1 2 Endstation Sylt

3 4 Für Stephanie

5 6 Bodo Manstein

Endstation Sylt

Roman

7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Impressum

Copyright: © 2015 Bodo Manstein

Bodo Manstein 24211 Preetz bodomanstein.jimdo.com

Lektorat: Michaela Retetzki

Umschlagfoto: Photography by Daniel Manstein

Alle Rechte vorbehalten.

8 9 Der Weg

Prolog 1976 Die Verführung 1977 Der Karrierebeginn 1978 Die erste letzte Zigarette 1979 Einmal ist keinmal 1980 Macht der Gewohnheit 1981 Sport ist Mord 1982 Ein neuer Lebensabschnitt 1983 Wochenendbeziehung 1984 Seefahrt 1985 Die zweite letzte Zigarette 1986 Die dritte letzte Zigarette 1987 Herzschmerz 1988 Single 1989 Die Wende 1990 Wieder zu Hause 1991 Ein ganz normales Leben 1992 Die vierte letzte Zigarette 1993 Die fünfte letzte Zigarette 1994 Familienzuwachs 1995 Auf Ötzis Spuren 1996 Gesichter Sylts 1997 Dicke und dünne Lebensfäden 1998 Null Promille 1999 Die Befreiung

10 Epilog

11 12 Prolog

1970 Paul McCartney verkündet die Tren- nung der Beatles, während Mungo Jerry sein Debüt gleich mit einem ewigen Sommerhit startet. In the sum- mertime. Apollo 13 meldet aus dem Weltraum 'Houston, wir haben ein Problem!' und sorgt damit ein Vierteljahrhundert später für volle Kinokassen. In Warschau fällt Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal der Helden des Ghettos auf die Knie und setzt mit dieser Geste ein Zeichen für eine neue Ostpolitik. Noch vor Ende der Saison verliert die Formel 1 ihren diesjährigen Weltmeister, als Jochen Rindt in Monza tödlich verunglückt. Mit Jimi Hendrix und Janis Joplin folgen zwei Woodstock-Legenden ebenfalls der Stairway to heaven. Nun ist Brian Jones nicht mehr alleine im Klub 27.

* * * Weit weg von alledem, in einer kleinen Ortschaft im Bergischen Land, lebte der achtjährige Stephan zusammen mit seinen Eltern und seinem ein Jahr jüngeren Bruder Oscar. In einem überschaubaren Mikrokosmos, bestehend aus fünf Häusern, ungefähr noch einmal so vielen Scheunen sowie Felder, Wiesen und Wälder, verbrachte Stephan eine unbeschwerte Kindheit. Wie alle Kinder in seinem Alter spielte er mit Vorliebe Verstecken, Cowboy-und-Indianer und

13 Fußball. Da seine Schulfreunde jedoch weit verstreut in den umliegenden Nachbardörfern wohnten, waren sie nur schwer zu erreichen. Also verbrachte er den größten Teil seiner Zeit mit den älteren Nachbarskindern. Stephan half ihnen auf den Höfen der Eltern bei der Erledigung ihrer täglichen Pflichten. Sie trieben die Kühe auf die Wiesen, ernteten Kartoffeln und fütterten das Vieh. Dies tat er nicht nur, um mehr Zeit zum Spielen zu gewinnen, sondern weil viele der Arbeiten deutlich aufregender und kurzweiliger waren als das beste Versteckspiel. Und so ließ sich Stephan auch nicht zweimal bitten, wenn zum Beispiel Ernst vom Schulte-Hof mit dem Trecker aufs Feld hinaus musste. Stephan wusste ganz genau, dass er auch einmal den großen Trecker fahren durfte, sobald sie außer Sichtweite des Bauern waren. Nach getaner Arbeit stiegen sie regelmäßig auf die Heuböden der Scheunen, wo sie zu den Dachbalken hinaufkletterten. Von dort schwangen sie an einem Seil wie Tarzan von einem Balken zum anderen und ließen sich anschließend in das weiche Heu fallen. Stephans Bruder Oscar hatte für derartige Vergnügungen nicht viel übrig. Schon sehr früh in seinem Leben hatte er sich kompromisslos der Bequemlichkeit und dem Stubenhockerdasein verschrieben. Aus diesem Grund eignete er sich auch nur sehr bedingt zum Spielkameraden. Wenn Stephan genauer darüber nachdachte, war Oscar eigentlich nur die absolut letzte Alternative bei Schlechtwetter und gleichzeitigem Ausfall aller anderen Spieloptionen.

14 Stephans Vater war als Innenarchitekt einer Ladenbaufirma viel unterwegs. Die kurze Zeit am Abend und an den Wochenenden saß er zudem für gewöhnlich bis spät in die Nacht in seinem Arbeitszimmer. Dort zeichnete er an Grundrissen und Entwürfen für die Einrichtungen von Drogerien, Bäckereien oder Einzelhandelsgeschäften. Wie so viele andere Väter strebte auch er nach den eigenen vier Wänden, die allerdings erst einmal finanziert werden mussten. Auch Stephans Mutter hatte Innenarchitektur studiert, war aber jetzt 'nur' noch Hausfrau. Tagaus und tagein saß sie mit zwei kleinen Kindern an diesem ja so idyllischen Ort. Hier, wo sich nicht einmal Hase und Igel Gute Nacht sagten, war der wöchentliche Besuch des fahrenden Lebensmittelhändlers die einzige Abwechslung. Früher, als sie noch in Leverkusen gewohnt hatten, war sie wenigstens auch mal unter Leute gekommen oder hatte einfach einen Schaufensterbummel machen können. Aber hier ... Die einzige Möglichkeit, die Verbindung zur Außenwelt einigermaßen aufrechtzuerhalten, war das Telefon. Stephans Eltern besaßen eines im modischen Orange der 70er Jahre. Es stand in der sogenannten Telefonecke, die sich aufgrund der Kürze des Telefonkabels in der Regel in unmittelbarer Nähe der Telefondose befand. Diese fand sich wiederum dort, wo die Post sie angebracht hatte und das war meistens nicht die Stelle, an der man das Telefon gerne stehen gehabt hätte.

15 Mangels einer preisregulierenden Konkurrenz ließ sich die Post ihre Leistungen gut bezahlen. Aus diesem Grund beschränkten sich Telefonate auf das absolut notwendige Mindestmaß, das galt natürlich ganz besonders für Stephan und Oscar. Damit die beiden der Post nicht zu unerklärlichem Reichtum verhelfen konnten, war das Telefon mit einem kleinen Schloss gesichert, das so in dem zweiten und dritten Loch der Wählscheibe angebracht war, dass sich nur die 112 wählen ließ. Die große Welt erreichte das kleine Dörfchen nur abends, wenn nach dem Abendbrot die Tagesschau vom Krieg in Vietnam und den Anschlägen der RAF berichtete.

Im Nachbarhaus, keine zwanzig Meter entfernt, wohnten zwei ältere Schwestern, die einen kleinen Hühnerhof bewirtschafteten. Der Hinterhof von Maria und Marthas Haus fand immer dann Stephans besonderes Interesse, wenn dort geschlachtet wurde. Sorgfältig klaubte er sich dann aus den Schlachtabfällen die Hühnerfüße heraus, bei denen die Beugesehne noch aus dem Stumpf hing. Fehlte die Sehne, war der Fuß für seine Zwecke ungeeignet. Zog man nämlich an ihr, schlossen sich die Hühnerkrallen. Löste man den Zug wieder, entspannte sich auch der Fuß. Mit diesen kleinen Gruselhändchen ausgestattet, wurden Stephan und seine Schulfreunde am nächsten Tag im wahrsten Sinne des Wortes zum Brüller bei den

16 Mädchen der Grundschule in Thier. – Leider auch anschließend bei den Lehrern und zu Hause bei ihren Eltern. Bei schlechtem Wetter stellte Stephan meistens den Familienplattenspieler auf, um der Langeweile zu entgehen. Dieser rangierte sogar noch vor Oscar, der wirklich die allerletzte Alternative blieb. Dicht hockend vor dem Lautsprecher, der gleichzeitig auch der Deckel des transportablen Plattenspielers war, lauschte er besonders gerne dem Soundtrack des Musicals 'Hair'. Doch auch die Abenteuer von Klaus Störtebeker und Lederstrumpf kamen nicht zu kurz. Im Laufe der Zeit nahm dann das Programmangebot im Fernsehen mehr und mehr Gestalt an und bot, trotz der überschaubaren drei Programmplätze, eine ganz neue und andere Form der Freizeitgestaltung. Obwohl das Zeitfenster, das für Kindersendungen vorgesehen war, im Gegensatz zu heute noch erheblich kleiner war, tat das dem Erfolg dieser sogenannten Kinderstunde keinen Abbruch. Fernsehserien wie 'Die Leute von der Shilo-Ranch', 'Pan-Tau', 'Flipper' oder 'Lassie' entwickelten sich rasend schnell zu Blockbustern im Kinder- und Jugendbereich der damaligen Fernsehkultur.

Geraucht wurde zu jener Zeit alles und überall. Die Flower-Power-Ära wäre ohne Zigaretten genauso undenkbar gewesen wie verrauchte Hafenkneipen in Edgar-Wallace-Filmen oder debattierende Journalisten

17 in Werner Höfers 'Internationaler Frühschoppen'. Die Deutsche Bundesbahn verfügte noch über eine stattliche Zahl an Raucherabteilen und auch in Reisebussen befand sich an jedem Sitzplatz ein Aschenbecher. War man mit dem Flugzeug unterwegs, erfolgte bei Start und Landung der Hinweis: »Bitte schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein!« In den miefigen Amtsstuben deutscher Behörden standen Gummibäume in einem durch Nikotin vergilbten Ambiente, in das sich der Beamte im mausgrauen Anzug nahtlos einfügte. Wo heute Helmut Schmidt für Aufsehen sorgt, war früher die qualmende Zigarette, Zigarre oder Pfeife in der Hand eines gewählten Volksvertreters ein normales und vertrautes Bild. Rauchwaren waren derart omnipräsent, dass man besser beraten war, gleich zu Fuß zu gehen, bevor man versuchte, ein Nichtrauchertaxi zu bekommen. Trotz allem lebten Raucher und Nichtraucher in einem scheinbar friedlichen und harmonischen Miteinander. Auch in Stephans Familie wurde geraucht. Zwar hatte sein Vater das Rauchen bereits vor vielen Jahren aufgegeben, doch seine Mutter blieb ihrer HB treu. Stephan konnte damit gut leben, war sie doch die Ruhe in Person, was zweifellos daran lag, dass sie eben HB rauchte. Schließlich bewies das in die Luft gehende HB-Männchen doch täglich in der Fernsehwerbung, was passieren konnte, wenn man nicht zu genau dieser Marke griff.

18 Zu dem Haus, das Stephans Eltern gemietet hatten, gehörte auch eine Scheune, auf deren Heuboden ihr Vermieter einen Teil seiner Strohballen lagerte. Hier bauten sich Stephan und seine Freunde kleine Verstecke und Forts für ihr Cowboy-und-Indianer- Spiel. Nur ganz selten verirrte sich mal ein Erwachsener dorthin, sodass die Scheune einen idealen und sicheren Rückzugsort für die Kinder darstellte. Aus diesem Grund war es auch nicht weiter verwunderlich, dass Stephan genau hier das erste Mal eine Zigarette rauchte. Eigentlich war dieser sonnige Oktobernachmittag ein Tag wie jeder andere, wenn Stephan nur nicht unter einer extremen Form von Langeweile gelitten hätte. Er wusste so gut wie gar nichts mit sich anzufangen. Alle Freunde waren anderweitig gebunden und selbst sein Notnagel Oscar war nicht aus seinem Mittagsschlaf erweckbar. So schlenderte Stephan auf der Suche nach Beschäftigung durch das ansonsten leere Haus. Sein Vater war, wie so oft, bei der Arbeit und seine Mutter hatte sich mit der Ankündigung: »Ich gehe nur mal eben kurz zu Maria und Martha!« in Richtung der beiden Nachbarinnen begeben. 'Nur 'mal eben' hieß bei diesen Besuchen in der Regel, dass innerhalb der nächsten zwei Stunden nicht mit ihrer Rückkehr zu rechnen war. Stephans Weg führte ihn in die Küche. Vielleicht fiel

19 ihm ja bei einem Glas Limonade noch etwas ein, womit er sich die Zeit vertreiben könnte. Noch bevor er den Kühlschrank erreichte, fiel sein Blick tatsächlich auf etwas, das sofort sein Interesse weckte: eine Schachtel Zigaretten. Seine Mutter musste sie hier vergessen haben, denn normalerweise ging sie nie ohne Zigaretten aus dem Haus. Stephan betrachtete seinen Fund. Etwas Verbotenes zu tun, war genau der Reiz, nach dem er gesucht hatte. Vorsichtig und dabei auf der Hut, nicht überrascht zu werden, öffnete er die Schachtel. Ein angenehmer Geruch frischen Tabaks stieg ihm in die Nase und auf einmal nahm das Bild von dem, was er gegen seine Langeweile unternehmen konnte, Konturen an. In der Schachtel fehlten bereits einige Zigaretten, aber waren es immer noch genug, um das Fehlen einer weiteren unbemerkt zu lassen? Stephan nahm eine Zigarette heraus, steckte sie wieder in die Schachtel, holte sie erneut vor und verglich das Ergebnis. – Perfekt! Niemals würde seine Mutter das Fehlen einer Zigarette bemerken. Zufrieden und voller Vorfreude steckte er die Zigarette vorsichtig in seinen rechten Strumpf. Wie er fand, war dies nicht nur ein ideales, sondern auch ein todsicheres Transportversteck. Stephan verließ das Haus und schlich zur benachbarten Scheune, dem ehemaligen Schweinestall. Hier befand sich hinter einem losen Stein sein Geheimfach, in dem er seine kleinen Schätze vor Oscars Zugriff verbarg. Zu den Kostbarkeiten gehörten

20 ein paar mühsam zusammenstibitzte Streichhölzer, die er jetzt für sein Vorhaben benötigte. Noch einmal warf er einen kurzen Blick aus dem verstaubten Stallfenster, doch weit und breit war niemand zu sehen. Sichtlich beruhigt führte er nun, als ob er einem alten Ritual folgen würde, die Zigarette einer Friedenspfeife gleich zu seinem Mund. Sorgsam strich er ein Zündholz an und hielt die Flamme an die Zigarettenspitze. Anschließend machte er genau das, was er schon so oft bei seiner Mutter beobachtet hatte: Er nahm einen kräftigen Zug. Im gleichen Moment weiteten sich seine Augen und es schien ihm, als ob sein Innerstes zu explodieren drohte! Beißender Rauch war in seine Lungen geströmt und entlud sich nun in einer wilden Hustenattacke. Oh, Mann!, dachte er. Bei Mutti sieht das aber immer anders aus! Stephan holte tief Luft und merkte, wie der Hustenreiz langsam nachließ. Er hielt die Zigarette hoch und betrachtete sie prüfend, diesmal jedoch mit einer gehörigen Portion Respekt. Soll ich einen zweiten Versuch wagen?, fragte er sich. Vielleicht habe ich ja nur zu stark gezogen.

Im Grunde sprachen seine vom Husten noch immer schmerzenden Lungen eine eindeutige Sprache, doch letztlich überwog die Neugier. Er spitzte erneut die Lippen und zog diesmal deutlich vorsichtiger an der Zigarette. Um ganz sicher zu gehen, ließ er den Rauch nicht in seine Lungen, sondern behielt ihn im Mund.

21 Stephan ähnelte ein wenig einem Frosch, wie er dort hinter der Stallwand hockte und mit aufgeblähten Wangen versuchte, den beißenden Qualm nicht in seine Lungen gelangen zu lassen. Zu seiner Freude passierte nichts, außer dass sich nach einigen Sekunden ein Atemreiz bemerkbar machte und sein Körper nach Sauerstoff verlangte. Hastig blies er den Rauch durch die immer noch gespitzten Lippen aus. Gerade noch rechtzeitig, bevor er wieder tief Luft holen musste. »Na, das ging ja schon sehr viel besser«, sagte er leise zu sich selbst und fühlte sich auf einmal wie ein ganz Großer. Dadurch ermutigt nahm er sogleich den nächsten Zug. Leider nicht mit der gebotenen Vorsicht, wie er voller Schrecken bemerkte, als erneut Rauch in seine Lungen gelangte. Doch da war es schon zu spät. Ein noch heftigerer Hustenanfall als beim ersten Mal schüttelte seinen Körper. Sichtlich ernüchtert warf er die Zigarette enttäuscht auf den Boden und trat sie aus. Nun bemerkte er auch noch so ein flaues Gefühl in der Magengegend. Irgendwie musste er jetzt ganz schnell zur Toilette. Hastig ließ Stephan die Spuren seines Misserfolgs in einem hohen Brennnesselgebüsch hinter der Scheune verschwinden und stürmte ins Haus. Was findet Mutti nur an diesem Zeug?, fragte er sich, als er tief nach vorne gebeugt auf der Toilette saß. Er fühlte sich jedenfalls alles andere als gut und entspannt. »Nie wieder«, sagte er leise, aber bestimmt und

22 ahnte jedoch nicht, dass dies nicht der letzte gute Vorsatz zu diesem Thema bleiben würde.

23 24 Die Verführung

1976 Das Discofieber beherrscht die Charts. Penny McLean lässt mit ihrem Hit Lady Bump die Hüften beben und erzeugt so manchen blauen Fleck. Elton John und Kiki Dee wünschen sich Don't go breaking my heart und Jonny Wakelin widmet einem legendären Boxkampf seinen Song In Zaire. Einen Ohrwurm der besonderen Art kreiert derweil Jürgen Drews, indem er sich und einer unbekannten Schönen ein Bett im Kornfeld baut. Mit diesem Lied avanciert er viele Jahre später zum König von Mallorca. Mamma Mia! ABBA landen einen Hit nach dem anderen und performen ihre Dancing Queen erstmals anlässlich einer Märchenhochzeit: Eine deutsche Hostess der Olympischen Sommerspiele von 1972, die 28-jährige Silvia Sommerlath, wird Frau des schwedischen Königs Carl XVI. Gustav. – Wir sind Königin! Montreal ist in diesem Jahr Austragungsort der Olympischen Spiele. Doch die Erinnerung an die schwarzen Tage von München '72 wiegt noch schwer in den Herzen der Welt. Nach der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft von 1974 denkt sich Uli Hoeneß: Was genug ist, ist genug. Er semmelt einen Elfmeter über das tschechische Tor und schießt damit Deutschland zum Vizeeuropameister. In der Formel 1 entkommt Niki Lauda auf dem

25 Nürburgring nur knapp und mit schwersten Verbrennungen der Hölle seines brennenden Boliden. Nicht Lauda, aber Laura. Laura Ingalls ist es nämlich, die mit fliegenden Zöpfen, dem Ruf der Schulglocke folgend, von der kleinen Farm ihrer Eltern nach Walnut Grove läuft. Im Fernsehen zieht sie damit Groß und Klein in ihren Bann.

* * *

Stephans Familie hatte inzwischen die kleine ländliche Einöde verlassen und wohnte seit Kurzem einige Kilometer entfernt in einer großen Gemeinde mit Kirchen, Schulen, Gastwirtschaften und Geschäften. Stephans Vater hatte es endlich geschafft und sich den Traum vom Eigenheim verwirklichen können. In Lindlar fand Stephan nun nicht nur endlich Ruhe in seinem eigenen Zimmer, sondern auch schnell neue Freunde. Die Nachbarschaft wimmelte nur so von fußballbegeisterten Kindern. Und während sich Oscar zu Hause dem Sammeln und Lesen von Comics widmete, zog es Stephan nach draußen. Ganz in der Nähe, etwas abgelegen in einem Wald, befand sich die Lindlarer Jugendherberge, zu der auch ein geteerter Bolzplatz mit zwei Toren gehörte. Hier trafen sich die Kinder, um Fußball zu spielen.

In den Sommerferien ging es wie jedes Jahr auch diesmal wieder nach Baltrum. Dort, auf der kleinsten

26 ostfriesischen Insel, besaß Stephans Oma ein Haus, in dem sie mit ihrem 96-jährigem Vater den Sommer verbrachte. Trotz seines hohen Alters war Uropa noch gut unterwegs. Täglich unternahm er seinen gewohnten Abendspaziergang. Leicht nach vorn gebeugt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlurfte er mit kurzen Schritten voran, während er gleichzeitig eine dicke Zigarre paffte. Irgendwie erinnerte er Stephan dabei an eine kleine Dampflokomotive. In ein paar Jahren würde er seinen Uropa als Beweis anführen, wenn es darum ging, die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens zu relativieren. Merkwürdigerweise fand sich in jeder Familie, in der geraucht wurde, so ein Beispiel dafür, dass man trotz Rauchens steinalt werden konnte. Doch noch war Uropa für die beiden Jungs lediglich Zeitzeuge und wandelnde Geschichte in einem. Wenn er damit begann, aus seinem Leben zu erzählen, herrschte regelmäßig gespannte Stille. Bereits mit sechsunddreißig Jahren diente er im Ersten Weltkrieg bei der Kavallerie. Für Stephan war das fast schon ein biblisches Alter, immerhin war ihr Vater auch so alt. Die Kavallerie kannte Stephan nur aus den Western im Fernsehen: Gerade noch rechtzeitig, wenn man es vor Spannung kaum noch aushalten konnte und grundsätzlich in letzter Minute, ertönte das erlösende Trompetensignal. Die Blauröcke kamen angaloppiert, die Indianer gaben Fersengeld und die eingekreisten

27 Siedler verschossen jubelnd ihre letzte Munition. Zu Hause verwahrte Stephan noch viele kleine Plastikfiguren in seiner Spielkiste, mit denen er früher diese dramatischen Szenen nachgespielt hatte. Uropa war aufrecht aus dem Ersten Weltkrieg geritten und überlebte sowohl den letzten deutschen Kaiser als auch die erste deutsche Republik. Bereits im Rentenalter erlebte er, wie sich ein offensichtlich wahnsinniger Österreicher mit seiner angetrauten Eva in Berlin in Rauch auflöste und die Welt endlich wieder aufatmen konnte. Zu dieser Zeit blickte Uropa auf ein Leben zurück, das von epochalen Entwicklungen nur so wimmelte: Licht war jetzt elektrisch, Häuser besaßen fließendes Wasser, Pferdefuhrwerke waren nach und nach durch Autos ersetzt worden und der Traum vom Fliegen hatte sich erfüllt. Tagesaktuell gab es nun Nachrichten aus einem eckigen Kasten, der Radio hieß und in der Medizin wurden mit der Entdeckung von Röntgenstrahlen und Antibiotika Meilensteine gesetzt. Dem Radio folgte das Fernsehen und in dem konnte Uropa dann sogar live noch gleich das nächste Jahrhundertereignis mitverfolgen: Der erste Mensch betrat den Mond! Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit!

Die Menschheit in Deutschland kämpfte zwischenzeitlich mit einem Hitzesommer, der erst siebenundzwanzig Jahre später getoppt werden sollte.

28 Für die vier Urlauber aus Lindlar hätte es nicht besser kommen können und so genoss man die Zeit am heißen Nordseestrand. Sogar Oscar hatte für diese Zeit sein Stubenhockerdasein unterbrochen und suchte ebenfalls die erfrischenden Abkühlungen im Meer. Nach drei Wochen hatte aber auch dieser Traumurlaub ein Ende. Und auch wenn für Stephans Eltern der Urlaub nun vorüber war, hatte er noch einen großen Teil der Ferien vor sich. Kaum zu Hause angekommen gab es für ihn dann auch kein Halten mehr. Noch bevor seine Eltern den ersten Koffer ausgepackt hatten und Oscar in seinem Zimmer verschwunden war, hatte Stephan sich bereits auf dem Weg zu seinem besten Freund Bernd gemacht. Er musste unbedingt wissen, was sich während seiner dreiwöchigen Abwesenheit in Lindlar ereignet hatte. Stephan rannte den Berg hinab, und als er in die Straße einbog, in der sein Freund wohnte, sah er Bernd, als dieser gerade das Haus verließ.

»Hallo, Bernd!«, rief Stephan. »Hey, ihr seid ja wieder da!«, sagte Bernd und sah ihn freudestrahlend an. »Das passt ja prima.« Er klopfte auf den Schlafsack unter seinem Arm. »Michael und ich wollen die nächsten Tage zelten.« Bernd wies in Richtung der Wiese auf der anderen Straßenseite, wo bereits ein großes gelbes Viermannzelt fertig aufgebaut stand. »Willst du nicht mitmachen?« »Natürlich, wenn ihr noch Platz habt!«

29 »Hallo! – Ist das vielleicht ein Viermannzelt?!« »Okay, ich bin dabei«, sagte Stephan mit einem breiten Grinsen. Genau so konnten die Ferien weitergehen.

»Michael und Bernd wollen zelten«, rief Stephan, noch bevor er ganz durch die Haustür war. »Darf ich auch?« Restlos außer Atem stand er vor seiner Mutter und sah sie mit dem treuen Hundeblick eines fast vierzehnjährigen Teenagers an. »Aber Kind, wir sind doch gerade erst zurückgekommen! Meinst du nicht ...« »Ach bitte, Mutti! Es ist doch so schönes Wetter und wir haben schließlich noch Ferien.« Stephans Mutter lächelte milde. »Also gut«, sagte sie. »Meinetwegen. Aber macht keinen Unsinn!« Den letzten Satz hörte Stephan schon nicht mehr. Längst war er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufgesprungen und in seinem Zimmer verschwunden. Dort packte er eilig ein paar Sachen zusammen und stopfte sie in seine Sporttasche. Er fegte die Treppe hinunter, warf seiner Mutter im Vorbeigehen noch ein kurzes »Tschüss, Mutti!« zu, bevor die Haustür auch schon hinter ihm zuschlug. Gut, dass das Zelt schon steht, dachte er auf dem Weg zu Bernd. Ein Viermannzelt hatte zur damaligen Zeit wirklich enorme Ausmaße und war mit Innen- und Außenzelt alles andere als schnell und leicht

30 aufzustellen. Dazu benötigte man neben einer gewissen Erfahrung auch eine Vielzahl von helfenden Händen. Ansonsten konnte es leicht passieren, dass der Aufbau eines so großen Zeltes zu einer ebenso großen Herausforderung wurde. Hiervon legte auch das HB-Männchen im Fernsehen regelmäßig Zeugnis ab. In ihrem kleinen Ferienlager hatten sich die drei schnell eingerichtet. Jetzt hockten sie gemütlich im Eingangsbereich des Zeltes, in dem sich der angenehm warme Abendwind fing. Sie bequatschten gerade aufgeregt ihre bisherigen Ferienerlebnisse, als Bernd ganz beiläufig, als sei es das Normalste von der Welt, einen Tabakbeutel aus der Hosentasche zog. Stephan war platt. – Seit wann rauchte Bernd? »Möchtest du auch?«, fragte Bernd und hielt ihm den geöffneten Beutel entgegen. Bei Stephan klingelten plötzlich alle Alarmglocken. »Lass das bloß sein!«, rief eine innere Stimme aus irgendeiner Ecke seines Unterbewusstseins, wo offenbar noch seine ersten Raucherfahrungen gespeichert waren. »Nein, danke, lieber nicht!«, sagte er und schob den Tabaksbeutel mit einer abwehrenden Geste zurück. »Du traust dich wohl nicht?« Michael sah ihn mit einem breiten Grinsen an, während er mit einer wichtigen Geste die Zigarette nahm, die Bernd ihm hinhielt. »Natürlich traue ich mich«, sagte Stephan. »Schließlich habe ich schon mal geraucht!«

31 Mit festem Blick sah er dabei Michael in die Augen und war insgeheim froh, dass Zelte keine Balken hatten. Bernd drehte bereits die nächste Zigarette und Stephan staunte, wie behände er aus einem Stück Papier und etwas Tabak eine Zigarette rollen konnte. Das Blättchen zwischen dem linken Daumen, Zeige- und Mittelfinger haltend, portionierte er mit der anderen Hand den Tabak im Beutel, bevor er ihn auf das Blättchen legte. Dort verteilte er ihn gleichmäßig mit den Zeigefingern und rollte anschließend das Blättchen ein paar Mal hin und her. Zum Schluss fuhr Bernds Zunge über den gummierten Streifen, dann rollte er die Zigarette zu Ende und schob sie sich lässig in den Mundwinkel. Was war nur in den drei Wochen, in denen er auf Baltrum war, alles passiert? Vor seiner Abfahrt war Rauchen jedenfalls kein Thema für sie gewesen und jetzt beherrschte sein Freund das Zigarettendrehen, als ob er noch nie etwas anderes gemacht hätte. »Na, was ist nun?«, fragte Michael, während er seine Zigarette anzündete. »Ich denke, du hast schon mal geraucht?« »Natürlich«, sagte Stephan und fügte mit dem Brustton der Überzeugung an: »Ich dreh' mir meine aber selber.« »Na dann, hier«, sagte Bernd und hielt Stephan seinen Tabaksbeutel hin. Zögernd nahm er den Beutel und blickte nun doch leicht verunsichert in die Runde, schließlich hatte er ja noch nie eine Zigarette gedreht.

32 Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Stephan zupfte ein Blättchen aus der Packung, portionierte den Tabak, wie er es eben bei Bernd gesehen hatte, und verteilte den Tabak auf dem Blättchen. Klappt doch prima, dachte er und rollte die Zigarette zwischen den Fingern. Dabei schielte er gelegentlich zu Michael und stellte mit Genugtuung fest, dass dieser ihn staunend beobachtete. Voller Zuversicht begab sich Stephan nun daran, das Blättchen einzurollen, doch so sehr er sich auch bemühte, es wollte einfach nicht klappen. Schließlich passierte das Unvermeidliche: Das Blättchen zerriss in der Mitte. Bernd lachte, und Michael lachte auch. Warum lacht eigentlich Michael?, dachte Stephan ärgerlich. Der hat doch seine Zigarette auch nicht selbst gedreht. Bestimmt konnte er das auch gar nicht. »Ist mir auch am Anfang passiert«, sagte Bernd und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Probier es noch mal!« Stephan nickte unsicher. Doch ein Blick zu Michael, der ihn von oben herab angrinste, weckte all seinen Ehrgeiz. Und mit leichten Hilfestellungen von Bernd schaffte er es tatsächlich, seine erste Zigarette zu drehen. Stolz betrachtete er sie von allen Seiten und war mit dem Ergebnis durchaus zufrieden. »Jetzt musst du sie aber auch rauchen!«, rief Michael sofort. Stephan zögerte. Wieder war da die mahnende Stimme in seinem Kopf.

33 »Los!«, rief Michael und hielt ihm Bernds Feuerzeug hin. »Oder hast du Angst, in die Hose zu machen?« Stephan schluckte. Natürlich hatte er Angst. Plötzlich erinnerte er sich wieder, wie er damals auf der Toilette dem Rauchen abgeschworen hatte. »Blödsinn« war allerdings dann das, was über seine Lippen kam. Irgendwie musste er das jetzt überstehen und Michael beweisen, dass er nicht gelogen hatte. Und so beugte sich Stephan der Verführung. Langsam hob er das Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an. Tunlichst darauf bedacht, ja keinen Rauch in seine Lungen kommen zu lassen, paffte er die ersten Züge schnell hintereinander weg. - Lebenserfahrung zahlt sich eben aus. »Was ist das denn?«, fragte Michael und sah ihn ungläubig an. »Du rauchst ja wie ein Mädchen! Du musst auf Lunge! So, hier!« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch anschließend demonstrativ langsam wieder aus. Wie ein Mädchen?, dachte Stephan. Lauf doch mal eben zu meiner Mutter, die zeigt dir dann, wie ein Mädchen raucht. Er blickte Hilfe suchend zu Bernd, doch von dort erhielt er keine Unterstützung. Ganz im Gegenteil, wie eben sein Cousin, nahm auch Bernd jetzt einen tiefen Lungenzug, hielt die Luft an, ganz ohne Froschbacken zu machen, und blies sie anschließend mit einem genüsslichen Seufzer aus. Bernd war ein Jahr älter als Stephan und kam nach den Ferien schon in die Untertertia. Das verlieh ihm genau die Art natürlicher Autorität, der Stephan in

34 diesem Moment hilflos ausgeliefert war, wollte er nicht als Weichei vor Michael dastehen. Er gab sich einen Ruck und nahm den zweiten Lungenzug seines Lebens. Zu seiner Überraschung blieb der erwartete Hustenanfall aus. Verwundert betrachte Stephan die Zigarette und zog erneut daran. Dabei bemerkte er, wie schwer es war, überhaupt Rauch in die Lungen zu bekommen. Irgendwie hatte er das von seinem ersten Rauchversuch anders in Erinnerung. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass durch seine ungeschickten Drehversuche der Tabak derart fest zusammengedrückt worden war, dass nur wenig Luft durch die Zigarette gesogen werden konnte. Stephan fühlte sich cool und auf einmal so richtig schön erwachsen. Stolz blickt er abwechselnd von Michael zu Bernd, bis sich auf einmal ein Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete, dass er noch zu gut in Erinnerung hatte. Zum Glück war Bernds Elternhaus ganz in der Nähe und sie hatten einen Haustürschlüssel bekommen für den Fall, dass noch jemand auf die Toilette musste. Und Stephan musste! An diesem Abend gab es noch viel zu erzählen. Stephans kurzer Ausflug ins Haus war zu seiner Erleichterung kommentarlos geblieben. Nachdem er zurückgekommen war, hatte er auch gleich den Schlüssel an Michael übergeben, der sie daraufhin mit einer merkwürdigen Eile in Richtung Haus verließ. Offenbar war Michael doch nicht so raucherfahren, wie er eben noch getan hatte.

35 Von jenem Abend an wurde die Zigarette zum ständigen Begleiter der drei Jungs. Auch nachdem die Ferien zu Ende waren, änderte sich daran nichts. Bernd und Stephan stießen in der Schule zu den kleinen Rauchergruppen, die sich regelmäßig in den Pausen heimlich in den Toilettenräumen oder hinter der Sporthalle trafen. Bis kurz vor Ferienende hatte Stephan seine Zigaretten immer bei Bernd geschnorrt. Doch dann war ihm die Frage »Darf ich mir auch eine drehen?« so unangenehm geworden, dass er kurzerhand sein Taschengeld zusammengekratzt und sich seinen ersten eigenen Tabak gekauft hatte. Damit war nach dem Rauchen auf Lunge der zweite wichtige Schritt auf seinem Weg zum Raucher getan.

36 Der Karrierebeginn

1977 Ein Feuerwerk der Popmusik wird abgebrannt. Smokie und Howard Carpendale le- ben, jeder in seiner Sprache, Tür an Tür mit Alice. Fleetwood Mac sind der Meinung Go your own way, was Peter Gabriel möglicherweise offenbar dazu veranlasst, Genesis zu verlassen. In das Buch der Ewigkeit gravieren Queen ihre Hymne We are the Champions und in Memphis tritt der King of Rock 'n' Roll seine letzte Reise an. - Farewell Elvis. Kate 'Ma' Barker, eine Verbrecherin aus der amerikanischen Staatsfeinde-Ära, inspiriert Frank Farian für den Hit Ma Baker, mit dem er seine Gruppe Boney M. in die Charts jagt. Deutschland steht seit Jahren mit seinen eigenen Staatsfeinden im Kampf. Doch bevor sich in diesem Jahr die erste Führungsgeneration der RAF in Stuttgart-Stammheim das Leben nimmt, mussten viele unschuldige Menschen im Kugelhagel der Terroristen sterben. Im Sportbereich feiert Niki Lauda nach seiner Genesung ein fulminantes Comeback und wird mit Ferrari Formel-1-Weltmeister. Borussia Mönchengladbach wird zum fünften Mal seit 1970 Deutscher Fußballmeister. Im Fernsehen sorgt die Tatort-Folge Reifezeugnis für Aufsehen. Dies liegt nicht alleine an dem Tabuthema eines Lehrer-Schülerin-Verhältnisses, das in dieser

37 Folge behandelt wird. Vielmehr ist es Nastassja Kinski, die sich splitternackt in ihrer ersten Fernsehrolle zeigt, die die Fernsehnation spaltet.

* * *

Die nackte Nasti, wie Stephan und seine Freunde die Kinski 'liebevoll' nannten, war natürlich auch das Thema in der BRAVO. Diese heimliche Pflichtlektüre kauften sich die beiden 'Männer' selbstverständlich nicht selbst. Saskia, Bernds jüngere Schwester, teilte jedoch gerne ihre Hefte mit ihnen, schließlich durfte sie dafür, quasi als Gegenleistung, in deren Bundesliga- Tippklub mitmachen. Saskia war Stephans erste Freundin gewesen, wobei ihre Beziehung nur sehr kurz währte. Schon nach wenigen Tagen hatte er mit ihr Schluss gemacht. Es war ihm irgendwie peinlich gewesen, eine Freundin zu haben. Doch schon kurze Zeit später hatte er diese Entscheidung, die seinem unreifen Jungencharakter entsprungen war, verflucht. Nachfolgende Versuche, Saskia wieder für sich zu gewinnen, blieben zu seinem Bedauern erfolglos. Letztlich fügte er sich in sein selbst verschuldetes Schicksal und pflegte dafür die tiefe Freundschaft, die zwischen ihnen entstanden war. Saskia war für ihn eine Schwester im Geiste, mit der man durch dick und dünn gehen konnte. Und so sollte es auch noch viele Jahre bleiben.

Wenn Stephan und Bernd ausnahmsweise mal nicht

38 Fußball spielten, hockten sie regelmäßig bei Bernd zusammen und hörten Musik. Bernd hatte ein separates Zimmer im ersten Stock seines Elternhauses, das direkt von der Haustür aus über das Treppenhaus zu erreichen war. So konnte er jederzeit Freunde empfangen, ohne dass seine Eltern Wind davon bekamen. Dieser Weg entwickelte sich schnell zum idealen Schmuggelpfad für Mädchen und Alkohol. Stephans Musikgeschmack war breit gefächert, er hörte alles, was ihm gefiel. Bei Bernd war das schon anders. Für ihn gab es nur Hardrock und Heavy Metal, sonst nichts. Das galt insbesondere für die aktuelle Popmusik. Äußerte Stephan zum Beispiel beim Durchblättern von Saskias BRAVO, dass Jeans on doch irgendwie ein toller Song sei, erntete er dafür sofort ein spöttisches Grinsen. Ihren gemeinsamen musikalischen Konsens fanden sie aber bei Gruppen wie Queen, AC/DC und natürlich den Scorpions. Und lag erst das aktuelle Livealbum von Rainbow auf dem Plattenteller, gab es keinerlei Diskussion mehr. Mit geschlossenen Augen lauschten die beiden in absoluter Ruhe und Harmonie der Stimme von Ronnie James Dio.

In Lindlar veranstaltete die Katholische Junge Gemeinde (KJG) im Jugendheim regelmäßig eine Diskothek, die von ihren Mitgliedern organisiert und durchgeführt wurde. Auch Stephan und Bernd zählten zu dem Helferkreis.

39 Im Vorfeld so eines Diskotheken-Wochenendes, das einmal im Monat stattfand, gab es jede Menge vorzubereiten. Der Saal musste bestuhlt und dekoriert, die Musik- und Lichtanlage aufgebaut und die Getränkeausgabe bestückt werden. Am Veranstaltungsabend stellten dann alle Helfer im stündlichen Wechsel das Personal für Abendkasse und Getränkeverkauf. Lediglich der Posten des Discjockey wurde nicht gewechselt. Hierfür eignete sich nur jemand, der auch in einer ehrenamtlich betriebenen Dorfdisco wusste, wie man auflegte und moderierte. Schließlich war er der Garant für ein volles Haus. Und auch wenn der Gewinn der Veranstaltungen ausschließlich in die Gemeindearbeit floss, fielen letztlich auch die Jugend- und Freizeitveranstaltungen hierunter, zu denen neben der Disco auch der Klubraum zählte. Stephan eignete sich nicht besonders zur Rampensau und bei Bernd schloss schon sein Musikgeschmack den Einsatz als DJ aus. Daher beschränkten die beiden sich auf die Erledigung der vielen anderen Jobs. Besonders begehrt war natürlich die Arbeit hinter der Theke, wo man quasi direkt an der Quelle war. Der regelmäßige Wechsel hatte außerdem den Vorteil, dass man sich außerhalb der Schichten unter die Gäste mischen und ebenfalls abrocken konnte. Um allen Altersgruppen gerecht zu werden, erstreckte sich das Disco-Wochenende über zwei Tage. Am Samstag fand die sogenannte 'Große Disco' statt

40 und sonntags folgte die kleine. Der Unterschied zwischen beiden lag darin, dass es samstags Party bis 24 Uhr gab. Außerdem durfte Alkohol getrunken und geraucht werden, also eher etwas für die Großen. Alle Jugendlichen unter sechzehn Jahre gingen hingegen am Sonntag zum Feiern. Dann trank man Cola und Limonade und war spätestens um 22 Uhr auf dem Heimweg. Da die Kleinen ja noch nicht offiziell rauchen durften, war Rauchen am Sonntag in der Disco natürlich auch verboten. Aus diesem Grund standen dann viele kleine Rauchergrüppchen bei Wind und Wetter mit ihren Zigaretten vor der Tür des Jugendheims und rauchten, was das Zeug hielt. Dreißig Jahre später würde man sich an diese Regelung erinnern und auch Erwachsene zum Rauchen vor die Tür schicken. Wer weiß, vielleicht sitzt ja einer der wenigen Nichtraucher von damals heute auf der Regierungsbank. Für Stephan und Bernd galt diese Regelung nur sehr, sehr eingeschränkt. Aufgrund ihres Helferstatus durften sie natürlich auch schon in die 'Große Disco', wo sich niemand darum scherte, ob sie rauchten oder Alkohol tranken.

Stephan stand jetzt schon immer häufiger am Kiosk und verlangte: »Einmal Drum mit Blättchen!« Den Tabaksbeutel trug er normalerweise lässig in der Gesäßtasche seiner Jeans. Sobald er jedoch in die Nähe seiner Erziehungsberechtigten kam, verschwand

41 die Packung sofort in ihrem bewährten Transportversteck. Erst in der Sicherheitszone seines Zimmers zog Stephan sie dann wieder aus dem Strumpf hervor und versteckte sie im Deckel seines Mikroskopierkoffers hinter einem Styroporeinsatz. Die Anzahl der Zigaretten, die Stephan täglich rauchte, stand in direkter Abhängigkeit zur Höhe seines Taschengeldes. Dies unterlag wiederum vielen weiteren Einflussfaktoren. Zunächst war dort die Bundesliga-Tippkasse, in die er dummerweise immer mehr einzahlte, als er am Ende rausholte. Außerdem trank man in Stephans Clique natürlich auch ab und zu mal ein 'Gläschen'. Neben Bier hatte sich Sangria aus Kostengründen zu einem beliebten Standardgetränk entwickelt. Bei Sangria schätzten die Jungs ganz besonders die hervorragenden Recyclingmöglichkeiten. Selbst kleinste Reste ließen sich zusammenschütten und mit ein paar Früchten zu einer wirkungsvollen Bowle aufpeppen. Doch auch die ausgeklügeltsten Recyclingverfahren waren irgendwann erschöpft und schließlich musste auch Stephan seinen Obolus in die Getränkekasse entrichten. Doch trotz permanenter Ebbe im Portemonnaie kam er irgendwie immer über die Runden. Erst am Tag seiner Konfirmation verbesserte sich seine finanzielle Situation erheblich. Es war das erste Mal, dass er seinen Namen mit dem Begriff Reichtum verband.

Im Gegensatz zur Vielzahl seiner Freunde, die

42 wöchentlich in die Kirche mussten, war Religion nie ein beherrschendes Thema in ihrer Familie gewesen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte sich Stephans Einstellung zur Kirche und zum christlichen Glauben relativ differenziert entwickelt. Von Kindheit an war er als Protestant in einer erzkatholischen Gegend aufgewachsen. Dieser Kontrast musste dazu geführt haben, dass er sich frühzeitig und völlig unbewusst den Gedanken der ökumenischen Bewegung zu eigen gemacht hatte. Schon als Grundschüler musste er regelmäßig an Messen der katholischen Kirche teilnehmen. Dies war die damals sehr häufig praktizierte Form des Religionsunterrichts in den kleinen Dorfschulen. Und Stephan hatte die Schule eines sehr kleinen Dorfes besucht. In seinem Elternhaus erlebte er die so viel freiere Form der evangelischen Kirche, die sich für ihn dadurch äußerte, das Religion so gut wie nicht thematisiert wurde. Zur Kirche gingen seine Eltern mit Oscar und ihm nur zu besonderen Familienanlässen. So hatte Stephan den Neid seiner katholischen Freunde genossen, wenn er noch spielen durfte, während sie selbst zum wöchentlichen Kirchgang oder zum Ablegen der Beichte genötigt wurden. Für Stephan war Religion kein Zwang und seinen Glauben an Gott trug er jederzeit in sich, auch ohne regelmäßigen Kirchbesuch. Letztlich war es auch seine eigene und ganz persönliche Entscheidung, sich konfirmieren zu lassen. Dass er in aller Bescheidenheit auch die zu erwartenden Aufmerksamkeiten in seine

43 Entscheidungsfindung hatte einfließen lassen, musste er ja nicht jedem auf die Nase binden.

Auf die Konfirmation folgte der Sommer. Wieder war ein Schuljahr geschafft und wieder ging es in den Ferien nach Baltrum. Dort stellte Stephan voller Freude fest, dass es dort nun auch einen Jugendklub gab. Dieser neue In-Treffpunkt ähnelte sehr stark der Lindlarer Dorfdisco, wobei die Leitung hier nicht bei der Kirche lag, sondern beim Fremdenverkehrsverein. Doch wie in Lindlar, rekrutierte sich auch hier die Helferschar aus den Reihen der örtlichen Jugend. Im Baltrum Jugendklub hatten die älteren Insulanerkinder das Ruder in der Hand, dementsprechend locker war auch hier die Aufsicht. Niemand musste zum Rauchen vor die Tür gehen. Im Jugendklub war immer ordentlich was los. Die Insulaner, die ja sonst keine Disco hatten, nutzten die Saison und feierten mit den Touri-Teenies heiße Feten, die nicht selten in der einen oder anderen Strandparty endeten. Neben aktuellen Hits wie I feel love und Surfin' USA durften natürlich auch die langsameren Stücke nicht fehlen, bei denen sich so manche Urlaubsbekanntschaft zum romantischen Urlaubsflirt entwickelte. Wie bei den Klassenfeten zu Hause tanzten auch hier verliebte Paare eng umschlungen und mit geschlossenen Augen im schummrigen Licht der blinkenden Partylichter, während aus den Boxen, passend zu einem Urlaub am Meer, Rod Stewart sein I am sailing säuselte.

44 Stand eine Abreise bevor, wurde im Klub am letzten Abend noch einmal kräftig Abschied gefeiert. Nicht nur, weil die Sommerclique wieder ein Stückchen kleiner wurde, machte der Blues an diesen Abenden seinem Namen alle Ehre. Schön traurig und voller Herzschmerz schmusten die Urlaubspaare ein letztes Mal auf der Tanzfläche. Und weil If you leave me now genau das ausdrückte, was die Verliebten in diesem Moment empfanden, blitzte in dem einen oder anderen Auge auch nicht selten eine Träne.

Am nächsten Tag traf sich die gesamte Clique kurz vor der Abfahrt des Schiffes noch einmal im Hafen. So auch heute. Stephan stand mit den anderen etwas abseits und beobachtete das emsige Treiben auf dem Anleger. Dort hoben aufgeregte Familienoberhäupter schwitzend ihre Koffer in die bereitstehenden Gepäckcontainer, während die Mütter verzweifelt versuchten, ihre Kinder zusammenzuhalten. Diese versuchten wiederum genauso verzweifelt ihren Eltern zu entkommen, um sich vor der bevorstehenden Fahrt noch etwas auszutoben. Am Rande des Trubels tauschten manche in der schrumpfenden Sommerclique noch schnell ein paar Adressen aus, während die Verliebten, solange es noch ging, verstohlen Händchen hielten. »Fahrgäste nach Neßmersiel, bitte einsteigen! Fahrgäste nach Neßmersiel, bitte einsteigen!« Unbarmherzig riss sie dann irgendwann die Aufforderung des Kapitäns auseinander, nun war die

45 Trennung nicht mehr aufzuhalten. Die letzten der Abreisenden betraten das Schiff, die Gangway wurde eingezogen und alle Leinen losgeworfen, bevor das weiße Fährschiff langsam ablegte. Dabei schallte aus den Schiffslautsprechern blechern die immer gleiche Abschiedsmelodie: »Wein doch nicht, Liebgesicht! Wisch' die Tränen ab ...« Genau der richtige Song für zerbrechende Teenagerherzen. Winkend und mit letzten gebrüllten Liebesschwüren folgte die Clique dem auslaufenden Schiff noch bis zum Ende der Mole. Erst als es an der Ostspitze von Norderney nach Backbord drehte, um dem Fahrwasser Richtung Neßmersiel zu folgen, gingen sie zurück. Auf dem Rückweg wurde nicht viel gesprochen, dafür ging eine Zigarette nach der anderen an. Aber auch das besinnlichste Schweigen, das die Solidarität zu den nun getrennten Liebespaaren bekunden sollte, endete irgendwann einmal, schließlich musste das Leben weitergehen. »Was machen wir heute Abend?« »Treffen wir uns im Klub?« Ein sich überschlagendes Stimmengewirr, das sich um diese Frage aller Fragen erhob, machte dann auch regelmäßig spätestens nach Verlassen des Hafens dem Trübsal ein Ende. Nur die unglücklich Verliebten trotteten weiter mit gesenktem Kopf hinter den anderen her und zogen bedrückt an ihren Zigaretten.

Auch für Stephan war irgendwann der Tag des

46 Abschiedes gekommen. Die gepackten Koffer standen bereits auf der 'Wippe', wie die zweirädrigen Handwagen hier genannt wurden. Von der Straße aus winkte Stephan noch einmal zum Haus hinauf, wo sein Uropa hinter dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer stand. Für ihn, die gute alte 'Dampflok', war der Weg zum Hafen mittlerweile zu beschwerlich und weit. »Tschüss, Opa!«, rief er ihm noch einmal zu und spürte in diesem Moment eine seltsame Endgültigkeit dieses Abschiedes. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er seinen Uropa nicht mehr wiedersehen würde. Stephans Uropa starb noch im gleichen Herbst, nachdem er abends noch seinem gewohnten Spaziergang mit Zigarre gemacht hatte und ins Bett gegangen war. Als Stephans Oma ihn am nächsten Morgen wecken wollte, war der Kessel der kleinen 'Dampflok' für immer erloschen.

47 Die erste letzte Zigarette

1978 Polizist, Cowboy, Indianer, Bauarbeiter, Soldat und ein Biker in Lack und Leder besingen den Verein christlicher junger Männer. Bei Amanda Lear ist man sich lange nicht sicher, ob sie nun Mann oder er nun Frau ist. Wie auch immer, fest steht, dass es wohl kaum einen Mann gibt, der Amandas Aufforderung Follow me nicht nachkommen würde. Und so rollt die Discowelle munter weiter, auf der 10CC die Erlebnisse eines Jamaica-Urlaubs musikalisch aufarbeiten. Auf der anderen Seite schütteln die Rocker ihre langhaarigen Häupter zu Black Betty, während Manfred Mann von irgendeinem Dave berichtet, der zurück auf der Straße ist. Es gibt auch wieder sportliche Erfolge zu verzeichnen. Nach 1974 wird Deutschland endlich wieder Weltmeister in einer Ballsportart. Allerdings nicht im Fußball, wo uns die Ösis rauskicken. Diesmal sind es die deutschen Handballer, die nach vierzig Jahren den Titel zurück ins Land holen. Kein Sportler, trotzdem läuft und läuft und läuft er, jedoch ab diesem Jahr nicht mehr in Deutschland vom Band: der VW-Käfer. Nach einem Riesenerfolg in Amerika erwartet man nun auch in deutschen Kinos gespannt die Ankunft von Luke Skywalker und Darth Vader.

48 * * *

Nicht nur Lukes Vater beeindruckte mit einem Vollvisierhelm, auch in Stephans Klasse gehörte der Integralhelm inzwischen zum gewohnten Bild. Lässig am langen Arm getragen, signalisierte er, dass sein Träger nun im Besitz eines Mofas war. Diese neu gewonnene Unabhängigkeit war in der ländlichen Gegend, in der Stephan wohnte, ein nicht unbedeutender Schritt in Richtung Erwachsensein. Natürlich wünschte sich auch Stephan so einen fahrbaren Untersatz. Seine Eltern waren von dieser Idee jedoch nicht sonderlich begeistert. Viel zu häufig wurde im Lauf des Sommers in der Zeitung von schweren Zweiradunfällen berichtet. Um Stephans Wunsch aber nicht gleich von vornherein kategorisch abzulehnen, erlaubten sie ihm, ein Moped zu fahren. Allerdings verbanden sie ihre Erlaubnis mit zwei Auflagen: Stephan musste den Führerschein machen und diesen ebenso wie auch ein Moped aus eigener Tasche bezahlen. Insbesondere ihre zweite Forderung hatte es in sich. Das wussten natürlich auch seine Eltern, die sich mit dieser Taktik in Sicherheit wähnten. Stephan nahm die Herausforderung an, zu groß war der Wunsch nach einem fahrbaren Untersatz. Noch ahnte er nicht, welchen katastrophalen Einfluss diese nun zu bewältigende Größe auf seine sehr übersichtliche Finanzwelt haben würde. Voller Zuversicht begann er mit den ersten Berechnungen, die ihn schon bald auf den Boden der Tatsachen

49 zurückholten. Wie er errechnet hatte, müsste er bei Beibehaltung seines gewohnten Lebensstandards ungefähr fünfzehn Jahre sparen, um sein Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. Fünfzehn Jahre! - Das war eindeutig zu lang, doch selbst wenn er mit dem Rauchen aufhören und jede Party sausen lassen würde, wären es immer noch acht Jahre. Die Jugendjahre verschenken? Nein, das kam überhaupt nicht infrage. Doch so oft er auch hin und her rechnete und überlegte, es gab nur eine Möglichkeit: Er brauchte Arbeit. Die meisten von Stephans Freunden hatten schon einmal einen Ferienjob angenommen und so fasste Stephan den Entschluss, sich ebenfalls im nächsten Jahr eine Aushilfstätigkeit für die Sommerferien zu suchen. Mit dem Geld könnte er sich dann endlich das ersehnte Moped kaufen, den erforderlichen Führerschein wollte er schon vorher machen. Zum Glück hatte er ja noch etwas Geld von der Konfirmation gespart.

* * *

»Rauchst du eigentlich?«, fragte Stephans Mutter ihn eines Tages völlig unvermittelt, ohne von ihrem Bügelbrett aufzuschauen. Wie vom Schlag getroffen sah er sie an. Wie hatte sie das herausgefunden? Hatte sie möglicherweise beim Putzen sein Versteck entdeckt? Doch aus welchem Grund sollte sie in seinem Mikroskopierkoffer sauber

50 machen? Die Gedanken überschlugen sich in Stephans Kopf, während ihm zunehmend heißer wurde. Hatte vielleicht Oscar ...? Nein, gerade vor der kleinen neugierigen Petze hatte er sich immer besonders vorgesehen. Unmöglich, dass er ... »Du kannst es ruhig sagen«, sagte seine Mutter und riss ihn aus seinen Gedanken. »Wir könnten dir zwar das Rauchen verbieten, aber dann würdest du sicher heimlich rauchen. Also, wenn du möchtest, darfst du von uns aus zu Hause rauchen.« Stephan war sprachlos. Er war froh, dass sich seine Mutter weiter ihrer Bügelwäsche widmete. Sein Gesichtsausdruck musste Bände sprechen, so perplex, wie er war. Er stammelte nur noch so etwas wie ein »Ist gut!« und verschwand eilig in seinem Zimmer, wo er erst einmal das eben Erlebte verdauen musste. Er durfte also ab sofort auch zu Hause rauchen. Hatte das seine Mutter wirklich gesagt? Er konnte es immer noch nicht fassen. Stephan stellte sich vor, wie er wie ein Alter neben seiner Mutter auf dem Sofa saß und sie beide seinem Vater etwas vorrauchten. Schon der Gedanke war ihm unangenehm. Nein, so erwachsen war er dann wohl doch noch nicht. Noch immer leicht traumatisiert, lag Stephan auf seinem Bett und starrte an die Decke. In seiner Clique hatte sich die Zigarette zwar längst zu einer Art Statussymbol entwickelt und war somit aus seinem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken, aber zu Hause ... - Nein, Stephan entschied, dass alles

51 so bleiben sollte, wie es war.

* * *

Ende November verkündeten Stephans Eltern ihren Söhnen, dass die Familie dieses Jahr auch Weihnachten auf Baltrum verbringen würde, um dort ihre Oma zu besuchen. Sofort dachte Stephan wieder an seinen Uropa. Im letzten Jahr hatten sie ihn noch zu Weihnachten in Mülheim besucht, wo er mit Stephans Oma eine Zweitwohnung hatte, in der die beiden jedes Jahr überwinterten. In den Wintermonaten konnte man auf Baltrum schnell von der Außenwelt abgeschnitten werden, und da es nur einen Badearzt vor Ort gab, hatte man aus gesundheitlichen Gründen diese Möglichkeit gewählt. Nach dem Tod von Stephans Uropa war seine Oma nun ganz nach Baltrum gezogen und hatte die Wohnung in Mülheim aufgegeben. Stephans Eltern wollten nicht, dass sie nach dem Tod ihres Vaters auch noch das erste Weihnachtsfest auf der Insel alleine verbringen musste.

Urlaub auf einer Nordseeinsel im Dezember, das hieß im Reisekatalog Nebensaison und war für die meisten Insulaner Urlaubszeit. Im Sommer, wenn Baltrum von Touristen geradezu überschwemmt wurde, mussten die Einheimischen auch das Geld für die kargen Wintermonate erwirtschaften. An einen eigenen Sommerurlaub war daher gar nicht zu denken.

52 Also holte man dies weitgehend im Winter nach, was wiederum zu einem sehr überschaubaren Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten führte. In der Folge verirrten sich nur sehr wenige Gäste um diese Zeit in die Nordseebäder. Tief verschlafen präsentierte sich dann auch das 'Dornröschen der Nordsee', als die vier Lindlarer kurz vor Weihnachten übersetzten. Für Stephan, der bis dahin die Insel nur aus den Sommerferien kannte, konnten die Gegensätze nicht größer sein. Einer derartigen Ruhe und Abgeschiedenheit mochte vielleicht der eine oder andere einen gewissen Reiz abgewinnen können, aber doch nicht ein Sechzehnjähriger. Und wäre das nicht schon schlimm genug, durfte er sich obendrein auch noch ein Zimmer mit Oscar teilen. Draußen nichts los und drinnen keine Privatsphäre, dachte Stephan. Das geht ja gut los. Von nun an verbrachte er den Großteil seiner Zeit mit langen Strandspaziergängen, so konnte er wenigstens seinem Bruder entgehen. Wie sich die Insel doch verändert hatte. Stephan erinnerte sich an den vergangenen Sommer, als sie an diesem jetzt so unwirtlichen Ort Beachvolleyball gespielt und abends in den Dünen ihre berüchtigten Strandpartys gefeiert hatten. Jetzt musste er sich gegen den starken Nordostwind stemmen, der die vom Meer aufgewirbelte Gischt zu ihm herüber trug und auf Gesicht und Händen einen klebrigen Belag hinterließ. Wurde es am Strand zu ungemütlich, verzog

53 Stephan sich gerne ins Innere der Insel. Meistens führte ihn sein Weg dann auf den höchsten natürlichen Punkt Baltrums: die Aussichtsdüne. Von hier hatte man einen schönen Rundumblick über die gesamte Insel. Vom Hafen im Westen ging sein Blick über die lange Dünenkette im Norden bis zur Ostbake. Dahinter lag Langeoog mit seinem Leuchtturm, der bei Nacht und bei schlechter Sicht seine Kennung über die See schickte. Auch jetzt saß Stephan wieder einmal hier oben in der Mitte der Aussichtsplattform auf dem großen kalten Betonblock, der im Krieg als Beobachtungspunkt gedient hatte, und rauchte eine Zigarette. Er betrachtete den grauen Himmel, der irgendwie nach Schnee aussah. Das wäre wenigstens mal wieder was Neues, dachte Stephan. Auch wenn die vergangenen Weihnachtstage etwas Abwechslung gebracht hatten, zogen sich die Tage bis Silvester inzwischen wie Kaugummi. Der Wind hatte mittlerweile aufgefrischt und Stephan war froh, dass sein Anorak mit einer Eskimokapuze ausgestattet war, die mit ihrem ausladenden Schnitt sein Gesicht weitgehend vor dem kalten Wind schützte. Da er nicht mehr damit rechnete, dass es hier oben noch wesentlich gemütlicher werden würde, machte er sich auf den Heimweg.

In dieser Nacht schlief Stephan besonders tief und fest. Nur mit Mühe bekam er am nächsten Tag die Augen auf, als ihre Mutter sie beide weckte. So

54 bemerkte er zunächst auch nicht, dass sie Oscar und ihn nicht mit dem gewohnten 'Kinder, aufstehen, es gibt gleich Frühstück!' geweckt hatte. Vielmehr hatte sie die beiden aufgefordert, schnell aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen, da es draußen geschneit hätte. Merkwürdig, dachte Stephan. Schnee war für sie schließlich nichts Besonderes. Bei ihnen in Lindlar schneite es häufig und ausgiebig und so empfand Stephan diese Nachricht als nicht gerade sehr spektakulär. Auch Oscar, der gerne mal ganze Tage im Bett verbrachte, sah offenbar keine Veranlassung, das anheimelnde warme Bett zu verlassen. Mit einem leisen Knurren drehte er sich wieder um. Ausnahmsweise war Stephan einmal mit Oscar einer Meinung. Auch er zog die Decke bis an den Hals und kuschelte sich in sein Kissen. Irgendwie kam es ihm vor, als ob es heute in ihrem Zimmer im Vergleich zu den letzten Tagen deutlich kälter war. »Nun aber raus aus den Federn«, rief ihre Mutter nach wenigen Minuten vom Flur aus. Lustlos quälte Stephan sich daraufhin aus dem Bett und tapste fröstelnd ans Fenster. Er ließ das Rollo hochschnappen und blickte wie gebannt nach draußen. Das, was er dort sah, übertraf seine kühnsten Vorstellungen von 'Es hat geschneit'. Tatsächlich hatte es nämlich nicht nur so, sondern es hatte richtig viel geschneit. Stephan traute seinen Augen nicht. Doch auch auf den zweiten Blick und nach ausgiebigem Reiben der Augen bot sich ihm das gleiche Bild. Vor ihrem Fenster

55 breitete sich eine Schnee- und Eiswüste aus, wie er sie noch nie gesehen hatte. Solche Schneemassen gab es nicht einmal bei ihnen im Bergischen Land. Alles war weiß und der Schnee lag stellenweise meterhoch. Eine Schneewehe hatte sich an der Westseite des Hauses aufgetürmt und reichte sogar bis an die Fensterbank ihres Zimmers. »Guck dir das an«, sagte Stephan zu seinem Bruder, ohne den Blick abzuwenden. Oscar hatte wohl an seiner Reaktion gemerkt, dass irgendetwas an dem Schnee anders sein musste als gewöhnlich. Neugierig hob er den Kopf, während er unter seiner Decke hervorkroch. Er trat neben Stephan und blickte ungläubig hinaus. »Wahnsinn«, sagte er. Stephan fuhr herum und stürmte nach nebenan ins Wohnzimmer, wo man aus dem großen Panoramafenster einen noch besseren Überblick hatte. Stephans Blick wanderte zwischen den Nachbarhäusern hindurch in Richtung Wattenmeer und Festland. Vor ihm lag eine andere und fremde Welt. Die Straße vor dem Haus ließ sich nur noch erahnen. Die Häuser um sie herum, die wie ihr eigenes leicht erhöht auf niedrigen Dünen standen, wirkten wie kleine Halligwarften in einem Meer von Schnee. Stephans Vater hatte inzwischen das Radio eingeschaltet, aus dem eine Sondermeldung der anderen folgte. Demnach hatten in Norddeutschland heftige Schneestürme und Temperaturen unter Minus 20 °C über Nacht zu einem Schneechaos geführt.

56 Zahlreiche Ortschaften waren von der Außenwelt abgeschnitten und der Verkehr auf nahezu allen Straßen komplett zusammengebrochen. Selbst der Zugverkehr ruhte. Stephans Langeweile und Tristesse waren von einem Moment auf den anderen verflogen. Beim Frühstück lauschte er aufmerksam den Gesprächen der Erwachsenen. Sie fragten sich, wie man auf Baltrum diesem Chaos Herr werden wollte. Außer ein paar alten Feuerwehrautos und einem Krankenwagen gab es hier schließlich keinerlei Fahrzeuge. Transporte jeglicher Art erfolgten mit Pferdewagen oder den Wippen. Schneepflüge oder -fräsen fehlten ebenso wie anderes Großgerät, das man zur Schneebeseitigung hätte einsetzen können. Stephan fand das alles wahnsinnig spannend und konnte es kaum erwarten, endlich raus zu können, um die Lage genauer zu erkunden. Endlich beendeten seine Eltern das Frühstück und Stephan rannte los. Die Sonne trat gerade wieder einmal zwischen den Wolken hervor und entzündete eine gleißende Winterlandschaft, als er dick vermummt vor das Haus trat. Stephan kämpfte sich durch die kniehohen Schneeberge in Richtung Westdorf. Die Zäune und Bänke, die normalerweise rechts und links den Weg gut sichtbar säumten, waren jetzt vollkommen mit Schnee bedeckt. Nur die Straßenlaternen ermöglichten es ihm, dem Straßenverlauf einigermaßen zu folgen.

57 Er passierte die katholische Kirche und die Inselschule. Rechts von ihm ragten zwei Telefonzellen aus einer Schneewehe. Die Türen hatte der Sturm offenbar in der letzten Nacht aufgeschlagen, jedenfalls hatte sich in ihnen bereits ein Schneeberg aufgetürmt, der bis zu dem eingehängten Telefonhörer reichte. Stephan wollte gerade seinen Weg in Richtung Strand fortsetzen, als sich auf einmal die Sonne verdunkelte und ihre Wärme einer eisigen Kälte wich. Im Westen türmte sich eine bedrohliche Wand aus schwarzen Wolken auf, die nichts Gutes verhieß. Er erinnerte sich, wie beschwerlich der Weg bis hierher gewesen war. Vor seinem geistigen Auge sah er sich schon von einem Schneesturm überrascht und die Orientierung verlierend über die Insel irren. Und wie zur Bestätigung seiner Befürchtungen setzte nun auch schon der erste Schneefall ein. Der Wind, der auf einmal von allen Seiten zu kommen schien, trieb ihm die Schneeflocken waagerecht ins Gesicht. Mit gesenktem Kopf stapfte er zurück und versuchte dabei verzweifelt den Spuren zu folgen, die er auf dem Hinweg hinterlassen hatte und die mit jeder Minute mehr verblassten. Schweißnass erreichte Stephan nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Haus. Für heute war sein Hunger nach Abenteuer und Aufregung erst einmal gestillt. In den folgenden Tagen ließen zwar Wind und Schneefall etwas nach, aber von einer Entspannung der Lage konnte keine Rede sein. Und so begingen die Gestrandeten aus dem Bergischen Land zusammen mit

58 ihrer Oma inmitten einer Jahrhundertkatastrophe den Silvesterabend in der Gemütlichkeit des sicheren Hauses. Kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag hatte Stephan sich dann doch bei seinen Eltern als Raucher geoutet. Trotzdem rauchte er nach wie vor so gut wie nie zu Hause und schon gar nicht im Beisein seiner Eltern. Aus diesem Grund war es ihm auch nicht schwergefallen, der Bitte seiner Mutter zu folgen und für die Dauer ihres Baltrum-Aufenthaltes nicht im Haus zu rauchen. Für seine Oma war Stephan immer noch der kleine Junge. Wenn sie nun erfahren würde, dass er raucht, wäre das dem Familienklima alles andere als zuträglich. Also rauchte Stephan weiter heimlich, was bei der derzeitigen Wetterlage auch kein Zuckerschlecken war, und ersparte so seiner Mutter endlose Mutter-Tochter-Diskussionen zum Thema 'Gesundheitliche Gefahren des Rauchens'. Genau aus diesem Grund stand Stephan nun frierend am heutigen Silvesterabend, eine Stunde vor Mitternacht, noch einmal hinter dem Haus. Er wollte sich im Schutze des kleinen Anbaus noch schnell eine Zigarette gönnen, bevor sie aufs neue Jahr anstoßen würden. Außerdem hatte er, wie so viele andere an diesem Abend auch, als guten Vorsatz beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören. Das so gesparte Geld wollte er für einen guten Zweck spenden. Sein Wunschmoped erfüllte dieses Kriterium seiner Meinung nach voll und ganz, zumal sein Finanzplan aufgrund einiger Partyexzesse im Moment jede Finanzspritze gut

59 gebrauchen konnte. So genoss Stephan in jener eisigen Winternacht die letzten Züge seiner letzten Zigarette, bevor er sie mit einem wehmütigen Gefühl im Schnee löschte. Die Reste seiner jungen Raucherkarriere ließ er anschließend in der Mülltonne verschwinden. Für einen kurzen Moment zögerte er und überlegte, ob er das Feuerzeug nicht auch gleich wegschmeißen sollte. Doch dann schob er es in die Jackentasche zurück. - Man konnte ja nie wissen.

60 61 Einmal ist keinmal

1979 Debbie Harry setzt sich erfolgreich mit ihrem gläsernen Herz gegen die immer noch allgegen- wärtige Discoszene durch, während die Sugar Hill Gang den ersten Rap in die Charts bringt. In den deutschen werden die langen Kreuzberger Nächte besungen und in der ZDF-Hitpa- rade singt eine gewisse Anke Engelke das Lied von Ma- nuel. Kaum zu glauben, aber das war noch keine Co- medy-Einlage. In Frankfurt rockt Udo Lindenberg gegen Rechts und Elton John tourt als erster westlicher Solokünstler durch die Sowjetunion. Aus der kleinen Welt um einen Bauwagen erklärt Pe- ter Lustig den Kindern die Pusteblume und auch in die Politik ziehen Latzhose und Rentierpulli ein, als die Grünen gegründet werden. Der Sohn eines CIA-Agenten steht neben einem ge- wissen Sting in einer New-Wave-Band, die mit Message in a bottle ihren ersten Nummer-Eins-Hit landet.

* * *

Eine Flaschenpost hätte Stephans Familie am Neujahrstag auf Baltrum auch nicht helfen können. Das Wattenmeer war nahezu komplett zugefroren und der Schiffsverkehr zum Festland sicherheitshalber auf unbestimmte Zeit eingestellt worden. Baltrum war damit von der Außenwelt abgeschnitten, was bei den

62 ersten der wenigen Urlauber eine gewisse Unruhe erzeugte. Die Schulferien neigten sich ihrem Ende zu und man befürchtete, nicht mehr rechtzeitig nach Hause zu kommen. Der einzige Weg von und nach Baltrum führte nur noch durch die Luft. Stephan erinnerte sich an seine Kindheit, als er immer erwartungsvoll am Wohnzimmerfenster gestanden und gespannt auf das Postflugzeug gewartet hatte. Dieses kam mehrmals in der Woche morgens im Tiefflug über den heutigen Inselflugplatz angeflogen und warf einen Postsack ab. Bei diesen Wetterverhältnissen war natürlich an eine Landung von Flugzeugen auf der tief verschneiten Insel nicht zu denken. Daher charterte man Hubschrauber, um über eine Art Luftbrücke dringend benötigte Güter einzufliegen. Auf dem Rückflug nahm man dann Passagiere mit, die unbedingt aufs Festland mussten. Stephans Vater hatte auch bereits für alle Fälle einen solchen Flug reserviert. Ein Hubschrauberflug, das wäre ein versöhnlicher Abschluss für die zurückliegende 'Leidenszeit', dachte Stephan und schickte von nun an regelmäßig kleine Stoßgebete gen Himmel.

Nach dem Mittagessen hatte Stephan seiner Mutter ganz stolz von seinem guten Vorsatz erzählt. Nach immerhin schon vierzehn Stunden war er der Meinung, dass eine Mitteilungsreife damit durchaus

63 bestand. Vierzehn Stunden als Nichtraucher, das war doch schon was, dachte er und verzog sich ins Wohnzimmer, wo er gelangweilt einen von Oscars Comics durchblätterte. Schon nach wenigen Minuten legte er das Heft wieder beiseite. Asterix der Gallier kannte er inzwischen schon fast auswendig. Lustlos starrte er an die Decke. Außer dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr war es still im Haus. Der Rest der Familie hielt ihren täglichen Mittagsschlaf. Jetzt eine rauchen, dachte er wehmütig. Nein, er musste sich ablenken. Also zog er sich eilig an und ging an den Strand, wo ihn ein eisiger Wind empfing. Jetzt fehlte ihm auf einmal die gewohnte Zigarette zum Aufwärmen, die er während seiner Streifzüge über die Insel immer so genossen hatte. Auf dem Rückweg kam er bei Stadtlander, Baltrums legendärem Einzelhändler, vorbei, dessen Kiosk soeben geöffnet hatte. Für einen kurzen Moment blieb er stehen und überlegte. Geld hatte er dabei. Doch dann dachte er an sein Wunschmoped und riss sich noch einmal zusammen.

Am nächsten Tag ging Stephan schlecht gelaunt und wieder einmal schrecklich gelangweilt zu seiner Mutter in die Küche, in der Hoffnung, wenigstens hier etwas Ablenkung zu finden. Selbst der Umstand, dass er nun schon fast fünfunddreißig Stunden 'clean' war, verbesserte seine Stimmung nicht wesentlich. Er warf seiner Mutter, die gerade die Kartoffeln für

64 das Mittagessen schälte, einen kurzen Blick über die Schulter zu, bevor er sich suchend in der Küche umsah. Vielleicht war ja schon der Nachtisch fertig und er konnte ein wenig naschen. Doch anstatt an einer Süßspeise blieb sein Blick an der Schachtel HB hängen, die verlockend auf der Fensterbank lag. Oh, wie gerne würde er jetzt eine rauchen! Stephan schielte vorsichtig zu seiner Mutter hinüber und überlegte auch schon, ob er es wagen konnte, hinter ihrem Rücken eine Zigarette zu stibitzen. Frag sie doch einfach, dachte er. Ein Wort würde genügen. Nein, die schadenfrohen Sprüche wollte er sich dann doch lieber ersparen, schließlich hatte er ja erst gestern vollmundig herumgetönt, mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Und auch wenn sein Verlangen nach einer Zigarette immer drängender wurde, wollte er lieber weiter auf eine günstige Gelegenheit warten. Stephan schlenderte durch die Küche und heuchelte dabei ein gewisses Interesse an der Zubereitung des Mittagessens. »Hast du Langeweile?«, fragte seine Mutter auf einmal. »Dann kannst du mir ja beim Wäsche aufhängen helfen.« Wäsche aufhängen! - Das wäre die Gelegenheit, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte, denn dazu musste seine Mutter in den Keller. »Ach nöh«, sagte er rasch. »Ich glaub, ich gehe noch ein bisschen raus.«

65 »Denk aber dran, dass wir bald essen«, sagte seine Mutter, bevor sie die Kellertreppe hinabstieg.

Auf seinem Weg zum Strand und außer Sichtweite des Hauses zündete Stephan sich dann kurz darauf eine gute HB an. Wie gut das tat! Genussvoll nahm er den zweiten Zug, mit dem dann auch das schlechte Gewissen zurückkehrte. Nicht nur, weil er seiner Mutter eine Zigarette stibitzt hatte, sondern auch weil er nach nicht einmal zwei Tagen der Sucht erlegen war. Er dachte an sein Moped, dessen Bild vor seinem geistigen Auge auf einmal wieder zu verblassen begann. »Einmal ist keinmal«, sagte er zu sich selbst, nahm einen letzten Zug und schnippte den Zigarettenstummel in den Schnee. Von nun an würde er durchhalten. Komme, was wolle.

»Einmal Drum mit Blättchen«, sagte Stephan und lächelte die Dame bei Stadtlander etwas verlegen an. Knapp vierundzwanzig Stunden und vier stibitzte HB später hatte Stephan entgegen seiner Kampfansage von gestern beschlossen, sich wenigstens der 'Beschaffungskriminalität' zu entziehen. Und obwohl er sich nach wie vor noch darüber ärgerte, dass er der Nikotinsucht nicht mehr Widerstand hatte entgegensetzen können, war er doch froh, wieder im Besitz eigener Rauchwaren zu sein. Entspannt machte er auf dem Rückweg einen Schlenker über die Strandmauer, wo er sich bei einer frisch gedrehten

66 Zigarette den kalten Westwind um die Nase wehen ließ.

Nach diesem erfolglosen Versuch, dem blauen Dunst zu entsagen, folgte auch gleich die Strafe. Seine Hoffnung, mit einem Hubschrauberflug die Weihnachtsferien zu beenden und so wenigstens etwas Interessantes am ersten Schultag berichten zu können, zerplatzte wie eine Seifenblase. Wie Stephan am Nachmittag erfuhr, würde der Fährbetrieb zum Festland rechtzeitig zu ihrem geplanten Abreisetag eingeschränkt möglich sein. Und so erfolgte zwei Tage später ihre Abreise wie gewohnt mit dem Schiff. Wie gewohnt? Nein, nicht ganz.

Sehr viel langsamer als normalerweise bahnte sich die Baltrum-Fähre einen Weg durch die Eisschollen, die immer noch in großer Zahl im Wasser trieben. Kurz vor dem Hafen von Neßmersiel verlor dann das Schiff merklich an Fahrt, was Stephan irgendwie spanisch vorkam. Als es dann auch noch plötzlich bedenklich knirschte, während die Fähre zitternd zum Stillstand kam, erinnerte ihn das auf einmal an das unglückliche Schicksal der Titanic. Sollten sie etwa auch ...? Stephan sah sich vorsichtig um, doch zu seiner Beruhigung war alles um ihn herum ruhig. Nirgendwo gab es Anzeichen für Panik und es verzweifelte auch niemand bei dem Versuch, eines der Rettungsboote oder eine der Rettungsinseln zu erreichen, wie er

67 solche Szenen aus dem Fernsehen kannte. Ein vorsichtiger Blick zu seinen Eltern bestärkte den Eindruck. Auch sie machten einen absolut entspannten Eindruck, obwohl nun auch noch zwei Besatzungsmitglieder eine lange Aluminiumleiter zum Bug brachten. Hieß das, dass sie nun doch die Boote besteigen mussten? Aber über eine Aluminiumleiter? Stephans platzte vor Neugier. Zögernd trat er an die Reling und schaute hinunter. Vom Schiff bis zum Ufer erstreckte sich eine geschlossene Eisdecke, die verhinderte, dass sie bis in den Hafen fahren konnten. Und jetzt sah Stephan auch, dass die Leiter tatsächlich nicht zur Bemannung der Rettungsboote vorgesehen war. Fest mit der Bugreling vertäut, diente sie als Ausstieg für die Fahrgäste. Einer nach dem anderen verließ jetzt das Schiff über die Leiter und legte die letzten zwanzig Meter zu Fuß über das zugefrorene Hafenbecken zurück.

* * *

Ein paar Stunden später stand Stephan dann wieder in Lindlar auf dem Balkon seines Zimmers, blickte auf den Ort hinunter und zog an seiner Zigarette. Von einer überstandenen Schneekatastrophe war hier nichts zu sehen. Alles war so wie immer und vor dieser Normalität wirkten die Aufregungen der letzten Tage schon fast unwirklich. Zwei Monate später erfasste eine zweite Kältewelle Norddeutschland und erinnerte Stephan an das

68 Erlebte. Doch nicht die Erinnerungen an die Katastrophe waren Grund dafür, dass seine Hand jetzt zitterte. Vielmehr waren es die Aufregung und der Stolz, die dazu führten, dass die Unterschrift in seinem ersten Führerschein etwas krakeliger als normalerweise ausfiel. Er hatte die Prüfung auf Anhieb geschafft. Die erste Hürde auf dem Weg zu einem eigenen Moped war genommen.

Für Stephan und seine Freunde teilte sich die Welt in drei wichtige Bereiche, die ihren Tagesablauf maßgeblich bestimmten: Schule, Fußball und Musik. Und auch wenn die Schule einen Großteil der Zeit in Anspruch nahm, reichte es dennoch nur zum dritten Platz im Beliebtheitsranking, trotz der Veränderungen, die sich derzeit in Stephans Jahrgangsstufe abspielten. Hatte man bisher immer nur neidisch auf die noch so weit entfernten höheren Klassen geblickt, durchlief man nun einen altersgemäßen Reifeprozess, der neue Orientierungspunkte mit sich brachte. Und so schloss man sich nun nach und nach den Gruppen an, die bestimmten Einstellungen und Interessen folgten. Eine dieser Gruppierungen waren die sogenannten 'Ökos', welche man an der Kufiya, dem Palästinensertuch, erkannte, die sie als Schal über selbst gebatikten, langärmligen Unterhemden um den Hals trugen. Die Schulsachen und persönliche Dinge der Ökos verschwanden in Jutebeuteln, an denen grundsätzlich irgendwo ein Badge mit der Aufschrift 'Atomkraft? – Nein, danke!' angebracht war. Ein Öko stand außerdem auf Reggae und neben Batikarbeiten strickten sie gerne, viel und überall. In ihren Treffpunkten, den Teestuben, lag oftmals ein schwerer, süßlich-orientalischer Duft von Räucherstäbchen und Tee in der Luft, der sich bestens dazu eignete, den Geruch möglicher Tabakzusätze zu überlagern.

69 Stephan war kein Öko. Statt zu kiffen, trank er lieber mit seinen Freunden ein Bierchen. Und weil es meistens nicht bei dem einen blieb, hatten die Ökos ihnen den Spitznamen 'Alkis' verpasst. Auf einem von Stephans Ansteckern stand 'Atomkraft? – So, nicht!', denn so unkritisch, wie die Ökos meinten, waren die Alkis dann auch wieder nicht. Im Gegensatz zu den Ökos vermied man lange Diskussionen und kam direkt auf den Punkt. Die Lebensphilosophie von Stephan und seinen Freunden lautete dementsprechend auch ganz einfach Triple-M: Mädchen, Musik und Mopeds. Bei der Musik war natürlich Hard Rock das Nonplusultra. Und so prangten die Namen der Lieblingsbands gut sichtbar auf ihren ausgemusterten Bundeswehrjacken. Reggae wurde nur gelegentlich mit einer Ausnahme geduldet. Getreu ihrem Motto 'Sommer, Sonne, Saskia' hatte Bernds Schwester eine gewisse Affinität zu Sonnenländern und deren Musik.

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Inzwischen hatten in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien begonnen. Lehrer und Schüler freuten sich, endlich vom harten Bildungsalltag erlöst, auf die wohlverdiente Auszeit. Doch im Gegensatz zu den vergangenen Jahren musste sich Stephan noch etwas gedulden. Auf ihn kam nun

70 eine ganz besondere Herausforderung zu, erhielt er doch nun seine allererste Bewährungsprobe in der harten Arbeitswelt. Kurz vor Ende des Schuljahrs hatte er eine Zusage von den Milchwerken Köln-Wuppertal, besser bekannt als TUFFI-Werke, erhalten. Sein erster Ferienjob war damit unter Dach und Fach. Stephan war außer sich vor Freude, hatte er doch eigentlich nicht mehr damit gerechnet, noch eine positive Antwort auf seine abgegebenen Bewerbungen zu erhalten. Aber jetzt nahm das Bild von seinem Moped auf einmal wieder Konturen an. Doch noch hatte er es nicht, wie er zu seinem Leidwesen feststellte, als er das erste Mal die neun Kilometer zu seiner neuen Arbeitsstätte mit dem Fahrrad zurücklegte. Eine Busverbindung, die er hätte nutzen können, um rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz zu sein, gab es nicht. In den Ferien nicht ausschlafen zu können, war etwas, das Stephan so nicht kannte. Schon gar nicht, dass er jetzt sogar noch früher aufstehen musste als an Schultagen. Und so passierte genau das, was passieren musste: Gleich an seinem ersten Arbeitstag verschlief er. Erst nach dem dritten Klingeln des Weckers war er hektisch aus dem Bett gesprungen. Katzenwäsche und los. In allerletzter Minute, aber gerade noch rechtzeitig erreichte er die Stempeluhr. Die Zeit, die er mit dem Fahrrad hingelegt hatte, blieb bis zum Ende seines Ferienjobs eine unerreichte Rekordzeit. Stephan wurde zunächst in der

71 Buttermilchabfüllung eingesetzt, wo er darauf achten musste, dass sich die Tetrapacks auf dem Produktionsband nicht verkanteten und platzten. Eine lösbare Aufgabe, dachte Stephan zufrieden. Das sah nach einfach verdientem Geld aus. Eine halbe Stunde später musste er allerdings feststellen, dass die Abfüllmaschine über eine Vielzahl an Tricks verfügte, um eine unerfahrene Aushilfskraft auf Trab zu halten. Am Ende seines ersten Arbeitstages teilte man Stephan noch mit, dass er unvollständig abgefüllte Packungen zum Eigenverzehr mit nach Hause nehmen durfte. Von dieser Regelung machte er dann auch gleich rege Gebrauch, wusste er doch, wie gerne seine Mutter frische Buttermilch trank. Nachdem jedoch bereits am dritten Tag der heimische Kühlschrank an seine Kapazitätsgrenze stieß, musste er seine gut gemeinten Lieferungen wieder einstellen, denn mehrere Liter Buttermilch am Tag schaffte bei aller Begeisterung auch seine Mutter nicht. In der zweiten Woche lernte Stephan dann die nächste Maschine kennen, die es offensichtlich auch auf ihn abgesehen hatte. Diesmal musste er Kartons falten, während unaufhaltsam Joghurtbecher auf ihn zuströmten, die auch noch in die Kartons verpackt werden wollten. Das, was eben bei den erfahrenen Kräften so leicht aussah, entpuppte sich für ihn als schier unlösbare Aufgabe. Das sahen zu seinem Glück auch die anderen so und erlösten ihn bereits nach wenigen Minuten. Dafür durfte er nun die fertig

72 gepackten Kartons auf Paletten verladen und mit einem Hubwagen zu den Kühlräumen ins Erdgeschoss bringen. Stephan atmete durch und war froh, dass man ihn von der Monotonie der Maschine erlöst hatte. Er genoss die neu gewonnene Unabhängigkeit, die es ihm erlaubte, auch immer mal wieder ein Zigarettenpäuschen einzulegen. Eine Aufgabe, die ihm allerdings am meisten Spaß machte, auch wenn er dafür bereits um fünf Uhr aufstehen musste, war die Mitfahrt in einem der großen Lastwagen. Natürlich gab es auch hierbei einen kleinen Haken, denn schließlich mussten die Lastwagen ja auch be- und entladen werden und das war bei 25 Kilogramm schweren Milchpulversäcken wahrlich kein Zuckerschlecken. Dafür durfte man dabei nach Herzenslust rauchen.

Die ungewohnte körperliche Arbeit und der tägliche Weg mit dem Fahrrad rangen Stephan einiges ab. Da kam ihm das Angebot eines Schulfreundes äußerst gelegen, der ihm ein Mokick für 600 DM anbot. Stephan dachte daran, wie es wohl wäre, motorisiert zur Arbeit zu fahren. Doch bei aller Vorfreude blieb das Problem der Finanzierung, denn seinen Lohn würde er erst am Ende der drei Wochen erhalten. Stephan überlegte. Neben der Unabhängigkeit und dem Komfort, den so ein Mokick bot, war das Angebot seines Freundes auch ein Schnäppchen. Die einzige Möglichkeit, an einen Vorschuss zu

73 kommen, waren seine Eltern, und wie die seinen Wünschen nach einem fahrbaren Untersatz gegenüberstanden, wusste er ja nur zu gut. Trotzdem wollte Stephan nicht so einfach aufgeben. Nicht jetzt, wo er seinem Ziel so nah war.

»Einverstanden, du kriegst den Vorschuss«, sagte Stephans Vater ohne Umschweife, nachdem Stephan nach langem Herumdrucksen endlich gefragt hatte. »Wirklich?«, fragte Stephan und sah seinen Vater ungläubig an. »Es ist ja sowieso nur noch eine Frage der Zeit, bis du das Geld zusammen hast«, sagte sein Vater und lächelte ihn milde an. Stephan konnte es immer noch nicht glauben. Sollte er es wirklich geschafft haben? Selbst als er stolz seinem Freund die 600 DM in die Hand gedrückt und das Versicherungsschild angeschraubt hatte, meinte er immer noch zu träumen. Mit ihrer Dreigangfußschaltung und dem gebläsegekühlten, vollverkleideten Motor war die grüne Kreidler Florett weder ein technisches Wunderwerk noch schön. Die Sitzbank war seitlich eingerissen und in dem großen klobigen Scheinwerfer ruhte ein kleiner Tacho. Im Grunde glich sein Zweirad mehr einem Restebausatz als einem Mokick. Doch Stephan liebte es. Endlich hatte er sein eigenes 'Moped', wie in seiner Clique alle motorisierten Zweiräder mit klassischem Understatement bezeichnet wurden. Und diese neu gewonnene Mobilität hatte in

74 der ländlichen Gegend des Bergischen Landes einen nicht zu unterschätzenden Wert. In den nächsten Monaten arbeitete Stephan emsig an der Restaurierung seiner Maschine. Eine 'Schönheits- OP' folgte der nächsten. Er verpasste seinem Zweirad einen Viergangmotor und einen neuen Tank. Lenker und Rahmen wurden getauscht und von Tag zu Tag ähnelte seine Kreidler immer mehr dem angestrebten Bild eines coolen Kleinkraftrades. Auch wenn er alle Teile günstig gebraucht oder durch Tausch beschafft hatte, machte er nun eine neue Erfahrung: Nicht nur die Anschaffung eines motorisierten Untersatzes kostete Geld, sondern auch sein Unterhalt. Besonders schmerzhaft machte sich dabei der Benzinpreis bemerkbar, der in diesem Jahr erstmals über die magische Grenze von einer Mark pro Liter stieg. Ohne den großzügigen Einsatz seiner Mutter, die ihm immer mal wieder etwas Geld zum Tanken zusteckte, wäre seine frisch gewonnene Freiheit sehr schnell wieder vorbei gewesen.

75 76 Macht der Gewohnheit

1980 Stein für Stein blockiert Pink Floyd ein Drittel des Jahres den ersten Platz der LP-Charts und alle Schüler der Welt rufen begeistert: »We don't need no education!« Zur gleichen Zeit versucht ein gewisser Mike Krüger unweit von Hamburg verzweifelt einen Nippel durch eine Lasche zu zieh'n. Eine Armada von Schönheitschirurgen beginnt mit ersten Korrekturen an Michael Jackson. Es werden nicht die letzten bleiben. Don't stop, 'til you get enough! Die Band Godley & Creme besingt einen Engländer in New York, meint damit aber nicht John Lennon, der dort im Dezember vor seiner Haustür erschossen wird. Etwas schlüpfrig sind die Liebesabenteuer eines gewissen Bobby Brown. Aber da Frank Zappa auf Englisch singt, ist der so verschlüsselte Text auch in Deutschland in aller Munde. Apropos Liebesabenteuer: Mit denen werden in einigen Jahren auch Sarah Connor und Christina Aguilera von sich reden machen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es aber noch das überschaubare Publikum einer Entbindungsstation, das das erste Mal ihre Stimmgewalt zu hören bekommt. Über zwei andere Mädchen, die ebenfalls in diesem Jahr das Licht der Welt erblicken, wird regelmäßig auf den Laufstegen der Welt ein Blitzlichtgewitter niedergehen. Im Moment interessiert sich aber noch kein Fotograf für Namen wie Gisele Bündchen oder

77 Eva Padberg. Im sonnigen Italien wird Deutschland dank Horst Hrubesch Fußball-Europameister und alle feiern mit. Alle? – Nein, nicht alle! Vielen Sportlern ist überhaupt nicht nach Feiern zumute. Für sie waren Wochen und Monate, ja manchmal auch Jahre des Trainings und der Vorbereitung umsonst. Zusammen mit einigen anderen Staaten boykottiert auch Deutschland aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan die Olympischen Sommerspiele in Moskau.

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Viele Jahre später würde auch Stephan sich aus beruflichen Gründen regelmäßig mit dem Land am Hindukusch beschäftigen müssen. Aber in diesem Jahr galt seine Aufmerksamkeit noch anderen Dingen, wie zum Beispiel seiner persönlichen Finanzkrise. Sie hatte sich inzwischen zu einem lästigen, aber leider auch treuen Begleiter entwickelt. Jeglicher Versuch, einen ausgeglichenen Haushalt zu führen, war jämmerlich gescheitert. Auch das Taschengeld, das Stephan von seinen Eltern erhielt, ermöglichte nur kurzfristige Entlastung. Das Gleiche galt für seine anderen Einnahmequellen wie die Geldgeschenke zum Geburtstag oder an Weihnachten. Zu allem Überfluss wurde Stephan dieses Jahr auch noch achtzehn, was den Aufstieg in die Klasse der Autofahrer erlaubte. Auch wenn es noch bis Oktober

78 etwas Zeit war, sorgte sich Stephan schon jetzt um die notwendigen Finanzmittel, die er zum Erwerb der nächsten Führerscheinklasse benötigte. Stephan überschlug seine finanziellen Ressourcen, was nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Das Ergebnis fiel erwartungsgemäß ernüchternd aus. Trotz Ferienjob sah er im wahrsten Sinne des Wortes rot. Es reichte einfach hinten und vorne nicht, die roten Zahlen waren einfach nicht wegzubekommen. Eines Tages stieß Stephan zufällig beim Lesen der Tageszeitung auf eine Anzeige, die die Lösung seines Finanztraumas sein könnte. Die Bergische Landeszeitung suchte in Lindlar noch einen Zeitungsausträger. Das ist es, dachte er und schickte gleich am nächsten Tag seine Bewerbung los. Mit Erfolg! Bereits zwei Wochen später wälzte sich Stephan das erste Mal um vier Uhr morgens aus dem Bett. Ein Vorgang, der sich von nun an in den folgenden zwei Jahren sechs Mal die Woche wiederholen sollte.

Der Rest des Jahres verlief ohne wesentliche Highlights. Stephan sparte, was das Zeug hielt. Nur bei Zigaretten schwächelte er dann doch. Sie blieben nach wie vor fester Bestandteil seines Lebens und somit auch ein wesentlicher Posten auf seiner Ausgabenseite. Es gab aber auch einfach zu viele Anlässe, um sich eine anzuzünden. Es gab die Zigarette danach, um einen

79 vorangegangenen Genuss zu unterstreichen. Stand ein größerer Zeitraum bevor, in dem nicht geraucht werden konnte, hieß es: »Noch schnell eine Zigarette, dann ...' Richtig gut schmeckten Bier und Kaffee nur, wenn es dazu etwas zu qualmen gab und was war schon eine Arbeitsunterbrechung ohne Pausenzigarette. War es draußen kalt, strahlte die Zigarette zwischen den Fingern eine wohlige Wärme aus. Unverzichtbar war die Stresszigarette, entfaltete sie doch ihren beruhigenden Rauch immer dann, wenn eine fordernde Aufgabe erledigt war oder eine solche bevorstand. Erlaubte es der Ort, wie beispielsweise im Büro, rauchte man auch gerne während der Stressphase. Oftmals war man jedoch dann so beschäftigt, dass der Glimmstängel seinem Namen alle Ehre machte und unbeachtet im Aschenbecher verglühte. Leider fiel der so Unbeachtete aber auch immer wieder einfach aus dem Ascher, wovon so manche Schreibtischplatte stumm Zeugnis ablegte. Quälte einen die Langeweile, wurde eine Zigarette zum Zeitvertreib angesteckt und selbst die Zeit ließ sich mit ihr messen. Wer erinnerte sich nicht an Inga & Wolf, die da sangen: »Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette ...«

Im Weiteren zeichneten sich Zigaretten durch eine schier endlose Zahl an Kombinationsmöglichkeiten aus, die oftmals sogar noch nahtlos ineinander übergingen. So konnte eine Pausenzigarette natürlich

80 auch gleichzeitig der Entspannung dienen. Wollte ein Single in der Diskothek möglichst cool Eindruck auf die Damenwelt machen, musste er entsprechend lässig eine rauchen. Nach dem ersten Kontakt mit einer vermeintlichen Herzdame, entwickelte sich die Zigarette häufig zu einer Stresszigarette. Ein erfolgreicher Flirt begründete die nächste Zigarette zur Entspannung, bekam man einen Korb, musste natürlich gleich wieder etwas gegen den Stress unternommen werden. Einem möglichen 'Kommst du noch auf eine Tasse Kaffee mit rauf?', gab kurz darauf Anlass, eine zum Kaffee zu rauchen. Danach begleitete vielleicht eine Zigarette auch noch die unwiderrufliche Frage: »Wie war ich?« Schnell konnte sich dabei die anfängliche Entspannung in Stress umkehren, wenn die Antwort nicht wie erwartet ausfiel.

Wie man sieht, gab es Zigaretten für alle Lebenslagen, die daher auch schnell aufgrund ihrer vermeintlichen Wirkung zu festen Gewohnheiten wurden. Es war deshalb nicht weiter verwunderlich, dass nun auch Stephan und seine Freunde auf ihrem Weg zum Erwachsenen auf die dunkle Seite der Macht wechselten. – Der Macht der Gewohnheiten.

81 82 Sport ist Mord

1981 Die wilde Kim singt von Kindern in Amerika. Ebenfalls von dort, genauer gesagt aus Dal- las, grinst einmal die Woche J.R. Ewing verschlagen in deutsche Wohnzimmer. Zwei Schlagzeuger trommeln sich in die Charts: Max Werner beschwört den Regen im Mai und Phil Collins fühlt, dass heute Nacht etwas in der Luft liegt. Im karierten Jackett und mit einem Gummihuhn in der Aktentasche besingt ein Mann einen gewissen Erwin, der einer Heidi von hinten an die Schultern fasst. In den Kinos erzeugt Christiane F. mit den Kindern vom Bahnhof Zoo Betroffenheit und der junge Herbert Grönemeyer geht mit U 96 auf Tiefe. In London geben sich Lady Di und Prinz Charles bei der Traumhochzeit des Jahres vor den Augen der Welt das Jawort. Doch schon bald wird das scheinbare Märchen zum Albtraum und Diana wird einmal diesen Tag als den schrecklichsten in ihrem Leben bezeichnen. Schrecklich finden viele Kritiker auch Schimi, der endlich für Ruhe und Ordnung im Pott sorgt. Doch der Erfolg ist nicht aufzuhalten und die Schimanskijacke wird zum Verkaufsschlager. Kein Verkaufsschlager im Vergleich zu heute wird der erste Stadtmarathon in Deutschland, der mit nur 3150 Läufern in Frankfurt gestartet wird. Offensichtlich sind viele Deutsche der gleichen Meinung wie einst Winston Churchill. Der hatte

83 seinerzeit angeblich auf die Frage eines Reporters, worauf er sein hohes Alter zurückführe, mit 'No Sports!' geantwortet.

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Stephan und Bernd waren wirklich keine Kinder von Traurigkeit. Sie fehlten auf keiner Party und hingen auch sonst viel herum, hörten Musik und rauchten, was das Zeug hielt. Dennoch verzichteten sie nie auf ihren Sport, der immer noch die wichtigste Freizeitbeschäftigung darstellte. Daher fand man sie auch fast jeden Tag kickend auf dem Bolzplatz der Jugendherberge. Selbst wenn sie keine weiteren Mitspieler fanden, waren sie trotzdem dort und schossen auf die Torwand.

Im Jugendheim halfen die beiden nun auch im sogenannten Klubraum, der täglich außer sonntags von 16:00 Uhr bis 22:00 Uhr geöffnet hatte. Dort trafen sich die Jugendlichen des Dorfes, saßen zusammen und hörten Musik. Man konnte Gesellschaftsspiele ausleihen und wer zu all dem keine Lust hatte, saß halt nur da und plauderte. Wenn Stephan und Bernd 'Schicht' hatten, arbeiteten sie hinter der Theke, wo sie Getränke verkauften und für die Musik sorgten. Als Lohn für ihre Dienste erhielten sie Freigetränke zum Selbstverzehr. Dies verschaffte Stephans Portemonnaie die noch immer dringend notwendigen Verschnaufpausen.

84 Bei dieser enormen Vielzahl an Freizeitaktivitäten musste Stephan sich ordentlich organisieren und Prioritäten setzen. Zu diesen gehörten grundsätzlich nicht die Hausaufgaben, die man ja schließlich auch noch morgens im Bus machen konnte. Dennoch war Stephan jedes Mal aufs Neue froh, wenn es am Engelbert-von-Berg-Gymnasium endlich wieder hieß: School’s out for summer.

In diesem Sommer gab es allerdings für den jährlichen Familienurlaub auf Baltrum eine kleine aber feine Programmänderung. Zumindest für Stephan. Zu seinem 'großen Bedauern' konnte er diesmal die Ferien nicht mit seinen Eltern und Oscar verbringen. Die Auftragslage der Firma, in der seine Eltern arbeiteten, hatte dazu geführt, dass sie erst sehr spät Urlaub nehmen konnten. Zu diesem Zeitpunkt musste Stephan allerdings schon seinen Ferienjob antreten, sodass er dieses Jahr schon vor der restlichen Familie zu seiner Oma nach Baltrum fuhr.

Stephan atmete tief durch, als er alleine das Schiff verließ. Sein erster Urlaub ohne Eltern und seinen nervigen Bruder, mit dem er sich nun auch kein Zimmer teilen musste. Es roch förmlich nach Freiheit und Selbstständigkeit. »Hast du es gut geschafft?«, fragte ihn seine Oma und nahm ihn in den Arm. »Du bist ja wieder etwas größer geworden. Komm, wir müssen nach Hause, in einer halben Stunde gibt’s pünktlich Essen.«

85 Na gut, dachte Stephan, während ein Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Ganz frei war man ja schließlich nie und so würden die festen Essenzeiten, auf die seine Oma sehr viel Wert legte, ihn auch nicht zu sehr einschränken. Ein wenig sorgte er sich nur wegen abends. Ob seine Oma ihn bis 22 Uhr in den Jugendklub ließ? Am Strand fand Stephan schnell Anschluss zu Gleichaltrigen, meistens kannte man sich auch noch vom Vorjahr. Sie lagen faul in der Sonne oder spielten Beachvolleyball. Zwischendurch suchten sie die Abkühlung in der erfrischenden Brandung der Nordsee oder bei Ebbe dann weit draußen auf der Sandbank. Stephan zog sich immer pünktlich um 12:45 Uhr für kurze Zeit zurück, um rechtzeitig beim Mittagessen zu sein. Auch wenn alle anderen am Strand blieben, fiel es ihm nicht sonderlich schwer. Erstens hatte er nach den langen und 'anstrengenden' Vormittagen immer ordentlich Hunger und zweitens ersparte er sich so das Standardmenü, das seine Freunde Tag für Tag aus den Strandlokalen schleppten: fettige Pommes und Currywurst. So genoss Stephan die Leckereien, die seine Oma ihm auftischte, denn wie alle Omas der Welt war auch sie Experte in puncto Enkel verwöhnen. Nach dem Abendbrot traf die Sommerclique sich im Baltrumer Jugendklub, wenn nicht gerade eine ihrer legendären Strandpartys auf dem Programm stand. Möglichst weit im Osten der Insel und schön in den Dünen versteckt, ging dann die Party so richtig los. Mit Treibholz wurde ein Lagerfeuer entfacht und in großen

86 ehemaligen Marmeladeneimern, die die befreundeten Insulanerkinder mitgebracht hatten, 'Çay' gekocht. Dabei handelte es sich um eine Art Glühwein auf Basis einer Sangriabowle. Obwohl irgendjemand mal dieses Gebräu 'Çay' genannt hatte, fand man kein einziges Teeblatt darin. Stattdessen gab es Dosenpfirsiche, die dem Getränk einen leicht fruchtigen Charakter verliehen, der zum gefälligen Trinken verführte. In Kombination mit der Stimmung eines warmen Sommerabends am Meer blieb der 'Çay' nicht ohne Folgen, wie man am nächsten Tag vielen Gesichtern trotz aller Sonnenbräune deutlich ansehen konnte. Doch trotz seiner verheerenden Wirkung oder vielleicht auch gerade deswegen erfreute sich dieser 'Zaubertrank' einer derart großen Beliebtheit, dass die Strandpartys, auf denen er zubereitet wurde, schnell zum Geheimtipp avancierten. Stephan fand, dass man diesen Erfolg sicher auch gut nach Hause importieren könnte, und notierte sich sehr genau und sorgfältig die Rezeptur.

Zurück in Lindlar gaben seine Familie und er sich quasi die Klinke in die Hand. Seine Eltern machten sich mit Oscar auf den Weg nach Baltrum, während Stephan das erste Mal ganz alleine zu Hause blieb. Nach den erholsamen und geselligen letzten Wochen, in denen er sich um nichts hatte kümmern müssen, kamen nun auf einmal ganz neue Herausforderungen auf ihn zu. Noch nie hatte er sich selbst versorgen müssen. Wie sollte er denn einkaufen,

87 wenn er den ganzen Tag bei der Arbeit war? Stephan graute schon jetzt vor dem bevorstehenden Gehetze. Nach der Arbeit noch in den Supermarkt eilen und anschließend kochen. Sollte so etwa sein Feierabend aussehen? Doch Stephan wäre nicht Stephan, wenn er nicht eine Lösung für dieses Problem finden würde. Er überlegte kurz und dann wusste er es: Wozu gab es schließlich Freunde? Stephan grinste zufrieden, während er nach dem Telefonhörer griff und wählte. Er wusste, dass Bernd und Thilo sein Angebot, drei Wochen in einer absolut sturmfreien Bude zu verbringen, niemals ausschlagen würden.

Voller Vorfreude stellte Stephan am nächsten Tag sein Mokick ab und sprang die Stufen zur Haustür hinauf. Er hatte kaum die Tür erreicht, als sich diese auch schon öffnete. »Na, du alter Malocher«, sagte Bernd. »Wie du siehst, haben wir den Schlüssel unter der Fußmatte gefunden.« »Schön, dass ihr da seid«, sagte Stephan. Er erinnerte sich an die letzte Nacht, die er ganz alleine in dem großen leeren Haus verbracht hatte, und war wirklich froh, dass nun wieder Leben in der Bude war. Im Esszimmer, das direkt an den Windfang des Eingangsbereichs angrenzte, erwarteten ihn neben Bernds Freundin Petra auch noch Thilo mit seiner Freundin Susanne sowie zwei Kisten Bier.

88 »Wie ich sehe, wart ihr auch schon einkaufen«, sagte Stephan. »Zur Einweihung unserer Kurz-WG«, sagte Thilo grinsend. Die Zimmer waren schnell aufgeteilt, und nachdem sich alle soweit eingerichtet hatten, saß man noch lange bei Bier und Chips im Wohnzimmer zusammen. In dieser Nacht schlief Stephan besonders gut ein. Er hatte wieder Gesellschaft und musste sich nicht auch noch um solche Belanglosigkeiten wie Einkaufen und Kochen kümmern, wenn er abends 'geschafft' von der Arbeit nach Hause kam. Am Ende der drei Wochen und nachdem seine Freunde wieder ausgezogen waren, erfuhr Stephan dann von seiner Mutter, in welcher speziellen Weise seine Ferienmitbewohner die Versorgung durchgeführt hatten. In einem Dorf, in dem nicht nur jeder jeden kannte, sondern auch jeder mit jedem sprach, war der Einkauf mit einer Schubkarre für sich alleine schon etwas Bemerkenswertes. Transportierte man allerdings neben klassischen Lebensmitteln auch noch täglich eine Kiste Bier sowie die Zutaten für Baltrumer Çay quer durchs Dorf und an sämtlichen Nachbarn vorbei, musste man sich nicht wundern, dass dies nicht unkommentiert blieb. Und so wurde Stephans Mutter unmittelbar nach ihrer Rückkehr über die ungeheuerlichen Vorgänge in Kenntnis gesetzt. Stephans Eltern gaben grundsätzlich nicht viel auf nachbarschaftlichen Tratsch, und da der Zustand der Wohnung auch keinen Anlass zur Kritik gab, blieb es

89 bei einem missbilligenden Kopfschütteln. Daran änderte auch die große Portion Fritten nichts, die Stephans Mutter im Backofen vorgefunden hatte. Irgendwie hatte ihre Standardsättigungsbeilage sich dort vor dem Großreinemachen der Wohngemeinschaft verborgen. Seine Mutter drückte ihm kommentarlos das Backblech in die Hand, damit er das Versäumnis nachholen konnte. Mit gerümpfter Nase brachte Stephan die Kartoffelstäbchen, die inzwischen trotz sommerlicher Temperaturen ein weißes Pelzmäntelchen trugen, aus dem Haus und ließ sie in den Tiefen der Restmülltonne verschwinden.

Im Herbst, nachdem Stephan nun auch seinen Auto- und Motorradführerschein in der Tasche hatte, war es Zeit für einen erneuten Kassensturz. Das Mokick war verkauft und zusammen mit den Resten seines Sommerverdienstes, von dem er schon den Führerschein bezahlt hatte, blieb gerade noch genug Geld für einen alten Gebrauchtwagen. Und so war Stephan mit nur 250 DM im Rennen. Der weiße VW-Käfer, Baujahr 1967, mit 1200 ccm, 34 PS und noch sechs Monaten TÜV war für einen Fahranfänger wie geschaffen. Eine Beule mehr oder weniger machte nämlich bei so einem Auto keinen Unterschied. Natürlich war in dieser Preisklasse kein großer Komfort zu erwarten, aber wenigstens besaß Stephan nun einen fahrbaren Untersatz, der ihn vor Wind und Wetter schützte. Da waren so kleine Einschränkungen

90 wie das Fehlen einer funktionierenden Heizung nicht schön, aber zu verkraften. Wie so viele seiner Artgenossen litt auch Stephans Wagen an der verbreiteten Käferkrankheit 'defekte Heizbirnen'. Doch mit einer immer gut gefüllten Dose Anti-Eis-Spray auf dem Beifahrersitz hatte man immer das notwendige Guckloch. Im Laufe des ersten Winters wurde es für Stephan auch schnell zur Gewohnheit, sich bei der Parkplatzsuche nach der Sonne zu richten. Zumindest bei Sonnenschein war sein Auto so immer schön vorgeheizt und abgetaut. Die restliche Ausstattung von Stephans 'Herbie' konnte man ohne Übertreibung als spartanisch bezeichnen und erinnerte oftmals an sein altes Moped. Der runde Tacho reichte sage und schreibe bis 100 km/h und sollte damit für die Motorisierung ausreichen. Doch Stephan schaffte es tatsächlich einmal, während einer rasanten Bergabfahrt nach Köln, die Nadel bis zum Anschlag an die Nullmarke zu bekommen. Rechts neben dem Tacho befand sich die Tankuhr. Sie arbeitete rein mechanisch und suggerierte dadurch einen ausreichend gefüllten Tank, wenn man eine Steigung hinauf fuhr. Die Ernüchterung folgte allerdings auf den Fuß, sobald es wieder bergab ging. Bis Stephan sich daran gewöhnt hatte, war der gefüllte Benzinkanister im Kofferraum sein wichtigster Begleiter. Trotzdem sorgte diese grundsolide und funktionale Technik für eine äußerst geringe Störanfälligkeit. Der

91 Käfer war dadurch für den immer klammen Stephan das ideale Gefährt.

Stephan hatte nun nicht nur die nächste Stufe in seiner Mobilitätsentwicklung genommen, sondern endlich auch genug Platz, um neben den Schulsachen auch die Sporttasche transportieren zu können. Bisher waren seine Schulbücher immer zwischen den verschwitzten Sportsachen verschwunden und das konnte man ihnen nicht nur ansehen. Während seiner Schulzeit hatte er über den obligatorischen Schulsport und den Freizeitfußball eine gewisse Affinität zum Sport entwickelt. Und auch wenn er sicher nicht zu den Sportcracks an seiner Schule zählte, verfügte er dennoch als 'Allrounder' über eine sportliche Vielseitigkeit. Ohne große Spezialisierung war er überall ein bisschen zu Hause: Ballsport, Schwimmen, Leichtathletik und Radfahren umfasste dabei die Palette seiner Fähigkeiten. Lediglich dem Ausdauersport konnte er nicht so viel abgewinnen. Das lag aber vor allen Dingen an dem Umstand, dass er als Raucher bereits regelmäßige Verschnaufpausen einlegen musste. Von dieser Ausnahme abgesehen, fielen Stephan sportliche Betätigungen leicht und daher beschloss er dann auch, diese Leichtigkeit mit ins Abitur zu nehmen. Da das Engelbert-von-Berg-Gymnasium die Möglichkeit bot, Sport als zweiten Leistungskurs zu belegen, standen seine Prüfungsfächer nunmehr fest. Mit Physik, Sport, Geschichte und Deutsch musste

92 die Reifeprüfung doch zu schaffen sein, dachte Stephan. Doch ganz so leicht, wie er sich das alles ausgemalt hatte, sollte es dann doch nicht werden. Die Atomphysik machte ihm mächtig zu schaffen und auch im Sport gab es die eine oder andere Hürde. Natürlich musste er ein 'bisschen' laufen, springen und schwimmen. Das war genauso wenig ein Problem wie die Mannschaftssportarten Fußball, Handball, Basket- und Volleyball. Leider hatte Stephan aber nicht damit gerechnet, dass es neben dem praktischen Teil auch einen theoretischen gab. So kam er schon bald nicht nur in der Halle oder auf dem Sportplatz ins Schwitzen, auch Sportphysiologie, -anatomie, -biologie, Sportsoziologie sowie natürlich Trainingslehre sorgten dafür. Trotz allem bereute Stephan seine Wahl nicht und da er auch in keiner Ausdauersportart geprüft wurde, konnte er seinem Kippenlaster lustig weiter frönen. Stephan wusste, dass Winston Churchill nicht nur leidenschaftlicher Raucher, sondern auch unter anderem ein genauso begeisterter Sportler gewesen war. Deswegen gefiel ihm ein weiteres Zitat, das ebenfalls Churchill zugeschrieben wurde, sehr viel besser. Es lautete: »Keine Stunde, die man mit Sport verbringt, ist verloren!«

93 Ein neuer Lebensabschnitt

1982 Eine Ära geht zu Ende: Agnetha, Benny, Björn und Anni-Frid trennen sich. Doch die Musiklandschaft ist mit New Wave, New Romatic und natürlich der Neuen Deutschen Welle so vielfältig und bunt wie lange nicht. Drei Ostfriesen mit scheinbar etwas viel Bommerlunder in der Blutbahn singen: »Da da Da, du liebst mich nicht, ich lieb dich nicht.« und in München gibt es einen Skandal im Sperrbezirk. Iron Maiden rennen zu irgendwelchen Hügeln und ein Ösi rappt: »Den Schnee, auf dem wir alle talwärts fahren, kennt heute jedes Kind!« Die 'Beste Band der Welt' wird gegründet und Campino ist nun nicht mehr nur noch ein Bonbon, aber trotzdem in aller Munde. Kein Bonbon, aber trotzdem schrecklich süß ist E.T., der unbedingt nach Hause telefonieren möchte. Kaiser Franz telefoniert in diesem Jahr noch nicht als Werbefigur für die Telekom, obwohl er sich aus dem aktiven Sport zurückzieht. In seinem Abschiedsspiel geht es mit dem HSV gegen die Nationalelf, welche kurz darauf in Italien wieder einmal 'nur' Vize- Fußball-Weltmeister wird. Vom Kaiser zur Kaiserin. Sissi alias Romy Schneider und Fürstin Gracia Patricia verlassen viel zu früh für immer die große Weltbühne. Auf deutschen Bühnen macht sich eine Band extra breit und skandiert lautstark: »Hurra, Hurra, die

94 Schule brennt!«

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Stephans Schule brannte zwar nicht, aber für ihn war das Ergebnis ähnlich. Nur einmal musste er heute noch dorthin zurück, wo er vor Kurzem sein Abi unter Dach und Fach gebracht hatte. Traditionsgemäß musste dieser Erfolg noch gebührend gefeiert werden. »Abi '82!«, schallte es lautstark durch die Flure und Gänge des Engelbert-von-Berg-Gymnasiums. Die Türen der Klassenzimmer wurden von angeheiterten Abiturienten aufgerissen und alle Schüler der unteren Klassen durch die scheidenden Oberprimaner vom Unterricht erlöst. Wenigstens für diesen einen Tag. Acht Mal hatte Stephan dieses Ritual nun schon miterlebt, nur dass er bisher immer auf der anderen Seite gestanden hatte. Umso mehr genoss er es nun, endlich selbst zu den Schulabgängern zu gehören, die er früher immer so sehr beneidet hatte.

Auf die lange Zeit der Schulpflicht folgte nun, jedenfalls für die meisten männlichen Schulabgänger, die Wehrpflicht. Auch Stephan war bereits gemustert worden und seitdem hatte er sich so seine Gedanken zu dem Thema gemacht. Da er Deutschland für durchaus schützenswert hielt, war für ihn von vornherein klar gewesen, sich dieser Pflicht zu stellen, auch wenn die Gefahr, die im Osten hinter dem 'Eisernen Vorhang' lauerte, irgendwie doch sehr

95 abstrakt und irgendwie unfassbar war. Bei seinen Überlegungen kam ihm die Idee, Pflicht und Nutzen, wenn irgend möglich, miteinander zu verbinden. Ursprung der Idee war nicht zuletzt auch seine wieder einmal sehr prekäre Finanzlage. Stephan war erzeugt, dass sich Bundeswehr, Ausbildung und Geldverdienen unter einen Hut bringen ließen.

»Krankenpfleger wollen Sie also werden?«, fragte ihn dann auch kurz darauf ein freundlicher Herr in einer grauen Uniform. »Da hätte ich was für Sie.« Stephan strahlte innerlich und sah den Wehrdienstberater des Kreiswehrersatzamtes Bergisch- Gladbach gespannt an. Das, was er anschließend hörte, klang fantastisch: Dickes Gehalt, Ausbildung zum Krankenpfleger, zur See fahren und die weite Welt sehen. Perfekt, dachte Stephan. Das alles gab es für eine nur vierjährige Verpflichtungszeit. Ein wahres Schnäppchen. »Gut«, sagte der nette Wehrdienstberater. »Dann schicke ich Ihre Bewerbungsunterlagen gleich morgen zur Freiwilligenannahmestelle. Von dort erhalten Sie dann die Einladung zur Einstellungsprüfung.« Er schüttelte Stephan die Hand und begleitete ihn noch zur Tür. Das lief ja wie geschmiert, dachte Stephan. Doch im Hinausgehen hielt er noch einmal inne. Irgendwie vielleicht zu geschmiert. Er knabberte an seiner

96 Unterlippe und blickte noch einmal zweifelnd zurück. Hatte auf dem Namensschild des Wehrdienstberaters nicht auch Münchhausen gestanden? »Haben Sie noch eine Frage?«, fragte der uniformierte Berufsberater und sah ihn freundlich an. »Nein, nein!«, sagte Stephan eilig. »Alles klar. Nochmals vielen Dank. Auf Wiedersehen.«

Stephans Bedenken verflogen dann aber erst, als er ein paar Wochen später die zugesagte Einladung in den Händen hielt und kurz darauf im Zug nach Wilhelmshaven saß. Dort befand sich die Freiwilligenannahmestelle der Marine und mit jedem Kilometer wuchs nicht nur seine Aufregung, sondern auch der Zigarettenberg im Aschenbecher seines Abteils. Während der Zug vor sich hinratterte und das Land immer platter wurde, dachte er an das Meer, die Seefahrt und das ganz große Abenteuer. Mit entsprechender Bewunderung begegnete er dann auch dem Soldaten in Matrosenuniform, der ihn ein paar Stunden später in der Ebkeriege-Kaserne in Empfang nahm. Stephan erhielt sein 'Kojenzeug' und wurde ein 'Deck' höher geschickt, wo er seine 'Kammer' beziehen sollte. Die Kammer entpuppte sich allerdings als normale Stube, in der Stephan auf drei weitere Mitbewerber traf, die bereits damit beschäftigt waren, ihre Sachen in die Spinde einzuräumen. Doch jetzt, wo ein Neuer hinzugekommen war, unterbrachen sie ihre Tätigkeit, um sich erst einmal bei einer Zigarette einander

97 vorzustellen. Ein schriller Pfiff und ein lautes Kommando beorderte sie einige Minuten später wieder nach unten. »Ich bringe Sie jetzt zum Backen und Banken in die Kombüse«, sagte der Matrose, der sie empfangen hatte. »Alles folgen!« Stephan blickte verwirrt auf die Uhr, als sie einen großen Speisesaal betraten, in dem es das Abendbrot gab. Eigentlich hatte er mit Kuchen gerechnet, denn schließlich war es gerade mal fünf Uhr.

Kojenzeug, Kammern, Kombüse. Stephan roch förmlich die See und die große weite Welt, als er nach dem Essen zurückging. Jetzt noch schnell die 'Koje' beziehen, dachte er. Und dann nichts wie ins Bett. Für die bevorstehenden Prüfungen wollte er ausgeruht sein. Stephans Mitbewohner hatten allem Anschein nach den gleichen Gedanken gehabt, jedenfalls waren sie bereits eifrig mit ihrem Kojenzeug beschäftigt, als er das Zimmer betrat. Einer von ihnen verschwand gerade gänzlich in einem Bettbezug, um darin die schwere Wolldecke einzuziehen. Zweifellos bezog bei ihm Zuhause noch Mama das Bett. »Nicht dass das schon die erste Prüfung ist«, sagte Stephan lachend, während er sein Bettlaken ausbreitete.

In dieser Nacht schlief er nun das erste Mal in einem Bundeswehrbett und teilte sich ein 'Schlafzimmer' mit

98 drei anderen Bewerbern. Irgendwie erinnerte es ihn an die Klassenfahrten, bei denen sie in Jugendherbergen übernachtet hatten. Wirklich ein idealer Ort, um sich vor einem Prüfungsmarathon auszuruhen, dachte Stephan mit einem Anflug von Ironie. Oder war das etwa die erste Prüfung?

Am nächsten Morgen schallten wieder diese eigenartigen Pfiffe über den Flur und rissen Stephan aus einem kurzen und oberflächlichen Schlaf.

»Rise, Rise. – Ein jeder stößt den Nebenmann, der Letzte stößt sich selber an. – Rise, Rise, aufstehen!« Stephan verstand nur Bahnhof und Aufstehen. Er fühlte sich wie gerädert. Die acht Stunden Schnarchkonzert, die hinter ihm lagen, waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Die nächsten zwei Tage jagte ein Test den anderen. Sie mussten sehen, hören, reagieren, rechnen und vieles mehr. Am letzten Prüfungstag folgte dem Sporttest dann noch das individuelle Abschlussgespräch. Während Stephan darauf wartete, dass man ihn endlich aufrief, füllte sich nach und nach der Aschenbecher des Warteraums. Inständig hoffte er, ausnahmsweise einmal nicht als Letzter an die Reihe zukommen. Mit jedem Mitbewerber, der mit hängendem Kopf das Büro der Entscheidung verließ, wuchs seine Spannung. Dann saß auch Stephan endlich vor dem älteren Herrn in Kapitänsuniform, der ihm mit wenigen

99 Worten mitteilte, dass er bestanden hatte und bereits zum ersten Juli eingestellt werden sollte. Überglücklich verließ Stephan das Büro und ließ sich erleichtert noch einmal auf die Bank im Wartebereich sinken. Jetzt brauchte er unbedingt eine Entspannungszigarette.

Ende Mai kam dann auch der bereits sehnlichst erwartete Brief. Stolz wie Oskar präsentierte Stephan seinen Eltern den Absender: Marineversorgungsschule, List auf Sylt. 'Versehen Sie dort Ihren Dienst, wo andere Urlaub machen', schrieb ihm ein Kapitän zur See. Das war es, das Ticket zur Unabhängigkeit und die Eintrittskarte zur großen weiten Welt.

Es war ein schöner sonniger Morgen, dieser 5. Juli 1982, der einen verheißungsvollen Sommertag ankündigte. Stephan hatte die Vertrautheit des Elternhauses und des kleinen Dorfes im Bergischen Land hinter sich gelassen. Mutterseelenallein stand er nun mit zwei Taschen und einem wild pochenden Herzen am Kölner Hauptbahnhof und wartete auf den Zug. Die letzte Nacht hatte Stephan vor Aufregung so gut wie nicht geschlafen und so dauerte es auch nicht lange, bis er in seinem Sitz eingenickt war.

Erst weit hinter Münster wachte Stephan wieder auf und beobachtete durch das Fenster seines Abteils die

100 vorbeifliegende Landschaft. Hinter Hamburg begann er damit, immer häufiger auf die Uhr zu blicken. Lange konnte es nun nicht mehr dauern, bis er endlich das Ziel erreichte. In dem Moment, als er sich noch über die vielen Ortsnamen wunderte, die auf 'Büll' endeten, passierte der Zug eine lange Deichlinie und vor ihm lag das weite Meer. Noch nie zuvor war Stephan mit einem Zug auf eine Insel gefahren. Neugierig öffnete er das Abteilfenster und ließ sich die frische Meeresluft, die ihm der Fahrtwind ins Gesicht blies, um die Nase wehen. Am Horizont entdeckte er einen schmalen grünen Streifen, der rasch größer wurde. Das musste Sylt sein. Stephan, der bisher noch nie eine Insel gesehen hatte, die wesentlich größer als Baltrum war, staunte nicht schlecht. Beeindruckt und mit dem Gedanken an das, was ihn dort erwarten würde, zündete er sich zur Beruhigung eine 'Stresszigarette' an. »Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Westerland Hauptbahnhof!« Die krächzende Stimme, die aus dem Lautsprecher des Abteils ihre baldige Ankunft ankündigte, ließ ihn zusammenzucken. Mittlerweile hatten sie wieder 'festen Boden' unter den Füßen und Stephan schloss das Fenster. Er zog sich seine Jacke an und schaute aufgeregt zwei jungen Männern in Matrosenuniformen hinterher, die an seinem Abteil vorbeigingen. Sie trugen Seesäcke über der Schulter und hatten ihre weißen Tellermützen lässig in den Nacken geschoben.

101 Hastig packte Stephan seine Sachen zusammen und rauchte noch schnell eine Zigarette. Nun wurde es wirklich ernst. Am Bahnhof von Westerland sollte ein Abholkommando auf die Rekruten warten, die mit Stephan zusammen dem Zug entstiegen und sich wie er unsicher und suchend umblickten. Stephan atmete erleichtert aus, als er die vielen Leidensgenossen erblickte. »Hier 'rüber! Beeilung, Beeilung!« Stephan blickte auf. Am Ende des Bahnsteiges standen einige Männer in blauen Marineuniformen und mit weißen Schirmmützen und winkten wild gestikulierend. Das musste ihnen gelten. Die Rekruten wurden zu olivfarbenen Bussen geleitet, die bereits auf dem Bahnhofsvorplatz mit laufendem Motor warteten. Einer fuhr zum Marinefliegerhorst, wie Stephan der Aufschrift an der Bustür entnehmen konnte. Da er nicht fliegen wollte, stieg er in den nächsten. Marineversorgungsschule, hier war er richtig. Während der anschließenden Fahrt wurde nicht viel geredet, zu groß war die Aufregung bei allen. Man saß wortlos auf den Plätzen und blickte mit einer Mischung aus Neugier und gespannter Nervosität aus den großen Fenstern des Busses. Es ging durch beschauliche Ortschaften, in denen sich malerische Reetdachhäuser zwischen die Dünen zu ducken schienen. Trotzdem gab es nicht viele Ähnlichkeiten mit Baltrum, wie Stephan schon bald

102 feststellte. Im Vergleich zum Dornröschen der Nordsee war Sylt eine Insel XXL. Von Westerland nach List, wo ihre Fahrt sie hinführte, waren es sage und schreibe 15 km. Das entsprach ziemlich genau der Entfernung, die er jeden Tag zur Schule nach Wipperfürth zurückgelegt hatte. Und Richtung Süden nach Hörnum war es noch einmal so weit. In der Nähe des Kampener Leuchtturms arbeiteten einige Inselgäste auf der Driving Range des Golfplatzes fleißig am eigenen Abschlag, während andere direkt in Kampen über die 'Whiskeymeile' flanierten. Ein paar Kilometer weiter gab Stephan der Begriff Vogelkoje, der auf einem unscheinbaren Schild zu lesen war, Rätsel auf. Während er noch überlegte, zogen bereits zwei große Wanderdünen seine Aufmerksamkeit auf sich. Dann hatten sie die nördlichste Gemeinde Deutschlands erreicht. List auf Sylt, ein kleines beschauliches Dorf, in dessen Mitte die Kaserne lag. Der Bus hielt direkt hinter der Wache auf dem Exerzierplatz, der von großen Häusern aus rotem Backstein umgeben war. Stephan stieg aus und blickte sich um. Die große weite Welt hatte er sich anders vorgestellt. Er tröstete sich damit, dass die Grundausbildung ja nicht ewig dauern würde und das ein bezahlter Sommer an der Nordsee ja auch etwas für sich hatte. Wie vertraut ihm die Insel in den nächsten Jahren noch werden sollte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.

103 Die ersten Tage bei der Bundeswehr waren aufregend und hektisch. Viele neue Dinge prasselten auf die Rekruten ein. Man zeigte ihnen alles sehr genau und sorgfältig, und wenn etwas nicht auf Anhieb so gelang, wie es sich der Ausbilder vorgestellt hatte, wurde es wiederholt. Wieder und wieder, bis es klappte. Schließlich hatte man ja den ganzen Tag Zeit, und wenn das auch nicht reichte, nahm man eben noch die Nacht hinzu. Die Ausbilder waren immer für einen da. So grenzte es auch nicht an Hexerei, dass sich Stephan und seine Kameraden bereits nach zwei Wochen die jeweils befohlene Uniform selbstständig anziehen konnten. Ihre Stuben und Spinde waren ein Beispiel für Sauberkeit und Ordnung und hätten so mancher Mutter Freudentränen in die Augen getrieben. Selbst die Betten waren schon gemacht, bevor die letzte Bettwärme aus ihnen entwichen war. Die Ausbilder nannten dieses Wunder der Umerziehung drillmäßiges Üben, ein Begriff, dem Stephan von nun an noch häufiger begegnen sollte. Neben den normalen Dienstgradstrukturen gab es auch noch informelle Gruppen, insbesondere bei den Mannschaften. So gab es die Mannschaftsdienstgrade, die kurz vor dem Dienstzeitende standen. Diese ’Altgefahrenen' erkannte man an den kurzen Maßbändern, von denen sie für jeden gedienten Tag einen Zentimeter abschnitten. Neue Rekruten waren für sie 'Rotärsche' und 'Kisten'. Zeitsoldaten hatten bei den Wehrpflichtigen, die kurz vor ihrer Entlassung standen, einen besonders schlechten Stand. Schließlich

104 brauchten diese 'Tagebagger' anstatt eines Maßbandes eine Kabeltrommel. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, dachte Stephan und baggerte unbekümmert weiter seine Tage. Der Abschlag auf sein Gehalt, den er bereits nach der ersten Woche erhalten hatte, war ein mehr als angemessenes Schmerzensgeld. Tausend Mark, bar auf die Hand, ließen ihn gerne mal auf Durchzug schalten.

Das Wetter machte in diesem Sommer der Jahreszeit alle Ehre. Stephan erinnerte sich an das Einladungsschreiben, das er vor einigen Wochen von einem Kapitän zur See erhalten hatte. Jetzt wusste er, dass dies der Kommandeur der Schule war. Ein hohes Tier, das irgendwo in einem riesigen Büro im Stabsgebäude hockte und nur zu besonderen Anlässen von den kleinen Rekruten gesehen wurde. 'Versehen Sie dort Ihren Dienst, wo andere Urlaub machen!' So eine Aufforderung und dann noch von so einer Persönlichkeit, da durfte man auf keinen Fall widersprechen. Also machte Stephan in jeder freien Minute genau das, was der Kommandeur ihm angeboten hatte: Urlaub. Am Strand fühlte er sich schon bald wie ein Insulaner, wenn er von dort aus den regelmäßigen Wechsel der Urlauber beobachtete: Braun gebrannte und erholte Städter wichen weißen Neuankömmlingen. Einzig die krebsroten Badegäste schienen immer Saison zu haben. Stephan blieb fast die gesamte Zeit der

105 dreimonatigen Grundausbildung auf Sylt und genoss die Zeit. Dabei fragte er sich, wo nur die vielen Schauermärchen über die Bundeswehr herkamen, die er auch von seinen Freunden aus Lindlar kannte. Er konnte sie jedenfalls so nicht bestätigen. Natürlich waren der Dienst im Gelände, das Schießen und Marschieren sowie die anderen 'grünen' Abschnitte fordernd, doch waren sie durch das herrliche Sommerwetter mehr als erträglich. An der Ausbildung in Erster Hilfe, Anatomie und Krankenpflege, die in Form von Erwachsenenbildung erfolgte, konnte er auch nichts aussetzen, sie war lehrreich und interessant gestaltet. Stephans absoluter Favorit war jedoch die Sportausbildung. Wo hatte man sonst schon die Möglichkeit, während der Arbeitszeit Sport auszuüben und wurde darüber hinaus auch noch dafür bezahlt? Die Wochen und Monate der Grundausbildung hatten die jungen Rekruten zusammengeschweißt und Stephan hatte viele neue Freundschaften geschlossen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass ihm der Abschied von dem einen oder anderen nicht gerade leicht fiel, als sie Anfang Oktober zu ihren neuen Kommandos versetzt wurden. Für Stephan ging es dorthin, wo alles angefangen hatte, nach Wilhelmshaven. Ein sechswöchiges Praktikum in einem zivilen Krankenhaus stand nun für alle Zeitsoldaten auf dem Ausbildungsplan, bevor man für die letzten Wochen des Jahres wieder nach Sylt musste.

106 In Wilhelmshaven verteilte man die jungen Soldaten auf die Kliniken St. Willehad, Sanderbusch und Reinhard-Nieter. Im letzteren landete Stephan und er konnte nun das erste Mal an Patienten arbeiten und das Erlernte anwenden sowie Neues dazulernen. Die neue Aufgabe machte ihm viel Spaß, doch das war nicht der einzige Grund, warum er sich bereits nach wenigen Tagen ganz besonders auf die Arbeit freute. Beim Mittagessen in der Kantine war ihm schon am ersten Tag ein blondes Mädchen aufgefallen, das so ein eigenartiges Kribbeln in seinem Bauch ausgelöst hatte. Sie hatte mit ihren Arbeitskollegen am Nebentisch gesessen und immer wieder zu ihm herübergesehen. Einmal war es ihm sogar so vorgekommen, als ob sie ihm zugelächelt hätte, als sie vor ihm die Kantine verlassen hatte. Seit dem Moment ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn. Jedes Mal, wenn er sie beim Essen wiedersah, machte sein Herz einen kleinen Sprung. So ging das nun schon seit einer Woche und auch jetzt hielt Stephan wieder aufgeregt Ausschau nach ihr, als er die Kantine betrat. Er reckte den Hals, und als er sie endlich entdeckte, traf ihn fast der Schlag. Mutterseelenallein saß sie an einem Tisch in der Ecke und von ihren Arbeitskollegen, die sie sonst begleiteten, war niemand zu sehen. Stephan wurde es auf einmal seltsam heiß, und während er sich am Selbstbedienungstresen sein Essen zusammenstellte, überlegte er krampfhaft, ob er diesem Wink des Schicksals folgen sollte. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und trat zu ihr

107 an den Tisch. »Hallo, ist hier noch frei?«, fragte er vorsichtig und lächelte sie unsicher an. »Natürlich, setz' dich doch«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln. »Ich heiße Stephan«, sagte er, während er sich erleichtert neben sie setzte. Wenigstens hatte sie ihn schon mal nicht direkt abblitzen lassen. »Alina«, sagte sie. »Gehörst du zu den Bundis?« »Ja, sieht man mir das etwa an?«, fragte Stephan und sah irritiert an sich herunter. Er trug die weiße Klinikkleidung, die sie nach ihrer Ankunft empfangen hatten und die sich seiner Meinung nach nicht großartig von der der anderen unterschied. Alinea lachte und zeigte auf seine Hosenbeine. »Solche Hochwasserhosen haben hier normalerweise nur die Praktikanten von der Bundeswehr.« Stephan lächelte verlegen. »Es gab leider nichts in meiner Größe«, sagte er. »Ist ja nicht schlimm«, sagte Alinea und fügte mit einem Schmunzeln hinzu: »Wir kennen das ja hier schon. Der Bund muss sicher sparen.« Das erste Eis war gebrochen, und während sie weiteraßen, folgte der abtastende Small Talk eines ersten Kennenlernens. »So, ich muss nun wieder an die Arbeit«, sagte Alina, nachdem sie aufgegessen hatte. »War schön, dich kennengelernt zu haben.« Stephan warf einen Blick auf die Uhr. »Oh, je, ich muss ja auch los«, sagte er hastig. »Sonst

108 fahren die anderen ohne mich zurück. Sehen wir uns morgen?« »Gerne«, sagte Alinea. »Wir könnten ja wieder zusammen essen.« Sie zwinkerte ihm vielsagend zu und verschwand in Richtung Tablettabgabe. In den nächsten Tagen kam es dann noch zu dem einen oder anderen Rendezvous beim Mittagessen, bei dem Stephan und Alina sich immer näherkamen. »Hast du nicht mal Lust, heute Abend mit in die Disco zu kommen?«, fragte Alina dann am Ende der zweiten Woche unvermittelt, und nach einem kurzen Moment der Überraschung sagte Stephan glücklich zu. Von da an verbrachte er die ihm noch verbleibende Zeit in Wilhelmshaven ausnahmslos mit Alina. Sie besuchten die einschlägigen Diskotheken der Stadt, wobei das 'York' schnell zu ihrer Stammdisco avancierte, da es nicht zu den klassischen Soldatendiscos zählte. Diese bargen nämlich die Gefahr, dass romantische Stunden zu zweit auch mal durch eine wüste Schlägerei gestört werden konnten. Während die meisten Soldaten des Marinestützpunktes in den anderen Etablissements ihre Zerstreuung suchten, tanzten Stephan und Alina ungestört bis spät in die Nacht in 'ihrer' Disco. In dieser Zeit entwickelte sich Waiting for a girl like you zu Stephans Lieblingslied, drückte es doch genau das aus, was er für Alina empfand. Er war bis über beide Ohren verliebt.

109 Mitte November erfuhr ihre kleine Romanze die erste aber nicht letzte Bewährungsprobe: Stephan musste zurück nach Sylt. Dem Krankenhauspraktikum folgte nun der darauf aufbauende Fachlehrgang. Im Gegensatz zum Sommer fuhr nun auch Stephan jedes Wochenende nach Hause, wobei sein Zuhause nun in Alinas Nähe lag. Gefühlte Ewigkeiten verbrachte er auf den Schienen zwischen Westerland und Wilhelmshaven und im Altonaer Bahnhof gehörte er schon bald zur Stammkundschaft der dortigen McDonalds-Filiale. In dieser Zeit war der Walkman neben den nicht wegzudenkenden Zigaretten gegen Langeweile, zum Aufwärmen oder zur Zeitmessung sein wichtigster Begleiter. Mit dem Kopfhörer auf dem Kopf und der Zigarette zwischen den Fingern blickte er dann gedankenverloren aus dem Abteilfenster. Während die Musik von Toto, Soft Cell oder ABC Stephans Gedanken schon zu Alina entführten, versank er nach und nach in einem Traum. Ich hab' heute nichts versäumt, denn ich hab' nur von dir geträumt!

Kurz vor Weihnachten machte Stephan kurz vor Ende seines Lehrgangs das erste Mal die Erfahrung, dass sein neuer Beruf nicht nur Vorteile mit sich brachte. Statt der gewünschten Versetzung nach Wilhelmshaven sollte er Anfang Januar in Flensburg seinen Dienst antreten. Stephan war platt. Damit hatte er nicht gerechnet, denn schließlich befand sich in

110 Wilhelmshaven einer der größten Marinestützpunkte. Kaum vorstellbar, dass man dort alle Posten besetzt hatte. Enttäuscht zog er sich an diesem Abend in seine Stube zurück und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während die anderen im Mannschaftsheim ihre Wunschkommandos feierten. Was würde Alina dazu sagen? In den nächsten Jahren würde er noch häufiger erfahren müssen, dass große Erwartungen oftmals genauso große Enttäuschungen mit sich bringen können.

In den letzten sechs Monaten seit seinem Eintritt in die Bundeswehr war Stephan nur an drei Wochenenden in Lindlar gewesen. Dementsprechend erwarteten seine Eltern, dass er wenigstens über Weihnachten und dem Jahreswechsel nach Hause kam. Für Alina und ihn hieß das aber auch, dass sie sich frühestens in drei Wochen an seinem nächsten freien Wochenende wiedersehen konnten. - Keine guten Aussichten für ihre noch junge und sehnsüchtige Liebe. Nach seiner langen Abwesenheit gab es nicht nur in Stephans Familie, sondern auch in seinem alten Freundeskreis jede Menge Gesprächsstoff, sodass die Zeit der Trennung, trotz aller Sehnsucht, wie im Fluge verging. In dieser Zeit machte Stephan eine seltsame Erfahrung. So schön es auch gewesen war, wieder einmal in der alten Heimat zu sein, so merkwürdig verändert kam ihm Lindlar auf einmal vor. Alles schien

111 plötzlich so klein und eng. Nichts hatte sich hier seit seinem letzten Besuch verändert. Es waren die gleichen Menschen und die gleichen Routinen. Früher war ihm das nie so aufgefallen. Aber jetzt ... Stephan starrte in den sternenklaren Nachthimmel und zog an seiner Zigarette, während man hinter ihm im Haus bereits den Sekt einschenkte. Durch die offen stehende Haustür drang dumpf Partymusik vom Fernseher zu ihm herüber. Dinner for one, Jahresrückblick und die immer gleichen Silvesterpartys. Jedes Jahr das gleiche Spiel. Hatte sich in einem knappen halben Jahr sein Leben wirklich derart verändert?, fragte sich Stephan und blickte über die Lichter Lindlars. Die ersten Feuerwerksraketen stiegen in den Nachthimmel und zerplatzten in vielen Farben. Stephan lächelte, während er ganz fest an Alina dachte. Er wusste, dass auch sie jetzt an ihn dachte. So hatten sie es abgesprochen. »Stephan, wo bleibst du denn?«, rief seine Mutter. »Wir wollen doch anstoßen.« Stephan zog noch einmal genüsslich an der Zigarette und schnippte sie im weiten Bogen in den Garten. Prost Neujahr, dachte er, bevor er sich umdrehte und ins Haus zurückging. - Willkommen, neues Leben!

112 113 Wochenendbeziehung

1983 Völlig losgelöst schwebt nicht nur Peter Schilling mit seinem Major Tom, sondern auch Nenas 99 Luftballons. Boy George, bei dem man sich lange nicht sicher ist, ob Boy überhaupt passend für ihn ist, fragt: »Do you really want to hurt me«, meint damit jedoch nicht Dieter Bohlen, der Modern Talking gründet. Nicht nur für Bohlen und Anders wird eine Musiksendung zum Sprungbrett in die Charts, als erstmals Formel Eins mit Peter Illmann auf Sendung geht. David Bowie braucht schon lange kein Sprungbrett mehr. Längst erfolgreich, kümmert er sich in diesem Jahr musikalisch um ein chinesisches Mädchen. So grausam, wie ihn Bananarama hinstellen, ist der Sommer ’83 doch gar nicht. Ganz im Gegenteil. Mit 'Sunshine Reggae' und vielen Sonnenstunden macht er so richtig Spaß. In den Kinos kämpft der Vietnamveteran John Rambo gegen eine ganze Stadt, während echte Rambos scheinbar die ganze Welt als Feind ansehen. Entsetzt muss diese erfahren, dass die UdSSR einen voll besetzten koreanischen Jumbojet abgeschossen hat.

* * *

Von diesem furchtbaren Ereignis ahnte Stephan noch nichts, als er seinen Dienst in Flensburg Mürwik antrat. Das Marinesanitätszentrum, in dem er nun für drei

114 Monate ein Truppenpraktikum absolvieren musste, lag in unmittelbarer Nähe zum Stützpunkt. Dort hatte er auch seine Unterkunft bezogen, sodass ihn sein täglicher Weg zur Arbeit an den Liegeplätzen der grauen Kriegsschiffe vorbei führte. Fasziniert beobachtete Stephan jedes Mal das rege Treiben im Hafen. Schnellboote fuhren elegante An- und Ablegemanöver, während grelle Befehlspfiffe an Bord der U-Jagdboote erschallten. Besonders beeindruckend fand er die vergleichsweise riesigen Munitionstransporter, die regelmäßig an der Ausrüstungspier ihre Ladung umschlugen. Wenn er am späten Nachmittag zurückkehrte, hatte sich das Bild gewandelt. Im fahlen Licht der Straßenlaternen und der Oberdecksbeleuchtungen lagen die Schiffe friedlich nebeneinander an der Pier. Die Generatoren und Lüfter der Boote summten leise vor sich hin und über allem lag ein leichter Geruch von Schiffsdiesel. Stephan roch förmlich die große weite Welt und konnte es kaum erwarten, endlich auch ein Bordkommando zu erhalten. Doch zunächst musste er sein Praktikum und die nachfolgende Ausbildung zum Maat hinter sich bringen. Mit Ausnahme der Uniformen und bestimmter Fachausdrücke hatte sein Arbeitsplatz im Sanitätsbereich nicht viel mit dem Marineleben zu tun, das er sich vorgestellt hatte. Zusammen mit einem jungen wehrpflichtigen Stabsarzt versah er seinen Dienst in der Ambulanz, wo er ihm bei den Untersuchungen und Behandlungen assistierte. Anschließend musste alles sorgfältig in den Gesundheitsunterlagen der Patienten

115 dokumentiert werden. Alle vierzehn Tage musste sich Stephan als Gefreiter vom Dienst nach Dienstschluss auch noch um die Bettenstation kümmern. Diese Tätigkeit kam zwar seinem Berufswunsch Krankenpfleger entgegen, befreite ihn aber letztlich nicht von seiner Sehnsucht, endlich zur See fahren zu können. An den Wochenenden ergab Stephan sich inzwischen schon fast gewohnheitsmäßig seinem Schicksal als Zugpendler. Ein Zustand, der ihn von Woche zu Woche mehr auf die Nerven ging, da die Zugverbindungen von und nach Wilhelmshaven nicht gerade die besten waren. Sonntags musste er schon am frühen Nachmittag aufbrechen, um noch rechtzeitig in Flensburg anzukommen. Anfang März war dann das Maß endgültig voll. Wieder einmal hatte Stephan aufgrund einer Zugverspätung den Anschlusszug in Hamburg verpasst und stand sich nun schon seit einer Stunde die Beine in den Bauch. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr. Auch die nächste Verbindung hatte inzwischen zwanzig Minuten Verspätung. Nein, so konnte das nicht weitergehen, dachte Stephan, während er fröstelnd den Kragen seiner Jacke hochschlug. Es musste wieder ein Auto her. Dank des guten Einkommens gehörte seine alte Finanzkrise mittlerweile längst der Vergangenheit an, sodass sich Stephan auch gleich am nächsten Tag auf die Suche nach einem Auto begab. Getreu dem Motto 'Never change a winning Team' sollte es wieder ein Käfer werden, zumal er ja bereits mit den Stärken und Schwächen dieses Fahrzeugtyps vertraut war. Deshalb achtete er auch ganz besonders darauf, dass die Heizung funktionierte und es ein Gebläse gab. Bei einem Gebrauchtwagenhändler wurde er

116 kurz darauf fündig und für 900 DM wechselte ein gebrauchter VW-Käfer 1303 seinen Besitzer. Endlich hatte das lästigen Warten bei Wind und Wetter an irgendwelchen zugigen Bushaltestellen und fußkalten Bahnhöfen ein Ende. Vorbei war das Gedränge und Geschubse auf der Suche nach den wenigen freien Plätzen in überfüllten Freitagszügen. Von nun an hieß es: einsteigen, eine Entspannungszigarette mit dem Zigarrenanzünder anzünden und los fahren. Ein Luxus, den Stephan jedes Mal wieder aufs Neue genoss, auch wenn die ganze Sache einen kleinen Haken hatte, denn ab sofort musste er nämlich auf die gewohnten Nickerchen während der Reise verzichten. Vor allen Dingen sonntags hatte er diese erholsamen Minuten nach den langen Samstagabenden mit Alina immer sehr geschätzt. Oft waren die Autofahrten auf der scheinbar endlosen A7 in Richtung Flensburg die reinste Tortur. Ohne eine regelmäßige Koffeinspritze an einer Raststätte und einer Unmenge von Zigaretten wäre so manche Nachtfahrt sicher anders ausgegangen.

Am Dienstag nach Ostern stand Stephan stolz zum ersten Mal in Matrosenuniform an der Autoverladung in Niebüll und genoss die Blicke der Touristen. Sein Truppenpraktikum hatte er beendet und nun begann die eigentliche Ausbildung zum Unteroffizier mit einem Sanitätslehrgang auf Sylt. Vorsichtig bugsierte er seinen blauen Käfer auf den Autozug und freute sich, dass er gleich bei seiner Jungfernfahrt nach oben fahren durfte. Von dort hatte man während der gesamten Überfahrt eine herrliche

117 Rundumsicht. Kaum hatten sie den Bahnhof verlassen, machte Stephan auch schon seine ersten wichtigen Erfahrungen mit dem Autozug. Nicht nur, dass man hier noch mehr hin und her geschüttelt wurde als in einem Personenzug, auch war es hier bedeutend kühler. Da man während der Überfahrt den Motor nicht einschalten durfte, gab es natürlich auch keine Heizung. Man war also gut beraten, sich vor allen Dingen während der kalten Jahreszeit entsprechend vorzubereiten. Da Stephan sich auf seiner Versetzungsreise befand, hatte er seine gesamte Ausrüstung im Wagen, dazu gehörte zum Glück auch der Schlafsack. Diesen legte er sich nun über die Beine und zündete sich zum Aufwärmen eine Zigarette an. Zufrieden blickte er auf die ganzen Taschen und die Uniformen, die ordentlich auf ihren Bügeln am hinteren Haltegriff seines Käfers hingen. Unnötige Knitterfalten und damit aufwendige Bügelarbeiten, wie er sie noch von seiner letzten Versetzungsreise kannte, gehörten ab sofort der Vergangenheit an. Damals hatten seine Uniformen noch ausgesehen, als ob man sie aus einer Flasche gezogen hätte. So ein Seesack war eben kein Schrankkoffer.

Nach einem Sommer- und einem Winterquartal erlebte Stephan nun auch das Frühjahr auf Sylt. An Sonnenbaden am Strand und Schwimmen im Meer war selbstverständlich noch nicht zu denken. Trotzdem fuhr er fast jeden Tag nach Dienstschluss an den Weststrand und setzte sich in einen der Strandkörbe,

118 die für die Ostertouristen aufgestellt worden waren. Dort genoss er dann die letzten warmen Strahlen der Abendsonne und schaute bei einer selbst gedrehten Zigarette hinaus aufs Meer. In diesen Momenten ging sein Blick immer wieder in Richtung Süden, wo Wilhelmshaven liegen musste. Während die Wellen gleichmäßig an den Strand rauschten, dachte er an Alina, die ihm so sehr fehlte. Gerade abends, wenn er nicht durch den fordernden Lehrgang abgelenkt wurde, war die Sehnsucht nach ihr besonders groß. Da kam ihm das Angebot gerade recht, nach Dienst an einem Einführungslehrgang in klassischer Massage teilzunehmen. Auf diese Weise hatte er nicht nur eine weitere Ablenkung gefunden, sondern konnte seine neuen Fähigkeiten auch noch in sein Wochenend-Verwöhnprogramm für Alina einfließen lassen.

Im Takt einer Wochenendbeziehung gingen die Wochen und Monate bis zu seinem ersten Urlaub dahin. Bevor er Mitte Juli zur anschließenden Vorgesetztenausbildung nach Plön musste, hatten Stephan und Alina ganze zwei Wochen nur für sich. So lange waren sie bisher noch nie an einem Stück zusammen gewesen, und dass das nicht ganz ohne Reibereien abging, lag nicht nur an der dreimonatigen Durststrecke, die vor ihnen lag. Es war eben schon ein Unterschied, ob man sich nur für ein kurzes Wochenende voller Geigen traf oder vierzehn Tage am Stück miteinander verbrachte. Ab Oktober wird alles besser, dachte Stephan, als er sich mal wieder mit seinem Käfer auf der A1 von einer Baustelle zur nächsten hangelte. Er hatte sich für die Zeit nach seinem Lehrgang auf ein Bordkommando in

119 Wilhelmshaven beworben und es musste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es dieses Mal nicht klappen würde. Mit dieser Hoffnung im Gepäck näherte er sich Kilometer für Kilometer der berüchtigten Marineunteroffizierschule Plön.

War doch gar nicht so schlimm, dachte er, nachdem er sich ordnungsgemäß abgemeldet hatte und genauso zügig, wie er gekommen war, in Richtung Ausgang marschierte. Dort wäre er beinahe mit einem weiteren Lehrgangsteilnehmer zusammengestoßen, der sich schwitzend mit einem offenbar zentnerschweren Seesack durch die Tür schob. Er blieb kurz stehen und warf Stephan einen gehetzten Blick zu, während er seine Tellermütze in den Nacken schob. Sodann schleppte er sich zu dem ersten Tisch und ließ dort den Seesack entkräftet von der Schulter gleiten. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er atemlos zu dem Bootsmann, der hinter dem Tisch mit dem Schild A - D saß. »Petersen, mein Name, könnten Sie mir ...?« Stephan zog den Kopf ein und verließ rasch die Halle. Keine Sekunde zu früh. »Heißen Sie Betersen oder Petersen?«, schrie der Bootsmann auch schon aufgebracht und Stephan sah zu, dass er wegkam und beim sicher folgenden, vermutlich relativ einseitigen 'Gespräch' nicht zuhören musste. Eines hatte er an dieser Stelle jedenfalls gelernt: Es war nicht nachteilig, sich absolut korrekt zu verhalten und nicht negativ aufzufallen. Gut, dass man ihn vorgewarnt hatte. In den nachfolgenden Tagen merkte Stephan jedoch schnell, dass die Warnungen mehr als übertrieben gewesen waren. Die meiste Zeit verbrachten sie im Hörsaal, und auch

120 wenn sie öfters mal durch die Plöner Seenplatte marschierten, spritzte niemandem das Blut aus den Stiefeln. Ganz im Gegenteil, die meisten waren froh, wenn sie mal aus dem Hörsaal herauskamen. Das lag natürlich auch an dem fantastischen Sommer, der Märsche, Biwaks und die sonstigen Außendienste sehr erträglich machte. Abends ging es dann zum Pizza essen in die Stadt und von dort weiter in eine der Plöner Diskotheken, wo sie zum Sommerhit des Jahres abzappelten. Vamos a la playa galt auch für die benachbarten Ostseestrände, die sie selbstverständlich zuerst besuchten, sofern sie pünktlich Dienstschluss hatten. Mehr als einmal erinnerte sich Stephan an das Begrüßungsschreiben, das er letztes Jahr erhalten hatte. 'Versehen Sie dort Ihren Dienst, wo andere Urlaub machen!' Das konnte man wirklich auch uneingeschränkt auf Plön anwenden. Die Warnungen vor der grünen Hölle waren längst vergessen.

Richtig schön wurde es, als Stephan Anfang September zu seinem Hörsaalleiter gerufen wurde und dieser ihm sein zukünftiges Kommando mitteilte. Nach bestandenem Lehrgang war ein Posten auf dem Minenjagdboot 'Weilheim' für ihn vorgesehen. Stephan machte einen Luftsprung, nachdem er das Büro des Hörsaalleiters verlassen hatte. Er hatte es geschafft! Vorbei war es nun mit Wochenendbeziehung und langen Trennungen, denn die Minenjagdboote der Marine lagen in Wilhelmshaven und hatten im Vergleich zu den Fregatten und Zerstörern nur sehr wenige Seetage im Jahr.

Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, so schnell konnte sich alles ändern! Nur eine Woche war vergangen und Stephan erfuhr nun schon zum zweiten Mal, wie

121 unergründlich und kurzlebig Personalentscheidungen in der Bundeswehr sein konnten. Aus der Traum von einer gemeinsamen Zeit mit Alina in Wilhelmshaven. Erneut hatte die Insel ihre Arme nach ihm ausgestreckt, Stephan sollte Gruppenführer in der Sanitätsgrundausbildung auf Sylt werden. Der Rest der Woche war gelaufen, was besonders an Stephans erheblich gesteigertem Zigarettenkonsum erkennbar war. Er dachte unentwegt an Alina und wie sehr sie sich darüber gefreut hatte, als er ihr von seiner Versetzung nach Wilhelmshaven erzählt hatte. Jetzt musste er überlegen, wie er ihr am Wochenende die Hiobsbotschaft möglichst schonend beibringen konnte. Doch so sehr er auch nachdachte, es fiel ihm nichts ein. Gab es überhaupt Worte, um so eine Nachricht 'hübsch' und 'gut verdaulich' zu verpacken?

Alinas Reaktion war wie erwartet, als er nach einigen Anläufen endlich mit der Sprache herausgerückt war. Jetzt saßen die beiden mit hängenden Köpfen und scheinbar nie endenden Zigaretten im Wohnzimmer und sahen sich ratlos an. Fast ein Jahr dauerte bereits ihre 'Wochenendehe' und belastete die Beziehung. Doch alles Klagen und Jammern half nichts, sie mussten sich der Herausforderung stellen, auch wenn es schwerfiel. So stand Stephan dann auch kurz darauf wieder einmal in Uniform an der Autoverladung in Niebüll. Es war bereits das dritte Mal, dass er nach Sylt versetzt wurde, und diesmal hielt sich seine Begeisterung deutlich in Grenzen. Inzwischen wollte er nicht mehr seinen Dienst dort versehen, wo andere Urlaub machen, und das hatte nichts damit zu tun, dass der Sommer nun vorüber war.

122 Vor genau einem Jahr hatte er die 7. Inspektion am Ende der Grundausbildung verlassen und war nach Wilhelmshaven versetzt worden, wo er seine Alina kennengelernt hatte. Jetzt stand er wieder vor seinem ehemaligen Chef und meldete sich zum Dienstantritt.

Mit Stephan zusammen waren auch die neuen Rekruten angereist und sein Vorgänger war bereits weg. Ohne große Einarbeitungszeit wurde Stephan ins kalte Wasser geschmissen und bekam auch gleich eine eigene Gruppe mit zehn Soldaten zugeteilt. Im Kreise der anderen Ausbilder wurde Stephan freundlich aufgenommen. Es waren die gleichen, die auch ihn damals ausgebildet hatten, er fühlte sich nicht ganz so fremd und es fiel ihm nicht schwer, sich in die neue Rolle als Vorgesetzter und Ausbilder für Erste Hilfe einzugewöhnen. Trotzdem war es ein komisches Gefühl. Stephan kam es wie gestern vor, dass er hier aus den 'Bundeswehr-Lauflernschuhen' entwachsen war. Jetzt war er auf einmal derjenige, der in aufgeregte und fragende Gesichter von beinahe Gleichaltrigen blickte. Er war es, der ihnen beibringen musste, wie man sich nach Bundeswehrgesichtspunkten richtig anzieht, die Koje macht und den Spind einräumt.

Noch am gleichen Tag seines Dienstantritts hatte Stephan ein Versetzungsgesuch eingereicht. Er wollte nichts unversucht lassen, um doch noch nach Wilhelmshaven versetzt zu werden. Die anderen Gruppenführer waren skeptisch. Einmal

123 Ausbilder, immer Ausbilder und einmal Sylt, immer Sylt, so lautet ein ungeschriebenes Gesetz. Auch unter ihnen gab es den einen oder anderen, der bereits vergeblich versucht hatte, die Insel wieder zu verlassen. Doch es war nicht nur Alina, sondern auch der Wunsch, zur See zu fahren, der ihn trotz allem weiter antrieb und hoffen ließ. Wozu war er schließlich zur Marine gegangen? Stephans Gesuch machte sich also auf den Dienstweg, und auch wenn er jeden Tag sehnsüchtig auf eine Entscheidung wartete, beeinflusste es seine Arbeit nicht. Er wusste, dass seine Chancen auf eine Versetzung auch von der Beurteilung seiner Leistungen abhingen. Schnell wurde er sicherer und mit der Sicherheit kam auch der Spaß an der Arbeit. Wenn da nur nicht diese Insel wäre. In Dominik, einem der älteren Gruppenführer, fand Stephan schnell einen guten Freund, mit dem er fast jeden Abend zusammenhockte. Sie hörten Musik, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und sprachen über Gott und die Welt. Fast war es so wie in Lindlar, wenn er und Bernd abgehangen hatten. Dominik fuhr einen alten Citroën DS, von dem Stephan total begeistert war. Nicht nur, dass er schön aussah, er war auch technisch ein Highlight. So verfügte er zum Beispiel bereits über ein Kurvenlicht. Der Hit war aber die hydropneumatische Federung, die einem das Gefühl gab, auf einer Wolke zu schweben. Dazu die Sofa ähnlichen und durchgehenden Sitzbänke, die das Auto hinten und vorne zur Sänfte werden ließen. Alles war so ganz anders als bei seinem Käferchen. Der schwebte zwar

124 auch zum Schluss, allerdings nicht über die Straße. Vielmehr hing er an einem Kranausleger, der ihn in die Schrottpresse hob, nachdem der TÜV völlig überraschend einer Verlängerung der Lebensdauer nicht mehr zugestimmt hatte. Nun stand Stephan also wieder einmal ohne Auto da und auf die Schnelle fand er auch keins, das für ihn derzeit finanzierbar war. Es blieb ihm zunächst nichts anderes übrig, als wieder in die verhassten Niederungen und Abhängigkeiten eines Zugpendlers zurückzukehren. Doch damit nicht genug, auch sein Versetzungsantrag wurde einige Wochen später abgelehnt. So langsam schien es Stephan, als klebe ein Fluch an ihm. Oder gab es dieses ungeschriebene Gesetz 'Einmal Insel, immer Insel!' tatsächlich? Mit diesen schlechten Nachrichten im Gepäck saß Stephan an einem kalten Freitag im Dezember in seinem Abteil und blickte deprimiert aus dem Fenster. Erst die Versetzung nach Sylt, dann der Verlust seines Käfers und jetzt auch noch das. Das Einzige, was seine Laune jetzt noch einigermaßen hochhielt, waren die bevorstehenden Weihnachtstage. Auch wenn seine Eltern sicher sehr enttäuscht sein würden, stand für ihn fest, dass er dieses Jahr mit Alina in Wilhelmshaven feiern würde. Dort hatte er inzwischen ein zweites Zuhause gefunden. Mit Alinas Eltern verstand er sich im Grunde recht gut, nur dass er bei Alina übernachtete, hatte sich zu einem etwas schwierigen Thema entwickelt. Alina kam aus einer streng katholischen Familie, in der eine 'wilde Ehe' nicht gerne gesehen wurde. Dummerweise befand sich Alinas gemütliche Zweiraumwohnung in dem Mehrfamilienhaus, das nicht nur ihren Eltern gehörte, sondern in dem ihre Eltern auch noch wohnten. So traf man

125 sich öfter, als Stephan das lieb war. Er konnte sich einfach nicht des Eindrucks verwehren, eine gewisse Form der Missbilligung in den Blicken von Alinas Eltern zu erkennen. Irgendwie fühlte er sich in diesen Momenten wie der geduldete 'Wochenendübernachtungsgast'. Stephan versank wieder in die Musik aus seinem Walkmann und freute sich auf Alina. Tears for fears sangen gerade etwas von einer verrückten Welt und nach diesem Jahr konnte er da vorbehaltlos zustimmen.

126 Seefahrt

1984 Wir befinden uns im Orwell-Jahr und die Praktiken eines Überwachungsstaates scheint auch Billy Idol in seinem Song Eyes without a Face zu thema- tisieren. Ultravox tanzen mit Tränen in den Augen und George Michael beklagt das achtlose Flüstern eines guten Freundes. Der öffentlich-rechtliche Bann ist gebrochen und das Privatfernsehen geht mit RTL nun auch in Deutschland an den Start. Michael Jackson holt in seinem Video zu Thriller tanzende Untote aus deren Gräbern. Er ahnt nicht, dass auch er ein Vierteljahrhundert später nach seinem viel zu frühen Tod keine Ruhe finden wird. Ohne U 96 taucht Herbert Grönemeyer wieder auf und erklärt Deutschland, wie schwer es doch die Männer haben und wie leicht sie das nehmen. Richtig schwer haben es hingegen erneut die Sportler der Olympischen Sommerspiele in Los Angeles. Dieses Mal sind es die Wettkämpfer aus dem Ostblock, die unter den politischen Wirrungen leiden müssen und dem Boykott ihrer Regierungen zum Opfer fallen. Die deutsche Fußballnationalmannschaft hat nun erst einmal keinen Trainer mehr, dafür bekommt sie einen 'Kaiser' als Teamchef. Magnum springt das erste Mal vor den Augen der deutschen Fernsehnation in seinen roten Ferrari und jagt Verbrecher im fernen Hawaii. In Deutschland ist das nicht mehr so einfach, denn hier gilt ab sofort: Erst

127 gurten, dann starten.

* * *

Die in Deutschland eingeführte Anschnallpflicht betraf auch Stephan, der sich zwischenzeitlich wieder aus den Fesseln der Bundesbahn befreit hatte und zu den motorisierten Straßenverkehrsteilnehmern zurückgekehrt war. Bei einem guten Bekannten hatte er genau das Auto gefunden, das er gesucht hatte: Ein knallroter Golf, frisch lackiert und mit neuem TÜV. Zusammen mit einem akzeptablen Preis stand der Wagen, wie Stephan fand, richtig gut da. Guter Bekannter, guter Preis und guter Wagen, da konnte ja im Grunde nichts schief gehen, dachte Stephan. Eine Entscheidung, die er in den nächsten zwei Jahren noch häufiger bereuen sollte, das erste Mal bereits nach knapp drei Wochen. Stephan nickte nur. Eine neue Maschine. Nach drei Wochen? Das konnte doch nicht sein! Doch was sollte er machen, er brauchte den Wagen dringend. An diesem Abend rief er als Erstes seinen Bekannten an, doch der teilte ihm lediglich sein Bedauern mit. Im Motor stecke man nun mal nicht drin und im Kaufvertrag stand klipp und klar: ’Gekauft wie besehen und gefahren.' Damit war die Sache für Stephans ehemals guten Bekannten erledigt. Stephan blieb am Ende nichts anderes übrig, als tief in seinen 'Geldspeicher' zu greifen und die Kosten für die Austauschmaschine alleine zu bezahlen.

128 Mit altem Auto, neuem Motor und einem großen Loch im Geldbeutel machte sich Stephan zwei Wochen später wieder auf seinen sonntäglichen Weg nach Sylt. Hätte er geahnt, was ihn am nächsten Morgen dort erwarten sollte, wäre seine Miene trotz des ganzen Ärgers mit Sicherheit nicht so finster gewesen. Seinem Versetzungsantrag war nun doch stattgegeben worden. Fassungslos vor Freude zog Stephan sich in der ersten Pause mit dem Schreiben der Marine Stammdienststelle auf sein Zimmer zurück. Dort las er es bei einer beruhigenden Zigarette noch einmal Wort für Wort, Zeile für Zeile. Am zweiten April sollte er sich in Wilhelmshaven auf dem Minenjagdboot 'Koblenz' melden. Stephan lehnte sich glücklich zurück und blickte an die Decke. Geschafft, dachte er, erinnerte sich aber auch sofort wieder an die Erfahrungen, die er bisher mit Versetzungen nach Wilhelmshaven gemacht hatte. Außerdem war da ja auch noch das ungeschriebene Gesetz. Er beugte sich wieder nach vorne und faltete langsam den Bescheid zusammen. Bedächtig steckte er ihn anschließend in den Umschlag zurück und entschied, von nun an sehr vorsichtig im Umgang mit angekündigten Versetzungen zu sein. Gefeiert würde erst, wenn er an seinem neuen Dienstort angekommen war und auch dort bleiben durfte. Alina war da jedoch ganz anderer Meinung, als er ihr am Wochenende die gute Nachricht überbrachte, und ließ ihrer Freude freien Lauf. Na, hoffentlich weckt das keine schlafenden Hunde, dachte Stephan besorgt, während er mit ihr auf die Zukunft anstieß.

* * *

129 Stephans Nachfolger kam dann bereits im Februar, vor seinem Einsatz an Bord musste Stephan noch eine Ausbildung zum Taucherarztgehilfen durchlaufen. Stephan war das natürlich mehr als recht, so konnte er nicht nur seiner 'heiß geliebten' Insel vier Wochen früher den Rücken kehren, auch das Risiko, dass doch noch wieder etwas dazwischenkommen konnte, verminderte sich.

So endete Stephans kurze Zeit als Gruppenführer in der Grundausbildung. Eine Zeit, die für ihn trotz allem sehr lehrreich gewesen war und in der er viele neue Erfahrungen sammeln konnte. Doch jetzt, wo es dem Abschied zuging, wurde ihm auf einmal schmerzlich bewusst, dass er nun auch Freunde zurücklassen musste. Besonders schwer fiel ihm das bei Dominik, wegen ihm blickte eher das weinende Auge in den Rückspiegel des Golfs, als Stefan ihm ein letztes Mal zuwinkte, bevor er endgültig die Kaserne verließ. Endgültig? Das dachte Stephan, als er gut gelaunt zur Musik aus dem Radio auf das Lenkrad trommelte, während er in Richtung Kampen fuhr. Relax, dieser Aufforderung aus dem Hit des Jahres von Frankie goes to Hollywood wollte er nur zu gerne nachkommen. Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich gelassen in seinem Sitz zurück. In wenigen Minuten würde er Westerland erreichen und dann trennte ihn nur noch der Hindenburgdamm vom Festland. Relax, so ging es bei den Aussichten auch am Wochenende weiter. Alina und Stephan gönnten sich ein schönes Essen in ihrer Stammpizzeria und einen anschließenden Discobummel. Danach kümmerte er sich liebevoll um Alinas Verspannungen. Dabei stellte er

130 zufrieden fest, dass sich zumindest der Massagelehrgang gelohnt hatte. So hatte die Zeit auf Sylt wenigstens etwas Positives mit sich gebracht. In der hoffnungsvollen Gewissheit, dass ihre Wochenendbeziehung nun bald ein Ende haben würde, fiel den beiden der Abschied an diesem Sonntag merklich leichter.

Der Lehrgang in Neustadt vermittelte Stephan ein ganz neues Wissensgebiet: die Tauchermedizin. Neben einer großen Zahl von theoretischen Stunden wurde auch viel getaucht. Zuerst nur mit Flossen, Brille und Schnorchel, doch bald darauf folgten die ersten Übungen mit Atemgerät. Zunächst übten die Lehrgangsteilnehmer in der eintönig gekachelten 'Unterwasserwelt' der Schwimmhalle, bevor sie in die überschaubaren Tiefen des Tauchturmes vorstießen, dort ging es bereits auf zehn Meter. Den tiefsten Tauchgang, auf vierzig Meter, erlebten sie jedoch trockenen Fußes in einer Überdruckkammer, was dem Spaß keinen Abbruch tat. Ganz im Gegenteil, mit einem Anflug von Tiefenrausch amüsierten sie sich köstlich über die Micky-Maus-Stimmen, die der Überdruck bei ihnen erzeugte. Der Abschlusstauchgang am Ende des Lehrgangs führte sie dann im wahrsten Sinne des Wortes wieder ins kühle Nass. Ein Tauchgang Ende März in der eisigen Ostsee löste bei Stephan und den anderen verständlicherweise nicht gerade Begeisterungsstürme aus, daran änderten auch die Trockentauchanzüge nichts. In ihnen blieb man zwar trocken und einigermaßen warm, allerdings waren sie nicht annähernd so komfortabel wie heutzutage und kuscheliges Fleece Unterzeug suchte man vergebens. Stattdessen erhielten sie weißes Wollzeug, das furchtbar auf der Haut kratzte.

131 So vorbereitet stand Stephan nun in der Halsöffnung des Taucheranzugs und rief: »Vier Mann!« Sofort griffen seine Kameraden in den Kragen zu seinen Füßen und drückten die angewinkelten Ellenbogen fest gegeneinander. Mit diesem Hebel schafften sie es, den Gummikragen so weit auseinanderzuziehen, dass Stephan mit eng am Körper anliegenden Armen hindurchpasste. Als Nächstes zogen sie den Anzug eilig in einer Bewegung nach oben. Jetzt musste Stephan höllisch aufpassen, damit er seine Arme rechtzeitig in die Ärmel bekam. Schaffte man es nicht, blieb man zur Strafe erst einmal eine Viertelstunde lang mit eng am Körper anliegenden Armen bewegungsunfähig in seinem Anzug gefangen. Stephan erwischte die Abzweigung zum richtigen Zeitpunkt und steckte nun 'voll funktionsfähig' in seinem Taucheranzug, der jetzt mit Gummimanschetten an den Händen und am Hals gegen eindringendes Wasser abgedichtet wurde. Noch eine stinkende Gummihaube über den Kopf, fertig. Schon nach wenigen Minuten hätte er sich am liebsten den Anzug wieder vom Leib gerissen. Nicht nur, dass das Wollzeug inzwischen unerträglich kratzte und alles nach feuchtem Gummi stank, auch die Haube umschloss seinen Kopf derart fest, dass er bereits Kopfschmerzen bekam. Er wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich ins Wasser und genauso schnell wieder heraus. Endlich war er an der Reihe. Sorgfältig und in der vorgegebenen Zeit absolvierte er alle Aufgaben. Jeder Verzögerung durch Wiederholungsübungen wollte er von vorneherein aus dem Weg gehen, auch wenn seine Kopfschmerzen im kalten Wasser einigermaßen erträglich waren. Schnell ins Wasser und schnell wieder heraus, das hatte

132 schon mal geklappt. Erleichtert stand Stephan auf dem Steg und wartete, dass man ihn aus dem Frankensteinanzug befreite. Doch nichts geschah, außer dass man ihm einen Stuhl hinschob und erlaubte, die Taucherbrille abzunehmen. Wie er erfuhr, hatte man ihn, während er sich durch die grüne undurchsichtige Unterwasserwelt des Taucherübungsbeckens gekämpft hatte, zum Sicherheitstaucher auserkoren. Da waren sie wieder, seine Kopfschmerzen, und auch das Jucken an den Stellen, die er überhaupt nicht erreichen konnte, nahm ebenfalls zu. Eine Stunde später stand er endlich unter der erlösenden Dusche. Nie wieder würde man ihn in einen Trockentauchanzug hineinstecken. Nach dem Abtrocknen bemerkte Stephan, als er vor dem Spiegel stand, dass sein Körper von kleinen Blutergüssen übersät war. Er sah aus, als ob er mit letzter Kraft einem Domina Studio entkommen war. Vor dem Tauchgang hatten die Ausbilder darauf hingewiesen, dass so etwas passieren könnte, der Unterdruck in den Falten des Taucheranzuges führte zu diesen striemenförmigen Blutergüssen. Wie man ihnen jedoch versichert hatte, waren diese Male nicht weiter gefährlich und würden innerhalb weniger Tage verschwinden. Prima, dachte Stephan und hoffte inständig, dass Alina ihm diese harmlose Erklärung für die Herkunft der Striemen auch so einfach abnahm.

* * *

»Geradeaus und an der letzten Kreuzung rechts in die Endraßstrasse. Nach ungefähr sechshundert Metern befindet sich dann die Scharnhorstbrücke auf der linken Seite.« »Danke«, sagte Stephan und nickte dem Wachmann an

133 der Zufahrt zum Marinestützpunkt Wilhelmshaven freundlich zu. Er gab langsam Gas und folgte dem Weg wie beschrieben. In der Nähe der Scharnhorstbrücke hielt er auf einem Parkplatz an der Mole und blickt aufgeregt zu den Booten hinunter, die dort an der Schwimmbrücke lagen. Eins von ihnen musste die 'Koblenz' sein. Nun stand er endlich kurz vor seinem Ziel. In weniger als zehn Minuten würde sich entscheiden, ob heute Abend bereits die Korken knallen würden. Stephan stieg aus und ging die Brücke hinunter. An ihrem Ende befand sich ein kleines Wachhäuschen, an dem ein Wachposten erneut seinen Ausweis kontrollierte und ihm anschließend den Liegeplatz der 'Koblenz' zeigte. Kurz darauf stand er vor dem grauen Kriegsschiff mit der in großen weißen Lettern gemalten Kennzeichnung M 1071 an der Seite und dem Wappen der Patenstadt am Bug. Mit großen Augen blickte er zur Brücke hinauf und dort entdeckte er auch das Namensschild, auf dem in Buchstaben aus poliertem Messing 'Koblenz' stand. Dies war also seine neue Wirkungsstätte. Stephan atmete noch einmal tief ein, bevor er über die schmale Stelling an Bord ging, um sich zu melden. Es roch nach Meer und Schiffsdiesel und der leicht schwankende Boden unter seinen Füßen weckte erneut die Sehnsucht nach fernen Ländern in ihm. Der Kommandant nahm seine Meldung entgegen und schickte ihn zum ersten Wachoffizier, der ihn begrüßte und weiter an den Decksmeister verwies. Stephan bekam eine Schwimmweste, einen kleinen Spind und eine schmale Koje zugewiesen. Erleichtert setzte sich Stephan an die Back und zündete sich zur Entspannung eine Zigarette an. Er hatte es

134 tatsächlich geschafft: Er gehörte nun zu einer Bootsbesatzung, durfte zur See fahren und war in Alinas Nähe. Es durfte gefeiert werden!

Die nächsten Tage und Wochen lernte Stephan all das, was er an Bord können musste. Bei einer Besatzungsstärke von nur fünfunddreißig Mann war hier jeder für fast alles zuständig. Die einzige Ausnahme bildeten die beiden Smuts. Diese hatten ausschließlich für das leibliche Wohl der Besatzung zu sorgen. Insbesondere auf See, wo es vier Mahlzeiten am Tag gab, war das ein Knochenjob, um den Stephan die beiden nicht beneidete. Auf der 'Koblenz' fuhr man in einem Zweierwachsystem, das hieß, dass die beiden Seewachen abwechselnd alle vier Stunden Dienst auf der Brücke hatten. Um eine Rotation zu ermöglichen, wurde lediglich die Wache von vier bis acht Uhr morgens noch einmal geteilt. Stephan kam in die Backbord-Seewache, in der er gleich auf der ersten Fahrt seine Aufgaben als Ausguck, Rudergänger und als Posten Maschinentelegraf kennenlernte. Es gefiel ihm, war er doch nun genau das, was er schon so lange sein wollte: ein Seemann. Die Zeit zwischen dem Dienst als Seewache wurde als Freiwache bezeichnet. Anders als der Name es vermuten ließ, hatte man während dieser Zeit allerdings nicht frei, vielmehr diente sie dazu, alle anfallenden Routinearbeiten zu erledigen, zu denen auch das allgegenwärtige 'Reinschiff' gehörte, das jeden Tag auf dem Programm stand. Nur den Freiwachen über Nacht waren Schlafen, Essen und Körperhygiene vorbehalten. Regelmäßig, doch immer genau dann, wenn es niemand

135 erwartete, ließ der Kommandant die Alarmklingeln schrillen. Dann hieß es schnell sein, um die jeweils ausgelöste Notrolle wie Mann über Bord, Feuer im Schiff oder Leckabwehr in kürzester Zeit zu beherrschen. Jeder wusste in diesen Momenten, dass die Stoppuhr mitlief. Blieb die Besatzung im vorgegebenen Zeitlimit und erledigte auch die Aufgabe erwartungsgemäß, erhöhte sich der 'Freizeitwert' an Bord für die nächsten Tage spürbar. Andernfalls führten weitere Übungen zur massiven Materialabnutzung an den Alarmklingeln. Wie Stephan feststellte, war die Besatzung der 'Koblenz' ein erfahrenes und eingespieltes Team, in das er sich rasch einfügte. Und auch wenn es natürlich nie ganz ohne Übungen ging, blieb dennoch genug Zeit, um sich auch mal zurückziehen zu können. Einer von Stephans Lieblingsplätzen war das Achterdeck. Meistens saß er dort an den Sockel des Bordkrans gelehnt und schaute in den Himmel oder auf das sprudelnde Weiß der Hecksee, während er genüsslich eine Entspannungszigarette rauchte. Neben 'Tagesausflügen' in das Seegebiet um Helgoland waren auch die Minensucher mehrmals im Jahr für mehrere Wochen unterwegs. Zwar hatten sie deutlich weniger Seetage als die großen Fregatten und Zerstörer, trotzdem fiel auch ihnen der Abschied von Zuhause nicht leicht. Alina und Stephan war bewusst gewesen, dass sie die Wochenendbeziehung gegen seefahrtsbedingte Trennungen tauschen würden, doch sie waren bereit gewesen, diesen Preis zu bezahlen. Jetzt, Mitte Mai, stand ihnen die Feuerprobe bevor. Für die 'Koblenz' ging es nun für sechs Wochen zur ersten Ausbildungsfahrt, die sie nach Schottland, England

136 und Frankreich führen sollte. Bis zur Rückkehr blieben Stephan und Alina als einzige Kontaktmöglichkeiten Briefe und gelegentliche Telefonate aus den Auslandshäfen. Beide waren gespannt, wie ihre Beziehung das wegstecken würde.

»Alle Leinen los und ein!«, rief der I.WO0 aus der Nock und schon nahm die 'Koblenz' langsam Fahrt auf, drehte nach Steuerbord und verließ die 4. Einfahrt in Richtung Jade-Fahrwasser. »Ich will raus!« Laut schallte Purple Schulz aus den Schiffslautsprechern, während sie die Hafeneinfahrt passierten. Sehnsucht war ihre Auslaufmelodie und die gefiel Stephan deutlich besser, als die von der Baltrum- Fähre, auch wenn sie das gleiche Gefühl ausgelöst hatte. Nachdem sie den Jadebusen verlassen hatten, ging es mit Kurs Nordwest in Richtung Schottland. An die Seeroutine hatte sich Stephan bereits nach einigen Tagen gewöhnt und gleichzeitig eine neue Rauchgewohnheit für sich entdeckt: die Wachzigarette. Diese rauchte man direkt nach dem Aufstehen, um erst einmal richtig wach zu werden, bevor man sich wusch und frühstückte. Doch nicht nur zum Wachwerden, auch zum Wachbleiben diente diese Art von Zigarette. Insbesondere während der sogenannten Hundswache, der Zeit zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, war sie unverzichtbar. Die Hundswache war so ziemlich der unangenehmste Teil der Seefahrt. Alle zwei Tage ereilte sie die Wachgänger.

0Erster Wachoffizier

137 Auch wenn man sich an den Vierstundenrhythmus des Wachsystems gewöhnt hatte, an die Hundswache gewöhnte man sich nie.

Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Stephan rieb sich die Augen und wälzte sich müde aus seiner Koje. Es kam ihm so vor, als wäre er erst vor Kurzem eingeschlafen. Jetzt brauchte er erst einmal eine Wachzigarette. Dann zog er sich an und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Anschließend schlang er zwei Pfannkuchen hinunter, die es zum Mittelwächter, dem Imbiss vor dem Wachwechsel um Mitternacht, gab. Pünktlich um fünf vor zwölf stand er dann, zusammen mit den anderen seiner Seewache, auf dem Peildeck und meldete dem Wachoffizier: »Backbord- Seewache vollzählig angetreten!« Die folgenden vier Stunden zogen sich wie Kaugummi, daran änderte auch der stündliche Stationswechsel nicht viel. Allein die Stunde als Ausguck brachte zumindest frische Luft und die Chance, eine Zigarette zu rauchen. Zum Glück spielte das Wetter mit, sodass man es auf der offenen Brücke gut aushalten konnte. Irgendwann endete selbst die längste Hundswache, Stephan saß unter Deck und rauchte als Erstes eine Zigarette, um wieder etwas runter zu kommen, denn müde war er auf einmal gar nicht mehr.

»Sani, aufstehen!« Unsanft rüttelte jemand ihn an der Schulter. Stephan öffnete mühsam die Augen und blickte auf seine Uhr. Halb sechs. Müde ließ er sich wieder auf sein Kissen sinken. Die zerstückelte Nacht lag nun endgültig hinter ihm. Er fühlte sich hundeelend und wusste nun, wie die Hundswache zu ihrem Namen gekommen sein musste. Schwerfällig wälzte

138 er sich aus der Koje und begann das Spiel von vorne: Wachzigarette, anziehen, Katzenwäsche und schon stand er wieder auf der Brücke. »Backbord-Seewache vollzählig angetreten!«

Solch eine Nacht hatte Stephan hinter sich, als die 'Koblenz' wenige Tage später den Firth of Forth erreichte. Von seinem Posten als Ausguck blinzelte er in die tief stehende Morgensonne. Mit ihr hatte er nicht gerechnet, war doch Schottland eher für Regen bekannt. Sein Blick wanderte nach vorn. Vor ihnen lag Rosyth, hier sollten sie das Wochenende verbringen. Endlich wieder Gelegenheit, etwas Schlaf zu bekommen und zur Abwechslung ein wenig Land und Leute kennenzulernen. Kaum war die Stelling freigegeben, hieß es für die wachfreie Besatzung nichts wie ab an Land, Geld wechseln und rein in die nächste Telefonzelle. Diesen Run auf die Telefone hatte Stephan nicht erwartet und so dauerte es eine Weile, bis er endlich eine freie Zelle fand und Alina anrufen konnte. Wie im Flug vergingen die Minuten, bis ein lautes Knacken die teure Auslandsverbindung abrupt unterbrach. Hinter ihm klopfte schon der Nächste mit Heimweh an die Türscheibe. Stephan hängte den Hörer ein und verließ gedankenverloren die Telefonzelle. Noch immer klang Alinas Stimme in seinem Ohr und ließ ihn glücklich lächeln.

Am nächsten Tag ging Stephan zusammen mit ein paar Freunden auf seinen ersten Landgang außerhalb von Deutschland. Sie fuhren mit dem Zug ins nahe gelegene Edinburgh, um sich dort die Stadt und natürlich auch Edinburgh Castle anzuschauen, bevor sie in einem der berüchtigten Pubs versackten. Mit den Nachwirkungen einer kurzen,

139 alkoholschwangeren Nacht ging es am Sonntag mit einem durch das Geschwader der Partnerstadt bereitgestellten Bus durch die Highlands. Dort zeigte sich Schottland dann von der Seite, die Stephan beim Einlaufen vermisst hatte. Ihnen blieb die wunderschöne Landschaft der schottischen Highlands hinter den dicken Regentropfen, die an den Fensterscheiben des Busses herunterliefen, weitgehend verborgen. Da er sowieso nichts verpasste, nutzte Stephan die Busfahrt, um noch etwas Schlaf nachzuholen und bereits für den nächsten Tag ein wenig vorzuschlafen.

Unmittelbar nach dem Frühstück verließ die 'Koblenz' Rosyth und steuerte auf die offene Nordsee, wo sie mit südlichem Kurs der Ostküste Englands folgte. Auf ihrem Weg beseitigte die Mannschaft einige der Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges, und als sie schließlich am Ende der Woche den Ärmelkanal erreichten, flatterten sechs Minenwimpel im Mast. Sie passierten die Steilküste Englands mit den weißen Kreidefelsen, bis sie schließlich am südwestlichsten Zipfel Großbritanniens die beschauliche Hafenstadt Falmouth anliefen. Hier, in unmittelbarer Nähe von Land's End, herrschte ein durch den Golfstrom geprägtes, mildes, maritimes Klima. Die Landschaft war mit ihrer mediterranen Flora ein idealer Ort, um die nächste Auszeit zu nehmen, die hatten sie sich nach den Erfolgen beim Minensuchen wahrlich verdient. Diesmal hatte Stephan seine Hausaufgaben gemacht. Nach dem Einlaufen war er einer der Ersten, die den obligatorischen Kampf um die roten Telefonzellen zu ihren Gunsten entschieden hatten. Es war eine Wohltat, endlich wieder Alinas Stimme zu hören, auch wenn die horrenden

140 Telefonkosten nicht den ausführlichen Austausch ermöglichten, den sich die beiden gewünscht hätten. Aber wozu gab es denn Briefe? Die Hälfte der Zeit war nun schon vorbei, von jetzt an konnte man bereits rückwärts zählen. An einem Samstag schloss sich Stephan der Tauchergruppe an, die eine Bewegungsfahrt mit dem Schlauchboot unternahm. Flussaufwärts fuhren sie durch eine herrliche Landschaft mit dicht bewaldeten Ufern. In Höhe Trelissick Garden hatten sie gerade das Heckwasser der King-Harry-Fähre gekreuzt, als sich hinter der nächsten Flussbiegung ein großes Passagierschiff vor ihnen befand. Fest an Bug und Heck verankert, lag es verlassen mitten im Fluss. Die vielen Rostflecke auf dem weißen Anstrich deuteten darauf hin, dass es dort offenbar einen Dauerliegeplatz hatte. Neugierig umrundeten sie den Dampfer mit dem Schlauchboot. Stephans besonderes Interesse galt den roten Kreuzen, die auf den Rumpfseiten und am Schornstein prangten. Anscheinend handelte es sich um ein Lazarettschiff. Aber warum lag es hier? Am Heck stand in großen Buchstaben der Name des Schiffes: Uganda. Natürlich, dachte Stephan. Von einem Lazarettschiff mit diesem Namen hatte er im Sanitätsunterricht in List gehört und jetzt erinnerte er sich auch an die Geschichte. 1982 war die 'Uganda' mit vielen Schulkindern an Bord durchs Mittelmeer gekreuzt, wo sie von der britischen Regierung nach Gibraltar beordert wurde. Alle Passagiere mussten von Bord gehen und innerhalb von nur drei Tagen rüstete man das Passagierschiff zum Lazarettschiff um. Dieses nahm anschließend Kurs auf die argentinische Küste, wo sie im Falklandkrieg ihren Dienst versehen hatte.

141 Stephan staunte nicht schlecht. Mit allem hätte er in dieser verträumten Ecke der Welt gerechnet, aber nicht mit einem Stück maritimer Sanitätsgeschichte zum Anfassen. Am Montagmorgen beendete ein schriller Weckpfiff den erholsamen Kurzurlaub in Südengland und eine knapp Stunde später verließ die 'Koblenz' den Hafen von Falmouth. Ihr nächstes Ziel war Rouen, eine kleine Stadt an der Seine. Stephan hatte gerade Freiwache, als sie entlang der französischen Kanalküste durch die Seinebucht steuerten. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt und lehnte gedankenverloren an der Steuerbordreling, während sein Blick auf der Küste der Normandie ruhte. Dort hatte fast auf den Tag genau vor vierzig Jahren die Invasion der Alliierten mit all ihren Schrecken getobt. Stephan dachte an die vielen Soldaten der Landungsgruppen, für die dieses Bild das letzte gewesen war, das sie in ihrem Leben noch hatten sehen dürfen. Junge Menschen, größtenteils jünger als er selbst, waren dort zu Tausenden für die Freiheit gestorben. Eine plötzlich einsetzende Unruhe und aufkommende Betriebsamkeit riss ihn aus seinen Gedanken und holte ihn in die Gegenwart zurück. Die 'Koblenz' hatte sich inzwischen der Küste genähert und fuhr einlaufend, vorbei an Le Havre, in die Seine. Bei Fluss- oder Kanalpassagen war ein Großteil der Besatzung gefragt, um schnellstmöglich auf Notlagen

142 reagieren zu können. In derart engen Gewässern waren die Reaktionszeiten sehr kurz. Einige Stunden später machten sie nach einer problemlosen Passage im Hafen von Rouen fest. Dort wiederholte sich der obligatorische Run, diesmal allerdings auf französische Francs und Telefonzellen.

Seit sie Schottland verlassen hatten, war ihre Reise nahezu ohne Unterbrechung von herrlichstem Sommerwetter begleitet worden. Auch hier in Frankreich konnte man schon fast dabei zusehen, wie das Quecksilber in den Thermometern von Tag zu Tag stieg. Die 'Koblenz' hatte schon einige Jahre auf dem Buckel und war zum Schutz vor Magnetminen aus Holz gebaut worden. In den Kammern und Decks beherrschten Mahagoni und Teakholz das Bild. Dies schuf zwar eine wohnliche Atmosphäre, war aber auch ein guter Wärmespeicher, wie Stephan schwitzend feststellte. Auf den Einbau einer Klimaanlage hatten die Konstrukteure seinerzeit verzichtet, da das Einsatzgebiet der Minenjagdboote sich ursprünglich auf Nord- und Ostsee beschränkte. Mittlerweile war es tagsüber im Boot kaum auszuhalten und selbst nachts suchte sich ein Großteil der Besatzung ein kühles Schlafplätzchen an Deck. Stephan hatte es sich in einem der Schlauchboote gemütlich gemacht. Dort lag er nun und las im Licht einer Taschenlampe Alinas Brief, den er nach dem Einlaufen in Rouen erhalten hatte. Zum hundertsten

143 Mal las er mit einem sanften Lächeln Zeile für Zeile, bevor er ihn in die Hemdtasche steckte. Gedankenverloren schweifte sein Blick hinauf in die unendliche Weite des Sternenhimmels. Er zog genüsslich an einer Entspannungszigarette und spürte dieses warme und kribbelnde Gefühl der Vorfreude in seinem Bauch. Rouen war der letzte Hafen auf ihrer Reise. Übermorgen würden sie wieder Kurs auf die Heimat nehmen. Am nächsten Tag bot sich für Stephan und seine Kameraden noch die Gelegenheit, an einer Tagesfahrt nach Paris teilzunehmen. Alina mit einem Mitbringsel aus der Stadt der Liebe zu überraschen, das wäre es doch. Stephan konnte sich keinen romantischeren Auftakt ihres Wiedersehens vorstellen. Entsprechend aufgeregt blickte er dann auch aus dem Fenster, als der Bus nach einer knapp zweistündigen Fahrt in den chaotischen Stadtverkehr der Metropole eintauchte. Er staunte nicht schlecht, wie der Busfahrer sein Fahrzeug unter Einsatz von Händen und Füßen sowie der Hupe unbeschadet durch die Blechlawinen bugsierte. Im Schnelldurchgang ging es anschließend zu Fuß und mit dem Taxi durch Paris. Eiffelturm, Montmatre und ein Foto vor dem berühmten Moulin Rouge, alles wurde mitgenommen, bevor Stephan zum Schluss noch ein Stück über den Champs d'Elysees schlenderte. Auf der Suche nach einem Geschenk für Alina musste er jedoch schnell feststellen, dass auch in Frankreich die Geschäfte sonntags geschlossen hatten. Zum Glück habe ich ja das Parfum, dachte Stephan und war froh, dass er am Freitag in Rouen bereits in einer Parfümerie ein Fläschchen Chanel No. 5

144 erstanden hatte. Alina wusste ja nicht, dass es nicht aus Paris stammte.

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»Besatzung sich seeklar machen!« Laut schallte der Befehl über die Lautsprecheranlage durch das ganze Boot und löste ein emsiges Treiben aus. Jeder begab sich eilig auf seine Station und irgendwie kam es Stephan so vor, als ob heute alles noch ein wenig schneller ging. Endlich ging es nach Hause, der nächste Stopp hieß Wilhelmshaven. Der Rücktransit verging wie im Fluge und auf Höhe der ostfriesischen Küste nahm Stephan, der gerade Posten Ausguck war, sein Fernglas. Irgendwo dahinten musste Baltrum sein und keine hundert Kilometer Luftlinie weiter dann Wilhelmshaven. Knapp sechs Wochen waren sie weg gewesen, doch Stephan kam es wie eine Ewigkeit vor. Respektvoll dachte er an die Seeleute auf den großen Pötten, die regelmäßig mehrere Monate auf See waren. Das Boot wurde nach dem Einlaufen in Rekordtempo aufgeklart und bis auf die unglücklichen Hafenwächter bekam die komplette Besatzung ein paar Tage Urlaub. Stephan war erleichtert, dass das Los der Wache an ihm vorbei gegangen war. Nach einem stürmischen Wiedersehen genossen er und Alina ihre Zweisamkeit. Es gab kaum eine Minute, die sie nicht miteinander verbrachten. Bereits nach kurzer Zeit kam es ihnen so vor, als ob er nie weg gewesen wäre, vergessen waren die Tage der Trennung. Stephan und Alina waren sich einig. Sechs Wochen Sehnsucht waren zwar kein

145 Zuckerschlecken, aber ein Klacks im Vergleich zu den Problemen, die ihre Wochenendbeziehung mit sich gebracht hatte. Auch wenn die beiden meinten, dass nun alles in Butter war, befanden sie sich auf dem Holzweg, denn jetzt bot das Thema Übernachtungsgast neuen Gesprächsstoff. Jetzt, wo Stephan jeden Tag nach Dienstschluss in Alinas Wohnung zurückkehrte, konnte von gelegentlichen Wochenendübernachtungen nun nicht mehr die Rede sein. Das Unbehagen bei Alinas Eltern, die ja jetzt einen nicht mehr zu rechtfertigenden Sündenpfuhl unter ihrem Dach hatten, war ihnen mehr als deutlich anzusehen. Schnell waren sich Stephan und Alina einig. Es war Zeit, das Elternhaus zu verlassen und sich woanders ein eigenes Nest zu bauen. In den nächsten Tagen durchstöberten sie sorgfältig den Anzeigenteil der Wilhelmshavener Zeitung und wurden schnell fündig. In bester Lage und keine hundert Meter von der Fußgängerzone entfernt, wurde eine Dreizimmerwohnung mit 75 Quadratmetern vermietet. Eine Wohnung mitten in der Stadt, das klang sehr vielversprechend. Sofort rief Stephan unter der angegebenen Telefonnummer an und konnte bereits für den nächsten Tag einen Besichtigungstermin vereinbaren.

Von außen machte das rote Backsteinhaus in der Parkstraße einen sehr gepflegten Eindruck, der sich im Treppenhaus fortsetzte. Stephan und Alina folgten dem Vermieter eine dunkle Holztreppe hinauf, auf der ein roter Teppichläufer mit glänzenden Messingstangen befestigt war. Auf jedem Stockwerk führten große halb verglaste

146 Holztüren zu den dahinterliegenden Wohnungen. Stephan und Alina wechselten einen vielsagenden Blick, als sie schließlich in 'ihrer' Wohnung angekommen waren, in der sich der gute Gesamteindruck fortsetzte. Das war genau das, wonach sie gesucht hatten. Mit dem Vermieter waren sie sich schnell einig und einen Tag später unterzeichneten sie bereits den Mietvertrag. Stephan war erleichtert, auch wenn das Reizthema 'Wilde Ehe' nichts an Substanz verloren hatte. Doch nun lief man sich wenigstens nicht mehr täglich über den Weg.

Alinas Farbwünsche für Wohnzimmer und Küche hatte Stephan ruck, zuck an die Wand gebracht. Die neuen Schlafzimmermöbel waren bereits geliefert und aufgebaut, sodass dem Umzug von Alinas Möbeln nun nichts mehr im Weg stand. Dank der tatkräftigen Unterstützung von Alinas Schwester Emily und deren Freund Oliver dauerte es auch nicht lange, bis endlich alles fertig war. An diesem Abend saßen Stephan und Alina zusammengekuschelt das erste Mal auf dem Sofa in ihrem neuen Wohnzimmer. Der Duft der Kerzen, die Alina auf Schrank, Fensterbank und Tisch verteilt hatte, vermischte sich mit dem Geruch der noch frischen Wandfarbe. Es roch förmlich nach Neuanfang. Stephan zog zufrieden an seiner Zigarette und streichelte Alina sanft übers Haar. Ziemlich genau vor einem Jahr hatte er seinen Dienst auf Sylt angetreten und das Versetzungsgesuch abgegeben. Trotz aller Unkenrufe hatte er es geschafft und saß nun mit seiner Alina in der ersten

147 gemeinsamen Wohnung. Vorbei war es mit Wochenendbeziehung und Abschiedsschmerz. Doch ganz ohne ging es dann doch nicht immer. Einige Wochen später bekam Stephan die Mitteilung, dass er Anfang Januar zu einem achtwöchigen Lehrgang musste, die ersten vier Wochen fanden in München statt. Stephan und Alina nahmen es sportlich. Sechs Wochen war Stephan dieses Jahr auf See gewesen und sie hatten nur während der Hafenaufenthalte kurz telefonieren können. Was war dagegen schon München, wo man auch noch täglich miteinander sprechen konnte? Insgesamt war es bisher ein gutes Jahr gewesen, dachte Stephan. Der einzige Wermutstropfen war die Trennung seiner Eltern. Aus diesem Grund hatte er vor, ihnen noch vor dem Jahreswechsel den längst überfälligen Besuch abzustatten. Das naheliegendste war, nach den Weihnachtsfeiertagen, die er unbedingt mit Alina in der neuen Wohnung verbringen wollte, einen Abstecher nach Lindlar zu machen. Von dort könnte er dann am zweiten Januar auch gleich zu seinem Lehrgang nach München weiter reisen.

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Mit gemischten Gefühlen stellte Stephan seine Taschen in das Gästezimmer der neuen Wohnung seines Vaters. Ihr altes Haus hatten seine Eltern inzwischen verkauft und Stephans Vater wohnte nun mit seiner neuen Partnerin in einer Mietwohnung im Ortskern von Lindlar. Seine Mutter lebte mit ihrem neuen Lebensgefährten im viele Kilometer entfernten Rösrath.

148 Am Silvesterabend stand Stephan vor dem Haus eines seiner Freunde und blickte den Hang hinauf, wo er schemenhaft sein altes Zuhause erkennen konnte. Er dachte daran, wie er vor zwei Jahren von dort oben über Lindlar geblickt und sehnsüchtig an Alina gedacht hatte. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er an sie dachte und ihr in Gedanken zuprostete. Wie sehr sich doch seine Perspektive in dieser kurzen Zeit gedreht hatte. Er wohnte jetzt in Wilhelmshaven und hatte dort sein Zuhause gefunden. Seine Eltern hatten sich getrennt und ihr altes Familiennest gab es auf einmal nicht mehr. Gemächlich zog Stephan an der Zigarette. In Wilhelmshaven war er nun kein Gast mehr, dafür in seiner alten Heimat.

149 Die 2. letzte Zigarette

1985 Marty McFly rast in einem DeLorean mit Fluxkompensator zurück in die Zukunft und eine japanische Automarke skandiert dazu passend: »Nichts ist unmöglich, ...« Die 'Ösis' beherrschen in diesem Jahr die Charts. Johann Hölzel rockt mit Amadeus, während Opus einen ewigen Partyrenner raushauen - Live is life. Wegen Erfolglosigkeit presst man Last Christmas wieder auf die B-Seite einer Single. Trotzdem avanciert der Song zur unsterblichen Weihnachtshymne. Sandra wird trotz ihres großen Erfolgs natürlich nie Maria Magdalena sein. Genauso wenig, wie Morten Harket nur eine Zeichenfigur bleibt. Der französische Geheimdienst schickt mit zwei Sprengladungen ein Greenpeace-Schiff auf den Grund des Hafens von Auckland. Ein anderer Franzose hingegen entdeckt einige Zeit später in den Tiefen des Nordatlantiks das Wrack eines Schiffes, das einst einen Eisberg rammte und dadurch versank. Ein 17-jähriger Sportler aus Leimen, der später eine gewisse Affinität zu Besen und deren Aufbewahrungsräume haben wird, fegt in Wimbledon alle vom Platz. Werner wird trotz Bölkstoff immer salonfähiger und ist in diesem Jahr eiskalt. Brösel sei Dank.

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Eiskalt war auch der Januar, als sich Stephan von seiner Mutter in Rösrath verabschiedete und sich auf den Weg zur

150 Sanitätsakademie nach München begab. Er hatte den Neujahrstag bei seiner Mutter verbracht, wo er sich etwas von der turbulenten Silvesterparty hatte erholen können. Während der Fahrt stellte er fest, dass offensichtlich nicht nur Käfer Heizungsprobleme haben können, auch die Heizung in seinem Golf verdiente ihren Namen nicht. Es war so empfindlich kühl, dass er nicht einmal seine Jacke ablegen konnte. Ungefähr eine Stunde vor München verlor dann auch noch die untergehende Sonne spürbar ihre wärmende Kraft. Der dünne Stoff der Uniformhose lag kalt an seinen Oberschenkeln und selbst die Aufwärmzigaretten halfen kaum noch. Da erinnerte er sich auf einmal an die Fahrten mit dem Autozug nach Sylt, bei denen er immer einen Schlafsack im Wagen gehabt hatte. Genau, das war es! Er hatte doch seine ganze Ausrüstung im Wagen, und zu der gehörte natürlich auch ein Schlafsack. Stephan schlotterte noch bis zum nächsten Parkplatz, kramte den Schlafsack hervor und legte ihn sich über die Beine. So war es sofort etwas erträglicher.

Die Kälte steckte Stephan inzwischen in allen Knochen, als er endlich sein Ziel erreichte. Er konnte es kaum erwarten, heiß zu duschen und es sich anschließend in seinem Zimmer gemütlich zu machen. An der Wache empfing er seinen Schlüssel, nahm sein Gepäck und eilte zu seiner Unterkunft. Nach kurzer Suche fand er dann auch seine Stube, steckte mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Doch was war das? Statt der erwarteten Wärme

151 herrschte in seinem Zimmer die gleiche Temperatur wie auf dem Flur. Und der war arschkalt. Stephan stellte seine Taschen ab und legte prüfend die Hand auf den Heizkörper, während er gleichzeitig einen Blick auf das Thermostat warf. Es war voll aufgedreht, trotzdem war die Heizung nur lauwarm. Na super, dachte Stephan. Jetzt hatte ausgerechnet er auch noch ein Zimmer erwischt, in dem die Heizung nicht funktionierte. Erst das Auto und jetzt das. Seine Versuche, noch ein warmes Zimmer zu bekommen, zerschlugen sich gleich beim ersten Versuch. Wie man ihm an der Wache mitteilte, sah es in den anderen Räumen auch nicht besser aus. »Selbst wir frieren uns den Arsch ab«, sagte der Wachhabende und wies auf den kleinen Heizlüfter, der hinter ihm stehend auf Hochtouren arbeitete. »Um Steuergelder zu sparen, haben die über die Feiertage die Heizung runtergefahren, aber offenbar vergessen, sie wieder rechtzeitig hochzuregeln.« Stephan nickte und bedankte sich mit einem neidischen Blick auf den Heizlüfter für die Auskunft, bevor er wieder zurück zu seiner Stube ging. Nun saß er ratlos und frierend in seinem Zimmer und überlegte bei einer Zigarette, wie er die Nacht in diesem begehbaren Kühlschrank überstehen sollte. Diesmal kam ihm die Erfahrung zugute, die er als Wache auf der Pier oder als Ausguck gemacht hatte, wenn es dort so richtig kalt gewesen war. Die Lösung hieß Zwiebelschalenprinzip. Also zog er sich zuerst einen Jogginganzug über den wärmsten Schlafanzug, den er dabei hatte. Danach kroch er in den Bundeswehrschlafsack, der ihm schon im Auto so gute Dienste geleistet hatte. Jetzt noch die beiden Wolldecken, die

152 zur Stubenausstattung gehörten, Arme einziehen und fertig. Stephan spürte, wie es ihm langsam wärmer wurde. Zufrieden drückte er den Kopf ins Kissen und schloss die Augen. Irgendetwas störte noch. Das Licht! Stephan blinzelte zum Lichtschalter, der sich neben der Tür befand. Bis dorthin waren es zwar nur knapp zwei Meter, aber um ihn zu erreichen, müsste er seine warme Schlafstatt wieder verlassen. Das wollte er allerdings auf keinen Fall. Andererseits ...

Irgendwann musste Stephan eingeschlafen sein, jedenfalls brannte das Licht noch, als ihn sein Wecker am nächsten Morgen aus dem Schlaf riss. Er streckte sich, soweit das seine Ummantelung zuließ. Dabei drang kühle Zimmerluft in seinen Kokon und ließ ihn frösteln. Schnell kauerte er sich wieder zusammen. Nichts auf der Welt würde ihn dazu bringen, sein warmes Bett zu verlassen. Er dachte sogar an Befehlsverweigerung. Doch es gab eine Macht, die stärker war als die Androhung einer Disziplinarmaßnahme oder die eisige Kälte seiner Unterkunft: die Macht aufdringlicher Nikotinzwerge. Wie jeden Morgen verlangten die kleinen Quälgeister auch jetzt wieder unnachgiebig nach der obligatorischen Wachzigarette.

In den Hörsälen herrschte zu Stephans Verwunderung eine angenehme Temperatur. Wie man den Lehrgangsteilnehmern erklärte, lag das daran, dass diese über einen anderen Heizstrang liefen. Wenigstens konnte man sich tagsüber etwas aufwärmen. An diesem Abend erlebte der Heizlüfter im Münchner

153 Norden eine Renaissance. Erst im dritten Elektrofachgeschäft konnte Stephan noch einen ergattern. Von da an lief das kleine Heizgerät auf Hochtouren. Insgesamt benötigte es zwei Tage Dauerbetrieb, bis endlich der Temperaturfühler reagierte und das Gerät automatisch abschaltete. Jetzt fror Stephan nur noch in den scheinbar endlosen Schlangen vor den wenigen Telefonzellen. So schön es auch war, täglich mit Alina zu telefonieren, so war er doch jedes Mal froh, wieder in seinem warmen Zimmer zu sein. Diese Erfahrungen sowie die An- und Abreise in einem unterkühlten Auto ließen Stephan drei Kreuze machen, als er endlich die zweite Station seines Lehrgangs erreichte. Von Wilhelmshaven bis zum Bundeswehrkrankenhaus in Bad Zwischenahn war es zwar kein Katzensprung, dennoch konnte man die Strecke ohne Weiteres zweimal am Tag bewältigen. So war auch die vierwöchige Durststrecke des Aufenthalts in München längst vergessen, als er nach dem Krankenhauspraktikum Anfang März wieder an Bord der 'Koblenz' zurückkehrte. Sofort stürzte Stephan sich wieder in seine Arbeit. Er checkte die Beatmungsgeräte, füllte den Medikamentenvorrat auf und tauschte die Atemluftflaschen der Notfalldruckkammer. Schon bald sollte es wieder raus gehen.

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»Manöverstationen aufklaren, anschließend wegtreten von Manöverstation!«, tönte es lautstark aus den Schiffslautsprechern, nachdem die Auslaufmelodie verklungen war. Die 'Koblenz' neigte

154 sich leicht nach Steuerbord, als sie in das Jade- Fahrwasser drehte. Ihr Ziel hieß Brunsbüttel, wo sie in den Nord-Ostsee-Kanal einschleusen sollten. Stephan hatte Freiwache und lehnte entspannt an der Reling, nachdem sie die Schleuse verlassen hatten. Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette und beobachtete, wie die Landschaft rechts und links des Kanals an ihm vorüberzog. Während der Kanalfahrt wurden aufgrund der Enge des Fahrwassers keine Notfallübungen durchgeführt und so verlief die Passage erwartungsgemäß ruhig. Gemächlich, mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von acht Knoten, ging es einmal quer durch Schleswig-Holstein. Kurz bevor sie die Rendsburger Hochbrücke erreichten, ging Stephan in den Steuerstand, wo ihr Navigationsmaat bereits in der untersten Schublade des Kartentischs wühlte. »Na, Paul«, sagte Stephan mit einem wissenden Grinsen. »Gehst du wieder unter die Eisenbahner?« »Pssst, nicht so laut«, zischte Paul und zog ein Kursbuch der Deutschen Bundesbahn hervor. »Soll doch ’ne Überraschung werden.« Stephan sah Paul hinterher, der mit dem Kursbuch vorsichtig am Aufgang zur offenen Brücke vorbei schlich und es anschließend dem Kommandanten vorlegte. Konzentriert blätterten die beiden hin und her, während sie immer wieder die Uhrzeit verglichen. Schließlich eilte Paul noch einmal an seinen Kartentisch, nahm einige Positionsberechnungen vor und nickte dem Kommandanten zu.

155 »Der III.WO auf die Brücke!«, befahl der Kommandant über die Schiffslautsprecher und kurz darauf stürmte ein dienstbeflissener Fähnrichschüler an ihnen vorbei. Stephan und Paul wechselten einen vielsagenden Blick. Unter dem Vorwand, der II.WO müsse mal dringend für ein paar Minuten abgelöst werden, schickte der Kommandant den jungen Oberfähnrich gleich weiter auf die offene Brücke. Kurz darauf kam der abgelöste zweite Wachoffizier mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht in den Steuerstand. Durch die Bullaugen beobachteten nun alle gespannt, wie sie sich der Eisenbahnbrücke Stück für Stück näherten. Paul verglich noch einmal Uhrzeit und Geschwindigkeit und nickte dem Kommandanten erneut zu. - Das Schauspiel konnte beginnen. Wie sich einen Augenblick später zeigte, hatte Paul ganze Arbeit geleistet. Just in dem Moment, als die 'Koblenz' genau unter der Brücke war, rauschte mit kräftigem Getöse ein Zug über sie hinweg. »Null!«, rief die gesamte Seewache bis auf den verdutzt dreinschauenden III.WO im Chor. »Herzlichen Glückwunsch, III.WO«, sagte der Kommandant, der inzwischen die offene Brücke geentert hatte, und klopfte dem immer noch sprachlosen Oberfähnrich anerkennend auf die Schulter. »Sie haben soeben das Schleuseneis gewonnen!« Augenblicklich hellte sich der fragende Blick des III.WO auf. »Danke, Herr Kaleu«, sagte er mit einem unverkennbaren Anflug von Stolz. »Der wird sich noch wundern, wenn wir in der Schleuse festmachen«, sagte Stephan und warf Paul einen schelmischen Blick zu.

156 »Das glaube ich allerdings auch. Pass mal auf, was der für ein Gesicht macht, wenn er merkt, dass nicht er ein Eis gewonnen hat, sondern er das Eis für die gesamte Besatzung zahlen muss.« Nachdem sie in der Holtenauer Schleuse festgemacht hatten, beobachtete Stephan aus der Nock, wie der III. WO von Bord sprang und in Richtung Kiosk spurtete. Offenbar hatte ein Besatzungsmitglied, das sich schon sehr auf das Eis freute, ihm gesteckt, dass er nicht viel Zeit hatte, um wieder rechtzeitig zum Ausschleusen an Bord zu kommen. Schaffte er es nicht, würden noch zwei Kilometer Fußmarsch bis zum Kieler Marinestützpunkt auf ihn zukommen und mit vierzig Eis auf dem Arm bedeutete das: Eilmarsch. Verständlicherweise war geschmolzenes Eis bei der Besatzung nicht sonderlich beliebt.

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Am nächsten Morgen verließ die 'Koblenz' unmittelbar nach dem Frühstück den Stützpunkt. Auf der Kieler Förde passierte sie das Marine-Ehrenmal von Laboe. Ein langer Pfiff unmittelbar gefolgt von einem kurzen kündigte die Ehrerweisung an, die Schiffe aller Marinen beim Passieren des Ehrenmals den auf See Gebliebenen aller Nationen bezeugten. »Front nach Steuerbord!«, befahl der wachhabende Offizier, woraufhin die zur Passieraufstellung an der Reling angetretene Besatzung Haltung annahm. Ein kurzer Pfiff beendete das Zeremoniell und weiter ging es mit nordöstlichem Kurs in Richtung Dänemark. Da der Kommandant offenbar noch keine Lust auf

157 Klingelspielchen hatte, nutzte Stephan die Freiwache, um auf dem Achterdeck gemütlich eine Zigarette zu rauchen. Er lehnte am Sockel des Krans und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft im Langelandsbelt, von der es zum Großen Belt ging. Ihr Ziel war das Kattegat, wo Nord- und Ostsee aufeinandertreffen. Dort lag die kleine Hafenstadt Frederikshavn, in der sie für die nächsten zwei Tage festmachten. Auch an der Nordspitze Dänemarks startete unmittelbar nach dem Einlaufen das gewohnte Telefonzellenrennen, an dem sich Stephan diesmal nicht sofort beteiligte. Statt zu hetzen, wollte er lieber in aller Ruhe etwas Geld in dänische Kronen tauschen und bei einer anschließenden Tasse Kaffee abwarten, bis sich der erste Ansturm gelegt hatte.

Von seinem Landausflug brachte Stephan eine 25- Öre-Münze mit, die er als Erinnerung behalten wollte. Öre verband er mit den lustigen Geschichten von den Kindern aus Bullerbü, die er in seiner Kindheit mit Begeisterung gelesen hatte. Außerdem befand sich in der Mitte der Münze ein eingestanztes Loch. Zusammen mit einem Lederband, wie es gerade modern war, stellte es einen prima Halsschmuck dar. Doch bis er wieder zu Hause war, verschwand das Souvenir zunächst in seinem Portemonnaie, wo es die nächsten dreißig Jahre blieb. Anstatt einem Dasein als Schmuck hatte Stephan der Münze die Funktion eines Glücksbringers zugedacht, der von nun an immer für einen vollen Geldbeutel sorgen sollte. Leider ohne

158 wesentlichen Erfolg. Trotzdem hielt Stephan dem Geldstück die Treue, das sich später dafür revanchierte und ihm treu als Chipersatz für Einkaufswagen diente.

In der letzten Woche war ein Sturmtief über Norddeutschland und Dänemark hinweg gezogen und für die bevorstehende Fahrt durch das Skagerrak rechnete man auf der 'Koblenz' mit schwerer See. Trotz abflauender Winde und strahlendem Sonnenschein trafen sie dann in der Nordsee auf die erwartete hohe Dünung. Die kräftige See rollte von Achtern heran und drückte das Heck mal nach Backbord und mal nach Steuerbord. Der Rudergänger leistete Schwerstarbeit bei dem Versuch, einigermaßen den Kurs zu halten, und über die Hälfte der Besatzung litt unter einer plötzlichen Appetitlosigkeit. Stephan gehörte nicht dazu, ganz im Gegenteil. Er hatte sich nach dem Mittagessen aufs Achterdeck begeben, um im Windschatten der Aufbauten eine Zigarette zu rauchen. Dabei blickte er zufrieden hinaus auf das aufgewühlte Meer und dankte in Gedanken Neptun für die Extraportionen Fleisch.

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Die 'Koblenz' hatte wohlbehalten und ohne größere Schäden Wilhelmshaven erreicht und war in den folgenden Wochen nur noch für ein paar kurze Tagesfahrten nach Helgoland ausgelaufen. Die restliche Zeit bestand der Dienst hauptsächlich aus Hafenroutine, so dass Stephan ein nahezu normales Arbeitsleben führte. Morgens ging er zur Arbeit und nach Feierabend besuchten Alina und er ihre Freunde oder genossen die Zweisamkeit in ihrer Wohnung. Dann war auf einmal der Sommer da. Alina und Stephan hatten einen gemeinsamen Urlaub mit Emily und Oliver in

159 Jugoslawien geplant und eine preiswerte zehntägige Pauschalreise zur kroatischen Insel Krk gebucht.

Einige Tage vor der Abfahrt hatte sich Stephan überlegt, dass die Reise eigentlich ein guter Anlass wäre, um mit dem Rauchen aufzuhören. Ein Urlaub war doch schließlich die ideale Gelegenheit. Er brauchte keine Wachzigaretten, da er ja nach Herzenslust ausschlafen konnte, und auch keine Entspannungszigarette, da im Urlaub nicht mit Stress zu rechnen war. Selbst das gewohnte Rauchen in der Gesellschaft anderer dürfte sich nicht als Problem darstellen, da Emily und Oliver nicht rauchten. Das so gesparte Geld wollte er außerdem konsequent zur Seite legen und dafür im nächsten Jahr mit Alina eine Traumreise in die Karibik machen. Von seinen Sparplänen sagte Stephan Alina allerdings nichts, als er ihr begeistert von seinem Plan berichtete und ihr vorschlug, gemeinsam mit ihm aufzuhören. Alina teilte seine Begeisterung absolut nicht. Unumwunden gab sie ihm zu verstehen, dass es für sie keinerlei Veranlassung gab, mit dem Rauchen aufzuhören. Während des gesamten Urlaubs genoss sie dann auch ihre Zigaretten und Stephan ertappte sich immer wieder dabei, wie er neidisch zu ihr hinüber schielte. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, dass Alina den Rauch absichtlich in seine Richtung blies. Auch wenn es ihm nicht leichtgefallen war, hatte er letztlich tapfer durchgehalten und war richtig stolz auf sich selbst, als er als vermeintlicher Nichtraucher an Bord zurückkehrte. Hatte er sich im Urlaub noch zusammenreißen können, tat sich für ihn nun die wahre Hölle auf. An jeder Ecke wurde geraucht und Stephan bemerkte auf einmal voller

160 Entsetzen, dass er tatsächlich der einzige Nichtraucher auf der 'Koblenz' war. Rings um ihn herum lag schwer der blaue Dunst in der Luft. Es wurde gequalmt, was das Zeug hielt. Nach dem Essen, zum Kaffee und in den Arbeitspausen. So gut es ging, versuchte Stephan sich zumindest von den Bereichen fernzuhalten, wo gerade besonders stark geraucht wurde. Drei Wochen hatte er nun schon durchgehalten und diese Zeit, in der er sich auch immer wieder gequält hatte, sollte nicht umsonst gewesen sein. Von nun an war Stephan immer der Erste, der mittags aufgegessen hatte und, bevor die anderen ihre Verdauungszigaretten anzündeten, an die frische Luft verschwand. Unverzagt kämpfte sich Stephan durch seinen harten Nichtraucheralltag, der ihm auch Zuhause nicht leichter gemacht wurde, da Alina nach wie vor ihrer Rauchleidenschaft nachging. Fünf Wochen waren so vergangen, bis ihn dann doch sein Schicksal ereilte. Die 'Koblenz' war wieder einmal auf der Jagd nach Übungsminen, die man in der Deutschen Bucht für sie gelegt hatte. Für die Dauer des Manövers stützten sie sich wie gewohnt auf den Helgoländer Hafen ab, wo sie vor einer knappen Stunde festgemacht hatten. Der Schiffsausrüster hatte soeben die Bestellungen von zollfreien Waren angeliefert, die man sofort nach dem Einlaufen abgegeben hatte. Einen großen Posten dieser Bestellung machten Spirituosen aus, die ihr Navigationsmaat Paul geordert hatte, da er heute Geburtstag feierte. Schon bald herrschte im Unteroffiziersdeck eine gelöste Stimmung. Bier und Schnaps flossen in Strömen und das Deck glich inzwischen einer verräucherten Hafenkneipe. Die

161 Aschenbecher quollen schon über und die Zigaretten schienen nie auszugehen. Alle rauchten. Bis auf Stephan, der dafür nervös an seinen Fingernägeln kaute. Dann war der Moment gekommen, an dem der Alkohol Stephans Hemmschwelle so weit gesenkt hatte, dass er seinem Tischnachbarn die längst überfällige Frage stellte. »Darf ich mir 'mal eine drehen?« »Ich denke, du rauchst nicht mehr«, sagte Martin, einer ihrer Minentaucher, verwundert. »Nur ausnahmsweise, zur Feier des Tages«, sagte Stephan etwas verlegen. »Na, du musst es ja wissen.« Martin zuckte die Schultern und reichte Stephan seinen Tabak. Natürlich blieb es nicht bei der einen Ausnahme. Nicht an diesem Abend und nicht in den folgenden Tagen. Mit jeder Ausnahmezigarette verwischte er den Zeitraum der Abstinenz und auf einmal konnte er nicht mehr stolz verkünden, wie lange er schon Nichtraucher war. Die Anzahl der geschnorrten Zigaretten erhöhte sich stetig, nur Zuhause bei Alina blieb er nach wie vor standhaft. Er konnte sich förmlich ihr triumphierendes Gesicht vorstellen, wenn er sie um eine Zigarette bitten würde.

»Du könntest dir auch 'mal wieder Kippen kaufen!« Mit einem vorwurfsvollen Blick steckte Martin seinen Tabak wieder ein. Stephan fiel aus allen Wolken. Rauchte er wirklich schon wieder so viel? Ab und zu mal eine, okay, aber dass das Martin schon auffiel ... Auf seinem Weg nach Hause gestand er sich nach diesem Erlebnis dann doch ein, dass er sich die ganze Zeit etwas

162 vorgemacht hatte. Auch jetzt quälte ihn der Wunsch nach einer Zigarette so sehr, dass er kurz entschlossen am nächsten Kiosk hielt. »Ich wusste doch, dass du nicht durchhältst«, sagte Alina und nahm Stephan tröstend in den Arm, nachdem er kurz drauf auch ihr sein Scheitern gebeichtet hatte. Dennoch meinte er einen leichten Anflug von Schadenfreude in ihrem Blick zu erkennen. Verübeln konnte er es ihr nicht, schließlich hatte Alina in den vergangenen Wochen oft genug sein theatralisches Nichtrauchergehabe ertragen müssen, wenn sie Zuhause geraucht hatte.

In diesem Herbst musste das Chaosauto, wie Stephan seinen Golf mittlerweile getauft hatte, zum TÜV. Wie nicht anders zu erwarten war, präsentierte der freundliche Herr in der VW-Werkstatt Stephan dann auch eine lange Liste mit Mängeln, die beseitigt werden mussten, um die begehrte Plakette zu bekommen. Stephan winkte dankend ab, obwohl das für ihn bedeutete, dass er sich nun nach einem neuen fahrbaren Untersatz umsehen musste. Doch für ihn war das Maß voll. Zu oft hatte er in den letzten Monaten immer wieder Geld in den Golf stecken müssen. Neue Stoßdämpfer, eine neue Lichtmaschine ... Es war an der Zeit, endlich einen Schlussstrich unter das Kapitel Golf zu ziehen, auch wenn es das Verlustgeschäft seines Lebens war.

163 Das Lächeln des freundlichen Herrn in der VW- Werkstatt wurde noch ein wenig breiter, als er Stephan auch gleich weiter in den Verkaufsraum führte. »Wenn Sie sich für einen Wagen aus unserem Hause entscheiden, können Sie Ihren alten gleich hier lassen und müssen sich um nichts kümmern. Wir nehmen ihn in dem Fall auch für 150 DM in Zahlung.« Wenigstens eine kleine Schadensbegrenzung, dachte Stephan und sah sich bei den Gebrauchtwagen um. Vielleicht hatte er ja Glück und fand einen Wagen, der in sein Budget passte. Ein Neuwagen käme jedenfalls überhaupt nicht infrage. Stephan schlenderte durch die Reihen der unterschiedlichsten Fabrikate und in dem Moment, als er schon fast resigniert aufgeben wollte, stand er auf einmal vor ihm. Versteckt hinter einem VW-Bully wartete ein knallroter Käfer auf einen neuen Besitzer und schien ihn förmlich zuzublinzeln. Stephan fiel auf einmal sein altes Motto 'Never change a winning team' wieder ein. Mit Käfern hatte er bisher nur gute Erfahrungen gemacht und da dieser nicht nur genau in seinem Finanzrahmen lag, sondern obendrauf noch eine Gebrauchtwagengarantie mitbekam, überlegte Stephan nicht lange. WHV-PA 75. Zufrieden schraubte er zwei Tage später das Nummernschild an seinen neuen Kugelporsche und war sich sicher, dass teure Werkstattaufenthalte nun der Vergangenheit angehörten.

164 Bei der 'Koblenz' sah das da schon anders aus. An ihr musste kräftig geschraubt werden, da die routinemäßige Grundüberholung in der Werft fällig war. Hierzu verlegten sie zur Lürssen-Werft, die an der Weser im Norden Bremens lag. Stephan war im Gegensatz zu den meisten anderen Besatzungsangehörigen noch nie in einer Werft gewesen. Er staunte nicht schlecht, als das knapp 50 Meter lange Boot auf einer Art Wagen eingedockt wurde, um anschließend gut gesichert und verkeilt in eine riesige Werfthalle gezogen zu werden. Neugierig sah Stephan sich um. Die 'Koblenz' war nicht das einzige Boot in der Halle. Direkt daneben lagen einige Jachten des Aga Khan, wie er später von einem Werftarbeiter erfuhr. Sie sollten hier einen Strahlantrieb erhalten, denn angeblich hatte es Aga Khan, aus welchen Gründen auch immer, meistens sehr eilig. Hinter den schicken Speedbooten erkannte Stephan ein etwas größeres Schnellboot, das in der gleichen grauen Farbe wie die 'Koblenz' gestrichen war. Es war allerdings im Gegensatz zu ihnen nicht routinemäßig hier, sondern hatte sich vor Kurzem den Kiel bei einer Grundberührung wegrasiert. Nur aufgrund der schnellen und richtigen Reaktion der Besatzung war das Schnellboot nicht gesunken. Sonst hätten sie wahrscheinlich von so einem Seenotrettungskreuzer aufgenommenen werden müssen, wie jener, der vor der 'Koblenz' aufgedockt stand. Damit war aber auch schon das Interessanteste des Werftaufenthalts passiert. Von nun an regierte die Langeweile. Innerhalb kürzester Zeit war ihr Boot nicht mehr wiederzuerkennen: Verkleidungen und

165 ganze Decksegmente waren entfernt worden. Im ohrenbetäubenden Konzert von Bohrern, Schleifmaschinen und Kreissägen hasteten Arbeiter hin und her. Um diesem Durcheinander zu entkommen, traf man sich, so oft es ging, in einer Ecke der Halle. Hier rauchte Stephan mit seinen Kameraden dann gemütlich eine Zigarette und trank dazu einen Becher 'guten' Automatenkaffee.

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Für Stephan war es in diesem Jahr an der Zeit gewesen, sich Gedanken über seine berufliche Zukunft zu machen. Bereits im nächsten Jahr würde seine vierjährige Dienstzeit enden und seinem eigentlichen Berufsziel, nämlich Krankenpfleger zu werden, war er noch keinen wesentlichen Schritt nähergekommen. Sein Wehrdienstberater musste es seinerzeit aus irgendwelchen Gründen versäumt haben, ihm mitzuteilen, dass er sich hierfür auf acht Jahre verpflichten müsste. - Münchhausen blieb eben Münchhausen. Dennoch nahm Stephan ihm das nicht krumm. Bisher hatte er keinen Tag seiner Marinezeit bereut, sah man einmal davon ab, dass es mit seinem Wunschkommando nicht gleich geklappt hatte. Dafür war sein Beruf abwechslungsreich und interessant. Die täglich wiederkehrende dumpfe Arbeitsroutine, die er noch von seinen Ferienjobs her kannte, hatte er hier jedenfalls noch nicht erlebt. Aus diesem Grund musste Stephan auch gar nicht weiter überlegen, sondern unterschrieb für weitere vier Jahre, auch wenn er wusste, dass das Verpflichtungspaket eine weiterführende Ausbildung zum Bootsmann enthalten würde. Das hieß erneut von Wilhelmshaven Abschied zu

166 nehmen und für ein Dreivierteljahr wieder eine 'Wochenendehe' zu führen. Bis die Ausbildung im April losgeht, ist es ja noch einige Zeit hin, dachte Stephan und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Nachdem die 'Koblenz' wieder im alten Glanz in ihrem Heimathafen lag, folgten einige Wochen ohne große Fahrten. Stephan und Alina genossen diese Zeit der trauten Zweisamkeit in vollen Zügen, bis sich schon bald das Jahresende ankündigte, zu ihrem Leidwesen dann auch gleich mit einer schlechten Nachricht. Stephan war an Silvester zur Wache eingeteilt worden. Irgendwie hatte er schon so etwas geahnt, schließlich war dieser Krug in den letzten Jahren immer an ihm vorübergegangen. Wenigstens konnte er die Weihnachtstage mit Alina zu Hause verbringen.

Es war eine kalte Nacht, als Stephan kurz vor dem Jahreswechsel auf dem Peildeck der 'Koblenz' stand und gedankenversunken an seiner Zigarette zog. Er dachte an Alina, die keine zwei Kilometer von ihm entfernt den Silvesterabend bei Freunden feierte, während er hier mutterseelenallein in den Sternenhimmel blickte. In diesem Moment riss ihn der ohrenbetäubende Lärm der Typhone der im Hafen liegenden Schiffe aus seinen Gedanken und zeigte ihm, dass er so alleine dann doch nicht war. Über Wilhelmshaven stiegen die Leuchtraketen und Feuerwerkskörper in den Himmel, während Stephan den Hebel des Typhons nach unten drückte und sich an dem maritimen Neujahrskonzert beteiligte. Prost Neujahr! Willkommen 1986!

167 Die 3. letzte Zigarette

1986 Reinhold Messner klettert zum 14. Mal auf einen Achttausender, damit ist seine Sammlung komplett. Einen Nummer-eins-Erfolg nach dem anderen sammeln Thomas Anders und Dieter Bohlen. Modern Talking ist mit der fünften Hitsingle in Folge on top. Die Gruppe Berlin liefert den Hit zu Top Gun. Der Atem bleibt auch vielen weg, als ein Skandallied von einigen Radiosendern gar nicht erst gespielt wird, doch genau das führt zum Durchbruch für Jeanny. Ein Lied der Gruppe Europe handelt von einem letzten Countdown, genau den hat es ein halbes Jahr zuvor für ein Space Shuttle gegeben. Vor den Augen einer entsetzten Welt reißt die Challenger ihre Besatzung in den Tod. Damit ist das Jahr der Katastrophen aber noch nicht vorbei. In Tschernobyl explodiert ein ganzes Atomkraftwerk und auf einmal bekommen die neu veröffentlichen Zeilen eines Songs von Sam Cooke eine ganz besondere Bedeutung. - What a wonderful world this would be. Im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft stehen Argentinien und Deutschland. Diesmal gewinnen noch die Südamerikaner, doch eines ist sicher: Man trifft sich immer zweimal im Leben! Für einen gewissen Jörn Schlönvoigt beginnen die guten und schlechten Zeiten, die ein Leben so bereithält, als er in Berlin das Licht der Welt erblickt. Von GZSZ spricht da aber noch niemand.

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168 Auch für Stephan standen in diesem Jahr gute und schlechte Zeiten ins Haus und würden ihn in ein Wechselbad der Gefühle werfen. Davon ahnte er jedoch noch nichts, als im April die nächste Wochenendbeziehung für Alina und ihn begann. Es sollte die letzte werden. Zusammen mit Marcel, einem Minentaucher der 'Koblenz', fuhr Stephan zur Unteroffizierschule nach Plön. Diesmal wusste er jedoch, was auf ihn zukam und so hielt sich seine Aufregung in Grenzen. Wie schon vor zwei Jahren, umfasste auch die Ausbildung zum Bootsmann wieder praktische und theoretische Anteile, nur dass man nun für eine höhere Verantwortungsebene geschult wurde. Zu Stephans Freude standen auch viele Sportstunden auf dem Lehrplan. Sport war in den letzten Jahren an Bord viel zu kurz gekommen. Körperertüchtigungen gab es in Plön zur Genüge. Neben Sport war dies vor allen Dingen die infanteristische Ausbildung, in der Stephan und seine Kameraden regelmäßig über die Kampfbahn gescheucht wurden. Idyllisch zwischen hohen Bäumen und dichtem Buschwerk in der Nähe des Kasernenzauns gelegen, verlor sie schon nach den ersten zwei Hindernissen ihre Beschaulichkeit. Bis zu jenem 26. April, an dem sich im weit entfernten Tschernobyl eine furchtbare Reaktorkatastrophe ereignete. Ihre Folgen reichten weit über alle Grenzen hinaus und erreichten einige Tage später sogar ihre kleine Welt in Plön. Dort wurde mit Strahlenmessgeräten im sandhaltigen Boden eine leichte radioaktive Verstrahlung festgestellt, woraufhin sofort die Teile der Kampfbahn gesperrt wurden, die die tiefsten Gangarten erforderten. Kriechen und Robben mussten sie von da an nicht mehr, eine Entschärfung, mit der Stephan und seine Kameraden trotz aller Dramatik gut

169 leben konnten. Bis auf diesen Zwischenfall verbrachte Stephan erneut eine schöne Zeit in Plön. Genau wie damals hatten sie auch jetzt wieder hervorragendes Wetter, das die schöne Holsteinische Schweiz in einem herrlich warmen Frühsommer präsentierte. So kann es bleiben, dachte er und freute sich auf einen ebenso schönen Sommer auf Sylt, wo ab Juli der zweite Abschnitt seines Lehrgangs stattfinden sollte. Versehen sie Ihren Dienst dort, wo andere Urlaub machen! Zum wiederholten Male spukte dieser Satz, der inzwischen schon fast ein festes Programm geworden war, durch seinen Kopf. Doch vor einem dienstlichen 'Urlaub' auf Sylt gab es zum Lehrgangsende in Plön erst einmal richtigen Urlaub.

Für die Karibik reichte das Geld nach der abgebrochenen Nichtraucherphase natürlich nicht. Alina und Stephan blieb so nur das sehr viel preiswertere Ausweichziel unweit von Wilhelmshaven an der südlichen Nordsee. Stephans Oma freute sich, die beiden wieder einmal bei sich auf Baltrum zu haben. Für Stephan und Alina war die Freude nicht ganz so groß, was aber alleine daran lag, dass in ihrer Beziehung dunkle Wolken aufgezogen waren. Die Wochenendbeziehung hatte ihnen doch mehr zu schaffen gemacht, als sie anfangs gedacht hatten. Der Urlaub auf Baltrum war nun die dringend benötigte Auszeit, um erneut Kraft zu tanken, ein langes halbes Jahr stand ihnen ja noch bevor.

Stephan hatte kein gutes Gefühl, als er am Ende der zwei Urlaubswochen, die viel zu schnell vergangen waren, Alina

170 in den Arm nahm. So schön die Zeit für sie gewesen war, so schwer fiel ihnen nun der Abschied. »Freitag bin ja schon wieder da«, sagte Stephan leise und strich sanft eine Träne von ihrer Wange. »Wir schaffen das schon.« Alina nickte. »Fahr vorsichtig«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Und melde dich, wenn du gut angekommen bist.« Sie gaben sich noch einen langen Kuss, bevor Stephan in seinen Käfer stieg und sich mal wieder auf den Weg zu seiner 'Lieblingsinsel' machte. Auf Sylt hatte sich nicht viel verändert, wie er schon nach wenigen Tagen festgestellt hatte. Einige Häuser waren zwar ein Stückchen näher ans Meer gerückt, doch das war nicht ungewöhnlich. Seit vielen Jahren lebten die Sylter bereits mit dem Küstenabbruch und den Landverlusten. Eine ganz andere Veränderung jedoch bereitete Stephan Kopfzerbrechen. Seit seiner Ankunft freute er sich irgendwie, wieder hier zu sein. Es war Sommer und die Insel zeigte sich trotz oder gerade wegen der vielen Urlauber von ihrer schönsten Seite. Dieses schon fast heimische Gefühl war ihm unheimlich.

Tagsüber war Stephan mit Lernen so sehr abgelenkt, dass die Sehnsucht nach Alina ihn erst nach Feierabend richtig erreichte. Wie schon während seiner letzten Aufenthalte, fuhr er dann an den Strand, um im warmen Sand und im Licht der Abendsonne seinen Gefühlen die Bühne zu geben, die sie forderten. Mit romantisch verklärtem Blick beobachtete er die Wellen, die an den Strand rollten, und zählte die Stunden bis zum Wochenende. Doch dieses Jahr schien sich alle gegen ihn verschworen zu haben. Immer häufiger musste er schon auf dem Absatz wieder kehrt

171 machen, weil dichter kalter Seenebel über dem Strand lag und so gar keine Stimmung aufkommen ließ. Vielmehr erinnerte es ihn an den Film FOG – Nebel des Grauens und zum Grauen wurden auch bald die Wochenenden. Die Spannungen zwischen Alina und Stephan nahmen von Woche zu Woche an Intensität zu. Mehr als ein Mal hatte sich Stephan schon gefragt, warum er sich jedes Wochenende die lange Fahrt überhaupt noch antat. Es war jedes Mal das gleiche Spiel. Kam er nach Hause, war die Freude noch groß, doch schon am nächsten Tag schaukelten sich ihre Streitereien wegen Kleinigkeiten auf. Am Sonntag und natürlich kurz vor seiner Abfahrt entlud sich dann alles in einem Donnerwetter. Für ein klärendes Gespräch blieb dann natürlich keine Zeit, da er rechtzeitig den letzten Autozug erreichen musste. Frustriert, grübelnd und mit einem Haufen offener Probleme im Gepäck, fuhr Stephan anschließend, eine Zigarette nach der anderen rauchend, zurück nach Sylt. Gleich am nächsten Tag begann Stephan, die Münztelefone zu füttern, um sich mit Alina auszusprechen, was aufgrund der 'anonymen Abgeschiedenheit' einer Telefonzelle meistens ergebnislos blieb. Lange Schlangen anderer Soldaten, die ihn mit ungeduldigen Gesichtern zur Eile mahnten, gaben ihm in diesen Momenten einfach nicht die Ruhe, die er brauchte. Manchmal meinte Stephan, dem einen oder anderen Gesicht anzusehen, dass er mit seinen Problemen nicht der Einzige war. So brachte er meistens die ungeklärten Probleme der Vorwoche am Freitag wieder mit nach Hause. Wie soll das weitergehen, wenn ich nicht wieder nach Wilhelmshaven versetzt werde?, fragte sich Stephan in solchen Momenten. Er war sich sicher, dass ihre Beziehung eine weitere Verlängerung der Wochenend-Pendelei nicht

172 mehr wegstecken könnte.

Ende Oktober zog sich Stephan einen heftigen grippalen Infekt zu. Fröstelnd und mit Kopfschmerzen saß er in seiner Stube auf der Bettkante und zündete sich wie jeden Morgen eine Zigarette zum Wach werden an. Doch bereits nach dem ersten Zug drückte er sie angeekelt wieder aus. Er spürte, wie die Übelkeit in ihm aufstieg, während ihm gleichzeitig der Schweiß aus allen Poren trat. »Thommi, ich glaub, mir ist nicht so gut«, sagte er zu Thomas, mit dem er das Zimmer teilte. »Das Frühstück lass' ich heute 'mal aus und bleib noch einen Moment liegen.« Mit Mühe schluckte er einmal trocken herunter, um so einem neuen Übelkeitsschub entgegen zu wirken und ließ sich matt zurücksinken. »Du siehst auch nicht gut aus«, sagte Thomas mit einem mitleidigen Blick. »Ich bring dir dann ein Brötchen mit.« Stephan wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn und nickte schwach. Im Hörsaal hing er wie ein nasser Sack auf seinem Stuhl. Bei jeder neu aufkommenden Übelkeit schielte er zur Tür und taxierte in Gedanken den Weg bis zur nächsten Toilette ab. Nach der zweiten Unterrichtsstunde gab er schließlich auf und meldete sich beim Hörsaaldienst ab, um zum Truppenarzt zu gehen. Eine Dreiviertelstunde später kehrte Stephan mit einem Arsenal an Medikamenten in seine Stube zurück, für heute und morgen war er erst einmal krankgeschrieben. Nichts wie ins Bett, dachte er und rieb sich über die Arme. Trotz voll aufgedrehter Heizung fror er wie ein Schneider. Gegen Mittag wachte Stephan wieder auf, als Thomas vom Mittagessen zurückkam.

173 »Na, wie geht’s?«, fragte Thomas und schaltete den Wasserkocher ein. »Ich habe etwas Tee aus der Küche mitgebracht.« »Danke«, sagte Stephan und setzte sich etwas auf. Er fischte das Brötchen von dem Regal, das neben seinem Bett stand, und biss lustlos hinein. Weniger weil er Appetit hatte, sondern vielmehr weil er hoffte, so der Übelkeit ein wenig entgegenzuwirken. Nach einem halben Brötchen und einem Becher Tee schlief Stephan weiter und wachte erst am späten Nachmittag wieder auf. Er war schweißnass, fühlte sich aber trotzdem deutlich besser als noch vor ein paar Stunden. Er hatte sogar wieder etwas Hunger. Thomas brachte auch vom Abendbrot ein kleines Verpflegungspaket für Stephan mit. »Wir fahren heute noch nach Westerland«, sagte Thomas, während er sich umzog. »Dann hast du noch ein bisschen Ruhe.« Kurz darauf saß Stephan alleine auf seinem Bett. Ruhe hatte er schon genug gehabt. Schlafen ging kaum noch, im Fernsehen lief auch noch nichts Gescheites und so langweilte er sich auf einmal. Und wie immer, wenn ihm langweilig war, griff er automatisch zu seinen Zigaretten. Doch wie heute Morgen war bereits nach dem ersten Zug wieder Schluss. Der Geschmack der Zigarette war so grauenhaft, dass ihm erneut furchtbar schlecht wurde. Nach einer langen verschwitzten und unruhigen Nacht erwachte Stephan am nächsten Morgen mit dem Gefühl einer leichten Besserung. Die Gliederschmerzen waren verschwunden und er fror auch nicht mehr so stark. Der Appetit nahm zu und die Übelkeit gleichzeitig ab, wie er nach dem Frühstücks-Carepaket feststellte, das Thomas ihm wieder mitgebracht hatte. Das Einzige, was blieb, war der

174 schlechte Geschmack der Zigaretten, die er immer wieder probierte. Die Nikotinzwerge wollten partout nicht klein beigeben. Warum quäle ich mich eigentlich so?, fragte er sich, nachdem er mittags erneut eine eben erst angezündete Zigarette sofort wieder ausgedrückt hatte. Das war doch die Gelegenheit, ganz mit dem Rauchen aufzuhören. Kurz entschlossen stand Stephan auf, nahm seinen Tabaksbeutel und schmiss ihn ohne die geringste Wehmut in den Mülleimer.

»Rise, Rise, aufstehen!« Am nächsten Morgen öffnete Stephan langsam die Augen nach einer erstaunlich ruhigen Nacht. Sein Magen grummelte und sein Kopf schien mit Watte ausgestopft zu sein, doch ansonsten fühlte er sich recht gut. So gut, dass er wieder am Unterricht teilnehmen konnte. Langsam fiel ihm auch die Decke auf den Kopf und der Stoff, den er inzwischen nachholen musste, wurde ebenfalls nicht weniger. Unternehmungslustig stemmte Stephan sich von seinem Bett hoch und streckte sich. Jetzt noch schnell eine Zigarette, dachte er, als ihm plötzlich einfiel, dass er seinen Tabak ja weggeschmissen hatte. »Mist«, fluchte er leise und blickte sehnsüchtig zu Thomas hinüber, der auch gerade aufgestanden war und sich nun eine Zigarette anzündete. »Lass mich mal ziehen«, sagte Stephan. Thomas sah ihn einen Augenblick lang fragend an und hielt ihm dann die Zigarettenschachtel hin. »Nein, nein«, sagte Stephan und hob abwehrend die

175 Hand. »Ich möchte nur mal probieren.« »Von mir aus«, sagte Thomas und reichte ihm achselzuckend seine Zigarette. Stephan nahm vorsichtig einen Zug. Nur mit Mühe konnte er einen Hustenanfall unterdrücken. Prustend gab er Thomas die Zigarette zurück. »Okay, Thommi, ich lass es dann doch lieber sein«, sagte er immer noch hüstelnd. Er nahm sein Waschzeug aus dem Spind und machte sich auf den Weg zum Waschraum. Das war’s, dachte er und war sich sicher, nun auf dem Startblock für ein neues Leben als Nichtraucher zu stehen. Vor ihm lag jetzt der Weg, der ihn raus aus dem blauen Dunst führen sollte. Von seinen bisherigen Versuchen wusste Stephan, dass dieser Weg steinig war, trotzdem war er voller Zuversicht, als vom Frühstück zurückkehrte. Ohne Probleme hatte er Thomas dabei zugesehen, wie dieser nach dem Frühstück die obligatorische Zigarette geraucht hatte. Nach der ersten Unterrichtsstunde legte sich ihm jedoch bereits der nächste Stolperstein in den Weg, als er in der Fünfminutenpause ganz alleine inmitten von Rauchern stand, so wie damals an Bord der 'Koblenz'. Alle hatten etwas in der Hand, nur er nicht. Tief stemmte er die Hände in die Hosentaschen und versuchte sich durch Gespräche abzulenken. Dies wiederholte sich nun von Pause zu Pause. Nur mit größter Mühe und der Aussicht auf das bevorstehende Wochenende, an dem es keine Fünfminutenpausen gab, wehrte er sämtliche Angriffe der Nikotinzwerge ab.

Was die Pausen anging, hatte Stephan recht behalten, dafür erwarteten ihn nun andere Herausforderungen. Einerseits waren noch nicht alle Konflikte des letzten Wochenendes gelöst und andererseits plagte Stephan der

176 Nikotinentzug. Er war gereizt, was die Aussprache mit Alina nicht unbedingt erleichterte. Alina war gereizt, weil er gereizt war. Außerdem stand nun auch wieder das Theaterspiel 'Raucher und Nichtraucher in der gemeinsamen Wohnung' auf dem Programm. So endete auch dieses Wochenende einmal mehr im Streit.

Warum bin ich nicht gleich auf Sylt geblieben?, fragte sich Stephan, als er an diesem Sonntag, wie so oft in den letzten Wochen, verärgert und aufgeregt hinter dem Lenkrad seines Käfers saß. Eine Zigarette gegen den Stress wäre jetzt nicht schlecht. So spulte er Kilometer für Kilometer ab. Zu allem Überfluss zog sich die A7 hinter Hamburg mal wieder wie Kaugummi. In immer kürzer werdenden Abständen musste Stephan das Seitenfenster öffnen, um seine Müdigkeit durch Frischluftzufuhr zu bekämpfen. Gleichzeitig spielte er immer häufiger mit dem Gedanken, an der nächsten Raststätte anzuhalten, denn nun fehlten ihm doch die Wachzigaretten. Schließlich erreichte Stephan Niebüll auch ohne Zigaretten. Während er auf die Autoverladung wartete, fiel sein Blick auf den Zigarettenautomaten an der Wand des Kiosk. Letztes Wochenende hatte er sich die Wartezeit noch mit einer Zigarette vertreiben können. Vielleicht sollte er ... In diesem Moment starteten die Wagen vor ihm den Motor und Bremslichter leuchteten auf. Die Verladung begann. Nachdem er seine Parkposition auf dem Autozug erreicht hatte, stellte Stephan seinen Sitz zurück und versuchte ein wenig zu schlafen. Mitten auf dem Hindenburgdamm weckte ihn ein

177 heftiger Schlag, als ein entgegenkommender Zug an ihnen vorbeirauschte. In seinem Käfer war es inzwischen empfindlich kalt geworden. Stephan zog den Reißverschluss an seiner Jacke zu und verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Jetzt ’ne schöne Zigarette zum Aufwärmen, dachte er und freute sich nur noch auf sein warmes Bett.

In der folgenden Woche wurde Stephans Durchhaltewillen weiterhin harten Proben unterzogen, unter denen nicht nur er zu leiden hatte. Auch sein unmittelbares Umfeld, allen voran Thomas, blieb nicht verschont. Bereits am Dienstagabend führte seine permanent schlechte Laune und Gereiztheit dazu, dass Thomas ihm eine Zigarette anbot. Doch die lehnte Stephan nach kurzem Zögern ab. Am nächsten Tag kam es dann allerdings zum GAU. Kurz nach zehn Uhr betrat unvermittelt ihr Hörsaalleiter den Unterrichtsraum. Ihre Kommandos waren gekommen. Einer nach dem anderen wurde nun aufgerufen und erhielt den Dienstort, an den er am Ende des Lehrgangs versetzt werden würde. Stephans Herzschlag nahm spürbar zu. Bitte, lass es Wilhelmshaven sein, bat er inständig. »Sanitätsakademie, München!« Wie durch einen Schleier nahm er die Mitteilung wahr, nachdem er an die Reihe gekommen war. München! Stephan spürte eine merkwürdige Hitze in sich aufsteigen. Das durfte einfach nicht wahr sein! Aufgrund der allgemeinen Aufregung um die guten und schlechten Neuigkeiten durften sie erst einmal Pause machen. Eine Pause, in der sich sofort die Nikotinzwerge auf

178 Stephan stürzten, sahen sie doch nun ihre Stunde gekommen. Thomas, der ihm offenbar sein Dilemma ansah, zog sofort seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und hielt sie ihm geöffnet hin. »Möchtest du?«, fragte er und sah Stephan mitfühlend an. Stephan nickte schwach. »Danke«, sagte er leise. Warum sich noch weiter quälen? Jetzt, wo sowieso die Welt für ihn zusammengebrochen war. Viele seiner Kameraden gaben ihm einen halb aufmunternden, halb mitleidigen Klaps auf die Schulter, als sie zurück in den Hörsaal gingen. Insgeheim war jeder Einzelne von ihnen froh, dass der Krug an ihm vorbei gegangen war. In der Mittagspause ging Stephan in die Kantine und beendete auf altbekannte Weise seinen erneut nur kurzen Ausflug in die Welt der Nichtraucher. »Einmal Drum mit Blättchen!«

Die restliche Zeit der Mittagspause saß Stephan gedankenverloren auf seiner Stube und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Nach Essen war ihm absolut nicht zumute. Stattdessen rauchte er eine Zigarette nach der anderen, während er verzweifelt überlegte, wie er Alina diese Hiobsbotschaft beibringen sollte. Sanitätsakademie in München, schlimmer hätte es wirklich nicht kommen können. Plötzlich klopfte es an der Tür. Es war Ansgar aus seinem Hörsaal, der ihm einen ganz besonderen Vorschlag machen wollte. Ein Vorschlag, der so unglaublich klang, dass Stephan glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Da schlug Ansgar ihm doch tatsächlich allen Ernstes vor, das Kommando mit ihm zu tauschen.

179 »Ich soll eigentlich nach Bremerhaven, zum Sanitätszentrum«, sagte Ansgar. Stephan verstand immer noch nicht, warum jemand von der Marine freiwillig nach München wollte. Dann erklärte Ansgar, dass seine Freundin letzte Woche mit ihm Schluss gemacht hatte und er jetzt nur noch so weit wie möglich weg von zu Hause wollte. Des einen Pech, des anderen Glück, dachte Stephan. Sofort ging er zusammen mit Ansgar zu ihrem Chef, stellten den notwendigen Antrag und bereits zwei Stunden später gab der Personalbearbeiter grünes Licht. Stephan fiel ein Stein vom Herzen. Bremerhaven lag ungefähr neunzig Kilometer von Wilhelmshaven entfernt auf der anderen Seite der Weser. Da es weder Tunnel noch Brücke gab, blieb alleine die Fähre, um auf die andere Seite zu kommen. Dadurch verlängerte sich zwar die Gesamtfahrzeit auf eineinhalb bis zwei Stunden, aber was war das schon im Vergleich zu München?

Mit dieser guten Nachricht stand Stephan zwei Tage später bei Alina auf der Matte. Seit langer Zeit verbrachten sie mal wieder ein Wochenende in Harmonie und ohne den geringsten Streit. Bis zum Ende des Jahres setzte sich dieser Aufwärtstrend in ihrer Beziehung fort und am 19. Dezember kehrte Stephan Sylt zum vierten Mal, seit er mit Alina zusammen war, den Rücken. Gemeinsam genossen sie das Ende ihrer Wochenendbeziehung. Sie bummelten durch die festlich geschmückte und verschneite Fußgängerzone, kauften Weihnachtsgeschenke und freuten sich auf die bevorstehenden Weihnachtstage. Zum Jahreswechsel fuhren die beiden nach Lindlar, wo sie Stephans Eltern besuchten und Silvester mit Freunden

180 feierten. »Frohes neues Jahr, mein Schatz«, sagte Stephan und gab Alina einen langen, liebevollen Kuss, bevor sie gemeinsam auf ein besseres neues Jahr anstießen. Keiner von beiden ahnte, dass es ihr letztes gemeinsames Silvester gewesen war.

181 Herzschmerz

1987 Ein gerade achtzehnjähriger Pilot nimmt Glasnost und Perestroika wörtlich und landet mit sei- ner Cessna auf dem roten Platz in Moskau. Desireless macht eine Reise in die Charts, während zwei Jungs aus einer Tierhandlung über Sünde singen. - It's a sin! Kein Sakrileg ist Dirty Dancing, und Patrick Swayze verzaubert mit Jennifer Grey die Kinowelt. Ganz ohne Schmutz geht es bei Whitney Houston, sie möchte in diesem Jahr einfach nur mit jemandem tanzen. Stefan Raabs zukünftiger Arbeitsplatz heißt noch EUREKA TV und statt im Fernsehen ermittelt Horst Schimanski mit seiner Zabou erfolgreich in den Kinos der Republik. Zwei ganz andere Cops jagen Verbrecher durch die Straßen Miamis, setzen neue Modetrends und Crocketts Theme schießt in die Jahres-Single-Charts. In dem kleinen Ort Dekelsen in Schleswig-Holstein eröffnet der Landarzt seine Praxis. Der ehemalige Ministerpräsident des Landes zwischen den Meeren wird tot in einem Genfer Hotel aufgefunden. Unser späterer 'Turnfloh' macht zur Freude von Familie Hambüchen im Kreißsaal erste Turnübungen. Nahezu vierzig Jahre zuvor erblickte ein gewisser Hans-Jürgen Dohrenkamp im Kreis Lippe das Licht der Welt und wünscht in diesem Jahr den Sorgen einen guten Morgen.

* * *

Stephan konnte ebenfalls ein Lied davon singen, begann doch auch sein Jahr gleich holprig.

182 Nachdem Alina und er aus Lindlar zurückgekommen waren, hatte er eine kleine Benzinlache unter der Vorderachse seines Käfers bemerkt. Wie sich kurz darauf in der Werkstatt herausgestellt hatte, war die Ursache ein Leck im Benzintank, der an seiner tiefsten Stelle durchgerostet war. »Ausgerechnet jetzt«, fluchte Stephan leise, während er versuchte, auch noch das letzte Stück seiner Ausrüstung in den kleinen Polo zu quetschen, den ihm die Werkstatt leihweise zur Verfügung gestellt hatte. Nachdem nun auch endlich der Kampfrucksack in dem Leihwagen verstaut war, drehte er sich noch einmal zu Alina um. »Tschüss, mein Schatz! Bis heute Abend«, sagte er und nahm sie fest in den Arm. »Es könnte allerdings etwas später werden. Ich weiß ja noch nicht, was in Bremerhaven auf mich zukommt. Und dann noch die Fähre ...« »Hauptsache, du bist jetzt wieder jeden Tag bei mir«, sagte sie und küsste ihn zum Abschied.

Kurz darauf fuhr Stephan nun das erste Mal die Strecke, die er schon bald wie im Schlaf kennen würde. Im Marinesanitätszentrum Bremerhaven wurde er freundlich aufgenommen. Seine neue Arbeit machte ihm viel Spaß und so lebte er sich schnell ein. Seinen Vorsatz, jeden Abend nach Hause zu fahren, gab er jedoch bereits nach kurzer Zeit auf. Jeden Tag um vier Uhr morgens aufzustehen und abends erst gegen achtzehn Uhr zurück zu sein, war ihm auf Dauer einfach zu anstrengend. Außerdem gingen die Kosten für Benzin und Fähre ordentlich ins Geld. Stephan beschloss daher, die Woche in der Mitte zu teilen und nur noch mittwochs nach Hause zu fahren. Für diesen besonderen Tag nahmen Alina und er sich

183 meistens auch etwas Besonderes vor. Entweder gingen sie ins Kino, in die Disco oder auch einfach nur schön Essen. Auch wenn sich Alinas Begeisterung für diese Regelung anfangs in Grenzen hielt, lief es doch ausgesprochen gut zwischen ihnen.

An den restlichen Tagen verbrachte Stephan seine Freizeit mit Hans. Die beiden teilten nicht nur die gleiche Stube, sondern auch das gleiche Schicksal. Hans wohnte im tiefsten Ostfriesland und war wie Stephan auch schon Gruppenführer in der Grundausbildung auf Sylt gewesen. Kurz nachdem Stephan damals die Insel verlassen hatte, war Hans dorthin versetzt worden. Auch Hans hatte eine Freundin, die in der Nähe von Leer auf ihn wartete und auch er praktizierte das Prinzip der geteilten Woche. Diese Gemeinsamkeiten sorgten dafür, dass sich die beiden schnell anfreundeten. Von da an teilten sie auch die Freizeitaktivitäten miteinander. Sie trieben zusammen Sport, plauderten viel bei einem Gläschen Wein und einer Zigarette oder ließen sich einfach nur vom Fernsehen berieseln.

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In diesem Sommer ließen sich die Urlaubszeiträume von Stephan und Alina trotz aller Bemühungen nicht miteinander verbinden. Da Stephan neu in Bremerhaven war, musste er sich der bestehenden Urlaubsplanung fügen. So kam es, dass Alina dieses Jahr das erste Mal ohne ihn in Urlaub fuhr und für

184 zwei Wochen nach Spanien in die Sonne flog. Stephan hatte in diesen Tagen genug zu tun und so verging die Zeit ohne seine Alina wie im Fluge. Dennoch freute er sich schon wahnsinnig, sie am Sonntag wiederzusehen, als er an einem Freitag ins Wochenende fuhr. Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen und seine dreckige Wäsche ausgepackt, als es plötzlich klingelte. Stephan blickte verwundert auf. Eigentlich erwartete er niemanden. Er drückte den Türöffner und glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als auf einmal Bernd und Alex die Treppe herauf kamen. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit einem Besuch seiner Freunde aus Lindlar. Die beiden hatten sich, angespornt durch das hochsommerliche Wetter, zu einem kurzen Spontanausflug in den Norden entschlossen. »Da habt ihr euch ja genau die richtige Zeit ausgesucht«, sagte Stephan, nachdem er die Überraschung überwunden hatte. »Wir haben sturmfreie Bude und zufällig auch noch Wochenende an der Jade.«

Am ersten Wochenende im Juli fand in Wilhelmshaven dieser traditionelle Sommerevent statt. Eine Vielzahl an Schiffsbesuchen aus aller Welt, Open ship und andere Veranstaltungen rund um die Stadt, die Marine und das Meer stellten einen der Höhepunkte des Jahres dar. Die drei fackelten auch nicht lange, nachdem sie erst einmal auf ihr bevorstehendes Männerwochenende mit einem Bier angestoßen hatten, und fuhren als erstes zum Baden an den Banter See. »Ich kriege keinen Sonnenbrand!«, sagte Alex und lehnte

185 großspurig die Sonnencreme ab, die Stephan ihm anbot. Er schnappte sich die Luftmatratze und rannte zum Wasser, während Stephan und Bernd sich eincremten. Am späten Nachmittag verließen sie die Badestelle wieder, um sich bei Stephan für den bevorstehenden Abend frisch zu machen. Dabei verbrachte Alex auffallend lange Zeit unter der kalten Dusche. »Na, da hat wohl einer etwas zu viel Sonne abbekommen«, rief Bernd durch die geschlossene Badezimmertür und zwinkerte Stephan wissend zu. »Los, beeil dich!«, rief daraufhin Stephan mit einem breiten Grinsen. »Wir haben Hunger!«

Nachdem nun auch Alex endlich fertig war, verließen die drei die Wohnung, um erst einmal eine solide Grundlage für den Abend zu schaffen. Sie gingen in Stephans Stammpizzeria, die gleich um die Ecke lag, und stärkten sich mit Pizza und öliger Pasta. Auf der Festmeile am Bontekai herrschte bereits ordentlich Stimmung, als Alex, Bernd und Stephan eintrafen. Nach dem langen Sonnentag lag die milde Abendluft angenehm kühl auf der Haut. Alex schien das aber nicht zu genügen, denn er zupfte immer wieder an seinem Hemd herum. »Ich hätte ja an deiner Stelle kein weißes Hemd angezogen«, sagte Bernd zu seinem Freund. »Bei der Hautfarbe.« Stephan grinste zustimmend. Der Kontrast zwischen Alex' Hemd und seiner geröteten Haut war wirklich extrem. Am Bontekai hangelten sie sich von einem Bierwagen zum nächsten, bis sie schließlich in einem der vielen Bierzelte hängen blieben. Auch hier kühlten sie sich weiter ab, nur von nun an mit Bier.

186 Es war weit nach Mitternacht, als die drei Freunde sich gut 'abgekühlt' auf den Heimweg machten. Den nächsten Tag ließen sie entsprechend gemächlich angehen und an den Strand gingen an diesem Nachmittag nur Stephan und Bernd. Erst nach Sonnenuntergang traute sich auch Alex nach draußen. An diesem Abend waren sie etwas früher vom Bontekai zurück und hatten auch nicht ganz so schwer geladen, schließlich mussten Alex und Bernd am nächsten Morgen wieder fit für die Heimfahrt sein.

Bernd und Stephan konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie am späten Sonntagvormittag einen 1,95m großen Hünen auf den mit Bettwäsche ausgekleideten Beifahrersitz von Bernds Auto bugsierten. Alex, der immer noch äußerst lichtscheu war, schenkte ihnen für so viel Fürsorge einen dankbaren Blick. Die Bettwäsche verhinderte, dass der raue Stoff des Sitzes nicht an den verbrannten Hautstellen scheuerte. Vorsichtig sank Alex auf den Sitz und schlug rasch die überstehenden Seiten des Bettlakens über die Beine, um sie vor der Sonneneinstrahlung zu schützen. »Tschüss, ihr zwei!«, rief Stephan ihnen hinterher, als Bernd sich mit einem in weißes Leinen eingepackten roten 'Riesenkrebs' auf den Weg in Richtung Heimat machte.

In Alinas und Stephans Wohnung roch es nicht nur nach durchzechtem Männerwochenende, es sah auch danach aus. Stephan warf einen Blick auf die Wanduhr in der Küche. In wenigen Stunden würde Alina von ihrem Urlaub zurückkommen. In dem Chaos konnte er sie unmöglich empfangen. Er zündete sich eine Zigarette an und lief durch die Zimmer, um sich erst einmal einen Überblick zu

187 verschaffen. Am besten sah es noch im Schlafzimmer aus. Vom Leichten zum Schweren, dachte Stephan und drückte die Zigarette aus, bevor er das Bett machte und die ersten Bierflaschen einsammelte.

Um vier Uhr klingelte es an der Tür. Das musste Alina sein. Prüfend sah er sich noch einmal in der Wohnung um, bevor er zufrieden nickte und seiner Alina entgegenging. »Hallo, mein Schatz.« Stephan gab Alina einen langen Kuss und musterte anschließend glücklich ihr Gesicht. Braun gebrannt und gut erholt, erwiderte sie sein Lächeln. »Na, hast du mich vermisst?«, fragte sie, während Stephan ihr den Koffer abnahm. Sanft streichelte er ihr über die Wange. »Es waren die längsten zwei Wochen meines Lebens«, sagte er. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.« Sie gingen in die Wohnung und machten es sich im Wohnzimmer gemütlich, wo Alina begeistert von ihrem Urlaub berichtete. Sie schwärmte von dem herrlichen Wetter, dem blauen Meer und den scheinbar immer fröhlichen Menschen. Der wehmütige Unterton, der in ihrer Stimme mitklang, war unüberhörbar, und obwohl sie eng nebeneinander saßen, hatte Stephan auf einmal das Gefühl, als sei sie nach wie vor ganz weit weg. Dieses Gefühl hatte er auch noch, als sie an diesem Abend im 'La Gondola' saßen, wohin Stephan sie zum Essen eingeladen hatte. Mehr als ein Mal ertappte er sie dabei, wie sie gedankenverloren in ihren Spaghetti herumstocherte. »Wollen wir noch zum Bontekai?«, fragte er schließlich, während er die Rechnung beglich. Vielleicht konnte ein wenig Trubel Alina ja wieder aufmuntern.

188 Sie verließen die Pizzeria und schlenderten Hand in Hand an den festlich geschmückten Segelschiffen vorbei. Schließlich landeten sie in dem Festzelt, in dem Stephan gestern noch mit Bernd und Alex abgefeiert hatte. Wie schon die Tage zuvor, war auch heute wieder ordentlich was los: Die Hits des Sommers machten bierseligen Seeleuten im wahrsten Sinne des Wortes Beine und ließen die Tanzfläche auch an einem Sonntagabend nicht verwaisen. Alina war plötzlich wie ausgewechselt, offenbar hatte Stephan den richtigen Riecher gehabt. Sie tranken, tanzten und lagen sich lachend in den Armen. Es wurde später und später. Nicht nur, dass Stephan so langsam die Strapazen der letzten Nächte spürte, er musste auch in ein paar Stunden wieder in Bremerhaven auf der Matte stehen. Trotzdem zögerte er, Alina zu fragen, ob sie nach Hause gehen könnten. Zu allem Überfluss hatten sie auch noch ein paar Arbeitskollegen von ihr getroffen. Stephan blickte verstohlen auf die Uhr. Noch vier Stunden, bis er wieder aufstehen musste. Er fasste sich ein Herz und beugte sich zu Alina hinüber. »Schatz, kommst du mit nach Hause?«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ach, lass uns noch bleiben«, sagte sie und sah ihn bittend an. »Es ist doch gerade so lustig und außerdem habe ich noch Urlaub.« Stephan wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie zu drängen, dass sie mit ihm nach Hause ging, und er wollte auch nicht derjenige sein, der ihr die Stimmung verdarb. Was dann zu Hause los wäre, konnte er sich schon denken. Da wäre an Schlaf sicher gar nicht mehr zu denken.

Unbarmherzig riss der Wecker Stephan wenige Stunden

189 später aus dem Schlaf. Er rieb sich müde die Augen und hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein. Das Bett neben ihm war leer, Alina war offenbar so richtig versackt. Stephan rauchte wie gewohnt als Erstes eine Zigarette zum Wachwerden, bevor er ins Bad schlurfte und sich anschließend auf den Weg nach Bremerhaven machte. Auf der Fähre blickte er nachdenklich aufs Wasser hinaus. Seit seiner Abfahrt war da dieses flaue Gefühl in der Magengegend. Lag es daran, dass er zu wenig geschlafen oder zu viel auf nüchternen Magen geraucht hatte? - Oder an beidem? Er nahm noch einen Zug und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Hatte Alina bei einer Freundin übernachtet? Noch nie war sie so lange ohne ihn auf einer Feier gewesen. Das Gefühl blieb und war auch noch da, als er zu Mittag gegessen hatte. Das Eigenartigste war jedoch, dass es sich auch nicht legte, als er an diesem Abend mit Alina telefonierte. Ganz im Gegenteil. Sie erzählte ihm von ihrem Abend und wie viel Spaß sie noch gehabt hatte. Auf seine Frage, wo sie geschlafen habe, antwortete sie nur knapp, dass sie bei Carola übernachtet hätte. »Ich wollte dich nicht wecken, weil du ja schon früh wieder raus musstest.« Carola war nicht nur eine Arbeitskollegin von Alina, sondern auch ihre beste Freundin. Dennoch beruhigte es Stephan nicht wirklich, und als er am Mittwoch wie gewohnt die Woche teilte, fand er nur eine Nachricht auf dem Küchentisch vor. Alina teilte ihm mit, dass es später werden könnte, da sie noch bei Carola wäre. »Na, super«, sagte Stephan mürrisch, zerknüllte den Zettel und schmiss ihn in den Müll. »Dann hätte ich auch in Bremerhaven bleiben können.«

190 Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich ins Wohnzimmer. Die Zeit verrann und der Aschenbecher füllte sich, während er immer ungeduldiger auf Alinas Rückkehr wartete. Wieder spürte er dieses flaue Gefühl in seinem Bauch. Vielleicht sollte er schon mal eine Kleinigkeit essen? Appetit hatte er allerdings überhaupt nicht. Erst spät in der Nacht weckte ihn das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür, er war vor dem Fernseher eingeschlafen. »Tut mir leid«, sagte Alina und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. »Aber wir haben total die Zeit vergessen. Jetzt bin ich hundemüde.« Stephan wollte gerade seiner Enttäuschung und seinem Ärger Luft machen, als er es sich anders überlegte. Nicht jetzt. Nicht auch noch die halbe Nacht mit endlosen Diskussionen um die Ohren schlagen.

Am nächsten Morgen verließ Stephan, wieder einmal eine ungelöste Krise im Gepäck, die Wohnung und stieg hundemüde in sein Auto. Geschlafen hatte er trotzdem so gut wie gar nicht. Die ganze Nacht hatte er gegrübelt und immer wieder im Halbdunkeln des Zimmers ärgerlich zu Alina hinüber geschielt, die selig vor sich hin schlummerte. Steigerte er sich unter Umständen auch nur in irgend was herein? Zum Glück war übermorgen schon wieder Wochenende, dann würde er alles mit Alina besprechen. Am Freitag erwartete Alina ihn schon mit dem Mittagessen und alles schien mit einem Mal wie immer. Stephans Ärger war inzwischen verraucht und plötzlich sah alles auch gar nicht mehr so dramatisch aus, wie noch am Mittwoch. Trotzdem verhielt sich Alina ihm gegenüber merklich reservierter als vor ihrem Urlaub.

191 »Ist irgendwas?«, fragte Stephan nun doch. Alina schüttelte den Kopf. »Nein, wieso?« »Du bist irgendwie verändert.« »Ich fühl mich halt nicht so gut«, sagte sie mit einem ausweichenden Blick. »Wenn ich an die Arbeit am Montag denke, wird mir ganz anders.« Das ist es also, dachte Stephan und lächelte Alina aufmunternd zu. »Dann genieße wenigstens die letzten freien Tage«, sagte er. »Heute Abend machen wir uns es schön gemütlich.«

»Hast du was dagegen, wenn ich heute noch einmal mit Carola um die Häuser ziehe?«, fragte Alina unvermittelt am nächsten Tag, nachdem Stephan vom Einkaufen zurückkam. »Wir wollen noch ein letztes Mal zum Bontekai.« »Von mir aus«, sagte Stephan überrascht und zuckte mit den Schultern. Für einen Moment überlegte er, ob er auch mitgehen sollte, aber von dem Trubel dort hatte er nach dem letzten Wochenende eigentlich genug. Außerdem fühlte er sich jedes Mal wie das fünfte Rad am Wagen, wenn Alina mit ihren Freundinnen unterwegs war. Das galt insbesondere für Carola.

Stephan saß bereits seit einiger Zeit am Frühstückstisch, als Alina schlaftrunken in die Küche kam und sich wortlos einen Kaffee nahm. »Na, du Murmeltier«, sagte Stephan gutgelaunt und blickte zur Küchenuhr. »Ich habe ja schon lange geschlafen, aber jetzt ist es gleich elf. Wann bist du denn zurückgekommen?« Alina zuckte mit den Achseln und setzte sich neben ihn an den Tisch, dabei hatte Stephan den Eindruck, dass sie

192 seinem Blick ständig auswich. Immer wieder blickte sie verlegen zur Seite, wenn sich ihre Blicke trafen. Stephan stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Wieder war da dieses flaue Gefühl in seinem Magen. »Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte er und sah Alina eindringlich an. »Seit du aus dem Urlaub zurück bist, scheint es mir, als ob irgendetwas zwischen uns stünde.« »Ach, quatsch«, sagte Alina leise mit gesenktem Blick. »Ich hab’s dir doch erklärt ...« »Dass es wegen der Arbeit ist?« Stephan trat neben sie und warf einen zweifelnden Blick zu ihr hinab. »Du kannst mir ja nicht mal mehr in die Augen sehen!« »Es ist nur ...«, sagte Alina und hob leicht den Kopf. Stephan sah eine Träne, die ihr über die Wange rann. »Was ist denn?«, fragte Stephan mitfühlend und setzte sich neben sie. »Nun sag schon, was bedrückt dich? Habe ich irgendwas falsch gemacht?« Alina stand kurz auf, um sich eine Packung Taschentücher aus einer der Schubladen des Küchenschranks zu holen. Sie putzte sich die Nase und sah ihn traurig an. »Ich habe mich verliebt.« Stephan traf es wie ein Schlag ins Gesicht. Sprachlos sah er Alina an. Sie erzählte, wie sie letzten Sonntag, nachdem er gegangen war, jemanden kennengelernt hatte. Seitdem habe sie sich regelmäßig mit ihrer neuen Bekanntschaft getroffen. So auch gestern. »Dann war dein Besuch bei Carola ...« Stephan sah sie fassungslos an. »Ich war nur kurz bei ihr«, sagte Alina kleinlaut und begann zu erklären. Die tägliche Routine, das Leben, das irgendwie nur noch aus Gewohnheiten bestanden hatte, das

193 alles war ihr einfach zu eng geworden. So richtig bewusst wurde ihr das im Urlaub, als sie mal wieder so richtig 'Freiheit' geschnuppert hatte. Stephan hörte das alles nur wie durch Watte, er sah das Kartenhaus seines Lebens einstürzen. Wie sehr hatte er sich die letzten Jahre bemüht, mit Alina ein 'normales' Leben aufzubauen und zu führen, und jetzt war ihr das zu eng? Er verstand die Welt nicht mehr. Der Rest des Sonntags bestand nur noch aus Reden und Rauchen. Irgendwann lagen sich dann beide heulend in den Armen und versuchten zu ergründen, was eigentlich in ihrem gemeinsamen Leben schief gelaufen war. Bis spät in die Nacht hatten sie noch zusammengesessen, doch bei allem Verständnis für Alinas Argumente war das Schlimmste die Art und Weise, wie er es erfahren musste. Seinen Seelenmüll lud Stephan dann am nächsten Abend in Bremerhaven auch gleich bei Hans ab. Das Reden mit einem Außenstehenden tat gut und letztlich setzte sich auch bei Stephan die Erkenntnis durch, dass im Grunde die Luft schon längst raus aus ihrer Beziehung war. Anzeichen hatte es ja bereits im letzten Jahr mehr als genug gegeben.

Stephan und Alina zogen gemeinsam einen Schlussstrich unter ihre Liebe, die eigentlich nur noch eine gewohnte Freundschaft gewesen war. Freunde wollten sie auf jeden Fall auch weiterhin bleiben, deshalb trafen sich die beiden auch noch regelmäßig, nachdem Alina in ihre eigene Wohnung gezogen war, und sprachen über alles Mögliche und manchmal auch über ihre gemeinsame Zeit. Schließlich war ja auch nicht alles schlecht gewesen. Alinas neuem Partner war das anfangs zu kompliziert und kurze Zeit später auch egal, da er sich bereits wieder neu verliebt hatte.

194 Trotzdem gab es für Alina und Stephan kein Zurück und auch wenn sie sich weiterhin trafen, war Stephans Wilhelmshavener Welt ein großes Stück kleiner geworden. Aus diesem Grund blieb er unter der Woche in Bremerhaven und zog am Wochenende mit einem Freund, den er noch von seiner Zeit auf der 'Koblenz' kannte, durch die einschlägigen Diskotheken.

Nach O du fröhliche war Stephan dann dieses Jahr auch nicht zumute. Bereitwillig übernahm er über die Feiertage den Bereitschaftsdienst in Bremerhaven, von wo aus er direkt nach Lindlar weiterfuhr, um der obligatorischen Einladung seiner Freunde zu folgen. Dort ließ es der frischgebackene Single zu Silvester auch so richtig krachen. Mit viel Selbstmitleid und viel Alkohol war dann allerdings der Jahreswechsel für ihn schneller zu Ende als gedacht.

195 Single

1988 Rambo absolviert seinen dritten Einsatz, diesmal wird in Afghanistan jeder und alles befreit. Die UdSSR nimmt derweil die andere Richtung und verlässt das Land am Hindukusch, in dem auch Deutschland einmal verteidigen wird. Ganz alleine beschützt ein gewisser John McLane auf der Kinoleinwand seine Frau vor Terroristen und schießt sich im Alleingang einmal quer durch ein Hochhaus. Heile Welt im Kino, furchtbare Wahrheit im wirklichen Leben. Terroristen sprengen über dem schottischen Lockerbie die Maid of the Seas, einen Jumbo- Jet mit 270 Menschen an Bord. Fast genauso viele Passagiere sterben ein halbes Jahr zuvor, als ein amerikanisches Kriegsschiff 'aus Versehen' ein iranisches Verkehrsflugzeug abschießt. Vor so viel Leid scheint sich auch die Sonne abwenden zu wollen. Für 3 Minuten und 46 Sekunden nimmt sie in diesem Jahr über dem Westpazifik eine Auszeit und versteckt sich hinter dem Mond. Doch es gibt auch schöne Momente: Die Olympischen Sommerspiele in Seoul sind nahezu frei von Boykottaktionen und Whitney Houston begleitet dieses Ereignis mit One moment in time. Eine kleine Australierin singt darüber, dass sie eigentlich so glücklich sein sollte. Recht hat Kylie, steht sie doch am Anfang einer großartigen Karriere. Apropos Lucky, so heißt auch der Kater einer gewissen Familie Tanner. Im Fernsehen sorgt er regelmäßig bei einer außerirdischen Lebensform für Heißhunger. Har Har Har, ich lach mich tot.

196 Zum Lachen ist vielen nicht zumute, als die 'Beste Band der Welt' auf Sylt ihr Abschiedskonzert gibt. Doch keine Angst, schon bald kommen sie zurück, nicht nur nach Westerland.

* * *

Stephan stand ebenfalls ein Abschied bevor, diesmal von seinem Käfer. Erneut war es ein freundlicher Herr vom TÜV gewesen, der seinem Wagen den notwendigen Segen verweigert und Stephan damit einen erneuten Kontakt mit dem Gebrauchtwagenhändler seines Vertrauens beschert hatte. Leider hatte der diesmal jedoch keinen Käfer im Angebot. Unschlüssig schlich Stephan durch die Reihen der Gebrauchtwagen und blieb schließlich vor einem Audi 80 CL in blaumetallic stehen. Mit vier Türen, Kopfstützen vorne und hinten war er im Vergleich zu einem Käfer schon richtiger Luxus. Stephan beugte sich zu dem Verkaufsschild hinter der Windschutzscheibe. Baujahr, Laufleistung und vor allen Dingen der Preis passten . Warum nicht?, dachte Stephan. Für die Fahrten nach Bremerhaven war der Audi genau das richtige.

»Was hast du dir denn für eine Familienkutsche besorgt?«, fragte Hans, der etwas sportlicher mit einem Honda CRX unterwegs war. Stephan zuckte die Achseln. Ihm gefiel das gemütliche Cruisen mit seinem neuen Wagen. »Für meine Zwecke reicht es.« Damit war das Thema für ihn erledigt. Es gab Wichtigeres, zum Beispiel seine berufliche Zukunft. Ein

197 Großteil seiner Dienstzeit lag nun hinter ihm. Noch einmal vier Jahre dran hängen, kam für ihn jedoch nicht infrage, da er unmöglich erst mit Anfang dreißig als Berufsanfänger auf den Arbeitsmarkt kommen konnte. Andererseits machte ihm seine Arbeit trotz gewisser Unannehmlichkeiten immer noch viel Spaß. Es gab demnach nur eine Möglichkeit: ganz oder gar nicht. Und so beantragte er die Übernahme zum Berufssoldaten, allerdings nicht ohne einen Plan B in der Tasche zu haben. Sollte es mit der Übernahme nichts werden, wollte er ein Studium zum Medizintechniker an der Fachhochschule Wilhelmshaven aufnehmen.

* * *

Stephan hatte sich inzwischen an sein neues Leben als Single gewöhnt. Die Woche verbrachte er ganz solide mit Arbeit, Sport und Fernsehen in Bremerhaven, während an den Wochenenden Wilhelmshaven unsicher gemacht wurde. Dabei gab es für den Samstagabend einen genauen Ablaufplan und der begann regelmäßig mit dem Vorglühen in der 'Bierakademie'. Dort traf er sich mit Benjamin, dem ehemaligen Signalmaaten der 'Koblenz', und zusammen mit dem Wirt spielten sie ein paar Runden Mäxchen. Dabei ging es nicht darum, zu gewinnen, sondern nach Möglichkeit nicht zu verlieren. Wer verlor, musste eine Runde roten Genever ausgeben. Die nächste Station lag nicht weit entfernt in der Grenzstraße. Dort befand sich die 'Taverna', in der es eine

198 unübertreffliche Pizza Calzone aus dem Steinofen gab. Genau die richtige Grundlage für einen langen Abend. Nach reichlich Essen und Trinken ging es wieder in die andere Richtung. In der 'Destille' am Börsenplatz spülten Stephan und Benjamin zunächst die klebrige Süße des Amaretto, den sie in der Pizzeria ausgegeben bekommen hatten, mit einem kühlen Pils herunter. Anschließend spielten die beiden einige Partien Billard, doch auch hier galt die Regel: Wer verliert, zahlt! An der letzten Station endete dann meistens ihr samstagabendlicher 'Stadtmarathon'. Zurück in der Grenzstraße, besuchten sie das Tanzcafé 'Antik', schließlich durfte eine Diskothek in ihrem Abendprogramm nicht fehlen. Das 'Antik' eignete sich ganz besonders als letztes Ziel, fand doch hier regelmäßig ein Ball der einsamen Herzen statt. Vielleicht ja auch für Stephan und Benjamin der ideale Ort, um die Karriere als Single zu beenden. Zunächst beobachteten die beiden das Treiben auf der Tanzfläche aus sicherer Distanz. Oft fiel es ihnen dabei schwer, nicht in lautes Gelächter auszubrechen, wenn sich zum Beispiel ältere Eintänzer mit kleinen Spitzbäuchen lüstern und plump der Damenwelt präsentierten. Auf der anderen Seite forderten ihrerseits gut genährte Rubensmodelle mit runden Pfannkuchengesichtern und Dekolletés, die Stephan jedes Mal an einen Werbespruch erinnerten, diese 'Herren der Schöpfung' heraus. - Ich bin zwei Öltanks! Stephan achtete in diesen Fällen auf einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu Benjamin, um nicht auch noch einen Ellbogencheck seines lästernden Freundes einzukassieren. An solchen Abenden ging gerne auch mal eine Schachtel Zigaretten drauf, die rauchte Stephan dann allerdings alleine. Benjamin war Nichtraucher und spätestens am

199 nächsten Morgen beneidete Stephan seinen Freund darum, wenn er selbst mit dickem Schädel aufwachte. Doch wie konnte man es nur den ganzen Abend aushalten, ohne nach dem Essen oder zum Bier gemütlich eine zu rauchen? Und woran sollte man sich in der Disco festhalten, wenn nicht an einer Zigarette? Benjamin schaffte das und sah auch noch nicht einmal uncool dabei aus.

Genau so einen Abend hatte Stephan hinter sich, als er an diesem Sonntagmittag aufwachte und sich den schmerzenden Kopf rieb. Der Ball der einsamen Herzen war zumindest für ihn ein solcher geblieben und Stephan tat erst einmal das, was er immer nach dem Aufwachen machte. Er zündete sich eine Zigarette an. Anschließend schlurfte er in die Küche, setzte einen Kaffee auf und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Er lauschte in die Stille der Wohnung und fühlte sich auf einmal furchtbar allein. So schön es auch war, einfach so um die Häuser ziehen zu können und die Freiheit zu genießen, so schlimm war der Tag danach. Niemand, der neben einem aufwachte. Niemand, der mit ihm frühstückte. Es blieb die schmerzende Leere im Kopf und die kalte Einsamkeit der Wohnung. Stephan lehnte sich schwerfällig zurück und schaltete das Radio ein. Das nahm wenigstens die Stille.

* * *

In diesem Sommer zog es Stephan nicht nur der guten alten Zeiten wegen wieder nach Baltrum, sondern auch, um seiner Oma den längst überfälligen Besuch abzustatten. Schließlich lag Baltrum nur einen Katzensprung von

200 Wilhelmshaven entfernt. Tief in seinem Innersten hoffte er allerdings auch, dort etwas Abwechslung von seinem eintönigen Singledasein zu finden. Doch in diesem Jahr steckte offenbar der Wurm drin. Ausgerechnet jetzt war keiner der alten Freunde und Bekannten da. Nicht, dass Stephan zu Depressionen neigte, aber irgendwie lief diesmal so gar nichts. Genau in diese Gefühlswelt knallte dann auch noch das furchtbare 'Schauspiel' des Gladbecker Geiseldramas und kurz darauf die Flugkatastrophe von Ramstein. Durchstoßenes Herz hieß auch noch die Flugfigur, die zu dem tragischen Unglück führte. Was für ein furchtbarer Zynismus des Schicksals, dachte Stephan. Mit sich und der Welt hadernd, ging er stundenlang alleine am Strand spazieren und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen. Heute hatte ihn sein Weg sogar bis zur Aussichtsdüne verschlagen. Er setzte sich auf den großen Betonklotz in ihrer Mitte und betrachtete die kleine Inselwelt um sich herum. Gefangen wie auf einer Insel, fühlte er sich auch tief in seinem Innersten. Er war das Alleinsein so satt. Ein frischer Meereswind pustete ihm ins Gesicht und ließ ihn spöttisch lächeln. Gegenwind habe ich wirklich genug gehabt, dachte er selbstmitleidig. Was ich mal wieder brauchen könnte, wäre eine ordentliche Portion Rückenwind.

201 Die Wende

1989 Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ein amerikanischer Schauspieler, tritt sein Amt an einen gewissen George W. Bush ab. Nie- mand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass auch der 43. Prä- sident den gleichen Namen tragen wird. In Amerika geschehen allerdings noch schlimmere Dinge. Die 'Exxon Valdez' verursacht bei einer Havarie eine gigantische Ölpest an der Südküste Alaskas und bringt ein ganzes Ökosystem zum Wanken. Der Platz des Himmlischen Friedens in China macht seinem Namen keine Ehre, als dort eine Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen wird. In einer anderen demokratischen Volksrepublik stirbt der 20-jährige Chris Gueffroy im Kugelhagel ostdeutscher Grenztruppen. Er ist das vorletzte Opfer an der Berliner Mauer, die gut vier Monate später endlich fallen wird. Ein Rettungsschwimmer aus Malibu singt von seiner Suche nach Freiheit und meint bis heute, damit den Mauerfall herbeigeführt zu haben. Zuvor machen jedoch Zwillingsbrüder noch hinter der Mauer ihren ersten Schrei, bevor sie zwölf Jahre später ein 'japanisches Musikhotel' aufmachen. Der Sommerhit und -tanz heißt Lambada und macht so richtig Lust auf Sonne, Strand, Meer und Leben.

* * *

In Stephans Leben hatte sich seit dem Sommer des letzten Jahres nicht viel verändert. Von dem

202 gewünschten Rückenwind war nichts zu spüren und so schleppte er sich nach wie vor an den Wochenenden durch die Wilhelmshavener Diskotheken. Anfang Februar kam dann allerdings etwas Abwechslung in sein Partyleben. Karneval stand wieder vor der Tür, und wie bereits im letzten Jahr begleitete ihn auch diesmal Emilys Freund Oliver nach Lindlar. »Hast du nicht Lust mitzukommen?«, hatte Stephan ihn damals gefragt und ohne lange zu überlegen, hatte Oliver sofort zugesagt. Offenbar war er neugierig auf das, wovon Stephan immer so geschwärmt hatte. Seine erste Karnevalszeit im Land der Karnevalshochburgen hatte dann auch bei dem norddeutschen Jung gezündet. Auf der Rückfahrt hatten die beiden dann auch sofort beschlossen, diese Karnevals- Herren-Tour nun jedes Jahr zu wiederholen. Anreise war grundsätzlich Weiberfastnacht. Von da an dominierten Party, Kölsch, Pizza und Gulaschsuppe ihre Tage und Nächte. Geschlafen wurde nur so lange wie unbedingt nötig. Samstags hatte man sich in der Regel bereits so weit eingetrunken, dass man auch ohne Kater in den Tag startete. Ein Kölsch vor dem Frühstück reichte dann, um die Lebensgeister zu wecken. In Lindlar wohnten sie bei Stephans Vater, dessen Wohnung äußerst günstig mitten im Dorf lag. Alle Locations und Gaststätten waren fußläufig zu erreichen, so dass man gar nicht erst auf den Gedanken kommen musste, sich irgendwann noch hinters Steuer setzen zu müssen.

Stephan und Oliver waren an diesem Donnerstag extra früh in Wilhelmshaven losgefahren, um spätestens mittags in Lindlar zu sein. Trotz der scheinbar nie endenden Baustellenstaus auf der A1 schafften sie es auch. Oliver

203 erhielt von Stephans Vater wie bereits im letzten Jahr einen eigenen Haustürschlüssel, schließlich konnte man nie wissen, wohin einen die nächste Polonaise zog. Nachdem Oliver sich in seinem ersten Jahr als Cowboy verkleidet hatte, ging er diesmal als Steinzeitmensch. Stephan war da etwas pragmatischer. Seit Jahren trug er sein Standardkostüm, das aus einem alten Pyjama bestand, über dem er einen genauso alten Bademantel mit blauen und weißen Längsstreifen trug. Dieses Outfit war praktisch und bequem. Es hatte nur einen kleinen Nachteil: Kam man damit am Lindlarer Krankenhaus vorbei, bestand die Gefahr, dass eine übereifrige Schwesternschülerin den Versuch unternahm, ihn wieder ins Haus zurückzuholen. Ein Risiko, das Stephan gerne in Kauf nahm, schließlich gab es Schlimmeres, als an Karneval von einer hübschen Krankenschwester abgeschleppt zu werden.

Am Veilchendienstag drehten die beiden noch einmal richtig auf. Morgen würde die tolle Zeit schon wieder vorbei sein und sie mussten sich auf der Autobahn in Richtung Norden quälen. Oliver hatte es, wie schon so oft in den letzten Tagen, in irgendeine vorbeiziehende Polonaise gerissen, während Stephan sich einen guten Platz an der Theke ergattert hatte. Hier saß er direkt an der Quelle und sitzen war nach den anstrengenden Tagen auch gar nicht so schlecht. Er nahm einen kräftigen Schluck Kölsch, als ihm plötzlich jemand lachend auf die Schulter tippte. Überrascht drehte Stephan sich um und blickte in zwei grünblaue glänzende Augen. »Hallo, ich bin die Sophie!«

Stephan sah sie verwundert an. Er kannte zwar keine

204 Sophie und wusste auch noch nicht so recht, was er von dem Überfall halten sollte, aber an Karneval war eben alles etwas unkonventioneller. »Hallo, Sophie«, sagte er. »Ich heiße Stephan!« Sophie schaute ihn fragend an und beugte sich zu ihm. »Wie bitte?«, schrie sie ihm ins Ohr. »Was hast du gesagt?« »Stephan, ich heiße Stephan!«, antwortete er lauthals und rieb sich mit einem übertrieben schmerzvollen Gesicht das Ohr. Ihre Blicke trafen sich und auf einmal begannen beide zu lachen. Stephan musterte Sophie nun etwas genauer. Sie trug ein rosa Chiffonschleifchen in ihrem schulterlangen dunkelblonden Haar und hatte eine rot bemalte Nasenspitze. Der Papieranzug, in dem sie steckte, hatte schon deutlich bessere Zeiten gesehen, allerdings konnte man das zu dieser Stunde auch von Stephans Bademantel behaupten. »Kommst du auch aus Lindlar?«, fragte er, doch Sophie zuckte nur die Schultern, offenbar hatte sie ihn wieder nicht verstanden. Das wunderte ihn nicht, da die Stimmung und damit auch die Lautstärke hier im 'Elan' mal wieder kurz vor dem Siedepunkt war, man konnte schon nicht einmal mehr die eigene Stimme hören. Stephan überlegte. Er hatte absolut keine Lust, seine neue Bekanntschaft ständig anzuschreien, wollte sie aber auch nicht durch Sprachlosigkeit langweilen. Irgendwas war an Sophie, was ihn anzog. Da kam ihm plötzlich die Idee, dass man sich ja auch einfach schreiben könnte. Eilig schrie er nun Bernds Freundin Sylvia an, die hinter der Theke jobbte, und bat sie um einen Kugelschreiber. Anschließend nahm er einen Bierdeckel und schrieb seine Frage auf.

205 In den nächsten Stunden entwickelte sich ein reger Bierdeckelverkehr zwischen Stephan und Sophie. Zeitweise hatte Sylvia sogar Mühe, für ausreichend Bierdeckel- Nachschub zu sorgen. Erst weit nach Mitternacht, als der sinkende Lärmpegel wieder eine normale Unterhaltung ermöglichte, legten sie Kugelschreiber und Bierdeckel zur Seite. Das 'Elan' hatte sich inzwischen etwas geleert und die Musik ließ nun auch den einen oder anderen etwas engeren Tanz zu. Stephan und Sophie hatten sich ein etwas stilleres Eckchen gesucht, wo sie bei Wein und Sekt viel miteinander lachten. Die Stunden gingen dahin und die beiden kamen sich nach und nach immer näher. Zum Schluss saßen sie Arm in Arm wie zwei verliebte Teenager nebeneinander und ließen wortlos nur noch den Moment auf sich wirken. Stephan spürte ein wohliges Kribbeln in seinem Bauch, das er schon so lange vermisst hatte. Er zog Sophie noch ein Stückchen enger an sich heran und blickte ihr tief in die Augen. Wie süß sie ist, dachte er, während sich ihre Gesichter immer mehr näherten und sich schließlich ihre Lippen berührten. Da war er nun, der erste Kuss, und er blieb in dieser Nacht auch nicht der letzte. Wenn’s am schönsten ist, soll man gehen. Jeder kennt wohl diesen Spruch, aber wie viele kennen auch: Wenn’s am schönsten ist, muss man gehen? Für Stephan und Sophie kam dann auch der viel zu frühe Abschied. Genau wie er, hatte auch Sophie in wenigen Stunden eine längere Autofahrt vor sich, da sie in München mit ein paar Freunden verabredet war. Solange es ging, zögerten sie den unausweichlichen Moment noch hinaus, bevor sie zuletzt noch schnell ihre

206 Adressen austauschten. Sie versprachen sich, so schnell wie möglich zu schreiben und mussten dabei zeitgleich lachen. Im Schreiben hatten sie nach dieser Nacht ja nun mehr als genug Übung. Stephan blickte ihr noch nach, bis die Dunkelheit des gegenüberliegenden Parkplatzes Sophie verschluckt hatte.

Am späten Vormittag öffnete Stephan vorsichtig die Augen. Das helle Tageslicht blendete und er fühlte sich, als ob er sich gerade eben erst hingelegt hätte. Der Schlaf war in der zurückliegenden Karnevalswoche eindeutig zu kurz gekommen. Er schlug die Decke zurück und blickte an sich hinunter. So, wie er nach Hause gekommen war, musste er ins Bett gefallen sein. Er verzog angeekelt das Gesicht. Nicht nur, dass sein Partypyjama und der Bademantel nach unaufgeräumter Eckkneipe rochen, sie sahen auch so aus. Schwerfällig setzte sich Stephan auf und rieb sich müde die Augen. Jetzt erst mal ’ne Zigarette, dachte er und tastete seine Taschen nach Feuerzeug und Tabaksbeutel ab. Dabei stieß er zu seiner Verwunderung auf eine stattliche Zahl von vollgekritzelten Bierdeckeln. Er drehte sich eine Zigarette und erinnerte sich auf einmal. Mit der Erinnerung begann es auch wieder in seinem Bauch zu kribbeln. Er zündete sich die Zigarette an, und während er langsam an seinem Wachmacher zog, las er noch einmal die vielen Botschaften der letzten Nacht. Also war der Engel doch kein Traum gewesen! Glücklich lächelnd blickte Stephan auf und wünschte seiner Sophie in Gedanken eine gute Fahrt. Eine gute Fahrt, das war genau das Stichwort. Eine derartige Herausforderung stand ihm ja auch noch bevor. Doch im Gegensatz zu der armen Sophie konnte er sich

207 wenigstens mit jemandem abwechseln.

Das kann ja heiter werden, dachte Stephan, als er eine halbe Stunde später über einem Becher mit pechschwarzem Kaffee hing und lustlos an einem Croissant kaute. Soeben hatte auch Oliver endlich die Bühne ihres Reisetags betreten. Gegen ihn sah Stephan wie der blühende Frühling aus. Um Olivers Augen offen zu halten, hätte man wahrscheinlich Streichhölzer aus Fiberglas verwenden müssen. »Wo bist du denn versackt?«, fragte Stephan und schob ihm einen Becher mit Kaffee rüber. Oliver zuckte mit den Schultern, nippte an seinem Kaffee und versuchte anschließend den Rest der Nacht zu rekonstruieren. Mit irgendeiner Polonaise war er durch sämtliche Dorfkneipen Lindlars gezogen. Wie und wann er dann nach Hause gekommen war, blieb allerdings in den Tiefen eines großen schwarzen Lochs verborgen.

Die Rückfahrt wurde für die beiden dann auch zur erwarteten Strapaze. Während Stephan sich wenigstens noch mit Zigaretten einigermaßen wach halten konnte, war das bei Oliver schon schwieriger, denn der war ja bekanntlich Nichtraucher. Nur mit endlosen Dialogen sorgte Stephan dafür, dass Oliver wachblieb, solange er hinter dem Steuer saß. Mit viel Reden, viel Rauchen und Pausen mit Unmengen von Kaffee erreichten die beiden dann nach vielen Stunden tatsächlich wohlbehalten Wilhelmshaven.

* * *

208 Die nächsten Tage und Wochen dachte Stephan noch oft an den schönen Abend mit Sophie. Auf ein baldiges Wiedersehen machte er sich allerdings genauso wenig Hoffnung wie darauf, dass aus der kurzen Karnevalsromanze noch mehr werden würde. Zu tief saß immer noch die Angst vor einer neuen Wochenendbeziehung mit all ihren Problemen. Trotzdem erzählte er Hans von Sophie und seinen Bedenken, als er wieder in Bremerhaven war. »Nun warte doch erst einmal ab, wie sich alles entwickelt«, sagte Hans und klopfte Stephan aufmunternd auf die Schulter. »Du musst nicht immer gleich alles so schwarz sehen.« Vielleicht hat er ja recht, dachte Stephan zuversichtlich. Möglicherweise war die Sache mit Sophie ja der Start in ein neues Leben. Jedenfalls genoss er dieses warme Gefühl der Aufregung, wenn er an sie dachte. Wie zur Bestätigung erhielt er dann auch noch am nächsten Tag die nächste gute Mitteilung: Stephan wurde zum Berufssoldaten ernannt. Glücklich betrachtete er die Ernennungsurkunde. Von nun an hatte er also bis zu seiner Pensionierung einen sicheren Arbeitsplatz. Wie 'sicher' diese Tätigkeit letztendlich wirklich war, sollte er erst einige Jahre später auf schmerzliche Weise erfahren.

Am Freitag wartete bereits die nächste Überraschung auf Stephan. In der Post, die sich zuhause im Laufe der vergangenen Woche in seinem Briefkasten angesammelt hatte, stach ein roter Briefumschlag zwischen den vielen weißen hervor. Neugierig zupfte er ihn aus dem Stapel, und als sein Blick auf den Absender fiel, machte sein Herz einen Sprung. Sophie hatte geschrieben.

209 Langsam stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, während er ungeduldig den Umschlag aufriss und zu lesen begann. Oben angekommen ließ er achtlos die Tasche von der Schulter gleiten und setzte sich, noch immer in Sophies Zeilen vertieft, an den Küchentisch. Sie schrieb, wie es ihr in der Zwischenzeit ergangen war, seitdem sie sich vor dem 'Elan' verabschiedet hatten. Auch sie hatte auf der Fahrt nach München viele Pausen einlegen müssen und war erst sehr viel später als geplant angekommen. Am Schluss des Briefes las er dann aber etwas, das eine Art Endlosschleife bei ihm auslöste und so schön im Bauch kitzelte. Sophie schrieb, dass sie ihn gerne wiedersehen würde. Stephan drehte sich eine Zigarette und nahm einen genüsslichen Zug, bevor er erneut den honigsüßen Satz las. Glücklich lehnte er sich zurück und blickte gedankenverloren an die Decke. Sie will mich wiedersehen, dachte er lächelnd. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto mehr traten auch wieder seine Bedenken in den Vordergrund. Sophie wohnte in Lindlar und arbeitete in Köln. Er selbst war gerade Berufssoldat bei der Marine geworden, die ihre Stützpunkte bekanntlich nicht in der Kölner Bucht hatte. Die Zeichen standen also alles andere als günstig. Erneut begannen Herz und Verstand Pingpong mit ihm zu spielen. Doch dann erinnerte Stephan sich an Hans' Worte und gebot dem Spiel mit einem kräftigen Schlag auf die Oberschenkel Einhalt. Er zündete sich die nächste Zigarette an, holte sein Schreibpapier hervor und begann eifrig zu schreiben.

* * *

Der Briefwechsel zwischen Stephan und Sophie hatte in

210 den letzten Wochen ordentlich Fahrt aufgenommen. Außer den Briefen, die ihn regelmäßig am Wochenende zuhause erwarteten, erreichten ihn auch in Bremerhaven immer häufiger Nachrichten von Sophie. Mit jedem Brief kamen sie sich ein Stück näher und Stephan konnte es kaum erwarten, den nächsten zu erhalten. Es wurde Frühling und Stephan spürte auf einmal den lang ersehnten Rückenwind. Den Schwung nahm er dann auch gleich zum Anlass, sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen. Er wollte wieder unter die Zweiradfahrer gehen. Alina war nie ein großer Fan vom Motorrad fahren gewesen und deshalb hatte er damals auf ein Motorrad verzichtet. Danach hatte sein finanzieller Rahmen einen Umstieg nicht zugelassen. Doch auf der Rückfahrt von Lindlar hatte sich eine Gelegenheit eröffnet. In einem der unzähligen Gespräche, die er mit Oliver geführt hatte, um ihn wachzuhalten, waren sie auch auf das Thema Motorrad gekommen. Dabei hatte Oliver Interesse an Stephans Audi bekundet. So kam es, dass Stephan und Oliver in Bremen vor einer Yamaha XT 600 Ténéré standen, die zum Verkauf inseriert war. Stephan hatte seinen Freund mitgenommen, da dieser Kfz-Mechaniker gelernt und selbst auch ein Motorrad hatte und somit der ideale Berater war. Hochbeinig auf dem Mittelständer aufgebockt stand Stephans Traummaschine vor ihm. Die blaugelbe Lackierung und der übergroße Tank rochen förmlich nach Abenteuer à la Paris-Dakar. Oliver hob den Daumen und mit dem Preis war man sich auch schnell einig. Von nun an stand ein Motorrad vor Stephans Haustür, während Oliver einen Audi 80 CL in blaumetallic sein Eigen nannte.

211 Gleich am nächsten Wochenende nutzte Stephan seine neue Freiheit und verzichtete auf den Disko- und Kneipenmarathon mit Benjamin. Seit er Sophie kennengelernt hatte, war er sowieso kaum noch unterwegs gewesen und wenn, dann nur, um Benjamin einen Gefallen zu tun. Nach einem kurzen, kräftigen Frühstück schlüpfte Stephan voller Tatendrang in die Motorradkombi, schnappte sich seinen Helm und fuhr hinaus ins platte Land. Er wollte jetzt nur noch Sonne, frische Luft und Leben atmen. Kreuz und quer cruiste er durch das sonnenbeschienene Ostfriesland in Richtung Nordseeküste, wo er in Neuharlingersiel eine Pause einlegte. Er schlenderte den kleinen malerischen Hafen entlang und ließ sich dort auf einer Bank nieder. Zufrieden ließ er seinen Blick bei einer Selbstgedrehten über den Hafen gleiten. Auf den Fischkuttern sortierte man den Fang der letzten Nacht, während sich aufgeregte Möwen um ein paar Krabben zankten, die beim Entladen heruntergefallen waren. Stephan schloss für einen Moment die Augen, lauschte dem Plätschern der See gegen die Kaimauer und genoss die Sonne, die ihm warm ins Gesicht schien. Er dachte an seine Sophie und wünschte sich, sie jetzt bei sich zu haben und mit ihr diesen herrlichen Tag genießen zu können. Ein lautes Tuten riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah, wie eine Fähre den Hafen Richtung Spiekeroog verließ. Ostern könnte ich eigentlich Oma mal wieder besuchen, dachte er.

212 * * *

Im Vergleich zu den Sommermonaten war es auf der Baltrum-Fähre richtiggehend leer, als Stephan am Gründonnerstag übersetzte. Er lehnte an der Reling und blickte aufs Wattenmeer hinaus. Einerseits freute sich auf ein Wiedersehen mit seiner Oma, anderseits konnte er es auch jetzt schon kaum abwarten, wieder auf seine Maschine zu steigen und nach Hause zu fahren. Für das Wochenende nach Ostern hatte sich Besuch bei ihm in Wilhelmshaven angekündigt. Das erste Mal seit Karneval würde er endlich Sophie wiedersehen. Kein Wunder, dass sich seine Gedanken auch in den nächsten Tagen fast ausschließlich um sie drehten. Vor allem, wenn er alleine über die Strandmauer schlenderte und das Zusammenspiel von Wolken, Sonne, Wind und Meer romantische Bilder auf seine Gefühlsleinwand malte. In diesen Momenten blieb Stephan meist kurz stehen und zündete sich eine Zigarette an, während er über die See hinaus zum Horizont blickte. Er beobachtete die Schiffe, die auf der Grenze zwischen Himmel und Meer von Hamburg aus in die große Welt fuhren. Meistens verschmolz sein Blick in der Ferne mit den Gedanken an Sophie und ließ ihn verträumt lächeln.

»Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit!« Dieser Satz aus dem alten Wilhelm-Busch-Buch seiner Oma fiel Stephan plötzlich ein, als er fünf Tage später wieder in Wohnung in Wilhelmshaven saß. Eben noch am Strand von Baltrum, und nun wieder zuhause.

213 Aufgeregt blickte er auf die Uhr über der Küchentür, wie schon so oft in der letzten halben Stunde. Gleich halb drei, und für zwei Uhr hatte sich Sophie angekündigt. Und obwohl Stephan aus eigener Erfahrung nur zu gut wusste, dass man auf diese Entfernung kaum pünktlich sein konnte, änderte es nichts an seiner Nervosität. Wo bleibt sie nur?, dachte er und drückte hektisch die Zigarette im bereits überquellenden Aschenbecher aus. 14:40 Uhr. Stephan stand auf und ging ins Schlafzimmer. Von dort konnte er auf die Straße vor dem Haus blicken. Nichts. 14:45 Uhr. Eigentlich musste er ja noch mal schnell auf die Toilette. Du warst doch gerade erst, dachte er. Hätte ich doch nur nicht so viel Kaffee getrunken. Er überlegte. Was, wenn sie ausgerechnet dann klingelte? 14:50 Uhr. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Nervös lief Stephan in die Küche zurück, leerte den Aschenbecher und stellte ihn in die Spüle. Sie steckt sicher im Stau. Stephan dachte an die ewigen Baustellen auf der A1. Außerdem ist ja auch noch Wochenende. Mitten in seine Gedanken ertönte in diesem Moment die Türklingel und ließ ihn zusammenzucken. Das musste sie sein. Stephan drückte mit zittriger Hand den Türöffner und wartete an der offenen Wohnungstür. Mit einem schüchternen Lächeln stieg Sophie die letzten Stufen zu ihm herauf und dann war er da, der Moment, auf

214 den er so lange gewartet hatte. Wortlos standen sie sich einen kurzen Augenblick gegenüber. »Hallo, ich bin's«, sagte Sophie auf einmal und legte den Kopf schief. »Stör ich?« Stephan sah sie verdattert an, bevor sich seine Spannung mit einem Lachen löste. Das war mal wieder typisch Sophie. »Nein, ganz im Gegenteil«, sagte er hastig. »Komm doch rein.« »Tut mir leid, dass es etwas später geworden ist, aber es war ganz schön viel Verkehr.« »Hab ich mir schon gedacht«, sagte er steif und schloss hinter ihr die Tür. Schüchtern wie zwei verliebte Teenager, standen sich die beiden nun im Flur gegenüber. Stephan konnte seinen Blick einfach nicht von ihr nehmen. Von den Briefen so sehr vertraut, stand Sophie jetzt endlich vor ihm und kam ihm doch etwas fremd vor. Irgendwie hatte er sie anders in Erinnerung gehabt, aber wie lange war dieser sowieso schon überwältigende Abend in Lindlar her? Sophie schien es ähnlich zu gehen, jedenfalls sah sie ihn genauso abwartend an. Fast gleichzeitig entlockte diese groteske Situation ihnen ein Lachen. Sie umarmten sich, hielten sich einen Moment eng umschlungen und gaben sich endlich den lang ersehnten Kuss. Der Bann war gebrochen und auf einmal platzte alles aus ihnen heraus, es gab ja so viel zu erzählen. Später zeigte Stephan ihr dann noch seine Stadt. Mit Sophies Auto fuhren sie zum Südstrand, wo sie Arm in Arm über die Promenade spazierten. Sie ließen sich die frische Brise um die Nase wehen und wärmten sich anschließend bei einem heißen Kakao wieder auf.

215 »Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit!« Diesmal war es jedoch das erste gemeinsame Wochenende, das viel zu schnell vergangen war. Ehe es sich die beiden versahen, war der Sonntagnachmittag da und Sophie musste wieder zurück nach Lindlar. So, wie Stephan Alina sonntags in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte, ließ ihn jetzt Sophie alleine. Diesmal sollten allerdings nicht wieder Wochen bis zum nächsten Wiedersehen ins Land gehen, bereits für das kommende Wochenende hatten sie Stephans Gegenbesuch in Lindlar geplant. Stephan winkte ihr traurig hinterher, bis sie schließlich auf die Peterstraße einbog und aus seinem Blick verschwand. Oben in der Wohnung warteten inzwischen wieder alte Bekannte auf ihn - Stille und Leere. Ohne mich, dachte er und schnappte sich kurzentschlossen seine Motorradsachen. Er stieg auf seine Maschine und fuhr noch einmal zum Südstrand. Genau an der Stelle, an der er noch vor Kurzem mit Sophie gestanden hatte, setzte er sich auf eine Bank und zündete sich eine Zigarette an. Glücklich ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen. Ein neuer, wichtiger Mensch war in sein Leben getreten und da sollte er auch bleiben. Daran bestand für ihn nun kein Zweifel mehr, Wochenendbeziehung hin oder her. Herz besiegt Verstand!

* * *

Am nächsten Wochenende unternahm Stephan dann seine erste längere Fahrt mit dem Motorrad. In Lindlar lernte er auch gleich Sophies Familie kennen. Sie war das

216 Nesthäkchen und wohnte mit ihren älteren Geschwistern Hans und Isabell bei ihrer Mutter. Von nun an wechselten sich Stephan und Sophie, was den Wochenendbesuch anging, ab. Hatte Stephan anfangs noch bei seinem Vater übernachtet, hielt er sich inzwischen größtenteils bei Sophie und ihrer Familie auf, in der er sich sofort heimisch gefühlt hatte.

Im Laufe der Zeit stellte Stephan fest, dass seine anfänglichen Bedenken völlig unbegründet waren. Mit Sophie funktionierte sogar die Wochenendbeziehung. Anstatt sich zu streiten, genossen die beiden jede Sekunde ihrer Liebe. Trotzdem wollte Stephan mehr, und schließlich konnten sie ja nicht ewig eine Wochenendbeziehung führen. Er wollte jeden Tag mit ihr verbringen. Ich könnte es ja mal mit einem Versetzungsgesuch in den Raum Köln/Bonn probieren, dachte er sich, als er eines Tages während der Rückfahrt seinen Gedanken nachhing. Vielleicht haben wir ja Glück!

* * *

Stephans Jahr hatte offensichtlich einen Lauf. Sein Leben hatte sich nicht nur beruflich, sondern vor allem privat gewendet. Vergessen war das vergangene trübsinnige Singlejahr. Auch im Großen war die Zeit von glücklichen Wendungen geprägt, wie Stephan kurz darauf in Bremerhaven aus dem Fernsehen erfuhr. Hans und er hatten gerade ihr Sportprogramm an diesem Donnerstag beendet und saßen bei einer Zigarette in ihrer gemeinsamen Stube vor der Mattscheibe. Auf die Gameshows, die sie sich regelmäßig ansahen,

217 folgten irgendwann die Nachrichten und was dort berichtet wurde, ließ ihnen den Atem stocken. Angeblich war die Mauer offen. Gebannt verfolgten sie die sich überschlagenden Meldungen und Sonderberichte. »Ich glaub’s nicht«, sagte Hans und sah Stephan mit offenem Mund an. Endlich gab es auch erste Bilder von den langen Trabbi-Karawanen und den Kolonnen der DDR- Bürger, die sich über die Grenzübergänge nach West-Berlin schoben. Nicht nur an diesem Abend blieb dies ein unfassbarer und bewegender Moment und Stephan fand, dass das die absolute Krönung dieses tollen Jahres war. Was sollte jetzt noch kommen?

Für lange Ausfahrten mit dem Motorrad war es inzwischen zu kalt geworden, deshalb hatte Stephan seine Maschine abgemeldet und ins Winterlager gebracht. Für die Fahrten nach Bremerhaven und Lindlar besaß er nun einen alten Renault 5, der noch genau bis März TÜV hatte und daher entsprechend preiswert gewesen war. Mit diesem Wegwerfauto fuhr Stephan schließlich auch zum Weihnachtsmarathon nach Lindlar. An Heiligabend war er bei Sophie und ihrer Familie eingeladen, am ersten Weihnachtstag besuchte er mit Sophie seinen Vater, bevor es dann am zweiten Feiertag zu Stephans Mutter ging.

Silvester feierten Stephan und Sophie mit Isabell und zwei Arbeitskolleginnen in Köln. Gut gelaunt zogen sie durch die Altstadt und ließen pünktlich zum Jahreswechsel auf der Deutzer Brücke die Korken knallen. Stephan fand, dass das bunte Feuerwerk über der Domstadt genau die richtige Kulisse für das erste gemeinsame Silvester mit Sophie war. Glücklich nahm er sie

218 ganz fest in den Arm und sah ihr tief in die Augen. »Frohes neues Jahr, mein Engel«, sagte er leise und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Er dachte an seinen Wunsch zum Jahreswechsel und blickte zum Himmel. Bitte lass es mit der Versetzung klappen. »Woran denkst du?«, fragte Sophie. Stephan sah sie vielsagend an und lächelte. »An nichts«, sagte er. »Nur, dass ich sehr glücklich bin.«

219 Wieder zu Hause

1990 Nelson Mandela wird nach siebenund- zwanzig Jahren endlich freigelassen. Von nun an steu- ert Südafrika in eine bessere Zukunft. Eine bessere Zukunft beginnt zur gleichen Zeit in Deutschland, trotz aller Bedenkenträger in Ost und West. Doch letzten Endes wächst zusammen, was zusammengehört. Zusammen gehören auch zehn Feldspieler, ein Torwart und ein 'kaiserlicher' Teamchef. Zum dritten Mal wird Deutschland Fußballweltmeister. - 54-74-90-20 ... Die Diddl-Maus verlässt zum ersten Mal die Feder ihres Zeichners Thomas Goletz und wird von da an zum begehrten Sammelobjekt. Ein Jahr lang müssen auch die Fans von New Kids on the Block sammeln, denn so lange dauert es, um den kompletten BRAVO-Starschnitt zu erhalten. Ganz ohne einen Starschnitt wird der 'reimende' Matthias ein Star. Verdammt, ich lieb Dich! Verliebte Stunden verbringt auch ein gewisser Lieutenant John Dunbarmit mit einer weißen Indianerin, wenn er zwischendurch mal nicht mit dem Wolf tanzt. Sex sells. In ihrem Video zu Vogue tanzt Madonna wieder einmal skandalös freizügig. Mit fast nacktem Kopf und einer echten Träne präsentiert Sinead O'Connor das erste Mal ihren gefühlvollen Klassiker.

* * *

220 Nothing compares to you. Stephan drehte das Radio lauter und dachte an Sophie. Auch sie war einfach mit nichts zu vergleichen. Er war bis über beide Ohren verliebt und fieberte schon montags dem Wochenende entgegen. Nur alle vierzehn Tage eine so lange Fahrt machen zu müssen, war für beide nicht nur eine deutliche Entlastung, sondern brachte auch Abwechslung in ihr Leben. In Lindlar unternahmen Stephan und Sophie viel mit ihren Freunden oder fuhren mal schnell für einen Tag nach Belgien oder Holland. Trafen sich die beiden in Wilhelmshaven, nutzten sie die Nähe zum Meer, gingen am Strand spazieren oder fuhren mal nach Helgoland. Ein Favorit auf ihrer Liste der Unternehmungen war die Stumpenser Mühle in der Nähe von Horumersiel. Dort beherbergte eine Windmühle aus dem 19. Jahrhundert ein Café und Restaurant. Vor allem im Winter gab es nichts Gemütlicheres, als hinter den kleinen Fenstern bei einer Tasse Tee zu sitzen, während draußen der kalte Wind durch die Windmühlenflügel fuhr.

Diesen Ort hatte sich Stephan auch an diesem herrlichen Maiwochenende ausgesucht, um Sophie eine ganz besondere Mitteilung zu machen. Sie suchten sich ein gemütliches Eckchen, und nachdem die Bedienung mit ihrer Bestellung in der Küche verschwunden war, nahm Stephan Sophies Hand und sah sie mit wichtiger Miene an. »Was ist los mit dir?«, fragte sie und blickte ihn verwundert an. Stephan lächelte. Die ganze Fahrt über hatte sie schon versucht, etwas aus ihm herauszubekommen, und auch

221 wenn es ihm nicht leicht gefallen war, hatte er dichtgehalten. Doch jetzt musste es einfach raus. »Ich habe heute Morgen eine Nachricht bekommen«, sagte er. »Und?« »Am ersten August werde ich nach Bonn versetzt. Na, was sagst du nun?« Sophie schaute ihn ungläubig an. »Wirklich?«, fragte sie. Stephan nickte. »Ich hab's schwarz auf weiß.« Sprachlos sah Sophie ihn an und Stephan hatte den Eindruck, dass ihre Augen noch mehr leuchteten als sonst. »Bald können wir uns jeden Tag sehen«, sagte er und beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben ... »Für wen war der Apfelkuchen?« Stephan zuckte zurück und lächelte die Bedienung verschämt an. Auch in einer alten Windmühle war eben nicht alles romantisch.

* * *

Der Sommer stand für Stephan und Sophie im Zeichen der bevorstehenden Veränderung. Unmittelbar nach seinem Urlaub würde Stephan seinen Dienst in Bonn antreten. Doch bevor Stephan seinen Urlaub begann, hieß es für ihn erst einmal in Bremerhaven Abschied nehmen. Das traf in ganz besonderem Maße auf Hans zu, mit ihm hatte er sich die letzten vier Jahre nicht nur das Zimmer geteilt. Hans war nicht nur Arbeitskollege, sondern ein Freund und so hatten sie auch immer ein offenes Ohr für die Freuden und Leiden des anderen gehabt. Entsprechend schwer fiel Stephan nun auch der Abschied.

222 »Die Marine ist klein und man sieht sich immer irgendwo einmal wieder«, sagte Hans und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Und er sollte recht behalten. Einen Großteil seines Urlaubs nutzte Stephan für den Umzug. Eine Wohnung für sich und Sophie hatte er glücklicherweise, trotz der schlechten Situation auf dem Kölner Immobilienmarkt, schnell gefunden. Seine Mutter und ihr neuer Mann Olaf hatten sich gerade erst eine Eigentumswohnung in Köln-Porz gekauft, die vermietet werden sollte, Größe und Ausstattung entsprachen genau ihren Bedürfnissen. Sie bestand aus drei Zimmern, Küche und Bad und lag außerdem auch noch verkehrsgünstig direkt an der A59 in der Nähe des Köln/Bonner Flughafens. Einen Wermutstropfen gab es jedoch. Die Wohnung lag im ausgebauten Dachgeschoss eines Mehrfamilienhauses, das über keinen Fahrstuhl verfügte. Das hieß: Treppen steigen. Doch schon bald würde Stephan froh sein, nicht in einer der unteren Etagen eines mehrgeschossigen Hauses zu wohnen.

Das war’s dann wohl, dachte Stephan und stemmte die Hände in die Hüfte. Noch einmal blickte er sich in der Wilhelmshavener Wohnung um. Die Möbelpacker hatten sich soeben auf den Weg nach Köln gemacht und Stephan erinnerte sich auf einmal an den Tag der Wohnungsbesichtigung. Damals hatte er mit Alina in der gleichen Leere gestanden und sich auf die erste gemeinsame Wohnung gefreut. Viele schöne und nicht so schöne Stunden hatte er hier erlebt, und die

223 Gedanken daran lösten eine gewisse Wehmut bei ihm aus. Er zog die Tür hinter sich zu und ging ein letztes Mal über den roten Läufer durch das Treppenhaus. Unten angekommen warf er die Schlüssel in den Briefkasten, wie er es mit dem Vermieter abgesprochen hatte. Dumpf fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss und damit gleichzeitig der Vorhang vor seine Wilhelmshavener Lebensepisode. Stephan stieg auf sein Motorrad und verließ die Stadt. Auf der Fahrt nach Köln dachte er an die unzähligen Male, die er auf der A1 in Richtung Süden gefahren war. Unzählig viele Zigaretten hatte er währenddessen im Aschenbecher ausgedrückt und sich genauso viele in den unzähligen Staus und vor omnipräsenten Baustellen aus Langeweile angezündet.

So ging der Urlaub im Umzugstrubel unter und auf einmal war der erste August da. Stephan hatte sich schon früh aufgemacht und stand nun verblüfft vor einem riesigen Hochhaus. Er überprüfte noch einmal die Anschrift auf seiner Versetzungsverfügung, hatte er doch eigentlich eine Kaserne in Bonn-Beuel erwartet. Doch er hatte sich wirklich nicht verfahren, das bestätigte ihm auch kurz darauf der Pförtner. Stephan befand sich wirklich im Sanitätsamt. Mit dem Fahrstuhl ging es anschließend in die vierzehnte Etage, wo sich Stephan bei seinem Dezernatsleiter vorstellte. Wie er erfuhr, erwartete man

224 ihn schon ungeduldig, da sein Vorgänger bereits vor einigen Tagen die Dienststelle verlassen hatte. Außerdem herrschte Urlaubszeit und die Schreibtische waren entsprechend voll. Neugierig schaute Stephan sich in seinem neuen Büro um. Wie anders doch hier alles im Vergleich zu seinem bisherigen Kasernenleben war. Ein Bürohochhaus ohne Kasernenzaun und Wache, dafür mit Pförtner, Tiefgarage und Aufzügen. Er hatte jetzt sogar gleitende Arbeitszeiten. Stephan setzte sich auf seinen Bürostuhl und lehnte sich zurück. So kann man es wohl aushalten, dachte er. Gleitende Arbeitszeit, jeden Tag pendeln und die Abende mit Sophie verbringen, das gefiel ihm schon jetzt.

* * *

Im Herbst war das eben noch so Neue bereits Routine. Stephan wusste inzwischen, wie er am besten dem Feierabendstau ausweichen konnte, und in ihrer Wohnung war nun auch alles so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Die Frage nach einem Winterauto stellte sich Stephan dieses Jahr allerdings nicht, auch wenn es so langsam ungemütlich auf den Straßen wurde. Bei einem routinemäßigen Werkstattbesuch hatte man ihm mitgeteilt, dass seine treue Ténéré schwer krank war. Sie litt an einem altbekannten Modellreihen-Leiden. Mit etwas Glück fand Stephan einen begeisterten Enduro-Bastler, der ihm noch einen anständigen Preis für seine Maschine zahlte. Mit diesem Geld sowie dem Rest seiner Ersparnisse, die vom

225 Umzug übrig geblieben waren, kaufte er sich einen gebrauchten BMW 316.

Die Tage wurden merklich kürzer und trotz frühem Arbeitsbeginn war es bereits dunkel, wenn Stephan nach Hause kam. Schneller als erwartet brannte auch schon die erste Kerze am Adventskranz. Von da an bummelte er immer häufiger mit Sophie durch das weihnachtliche Köln, wobei sie Geschenke kauften oder einfach nur über die Weihnachtsmärkte schlenderten. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier ... Schon begann der bereits gewohnte Weihnachtsmarathon, der am zweiten Weihnachtstag schon fast traditionell bei Stephans Mutter endete. Silvester feierten Stephan und Sophie diesmal in aller Ruhe. Mit Sophies Familie saßen sie in Lindlar zusammen und gossen Blei, während nebenher das Silvesterprogramm im Fernsehen lief. Der '90. Geburtstag' durfte dabei natürlich nicht fehlen. »The same procedure as last year, Miss Sophie?« Als dann um Mitternacht die Feuerwerksraketen in den Nachthimmel stiegen, nahmen sich Stephan und Sophie fest in den Arm. Sie dachten an dieses tolle Jahr zurück, das sie endlich zusammengeführt hatte. Stephan schmunzelte, als er an seinen Wunsch vom letzten Jahr dachte. Scheinbar schienen Wünsche zum Jahreswechsel tatsächlich in Erfüllung zu gehen. Für einen kurzen Moment überlegte er, was er sich dieses Jahr wünschen könnte, doch ihm fiel absolut nichts ein. Er hatte sein Glück bei Sophie gefunden und das war das einzig Wichtige. Also verzichtete er diesmal auf einen Wunsch. Man musste das Glück ja auch nicht

226 überstrapazieren.

227 228 Ein ganz normales Leben

1991 Das Wüstenschild wird zum Wüsten- sturm, der die irakischen Besatzer aus Kuwait bläst. In einer Eiswüste in den Ötztaler Alpen findet man die Leiche eines uralten Mannes, der jedoch mit dem späteren DJ Ötzi weder verwandt noch verschwägert ist. Metallica, ein Monster of Rock, spielt in Moskau vor 500.000 Zuschauern eines ihrer besten Konzerte. Nothing else matters! Nach dem erfolgreichen Werner-Film rockt nun auch der Torf beinhart in die Charts. Dort bläst allerdings noch kräftig der Wind der Veränderung. Fünf Skorpione aus Hannover pfeifen auf die Hymne von Mauerfall und Wiedervereinigung. Manch einer traut in diesen Tagen seinen Augen nicht, als im Kino das 'Schweigen der Lämmer' für Schockstarre sorgt. Vielen reicht allerdings schon eine neue Serie im ZDF, denn auch die Simpsons sorgen für Gänsehaut. Der kleine Joe aus 'Bonanza' und Mister Ingalls von der kleinen Farm wird von nun an nie mehr die Daumen lässig hinter die Hosenträger schieben. Und auch die Stimme einer weltbekannten Königin verstummt für immer. – Farewell Michael Landon! - Farewell Freddy Mercury! In der Formel 1 wird Ayrton Senna Weltmeister, während ein junger Debütant erst einmal nur auf Platz 14 landet. Dafür ist Michael Schumacher in dieser Saison auch nur in sechs Rennen gestartet.

229 Die Meisterschaftsfeier des Deutschen Fußballmeisters findet dieses Jahr in Kaiserslautern statt.

* * *

Für Stephan würde diese Meisterschaft etwas Besonderes werden. Nicht, dass er etwa Fan von Kaiserslautern gewesen wäre, aber ein Spieler aus der Meisterelf hatte mit ihm und Bernd früher bei der Lindlarer Jugendherberge gekickt. Leider gab es erst einmal keinen Grund zu feiern, als Stephan an diesem siebzehnten Januar aufstand und ins Wohnzimmer schlurfte, um sich die gewohnte Zigarette zum Wachwerden anzuzünden. Er schaltete das Radio ein, setzte Kaffee auf und lehnte sich müde gegen die Arbeitsplatte. Nach kurzer Zeit signalisierte die Kaffeemaschine durch laut röchelnde Geräusche das Ende des Brühvorgangs. Wird Zeit, dass ich die mal wieder entkalke, dachte Stephan, als durch das Zischen hindurch Gesprächsfetzen aus dem Radio an sein Ohr drangen. Er verstand nur Sondersendung, Irak und Luftangriffe, doch das reichte schon, um ein mulmiges Gefühl in ihm aufkommen zu lassen. Seit dem Sommer des letzten Jahres hielten irakische Truppen Kuwait besetzt und die Vereinten Nationen hatten bisher vergeblich versucht, den Irak mit Sanktionen zum Rückzug zu bewegen. Diese Entwicklung war zunehmend auch zu einem Thema im Sanitätsamt geworden, da auch erste

230 Spekulationen über einen Einsatz der Bundeswehr die Runde machten. Stephan beugte sich vor und drehte den Ton des Radios lauter. Tatsächlich, seit einigen Stunden flog eine Koalition, die von den Amerikanern angeführt wurde, Luftangriffe gegen den Irak. Der zweite Golf- Krieg hatte begonnen. Mit entsprechend gemischten Gefühlen fuhr Stephan an diesem Morgen zur Arbeit. Doch wie sich schnell herausstellte, blieb die Operation 'Desert Storm' zunächst ohne direkte Beteiligung deutscher Streitkräfte. Gleichwohl fegte dieser Wüstensturm einige Wochen später mit aller Wucht durch die rheinländische Kultur. Das erste Mal seit vielen Jahrzehnten fand in Köln kein Rosenmontagszug statt. So ganz ohne zu feiern ging es dann aber auch nicht. Getreu dem Kölner Motto 'Et kütt, wie ett kütt!', verzog sich der Karneval zwar weitgehend aus der Öffentlichkeit, ließ sich aber nicht aus den Häusern vertreiben. Zum Glück legt sich auch der schlimmste Sturm irgendwann und im April endete dann auch der im Irak.

* * *

Sophie jobbte schon seit einiger Zeit nach Feierabend regelmäßig in einer Lindlarer Pizzeria. Meistens begleitete Stephan sie dorthin und besuchte

231 anschließend Familie oder Freunde. Eines Abends, als er gerade bei Sophies Mutter war, rief sie aufgeregt an. »Schnell, du musst sofort vorbei kommen!« »Was ist denn los?«, fragte Stephan verwundert. »Ist was passiert?« »Frag' nicht!«, sagte Sophie. »Komm bitte einfach vorbei. Und beeil' dich!« Dann legte sie auch schon ohne ein weiteres Wort auf. Stephan parkte gegenüber der Pizzeria 'Da Pietro' und blickte hinüber. Alles sah wie gewöhnlich aus. Langsam stieg er aus und als er gerade hineingehen wollte, fing ihn Sophie bereits an der Tür ab. »Hinten links in der Ecke«, sagte sie leise hinter vorgehaltener Hand und sah ihn aufgeregt an. »Guck 'mal, wer da sitzt.« Stephan, jetzt auch neugierig geworden, betrat das Restaurant und schielte unauffällig in die Richtung, die Sophie genannt hatte, bevor er sich an einen der Tische setzte. Jetzt verstand er Sophies Aufregung. Es war Thomas Anders, der dort saß und sich mit einem anderen Mann unterhielt. Stephan nahm die Karte, die Sophie ihm reichte, und sah sie schmunzelnd an. Zwar war keiner von ihnen je ein Fan von Modern Talking gewesen, allerdings kam es nicht gerade häufig vor, dass sich mal ein prominentes Gesicht in ihr kleines Nest verirrte. »Den hatte ich mir aber größer vorgestellt«, sagte Stephan grinsend. Irgendwie wirkten im Fernsehen alle immer viel größer, als sie es in Wirklichkeit waren.

232 Schon des Öfteren hatte er sich darüber gewundert, wenn er mal beim Einkaufen in Köln einen Schauspieler aus der 'Lindenstraße' gesehen hatte. Ansonsten teilte er die ganze Aufregung nicht. Doch wo er schon mal hier war, konnte er sich auch eine von Pietros köstlichen Pizzen bestellen und warten, bis Sophie Feierabend hatte.

Am nächsten Tag erwartete Stephan dann wieder ein unspektakulärer Alltag im Büro. Posteingänge, Aktenablage, Telefonate, dazu literweise Kaffee und auch die alles begleitende Zigarette durfte natürlich nicht fehlen. Sie war nach wie vor ein selbstverständlicher Bestandteil seines Lebens. Rauchverbote gab es so gut wie nirgendwo und eine Kneipe ohne nebulöse Atmosphäre war undenkbar. Gerade die Qualmwolken machten doch alles erst so richtig gemütlich. In Restaurants störte es niemanden beim Essen, wenn vom Nachbartisch blaue Schwaden herüberzogen. Der blaue Dunst war allgegenwärtig und machte auch nicht vor Stephans und Sophies Wohnung halt. Sophie, die bis zu ihrem Kennenlernen nur gelegentlich geraucht hatte, war inzwischen von ihm regelrecht angesteckt worden. Jedes Mal, wenn Stephan in ihrer Gegenwart rauchte, zündete auch sie sich eine Zigarette an. Umgekehrt war es mittlerweile genauso.

233 Sie pafften sich gemeinsam durch ein Leben, dessen Normalität und Routine Stephan noch vor einiger Zeit beengend und kleinbürgerlich vorgekommen war. Er wohnte mit seiner Freundin zusammen, ging tagsüber einem Bürojob nach und spielte einmal die Woche Karten mit seinen Freunden. An den Wochenenden folgte auf den samstäglichen Wochenendeinkauf dann abends der Besuch in der Disco oder im Kino. Manchmal saßen die beiden aber auch einfach nur auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer und guckten in die Röhre. Stephan hatte zunehmend den Eindruck, dass durch dieses Stundenglas der Gewöhnlichkeit die Zeit von Tag zu Tag, Woche zu Woche immer langsamer verrann. Am Silvesterabend saßen sie in ihrer Wohnung mit Sophies Geschwistern und ein paar Freunden zusammen. Zufällig schaltete jemand den Fernseher just zu dem Zeitpunkt an, als einmal mehr die Frage aller Silvesterfragen gestellt wurde. »The same procedure as last year, Miss Sophie?« Prompt folgte Miss Sophies Antwort: »The same procedure as every year!« Stephan schmunzelte. Irgendwie passend, dachte er und meinte nicht nur Miss Sophies Namen. Nein, nächstes Jahr musste unbedingt mal wieder etwas passieren, dass diese Normalität durchbrach. Für 'The same procedure as every year' fühlte er sich einfach zu jung.

234 Die 4. letzte Zigarette

1992 Microsoft bringt Windows 3.1 auf den Markt und lehrt uns Drag and Drop. Im Fernsehen findet sich eine deutsch-französische Freundschaft, die unter dem Namen ARTE bis heute gepflegt wird. Eine andere Länderfreundschaft erfährt hingegen eine zum Glück nur kurze Belastungsprobe. »We are red, we are white, we are danish dynamite«, schallt es im Chor, als Deutschland im Finale der Fußball-Europameisterschaft unterliegt. Ein anderer Meister seines Faches wird durch einen gewissen Wolfgang Lippert abgelöst. Wetten, dass diese Ablösung der Supernase nicht lange andauern wird? Deutschsprachige Musik bekommt auch außerhalb der Schlagerlandschaft neuen Aufwind. Das Projekt U96 von Alex Christensen lässt Das Boot erneut auftauchen; ein 'Fettes Brot' gibt es ab sofort nicht nur in der Bäckerei und vier Fantas rappen über die da. Auf dem internationalen Musikparkett reicht die bunte Palette von Grunge à la 'Nirvana' bis hin zu zwei Glatzköpfen, die es vorziehen, zu küssen anstatt zu reden. Und ein singender Zahnarzt mit niedlichen Rastazöpfen singt sogar über sein Leben.

* * *

Über das, was sich in Stephans Leben in diesem Jahr ereignen würde, hätte man auch ein Lied schreiben können. Obwohl es zunächst so ruhig und harmlos

235 begann, wie das alte Jahr geendet hatte, sollte es schon bald deutlich an Fahrt aufnehmen. Bereits seit November des letzten Jahres hatte sich seinen Beruf betreffend eine Entwicklung abgezeichnet, die Stephan nun das erste Mal mit einem Auslandseinsatz konfrontieren sollte. Seitdem waren einige Soldaten des Sanitätsdienstes mit einem Mandat der Vereinten Nationen als Vorausmission nach Kambodscha entsandt worden. Damit machte Deutschland den ersten Schritt weg von der 'Scheckbuchmentalität' der vergangenen Jahre. Mit der vollen Souveränität hatte man einen neuen Platz in der Staatengemeinschaft eingenommen und die neuen Rechte brachten auch neue Pflichten. Weitere Soldaten sollten auf Beschluss der Bundesregierung folgen und in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh ein 60- Betten-Hospital aufbauen und betreiben. Mit der Führung des deutschen Kontingents beauftragte die Bundeswehrspitze daraufhin das Sanitätsamt. Stephan staunte nicht schlecht, wie schnell auf einmal in dem Tagungsraum, der eine Etage über Stephans Büro lag, eine schichtfähige Führungszelle eingerichtet wurde. Noch mehr staunte er über die modernen Kommunikationsmittel, die dort eingerichtet wurden. Es gab ein Satellitentelefon und gleich mehrere Faxgeräte. Sogar die Herren Bits und Bytes waren mit an Bord und bescherten jedem Arbeitsplatz der Führungszelle einen eigenen Computer.

236 Am meisten staunte Stephan jedoch darüber, dass er sich plötzlich selbst regelmäßig dort wiederfand. Seine neue Aufgabe im Schichtdienst befreite ihn zwar von der Monotonie seines Bürojobs, erhöhte aber dafür seinen Zigarettenkonsum um ein Vielfaches. Auch wenn Sophie und er sich in dieser Zeit deutlich weniger über den Weg liefen, genoss er die Abwechslung und das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das Gutes tat. War das Feldhospital zunächst nur medizinische Versorgungseinrichtung für UN- Personal, änderte sich das rasch. Obwohl der Auftrag es nicht vorsah, wurde das Krankenhaus in kurzer Zeit zum Mittelpunkt eines humanitären Einsatzes für die einheimische Bevölkerung. Dafür sorgten die Ärzte, die sich ihrem hippokratischen Eid verpflichtet fühlten und niemanden abwiesen, der Hilfe brauchte. Schon bald bezeichneten die Einheimischen das Krankenhaus als das 'Haus der Engel'

* * * Am Schichtdienst konnte es nicht liegen, dass Stephan an diesem Abend im April nur schwer in den Schlaf fand. Er hatte eine freie Woche, und obwohl nichts Aufregendes geschehen war, trieb ihn doch irgendetwas um. Die Grenzen zwischen den lebhaften Träumen eines oberflächlichen Schlafs und den Wachphasen verschwammen zusehends, so dass er bald kaum noch einen Unterschied erkannte. Hinzu kam, dass ihr Kater Friedhelm bereits seit Stunden ungewöhnlich nervös durch die Wohnung strich. Mitten in der Nacht riss er plötzlich erschrocken die Augen auf und starrte an die Decke des Schlafzimmers.

237 Träum ich oder bin ich wach?, fragte Stephan sich in Gedanken. Auf irgendeine Weise wurde er das Gefühl nicht los, dass das Bett vibrierte. Auch schienen die Wände hin und her zu schwanken. Stocksteif und wie erstarrt lag er auf dem Rücken. Nein, das war kein Traum! Wie zur Bestätigung vernahm er aus dem Wohnzimmer ein klirrendes Geräusch, als ob ein Glas heruntergefallen wäre. »Was war das?«, fragte Sophie, die nun auch wach geworden war. »Was ist hier los?« Verschlafen und ängstlich schaute sie sich um. »Ich glaube, das ist ein Erdbeben«, sagte Stephan und wunderte sich selbst über seine Antwort. Ein Erdbeben? Hier in Köln? Erneut vibrierte das Bett. Stephan schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, wie das Haus in sich zusammenfiel. So, wie er es schon so häufig im Fernsehen gesehen hatte, wenn aus Erdbebengebieten berichtet worden war. Was oben ist, bleibt oben, dachte er als Nächstes und schwor sich, sich nie wieder über das Treppensteigen zu beschweren. Nachdem alles wieder ruhig war, schalteten Stephan und Sophie das Licht an und standen langsam auf. Vorsichtig gingen sie durch die Wohnung und fanden im Wohnzimmer zwei zersprungene Sektkelche, die aus dem Schrank gefallen waren. Abgesehen davon entdeckten sie keine weiteren Schäden. Die beiden blickten aus dem Fenster. Nahezu in

238 allen Nachbarhäusern brannte jetzt Licht. Ganz Köln schien wach zu sein. Stephan und Sophie ließen sich erleichtert aufs Sofa sinken und rauchten auf den Schreck erst einmal eine Zigarette. »Halb vier«, sagte Stephan nach einem kurzen Blick auf die Uhr des Videorecorders. »Die Woche fängt ja gut an.«

Mit etwas gemischten Gefühlen betrat Stephan einige Stunden später das Sanitätsamt. Nur wenige Mitarbeiter standen wartend vor den Fahrstühlen, was für diese Uhrzeit ungewöhnlich war. Dafür erfreute sich das Treppenhaus heute einer großen Beliebtheit. Stephan überlegte. Eigentlich bin ich noch nie über die Treppe gegangen, dachte er. Im Gegensatz zu den meisten der Mitarbeiter, die jetzt im Treppenhaus verschwanden, musste er jedoch in die vierzehnte Etage. Zweifelnd blickte er noch einmal zu den Fahrstühlen. Ein bisschen Frühsport kann ja nicht schaden, dachte er schließlich und begann den Aufstieg. Zehn Minuten später erreichte er mit schmerzenden Knien und 'leicht' verschwitzt sein Büro. Das sogenannte Roermond-Beben, das eine Stärke von 6,1 auf der Richterskala gehabt hatte, war natürlich der Gesprächsstoff des Tages. Wie er aus den Nachrichten erfuhr, war das Beben sogar in Berlin und München zu spüren gewesen. Seit über zweihundert

239 Jahren hatte es in der Kölner Bucht keinen derart starken Erdstoß mehr gegeben. Stephan schenkte sich einen Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an, die zum Kaffee ja noch mal so gut schmeckte. Ab und zu hielt er inne, wenn er meinte, ein leichtes Schwanken des Hochhauses gespürt zu haben. Da aber scheinbar niemand außer ihm das registrierte, schob er es auf seine Einbildung. Zum Feierabend fühlte er sich dann wieder so sicher, dass er sogar ohne Bedenken in den Fahrstuhl stieg.

* * *

Kurz vor Sommeranfang erhielt Stephan ein Schreiben von seinem Chef, das die nächste Unruhe in sein Leben brachte. Und nicht nur in seins, denn die Mitteilung betraf indirekt auch Sophie. Ab Januar sollte die tägliche Rückkehr an den Wohnort erst einmal wieder der Vergangenheit angehören. Stephan war zur Offizierslaufbahn zugelassen worden, für die er sich im letzten Jahr beworben hatte. Da die Ausbildung zum Offizier im nördlichsten Teil der Republik stattfand und gut zwei Jahre dauerte, stand Stephan und Sophie wieder eine längere Wochenendbeziehung bevor. Er war daher heilfroh, dass sie die Entscheidung über seine Bewerbung gemeinsam getroffen hatten.

Für die Führung des Kambodscha-Einsatzes war inzwischen zusätzliches Personal in das Sanitätsamt versetzt worden. Ein weitere Mitwirkung Stephans

240 war nun nicht mehr erforderlich und so konnte er von nun an wieder seiner normalen Arbeit nachgehen. Sein Zigarettenkonsum nahm dadurch sofort wieder merklich ab. Der Stress des Schichtdienstes war von ihm abgefallen und führte sogar dazu, dass er ernsthaft überlegte, das Rauchen ganz aufzugeben. Unterstützung in seinem Vorhaben bekam er von einem jungen Arzt, der zu der personellen Unterstützung in der Führungszelle gehörte und sich auf Akupunktur verstand. Stephan erinnerte sich nur zu gut an seine bisherigen Versuche, Nichtraucher zu werden, die alle kläglich gescheitert waren. Vielleicht klappt es ja mit diesen Zaubernadeln, dachte er skeptisch. Akkupunktur hielt er im Grunde für Hokuspokus, aber probieren ging ja bekanntlich über studieren. Und so spielte er nun einmal täglich für eine Viertelstunde 'Nadelkissen' bei dem mutmaßlichen Wunderheiler. Schon nach der ersten Sitzung stellte Stephan verblüfft fest, dass er tatsächlich mit einem Mal absolut kein Bedürfnis mehr verspürte, sich eine Zigarette anzuzünden. Auch nicht vor, während oder nach einer Tasse Kaffee oder gar aus Langeweile. Der positive Effekt setzte sich auch die nächsten Tage fort. Selbst morgens, wo er regelmäßig eine Zigarette zum Wachwerden benötigt hatte, ließen ihn die Nikotinzwerge in Ruhe. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Versuchen war er weder schlecht gelaunt noch gereizt und das, obwohl

241 Sophie auch in seiner Gegenwart munter weiter rauchte. Am Ende der vierzehntägigen Nadeltherapie schien Stephan tatsächlich geheilt und zählte sich stolz zu den wenigen Nichtrauchern im Sanitätsamt. Leider hielt der Erfolg nicht lange an. Schon zu Beginn der dritten Woche überkam ihn wieder das Verlangen zu rauchen. Man machte es ihm aber auch nicht gerade leicht. Zu Hause rauchte Sophie, beim wöchentlichen Kartenspiel seine Freunde und bei der Arbeit nahezu jeder. Nur mit viel Mühe und immer kürzer werdenden Fingernägeln überstand er noch eine weitere Woche, bevor er sich eines Abends dabei ertappte, wie er Sophie eine Zigarette stibitzte. Er schlich sich auf den Balkon und zog hastig an seiner Beute, während er immer zu Sophie hinüber schielte, die vor dem laufenden Fernseher schlief. Nach der Hälfte der Zigarette schnippte er sie weit über das Balkongeländer in die Nacht und verzog angewidert das Gesicht. Er hatte ganz vergessen, wie furchtbar Zigaretten im Grunde schmeckten. Am nächsten Morgen erinnerte er sich daran allerdings nicht mehr, als er seine 'Bildung' am Kiosk gegenüber kaufte. Erneut schmachtete er nach etwas Rauchbarem und dabei fiel sein Blick an der Kasse auf eine Packung Zigarillos. 'Al Capone Sweets' stand auf der Packung und Stefan fühlte sich gleich angesprochen. Zigarillos waren schließlich keine Zigaretten, und da sie auch noch süß waren, konnten sie ja so schlecht nicht sein. Ab und zu mal eine 'Süßigkeit' zu konsumieren, macht mich noch längst nicht wieder zum Raucher,

242 dachte er und steckte sich gleich im Auto den ersten Zigarillo an. Stephan rauchte auch weiterhin im Verborgenen. Voller Stolz hatte er von der Wunderwirkung der kleinen Nadeln geschwärmt und all diejenigen belächelt, die trotz Akkupunktur nicht durchgehalten hatten und nun wieder rauchten. Unmöglich konnte er sich jetzt einfach hinstellen und zugeben, dass er selbst auch zu den Losern zählte. Stephan verschwand in regelmäßigen Abständen aus seinem Büro, um auf der Dachterrasse etwas frische Luft zu schnappen. Zuhause wunderte sich Sophie über seine plötzliche Spazierfreudigkeit, und wäre er nicht jedes Mal eine knappe Viertelstunde später zurück gewesen, hätte sie wahrscheinlich eine Affäre vermutet. Mit der Zeit entwickelte sich Stephan dann allerdings zum regelrechten 'Frischluftfanatiker', was weder von Sophie noch bei seiner Arbeit unbemerkt blieb. Seine Ausreden, um sich mit seinen Süßen zu treffen, wurden immer durchsichtiger. Um sich schließlich nicht gänzlich lächerlich zu machen, gab er das Versteckspiel letztendlich auf. Die Geißelungen derjenigen, die er noch vor Kurzem so belächelt hatte, ließ er tapfer über sich ergehen.

Nach diesem neuerlichen Ausflug auf die Schattenseite des Lebens fand Stephan aber schon bald wieder auf die Glücksstraße zurück. Diesmal war es ein Brief der Süddeutschen Klassenlotterie, der ausnahmsweise keine Rechnung, sondern eine

243 Gewinnbenachrichtigung enthielt. Auch wenn es kein Millionengewinn war, wusste Stephan augenblicklich, was er mit den 1500 DM machen würde, die er gewonnen hatte. Er tauschte die Hälfte des Geldes kurz vor Sophies Geburtstag bei der Sparkasse in 10- DM-Scheine um und verteilte diese in einem Geschenkkarton. Die andere Hälfte wanderte in die gemeinsame Urlaubskasse, die noch dringend aufgebessert werden musste, schließlich wollten sie noch einmal richtig Urlaub machen, bevor er im nächsten Jahr den Offizierslehrgang besuchen würde. Die Reise an die türkische Riviera war bereits gebucht und in knapp vier Wochen sollte es losgehen. Da kam die kleine Finanzspritze mehr als gelegen.

Sophie guckte etwas skeptisch, als Stephan ihr kurze Zeit später sein Geburtstagsgeschenk überreichte. Das Paket war zwar groß, also schon mal kein Parfum, andererseits jedoch ungewöhnlich leicht. Stephan freute sich diebisch über Sophies Gesicht, als diese ratlos das Paket schüttelte, bevor sie damit begann, es vorsichtig zu öffnen. Just in dem Moment, als sie hineinschauen wollte, nahm Stephan ihr den Karton aus der Hand und entleerte ihn über ihrem Kopf. »Happy Birthday!«, rief er, während sich Sophie reflexartig und sichtlich überrascht unter dem Geldregen duckte.

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244 Vom Flughafen Köln/Bonn, also quasi direkt vor ihrer Haustür, startete Anfang Oktober Stephans und Sophies Urlaubsflieger. In Deutschland war der Sommer vorbei und umso mehr freuten sie sich auf Sonne und Meer. Schwein gehabt, dachte Stephan, nachdem ihr Flieger abgehoben hatte, und blickte lächelnd auf die Stadt hinunter. Für ihn gab es nämlich noch einen weiteren Grund, sich auf die Reise zu freuen, so ganz nebenbei entkam er auf diese Weise einem alten Brauch. Sein dreißigster Geburtstag stand unmittelbar bevor, und da er noch nicht verheiratet war, hätte er die Rathaustreppe fegen müssen, bis eine Jungfrau ihn freigeküsst hätte. Den Rest seines Lebens mit einem Besen auf einer Rathaustreppe zu verbringen, war nicht unbedingt sein Lebensziel. Und bei dieser Überlegung ging er nicht unbedingt von der Länge der Treppe aus. »Ping!« Gleichzeitig mit dem Signalton erloschen auch die 'Bitte- nicht-rauchen'-Leuchten über den Sitzen. Sofort brach bei den Rauchern an Bord eine rege Betriebsamkeit aus. Es wurde in Taschen und Jacken gekramt und kurz darauf leuchteten auch schon die ersten Feuerzeuge auf. Natürlich auch bei Sophie und Stephan. Genüsslich lehnte sich Stephan zurück und freute sich auf zehn Tage entspannten Urlaub und einen ruhigen Geburtstag in der Türkei.

Ihr Aufenthalt in Alanya erfüllte alle Kriterien eines Pauschalurlaubs: Es gab Sonne, Strand und Meer. Man stand zu den Mahlzeiten in der Schlange am Buffet und putzte sich anschließend die Zähne mit Wasser aus Wasserflaschen. Da man das aber genauso wenig gewöhnt war wie

245 türkisches Essen, verbrachte man in den ersten Tagen auch viel Zeit mit längeren Sitzungen auf der 'gemütlichen' Toilette des Hotelzimmers. Auf Sightseeing-Touren in die Umgebung und beim Stadtbummel trank man türkischen Tee und kaufte 'günstig' Lederbekleidung und Gold. Doch auch der schönste Urlaub ging irgendwann zu Ende und sie mussten den Heimflug antreten.

Flughafen Köln/Bonn. Neun Grad. Wieder einmal Regen. Mit kurzer Hose und T-Shirt stand Stephan vor Kälte zitternd mit Sophie, die ebenfalls sommerlich gekleidet war, am Taxistand vor dem Ankunftsterminal. »War es Mitte Oktober hier sonst nicht wärmer?«, fragte Stephan, während die beiden bibbernd an einer Aufwärmzigarette zogen. Typisch, nie war ein Taxi da, wenn man es brauchte.

»Sie sehen aber gut erholt aus«, sagte kurz darauf der Taxifahrer freundlich und blickte anerkennend auf ihre Urlaubsbräune. Wie oft der diesen Satz wohl heute schon gesagt hat?, dachte Stephan. Doch dass mit der aufgesetzten Freundlichkeit nur der Grundstein für ein gutes Trinkgeld gelegt werden sollte, merkte er sofort, als er die Koffer alleine in den Kofferraum wuchten musste. »Akazienweg 20? Porz-Grengel? Na, das Stückchen hätten sie auch zu Fuß laufen können!« Schlagartig war es mit der Freundlichkeit ihres Chauffeurs vorbei, als er das Fahrtziel erfahren hatte. Stephan hoffte nur, dass sie nicht gleich wieder ausgeladen

246 wurden. Zehn Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht und Stephan wollte nur noch ins Haus. Deshalb sah er auch wohlwollend über den Umweg hinweg, den ihr Fahrer genommen hatte, offensichtlich um seinen Verdienst etwas aufzupäppeln. Er hatte gerade die Koffer aus dem Kofferraum gezerrt und den Deckel geschlossen, als das Taxi auch schon mit quietschenden Reifen davon schoss. Kurze Fahrt und noch nicht einmal Trinkgeld, das Leben konnte manchmal wirklich hart sein.

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Die Kälte, die Stephan und Sophie in Deutschland empfangen hatte, ließ keinen Zweifel mehr daran, dass der Winter nun immer näher rückte. Mit dem Winter kam auch das Fest der Liebe, für das sich die beiden eine ganz besondere Weihnachtsüberraschung ausgedacht hatten. Zwischen die Geschenke schoben sie an allen drei Tagen für ihre Familien noch kleine Umschläge. Anschließend konnten sie es kaum erwarten, die verdutzten Gesichter zu sehen, wenn ihre Lieben die beigelegten Karten lasen. Stephan und Sophie hatten geheiratet. Heimlich und ganz ohne großes Drumherum, dafür gehörten sie nun zu den Wenigen, die den 24. Dezember als Hochzeitsdatum in ihren Eheringen führten.

247 Die 5. letzte Zigarette

1993 42. Präsident der USA wird Bill Clinton, der ein paar Jahre später aufgrund eines Lippenbe- kenntnisses seiner Praktikantin um seinen Job zittern muss. Die Twin Towers des World Trade Centers in New York erzittern das erste Mal nach einem Anschlag. Doch noch schreiben wir die Zeit vor 9/11. In Deutschland wird die Postleitzahl reformiert und ist nun fünfstellig. Ganz ohne Postleitzahl kommt eine einsame Insel aus, auf der Dinos im 'Jurassic Park' ein paar Menschen ihren ganz besonderen Stempel aufdrücken. Im letzten Jahr der Film, in diesem Jahr die Musik. Whitney gesteht ihrem Bodyguard, dass sie ihn immer lieben wird. Einen anderen Schrei nach Liebe hören wir von den Ärzten. Die beste Band der Welt ist zurück! Eine noch unbekannte Gruppe aus Schweden besingt währenddessen international das, was eine geheimnisvolle 'Dame' alles will und macht aus ihren Fans kurz darauf eine Happy Nation.

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Stephan drehte das Autoradio wieder leise, nachdem die letzten Töne von All that she wants verklungen waren. Er zündete sich die x-te Zigarette an, um die Augen offen zu halten. Die A1 zog sich mal wieder und er hatte gerade mal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht. Gleich müsste die

248 Ausfahrt Richtung Wilhelmshaven auftauchen. Stephan dachte daran, wie oft er hier nach einem schönen Wochenende bei Sophie in Lindlar abgefahren war. Doch Wilhelmshaven war nun Vergangenheit und die Zukunft lag im Ausgang der Offiziersausbildung, die heute in Flensburg beginnen sollte. Seit Stephan in der Frühe seine Papiere in Bonn abgeholt hatte, gondelte er nun schon mit seinem kleinen Opel quer durch Deutschland. Von seinen Kollegen und Freunden im Sanitätsamt hatte er sich genauso verabschieden müssen, wie einige Wochen zuvor von seinem BMW. Erneut hatte der TÜV ihm einen Fahrzeugwechsel nahegelegt. Am Nachmittag verließ Stephan dann endlich die Tristesse der A7 zwischen Hamburg und Flensburg, die von dem grauen und ungemütlichen Wintertag noch einmal unterstrichen wurde. Der überquellende Aschenbecher in seinem Wagen zeugte ebenfalls von der anstrengenden Fahrt, die nun aber hinter ihm lag. Bevor er zur Marineschule Mürwik fuhr, machte er allerdings noch einen kurzen Abstecher über den Marinestützpunkt. Auf den ersten Blick hatte sich in den zurückliegenden Jahren seit seinem Weggang nicht viel verändert. Allerdings fehlten die vielen grauen Schiffe, die er immer so sehnsüchtig betrachtet hatte. Der Stützpunkt war bis auf ein paar Schiffe der ehemaligen NVA wie leer gefegt. In Kürze würden auch sie verlegt und der Marinestützpunkt endgültig geschlossen. Die Offiziersschule hatte Stephan damals nie so wahrgenommen, da er sich meistens im Stützpunkt aufgehalten hatte. Jetzt stand er vor dem Haupteingang und blickte beeindruckt auf die mehr als achtzig Jahre alte Anlage, der die Marienburg bei Danzig als Vorbild gedient hatte. Über dem Hauptgebäude erhob sich ein hoher Turm

249 wie ein mächtiger Bergfried, und als Stephan das sogenannte rote Schloss am Meer schließlich betrat, schlug ihm eine schon fast sakrale Atmosphäre entgegen. Spätgotische Spitzbögen und Arkaden, Wandgemälde und das Bleiglasfenster im Eingangsbereich ließen ihn ehrfürchtig staunend verharren. Hier stand er also nun in der Alma Mater aller Seeoffiziere der letzten acht Jahrzehnte. Es kam ihm so vor, als würde er förmlich Marinegeschichte atmen. Bin ich hier wirklich richtig, dachte Stephan auf einmal zweifelnd und hatte plötzlich so gar keine Lust auf Veränderung. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrt gemacht und wäre in die Gegenwart zu seiner Sophie zurückgekehrt. Doch dafür war es nun zu spät. Also Augen zu und durch.

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In den folgenden Monaten prasselte ein Haufen Lehrstoff auf Stephan und die anderen Lehrgangsteilnehmer herein. Innere Führung, Methodik der Ausbildung, Englisch, Wirtschafts- und Schiffslehre sowie Navigation gehörten dabei genauso zum Lehrplan wie Wetterkunde und praktische Seemannschaft. Oft brannten die Lichter in den Zimmern der Offiziersanwärter noch bis weit in die Nacht. Meistens ein untrügliches Zeichen dafür, dass für den nächsten Tag wieder einer der zahlreichen Leistungsnachweise angekündigt worden war. Der Lernstress führte dazu, dass auch Stephans Zigarettenkonsum wieder deutlich anstieg. In jeder Fünfminutenpause wurde eine Zigarette zur Entspannung

250 angesteckt und abends, wenn er sich wieder einmal auf eine der Prüfungen vorbereitete, glühte nicht nur die Kaffeemaschine. Freitags hieß es dann so schnell wie möglich raus aus der Schule und ab zum Bahnhof. Zusammen mit zwei Mitschülern hatte er eine Art Fahrgemeinschaft gebildet, die sich aufgrund der langen Fahrtstrecke für die ’Vorzüge' der Deutschen Bahn entschieden hatte. Da war Olaf, der seit vielen Jahren in München wohnte. Er verließ ihre Dreiergruppe als Erster, da er in Hamburg in den ICE umsteigen musste. Selbst von dort hatte er von ihnen immer noch die längste Strecke vor sich. Die kürzeste Strecke lag vor Thomas. Er fuhr mit Stephan weiter bis Dortmund, wo er dann den Zug verließ. Ab hier war Stephan alleine und ließ seinen Blick durch die Alltagswelt der vorbeiziehenden Städte schweifen. Autos und Busse fuhren in hell erleuchteten Straßen. Rettungswagen bogen mit zuckendem Blaulicht in Seitenstraßen und Menschen eilten durch neonfarbene Fußgängerzonen. Hinter nackten Wohnungsfenstern wurde gekocht und geputzt. Anonyme Köpfe saßen vor flimmernden Fernsehern und im Sommer genossen prall gefüllte Feinripp-Unterhemden die Abendsonne auf Balkonien. Direkt hinter dem Düsseldorfer Bahnhof lehnten meist leicht bekleidete Damen in nummerierten Fenstern und rauchten vermutlich Pausenzigaretten, bis sie sich wieder in ihr horizontales Gewerbe zurückzogen.

An diesem Abend Ende Juni hatte Stephan von all dem nicht viel mitbekommen. Kurz nachdem Thomas das Abteil verlassen hatte, war er eingenickt und erst wieder aufgewacht, als der Zug bereits die ersten Kölner Vororte

251 erreichte. Die Streben der Hohenzollernbrücke unterbrachen stroboskopartig den Blick auf den Rhein und kündigten den nahen Hauptbahnhof an. Aufgeregt öffnete Stephan das Abteilfenster, und während der Zug mit kreischenden Bremsen in den Bahnhof einfuhr, suchte er sehnsüchtig in der Menschenmenge auf dem Bahnsteig nach dem geliebten Gesicht. Endlich fand er es und winkte ihr wild aus dem offenen Fenster zu. Keine Minute später lagen sich Stephan und Sophie wieder glücklich in den Armen.

Zuhause ließ sich Stephan erschöpft von der langen Reise aufs Sofa fallen und zündete sich eine Zigarette an. Sophie setzte sich neben ihn und schaute ihn plötzlich mit einem geheimnisvollen Lächeln an, das ihm schon auf dem Bahnsteig aufgefallen war. »Ist was?«, fragte er. Wortlos reichte sie ihm einen Briefumschlag. Stephan öffnete ihn verwundert und zog ein merkwürdiges Schwarz-Weiß-Bild hervor. Auf den ersten Blick erkannte er nur ein eigenartiges Muster und viele kleine Zahlen, doch schon bald realisierte er, was er da in seiner Hand hielt. »Ist es das, was ich glaube?« Sophie nickte und legte die Arme um seinen Hals. »Herzlichen Glückwunsch, Papa«, sagte sie leise und gab ihm einen zärtlichen Kuss.

Stephan war hin und weg. Er hatte zwar nie direkt mit Sophie über Kinder gesprochen, aber irgendwann

252 hätten sie schon gerne welche gehabt. Sie wollten das Schicksal entscheiden lassen und das hatte es offensichtlich nun getan. In ihren Familien sorgte diese freudige Nachricht ebenfalls für helle Aufregung, schließlich wurden damit die ersten Rollen als Oma und Opa sowie als Onkel und Tante verteilt.

Stephan bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht, als er an diesem Sonntag zurück nach Flensburg fuhr. Versonnen blickte er aus dem Fenster und ließ die Landschaft an sich vorüberrauschen. Eigentlich ein idealer Anlass, um mit dem Rauchen aufzuhören, dachte er und zog kurzentschlossen seinen Tabak aus der Jackentasche. Nachdenklich betrachtete er ihn. Er dachte an die endlosen Zugfahrten an den Wochenenden und die Fünfminutenpausen zwischen den Unterrichtsstunden. Und wie sollte er sich ohne Zigaretten bis spät in die Nacht auf die Leistungsnachweise vorbereiten? Schnell wurde ihm klar, dass er trotz der Motivation aller Motivationen sicher nicht durchhalten würde. Zumindest noch nicht. Er drehte sich eine Zigarette, und während er genüsslich den ersten Zug nahm, beschloss er, den Beginn der Nichtraucherkarriere auf den nächsten Urlaub zu verschieben. Bis dahin würde er jedoch nicht mehr in der Wohnung rauchen.

Der Urlaub kam und die Zigaretten gingen. Um den Entzug etwas zu erleichtern, baute Stephan diesmal auf die

253 Hilfe von Nikotinpflastern. So ließen sich die Nikotinzwerge sicher erheblich leichter in Schach halten. Hoffte er. Der Urlaub ging, die Pflaster hatten ihre Schuldigkeit getan und Stephan nun schon drei Wochen nicht mehr geraucht. Doch nun, wo er aufs Neue im Zug saß, merkte er plötzlich, wie sich schlechte Gewohnheiten nach und nach immer wieder in den Vordergrund drängten. Die endlose Langeweile auf der Schiene wechselte sich mit zunehmendem Schulstress ab und je weiter es auf die Zielgerade ging, desto mehr nahm die Anzahl der Prüfungen zu. Auf diese Chance hatten die Nikotinzwerge nur gewartet und begannen ihn in gewohnter Weise zu piesacken. Weil es so einfach war, weit weg von Zuhause eine Zigarette zu rauchen, blieben die anfänglichen Versuche, ihnen zu widerstehen, innerhalb kürzester Zeit erfolglos. Nur zu Hause bei Sophie hielt Stephan den Schein weiter aufrecht.

* * *

Im September erhielt die Marineschule Besuch von einem Vertreter des Personalamtes, der die Offiziersanwärter über ihre erste Offiziersverwendung informierte. Stephan hatte sich bereits damit abgefunden, dass er ab Anfang Oktober wieder für ein Jahr auf seine 'heiß geliebte' Insel musste, um den nächsten Fachlehrgang zu absolvieren. Dass es dabei nicht bleiben sollte, erfuhr er jetzt. »Alle Offiziere des Sanitätsdienstes gehen als Erstes zur Ausbildung«, sagte der Oberstleutnant freundlich, aber bestimmt. »Also entweder nach Sylt oder nach München. Bis morgen brauche ich Ihre Entscheidung!«

254 Stephan bekam plötzlich so ein komisches Gefühl im Magen. Beide Optionen gefielen ihm überhaupt nicht. Allerdings war er auch nicht zur Marine gegangen, um in den Bergen seinen Dienst zu verrichten. Aus diesem Grund kam München für ihn eigentlich nicht infrage. Dennoch wollte er alles noch einmal mit Sophie besprechen. Am Telefon gingen sie an diesem Abend das Für und Wider beider Möglichkeiten durch und kamen letztlich überein, nach Sylt zu gehen. Das hatte auf jeden Fall schon mal den Vorteil, dass die beiden schon bald wieder jeden Tag zusammen sein könnten. Für die kleine Familie, die sich ja bald vergrößern sollte, sicherlich nicht die schlechteste Entscheidung.

Am 4. Oktober blickte Stephan dann mit entsprechend gemischten Gefühlen zu seiner alten 'Liebe' hinüber, als er mit dem Autozug den Hindenburgdamm überquerte. Sylt sollte bald sein Zuhause werden. Ein Zuhause, dem er nun schon so oft den Rücken gekehrt hatte. Jedes Mal in der Hoffnung, nie mehr hierhin zurückkommen zu müssen. So langsam fühlte er sich schon wie eine Art Sylt-Bumerang. Doch tief in seinem Innersten freute er sich auch, wieder hier zu sein. Eine gewisse Faszination übte die Insel offenbar noch immer auf ihn aus.

Die Offiziersanwärter wohnten in List nicht in der Kaserne, sondern etwas abseits in direkter Nähe des Offiziersheims, das sich auf einer Düne majestätisch über den Ort erhob. Am Fuß der Düne lagen drei kleine Wohnblocks, die sogenannten Strandhäuser, die sich mit ihren Reetdächern harmonisch in die Landschaft fügten. Nur ein niedriger Jägerzaun trennte sie von der Promenade

255 am Lister Oststrand und dem Wattenmeer. Trotz dieser angenehmen Unterbringung sichtete Stephan sofort die Sylter Wohnungsanzeigen. So schnell wie möglich wollte er Sophie zu sich holen und damit endlich die Wochenendpendelei beenden. Am besten noch vor der Geburt ihres Kindes. Ein Vorhaben, das auf dem Sylter Wohnungsmarkt keinen großen Erfolg versprach. So ruhten seine Hoffnungen schon nach kurzer Zeit fast nur noch auf der schnellstmöglichen Zuteilung einer Bundeswohnung. Neben der Wohnungssuche hielt ihn natürlich auch der nächste Lehrgangsteil auf Trab. In den kommenden zwölf Monaten mussten sich ihm nun Themen wie Personalführung, Organisation und Logistik erschließen. So gingen auch die letzten Wochen des Jahres ins Land, bis schließlich der zweiwöchige Weihnachtsurlaub begann. Zusammen mit Olaf, dem Einzigen, der außer Stephan noch aus der kleine Flensburger Reisegruppe übriggeblieben war, rauschte er über den Hindenburgdamm Richtung Hamburg. Ein letztes Mal fraßen sie in diesem Jahr Hunderte von Eisenbahnkilometern und Stephan beneidete seinen Freund nicht, der die gesamte Republik von Nord nach Süd durchqueren musste. Ihm reichten schon die sieben Stunden bis nach Köln. Hoffentlich klappt es bald mit der Wohnung, dachte er und wusste in diesem Moment, was er sich an Silvester wünschen würde.

256 257 Familienzuwachs

1994 In Südafrika ist Apartheid von nun an nur noch düstere Geschichte und Nelson Mandela wird der erste schwarzafrikanische Präsident dieses schönen Landes. Besser hätte diese Wende nicht ver- körpert werden können. Im Gegensatz zu seinem Comicvorbild Dagobert hat der Kaufhauserpresser Arno Funke seinen Geldspeicher nicht wirklich füllen können. Endlich hat der Spuk ein Ende. Wie wäre es denn jetzt mit einer Karriere als Panzerknacker? Dagoberts Tunnel im Kleinen, Eurotunnel im Großen. England ist nun dauerhaft mit dem Festland verbunden. Nicht mehr verbunden sind die olympischen Winter- und Sommerspiele, ab sofort finden sie in einem zweijährigen Wechsel statt. Die Sportwelt trauert um Roland Ratzenberger und den legendären Ayrton Senna. Am schwarzen Wochenende von Imola verunglücken die beiden Sportler tödlich. In ihrem Schatten wird Schumi der erste deutsche Weltmeister in der Formel 1. Einen noch größeren Schatten wirft ein tragisches Schiffsunglück. Auf der Ostsee reißt die Fähre 'Estonia' 852 Menschen in ihr nasses Grab. Die Musikwelt verliert auch einen großen Musiker, als Kurt Cobain freiwillig ins Nirwana geht. Die einen gehen, für die anderen beginnt der Erfolgsweg. 'Limp Bizkit' und 'Rammstein' stehen am Anfang ihrer Karrieren, ein paar ausgeflippte

258 Schweden fiedeln einen Cotton Eye Joe und ein Unterwäschemodel vereinigt sich mit einem Reggae-Sänger. - United. Im Fernsehen geht ein Deutscher Schäferhund zum ersten Mal in Österreich auf Verbrecherjagd, während im Kino ein liebenswerter Lebenskünstler eine tiefgründige Weisheit prägt. - »Dumm ist, wer Dummes tut!« - Danke, Forrest Gump!

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Wenn es danach ging, war Stephan auch dumm. Er rauchte nämlich immer noch, und das, obwohl er mehr als genug Gründe hatte, um endlich aufzuhören. Doch er fand einfach keinen Weg, sich von den hartnäckigen Nikotinzwergen zu befreien, die ihrerseits jede Gelegenheit nutzten, um ihn zu piesacken. Sei es der Lehrgang oder die immer noch erfolglose Wohnungssuche, die ihn permanent unter Strom hielten. Außerdem war da ja noch die hochschwangere Sophie, die er nur an den viel zu kurzen Wochenenden sah. Der errechnete Geburtstermin war Anfang Februar und bis dahin war es nicht mehr lang. Stephan wünschte sich nichts sehnlicher, als bei der Geburt dabei sein zu können. Doch große Hoffnung hatte er nicht, schließlich hielt er sich den größten Teil der Woche im nördlichsten Dorf Deutschlands auf. Bis zum ersten Wochenende im Februar hatte sich allerdings noch nichts getan. Vielleicht habe ich ja Glück, dachte Stephan, als er an diesem Freitag nach Hause fuhr. Doch dort gab es noch keinerlei Anzeichen dafür, dass er nach diesem Wochenende

259 als stolzer Papa wieder nach List fahren würde. Alles nahm seinen gewohnten Gang und Stephans Gesicht wurde von Tag zu Tag länger. Am Sonntag statteten sie noch Sophies Mutter einen Besuch ab und aßen noch gemeinsam Mittag, bevor Stephan und Sophie wieder nach Köln mussten, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Stephan hatte bereits die Jacke an, als Sophie ihn auf einmal so komisch ansah. »Ich glaube, es geht los«, sagte sie und hielt sich den Bauch. »Bist du sicher?«, fragte er, denn es wäre nicht das erste Mal, dass es nur blinder Alarm war. »Ziemlich sicher«, sagte sie. Stephan überlegte fieberhaft. Was sollten sie tun? In einer knappen Stunde fuhr sein letzter Zug nach Sylt. Sollte er ihn sausen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass es vielleicht doch noch nicht so weit war? Sophie sah ihn fragend an. »Soll ich dich noch zum Zug bringen?«, fragte sie leise. »Quatsch«, sagte er bestimmt. Er hatte sich entschieden, das Risiko einzugehen. Man würde ihm schon nicht den Kopf abreißen. Kurz darauf fuhren die beiden los und anstatt zum Kölner Hauptbahnhof ging es zum 'Babybahnhof' nach Bergisch-Gladbach.

Stephans Entscheidung war goldrichtig gewesen, wie sich kurz darauf im Krankenhaus herausstellte. Auch wenn Sophie und er noch auf eine größere Geduldsprobe gestellt wurden, war es dann in den frühen Morgenstunden des 7. Februar soweit. Dominik machte seinen ersten Schrei. Es dämmerte bereits, als die Hebamme Stephan

260 schließlich davon überzeugen konnte, dass auch Mutter und Kind nun etwas Ruhe vertragen könnten. Vollkommen geschafft, müde und erschöpft, aber gleichzeitig auch hellwach und aufgedreht, erreichte er wohlbehalten ihre Wohnung. Er ließ sich aufs Sofa fallen und zündete sich erst einmal eine Zigarette an. Das muss jetzt einfach sein, dachte er, während er seine zitternde Hand betrachtete. Ich muss jetzt erst einmal runterkommen. Nach der dritten Zigarette und einem kräftigen Kaffee fühlte er sich endlich in der Lage, den Telefonmarathon zu starten, schließlich wollte er sein Glück auch in die Welt hinaustragen. Nachdem Stephan seine Liste abtelefoniert hatte, rief er zum Schluss noch in List an, um sein Fehlen zu entschuldigen. Tatsächlich riss man ihm nicht den Kopf ab, sondern gab ihm mit den herzlichsten Glückwünschen versehen noch Urlaub für den Rest der Woche. Ermattet ließ Stephan den Hörer auf die Gabel fallen und schloss die Augen. Ich bin Papa, dachte er glücklich lächelnd und schlief im selben Moment im Sitzen ein.

Sophie war heilfroh, dass sie bereits nach ein paar Tagen wieder nach Hause durfte. Der Trubel auf einer Entbindungsstation eignete sich so gar nicht dazu, zur Ruhe zu kommen. Schlief das eigene Kind endlich, schrie sofort ein anderer Neuankömmling irgendwo. Und machten die Kleinen ausnahmsweise mal keinen Rabatz, fielen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Scharen von glücklichen Omas, Opas, Tanten, Onkeln, Neffen, Brüdern und Schwestern über die Station her. Doch auch zu Hause mussten Stephan und Sophie sich

261 umstellen. Ein neuer König hatte bei ihnen Einzug gehalten und von nun an würde Dominik I. den Tagesablauf bestimmen. Die beiden glücklichen Eltern merkten schnell, dass es für alle Beteiligten das Beste wäre, sich dieser neuen Macht zu beugen.

Durch die Hundswachen an Bord hatte Stephan bereits seine Erfahrungen mit Schlafentzug zwischen zwölf und vier gemacht und war dadurch prädestiniert, sich nachts um seinen schreienden Prinzregenten zu kümmern. Während Sophie selig weiterschlummerte, bereitete er Dominik den 'Mittelwächter' und frischte dessen Hose auf. Nachdem auch sein Sohn wieder ins Traumland entschwunden war, belohnte sich Stephan für seinen selbstlosen Einsatz regelmäßig mit einer Zigarette. So stand er auch an diesem Abend mal wieder nur mit einem Schlafanzug bekleidet auf dem Balkon und genoss bibbernd seine Entschädigung. Er ließ seinen Blick über die Dächer von Köln schweifen und dachte daran, wie sich die ersten Sorgen inzwischen verflüchtigt hatten. Sophie war nicht mehr schwanger und er hatte seine Vaterrolle übernommen. In diesem Takt kann es eigentlich weitergehen, dachte Stephan. Jetzt brauchen wir nur noch eine neue Wohnung.

* * *

Stephans Wunsch ging dann auch schneller in Erfüllung, als er sich gedacht hatte. Schon gleich in der folgenden Woche bat ihn das Bundesvermögensamt zu einer Wohnungsbesichtigung in die Marinesiedlung

262 nach Westerland. Bereits zum ersten März könnten sie dort eine Wohnung beziehen. Neugierig fuhr Stephan nach Westerland und staunte nicht schlecht, als er die Adresse erreichte, die man ihm mitgeteilt hatte. Bei der 'Wohnung' handelte es sich um eine Haushälfte unter Reet, in die er sich sofort verliebte. Das fasse ich nicht, dachte er überwältigt und rieb sich die Augen. Sollte das wirklich ihr neues Heim werden? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er trotz seiner vielen Aufenthalte auf Sylt noch nie von der Marinesiedlung gehört. Dies lag sicher auch daran, dass sie weiter westlich und abseits der Hauptverkehrsstraße zwischen Westerland und List lag. Langsam stieg er aus seinem Wagen und schaute sich um. Rote zweigeschossige Backsteinhäuser mit kleinen weißen Sprossenfenstern duckten sich hier unter ausladende Reetdächer. Umgeben von schön eingewachsenen Gärten, ließ die Siedlung auch jetzt Ende Februar bereits erahnen, welche Idylle hier schlummerte. »Moin! – Meyer«, sagte die freundliche Dame, die ihn bereits vor der Haustür erwartete. Nachdem auch er sich vorgestellt hatte, schloss sie die Tür auf und bat ihn herein. Durch einen kurzen Windfang kamen sie in den Flur im Erdgeschoss, von dem eine teppichbelegte Holztreppe ins obere Geschoss führte. Geradeaus befand sich ein kleines Bad und rechts ging es in den

263 großen Wohn-und Esszimmerbereich, von dem man auch die separate Pantry-Küche erreichte. Die restlichen zwei Räume der fünfundsiebzig Quadratmeter großen Wohnung befanden sich im Obergeschoss. Die gesamte Wohnung war zusätzlich noch unterkellert und bot somit mehr als genug Platz für eine dreiköpfige Familie. Zum Schluss führte die Besichtigung noch in den kleinen Garten hinter dem Haus. Dieser war durch sogenannte Friesenwälle von den Nachbargärten abgetrennt. Darüber hinaus markierten Hecken aus Liguster und den inseltypischen Syltrosen die Grundstücksgrenzen. Stephan war restlos begeistert. Ein wenig erinnerte ihn die Haushälfte an Omas Haus auf Baltrum. Wenn er hier wirklich mit Sophie und Dominik einziehen könnte, wäre das der Traum schlechthin. Erst als er einige Tage später zusammen mit Sophie in Köln ihre Unterschriften unter den Mietvertrag setzte, glaubte auch er daran, dass dieser Traum sich wirklich erfüllt hatte.

Über Sylt war inzwischen noch einmal der Winter hereingebrochen und der Schnee hatte die ganze Insel in eine Märchenlandschaft verwandelt. Da ihr neues Heim bereits frei war, machte sich Stephan mit ein paar Freunden aus seinem Lehrgang daran, die von Sophie gewünschten Farbvariationen an die Wände zu bringen.

Dann war es endlich soweit. In Köln stand der Umzugswagen vor der Tür, und während Dominik wohl behütet bei Sophies Mutter weilte, flitzten seine Eltern in der

264 Kölner Wohnung hektisch hin und her. Sophie achtete ganz besonders darauf, dass die Möbelpacker auch alles so verpackten, dass man es hinterher wieder finden konnte. Nach und nach verschwand ihr ganzes Hab und Gut in einer Vielzahl unterschiedlich großer Kartons. Die Wohnung wurde zusehends leerer, bis schließlich auch der letzte Umzugskarton im Möbelwagen verstaut war. Noch einmal gingen die beiden durch alle Räume, um sich von ihrer ersten gemeinsamen Wohnung zu verabschieden, in der sie sogar mal ein Erdbeben überstanden hatten. Am nächsten Morgen riss Stephans Wecker ihn in aller Frühe aus dem Schlaf. Es war Zeit, die Verfolgung der Möbelpacker aufzunehmen, mit denen er sich am ersten Autozug verabredet hatte. Stephan spulte mit einem Kaffee und einer Zigarette sein Morgenprogramm ab und sprang in den kleinen Kadett, der bereits abfahrbereit gepackt war. Sophie würde ihm dann in knapp einer Woche folgen und zusammen mit ihrer Mutter und Dominik mit dem Zug fahren. Dafür begleitete ihn ihr Kater Friedhelm auf der bevorstehenden Reise. So früh am Tag waren die Straßen noch wenig befahren, so dass Stephan gut im Zeitplan blieb. Mit den altbewährten Frischluftduschen bei geöffneter Seitenscheibe und vielen Zigaretten hatte er auch die immer wiederkehrende Müdigkeit gut unter Kontrolle. Kurz vor der Autobahnausfahrt Flensburg überholte er sogar den Möbelwagen. Nach einem kleinen Nickerchen auf dem Autozug erreichte er schließlich ihr neues Heim in Westerland. Er nutzte die Zeit bis zum Eintreffen des Möbelwagens und lud schon mal seinen Wagen aus, während Friedhelm neugierig sein neues Revier inspizierte.

265 »Wo kommt der Karton hin?« »Soll die Lampe hier aufgehängt werden?« »Können Sie 'mal gucken, ob der Schrank hier richtig steht?« Stephan raste kreuz und quer durch die Wohnung. Die Möbelpacker schienen überall zu sein und hatten auch überall eine Frage. Wurde darauf einmal nicht schnell genug reagiert, konnte es passieren, dass auf einmal eine Gardinenstange nicht in dem Zimmer angebracht wurde, wo sie eigentlich angebracht werden sollte. Stephan machte jedes Mal drei Kreuze, wenn die Packer eine Pause einlegten, um eine Zigarette zu rauchen. Zipp, und schon qualmte es auch bei ihm. »Soll das hier in den Keller?« Kaum war die letzte Zigarette verglüht, begann die Frage- Antwort-Rallye von vorne. Doch irgendwann waren alle Fragen beantwortet und alle Kartons ausgepackt. Stephan quittierte die erledigten Arbeiten, drückte dem Vorarbeiter das Trinkgeld in die Hand, bedankte sich noch einmal und ließ erleichtert die Haustür ins Schloss fallen. Geschafft! Er ging ins Esszimmer und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Jetzt erst mal eine rauchen, dachte er und wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als ihn ein kratzendes Geräusch am Fenster wieder hochjagte. Friedhelm hatte offenbar genug herumgestromert. Laut miauend sprang er in die Wohnung, nachdem Stephan das Fenster geöffnet hatte, und gab erst wieder Ruhe, als auch sein Fressnapf ordentlich gefüllt vor ihm stand.

Die erste Nacht im neuen Heim schlief er wie ein Stein und sein Wecker hatte Mühe, ihn am nächsten Morgen in

266 den Alltag zurückzurufen. Nachdem die zwei Tage Umzugsurlaub vorbei waren, begann nun auch für Stephan wieder der Ernst des Lebens. Er musste zurück auf die Schulbank. Tagsüber im Hörsaal und danach nach Hause, das war schon ein ungewohntes Gefühl, aber auch eines, an das man sich durchaus gut gewöhnen konnte.

* * *

In den Tagen bis zu Sophies Ankunft hatte Stephan der Einrichtung noch schnell den letzten Schliff verpasst und die Wohnung so gut dekoriert, wie ein Mann das eben konnte. Jetzt stand er am Westerländer Bahnhof und blickte ungeduldig den Bahnsteig entlang, während er nervös an seiner Zigarette zog. Im Gegensatz zu den Erfahrungen, die er in den vergangenen Monaten gemacht hatte, zeichnete sich die Deutsche Bahn wenigstens heute mit Pünktlichkeit aus. Hastig trat Stephan die Zigarette aus und steckte sich einen Kaugummi in den Mund, bevor er dem einfahrenden Zug entgegenging. An jeder Waggontür blieb er kurz stehen und versuchte sie zwischen den ganzen Menschen zu entdecken. Dann standen sie auf einmal vor ihm. »Da seid ihr ja«, sagte Stephan und drückte Sophie und Dominik fest an sich, bevor er auch Sophies Mutter umarmte. Auf der Fahrt nach Hause unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten und Stephan konnte es kaum erwarten, dass Sophie endlich ihre neue Wohnung sah.

Herzlich willkommen! Stolz präsentierte Stephan den Eingang, über den er einen

267 aus bunten Buchstaben bestehenden Schriftzug angebracht hatte. Diesmal führte er die Hausbesichtigung durch, an deren Ende sie sich zum Kaffee ins Wohnzimmer setzten. »Na, hier habe ich ja die nächsten Tage noch ordentlich zu tun«, sagte Sophie und lächelte ihn milde an. »Wieso, stimmt was nicht?« Er sah sich verdutzt um. Es sah doch alles prima aus. Er hatte sogar vorhin noch einmal überall durchgesaugt. Den Unterschied zwischen dem 'prima aussehen' im Verständnis eines Mannes im Vergleich zu einer Frau sollte er in den folgenden Tagen kennenlernen. Eine Wohnung hübsch zu dekorieren und einzurichten, war zweifellos ein weibliches Talent, und von dem hatte Sophie einiges abbekommen. Nach der Wohnung musste natürlich auch die Gegend erkundet werden. Gleich am nächsten Tag führte sie ihr erster Gang ans Meer. Bis dorthin waren es von ihrem Haus nur knapp vierhundert Meter. Sie überquerten den Strandübergang, und als sie den Schutz der Dünen verließen, schlug ihnen eine steife Frühjahrsbrise entgegen. Sophie und ihre Mutter zogen fröstelnd die dünnen Jacken zu. Dass es auf einmal so kühl wurde, damit hatten sie nicht gerechnet. Trotzdem gingen sie tapfer weiter Richtung Strandpromenade. Vorbei am Strandrestaurant 'Seenot', einer ehemaligen Rettungsschwimmerstation, schafften sie es schließlich bis zum Strandübergang an der Nordhedig. Hier im Windschatten der Dünen wurde es sofort wieder spürbar wärmer, wie vor allem die Damen feststellten. Dominik hatte von alledem nichts mitbekommen, sondern schlief schön dick eingemummelt in seinem Kinderwagen.

268 * * *

In diesem Sommer gaben sich Sophies Geschwister bei ihnen die Klinke in die Hand. Sie waren natürlich neugierig, wie es sich auf Sylt so lebte, und verbanden ihren Besuch auch praktischerweise gleich mit einem Kurzurlaub. Unter normalen Umständen wäre es in der kleinen Dreizimmerwohnung sicher zu eng geworden, doch das herrliche Sommerwetter sorgte dafür, dass man die meiste Zeit am Strand verbrachte.

Dem ersten Sommer der drei Neusylter folgte der Herbst mit seinen stürmischen Vorboten. Stephan hatte den Lehrgang beendet und wurde nun bereits in seiner künftigen Verwendung eingesetzt, wenn auch zunächst als Praktikant. Er wurde Hörsaalleiter in der Maatenausbildung und bekam auch sofort seine ersten eigenen Schüler zugeteilt. Von nun an bestimmte er, wie lange eine Fünfminutenpause dauerte, deshalb entsprach sie meistens genau einer Zigarettenlänge. Das änderte sich erst, als es draußen in den Raucherecken zusehends ungemütlicher wurde. Der Wind schien überhaupt keine Pausen mehr einlegen zu wollen und blies nicht nur die letzten Blätter von den Bäumen, sondern auch schon bald die ersten Schneewolken über die Insel. Selbst den eingefleischtesten Raucher hielt es nun nur noch für ein paar kurze Züge an der frischen Luft. Die Touristenströme der Sommer- und Herbstferien waren längst versiegt und man bereitete sich fast schon wieder auf die Weihnachtsurlauber vor. Als die ersten Gäste, die die Weihnachtstage und Silvester auf Sylt verbringen

269 wollten, Kurs auf die Insel nahmen, ging es für Stephan und seine Kleinfamilie in die entgegengesetzte Richtung. In Lindlar wollten sie in gewohnter Weise das Jahresende verbringen und auch die besuchen, die noch nicht bei ihnen auf Sylt gewesen waren. Für die Überfahrt zum Festland wählten sie diesmal die Autofähre. Dadurch wollten sie vermeiden, dass sich Dominik während der Autoverladung und der Fahrt mit dem Autozug erkältete. »Noch eins?«, fragte Stephan und hielt Sophie das Brotkörbchen hin. So eine Fahrt mit der Fähre hatte, trotz des kleinen Umwegs über Dänemark, schon seine Vorteile, wie er unumwunden zugeben musste. Bis man Rømø erreichte, konnte man gemütlich im Warmen sitzen, in aller Ruhe frühstücken und den Kaffee bei einer guten Zigarette genießen. Viel entspannter konnte man eine so lange Urlaubsreise wirklich nicht beginnen.

270 271 Auf Ötzis Spuren

1995 Die ersten europäischen Staaten treffen in Schengen eine Übereinkunft. Von nun an soll man sich deutlich grenzenloser begegnen. Ein riesiger Öltank namens 'Brent Spar' soll in der Nordsee versenkt werden, doch Greenpeace verhindert die vermeintliche Umweltkatastrophe. Auf der Kinoleinwand sind ganze Städte und Kontinente im Meer versunken. In dieser Wasserwelt geht der Mariner, der noch vor Kurzem als Bodyguard tätig war und auch mit einem Wolf getanzt hatte, auf die Suche nach dem verheißenen trockenen Land. In Deutschland ist alles trocken. Dafür endet dort eine Fahrt zwischen den Meeren in einem bis dahin längsten Einzelstau. Von Flensburg bis Hamburg muss man auf 150 Kilometern Geduld beweisen. Wen das krank macht, der muss ab sofort eine Chipkarte einsetzen, die nun statt Krankenschein für einen Arztbesuch benötigt wird.

Das größte 'Geschenk' der Republik wird in Berlin so schlecht verhüllt, dass auch der Dümmste erkennt, was Christo dort verpackt hat. Zwei richtig Doofe stellen unser Supermodel an eine Lampe und singen laut von Mief. Kein Mief, dafür ein strahlendes Müllproblem, das aber genauso zum Himmel stinkt, wird zum ersten Mal in sogenannten Castoren nach Gorleben transportiert.

Irische Moosbeeren singen von dem Zombie der

272 Gewalt in irischen Köpfen. In diesen Tagen trifft das eher auf die Schlächter auf dem Balkan zu. In Srebrenica werden 8000 Menschen in einer UN- Schutzzone massakriert. Von nun an werden auch deutsche Soldaten dort für Frieden sorgen.

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Im Januar ahnte Stephan noch nichts davon, dass auch er bald im ehemaligen Jugoslawien für Frieden sorgen sollte. Gerade erst aus Lindlar zurück, begann für ihn nun erst einmal wieder der Arbeitsalltag und das gleich mit dem nächsten Lehrgang. Franz, der mit ihm zusammen die Offiziersausbildung durchlief, und er wurden nun auch noch zum Rettungssanitäter ausgebildet. Dabei folgte auf den vierwöchigen Theorieteil ein Krankenhauspraktikum in der Nordseeklinik. Bis hierhin gestaltete sich der Lehrgang relativ unspektakulär und frischte in erster Linie alte Kenntnisse wieder etwas auf. Anders sah das während des Praktikums bei der Westerländer Rettungswache aus, wo er auch zu Einsätzen mit rausfahren würde. In der ersten Woche wurde Stephan zunächst auf die einzelnen Rettungsfahrzeuge, die das Rote Kreuz auf Sylt einsetzte, eingewiesen. Anschließend begleitete er einfache Krankentransporte, die sogenannten Sekundärtransporte, bevor er den Schichtdienstplan für die restlichen drei Wochen erhielt. Ab Montag würde er dann als dritter Mann auf dem eigentlichen Rettungsfahrzeug mitfahren. Entsprechend aufgeregt saß Stephan dann auch im

273 Bereitschaftsraum und zuckte bei jedem Klingeln des Telefons zusammen. Was erwartet mich da draußen?, fragte er sich immer wieder und hoffte, dass er trotz aller Aufregung seine Arbeit richtig machen würde. Zum Glück fuhr er ja mit zwei erfahrenen Rettungsassistenten raus. Die Aufregung legte sich nach und nach und wich schon bald einer genauso an den Nerven zerrenden Zeit des Wartens. Nur gut, dass er seine Zigaretten dabei hatte und sich in die Gruppe der Raucher einreihen konnte, die hier sehr stark vertreten war. Wenn er sich so umsah, gab es eigentlich niemanden, der nicht rauchte. Und so erinnerte der Bereitschaftsraum meistens eher an eine verrauchte Hafenspelunke.

Stephan wollte sich gerade die nächste Zigarette anstecken, als es plötzlich laut hupte. Einsatz! Er sprang auf und hastete Lars und Peter, den beiden Rettungsassistenten, hinterher, die mit ihm die Schicht teilten. Kurz darauf schossen sie auch schon mit dem Rettungswagen aus der Garage und bogen nach links in Richtung Norden ab. »Stark blutende Wunde in List!«, rief Peter ihm durch das Verbindungsfenster zum Fahrerhaus zu. Stephan nickte kurz, dass er verstanden hatte und überlegte. Eine stark blutende Wunde konnte von der Platzwunde bis zur Amputationsverletzung so ziemlich alles sein.

274 In Höhe der Kreuzung bei Wenningstedt wurde er das erste Mal so richtig durchgeschüttelt. Ein unaufmerksamer Autofahrer hatte sie offenbar trotz eingeschalteter Sondersignale übersehen und überhört. Nur im letzten Moment hatte Lars noch ausweichen können. Stephan zog noch einmal seinen Gurt etwas straffer und lugte vorsichtig durch das Fenster zur Fahrerkabine. Dass ihm schon alleine die Blaulichtfahrt den Puls derart hochjagen würde, hatte er sich nicht gedacht. Beschleunigen, bremsen, beschleunigen, ausweichen, bremsen. Kurz hinter Kampen feuerte Lars die nächste Schimpfkanonade ab, als das nächste Hindernis vor ihnen auftauchte. Ein Kipplaster setzte seelenruhig und unbeeindruckt von dem, was hinter ihm passierte, seine Fahrt fort, obwohl sogar schon der Gegenverkehr zur Seite fuhr. Endlich bot sich die erwartete Lücke und Lars gab Gas. Durch das Fenster der Seitentür sah Stephan zu dem völlig überraschten Lastwagenfahrer hinauf, der gerade die Kopfhörer aus den Ohren zupfte.

Der Notfall in List entpuppte sich zum Glück als nicht so dramatisch, und nachdem sie die Patientin in der Nordseeklinik abgeliefert hatten, kehrten sie zur Rettungswache zurück. Lars erledigte den Papierkram, während Stephan und Peter sich eine Zigarette gönnten.

»Kindernotfall in Archsum!«

275 Ein weiteres Mal ging es mit Blaulicht und Martinshorn los. Kindernotfall, Stephans Herz schlug ihm fast bis zum Hals. Es war kein gutes Gefühl, als junger Vater zu einem Kindernotfall zu müssen. Zu seiner Erleichterung stellte sich am Einsatzort heraus, dass es sich bei dem Notfall lediglich um eine leicht erhöhte Temperatur eines zwölfjährigen Mädchens handelte. Da der ärztliche Bereitschaftsdienst angeblich nicht zu erreichen gewesen war, hatten die Eltern eben den Rettungsdienst gerufen. »Nein, ins Krankenhaus kommt unsere Tochter auf keinen Fall«, sagte der Vater des Mädchens bestimmt, als Peter ihm erklärte, dass man ihm ansonsten die Fehlalarmierung in Rechnung stellen müsste. »Wir brauchen doch nur ein paar Fieberzäpfchen. Das kann man ja wohl als Privatpatient erwarten.« Nun bekam auch Lars so langsam erhöhte Temperatur, wie Stephan aus dessen hervortretenden Halsvenen schloss. Doch Peter, der Lars schon ein paar Tage kannte, schob ihn mit beruhigenden Worten zum Wagen zurück. Mit diesem Ausgang seines ersten Kindernotfalls war Stephan sehr zufrieden. Bis zum Ende seines Praktikums wurde es dann auch nicht wesentlich dramatischer, was vor allem daran lag, dass sich noch nicht so viele Touristen auf der Insel befanden. So gab es eben 'nur' eine Oberschenkelhalsfraktur nach einem Sturz vor dem Wienerwald, eine Eiweißüberempfindlichkeit als Folge eines ausgiebigen Fischmenüs und eine Kreislaufschwäche in der Sauna der 'Sylter Welle'. Ende März legten Franz und er erfolgreich die

276 Prüfung zum Rettungssanitäter ab und hatten damit auch den vorletzten Ausbildungsabschnitt hinter sich gebracht. Nun fehlte nur noch ein Fachlehrgang, der ab November an der Sanitätsakademie in München für sie geplant war.

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Der Sommer auf Sylt verwöhnte auch in diesem Jahr wieder mit Urlaubswetter pur. Stephan und Sophie kamen sich schon fast wie Pensionswirte vor, als sie versuchten, die ganzen Besuchsankündigungen ihrer Familien unter einen Hut zu bringen. So groß war ihr Häuschen schließlich auch nicht, auch wenn es noch kein Problem war, ein Zimmer komplett freizumachen. Dominik war noch so klein, dass er für diese Zeit mit ihnen zusammen im Schlafzimmer schlafen konnte. Trotz der Enge genossen Stephan und Sophie die Gesellschaft mit lieben und ihnen wichtigen Menschen. Im Übrigen hatten sie nun auch etwas mehr Zeit für sich, denn mit jedem Besuch kam ja auch ein kostenloser Babysitter. Für November planten sie dann einen längeren Gegenbesuch, wenn Stephan zu seinem Lehrgang nach München musste. Sophie müsste dann nicht die Woche über alleine auf der im Winter doch etwas trostlosen Insel sein. In Lindlar hätte sie nicht nur Gesellschaft von ihrer Familie, sondern könnte sich auch mal wieder mit ihren alten Freundinnen treffen, die sie nun auch schon lange nicht mehr gesehen hatte. Stephan hatte gleichzeitig den Vorteil, nicht jedes Wochenende einmal quer durch die Republik reisen zu müssen, denn was das bedeutete, wusste er nur zu gut

277 aus Olafs Erzählungen.

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Olaf war am Ende des Lehrgangs wieder nach München versetzt worden und begrüßte Stephan und Franz, als diese nun auch an der Sanitätsakademie eintrafen. Von ihrem einheimischen Freund ließen sie sich nun die bayerische Hauptstadt zeigen und nutzten die Gelegenheit, um bereits das eine oder andere Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Stephan, der die Sanitätsakademie nicht in bester Erinnerung hatte, war auf jeden Fall froh, dass er dieses Mal ganz offensichtlich auch ohne Heizlüfter auskam. Zumindest galt dies bis kurz vor Ende des Lehrgangs.

Zur Pflege der Kameradschaft und als gemeinsame Abschiedsveranstaltung war ein leichter Gebirgsmarsch mit einer Übernachtung in den Bergen geplant. Und so ging es für Stephan und die anderen Lehrgangsteilnehmer in der letzten Lehrgangswoche vom Münchener Norden zum Fuße des Hirschbergs, der südlich des Tegernsees lag. In der kleinen Ortschaft Scharling wurde die buntgemischte Truppe, in der Heer, Luftwaffe und Marine vertreten waren, abgesetzt und begann mit der Besteigung des 1670 Meter hohen Bergs. Nachdem sie einige Zeit unterwegs waren, erreichten sie eine Gabelung und Stephan war froh, dass sie dort endlich eine Zigarettenpause einlegten. »Ich kenne da eine Abkürzung«, sagte Xaver auf einmal in bestem Bayerisch und wies auf einen schmalen Pfad zwischen den Bäumen. Er gehörte zur Gebirgsjägertruppe und machte mit seiner gebirgstauglichen Uniform und den Bergschuhen einen vertrauenserweckenden Eindruck. So

278 klang das Wort Abkürzung besonders süß in Stephans Ohren, der dem Bergwandern nicht so viel abgewinnen konnte. Mit seiner Auffassung stand er offenbar nicht alleine da, wie er dem zustimmenden Nicken der meisten seiner Kameraden entnehmen konnte. Selbst ihr Hörsaalleiter, ein junger Hauptmann der Artillerietruppe, zeigte sich durchaus nicht abgeneigt, die Führung an einen allem Anschein nach kompetenten Einheimischen abzugeben. So verließen sie den ausgeschilderten Weg und folgten Xaver auf den schmalen Pfad. Schon nach einigen Hundert Metern wurde der Schnee tiefer und machte die Schritte schwerer. Dazu fing es nun auch noch zu schneien an und Stephan war froh, dass sie sich für die Abkürzung entschieden hatten. Knapp zwei Stunden später hielt sich Stephans Zuversicht deutlich in Grenzen. Wir müssten doch längst da sein, dachte er, während er sich durch den tiefen Schnee kämpfte. Selbst nach der ursprünglichen Planung hätten sie die Berghütte in der Nähe des Gipfels schon erreicht. Unter einer Abkürzung hatte er sich etwas anderes vorgestellt. Stephan machte eine kurze Pause und blickte über die unberührte Winterlandschaft um sie herum, während er umständlich die Hose unter seinem Parka hochzerrte. Im Gegensatz zu ihren Kameraden trugen Franz, Olaf und er die blauen Bord- und Gefechtsanzüge der Marine. Ihre Hosen, die normalerweise zu Halbschuhen getragen wurden und eine dementsprechende Länge hatten, waren schon nach wenigen Metern der Abkürzung aus den Kampfstiefeln gerutscht. Der Saum mit angefrorenem Schnee machte inzwischen nicht nur jeden Schritt schwerer, sondern zerrte auch die Hose herunter. Nur mit Mühe konnten ihre Gürtel eine komplette Entblößung verhindern.

279 »Wir müssen weiter!« Durch den immer dichter werdenden Schneefall mahnte Xaver von weiter oben kleinlaut zur Eile. Stephan dachte auf einmal an die erst einige Jahre zurückliegende Entdeckung des Ötzis. Welche Schlüsse würden wohl ihre Nachfahren ziehen, wenn sie in einigen Tausend Jahren mitten in den Bergen die Eismumien von drei Marinesoldaten entdeckten? Er sah schon die Schlagzeilen der elektronischen Bildzeitung vor sich: Die Geschichte muss neu geschrieben werden! Marinestützpunkt in den bayerischen Voralpen entdeckt! Mittlerweile sah auch ihr Hörsaalleiter nicht mehr ganz so zuversichtlich aus und übernahm schließlich wieder das Kommando. »Wenn wir nicht hinter der nächsten Anhöhe auf die Hirschberghütte treffen, kehren wir um und steigen ab!« Weitere zwanzig Minuten stapften sie durch ein Schneegestöber, in dem sie kaum noch den Untergrund erkennen konnten. Alles um sie herum schien hellgrau und weiß zu sein. Stephan war kalt und zu allem Überfluss meldete sich nun auch noch sein Magen. Er betete zu Gott, dass er sie endlich zur Hütte führen möge. Ihm graute vor dem Gedanken, den ganzen Weg auch noch wieder zurückgehen zu müssen. Dann erreichten sie die Anhöhe der Entscheidung und scheinbar schien Stephan erhört worden zu sein. Mit einem Mal hellte es sich auf, der Schneefall ließ nach und gab den Blick auf die Berghütte frei, die keine vierhundert Meter vor ihnen lag. »Danke!«, sagte Stephan leise und blickte verstohlen in Richtung Himmel. Den verschwitzten und rotbackigen Gesichtern konnte man die Erleichterung ansehen, als nun alle in der Hütte

280 zusammensaßen und sich mit heißer Schokolade und Eintopf stärkten. Später ließ man das Abenteuer des heutigen Tages bei ein paar Bierchen noch einmal Revue passieren, bevor sie sich in ihr Quartier begaben. Dort verflog die gute Stimmung dann allerdings gleich wieder. Auf das kalte Grauen des Tages folgte nun das kalte Grausen der bevorstehenden Nacht. Stephan konnte es nicht fassen, als er das ungeheizte 'Mehrbettzimmer' im Nachbargebäude betrat, das eher einem Stall glich. Auf grob gezimmerten Holzpritschen lagen Strohmatratzen und eine Heizung gab es überhaupt nicht. Sofort erinnerte er sich an seine letzte Nacht in einem 'Kühlschrank', die letztlich zum Kauf eines Heizlüfters geführt hatte. Doch selbst ein Heizlüfter hätte ihm hier nicht weitergeholfen, denn es gab ja nicht einmal eine Steckdose.

Der nächste Morgen entschädigte mit einem traumhaften Sonnenaufgang für eine kalte und schlaflose Nacht. Stephan hatte sich frühzeitig von seiner Schlafstatt verzogen und genoss nun vom Gipfelkreuz aus den überwältigenden Ausblick auf das vor ihm liegende Bergpanorama. Er dachte an das bevorstehende Wochenende bei Sophie, während er seine erste Zigarette qualmte. Jetzt ’nen heißen Kaffee, ab ins Tal und nichts wie ab nach Hause.

Beim Abstieg schlug seltsamerweise niemand eine Abkürzung vor. Auch Xaver nicht, der sich seit ihrer Ankunft in der Berghütte sehr im Hintergrund gehalten hatte und als einer der Ersten auf seiner Holzpritsche verschwunden war. Auf dem regulären Weg kamen sie schon kurz darauf an genau der Stelle vorbei, an der sie ihn gestern verlassen hatten.

281 Stephan war um eine Lebenserfahrung reicher. Sollte jemals wieder jemand in Kniebundhosen mit bayerischem Dialekt eine Abkürzung vorschlagen, würde er auf dem Absatz kehrt machen. Jetzt war er erst einmal nur froh, den Bergen den Rücken kehren zu können.

Zurück in Lindlar genoss Stephan das ruhige und besinnliche Weihnachtsfest mit Sophie, Dominik und der restlichen Familie umso mehr. Der Krug, sich vom Hirschberg aus als Neuzeit-Ötzi das Münchener Silvesterfeuerwerk anzugucken, war glücklicherweise an ihm vorübergegangen.

282 283 Gesichter Sylts

1996 Ein niedliches Lämmchen hüpft ver- gnügt über die Wiesen. Es weiß nicht, dass es das erste 'selbst erschaffene' Säugetier der Welt ist. Willkommen, kleines Klonschaf Dolly. Im Fußball gibt es seit Kurzem das Golden Goal und Oliver Bierhoff probiert es gleich als Erster einmal aus. Mit dem ersten goldenen Tor der Welt schießt er Deutschland zum dritten Mal zur Europameisterschaft. Ein zweifacher Weltmeister aus Kerpen fährt von nun an in einer roten Göttin. Er beginnt seinen Dienst in Maranello am gleichen Tag wie Pater Don Alberto. Während der eine regelmäßig schnelle Runden einläutet, läutet der andere bei jedem Ferrari-Sieg die Kirchenglocke. Die Olympischen Sommerspiele in Atlanta überschattet ein Attentat und mit einem Mal erinnert man sich wieder an die schrecklichen Tage von München 1972. In Las Vegas knallt es an einer roten Ampel, als mehrere Schüsse auf Lesane Parish Crooks abgefeuert werden. Wenige Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen Schussverletzungen. Was bleibt, ist die Musik und die Mythen um 2Pac. Vor einem Jahr wurden sie von Robbie verlassen, jetzt verlassen sie ihre Fans. Auf Wiedersehen, 'Take that'. Die einen machen Platz auf der großen Bühne, während neue Künstler bereits in den Startlöchern stehen. Willkommen, 'Linkin Park' und 'Sportfreunde Stiller'. Die Charts des Jahres dominieren aber noch ein paar kulinarische Schmankerl. Es gibt 'gewürzte' Mädchen, die leicht bekleidet ihren Hit zum Besten geben und dabei über Tische und Bänke tanzen. Wem das zu scharf ist, bekommt

284 zur Verdauung zehn kleine Jägermeister, bevor Bürger Lars Dietrich den Nachtisch bringt. - Sexy Eis, mit Sahne. Zwei betagte Spanier zeigen es noch einmal allen und es gibt keinen, der nicht den Sommerhit tanzt. - Hey Macarena! Hey!

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Vom Sommer und seinen Tänzen waren Stephan und Franz noch ein Stück weit entfernt, als sie im Januar endlich ihre Ernennungsurkunden zum Leutnant zur See erhielten. Da Stephans Ausbildung nun abgeschlossen war, kehrte zu Hause wieder etwas Ruhe ein. Zumindest dachten das Stephan und Sophie, Dominik war da jedoch ganz anderer Meinung. Zum Geburtstag hatte er ein rotes Bobbycar bekommen, mit dem er von nun an unermüdlich durch die Gegend raste. Ganz besonders hatte es ihm der Rundkurs ums Haus angetan. Stephan und Sophie waren heilfroh, dass sie so eine verständnisvolle Nachbarin hatten. Oma Martens unterstützte Dominik sogar noch, indem sie ihm bei rekordverdächtigen Boxenstopps unter ihrem Fenster regelmäßig einen Kinderriegel zusteckte. So gestärkt und mit neuer Energie geladen, ging es dann sofort wieder auf die nächste Runde.

Stephan drehte auch wieder regelmäßige Runden über die Insel. Allerdings nicht aus Spaß mit einem Bobbycar, sondern mit dem Rettungswagen, um in Übung zu bleiben. Hierbei lernte er nun auch die andere Seite der Insel kennen, die ihm bisher verborgen geblieben war.

285 Seit er vor vierzehn Jahren das erste Mal nach Sylt gekommen war, hatte er die Insel immer mit dem bekannten Bild eines Urlaubsparadieses verbunden. Hierher kam man zur Erholung, zum Feiern und zum Chillen. Selbstverständlich gab es daneben auch das normale Leben der Verkäuferin beim Bäcker, der Angestellten in der Stadtverwaltung und des Müllmanns, der frühmorgens den Wohlstandsmüll entsorgte. Dass dieser Müll aber unter Umständen vorher bereits von jemandem durchsucht worden war, dem es nicht so gut ging, ahnten die meisten nicht. Natürlich lebten auch auf Sylt soziale Randgruppen und gescheiterte Existenzen, hierin unterschied sich die Insel nicht wesentlich von den Städten auf dem Festland. Auf Sylt war vielleicht nur der Kontrast anders. Sonne und Meer, Wolken und Sturm, rotes Kliff und weißer Strand, diese beliebten Postkartenmotive wollte man sehen, schließlich war man auf der Insel der Reichen und Schönen. Die Armen und 'Hässlichen', die Probleme der Welt, das alles hatte man zu Hause zur Genüge und blendete es deshalb für die schönste Zeit des Jahres nur allzu gerne aus. Unbeschwert sollte der Urlaub sein und so blieb das andere Gesicht Sylts hinter den Kulissen oder einfach nur hinter einer übergroßen rosaroten Sonnenbrille.

Natürlich waren Stephan die verfilzten 'Asozialen', die mit ihren Hunden an der Wilhelmine saßen, schon früher aufgefallen. Sie waren aber nie lange in seinem Bewusstsein hängen geblieben. Schon wenige Schritte weiter war er wieder in das Urlaubsfeeling abgetaucht. Bunte Fahnen, Schaufeln, Strandbälle, der Geruch nach Sonnenöl und die

286 Eisbuden auf der Friedrichstraße beherrschten sofort wieder alle Sinne. Einen ersten Eindruck von der Kehrseite der Medaille bekam er nun an diesem grauen Märztag. Zusammen mit Lars und Peter fuhr er in den Wenningstedter Weg zu den unauffälligen ehemaligen Aussiedlerhäusern. Die Polizei hatte bereits die Wohnungstür eines Hauses aufgebrochen und führte sie nun in die völlig verdreckte Küche. Dort lag eine ältere verwahrloste Frau auf dem Boden und wurde von einem anderen Beamten betreut. Noch immer war die Frau völlig apathisch und deutlich unterkühlt. Lars und Peter übernahmen die Versorgung und Stephan ging währenddessen zurück zum Rettungswagen, um die Trage zu holen. Dabei sah er sich noch einmal in der Wohnung um, in der es kaum wärmer als draußen war. Überall stapelten sich Kartons und prall gefüllte Plastiktüten. Derart zugemüllte Messie-Wohnungen kannte er bisher nur aus irgendwelchen Dokumentationssendungen im Fernsehen. Niemals hätte er sich vorstellen können, so etwas auch auf Sylt vorzufinden. Nachdem sie die Frau transportfähig gemacht hatten und gerade in den Rettungswagen schieben wollten, hielt ein großer Mercedes vor dem Haus. Ein gut gekleideter Mann, Stephan schätzte ihn auf Ende dreißig, stieg aus und kam aufgeregt auf sie zu. »Was ist mit meiner Mutter?«, fragte er und sah sie besorgt an. »Ich war doch erst vor Kurzem noch bei ihr. Da war doch alles noch in Ordnung.« Stephan war platt. Er konnte einfach nicht glauben, was er da soeben gehört und gesehen hatte. Was bedeutet 'vor Kurzem' und 'alles noch in Ordnung' wohl im Wortschatz dieses Mannes?, dachte er und merkte,

287 wie die Wut in ihm hochkochte. Peter war wie immer die Ruhe in Person, und während Lars und Stephan die Frau in den Wagen schoben, nahm Peter den Sohn zur Seite. Er erklärte ihm bestimmt und verbindlich, dass seine Mutter Anzeichen einer starken Unterkühlung aufweisen würde und dringend in die Nordseeklinik gebracht werden müsste. Dann fuhren sie los. Bis zur Klinik waren es nur knapp zwei Minuten. Stephan und Peter halfen dem Personal der Notaufnahme noch, die Frau von ihrer dreckigen und speckigen Kleidung zu befreien, während Lars den Wagen wieder einsatzbereit machte. Nachdem sie bei der dritten Nylonstrumpfhose angekommen waren und ein Ende nicht in Sicht war, entfernte eine resolute Schwester die restlichen sieben Schichten mit einer Schere. Dem Aussehen und dem Geruch der zum Vorschein kommenden Haut nach, trug die Frau die Strumpfhosen zweifellos schon einige Zeit. Stephan und Peter verließen die Notaufnahme, um erst einmal eine Zigarette zu rauchen. Irgendwie musste der Geruch jetzt aus der Nase.

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Sein zweite Erfahrung mit der anderen Seite Sylts machte Stephan dann im Sommer, als sie zu einer hilflosen Person im Sjipwai gerufen wurden. Bereits bei Eingang des Notrufs hatte er sich gewundert, dass Lars und Peter keine große Aufregung oder Eile zeigten. Offensichtlich kannten sie die Adresse bereits und wussten, was sie erwarten würde. Bis zu ihrem Ziel war es nicht weit und so erreichten sie schon nach drei Minuten das

288 Mehrparteienhaus, in dem die hilflose Person sein sollte. Während der Fahrt hatte Peter ihm erklärt, dass sich hinter der Adresse einige Sozialwohnungen befanden, in denen Obdachlose untergebracht wurden. Eine Fahrt dorthin war schon fast Routine. Ein Sozialarbeiter der Stadt empfing die drei bereits vor der Tür und führte sie hinein. »Strom haben wir hier nicht«, sagte der Sozialarbeiter, bevor er die Wohnungstür öffnete, und knipste eine Taschenlampe an. Lars und Peter nahmen ebenfalls ihre Maglites und zusammen folgten sie dem Sozialarbeiter. In der Wohnung lagen überall schnarchende Schnapsleichen auf speckigen Matratzen. In einem der hinteren Räume fanden sie in einer Ecke unter einem notdürftig mit einem alten Bettlaken abgehängten Fenster die hilflose Person. »Moin, Nils«, sagte Lars und rüttelte den am Boden liegenden Mann an der Schulter. »Wie sieht’s denn aus?« Er warf Peter einen wissenden Blick zu. Es war unübersehbar, dass sie Nils bereits von früheren Einsätzen kannten. »Macht die Funzel aus«, sagte Nils plötzlich und versuchte abwehrend den Arm zu heben. »Hat man denn nirgends seine Ruhe?« Lars und Peter untersuchten Nils, trotz dessen gelallter Proteste, und wandten sich anschließend an den Sozialarbeiter. Sie erklärten ihm, dass Nils nur seinen Rausch ausschlafen müsste und in dem Zustand auch nicht in der Klinik aufgenommen würde. Stephan hatte sich inzwischen etwas in der gesamten Wohnung, in der es nach Alkohol, schimmeligen Lebensmitteln und Erbrochenem stank, umgesehen. Zwischen den Matratzen erkannte er alte Holzkisten, die wohl als Tische dienten. Auf ihnen standen überquellende Aschenbecher neben schiefen Kerzenstummeln und hier

289 und da lag auch eine gebrauchte Spritze herum. Schließlich verließen sie die Wohnung und Stephan passte dabei sehr genau auf, wohin er trat. Auf keinen Fall wollte er in irgendwelche Flüssigkeiten oder andere Dinge treten, die er hinterher von seinen Sicherheitsschuhen kratzen müsste. Trotzdem vergewisserte er sich mit einem Blick unter seine Schuhe, dass sich da auch wirklich kein Andenken festgesetzt hatte, während sie vor der Tür noch eine Zigarette rauchten. Auf der Rückfahrt zur Wache überholte ein offenes Cabrio den Rettungswagen. Aus den Boxen hämmerten Hardcore Vibes und zwei junge Yuppiepärchen zappelten in bester Feierlaune auf den Sitzen. 'Happy Hardcore' prallte auf einmal mit 160 BPM auf Stephans momentanen 'Social Hardcore', den er gerade aus dem Sjipwai mitbrachte. Was das anging, war er für heute bedient. Ein paar Tage später genoss Stephan auch wieder das süße Leben am Strand mit all seinen Annehmlichkeiten. Trotzdem glänzte die Königin der Nordsee auf einmal nicht mehr so strahlend wie bisher.

Im Spätsommer sah Stephan dann Nils wieder. Er saß mit seinen Kumpels an der Wilhelmine, trank Bier und zog an einem krummen Zigarettenstummel. Diesmal nahm Stephan sie in Gedanken mit. Vorbei an Wohlstands-Labeln hinter großen Schaufensterscheiben und Sekt schlürfenden Touristen, die vor den zahlreichen Cafés saßen, ging er Richtung Strand. Am Ende der Friedrichstraße blieb er stehen und atmete tief ein. »Is dat zu gläuve? No han de ad widder de Kurtax erhöht!« Stephan drehte sich um.

290 Ein älteres Ehepaar, das unüberhörbar aus Köln kam, stand vor einem Nobelhotel neben einer S-Klasse. »Wo soll dat noh hin föhren?« Diese Dekadenz ließ ihn frösteln. Schnell steckte er sich eine Zigarette an, zeigte seine Kurkarte am Kontrollhäuschen vor und sprang die Treppe zur Strandpromenade hinunter. Was ihm noch vor Kurzem nicht aufgefallen wäre, trieb ihm nun Wut und Unverständnis ins Herz. Bei ihm waren die Kontraste nun geschärft.

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Es war kalt geworden auf Sylt. Der Wind pfiff über den Westerländer Bahnhof und zog erbarmungslos durch jede Öffnung von Stephans Kleidung. Er zündete sich mit zitternden Fingern die nächste Zigarette zum Aufwärmen an, während er zur Anzeige für sein Gleis schielte. Der Zug aus Köln hatte wieder einmal Verspätung und Stephan beneidete Sophie, die wohlweislich mit Dominik zu Hause geblieben war. Noch eine Woche bis Weihnachten, das sie dieses Jahr auf Sylt verbringen wollten. In der Ferne tauchten endlich die drei Frontleuchten der Lok auf. Erleichtert trat er die Zigarette aus. Nun noch schnell Schwiegermutter einladen und dann nichts wie ab nach Hause. An Heiligabend wartete die nächste Überraschung auf Dominik, als es an der Tür klingelte und auf einmal der Weihnachtsmann in voller Lebensgröße vor ihm stand. Ehrfürchtig starrte Dominik zu ihm hinauf und nickte nur zaghaft, als der fremde Mann mit dem weißen Bart ihn fragte, ob er denn auch artig gewesen wäre.

291 »Na, wenn das so ist«, sagte der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme und öffnete den großen Sack, den er mitgebracht hatte. Ein Geschenk nach dem anderen holte er heraus und kurz darauf verschwand Dominik auch schon unter einem Berg aus zerrissenem Geschenkpapier. Der Weihnachtsmann wünschte noch frohe Weihnachten und hatte kaum das Haus verlassen, als es erneut an der Tür klingelte. Dominik rannte sofort los. Offenbar war er der Annahme, dass der Weihnachtsmann noch einmal zurückgekehrt war, um noch mehr Geschenke abzugeben. Doch zu seiner Überraschung stand nun Onkel Hans vor der Tür. Aufgeregt erzählte Dominik ihm von dem Weihnachtsmann, den er durch seine Verspätung nun verpasst hatte. Dass der Weihnachtsmann und Onkel Hans die gleichen Schuhe trugen, war ihm in all der Aufregung zum Glück nicht aufgefallen.

Stephan und Sophie sahen sich glücklich an. Was würde Dominik erst nächstes Jahr für Augen machen, wenn sein Bruder auf die Welt kommen würde?

292 293 Dicke und dünne Lebensfäden

1997 Nach fast hundert Jahren endet der Pachtvertrag für Hongkong und Großbritannien ist um einen Stadtteil ärmer. Die Tabakwerbung in der Formel 1 ist in Europa ab sofort verboten. Nur in Übersee fährt noch Marlboro gegen Lucky Strike. Mercedes lässt sich davon jedoch nicht beeinflussen und kehrt nach zweiundvierzig Jahren mit zwei Silberpfeilen in den Rennzirkus zurück. Eine Bodenhaftung wie ein Silberpfeil hat dieser neue Mercedes nicht. Bereits ein einfacher Elchtest bringt die A- Klasse zum Wanken.

Ein englisches Waisenkind wird in Hogwards eingeschult und kämpft von nun an in der ganzen Welt gegen den, dessen Name nicht genannt werden darf. James Edwards wird nicht ein-, sondern umgeschult, und zwar vom Polizisten zum Mann in Schwarz. Will Smith überzeugt erneut in Film und Musik. Lee, Ricky und Jazzy, besser bekannt als 'Tic Tac Toe', fragen in den Charts nach dem Warum? Das Gleiche fragt sich auch die ganze Welt, als sie erfährt, dass Lady Di in Paris tödlich verunglückt ist. Goodbye England's rose! Abschied nehmen heißt es auch von zwei großen Schauspielern. Robert Mitchum und James Stewart verlassen für immer die irdische Bühne. Auch Mutter Theresa beendet ihre weltliche Mission und wird für ihr Wirken in einigen Jahren seliggesprochen werden.

294 Auf unzähligen Tauchgängen haben wir ihn begleitet und waren fasziniert von der Welt, in die er uns entführte. Farewell Jacques-Yves Cousteau. Im Wasser, zu Fahrrad und zu Fuß, Thomas Hellriegel gewinnt als erster Deutscher den Ironman auf Hawaii. Nur mit dem Fahrrad, aber auch erster deutscher Sieger, wird Jan Ullrich bei der Tour de France.

Gemeinsam bringen ARD und ZDF den Kinderkanal auf Sendung, bei dem in zwei Jahren auch die Teletubbies Einzug halten werden.

* * *

Stephan und Sophie waren zum Glück noch etwas entfernt von dem Hype um 'Ah-Oh' und 'Winke, Winke'. Ah, oh machte nur Sophie ab und zu, wenn es in ihrem Bauch mal wieder hoch herging. Doch im Großen und Ganzen verlief ihre Schwangerschaft deutlich routinierter und entspannter als beim ersten Mal. In einer stürmischen Februarnacht war es dann soweit. Sabine, eine Bekannte aus List, war auf Sophies Anruf hin vorbei gekommen, um auf Dominik aufzupassen und Stephan und Sophie hatten sich auf den Weg in die Nordseeklinik gemacht. Am frühen Morgen des 20. Februar war dann ihr Sturmkind da. Ein neuer Lebensfaden war gesponnen.

Nach einigen Tagen durfte Sophie mit Fabian nach Hause, wo sich ein Machtwechsel anbahnte. Fabian war nun derjenige, der im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angab. Dominik sah plötzlich seine Vormachtstellung gefährdet.

295 So hatte er sich die Sache mit einem neuen Spielkameraden offenbar nicht vorgestellt. Er ließ nichts unversucht, um die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen. Nur mit viel Fingerspitzengefühl und noch mehr Geduld schafften es Stephan und Sophie schließlich, eine funktionierende Doppelspitze aufzubauen. Dennoch hielten Fabian und Dominik sie ordentlich auf Trab. Stephan übernahm wieder die Nachtschicht und saß regelmäßig zwischen eins und vier mit seinem Jüngsten und dem Babyfläschchen im Wohnzimmer. Natürlich gab es auch dieses Mal wieder die Belohnung in Form einer nächtlichen Zigarette. So verging die Zeit wie im Fluge, bis es auf einmal wieder Sommer war. Ein Sommer, in dem Stephan innerhalb kürzester Zeit erfahren sollte, dass Lebensfäden nicht nur gesponnen werden, sondern auch irgendwann einmal reißen.

Vor Beginn seines Jahresurlaubs machte Stephan seine diesjährige Inübunghaltung beim Sylter Roten Kreuz, die gleich mit einer Nachtschicht begann. Er hatte sich die Schichten so ausgesucht, dass er wieder mit Lars und Peter fahren konnte, da sie inzwischen ein eingespieltes Team waren. Bereits seit Stunden warteten sie an diesem Abend auf einen Einsatz, doch es war trotz Hochsaison ungewöhnlich ruhig. Stephan hatte den Aschenbecher bereits zum wiederholten Male geleert und auch das Samstagabendprogramm im Fernsehen half nur wenig gegen die aufkommende Müdigkeit. Schließlich entschloss sich Stephan, dem Beispiel von Lars zu folgen, der sich vor ein paar Minuten nebenan hingelegt hatte. Er ging in den Ruheraum, wo Lars bereits mächtig damit beschäftigt war, die letzten Sylter Bäume umzusägen.

296 Na, das kann ja heiter werden, dachte Stephan, während er in seinen Schlafsack kroch. Er schloss die Augen und versuchte einzuschlafen, doch obwohl er eben noch hundemüde gewesen war, fand er einfach nicht in den Schlaf. Ein wenig erinnerte ihn das an seine Bordzeit. Irgendwann riss ihn ein lautes Klingeln aus seinen Gedanken oder seinem Traum, er wusste nicht, ob er nur geruht oder doch geschlafen hatte. Müde hob er den Kopf und sah, wie sich Lars aus seinem Bett wälzte. »Los, Beeilung!«, rief er Stephan zu, und ehe es sich Stephan versah, war er auch schon im Bereitschaftsraum verschwunden. Keine Minute später verließen sie bereits die Rettungswache Richtung Keitum, wo eine leblose Person gemeldet worden war. Stephan blickte gedankenversunken aus dem Seitenfenster, wo die Dunkelheit der Nacht durch das blitzende Blaulicht unterbrochen wurde. Die Milchglasscheiben in den Türen schränkten seine Sicht derart ein, dass er nur raten konnte, wo sie sich gerade befanden. Sich einfach umzudrehen und nach vorne durch das Fenster zur Fahrerkabine zu schauen, dafür war er einfach zu müde. Erst als sie in Keitum waren, drehte er sich um. Der Rettungswagen bog vom Gaat in die Süderstrasse und Stephan sah vor ihnen das Blaulicht von Dianas Notarztwagen, der vor einem Haus auf der rechten Seite parkte. Diana war die Notärztin und wohnte in Keitum. So hatte sie immer dann einen Heimvorteil, wenn sie zu einem Notfall im Osten der Insel gerufen wurden.

Sie hasteten durch die offen stehende Eingangstür und

297 fanden im Schlafzimmer einer Ferienwohnung eine ältere Frau, die regungslos auf dem Bett lag und bereits von Diana untersucht wurde. Daneben stand der Ehemann und erzählte vollkommen aufgelöst, dass seine Frau nur ein paar Minuten vor ihm ins Schlafzimmer gegangen war. Zuerst habe er nur gedacht, dass sie schon schlafen würde, als sie ihm nicht geantwortet hatte. »Schnell, wir müssen sie auf den Boden legen«, sagte Diana. Stephan wusste, was das bedeutete. Die Frau hatte einen Kreislaufstillstand und musste reanimiert werden. Jetzt ging es um Sekunden. Zu dritt legten sie die Frau vor das Bett und begannen mit den Wiederbelebungsmaßnahmen. Nach einer halben Stunde sah Diana in die Runde und schüttelte leicht den Kopf. Alle ihre Bemühungen waren vergebens gewesen. Langsam erhob sie sich und ging zu dem Ehemann, der sie verzweifelt ansah. »Es tut mir leid«, sagte sie leise und schob ihn behutsam nach nebenan, wo sie ihm die furchtbare Gewissheit beibrachte.

Auf der Wache besprach Peter mit Stephan den Einsatz, während Lars wortlos den Papierkram erledigte. Eine erfolglose Reanimation ging auch an erfahrenen Rettungsassistenten nicht einfach spurlos vorbei. Für Stephan war es das erste Mal und er war froh, mit jemandem darüber sprechen zu können. Aus dem Schlaf gerissen zu werden und anschließend, quasi von null auf Hundert, hoch konzentriert zu arbeiten, war schon schwer genug. Dann trotz aller Anstrengung ein Leben zu verlieren, ging ganz schön an die Nieren. Stephan spürte trotz aller Erschöpfung eine unruhige Enttäuschung tief in seinem Innersten.

298 Er schaute auf die Uhr und staunte. Seit sie alarmiert worden waren, war erst knapp eine Stunde vergangen. Ihm kam es jedoch wie eine Ewigkeit vor. Er zündete sich noch eine Zigarette zur Beruhigung an, um so ein wenig runter zu kommen, doch das sollte ihm in dieser Nacht nicht mehr gelingen. Während der nächsten Tage dachte er noch oft an diese Nacht und war froh, als er endlich die letzte Schicht hinter sich gebracht hatte. Von nun an hatte er Urlaub. Erleichtert schloss er die Haustür hinter sich und atmete tief durch. Im Haus war es merkwürdig still, obwohl es eigentlich noch keine Mittagsschlafzeit war. Auf dem Esszimmertisch fand Stephan eine Nachricht von Sophie, sie war mit Dominik und Fabian bereits zum Strand gegangen. Na, dann nichts wie los, dachte Stephan. Ein Strandbesuch war genau der richtige Start für seinen Urlaub.

Vom Strandübergang aus hatte man einen guten Rundblick, so dass Stephan seine kleine Familie sofort zwischen den vielen Urlaubern entdeckte. Sie hatten sich im Windschatten des Badeturms der Rettungsschwimmer ein Plätzchen gesucht und Dominik war bereits eifrig damit beschäftigt, den Strand mit seinem Lieblingsbagger umzugraben. Stephan hatte sich gerade neben Sophie und Fabian in den warmen Sand gesetzt, als es am Strand plötzlich unruhig wurde. Am Flutsaum, nur wenige Meter von ihnen entfernt, liefen Leute wild gestikulierend umher und zeigten aufgeregt aufs Meer. Ein Rettungsschwimmer legte sich bereits die Sicherheitsleine an und rannte zum Wasser hinunter. Mit großen Sätzen sprang er über die ersten Wellen, um sich dann mit einem Hechtsprung ins Meer zu

299 stürzen. Mit kräftigen Schwimmzügen hielt er auf eine Gruppe von Badegästen zu, die ihm heftig zuwinkten. Stephan erhob sich langsam und beobachtete, wie die Rettungsschwimmer kurz darauf einen leblosen Mann aus dem Wasser trugen. Doch kaum am Strand angekommen, schallten erneut aufgeregte Rufe zu ihnen herüber. Offensichtlich brauchte noch jemand Hilfe. Stephan rannte zu dem leblosen Mann und drängelte sich durch die Gruppe Schaulustiger, die sich inzwischen gebildet hatte. Er kniete sich neben den Leblosen und wollte gerade mit der Untersuchung beginnen, als sich ein weiterer Helfer neben ihn hockte und sich kurz als Arzt vorstellte. Gemeinsam begannen sie sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen, nachdem der Arzt einen Kreislaufstillstand festgestellt hatte. »Den Notarzt habe ich schon alarmiert!«, rief jemand aus der Gruppe der Schaulustigen. Na, wenigstens etwas, dachte Stephan, während er weiter die Herzdruckmassage durchführte. Die beiden Rettungsschwimmer waren inzwischen auch wieder an Land. Zum Glück handelte es sich bei dem zweiten Zwischenfall nur um einen heftigen Wadenkrampf. In der Ferne erklangen Martinshörner und kurz darauf hielt auch schon der große Strandrettungswagen neben ihnen. Noch am Strand versuchten Diana und ihr Rettungsteam mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, das Leben des Mannes zu retten. Doch auch sie konnten nicht mehr helfen. Mit gesenktem Kopf ging Stephan zu Sophie und den Kindern zurück. Erneut hatte er hautnah erfahren müssen, wie schnell sich das Leben ändern konnte. Sogar im Urlaub, der schönsten Zeit des Jahres, rissen Lebensfäden und die

300 eben noch so fröhliche und gelöste Atmosphäre kehrte sich ins Gegenteil. Er setzte sich neben Sophie und blickte gedankenverloren auf seine Söhne. Gab es wirklich so etwas wie Schicksal? War unser Lebensfaden wirklich schon fertig gesponnen, wenn er die Hände der Moiren verließ, oder konnte man selbst im Laufe seines Lebens noch hier und da etwas dazu spinnen? Er zündete sich eine Zigarette an, drückte sie aber schon nach der Hälfte in dem kleinen Reiseaschenbecher wieder aus. Sollte man sein Leben herausfordern oder mit dem eigenen Körper doch etwas schonender umgehen? Vor allem jetzt, wo man Verantwortung für eine Familie hatte. Kurzentschlossen stand er auf, nahm seine Zigaretten und schmiss sie in den Abfallbehälter, der neben der Treppe des Strandübergangs stand.

Viele Methoden und Hilfsmittel hatte Stephan in seiner langen Raucherkarriere nun schon ausprobiert, jedoch immer ohne Erfolg. Die Auswahl der noch verbliebenen Möglichkeiten war da nicht mehr so groß. Vielleicht helfen ja Nikotinkaugummis, dachte er sich und machte, nachdem sie vom Strand zurück waren, noch schnell einen Abstecher zur Apotheke. Eigentlich hatte Stephan nie so richtig was für Kaugummis übrig gehabt. Bereits der bloße Anblick von Menschen, die durch permanente Kaubewegungen wirkten, als ob sie immer noch mit ihrer letzten Mahlzeit beschäftigt wären, erzeugte bei ihm eine Gänsehaut. Dazu die schmatzenden Geräusche. Er dachte daran, wie einige ihren Kaugummi gar vom Zeigefinger lutschten, nachdem sie es zuvor wie eine Haarlocke um selbigen gewickelt hatten. Ganz schlimm wurde es jedoch, wenn der Kaugummi mit

301 der Zunge bei halb geöffnetem Mund von einer Seite auf die andere geschoben wurde. Auf ihn wirkte das, als ob ein Zungenkuss, aus welchen Gründen auch immer, einseitig beendet worden war und der Zurückgelassene dies nicht bemerkt hatte. Stephan betrachtete noch einmal skeptisch den Nikotinkaugummi in seiner Hand. Und nun sollte auch er wie ein wiederkäuendes Rindvieh durch die Gegend laufen? Widerwillig schob er die Ersatzdroge in den Mund und verzog das Gesicht. Wenn es doch wenigstens schmecken würde. So war es nicht weiter verwunderlich, dass bei so viel Abneigung die Nikotinkaugummis bereits nach wenigen Tagen dort landeten, wo sie seiner Ansicht nach hingehörten. Stephan ließ den Deckel des Mülleimers zufallen und blickte entnervt auf. Jetzt blieb ihm nur noch sein eiserner Wille, der leider nicht so hart war, wie er sich das gewünscht hätte. Zu Hause kam er so weit auch gut zurecht, nur während der Arbeit war es richtig schwer. Rings um ihn herum wurde gequalmt, was die Nikotinzwerge dann auch regelmäßig ausnutzten, um ihn nach und nach zu zermürben. Natürlich hätte Stephan sich außerhalb der Unterrichtszeiten in sein Büro zurückziehen können, aber er wollte auch nicht zum einsiedelnden Sonderling werden. So endete nach etwas mehr als drei Wochen auch dieser ungleiche Kampf mit der nächsten haushohen Niederlage.

302 303 Null Promille

1998 Die Deutsche Telekom verliert ihr Mo- nopol und die Anzahl der Mobilfunktelefone steigt sprunghaft in Deutschland an. Ein Anstieg ist auch in deutschen Schlafzimmern zu verzeichnen, seit es nun Viagra gibt. In neuartigen Cafés wird eine ganz andere 'Droge' angeboten. Das World Wide Web ist jetzt auch öffentlich verfügbar und von nun an kann auch gegoogelt werden. So viel neue Kommunikationstechnik schafft Entbehrlichkeiten. Die Küstenfunkstelle Norddeich Radio stellt den Betrieb ein. Das SOS der 'Pallas' funkt dementsprechend über andere Kanäle, dennoch kann vor Amrum die größte Ölpest an der Nordseeküste nicht mehr verhindert werden. Ein legendäres Passagierschiff wird erneut in einem aufwendigen Film versenkt und so endet die Liebesgeschichte von Jack und Rose im eiskalten Atlantik. – My Heart will go on. Eine alte Liebesweise wärmt Oli P. wieder auf und hat plötzlich Flugzeuge im Bauch. Das haben wahrscheinlich auch Thomas Anders und Dieter Bohlen, die wieder ein Herz und eine Seele werden. Ohne viel Schmalz und Gesülze stellt dagegen die 'Beste Band der Welt' richtig, dass Männer wirklich Schweine sind.

304 Eine Ausnahme hiervon ist definitiv Harry, der, wenn auch zum letzten Mal, folgsam den Wagen für seinen Oberinspektor holt.

Der Kanzler der Einheit geht von Bord und ein Namensvetter von Atze Schröder übernimmt das Ruder. Trotz aller Bemühungen des neuen Kanzlers bleibt Atze lustiger. Nicht zu toppen ist allerdings das Champions League-Spiel zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund, bei dem es schon vor dem Anpfiff heißt: »Ein Tor ist bereits gefallen!« - Danke, Günther Jauch und danke, Marcel Reif. Bei den Olympischen Winterspielen in Nagano ist Snowboarden das erste Mal olympisch. Für Ross Rebagliati kommt das wohl etwas überraschend, dennoch darf er trotz nachgewiesenem Marihuana- Missbrauch die Goldmedaille behalten.

* * *

Marihuana hatte Stephan auch schon geraucht. Allerdings war das über zwanzig Jahre her. Überzeugt hatte ihn der Kick damals nicht, er war lieber bei Bier und normalen Zigaretten geblieben. Über die Jahre war Stephans Alkoholkonsum allerdings deutlich zurückgegangen. Im Grunde trank er nur bei besonderen Anlässen. Ein solcher Anlass bot sich ihm, als er zu einer Grundschulung für Personalräte nach Aachen reiste. Zu seiner großen Überraschung traf er dort zufällig Olaf, den er seit dem gemeinsamen Bergabenteuer nicht

305 mehr gesehen hatte. Da gab es natürlich viel zu erzählen und welcher Ort wäre dazu besser geeignet als eine gemütliche Kneipe? Sie tranken ein paar Bierchen, rauchten ein paar Zigarettchen und erzählten und erzählten. Erst als sie schließlich bezahlten, fiel ihnen auf, wie sich über die Stunden die Anzahl der Biere doch beträchtlich summiert hatte. Der Rückweg gestaltete sich dann auch etwas schwieriger und Stephan war froh, als er endlich in sein Bett fiel. Doch seine Freude war nur von kurzer Dauer. Die Gedanken in seinem Kopf wurden auf einmal zu Bildern, die sich langsam in Bewegung setzten und sich im Kreis drehten. Stephan riss die Augen auf und im gleichen Moment bremsten die Bilder abrupt an den schemenhaften Umrissen des Zimmerfensters. Er atmete tief ein und aus und versuchte so die nun aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Dieses Spiel wiederholte sich nun jedes Mal, wenn er die Augen schloss, aufs Neue. Das Karussell begann sich immer schneller zu drehen und bremste erst wieder, wenn er die Augen öffnete. Sollte er liegen bleiben oder sich doch lieber freiwillig auf der Toilette übergeben?, dachte Stephan dann und schlief irgendwann über die Suche nach einer Antwort ein.

Am nächsten Morgen erwartete ihn ein Kater, wie er ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt hatte. Längst vertrug er Alkohol nicht mehr so wie zu seinen Glanzzeiten. Vorbei waren die Zeiten der karnevalistischen Trainingslager und der Wilhelmshavener Stadtmarathons. Stephan setzte sich schwerfällig auf und rieb sich den

306 Kopf. Er fühlte sich, als ob Thor die ganze Nacht mit seinem Hammer auf ihm herumgeklopft hatte. Mühsam mümmelte er beim Frühstück an seinem halben Brötchen. Nur der Kaffee schien ihm einigermaßen gut zu tun. Doch schon bald bekam er erste Hitzewallungen und die Übelkeit kehrte zurück. Vielleicht half ja eine Zigarette. Doch sie tat es nicht und so stellte er sich bis zum Beginn des ersten Vortrages an ein Fenster und sog die frische wohltuende Kühle der Morgenluft in sich ein. In einem Wechsel aus Müdigkeit, Übelkeit und Schwindel quälte er sich durch die Vorträge des Tages. Er schwänzte sogar das Mittagessen, nur um sich eine Stunde hinlegen zu können. Wahrscheinlich hätte er sowieso nichts runterbekommen. Am Abend saß Stephan völlig fertig in seinem Zimmer und war heilfroh, diesen Tag überstanden zu haben. Gleichzeitig schwor er sich, dass er so etwas nie wieder in seinem Leben mitmachen wollte. Und im Gegensatz zu seinen Versuchen mit dem Rauchen aufzuhören, sollte er dies auch tatsächlich durchhalten. Nach diesem Erlebnis merkte Stephan schnell, dass man auch durchaus ohne Alkohol seinen Spaß haben konnte. Ein weiterer Vorteil war, dass er sich von nun an nie wieder Gedanken machen musste, wie er nach einer Feier wieder nach Hause kam. 'Don't drink and drive' wurde für ihn zur Normalität. Wenn das mit dem Rauchen doch auch so einfach wäre, dachte Stephan.

* * *

Im Herbst wurde die Fachausbildung für den

307 Marinesanitätsdienst auf den ehemaligen Marinefliegerhorst nach Westerland verlegt. Stephan war begeistert. Von nun an konnte er mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Statt im Zigarettenqualm zu sitzen, machte ihn nun die herrliche Morgenluft frisch für den Tag. An seinem Geburtstag überraschte Sophie ihn mit einem ganz besonderen Geschenk. Sie hatte sich an einen Wunsch erinnert, den er vor einiger Zeit einmal geäußert hatte und ihm ein Buch besorgt, mit dessen Hilfe man angeblich mit dem Rauchen aufhören könnte. »Danke, mein Schatz«, sagte Stephan glücklich und gab ihr einen Kuss. Nachdem nun alle Hilfsmittel versagt hatten, wollte er es halt mit einem guten Buch probieren, denn sein Wunsch, mit dem Rauchen aufzuhören, bestand nach wie vor. Trotzdem war er unsicher, als er erneut das Cover betrachtete, auf dem eine durchgestrichene Zigarette abgebildet war. Wie sollte ein Buch ihn von dieser Sucht befreien? »Komm spielen!« Kleine Kinderhände zerrten auf einmal ungeduldig an seinen Hosenbeinen. Es war Wochenende und da gehörte Papa nun mal nicht der Arbeit, sondern der Familie. »Ja, ich komme schon«, sagte Stephan und legte lachend das Buch zur Seite. »Ich rauche nur noch schnell mit Mami eine Zigarette.« »Blöde Zigarette!«, sagte Dominik und schob trotzig die Unterlippe vor, bevor er sich murrend mit Fabian in die Spielecke verzog.

* * *

Die Nächte wurden nun auch spürbar länger und es

308 begann die Zeit, in der man sich gerne mit einem Buch in ein gemütliches Eckchen zurückzog. Mitte Dezember war es dann soweit, dass sich Stephan endlich seinem Nichtraucherbuch widmete. Der einfachste Weg, mit dem Rauchen Schluss zu machen, stand auf der Vorderseite des Umschlags. Na, da bin ich ja mal gespannt, dachte Stephan und schüttelte ungläubig den Kopf. Schon alleine der Gedanke daran, nur ein Buch lesen zu müssen, um anschließend Nichtraucher zu sein, war absurd. Er überlegte. Sechs Versuche hatte er nun bereits hinter sich und so seine Erfahrungen gemacht. Was hatte er nicht alles ausprobiert? Kaugummi, Akupunktur, eiserner Wille und Nikotinpflaster. Warum gab es so viele Hilfsmittel, wenn ein Buch doch der einfachste Weg ist? »Nun denn«, sagte er leise zu sich selbst und schlug das Buch auf. Neugierig las er das Vorwort, das schon einmal vielversprechend klang: Sofortwirkung, durchschlagender Erfolg auch bei starken Rauchern, keine Entzugserscheinungen und keine Gewichtszunahme. Stephan schmunzelte. Dieses Buch sollte eine Wunderkur sein? Bisher kam es ihm eher wie eine Satire vor. Trotzdem arbeitete er sich noch durch die nächsten Seiten, bevor er das Buch zur Seite legte.

Über die Weihnachtstage und den Jahreswechsel blieb das Buch weitgehend unberührt auf seinem Nachttisch liegen. Für die Feiertage hatte sich wieder Familienbesuch angekündigt und viel Zeit zum Lesen blieb ihm da nicht.

309 Die Befreiung

1999 Das letzte Jahr des Jahrtausends ist an- gebrochen und die Welt arbeitet fieberhaft an einem vermeintlichen Millenniumproblem. Nicht tausend, dafür hundert Jahre lang war die Wuppertaler Schwebebahn das sicherste Verkehrsmittel der Welt. Jetzt stürzt Wagen Nr. 4 in die Wupper und reißt fünf Menschen in den Tod. Viele Tausend Menschen sterben jedes Jahr weltweit durch Landminen, die ab sofort verboten sind. Leider entschärfen Verbote die Minen nicht und so lauern sie immer noch überall auf der Welt auf neue Opfer. Auch im Kosovo, wo sich die Bundeswehr nun unter UN- Mandat an KFOR beteiligt. Ein langer Weg zu Frieden und Freiheit beginnt. Trotz aller Unfälle, Naturkatastrophen und Kriegen wächst die Weltbevölkerung unaufhaltsam und überschreitet dieses Jahr die Marke von sechs Milliarden.

Aus einem banalen Nachbarschaftsstreit um einen Knallerbsenstrauch in Sachsen wird ein Hit. In seiner neuen Show 'TV total' besingt Stefan Raab den Maschendrahtzaun. Die Konkurrenz von Pro 7 startet auch eine neue Show, Günther Jauch stellt von nun an die Frage: Wer wird Millionär? Für Britney Spears und Lou Bega beantwortet sich diese Frage von selbst, nachdem sie in den Charts so richtig durchstarten.

310 Die Ballsportlerin des Jahrhunderts geht dafür nicht mehr an den Start. - Auf Wiedersehen, Steffi Graf. An Steffis bisherigen 'Arbeitsplatz' stand es nie zur Diskussion, an allen anderen ist ein generelles Rauchverbot ab diesem Jahr sogar rechtmäßig.

* * *

Stephan widmete sich nun auch wieder seinem Raucherproblem. Jetzt, wo er bei der Arbeit auch nur noch draußen rauchen durfte, erinnerte er sich wieder an das Buch, das er nun schon seit zehn Tagen nicht mehr aufgeschlagen hatte. Extra früh ging er an diesem Abend ins Bett und las schmunzelnd dort weiter, wo er vor Weihnachten aufgehört hatte. Immer wieder erkannte er sein eigenes Rauchverhalten in den Beschreibungen des Textes wieder. Es war fast so, als ob ihm ein Spiegel vorgehalten würde. Eine zentrale Frage, die ihn auch schon seit seinem ersten Versuch mit dem Rauchen aufzuhören beschäftigte, wurde auch in dem Buch gestellt. Warum bindet man sich derart eng an etwas, das schrecklich schmeckt, einen umbringt und ein Vermögen kostet? Die Aussage des Autors, dass es lächerlich einfach sein sollte aufzuhören, konnte er jedoch nicht bestätigen. Wenn so einfach wäre, warum hatte er es dann bisher nie geschafft? Auf diese bedeutende Frage wollte er unbedingt eine Antwort haben. Von nun an verging keine freie Minute, in der er nicht das Buch zur Hand nahm. Manchmal auch bei einer 'guten' Zigarette, denn das Weiterrauchen war bereits auf den ersten Seiten ausdrücklich erlaubt worden. Von Tag zu Tag steigerte sich nun seine Neugier, bis er

311 schließlich an die Stelle kam, die die Methode des Aufhörens behandelte. Er las von den Hauptgründen des Scheiterns, die sich mit seinen Erfahrungen deckten. Auch vom Thema Ersatzbefriedigung konnte er ein Lied singen. Er dachte an die unzähligen Weingummi-Lakritz-Fledermäuse, die ihm in den letzten Jahren zum Opfer gefallen waren. Wie oft hatte er schon eine letzte Zigarette geraucht? Stephan überlegte. Vier Mal? - Nein, fünf Mal war nun schon einer letzten Zigarette wieder eine erste gefolgt. Würde es diesmal anders werden? Er stellte sich vor, wie er die letzte Zigarette rauchte, sie ausdrückte und dann die Nikotinzwerge für immer verbannen würde. Stephan warf einen Blick auf den Kalender. Es war der 31. Januar 1999 und, wie er fand, genau das richtige Datum, um seinen Wunsch in die Tat umzusetzen. Er spürte, wie es in seinem Bauch vor Aufregung zu kribbeln begann. Es war fast so, als ob er gleich ein schönes Geschenk bekommen würde. Eilig las Stephan das Buch zu Ende und legte es auf den Nachttisch. Die Uhr seines Radioweckers zeigte halb elf. Er schaute kurz zu Sophie hinüber, die neben ihm immer noch tief und fest schlief. Vorsichtig schlug er die Decke zurück und stand auf. Ohne Licht anzumachen, schlich er nach unten ins Wohnzimmer. Das Restlicht und der Schein der Straßenlaternen, der durch die Fenster hereindrang, reichte aus, um sich zurechtzufinden. Stephan setzte sich im Halbdunkel des Wohnzimmers aufs Sofa und zündete schon fast andächtig seine hoffentlich letzte Zigarette an. Von nun an konzentrierte er sich auf jeden Zug, den er in aller Ruhe inhalierte. Dabei versuchte er zu ergründen, was jetzt so gut daran war. Eine Antwort fand

312 er nicht. Dann war es vorbei. Er drückte in aller Seelenruhe die Zigarette aus und fühlte eigenartigerweise nicht diese Wehmut wie bei seinen vorangegangenen Versuchen. Das war’s, dachte er zufrieden und stellte den Aschenbecher in die Spüle. Auf seinem Rückweg von der Küche blickte er noch einmal aus dem Wohnzimmerfenster in den Garten. Auf Sylt lag seit einigen Tagen Schnee und soeben hatte es wieder angefangen zu schneien. Friedhelms Spuren vom Abend waren kaum noch zu erkennen. Stephan ging zurück in sein Bett und zog fröstelnd die Beine etwas an. Er atmete tief ein und schloss zufrieden die Augen. Er freute sich schon auf morgen, auch wenn dann die nächste Arbeitswoche eingeläutet würde. Irgendwie fühlte er die Besonderheit des nächsten Tages.

Ein sonores Brummen holte Stephan aus einem tiefen Schlaf. Schwerfällig wälzte er sich aus dem Bett und ging nach unten in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Anschließend schlurfte er ins Bad, und während er sich vor dem Spiegel die Zähne putzte, hatte er auf einmal das Gefühl, irgendetwas sei anders als sonst. Prüfend blickte er sein Spiegelbild an. Hatte er nicht irgendetwas vergessen? Richtig, dachte er auf einmal und richtete sich auf. Ich hab ja gar keine geraucht. Stephan fiel ein, dass er ja gestern Abend seine letzte Zigarette geraucht hatte und seit heute Nichtraucher war. Dabei fühlte er sich ausgesprochen gut und erleichtert. Er verließ das Bad, zog sich an und aß anschließend wie gewohnt seine Cornflakes. Dass er normalerweise danach auch noch eine Zigarette zum Kaffee rauchte, kam ihm heute nicht in den Sinn.

313 Nach dem Frühstück holte Stephan sein Fahrrad aus dem Keller. In der Nacht hatte es noch ordentlich weiter geschneit und viele Stellen auf seinem Weg zum Fliegerhorst waren noch nicht geräumt, so dass er mehrmals absteigen und schieben musste. In seinem Büro fiel Stephans Blick auf den Aschenbecher, der auf dem Schreibtisch stand. »Dich brauche ich jetzt nicht mehr!«, sagte er lächelnd und stellte ihn in den Mülleimer.

314 315 Epilog

Stephan hat es tatsächlich geschafft. Hätte ihm irgendjemand einmal gesagt, dass er nur ein gutes Buch lesen müsste, um Nichtraucher zu werden, hätte er ihn für komplett verrückt erklärt. Der einfachste Weg, mit dem Rauchen Schluss zu machen, war wirklich ein Buch gewesen. Nach über zwanzig Jahren hatte Stephans Raucherkarriere auf Sylt ein Ende genommen und ein neuer, lebendiger Lebensabschnitt begonnen.

Zehn Jahre später saß Stephan auf dem weißen Holzgeländer der Westerländer Strandpromenade und blickte hinaus auf die Nordsee. Früher hatte er das Farbenspiel von Sonne und Wolken immer bei einer Zigarette genossen. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Jetzt eine rauchen, das konnte er sich absolut nicht mehr vorstellen. Selbst eine Zigarette in den Fingern zu halten, war ihm gänzlich fremd und so undenkbar. Inzwischen war es ihm sogar unangenehm, wenn er beim Einkaufen Zigaretten für Sophie mit aufs Band legte. Was für ein wertvolles und kostbares Geschenk Sophie ihm damals mit dem Buch gemacht hatte, war ihm über die letzten Jahre immer mehr bewusst geworden. Grob überschlagen hatte er insgesamt zweiundzwanzig Jahre geraucht und durchschnittlich vier Mark pro Tag für Zigaretten ausgegeben. Das ergab eine Summe von rund 32000 Mark, die er im wahrsten Sinn des Wortes verbrannt hatte. Wahnsinn, dachte Stephan und machte eine Gegenrechnung, nach der er ungefähr 1800 Euro im Jahr nur

316 dadurch verdiente, dass er nicht rauchte. Und mit jedem Anstieg der Zigarettenpreise erhöhte sich seine Rendite. Der finanzielle Aspekt war das eine und wog vergleichsweise gering gegen das neue Lebensgefühl, das er als Nichtraucher hatte. Körperlich hatte er jetzt wieder den Status eines Nichtrauchers und fühlte sich so leistungsfähig wie nie. Die viele Zeit, die er mit Rauchen verschwendet hatte, stand ihm nun für wichtigere Sachen zur Verfügung. Nichts musste mehr verschoben werden, weil man noch schnell eine rauchen musste. Und auch wenn sein Uropa siebenundneunzig Jahre alt geworden war und bis zum Schluss geraucht hatte, wusste man ja schließlich nie, wie dick oder dünn der eigene Lebensfaden letztlich gesponnen worden war. Ihn mit aller Gewalt auszudünnen, das wollte Stephan jedenfalls nicht. Dafür hatte er noch zu viel in seinem Leben vor. - Vielleicht ein Buch schreiben?

317 Bisher erschienen:

Juli.Mord.

Robert Bennings erster Fall.

Am Westerländer Strand wird eine junge Frau tot aufgefunden. Robert Benning, Inselmaler und freier Journalist, erhält den Auftrag, über den Fall zu berichten. Zusammen mit seinem Freund, Hauptkommissar Hinrichs, stößt er schon bald auf weitere ungeklärte Mordfälle in Norddeutschland. - Sind sie etwa einem Serienmörder auf die Spur gekommen? Benning erhält eine Nachricht aus der Vergangenheit, die auf merkwürdige Weise mit den Morden in Verbindung zu stehen scheint. Auf einmal bekommt der Fall eine bedrohliche Nähe, Benning steht plötzlich inmitten einer tödlichen Geschichte, über die er eigentlich nur berichten wollte.

* * *

Strand.Blut.

Robert Bennings zweiter Fall.

Mitten in der Hochsaison halten verwüstete Baustellen die Sylter Kripo in Atem. Die dort zurückgelassenen Hinweise deuten auf eine Bürgerinitiative, die sich gegen den Ausverkauf der Insel einsetzt. Nach dem gewaltsamen Tod eines Lister Immobilienmaklers bekommt die Angelegenheit eine völlig neue Dimension für

318 Hauptkommissar Hinrichs. Zusammen mit Robert Benning, den der Täter aus irgendeinem Grund gezielt in diesen Fall hineinzieht, nimmt er die Ermittlungen auf. Dabei stoßen die beiden auf weitere mysteriöse Todesfälle und kurz darauf nimmt der Fall eine Wendung, mit der sie niemals gerechnet hätten.

319 320