SPD Im zweiten Frühling Beflügelt von der plötzlichen Auf- merksamkeit, schlüpft der Altlinke Ottmar Schreiner in die Rolle des Ober-Rebellen – und verprellt damit seine Mitstreiter. m September wolle er den Berlin-Ma- rathon laufen, sagt Ottmar Schreiner, I57, und zündet sich eine Marlboro an. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Weißwein. Es ist Mittwochnachmittag, viertel vor fünf. Schreiner sitzt in seinem Berliner Stammlokal „Die Eins“. Er hat einen pral- len Terminkalender und eigentlich nicht viel Zeit, schon gar nicht für Lauftraining. „Meine Pressetermine sind enorm an- geschwollen“, berichtet er. Am Abend zuvor war Schreiner bei Mi- chel Friedman in Frankfurt. Die Fernseh- leute hätten ihn direkt nach der Sendung

mit Vollgas zum Flughafen gekarrt. Er / E-LANCE MEDIA / REUTERS RATTAY WOLFGANG musste die letzte Maschine nach Berlin er- Sozialdemokraten Scholz, Schreiner, Schröder: Demonstrativ tuscheln wischen, weil er gleich am Morgen darauf zu einer Radio-Talkrunde eingeladen war. fehlt der Parteilinken ein stand zu Wort, tut Schröder so, als würde Schreiner zieht an seiner Zigarette und Anführer. Einer, der das soziale Gewissen er ihm nicht zuhören. Demonstrativ tu- lehnt sich zufrieden zurück. Gleich geht es der SPD verteidigt und die Seele streichelt. schelt er mit Generalsekretär mit dem Flieger weiter nach Saarbrücken, Und das soll jetzt Schreiner sein? oder studiert angestrengt Akten. zur 1.-Mai-Kundgebung. Bei Maybrit Ill- „Er transportiert unser Anliegen gut“, Damit der Gegner nicht weiter aufge- ner im ZDF war er auch schon. sagt , SPD-Bundestagsab- wertet wird, meidet der Kanzler jede di- Ottmar Schreiner ist zu seiner eigenen geordneter und Initiator des Mitgliederbe- rekte Auseinandersetzung. Stattdessen Überraschung plötzlich ein gefragter gehrens gegen die „Agenda 2010“. Aber schickt er Scholz vor: „Es gibt die Haltung Mann. Seit Kanzler Gerhard Schröder am eigentlich halte er gar nichts von dieser in der SPD, es muss nichts getan werden. 14. März seine „Agenda 2010“ präsentiert „Art von Personalisierung“. Auch Gernot Die vertritt Ottmar Schreiner perfekt.“ hat, macht der altlinke Bundestagsabge- Grumbach, einflussreicher Bezirkschef in Schröder und Schreiner konnten sich ordnete und Vorsitzende der SPD-Ar- der Linken-Hochburg Hessen-Süd, ist ge- wohl noch nie leiden. Als Jusos lieferten sie beitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen gen den neuen Schreiner-Kult. Wenn sich in den siebziger Jahren heftige Macht- Stimmung dagegen. Vorläufiger Höhe- Grumbach auf den Saarländer angespro- kämpfe. Zweimal wollte der Saarländer punkt der Revoluzzer- chen wird, zitiert er die Juso-Chef werden. Beide Male wurde dies Karriere: sein Auftritt bei Internationale: „Es rettet von dem Niedersachsen vereitelt. 1977 or- der ersten von vier SPD- uns kein höh’res Wesen, ganisierte Schröder für den heutigen SPD- Regionalkonferenzen in kein Gott, kein Kaiser Bundestagsabgeordneten Klaus Uwe Ben- Bonn am Montag voriger noch Tribun.“ neter die Mehrheit. 1978 trat er dann sel- Woche. „Breite Schultern Schreiner selbst gibt ber gegen den Rivalen an und gewann. müssen mehr tragen als sich bescheiden. „Wir ha- Später wurde Schreiner SPD-Bundesge- schmale“, schimpfte er in ben in der SPD-Linken schäftsführer unter Parteichef Lafontaine, den Saal, und die 700 Ge- viele Talente“, sagt er. Ei- dem im April 1999 Schröder nachfolgte. nossen von der Basis ju- nerseits. Andererseits hat Knapp fünf Monate später und nach ver- belten. Schröder saß da- er nichts dagegen, im lorener Wahl im drängte Schröder neben und guckte wie ein Rampenlicht zu stehen. seinen ungeliebten Geschäftsführer aus Ehemann, der zusehen „Inhalte sind wichtig, dem Amt. Seitdem haben die beiden nicht muss, wie seine Frau ge- aber gleichermaßen Per- mehr miteinander gesprochen. rade mit einem anderen sonen, die das kommuni- Der Rauswurf war Schreiners Absturz. durchbrennt. zieren können. Situatio- Zwar behielt er sein Bundestagsmandat Allerdings wird Schrei- nen suchen sich ihre Per- und galt in seiner Heimat wei- ners zweiter Frühling von sonen.“ terhin als große Nummer. Aber in der zahlreichen Mitstreitern Dem Kanzler geht Hauptstadt trat er kaum noch in Erschei-

mit Argwohn verfolgt. HUSCH / TERZ STEFAN Schreiner ziemlich auf die nung. Hin und wieder sah man ihn auf ei- Seit dem plötzlichen Schröder-Gegnerin Ypsilanti Nerven. Meldet sich der nem klapprigen Damenfahrrad mit trauri- Rücktritt ihres Idols „Andrea XY unbekannt“ Aufrührer im SPD-Vor- gem Gesicht durch das Regierungsviertel

38 der spiegel 19/2003 Deutschland strampeln. Im amüsierten sich die Abgeordnetenkollegen darüber, dass Schreiner daheim französische Schlager hört und damit CDU-Chefin Angela Mer- kel nervt. Beide wohnen im selben Haus an der Museumsinsel. Schreiner wolle sich jetzt an Schröder für die Demütigungen der vergangenen 25 Jahre rächen, behaupten einige in der Par- tei. „Das ist kein Rachefeldzug“, sagt Schreiner. Der spätere Fußball-Bundes- trainer Jupp Derwall habe ihm einst bei der B-Jugend im Saarland eine Grundregel beigebracht, an die er sich auch in der Po- litik halte: „Auf dem Platz wird hart ge- spielt. Aber nicht nachgetreten.“ So mancher Linker wünscht sich an Schreiners Stelle einen jüngeren, dynami- schen Ober-Rebellen. Wenn man sich schon einen Anführer ausgucke, dann müs- se der Modernität verbreiten. Schreiner stehe zu sehr für den Flügel der struktur- konservativen Arbeitnehmer und zu wenig für die „Gestaltungslinke“, die neben der sozialen Gerechtigkeit auch auf Themen wie Ökologie und Nachhaltigkeit setzt. Allerdings mangelt es anderen mögli- chen Führungsfiguren entweder an Be- kanntheit oder politischer Erfahrung. So verfügt etwa die Schröder-Gegnerin und neue hessische SPD-Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti, 46, zwar über rhetori- sches Talent. Aber auf der Berliner Bühne ist Ypsilanti kaum präsent – sie gehört we- der dem Parteivorstand noch dem Bun- destag an. Im Willy-Brandt-Haus wird sie nur als „Andrea XY unbekannt“ verspot- tet. Schröder hat ihr einmal die Hand ge- geben, aber nie mit ihr gesprochen. Ein anderes Kaliber wäre Oskar Lafon- taine. Aber auch der ist bei den Linken umstritten, weil sein plötzlicher Rücktritt von allen Ämtern als Fahnenflucht gewer- tet wird. Seine Forderung, beim SPD-Son- derparteitag zur „Agenda 2010“ am 1. Juni genau so viel Redezeit wie Parteichef Schröder zu bekommen, halten viele für überzogen. Der Vorsitzende darf sich als einziger Teilnehmer unbegrenzt am Pult verbreiten und spricht in der Regel min- destens 45 Minuten. Einfache Delegierte und ehemalige Parteichefs erhalten dage- gen nur rund 5 Minuten am Mikrofon. „Jetzt hebt Lafontaine total ab“, mault der linke Juso-Chef . Aufrührer Schreiner bereitet sich nicht nur intensiv auf den Sonderparteitag vor. Nebenbei phantasiert er auch über perso- nelle Veränderungen in der SPD-Spitze. Schreiner schwebt vor, dass beim nächsten regulären Parteitag im November neue Mitglieder in das 13-köpfige Präsidium ein- ziehen – zurzeit sitzen ihm dort zu viele von Schröders Ministern: „Es ist proble- matisch, wenn die engere Parteiführung identisch ist mit der Bundesregierung.“ Ob er selber Ambitionen auf einen Führungsposten hat, sagt Schreiner nicht. Er muss zum Flieger. Roland Nelles der spiegel 19/2003 39