DAS LAND …

… und die Medien

Über den Rückzug ins Regionale

Der Moment, der das politische Selbstver- temperatur und brachte zwei Interpreta- ständnis Nordrhein-Westfalens erschüt- tio nen hervor. Erstens: Kraft habe dem terte, kam in nicht einmal 100 Zeichen wichtigsten SPD-Landesverband vor dem daher. Am 29. November 2013 ging auf anstehenden Mitgliederentscheid über den Mobiltelefonen mehrerer Düsseldor- die Große Koalition ultimativ klargemacht, fer Korrespondenten eine Kurznachricht dass es die von manchen Genossen er- ein; abgesendet von Teilnehmern einer träumte „Alternative Neuwahlen“ mit ihr Sondersitzung der SPD-Landtagsfraktion als Hoffnungsträgerin und Gegenspiele- zum fertig ausgehandelten Koalitionsver- rin von Bundeskanzlerin trag über die Bildung der neuen Bundes- nicht geben werde. Zweitens: Ein Jahr regierung mit der Union. Der erstaunli- nach dem triumphalen Wahlerfolg über che Inhalt der SMS: Ministerpräsidentin CDU-Herausforderer Norbert Röttgen, Hannelore Kraft habe sich vor den ver- dem ein Wahlkampf mit Rückfahrticket sammelten Abgeordneten festgelegt, „nie, nach Berlin verübelt worden war, schien nie als Kanzlerkandidatin antreten“ zu es für die Ministerpräsidentin wieder ein- wollen. mal an der Zeit, ihren Markenkern der Die journalistische Deutungsmaschi- Heimatverbundenheit und Bescheiden- ne erreichte schnell eine erhöhte Betriebs- heit herauszustellen.

65 Nr. 541, November/Dezember 2016, 61. Jahrgang Das Land …

BEDEUTUNGSVERLUST angeblich bürgernahen, problemorientier- NORDRHEIN-WESTFALENS ten Landespolitik und einer anonymen BEIM BUND und entrückten Bundespolitik, mit der man am liebsten nur zu tun haben will, wenn der Bundesfinanzminister mal wie- Was die wenigsten Berichterstatter da- der Geld überweisen soll? Wenn verkleis- mals in der vollen Dimension erfassten: tert wird, dass gerade Nordrhein-Westfa- Dieser 29. November 2013 veränderte len über den Bundesrat und die starken nachhaltig den Blick auf die nordrhein- Landesgruppen in den Bundestagsfrak tio- westfälische Landespolitik – und den nen immer auch Teil der Berliner Macht- journalistischen Umgang mit ihr. maschine ist? Die Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann (Universität Düsseldorf) und Karl-Rudolf Korte (Universität Duisburg- KÜNSTLICHE DISTANZ ) skizzierten jüngst einen fortschrei- ZU BERLIN tenden „Bedeutungsverlust“ des bevölke- rungsreichsten Bundeslandes im politi- schen Gesamtgefüge der Bundesrepublik. Man könnte es sich leicht machen und die „NRW bringt sein Potenzial nicht ein“, Selbstbeschränkung der Landespolitik analysierte von Alemann und zog eine di- klaglos in der Berichterstattung spiegeln. rekte Verbindungslinie der persönlichen Schule, Hochschule, Kindergarten, Poli- bundespolitischen Ambitionen der Minis- zei – an publikumsnahen Themen herrscht terpräsidenten. war Kanz- auch im engeren Wirkungskreis der Lan- lerkandidat der SPD und legte Wert auf despolitik kein Mangel. Viele Sender und die Wahrnehmung, er begegne Bundes- Verlage in Nordrhein-Westfalen schenken kanzler Helmut Kohl auf Augenhöhe. der Arbeit ihrer Düsseldorfer Korrespon- und Peer Steinbrück denten sogar eine immer größere Beach- zog es später selbst ins Bundeskabinett. tung. Die landespolitische Berichterstat- Jürgen Rüttgers wechselte von dort in die tung ist zu einem journalistisch recht ex- Landespolitik und ließ keinen Zweifel, klusiven Bindeglied geworden zwischen dass er von Düsseldorf aus die Bundes- bundespolitischen Themen, die täglich politik mitgestaltete. Kraft habe dagegen Internetportale und Soziale Medien flu- keinen Bundesbezug und verzichte „auf ten, und Lokalnachrichten, die sich natur- einen größeren Wirkungsanspruch“, so gemäß an einen engen Interessentenkreis von Alemann. richten. Die großen Medienhäuser in Dieses Rollenverständnis zwingt auch NRW vernetzen ihre Landesbüros zwar die landespolitischen Berichterstatter zu zunehmend in kostengünstigeren Koope- einer neuen Standortbestimmung. Wie rationen, die Mitgliederzahl der Landes- sollen Journalisten damit umgehen, wenn pressekonferenz liegt jedoch seit Jahren die Regierungschefin laufend mitteilt, ihr stabil bei über 120 Journalisten. behage die Art nicht, „wie in Berlin Politik Die Korrespondenten in NRW sind gemacht wird“? Wenn immerzu ein Ge- einen anderen Weg gegangen. Sie forder- gensatz ausgeleuchtet wird zwischen der ten Ministerpräsidentin Kraft im Frühjahr

66 Die Politische Meinung … und die Medien, Tobias Blasius

2015 auf, sich mindestens einmal im Mo- bürgerfeindlichen Bürokratie diffamiere, nat in einer Pressekonferenz zu allen ak- dürfe sich über schwindendes Vertrauen tuellen und interessierenden Fragen zu in das Projekt Europa nicht wundern. äußern. Nach einem öffentlich ausgetra- Ähnliches zeichnet sich im Zusammen- genen Konflikt mit der Staatskanzlei er- spiel von Bund und Ländern auf kleinerer reichte die Landespressekonferenz immer- Bühne ab: Bundespolitische Beachtung hin, dass sich die Ministerpräsidentin seit suchen viele Länderchefs nur noch in den 2016 fünfmal pro Jahr zu allen Themen Minuten nach der ersten Wahlabendprog- äußern muss. Das ist nicht nur für die nose, die übrigen Jahre der Legislatur- journalistische Arbeit wichtig, sondern perio de geht man bewusst auf Abstand durchaus demokratierelevant. zur Hauptstadt. In Düsseldorf wird dieser Schon länger verfestigt sich der Ein- Rückzug ins Regionale mit der größten druck, die Öffentlichkeitsarbeit vieler Konsequenz vollzogen – und gerade hier Landesregierungen erschöpfe sich in pro- wirkt das wegen Größe und Möglichkei- vinziell anmutender Terminroutine mit ten des Bundeslandes besonders befremd- schönen Bildern und harmlosen Bürger- lich. Diesen Widerspruch immer wieder begegnungen. Die Verbindungslinien zu deutlich zu machen, gehört zu den neuen brennenden Fragen der Bundespolitik He raus forderungen der landespolitischen werden dabei bewusst verwischt. Es ge- Berichterstattung. hört zum strategischen Kalkül vieler Lan- Die nordrhein-westfälische Landesre- desmütter und -väter, sich als bürgernahe gierung hat vor geraumer Zeit mit großem Kümmerer zu inszenieren und eine künst- Aufwand eine „Väter-Kampagne“ gestar- liche Distanz zu „denen da oben“ in Ber- tet, die den Familiensinn von Männern lin aufzubauen. Es verspricht Popularität, steigern soll. „Vater ist, was Du draus Berliner Rituale und „Scheindebatten“ zu machst!“ prangt in übergroßen Lettern in kritisieren, wie es Ministerpräsidentin den Hochhausfenstern des Familienmi- Kraft gern tut. Dass es eigentlich das ge- nisteriums direkt am Rhein. Als Journa- fährliche Mittel der Populisten ist, sich list wünschte man sich in der nahe gelege- über Routinen „der“ Politik zu erheben, nen gläsernen Staatskanzlei die Erinne- wird gern übersehen. rung: „Ministerpräsident ist, was Du draus machst!“

ABGEHOBEN, MACHTHUNGRIG, Tobias Blasius MEDIENGEIL Geboren 1974 in Essen, Landeskorrespondent der Funke-Mediengruppe NRW, Vorsitzender der Landespressekonferenz Nordrhein-Westfalen e. V.

Viele Landespolitiker stempeln Berlin zum neuen Brüssel. Abgehoben, machthungrig, mediengeil. Der Präsident des Europa- parlaments, , hat schon vor zehn Jahren die nationalen Regierungen gewarnt: Wer immerzu die Institutionen der Europäischen Union als Hort einer

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