), Carola Stauche, Antje Tillmann, Volker Kauder, und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Sören Bartol, Martin Dörmann, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Günter Gloser, Kerstin Griese, , Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, , Petra Merkel (Berlin), Thomas Oppermann, (Aachen), Peer Steinbrück, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, , Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt, Jens Ackermann, Helga Daub, Heinz Golombeck, Lars Lindemann, Burkhardt Müller-Sönksen, Gabriele Molitor, Dr. , Dr. Claudia Winterstein, Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Josef Philip Winkler, Katrin Göring- Eckardt, Ekin Deligöz, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Reformationsjubiläum im Jahre ferung nach an die Wittenberger Schlosskir- 2017 – Ein Ereignis von Weltrang che angeschlagen haben soll, ihre konfes- sionellen und wichtigen geistigen Wurzeln. Der Bundestag wolle beschließen: Bei dem Reformationsjubiläum im Jahr 2017 handelt es sich um ein kirchliches und kul- I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: turgeschichtliches Ereignis von Weltrang. Der Thesenanschlag durch Martin Luther In den Jahren der Lutherdekade von 2008 am 31. Oktober 1517 gilt als Auslöser für die bis 2017 wird das weite Themenspektrum der Reformation. Sie hat in den vergangenen Reformation in Themenjahren aufgenom- 500 Jahren nicht nur in unserem Land, son- men und von entsprechenden kirchlichen, dern europaweit und weltweit eine prägende kulturellen und touristischen Veranstaltun- Wirkung auf Gesellschaft und Politik gehabt. gen begleitet. So wird mit den verschiedenen Über 400 Millionen Protestanten sehen in Themenjahren an historische Gedenkjahre den Thesen, die Martin Luther der Überlie- angeknüpft und werden Impulse der Refor- Anhang 171

mation, die bis in unsere heutige Zeit reichen, Verwurzelung sowie die Beiträge des christ- etwa in Ausstellungen, Konzerten, Kongres- lichen Glaubens und der Kirche zur sozia- sen, Schulen und Weiterbildungseinrichtun- len Verantwortung, zur Ausbildung moderner gen, aufgegriffen. Im Jahr 2011 begehen wir Grundrechte und den Grundlagen der Demo- beispielsweise das Themenjahr Reformati- kratie zu diskutieren. Die Lutherdekade und on und Freiheit, und das Jahr 2012 widmet das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 sind sich dem Thema Reformation und Musik. nicht nur als religiöse und geistesgeschicht- Anlässlich des 500. Geburtstages von Lucas liche Ereignisse von globaler Dimension zu Cranach dem Jüngeren ist das Jahr 2015 dem verstehen, es sind auch zivilgesellschaftli- Thema Bild und Bibel gewidmet. che und wirtschaftliche Auswirkungen in das Der Deutsche Bundestag hat sich zu die- Blickfeld zu rücken. Dadurch ergeben sich sem kirchlichen, kulturellen und touristi- auch positive touristische sowie ökonomi- schen Ereignis von Weltrang bereits in der sche Synergieeffekte und gleichermaßen 16. Legislaturperiode mit Beschluss des An- die Chance zur notwendigen theologischen trags »Reformationsjubiläum 2017 als welt- und wissenschaftlichen Reflektion sowie zur historisches Ereignis würdigen« (Bundes- stärkeren Förderung des Dialogs zwischen tagsdrucksache 16/9830) vom 18. Juni 2009 Kirche, Gesellschaft und Politik. Auch im bekannt und mit breiter Zustimmung folgen- internationalen Tourismusgeschäft sollte de Feststellung zur Würdigung des Jubiläums der Lutherdekade und dem Reformations- getroffen: »Die Reformation als ein zentrales jubiläum 2017 bei der Werbung für das Rei- Ereignis in der Geschichte des christlich ge- seland Deutschland besondere Bedeutung prägten Europas hat die Entwicklung eines hinsichtlich seiner touristischen und wirt- Menschenbildes gefördert, das von einem schaftlichen Wirkung beigemessen werden. neuen christlichen Freiheitsbegriff maßgeb- Das betrifft ebenfalls eine verstärkte Bewer- lich beeinflusst wurde. Sie war wichtig für die bung innerhalb des nationalen touristischen Ausbildung von Eigenverantwortlichkeit und Marktes. die Gewissensentscheidung des Einzelnen. Die Lutherdekade und das Reformations- Damit konnten sich die Aufklärung, die Her- jubiläum 2017 werden nicht nur ein nationa- ausbildung der Menschenrechte und die De- les, sondern europäisches und internationa- mokratie entwickeln. Durch die Reformation les Ereignis sein, bei dem Deutschland his- wird bis heute das religiöse Leben und die torischer Ursprungsort der Reformation ist. kulturelle Entwicklung in Musik, Kunst und Deutschland steht dabei im Mittelpunkt der Literatur entscheidend mitgeprägt. Die Über- internationalen Vernetzung. Diese Entwick- setzung der Bibel durch Martin Luther ins lung wird deutlich in der Entscheidung der Deutsche war zum Beispiel für die Entwick- Kultusministerkonferenz, das Thema »Stät- lung und Verbreitung der deutschen Sprache ten der Reformation« in Deutschland für das von wesentlicher Bedeutung.« Europäische Kulturerbesiegel zu beantragen. Deutschland hat mit dem Reformations- Stätten der Reformation unterstützen das jubiläum 2017 und der laufenden Luther- Ziel des Kulturerbesiegels, die gemeinsame dekade die Möglichkeit, die historische Be- europäische Identität der Bürger Europas zu deutung der Reformation als gesellschaftli- stärken und ihr Zugehörigkeitsgefühl zu ei- ches, kulturelles und religiöses Ereignis für nem gemeinsamen Kulturraum zu fördern. Deutschland, Europa und die Welt in beson- Die Lutherdekade und das Reformationsju- derer Form zu würdigen und die christliche biläum 2017 sind nationale kulturpolitische 172 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Ereignisse von zugleich europäischer und menschlichen Geschichte repräsentieren weltweiter Bedeutung. Unter diesem Aspekt und als authentische Schauplätze der Refor- ist eine Zusammenarbeit mit international mation von außergewöhnlicher universeller agierenden Institutionen, wie zum Beispiel Bedeutung sind. Neben diesen Lutherstät- dem Goethe-Institut, anzustreben. Auch die ten existieren viele weitere Orte wie Augs- Anregung für einen internationalen Kongress burg, Coburg, Eisenach, Erfurt, Leipzig, Halle, zur Bedeutung Martin Luthers für die deut- Magdeburg, Zwickau, Mansfeld-Lutherstadt, sche Sprache und ihre Zukunft, unter Ein- Marburg, Möhra, Nürnberg, Schmalkalden, bindung der entsprechenden Institutionen, Torgau und Worms sowie Kirchenbauten, wird geprüft. Die Reformation war Ausgangs- die kulturgeschichtlich mit der Reformati- punkt für die Bibelübersetzungen, die Durch- on in Verbindung stehen. Neben Martin Lu- führung der Gottesdienste in den nationalen ther selbst ist auch das Wirken seiner Weg- Sprachen und stellt damit eine Zäsur bei der gefährtinnen und Weggefährten und Schüle- Herausbildung verschiedener europäischer rinnen und Schüler, wie z. B. Georg Spalatin, Sprachen dar. Katharina von Bora, Lucas Cranach dem Äl- Die Dekade soll Ausgangspunkt für einen teren, Martin Bucer, Johannes Bugenhagen, deutschlandweiten, interreligiösen Dialog Johannes Brenz, Philipp Melanchthon, Justus sein sowie für eine Vertiefung ökumenischer Jonas und Caspar Cruciger dem Älteren, zu Kontakte genutzt werden. Das Projekt des würdigen, die ihn unterstützten, seine Leh- Luthergartens des Lutherischen Weltbundes re verbreiteten und zur Institutionalisierung in Kooperation mit der Lutherstadt Witten- des evangelischen Kirchenwesens beigetra- berg, bei dem von unterschiedlichen Kon- gen haben. fessionen 500 Bäume bis 2017 in Deutsch- Der Deutsche Bundestag und die Bundes- land und der Welt gepflanzt werden, ist ein regierung sind bereit, gemeinsam mit den Beispiel dafür. Ländern einen eigenen Beitrag zu Pflege und Die rechtzeitige Sanierung, Herrichtung Erhalt reformationsgeschichtlicher Gedenk- und Vorbereitung der authentischen Orte stätten zu leisten. Der Bund hat sich daher sind Basis für eine inhaltliche Vermittlung, schon frühzeitig engagiert und zusammen damit gewährleistet werden kann, dass die mit der Evangelischen Kirche in Deutsch- erwarteten Besucher auch tatsächlich die au- land (EKD), der Vereinigten Evangelisch-Lu- thentischen Orte wahrnehmen und besichti- therischen Kirche Deutschlands, der Union gen können. Damit können die Erinnerungs- Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK), den orte auch nachhaltig über die Lutherdekade verschiedenen Landeskirchen, den Landes- und das Reformationsjubiläum 2017 hinaus regierungen von Sachsen-Anhalt, Thüringen als bedeutungsvolle Orte der Zukunft von und Sachsen sowie den Lutherstädten eine Kirche und der Kirche in der Welt erhalten gemeinsame organisatorische Struktur zur bleiben. Planung der Lutherdekade und des Reforma- Zentrale Lutherstätten wie die Schlosskir- tionsjubiläums geschaffen. Die Organisati- che in Wittenberg, die Luthergedenkstätten on des Reformationsjubiläums 2017 und der in den Lutherstädten Eisleben und Witten- Lutherdekade erfolgt in enger Zusammenar- berg sowie die Wartburg bei Eisenach wur- beit der dafür eingerichteten Gremien, dem den zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Sie Kuratorium, dem wissenschaftlichen Beirat wurden unter besonderen Schutz gestellt, und dem Lenkungsausschuss. Dabei soll mit da sie einen bedeutsamen Abschnitt in der einem bundesweit abgestimmten Programm Anhang 173

die religiöse, kulturelle und historische Be- 2. die gemeinsame Entscheidung der Bun- deutung der Reformation in all ihren Facet- desregierung und des Parlaments, für die ten aufgegriffen werden. Den beiden im Zen- Vorbereitung des Reformationsjubiläums trum des Jubiläums stehenden Stiftungen, 2017 ab dem Jahr 2011 entsprechend der mit- die vom Bund mitgefördert werden, der »Stif- telfristigen Finanzplanung jährlich 5 Mio. tung Luthergedenkstätten« und der »Wart- Euro im Bundeshaushalt, die im Kapitel 04 burg-Stiftung Eisenach«, sowie den Staatli- 05 des Beauftragten für Kultur und Medien chen Kunstsammlungen Dresden, die vom verankert sind, zur Verfügung stellen zu wol- Land Sachsen gefördert werden, kommt in len. Die Mittel sind schwerpunktmäßig für den Kernländern der Reformation – Sach- die Koordination, Durchführung und Bewer- sen-Anhalt, Thüringen und Sachsen – dabei bung ausgewählter Kulturprojekte von na- besondere Bedeutung zu. tionaler und internationaler Bedeutung aus Die staatliche Geschäftsstelle »Luther Anlass des Reformationsjubiläums zu ver- 2017« in Wittenberg ist, zusammen mit den wenden. Dazu können auch Veranstaltungen, entsprechenden Einrichtungen der EKD, den Ausstellungen, Konferenzen und sonstige Landeskirchen und den Bundesländern, ein Projekte gehören. Daneben kann aber auch bundesweit zentraler Akteur bei der Koordi- zur Sanierung und Modernisierung der mit nierung und Vernetzung der Partner für die Martin Luther zusammenhängenden Objekte Lutherdekade und das Reformationsjubilä- und Gedenkstätten mit beigetragen werden; um 2017, bei der Durchführung der als Dach- markenkampagne angelegten Kommunikati- 3. die Möglichkeit, Städtebau- und Denkmal- onsstrategie sowie bei der Vorbereitung und schutz aus dem Einzelplan 12, Titel 882 11, Ausrichtung von Veranstaltungsformaten für kulturhistorisch bedeutsame Sakralbau- und der Gremienbegleitung für die Luther- ten auch in der Lutherdekade zu verwenden; dekade und das Reformationsjubiläum 2017. Neben den genannten staatlichen und 4. das Bekenntnis des Bundes zu seiner Mit- kirchlichen Akteuren ist es von besonderer verantwortung, die reformationsgeschicht- Bedeutung, verstärkt die Zivilgesellschaft lichen Gedenkstätten, insbesondere die von einzubeziehen. der Stiftung Luthergedenkstätten und der Wartburg-Stiftung getragenen UNESCO- II. Der Deutsche Bundestag begrüßt Welterbestätten, zu erhalten; 1. die Bereitschaft der Bundesregierung, sich aufgrund der über die religiöse Bedeutung 5. den Auftrag an den Beauftragten der Bun- hinausgehenden besonderen politischen, desregierung für Kultur und Medien, mit so- kulturellen und gesellschaftlichen, aber auch fortiger Wirkung die Maßnahmen der Bun- wirtschaftlichen und touristischen Bedeu- desregierung zur Vorbereitung und Durch- tung des Reformationsjubiläums im natio- führung des Reformationsjubiläums 2017 zu nalen und internationalen Kontext an der koordinieren. Unter seiner Federführung sol- Förderung von Veranstaltungen und Maß- len weitere Ressorts, besonders das Auswär- nahmen innerhalb der Lutherdekade und tige Amt, das Bundesministerium des Innern während des eigentlichen Jubiläumsjahres sowie das Bundesministerium für Verkehr, 2017 in enger Abstimmung mit den Ländern Bau und Stadtentwicklung bei der Ausgestal- und Kommunen mit Stätten der Reformati- tung mitwirken und Beiträge in eigener fi- on zu beteiligen; nanzieller Verantwortung erbringen; 174 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

6. das sehr früh begonnene Engagement der und die Deutsche Welle zu ermuntern, im Kirchen für das 500. Jahr der Reformation; Rahmen ihres Zwecks »Deutschland als eu- ropäisch gewachsene Kulturnation« bekannt 7. das Engagement der Deutschen Welle, die zu machen sowie das »Verständnis und den Lutherdekade im Programm zu verankern Austausch der Kulturen und Völker zu för- und damit dafür zu werben; dern«, in geeigneter Weise auf die Luther- dekade und das Reformationsjubiläum auf- 8. die frühzeitige Aufnahme des Reformati- merksam zu machen; onsjubiläums 2017 in die weltweite Vermark- tung des Tourismusstandortes Deutschland 4. anzuregen, dass auch vom Bund finanzier- durch die Deutsche Zentrale für Tourismus te Institutionen wie z. B. die Kulturstiftung e.V. (DZT); des Bundes, das Deutsche Historische Mu- seum oder die Klassik Stiftung Weimar das 9. und teilt die Auffassung von­Kuratorium Reformationsjubiläum im Rahmen ihrer Bud- und Lenkungsausschuss, alle relevanten gets bei ihren Programmplanungen mit be- Partner, Organisationen und Bürger mit ein- rücksichtigen; zubeziehen. 5. die bedeutenden historischen Orte der Re- III. Der Deutsche Bundestag fordert formation bei bestehenden Förderprogram- die Bundesregierung auf, men des Bundes im Bereich des Denkmal- 1. sich bei der konzeptionellen Ausgestaltung schutzes zu berücksichtigen; der Lutherdekade und des eigentlichen Jubi- läumsjahres mit den übrigen Beteiligten in 6. sich auch auf europäischer Ebene dafür den Ländern, den betroffenen Städten, Stif- einzusetzen, dass die Lutherdekade und das tungen, Institutionen und Initiativen im Ku- Reformationsjubiläum in den entsprechen- ratorium zur Vorbereitung des Reformati- den Programmen der Europäischen Kom- onsjubiläums entsprechend ihrer Zuständig- mission stärker verankert und berücksichtigt keit weiterhin aktiv zu beteiligen sowie durch werden, sowie den Antrag der Kultusminis- Mitwirkung an einer intensiven Netzwerkbil- terkonferenz, das Thema »Stätten der Refor- dung eine Zersplitterung des Engagements mation« für die Bundesrepublik Deutschland der Länder, Kommunen, Kirchen und Verbän- für das Europäische Kulturerbesiegel anzu- de zu vermeiden; melden, entsprechend zu unterstützen;

2. dafür Sorge zu tragen, dass das Auswärti- 7. darauf hinzuwirken, auch das touristi- ge Amt über die Kulturabteilungen der deut- sche Potenzial der Lutherdekade und des schen Auslandsvertretungen und mit seinen Reformationsjubiläums 2017 auszubauen, Partnern, beispielsweise durch eine Wander- um durch die Präsentation religiöser, aber ausstellung, die Lutherdekade und das Refor- auch kultureller und landschaftlicher Aspek- mationsjubiläum im Rahmen der zur Verfü- te weitere Zielgruppen zu gewinnen. Dabei gung stehenden eigenen Haushaltsmittel in sollten zudem alle Kompetenzen, auch von seine Arbeit einbezieht; Wirtschafts- und Tourismusverbänden sowie von einzelnen Unternehmen, in die Vorberei- 3. Mittlerorganisationen deutscher Kultur- tungen mit einbezogen werden; politik, insbesondere die Goethe-Institute Anhang 175

8. darauf hinzuwirken, dass bei der Erstel- Rainer Brüderle lung von Infomaterialien, Broschüren und und Fraktion Programmheften sowie bei Veranstaltungen anlässlich der Lutherdekade und des Refor- Renate Künast, Jürgen Trittin mationsjubiläums 2017 das Ziel der Umwelt- und Fraktion verträglichkeit und Klimafreundlichkeit be- rücksichtigt wird;

9. in der Umsetzung der Maßnahmen zur Lutherdekade und zum Reformationsjubi- läum 2017 auf den Aspekt der Barrierearmut zu achten;

10. sich im Rahmen der im Haushalt des Be- auftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Reformationsjubiläum zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel dafür einzusetzen, dass die staatliche Ge- schäftsstelle »Luther 2017« personell und finanziell mit ausreichenden Kapazitäten in die Lage versetzt wird, den Ansprüchen an ein Jubiläum von Weltrang mit europäi- scher und internationaler Außenwirkung ge- recht zu werden;

11. darauf hinzuwirken, dass auch die übri- gen gesellschaftlichen, politischen und wirt- schaftlichen Akteure wie Kirchen, Kommu- nen, Länder, Hotel- und Gaststättengewerbe, Tourismusorganisationen etc. sich um eine Konzentration ihrer Mittel im Rahmen der Lutherdekade bemühen;

12. dem Bundestag regelmäßig über den Vor- bereitungsstand und die Projekte zum Refor- mationsjubiläum 2017 zu berichten.

Berlin, den 6. Juli 2011

Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und Fraktion

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion 176 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)

Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7219 — 29.09.2011 zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, bekräftigen die Bereitschaft des Deutschen Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Arnold Vaatz, weiterer Bundestages, sich an der Förderung von Ver- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU anstaltungen und Maßnahmen im Rahmen sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Sören der Lutherdekade sowie während des eigent- Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und lichen Jubiläumsjahres zu beteiligen. der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), B. Lösung Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt, weiterer Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich Abgeordneter und der Fraktion der FDP weiterhin aktiv in die konzeptionelle Gestal- sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Josef Philip tung von Lutherdekade und Reformations- Winkler, Katrin Göring- Eckardt, weiterer Abgeordneter jubiläum einzubringen sowie die Netzwerk- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bildung zwischen Ländern, Städten, Kirchen – Drucksache 17/6465 – und Verbänden zu fördern. Dabei wird die besondere Rolle des Beauftragten der Bun- desregierung für Kultur und Medien betont. Das Reformationsjubiläum im Jahre Das Auswärtige Amt soll seine Kulturabtei- 2017 – Ein Ereignis von Weltrang lungen in den deutschen Auslandsvertretun- gen sowie die Mittlerorganisationen der Aus- A. Problem wärtigen Kulturpolitik nutzen, um Deutsch- Beim Reformationsjubiläum im Jahr 2017 land im Zusammenhang mit Lutherdekade handelt es sich um ein kirchliches und kul- und Reformationsjubiläum als europäisch turgeschichtliches Ereignis von Weltrang. gewachsene Kulturnation bekannt und in ge- Das Reformationsjubiläum und die voran- eigneter Weise auf die Ereignisse aufmerk- gehende Lutherdekade (2008 bis 2017) sind sam zu machen. Beiträge sollen auch vom daher nicht nur als nationale Ereignisse, Bund finanzierte Institutionen wie die Kul- sondern in ihrer europäischen und weltwei- turstiftung des Bundes oder das Deutsche ten Dimension zu betrachten. Die Fraktio- Historische Museum leisten. Weitere Forde- nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ rungen sind unter anderem darauf gerich- DIE GRÜNEN knüpfen mit ihrem gemeinsa- tet, die bedeutenden historischen Stätten der men Antrag an einen Beschluss des Deut- Reformation im Rahmen der Förderung des schen Bundestages vom 18. Juni 2009 an und Denkmalschutzes zu berücksichtigen und Anhang 177

darauf hinzuwirken, dass das touristische II. Wesentlicher Inhalt der Vorlage Potenzial der Ereignisse ausgeschöpft wird. Beim Reformationsjubiläum im Jahr 2017 handelt es sich um ein kirchliches und kul- Einstimmige Annahme des Antrags. turgeschichtliches Ereignis von Weltrang. Das Reformationsjubiläum und die voran- C. Alternativen gehende Lutherdekade (2008 bis 2017) sind Keine. daher nicht nur als nationale Ereignisse, son- dern in ihrer europäischen und weltweiten D. Kosten Dimension zu betrachten. Die Fraktionen Kosten wurden im Ausschuss nicht erörtert. CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN knüpfen mit ihrem gemeinsamen Beschlussempfehlung Antrag an einen Beschluss des Deutschen Der Bundestag wolle beschließen, Bundestages vom 18. Juni 2009 an, bekräfti- den Antrag auf Drucksache 17/6465 gen die Bereitschaft des Deutschen Bundes- anzunehmen. tages, sich an der Förderung von Veranstal- tungen und Maßnahmen im Rahmen der Lu- Berlin, den 26. September 2011 therdekade sowie während des eigentlichen Jubiläumsjahres zu beteiligen und verweisen Der Ausschuss für Kultur und Medien auf die bereits in den Haushalt eingestellten Monika Grütters, Vorsitzende Fördermittel. Michael Kretschmer, Berichterstatter Die Bundesregierung soll aufgefordert Siegmund Ehrmann, Berichterstatter werden, sich weiterhin aktiv in die konzepti- Patrick Kurth (Kyffhäuser), Berichterstatter onelle Gestaltung von Lutherdekade und Re- Dr. , Berichterstatterin formationsjubiläum einzubringen sowie die Agnes Krumwiede, Berichterstatterin Netzwerkbildung zwischen Ländern, Städ- ten, Kirchen und Verbänden zu fördern. Da- Bericht der Abgeordneten Michael bei wird auf die besondere Rolle des Beauf- Kretschmer, Siegmund Ehrmann, tragten der Bundesregierung für Kultur und Patrick Kurth (Kyffhäuser), Dr. Rose­ Medien verwiesen. marie Hein und Agnes Krumwiede Das Auswärtige Amt soll seine Kulturab- teilungen der deutschen Auslandsvertretun- I. Überweisung gen sowie die Mittlerorganisationen der Aus- Der Deutsche Bundestag hat den Antrag auf wärtigen Kulturpolitik nutzen, um Deutsch- Drucksache 17/6465 in seiner 120. Sitzung am land im Zusammenhang mit Lutherdekade 7. Juli 2011 zur federführenden Beratung an und Reformationsjubiläum als europäisch den Ausschuss für Kultur und Medien über- gewachsene Kulturnation bekannt und in ge- wiesen sowie zur Mitberatung an den Aus- eigneter Weise auf die Ereignisse aufmerk- wärtigen Ausschuss, den Innenausschuss, sam zu machen. Beiträge sollen auch vom den Haushaltsausschuss, den Ausschuss für Bund finanzierte Institutionen wie die Kul- Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss turstiftung des Bundes oder das Deutsche für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Historische Museum leisten. Weitere Forde- Ausschuss für Tourismus sowie den Aus- rungen sind unter anderem darauf gerich- schuss für die Angelegenheiten der Europä- tet, die bedeutenden historischen Stätten der ischen Union. Reformation im Rahmen der Förderung des 178 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Denkmalschutzes zu berücksichtigen und darauf hinzuwirken, dass das touristische Potenzial der Ereignisse ausgeschöpft wird.

III. Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse Der Auswärtige Ausschuss, der Innenaus- schuss, der Haushaltsausschuss, der Aus- schuss für Wirtschaft und Technologie, der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent- wicklung, der Ausschuss für Tourismus so- wie der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union haben in ihren je- weiligen Sitzungen am 21. September 2011 einvernehmlich die Annahme des Antrags empfohlen.

IV. Beratungsverlauf und Beratungser- gebnisse im federführenden Ausschuss Der Ausschuss für Kultur und Medien hat den Antrag in seiner Sitzung am 21. September 2011 abschließend beraten und einvernehm- lich dessen Annahme empfohlen.

Berlin, den 26. September 2011

Michael Kretschmer, Berichterstatter Siegmund Ehrmann, Berichterstatter Patrick Kurth (Kyffhäuser), Berichterstatter Dr. Rosemarie Hein, Berichterstatterin Agnes Krumwiede, Berichterstatterin Anhang 179

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang Auszug aus dem Plenarprotokoll vom 20. Oktober 2011

Deutscher Bundestag, Drucksache 17/133, 15720 A bis 15728 C — 20.10.2011

Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Vizepräsidentin : Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, net. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Sören des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, der Fraktion der SPD Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Arnold Vaatz, weiterer sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt, weiterer sowie der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Sören Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Josef Philip der Fraktion der SPD Winkler, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – sowie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Josef Philip Ein Ereignis von Weltrang Winkler, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksachen 17/6465, 17/7219) 15720 A Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Dr. Reiner Haseloff, Ein Ereignis von Weltrang Ministerpräsident (Sachsen-Anhalt) 15720 B – Drucksachen 17/6465, 17/7219 – Siegmund Ehrmann (SPD) 15721 D Cornelia Pieper, Staatsministerin AA 15722 D Berichterstattung: Abgeordnete Michael Kretschmer Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) 15723 C Siegmund Ehrmann, Patrick Kurth (Kyffhäuser) Agnes Krumwiede Dr. Rosemarie Hein, Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 15724 C Wolfgang Börnsen (Bönstrup)(CDU/CSU) 15725 D Nach einer interfraktionellen Vereinbarung Iris Gleicke (SPD) 15726 D ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) 15727 D vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Michael Kretschmer (CDU/CSU) 15728 C Dann ist so beschlossen. 180 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Schloss- und Marktkirche, Augusteum, Lu- Ministerpräsident des Bundeslandes Sach- therhalle und die alte Universität Leucorea. sen-Anhalt, Reiner Haseloff. Erste Anregungen, das Reformationsjubilä- um des Jahres 2017 und die Jahre bis dorthin (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in einer Lutherdekade gemeinsam zu bege- hen, sind deshalb bereits im Jahre 2008 von Dr. Reiner Haseloff, Sachsen-Anhalt ausgegangen. Sie wurden Ministerpräsident (Sachsen-Anhalt): noch durch meinen Amtsvorgänger Profes- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte sor Böhmer an die Evangelische Kirche in Mitglieder des Bundestages! Ich bin dank- Deutschland und an den Bund herangetra- bar, heute vor Ihnen als Ministerpräsident gen und dort positiv aufgenommen. Daraus des Landes Sachsen-Anhalt und Mitglied im ist das schon erwähnte Kuratorium mit sei- Kuratorium zur Vorbereitung des Reformati- nen inzwischen weitverzweigten Arbeits- onsjubiläums sprechen zu dürfen. Ich tue das strukturen entstanden. auch im Namen meiner Kollegin aus Thürin- Gemeinsam, das heißt für uns im Be- gen, Frau Ministerpräsidentin Lieberknecht, wusstsein der Unterschiede zwischen Kir- che und Staat mit Blick auf ein Ereignis, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ja unzweifelhaft zunächst einmal kirchlicher Natur ist, aber eben zugleich in enger freund- und meines sächsischen Kollegen, Herrn Mi- schaftlicher Zusammenarbeit, weil die Be- nisterpräsidenten Tillich. züge dieses Ereignisses ebenso unzweifel- haft tief hineinwirkten und hineinwirken in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Staat und die Gesellschaft. Ich begrüße es deshalb, dass es in den Kirchen konkrete Es gibt viele Städte in Mitteldeutschland, mit Überlegungen gibt, im Jahr des Reformati- denen der Reformator eng verbunden war. onsjubiläums zu einem Kirchentag nach Ber- Erfurt war die Stadt des jungen Luther. Auf lin und Wittenberg einzuladen. der Wartburg in Eisenach fand er Zuflucht. Seine Frau stammte aus Sachsen. Ihr Gelüb- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) de als Nonne legte sie im Kloster Nimbschen ab. Torgau war ihr Sterbeort. Das eigentliche Dem Reformator wichtige Fragen der Welt- Lutherland ist jedoch das heutige Sachsen- verantwortung des Glaubens können so ganz Anhalt mit Mansfeld, bewusst vor dem Hintergrund einer inzwi- schen ausgeprägten Säkularisation an den (Harald Koch [DIE LINKE]: Stätten der Reformation diskutiert und auf Das ist mein Wahlkreis!) ihre Relevanz für uns im Hier und Heute hin reflektiert werden. dem Heimatort der Eltern und der befreun- Das unterscheidet unsere Herangehens- deten Fürstenfamilie, mit Eisleben, dem Ort weise im Übrigen fundamental von der Her- der Geburt und des Todes, und natürlich mit angehensweise bei den staatlicherseits sehr Wittenberg, dem wichtigsten Wirkungsort verschämt gestalteten Feiern zum 500. Ge- Luthers. Die Lutherstadt Wittenberg ist der burtstag Luthers im Jahre 1983 in Witten- zentrale Gedenkort der Reformation und die berg, die ich noch in persönlicher Erinnerung Stadt mit den bedeutendsten Lutherstätten: habe. »Gemeinsam« heißt für uns also auch: Anhang 181

im Zusammenwirken von Bund, Ländern und torischen Lutherstätten zugutekommt. Dafür Kommunen, ergänzt durch ein Engagement danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr Staats- der Zivilgesellschaft, soweit sie sich in ihrer minister Neumann. geistigen und kulturellen Prägung auf Impul- Das Auswärtige Amt und das Innenminis- se Martin Luthers bezieht. Als Wittenberger terium sind im Rahmen ihrer Zuständigkei- füge ich beim Stichwort »gemeinsam« hin- ten hilfreich. Daneben helfen uns das Bau- zu: Ich wünsche mir, dass dieses Jubiläum und das Wirtschaftsministerium mit Blick eine spirituelle Kraft auch über konfessio- auf bauliche und touristische Vorhaben. Na- nelle Grenzen hinweg entfaltet. türlich wünsche ich mir, dass diese Unter- stützung fortgeführt werden kann. Wahr- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und nehmung und Bewertung des Reformati- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) onsjubiläums hängen entscheidend von der touristischen Infrastruktur, einem guten Ver- Vor diesem Hintergrund bin ich für die Unter- anstaltungsangebot, interessanten Projek- stützung des Deutschen Bundestages dank- ten und vom baulichen Zustand kultureller bar. Mit einem ersten Beschluss am 18. Juni Leuchttürme wie den Lutherstätten ab. 2009 und der Beschlussempfehlung, die Ih- All das sind wichtige Voraussetzungen für nen heute zur Entscheidung vorliegt, bekräf- den Erfolg des Jubiläums. Hier steht der Bund tigen Sie nachdrücklich die Bereitschaft des aus meiner Sicht in einer besonderen Pflicht; Bundes, sich aktiv konzeptionell, fördernd diese Pflicht hat er erkannt. und gestaltend an der Lutherdekade und am Reformationsjubiläum zu beteiligen. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Besonders dankbar bin ich, dass die vor- Das tut er auch gern!) liegende Beschlussempfehlung fraktions- übergreifend von den Abgeordneten der Der Kulturstaatsminister hat sein Programm CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses bereits in die mittelfristige Finanzplanung 90/Die Grünen und ebenso einvernehmlich einbezogen. Dankbar bin ich für Überlegun- vom federführenden Ausschuss für Kultur gen, eine ergänzende Unterstützung der und Medien wie von allen mitberatenden großen Baumaßnahmen an Orten, die zum Ausschüssen getragen wird. Damit unter- Weltkulturerbe gehören, aus dem Etat des streichen Sie den übergreifenden Charak- Bauministeriums zu prüfen. Für die betrof- ter des Ereignisses und seine Bedeutung für fenen Länder wäre dies eine große Erleich- Politik und Gesellschaft, Bildung und Kultur, terung. Die heutige Beschlussempfehlung Wirtschaft und Tourismus, nationale Identi- schafft dafür eine gute Basis. tät und internationale Beziehungen. Dafür Dabei will ich betonen, dass sich bereits möchte ich Ihnen herzlich danken. sechs Länder für das Reformationsjubilä- Ich danke Ihnen auch dafür, dass die Un- um engagieren und auch Unterstützung des terstützung des Bundes bereits sehr konkret Bundes in Anspruch nehmen: Neben Sach- geworden ist. Der Beauftragte der Bundesre- sen-Anhalt, Thüringen und Sachsen arbei- gierung für Kultur und Medien hat mit Un- ten inzwischen Hessen, Bayern und Rhein- terstützung des Deutschen Bundestages im land-Pfalz in den entsprechenden Gremi- laufenden Jahr ein neues Förderprogramm en mit. Für Sachsen-Anhalt kann ich sagen, auf den Weg bringen können, das kulturellen dass wir uns in erheblichem Maße engagie- Projekten, aber auch der Herrichtung der his- ren: Sachsen-Anhalt wird die Jubiläumsvor- 182 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

bereitungen in den kommenden Jahren mit dent Haseloff gehört – schon recht frühzeitig bis zu 75 Millionen Euro aus Landesmitteln angepackt worden. Bereits im Jahre 2008 ist unterstützen. die sogenannte Lutherdekade feierlich eröff- net worden. Üblicherweise gestehen wir Ju- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD bilaren ein besonderes Jahr zu: Einsteinjahr und der FDP) 2005, Mozartjahr 2006 und das Schillerjahr 2009. Warum bekommt Martin Luther eine Wir sind für Mittel des Bundes und der Euro- ganze Dekade? päischen Union dankbar, die hier ergänzend So erfolgreich die eben genannten Her- wirken. Wir sind – wie die anderen genann- ren in ihren jeweiligen Bereichen auch ge- ten Länder – dringend darauf angewiesen. wirkt haben mögen – die Reformation revo- Sehr geehrte Damen und Herren, Deutsch- lutionierte nicht nur Theologie und Kirche. land bereitet sich auf das Reformationsjubi- Sie führte zu Umbrüchen weit darüber hi- läum 2017, ein Ereignis von Weltrang, vor. Der naus. Sie prägte ganze Gesellschaften und Antrag, der Ihnen heute zur Beschlussfas- stellt einen der wichtigsten Wendepunkte sung vorliegt, bringt kräftigen Rückenwind in der Geschichte des Abendlandes dar. Des- für das weitere Engagement des Bundes, aber halb gilt sie auch als Eckpunkt für den Be- auch der Länder. Ich danke allen, die daran ginn der Neuzeit. mitwirken. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns wei- Natürlich war die Reformation kein Ge- ter gemeinsam für den Erfolg dieses Jubilä- niestreich Einzelner, sondern sie stand in ums arbeiten. Im Jahr 2017 soll die Welt nur der Kontinuität reformerischer Ansätze des den besten Eindruck von einem geschichts- Spätmittelalters und konnte sich nur vollzie- bewussten, kulturgeprägten, weltoffenen hen, weil verschiedene Faktoren zusammen- und gastfreundlichen Deutschland gewinnen. wirkten. Das macht sie aber nicht weniger Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. bedeutsam. Im Gegenteil: Die Reformation hat der Aufklärung den Weg geebnet, und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP die prägt bis in die Gegenwart unsere Ge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sellschaft.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Der Kollege Siegmund Ehrmann hat für die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SPD-Fraktion das Wort. Ich will gerne etwas konkreter werden, weil (Beifall bei der SPD) ich es ausgesprochen hilfreich finde, dass die Organisatoren der Lutherdekade, insbe- Siegmund Ehrmann (SPD): sondere die Evangelische Kirche in Deutsch- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- land und ihre Gliedkirchen, die jeweiligen legen! »Wer etwas will anfangen, der mag es Jahre unter ein Leitthema gestellt haben. beizeiten tun« – so Martin Luther. Diesen 2011 stand unter der Überschrift »Reforma- Ratschlag befolgen wir, insbesondere die tion und Freiheit«. Luther hatte die theolo- Regierung, im politischen Handeln nicht gisch revolutionierende Überzeugung, dass immer, aber im Fall des Reformationsjubi- die Menschen durch ihren Glauben und in läums 2017 ist dies von den Akteuren – das der Nachfolge als theologisch religiöse Be- haben wir gerade von Herrn Ministerpräsi- gründung frei sind. Diese Freiheit können ih- Anhang 183

nen weder kirchliche noch staatliche Obrig- musste man sich langfristig auf ein Zusam- keiten nehmen. Der Mensch ist mündig und menleben der unterschiedlichen Konfessio- kann sich ohne Vermittlung einer Autorität nen, aber auch mit Menschen, die nicht »re- ein eigenes Urteil bilden. ligiös musikalisch« sind, einrichten. Die Re- formation hat insofern Europa genötigt, auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Basis von Toleranz und wechselseitigem der CDU/CSU, der FDP und Respekt Regeln für das Zusammenleben un- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) terschiedlicher Weltanschauungen zu ent- wickeln. Die religiös-kulturelle Differenzie- Das ist nicht verkehrt, nicht wahr? Im Ge- rung und Pluralisierung ist damit zu einem genteil: Da bekommt die Bibelübersetzung Wesensmerkmal, einer Signatur Europas ge- eine ganz wesentliche Bedeutung. Was frü- worden. her unter der Herrschaft des Klerus gestan- Dies alles stelle ich voran, weil es deutlich den hat, nämlich die Schulung der Fähigkeit, macht, wie wichtig es ist, sich mit diesem Teil sich ein eigenes Urteil, eine eigene Kenntnis unseres kulturellen Erbes auseinanderzuset- zu erarbeiten, wurde allen zugänglich. Lang- zen und deutlich zu machen, welche Präge- fristig entwickelten sich daraus die Ideen von kraft die Reformation in unsere Gesellschaft Freiheit und Gleichheit als eine wesentliche hineinbringt. Triebfeder der Reformation, die letztendlich Demokratie mitgestaltet hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, Das Jahr 2010 stand unter dem Motto »Re- der CDU/CSU, der FDP und formation und Bildung«. Auf die Bibelüber- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) setzung bin ich bereits eingegangen. Die Reformatoren setzten sich aktiv für die Ent- Es ist also wichtig – ich begrüße ausdrücklich wicklung des Schulwesens ein. Sie forder- die Ausführungen des Ministerpräsidenten –, ten, die Schulpflicht für alle Kinder, unab- dass viele Akteure zusammenwirken, um da- hängig von Stand und Geschlecht. Sie for- ran zu erinnern, was von der Reformation derten, dass die Städte ihrer Verantwortung ausgegangen ist und wo ihre Dimension in gerecht und als Schulträger tätig werden. Lu- Gegenwart und Zukunft liegt. Insofern unter- ther predigte den Eltern: Die Kinder müs- stützt dieser von den Fraktionen des Deut- sen lesen lernen. Die Folgen der reformato- schen Bundestages getragene Antrag genau rischen Bildungspolitik sind wissenschaftlich das Bemühen, diese Dimension herauszu- nachgewiesen. Am Ende des 19. Jahrhundert arbeiten. war die Alphabetisierungsquote in den pro- Ich möchte noch einen besonderen ­Aspekt testantisch geprägten Gegenden um 10 % hö- in Erinnerung rufen: Die europäische Dimen- her als in anderen Regionen. sion sollte dabei nicht zu kurz kommen. Wir Das Themenjahr 2013 trägt den Titel »Re- fordern konkret in diesem Antrag, dass der formation und Toleranz«. Es liegt auf der Aspekt des Reformationsjubiläums auch in Hand, dass durch die Reformation Toleranz die europäischen Programmplanungen auf- nicht einfach vom Himmel fiel. Die blutigen genommen wird. Was das Europäische Kul- Religionskriege in der Zeit danach sprechen turerbe-Siegel ausmacht, merkt man daran, Bände und haben viel Elend über die Men- dass zum Beispiel die Luthergedenkstätten schen gebracht. Nachdem jedoch die Re- als Stätten der Reformation mit diesem Sie- formation offensichtlich unumkehrbar war, gel ausgezeichnet worden sind. Das macht 184 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

deutlich, welche Strahlkraft von den soeben wird die Bundesregierung aus diesem An- näher geschilderten Lutherwelterbestätten lass zusammen mit der EKD, den Landeskir- ausgeht. chen und den Bundesländern die sogenannte Dachmarkenkampagne hier in Berlin feier- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN lich eröffnen. Wir wollen damit die Vorbe- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reitungen auf das Reformationsjubiläum national und insbesondere über die Gren- Wir sollten das Reformationsjubiläum 2017 zen Deutschlands hinaus bekannter machen. und die Zeit bis dahin intensiv nutzen, um Im Mittelpunkt der Kampagne stehen dabei uns mit der Reformation als Teil unseres kul- nicht nur das auf einem der bekanntesten turellen Erbes ganz bewusst auseinanderzu- Lutherporträts basierende Logo, sondern setzen und um auch die aktuellen Aspekte auch Leuchtturmprojekte, zum Beispiel die aufzunehmen. Herzlichen Dank. Eröffnung des Themenjahres 2012 »Reforma- tion und Musik« am 31. Oktober dieses Jah- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN res mit einem großen Festgottesdienst und und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Konzerten in Eisenach.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) Das Wort hat nun die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper. Mich freut besonders, dass wir dieses Jubilä- um hier im Deutschen Bundestag fraktions- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) übergreifend – natürlich mit Ausnahme der Linken – würdigen und dass wir dies gemein- Cornelia Pieper, Staatsministerin sam mit einer entsprechenden Dynamik an- im Auswärtigen Amt: gehen; denn das ist wichtig. Wichtig ist aber Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- auch, dass wir international werben, legen! Die Bundesregierung bringt sich ak- tiv in die Gestaltung der Lutherdekade und (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: des eigentlichen Jubiläumsjahres ein und Sehr gut!) begleitet die Lutherdekade von Anbeginn, nämlich seit 2008. Der Kulturstaatsminis- weil dieses Ereignis weltweit von kulturge- ter, Herr Neumann, ist für die Lutherdekade schichtlicher Bedeutung ist – ich habe es federführend zuständig. Wir, die Bundesre- schon gesagt – und auch tourismuspolitisch gierung, lassen uns von dem Verständnis lei- einiges bewegen kann. ten, dass die Reformation ein Ereignis war, Ich selbst bin Mitglied im Kuratorium und das kulturgeschichtlich bedeutende Verän- werde natürlich das Auswärtige Amt einbrin- derungen angestoßen hat – und zwar welt- gen. Neben dem Auswärtigen Amt und dem weit –, getreu der Aussage Martin Luthers: Bundesinnenministerium engagieren sich »Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht acht Bundesministerien, das Bundeskanz- der Weg schon Frieden ist.« leramt und das Bundespresseamt für die Lu- Die Dimension der von der Reformation therdekade. ausgegangenen Impulse will die Bundesre- Die Bundesregierung hat – vorbehaltlich gierung in Kooperation mit ihren Partnern der jeweiligen Zustimmung des Bundesta- unterstreichen. Am nächsten Donnerstag ges – ihre Bereitschaft erklärt, sich auch am Anhang 185

Reformationsjubiläum finanziell zu beteili- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): gen. Immerhin haben wir 2011 fünf Millio- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nen Euro eingestellt. Wir werben für die Ein- Kollegen! Es ist eine schöne Aufgabe, sich stellung der entsprechenden Summen in den im Parlament mit einem großen Ereignis in Haushalt 2012. der Geschichte Deutschlands, ja Europas zu befassen – mit der Reformation. Es ist eher (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) unschön, dass meine Fraktion bei der An- tragstellung ein weiteres Mal ausgeschlos- Ja, das ist einen Applaus wert. Dagegen ist sen wurde. Selbst bei einem Thema wie der die Summe beim Auswärtigen Amt – im Mo- Würdigung des Reformationsjubiläums darf ment 200 000 Euro – noch etwas klein. Aber meine Fraktion einen Antrag aller anderen das kann sich bis 2017 noch steigern. Fraktionen nicht mittragen.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Da müssen wir ran!) Beitreten ist kein Thema!)

Lassen Sie mich für die Bundesregierung als Grund: ein grundsätzlicher Boykott der Lin- Letztes – leider habe ich nur drei Minuten ken durch die CDU/CSU-Fraktion, der von Redezeit – folgendes Plädoyer im Hinblick den anderen Oppositionsfraktionen tapfer auf das Reformationsjubiläum halten: Auf mitgetragen wird. internationaler Ebene werden wir für die Jahre 2013/2014 eine kunsthistorische Wan- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: derausstellung zum Wirken Luthers und zu Das ist Unsinn, weil Sie immer beitreten können!) den weltweiten Auswirkungen der Reforma- tion vorbereiten. Daneben soll die sogenann- »Was ist eigentlich natürlich am Ausschluss te Lutherbox an verschiedene Orte wandern, der Fraktion Die Linke bei einem solchen um über Luther und die Reformation zu in- Thema in der parlamentarischen Behand- formieren. lung?«, frage ich mich und frage ich Sie. Ich glaube, das alles sind hervorragende Projekte, mit denen wir auch für den Kultur- (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: standort Deutschland, für die Kulturnation Jetzt zum Thema!) Deutschland in der Welt werben können. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Fraktio- Wenn wir an diesem Antrag schon nicht mit- nen, die sich an diesem Antrag beteiligt ha- arbeiten durften, wähle ich den kurzen Mo- ben. Danke, dass Sie das so intensiv unter- ment meiner Rede, um Ihnen zu beschrei- stützen. Vielen Dank. ben, was diesem Antrag aus unserer Sicht fehlt. Wenn Sie die Reformation feiern wol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len, müssen Sie sich mit mehr befassen als mit Luther, und Sie dürfen Luther auch nicht Vizepräsidentin Petra Pau: zu einer Lichtgestalt von Freiheit oder gar Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen für Toleranz stilisieren. die Fraktion Die Linke. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Beifall bei der LINKEN) Das hat auch niemand gemacht!) 186 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Kardinal Lehmann, kein geringerer als er, hat Sie führen eine imposante Liste von Weg- in einem Interview mit der Zeitung Die Welt gefährten Luthers an. Aber wo bleiben die konstatiert – Zitat –: Er wird wohl deshalb Zeitgenossen der Reformation, allen voran so gefeiert, weil er den Kampf gegen die Au- Thomas Müntzer, der, wohlgemerkt, die ers- torität des Papstes aufgenommen hat und te deutsche Predigt verfasst hat und dessen sich nicht einschüchtern ließ. Dass er einen Freiheitsbegriff und Menschenbild durch und epochengeschichtlichen Einschnitt perso- durch reformatorisch waren, auch wenn die nifiziert, kann man nicht bestreiten. Aber Niederschlagung blutig war? Müntzer steht der Held der Freiheit im weitesten Sinn ist für Begriffe wie direkte Demokratie und so- er nicht. Das zeigt sein Verhalten gegenüber ziale Gerechtigkeit. Er propagierte Freiheit anderen Reformatoren, den Bauern bei ihrem und Gleichheit der Menschen als göttliche Aufstand, Andersgläubigen, zum Beispiel den Prinzipien. Der Reformation der Kirche soll- Wiedertäufern, aber auch gegenüber Katho- te eine Reformation der Gesellschaft folgen. liken und Juden. Ferner führen Sie eine imposante Liste von Orten an, die kulturgeschichtlich mit (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: der Reformation in Verbindung stehen, von Sie zitieren einen Katholiken! Und das zur Augsburg bis Worms. Wo bleibt zum Bei- Reformation! Was soll das denn?) spiel Mühlhausen? Nein, Ihr Reformations- bild – es ist auf Luther fixiert, und Ihr Lu- In den lutherischen Territorien – lieber Kol- therbild ist ganz und gar einseitig – ist zu lege Ehrmann – wurde die frühzeitliche Re- schmal, um dem Ereignis der Reformation ligionsfreiheit kaum beachtet, es herrschte gerecht zu werden. Von den ständigen Aus- allenfalls eine mildere Form von Toleranz rutschern in die Tourismusfalle, den gan- als sonst im Reich. zen Marketing- und Standortbeschwörun- So weit Kardinal Lehmann. Von dieser gen bis hin – jetzt bitte ich, aufmerksam zu Einordnung Luthers ist in Ihrem Antrag an sein – zur »Dachmarkenkampagne Luther keiner Stelle die Rede. Zwar versprechen Sie 2017« durch den Staatsminister – ist er an- – Zitat –, »das weite Themenspektrum der Re- wesend? – am 27. Oktober 2011 will ich gar formation« in der Lutherdekade aufzuneh- nicht reden. Ich glaube, Luther würde sich in men, doch ich vermisse vor allem die Rolle seinem Grab umdrehen, wenn er das Wortun- des Volkes bei dieser Reformation: getüm »Dachmarkenkampagne Luther 2017« hören würde. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten das hoffende, das kämpfende, das umden- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kende und das vielerorts schwer betrogene, ja niedergekämpfte Volk. Seiner bei diesem Ich kann nur hoffen, dass von den 5 Mio. Euro Jubiläum zu gedenken, wäre gerade heute, in Bundesmitteln, die jetzt jährlich zur Verfü- einer Zeit der vielen Volksaufstände, die zu- gung stehen, auch Projekte und Orte der Sei- meist auch religiös motiviert oder gegenmo- te der Reformation gefördert werden, die Sie tiviert sind, ein wichtiges Signal. in Ihren Antrag – sagen wir einmal: bisher – gar nicht einbezogen haben. In dieser Hoff- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Agnes nung stimmen wir als ausgeschlossene Frak- Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tion diesem Antrag zu. Dankeschön. Anhang 187

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Nach dieser Rede weiß ich, Diese Chancen der kulturellen Begegnung warum Sie nicht beigetreten sind!) innerhalb der Lutherdekade wollen wir gern in den nächsten Jahren politisch begleiten. Vizepräsidentin Petra Pau: Eine Fokussierung auf rein touristische As- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat pekte lehnen wir ab. nun die Kollegin Agnes Krumwiede das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Agnes Krumwiede und bei der LINKEN) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Nicht ein möglichst repräsentatives Bild Lu- ginnen und Kollegen! 5 Millionen Euro Bun- therdeutschlands im Ausland steht für uns desmittel pro Jahr bis 2017 für die Lutherde- im Vordergrund, sondern die inhaltliche und kade erfordern eine transparente Kommuni- interdisziplinäre Auseinandersetzung mit kation darüber, wofür diese Mittel verwendet Luther, seiner Zeit und den Auswirkungen werden sollen. Jedes Jahr haben die Veran- seiner Schriften. staltungen andere thematische Schwerpunk- Um die Trennung zwischen Staat und te; wir haben schon gehört, dass das so ist. Kirche in der Organisationsstruktur zu be- Das nächste Jahr zum Beispiel steht unter wahren, gibt es zwei Geschäftsstellen: eine dem Motto »Reformation und Musik«. von staatlicher und eine von kirchlicher Sei- Ein Teil der Bundesfinanzierung wird in te. Bestrebungen – auch seitens des BKM –, die Restaurierung und Vorbereitung der Wir- diese beiden Stellen zusammenzulegen, leh- kungsstätten Martin Luthers fließen. Wir ha- nen wir ab. Kirchliche und staatliche Zustän- ben uns dafür eingesetzt, dass im vorliegen- digkeiten müssen klar voneinander getrennt den Antrag auf eine nachhaltige Ausrichtung bleiben. des Reformationsjubiläums Wert gelegt wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein Jubiläum mit dem Anspruch auf ein Bei Veranstaltungen und bei der Herstellung kirchliches und kulturgeschichtliches Er- von Infomaterialien sollen Kriterien der Kli- eignis von Weltrang muss bei Projekten und maneutralität berücksichtigt werden. Veranstaltungen alle Menschen ansprechen Neben der investiven Vorbereitung auf und einbeziehen, nicht nur Protestanten. Au- das Großereignis im Jahr 2017 sind für uns ßerdem darf sich die Ausgestaltung der Jubi- die kulturelle und gesellschaftliche Dimen- läumsfeierlichkeiten nicht auf einige wenige sion entscheidend. Zahlreiche Veranstaltun- Prestigeevents beschränken. Dafür ist eine gen sollen den Dialog zwischen Gesellschaft bundesweit flächendeckende, vielfältige und und Kirche programmatisch stärken. Wir be- abwechslungsreiche Veranstaltungsstruk- grüßen, dass dabei kulturelle, künstlerische tur in den Städten ebenso wie im ländlichen und wissenschaftliche Auseinandersetzun- Raum notwendig. Auch die Förderung des gen im Zentrum stehen. Dialogs mit anderen Religionen, mit Nicht- 188 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

gläubigen und Atheisten sollte im Rahmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Lutherdekade gestärkt werden. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Im Gegenteil: Die Lutherdekade kann ein Forum der kritischen Reflexion bieten, um Es darf nicht um eine Verherrlichung Martin über den Einfluss Luthers auf Vergangen- Luthers gehen. heit und Gegenwart aus unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. In diesem Kon- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: text sollten auch Moses Mendelssohn – der Eine Würdigung darf es schon sein!) jüdische Luther, wie Daniel Barenboim ihn einmal bezeichnet hat – und Mendelssohns Auch kritische Fragen müssen aufgewor- wenig beachtete Bibelübersetzungen eine fen werden. Nur durch eine kritische Aus- Rolle spielen. einandersetzung mit der Institution Kirche, Im vorliegenden Antrag sind die Rahmen- der Person Martin Luther und den umfas- bedingungen für das Jubiläum festgelegt. Als senden Konsequenzen seiner Schriften für nächster Schritt muss die inhaltliche Aus- die Geschichte wird die Lutherdekade ihren richtung, die Identifikation mit der Luther- Aufgaben gerecht. dekade in der Bevölkerung gestärkt werden. Jetzt müssen die inhaltlichen Weichen für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine bunte Lutherdekade gestellt werden, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mit Events, Diskussionsrunden und Foren, die alle gesellschaftlichen und kulturellen Martin Luthers Wirken hatte viele Facetten Gruppen zum Mitreden, Mitdenken und Mit- mit prägender historischer Ausstrahlung. Auf gestalten einladen. Vielen Dank. der einen Seite gilt er als Reformator, als Mo- dernisierer der Kirche. Unbestritten ist sein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Beitrag zur Demokratisierung, zur Entwick- bei der SPD und der LINKEN sowie des lung der deutschen Sprache und zum Zeit- Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) alter der Aufklärung durch die Stärkung der individuellen Eigenverantwortung und der Vizepräsidentin Petra Pau: Gewissensentscheidung. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Börnsen für die Unionsfraktion. (Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auf der anderen Seite, der unbequemen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Schattenseite, gilt Martin Luther als popu- (CDU/CSU): lärer Vertreter des Antijudaismus. Einige Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Auszüge aus seinen Briefen und Predigten Kollegen! Nach Martin Luther müsste ich in sind gerade durch die Brille der jüngeren dieser 45-Minuten-Debatte schweigen. Er deutschen Vergangenheit schwer verdau- hat einmal seinen Glaubensbrüdern zuge- lich. Diese Aspekte dürfen im Glanz der Lu- rufen: Ihr könnt predigen, was ihr wollt, aber therdekade nicht untergehen. nicht über 30 Minuten. Anhang 189

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Ich schweige nicht. Ich möchte mich dem Zugleich sagte er: Ein Christenmensch ist ein Lutherjubiläum in meinem Beitrag mit ei- dienstbarer Knecht aller Dinge und jeder- ner Aussage des Papstes, die er im Deutschen mann untertan. Dieses Doppelgesicht von Bundestag getroffen hat, nähern: Freiheit und Gleichheit vor Gott und dem Ge- Die Kultur Europas – so hat es der Papst ge- setz hat unser Bürger-, unser Staats- und un- sagt – ist aus der Begegnung von Jerusalem, ser Demokratieverständnis in den folgenden Athen und Rom – aus der Begegnung zwi- Jahrhunderten ganz maßgeblich beeinflusst. schen dem Gottesglauben Israels, der philo- Die Bill of Rights in England, die Verfassung sophischen Vernunft der Griechen und dem der Vereinigten Staaten von Amerika und die Rechtsdenken Roms entstanden. Diese drei- Aufklärung wären ohne Luther nicht denkbar. fache Begegnung bildet die innere Identität Besonders in Skandinavien, wo der Weg- Europas. begleiter des Reformators Johannes Bugen- Unser Denken, unser Handeln und unse- hagen gewirkt hat und wo sich bis heute re Wertvorstellungen sind ganz wesentlich fast 90 % der Bevölkerung zum Protestan- durch die christlich-jüdischen Religionen ge- tismus bekennen, lassen sich die Spuren prägt. Auch unserem neuen Europa haben sie dieser Glaubensausrichtung verfolgen. Dass mit die Seele gegeben. Eine europäische Kul- Dänemark als erstes Land die Sklaverei ab- turidentität ist ohne das Christentum nicht schaffte, hat mit dem damals neuen Frei- vorstellbar. heits- und Gleichheitsverständnis des Re- formators zu tun. Die vorbildlichen Staats- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gedanken der Schweden im Hinblick auf die soziale Ausrichtung der Politik sind eben- Dass unser Kontinent unabhängig davon so darauf zurückzuführen wie der norwe- eine bunte multikonfessionelle wie religi- gische Widerstand gegen die deutsche Be- öse Landschaft bietet, empfinde ich als eine satzung während des Zweiten Weltkrieges. Bereicherung. Tatsache bleibt jedoch: Die Mut, Rechtfertigung und Kraft schöpften die Entchristlichung unseres Abendlandes hält Frauen und Männer damals aus den Lehren an. Die Risse in Europas Fundament vergrö- Luthers. ßern sich. Eine Revitalisierung der geistig- Heute sind diese Länder ein unverzicht- moralischen Grundlagen unseres Kontinents barer Eckpfeiler Europas. Sie haben stand- ist nicht nur Kirchenverantwortung. Sie ist gehalten – auch gegenüber Faschismus und unser aller Verantwortung. Kommunismus, diesen menschenverachten- den Selbsterlösungsideologien. Diese Län- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der gehörten mit zu den ersten auf unserem Kontinent, die den Grundsatz der Glaubens- Auch deshalb befassen wir uns mit der Lu- freiheit praktizierten, wie ihn das Luthertum therdekade, mit dem Beitrag der Lutheraner forderte. zur kulturellen und europäischen Identität. In der ständisch hierarchisierten Welt An- Luthers Freiheitsverständnis nimmt dabei fang des 16. Jahrhunderts trugen Forderun- eine Schlüsselrolle ein. Er sagte: Ein Chris- gen nach Religionsfreiheit und demokrati- tenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge schen Gemeindestrukturen oder auch der und niemandem untertan. Wahrung der Gleichheitsgrundsätze revolu- 190 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

tionäre Züge. Heute sind sie in der Europä- sellschaftliches Ereignis. Sie bedeutete Ab- ischen Union Allgemeingut. Gott sei Dank! schied vom Mittelalter, Stärkung der Aufklä- Das muss so bleiben. rung, Bildung für das Volk und Ausbildung Für die Mehrheit der Menschen auf unse- einer deutschen Sprache und Kultur, und, ja, rer Welt gelten sie jedoch noch nicht. Des- bis zur wirklichen Demokratie, bis zu wirkli- halb ist es für die CDU/CSU-Bundestags- cher Freiheit und bis zu Toleranz war es den- fraktion ein besonderes Anliegen, mit der noch noch ein weiter Weg. Trotzdem: Die Lutherdekade auch auf diese Defizite auf- Hammerschläge, mit denen Luther im Jahr merksam zu machen und weltweit Bürger- 1517 seine 95 Thesen an das Tor der Witten- und Menschenrechte einzufordern. berger Schlosskirche nagelte, erschütterten Geben wir als Parlament den 25 Millio- die Welt in ihren Grundfesten. nen Protestanten in unserem Land – Frau Viele verbinden das Wort »Reformation« Jochimsen, unseren Glaubensbrüdern – eine mit unserem heutigen Reformbegriff, mit Stimme, ohne Spott. Stärken wir die 61 Mil- Umgestaltung und mit der Verbesserung des lionen Protestanten in Europa und die über Bestehenden, mit der Art von Reformen, die 400 Millionen in der Welt. Als Ausgangs- und wir im Parlament immer wieder in Gang set- Kernland des Protestantismus haben wir in zen und die leider zu oft dazu führen, dass Deutschland hier eine ganz besondere Ver- sich die Bürger entsetzt und genervt abwen- antwortung. den. Reformation bedeutet aber eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Wiederherstellung und Erneuerung. Luther Abgeordneten der SPD und des Abg. Josef Philip wollte die von ihm festgestellten Fehlent- Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wicklungen des Christentums beseitigen und überwinden. Er wollte die Kirche eigentlich Das Lutherjubiläum wird sicher einen Beitrag nicht spalten. zur Stärkung der europäischen Solidarität Auch wir reden heute viel von Wiederher- leisten können, und gerade in diesen Tagen stellung und Erneuerung, zum Beispiel von ist Solidarität in Europa besonders gefordert. einer Erneuerung und Wiederherstellung der Danke schön. sozialen Marktwirtschaft, die angesichts des wahnwitzigen Treibens an den Finanzmärk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP ten aus den Fugen zu geraten droht. Manch sowie bei Abgeordneten der SPD einer findet, ein Reformator vom Range eines und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Martin Luther stünde uns auch heute noch ganz gut zu Gesicht. Vizepräsidentin Petra Pau: 2017 werden Martin Luther, sein Werk und Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kol- seine Wirkungsstätten im Blickpunkt der legin Iris Gleicke. Öffentlichkeit stehen. Ich finde, sie sollten Kristallisationspunkte für eine breite gesell- (Beifall bei der SPD) schaftliche Debatte sein. Das sollten wir uns alle als Angehörige unterschiedlicher Reli- Iris Gleicke (SPD): gionen und Konfessionen gemeinsam wün- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- schen. Das gilt auch für unsere Laizisten. legen! Die Reformation war nicht nur ein wichtiges kirchliches, sondern auch ein ge- (Beifall bei der CDU/CSU) Anhang 191

Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des te bedeutet. 500 Jahre nach Luthers Thesen Deutschen Kulturrates, hat erklärt, dass es ist unsere moderne Gesellschaft vielfach einer kritischen und öffentlichen Debatte der gnadenlos auf Leistung und Makellosigkeit gesamten Zivilgesellschaft bedarf. Er hat die ausgerichtet. evangelische Kirche aufgefordert, ihre Tore Ein anderes Beispiel ist der kritische Um- dafür sehr weit zu öffnen. Das ist ein gutge- gang mit dem damaligen Ablasshandel. Wie meinter Hinweis. Ja, wir müssen gemeinsam weit sind wir davon heute in einer Gesell- darauf achten und darauf drängen, dass sich schaft entfernt, in der buchstäblich alles und die gesamte Zivilgesellschaft an den geplan- damit auch das gute Gewissen käuflich zu ten Projekten beteiligt und es eine bunte De- sein scheint? Der unvergessene Johannes kade wird. Rau hat einmal die Sorge geäußert, dass eine Aber mir erscheint auch in Erinnerung an junge Generation heranwächst, die von al- den Besuch des Papstes hier im Deutschen lem den Preis und von nichts den Wert kennt. Bundestag der Hinweis äußerst wichtig, dass Meine Damen und Herren, »Am Anfang sich die beiden großen Kirchen in ihrer be- war das Wort«, so steht es in der Bibel, und wussten Distanz zum Staat doch längst als so heißt ein Projekt, das die Thüringer Wart- Teil dieser Zivilgesellschaft begreifen. In- burg-Stiftung und die Luthergedenkstätten sofern stehen die Tore längst sperrangel- in Sachsen-Anhalt ins Werk gesetzt haben. weit offen. Das ist ein gewaltiger Fortschritt, Dabei geht es um die Auswirkungen der Re- der neue Perspektiven hinsichtlich des Um- formation auf die deutsche Sprache. Es geht gangs mit unserer gemeinsamen Geschichte darum, auch diejenigen auf unsere kulturel- und unseres Miteinanders eröffnet. Darauf len Wurzeln aufmerksam zu machen, die mit dürfen wir gemeinsam stolz sein. Religionen nichts am Hut haben. Auch das ist ein wichtiges, gutes und sinnvolles Projekt. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Hier sehe ich, liebe Frau Pieper, auch das und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auswärtige Amt mit den Goethe-Instituten in der Verantwortung und der Pflicht; denn Ich bin in diesem Sinne dem Kulturstaats- die Reformation als Weltereignis wäre auch minister dankbar, dass er bei dem Projekt in Ihrem Ressort eine klassische Aufgabe. »DenkWege zu Luther« darauf gedrängt hat, dass Schülerinnen und Schüler aus Sachsen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, Anhalt und Thüringen gemeinsam miteinan- der CDU/CSU und der FDP) der arbeiten. Als Ostdeutsche – das sei mir gestattet – wünsche ich mir natürlich eine Meine Damen und Herren, die Reformati- Westerweiterung, weil ich glaube, dass dieses on gehört nicht der Kirche und nicht dem Projekt dabei noch spannender und frucht- Staat. Sie gehört uns allen, so wie die Auf- barer werden könnte. Ich denke, das werden klärung und das Grundgesetz. Sie ist ein wir alle in diesem Hause einmütig unter- Menschheitserbe. Für das Jubiläum der Re- stützen. formation müssen sich alle gesellschaftspo- Es wäre doch wirklich gut, wenn sich jun- litischen Kräfte engagieren, und zwar nicht ge Leute nicht nur aus den Kernländern der nur als Geldgeber und Gönner, als Stifter und Reformation mit so spannenden Fragen be- Sponsoren. All das ist hochwillkommen; aber schäftigen würden, was ein so klassischer es muss einer übergreifenden Debatte die- und theologischer Begriff wie »Gnade« heu- nen und diese unterstützen. Ersetzen kann 192 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

es diese Debatte auf keinen Fall; sonst wür- der Kirche und schon gar nicht nur für die de daraus ein neuerlicher Ablasshandel wer- evangelische Kirche; denn der Impuls, den den. Verantwortung muss man wahrnehmen. die Reformation gab, war ein Impuls für die Man kann sich davon nicht freikaufen. Aber Bildung der Menschen und insbesondere für das, liebe Freunde, ist zweifellos ein weites das Verständnis von persönlicher Verantwor- Feld. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. tung für das eigene Handeln. Das sind heute, Jahrhunderte später, noch immer die Grund- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP sätze, auf denen unser Gemeinwesen beruht. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Einige wissen, wie schwer es ist, sich täglich schweißtreibend dafür einzusetzen, dass Vizepräsidentin Petra Pau: persönliche Freiheit und eigene Verantwor- Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Patrick tung verteidigt werden müssen. Kurth das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auf die christlichen Traditionen dieses Lan- Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): des können wir mit Blick auf die Reformati- Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- on stolz sein. Denn wir hier in Deutschland ren! Herr Ministerpräsident! Frau Jochim- haben den aufgeklärten Staat ein Stück vor- sen, ich habe nun besser verstanden, warum angetrieben. Uns Deutschen steht es gut zu Herr Ramelow in dieser Woche so stark an ei- Gesicht, wenn wir auch die protestantische nen Austritt aus der Linken dachte. Tradition des Landes nicht verstecken. Des- 500 Jahre Thesenanschlag, 500 Jahre seit halb wird diese Lutherdekade, die wir feiern Beginn der Reformation und, leicht übertrie- und die 2017 zu ihrem Höhepunkt kommt, ben, 500 Jahre evangelisches Christentum. eben nicht nur von Protestanten durchge- Nicht übertrieben: Das Reformationsjubi- führt und gefeiert: Breite gesellschaftliche, läum ist kirchlich, kulturgeschichtlich und wirtschaftliche, bürgerschaftliche Kräfte, gesellschaftlich ein Ereignis von Weltrang. freie Kirchen, Kommunal- und Landespoli- tik sind mit an Bord. Die öffentliche Verwal- (Beifall bei der FDP sowie tung – meistens nicht erwähnt – trägt einen bei Abgeordneten der CDU/CSU) großen Teil dazu bei; Gleiches gilt für Eh- renamtliche und – das ist besonders wich- Die Reformation war eine der ganz, ganz tig – zahlreiche Katholiken. Mittlerweile ist wichtigen Säulen für die Aufklärung. Sie ist diese gute Zusammenarbeit zwischen Pro- ein Stück weit Voraussetzung für die Ent- testanten und Katholiken, zwischen den bei- wicklung hin zum mündigen Menschen im den Konfessionen, auch in der Lutherdekade aufgeklärten Staat gewesen. Dem Menschen eher selbstverständlich als außergewöhnlich, obliegt die Verantwortung für sich selbst. und das ist auch gut so. Sein Schicksal, seine Erfolge, seine Nieder- Meine Damen und Herren, alle Beteiligten lagen – ja, dafür hat er eine eigene Verant- sind sich einig: Die Lutherdekade wird nicht wortung. Und er übergibt diese persönliche ausschließlich auf theologische und akade- Haftung nicht komplett an übergeordnete mische Aspekte eingehen. Die Kirche hat ge- Institutionen oder Mächte. Diese Entwick- rade in Mitteldeutschland die Möglichkeit, lung stieß die Reformation an – nicht nur in sich gesellschaftlich breit zu öffnen. Insofern Anhang 193

schlagen wir mit unserem Antrag nicht nur Antrag, der von der Mehrheit der Fraktionen ein paar Punkte vor, sondern fordern dazu in diesem Hohen Hause gemeinsam einge- auf, natürlich auch wirtschaftliche, touris- bracht wurde. Ich finde, das ist ein erfreuli- tische und gesellschaftliche Aspekte in die cher Umstand. Ich freue mich sehr darüber, Lutherdekade einzubringen. weil es dem Anliegen und der Bedeutung die- Ich freue mich übrigens darüber, dass wir ses Anlasses sehr gerecht wird. am 27. Oktober – Sie alle sind dazu einge- laden – noch einmal über die Lutherdeka- (Beifall bei der CDU/CSU sowie de sprechen werden, genau in einer Woche bei Abgeordneten der SPD und der FDP) um diese Zeit drüben im Paul-Löbe-Haus. Da geht es darum, über die einzelnen Aspekte Die Reformation – das wurde bereits ange- zu sprechen. In diesem Sinne bedanke ich sprochen – ist nicht allein eine kirchliche mich bei allen Beteiligten, insbesondere bei Angelegenheit; sie hat vielmehr die gesam- denen, die die Verhandlungen für den An- te Gesellschaft geprägt. Unser Wunsch sollte trag geführt haben. Ich bedanke mich ganz sein, dass Deutschland und Europa die große herzlich bei den Haushältern dafür, dass sie Chance nutzen, mit dem Reformationsjubi- so viel Geld in den Haushalt des Bundeskanz- läum einen neuzeitlichen Diskurs über die leramts, nämlich für den Staatsminister, ein- Grundlagen unserer Kultur, das Verhältnis stellen. Ich bedanke mich ebenso herzlich zu anderen Kulturen sowie unsere Werte und dafür, dass es demnächst auch im Auswärti- Traditionen zu führen. gen Amt viel, viel mehr sein wird. Ich bedan- Der freiheitliche Staat lebt von Grundla- ke mich beim Staatsminister im Auswärtigen gen, die er selbst nicht schaffen kann. Dazu Amt, der derzeit im Ausland weilt. Ich bedan- gehören Werte wie die Achtung des anderen, ke mich beim Wirtschaftsministerium und Toleranz, Demokratie und Gewaltenteilung. beim Verkehrsministerium, das eigenständig Über all das lohnt es zu debattieren und sich Mittel für die Lutherdekade zur Verfügung dessen immer wieder zu vergewissern. All gestellt hat. Bei der Präsidentin bedanke ich das hat mit Sicherheit mit einem bedeuten- mich für ihre Geduld und dafür, dass ich hier den Punkt begonnen: mit der Reformation. kurz überziehen durfte. Herzlichen Dank. Denn die Reformation ist die Geburtsstunde eines christlichen Freiheitsbegriffs, der das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Menschenbild beeinflusst, die Eigenverant- sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD]) wortung und die Gewissensentscheidung des Einzelnen wieder in den Vordergrund gerückt Vizepräsidentin Petra Pau: und letzten Endes Aufklärung und Demokra- Der Kollege Michael Kretschmer spricht nun tie befördert hat. für die Unionsfraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Übersetzung der Bibel hat eine gewalti- Michael Kretschmer (CDU/CSU): ge Bildungsexpansion ausgelöst. Sie hat die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! deutsche Sprache befördert und – das wurde In großer Einigkeit wurde und wird heute mehrfach angesprochen – dazu geführt, dass über die Lutherdekade und das Reformati- Schulen gegründet wurden und Bildung er- onsjubiläum diskutiert. Dazu gibt es einen möglicht wurde. 194 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

All das sind Gründe, warum sich der Staat Ziel dieses Prozesses sein, in dem wir mit- für dieses Jubiläum engagieren soll, statt es tendrin sind. Es liegen noch einige spannen- alleine den Kirchen zu überlassen. Aus die- de Jahre vor uns. Nutzen wir sie! Bringen wir sem Grund ist es richtig, dass wir den Unter- uns alle aktiv in die Diskussion ein! Herzli- halt der Luthergedenkstätten seit geraumer chen Dank. Zeit mit 1 Million Euro jährlich fördern und dass wir mit unserem Staatsminister Bernd (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Neumann in der Bundesregierung jetzt ei- bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Agnes nen Koordinator haben, der sich um das Re- Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) formationsjubiläum und die Lutherdekade kümmert. Bernd Neumann, der heute leider Vizepräsidentin Petra Pau: nicht anwesend sein kann, weil er im Aus- Ich schließe die Aussprache. land weilt, arbeitet unglaublich erfolgreich und engagiert an diesem Projekt.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Es ist im Wesentlichen ihm zu verdanken, dass es gelungen ist, für den Zeitraum bis 2017 immerhin 35 Millionen Euro für das Re- formationsjubiläum zu organisieren, um Pro- jekte, Ausstellungen und die Sanierung der Luthergedenkstätten zu finanzieren. Ich hal- te das für eine großartige Sache.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Iris Gleicke [SPD])

Wir alle wollen an diesem Projekt weiter mit- arbeiten. Ich halte es für richtig, dass wir über den Denkmalschutz und die Denkmalpflege- mittel zusätzliche Möglichkeiten schaffen, die Orte der Reformation in einen ordent- lichen Zustand zu bringen. Ich bin auch der Meinung, dass wir das Reformationsjubilä- um nicht touristisch »verzwecken« dürfen. Natürlich ist es eine Chance für den Touris- mus, den man auch ergreifen sollte. Aber es wäre viel zu kurz gesprungen, die Reformati- on und das Jubiläum vor diesem Hintergrund zu diskutieren. Nein, meine Damen und Herren, es muss um Werte und Kultur gehen. Das muss das Anhang 195 196 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Autorinnen und Autoren

Die Angaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der Artikel.

Petra Bahr – Kulturbeauftragte des Rates der Torsten Ehrke – als Referent der Bundestags- ­Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) fraktion Bündnis 90/Die Grünen an der Arbeit der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« Heinrich Bedford-Strohm – Landesbischof der beteiligt; er ist Vorsitzender der Stiftung St. Georg Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Kapelle Neuruppin e. V. Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Volker Faigle – Theologe beim Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Wolfgang Böhmer – Ministerpräsident des (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und Landes Sachsen-Anhalt der EU, er war viele Jahre verantwortlich für die Afrika- arbeit der EKD André Brie – Mitglied des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern Kerstin Griese – Mitglied des Bundesvorstands des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Tom Buhrow – Intendant des WDR in Deutschland (EKD)

Udo Dahmen – Künstlerischer Direktor, Hermann Gröhe – Generalsekretär der CDU Geschäftsführer und Professor der Popakademie und war von 1997 bis 2009 Mitglied des Rates der Baden-Württemberg in Mannheim Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Stephan Dorgerloh – Beauftragter der Thies Gundlach – Vizepräsident des Kirchenamtes Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) der EKD und Leiter der Hauptabteilung »Kirchliche für die Lutherdekade 2017 Handlungsfelder und Bildung«

Markus Dröge – Bischof der Evangelischen Kirche Dieter Georg Herbst – Geschäftsführer der source- Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz 1networks GmbH, Honorarprofessor an der Universität der Künste Berlin, Gastprofessor an der Lettischen Kulturakademie in Riga und Professor an der Hoch- schule für Oekonomie und Management (FOM) Die Autoren 197

Wolfgang Huber – bis 2009 Bischof der Evangeli- Christoph Markschies – Präsident der schen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Humboldt-Universität zu Berlin Oberlausitz und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2011 Preisträger des Kultur­ Reinhard Kardinal Marx – Vorsitzender der groschens des Deutschen Kulturrates Deutschen Bischofskonferenz

Margot Käßmann – Botschafterin des Rates Christoph Matschie – Kultusminister des der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Freistaates Thüringen Reformationsjubiläum 2017 Regine Möbius – Vizepräsidentin des Stephan J. Kramer – Generalsekretär des Deutschen Kulturrates Zentralrats der Juden in Deutschland Johann Michael Möller – MDR-Hörfunkintendant Michael Kretschmer – Stellvertretender Vor- sitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Michael Müller – Regierender Bürgermeister zuständig für Bildung und Forschung, Kunst, von Berlin Kultur und Medien Bernd Neumann – Staatsminister für Kultur Cornelia Kulawik – Pfarrerin an der Kaiser- und Medien bei der Bundeskanzlerin Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin Cornelia Pieper – Staatsministerin im Sabine Kunst – Ministerin für Wissenschaft, Auswärtigen Amt Forschung und Kultur des Landes Brandenburg Peter Reifenberg – Direktor der Akademie Hartmut Lehmann – Historiker, er war unter und des Tagungszentrums des Bistums Mainz, anderem Direktor des Max-Planck- Instituts für Erbacher Hof, lehrt Moraltheologie an der Geschichte in Göttingen und Gründungsdirektor des Universität Mannheim Deutschen Historischen Instituts Washington D. C. Stefan Rhein – Vorstand und Direktor der Volker Leppin – Professor für Kirchengeschichte Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter der Geschäftsstelle »Luther 2017«

Athina Lexutt – Professorin am Institut für Georg Ruppelt – Vizepräsident des Deutschen ­Evangelische Theologie in Gießen ­Kulturrates

Arne Lietz – Mitglied des Europäischen Parlaments Stephan Schaede – Direktor der Evangelischen Akademie Loccum Hiltrud Lotze – stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe Kultur und Medien in der SPD- Heinz Schilling – Professor für Frühe Neuzeit Bundestagsfraktion am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin 198 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Carsten »Storch« Schmelzer – Leiter einer Ellen Ueberschär – Generalsekretärin des Freikirche in Remscheid und hat ein Buch über Deutschen Evangelischen Kirchentages die Hölle geschrieben Olaf Zimmermann – Geschäftsführer des Deutschen André Schmitz – war Kulturstaatssekretär in Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur Berlin, er ist Vorstandsvorsitzender der Schwarz- kopf-Stiftung Junges Europa Stefan Zowislo – Geschäftsführer der Staatlichen Geschäftsstelle »Luther 2017« Friedrich Schorlemmer – Theologe, bis 2007 Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Wittenberg

Gabriele Schulz – Stellvertretende Geschäfts- führerin des Deutschen Kulturrates

Irmgard Schwaetzer – Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland

Thomas Sternberg – Kunsthistoriker und katholischer Theologe, er ist Direktor des Franz-Hitze-Hauses Münster und gehört dem Landtag Nordrhein-Westfalen an

Rupert Graf Strachwitz – Politikwissenschaftler und Leiter des Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Johannes Süßmann – Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Paderborn

Peter Tauber – Generalsekretär der CDU Deutschlands

Wolfgang Thierse – Bundestagspräsident a. D., Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie 199

Aus Politik & Kultur

Nr. 1 Streitfall Computerspiele: Computerspiele zwischen ­kultureller Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz

Nr. 2 Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht

Nr. 3 Kulturpolitik der Parteien: Visionen, Programmatik, Geschichte, Differenzen

Nr. 4 Max Fuchs: Kulturpolitik und Zivilgesellschaft. Analysen und Positionen

Nr. 5 Kulturlandschaft Deutschland: Die Provinz lebt

Nr. 6 Künstlerleben: Zwischen Hype und Havarie

Nr. 7 Digitalisierung: Kunst und Kultur 2.0

Nr. 8 Kulturelle Vielfalt leben: Chancen und Herausforderungen inter­kultureller Bildung

Nr. 9 Arbeitsmarkt Kultur: Vom Nischenmarkt zur Boombranche

Nr. 10 Disputationen: Reflexionen zum Reformationsjubiläum 2017

Nr. 11 Islam Kultur Politik

Nr. 12 Kulturpolitik auf den Punkt gebracht: Kommentare und Begriffe von Olaf Zimmermann

Nr. 13 TTIP, CETA & Co. Die Auswirkungen der Freihandels- abkommen auf Kultur und Medien Im Jahr 2017 jährt sich zum 500sten Mal der Thesenanschlag Martin Luthers an die Schlosskirche in Wittenberg. Anlass genug, sich mit dem Reformator, seinen Weggefährten und Gegnern ­sowie den Wirkungen der Reformation auf Politik, Gesellschaft und vor allem Kultur auseinanderzusetzen. In dieser zweiten, überarbeiteten und erweiterten Ausgabe des Bandes mit Beiträgen zum Reformationsjubiläum nähern sich wiederum die Autorinnen und Autoren auf jeweils ganz individu- elle Weise der Reformation. Sie setzen sich mit dem historischen Luther, mit den Wirkungen der Reformation in Vergangenheit und Gegenwart und vor allem damit auseinander, was 500 Jahre Reformation heute bedeuten.

ISBN: 978-3-934868-29-8 ISSN: 18652689 9 783934 868298 www.kulturrat.de