Rundfunk und Geschichte

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv

26. Jahrgang Nr. 1 I 2 - Januar I April 2000

Die Operette in der Berliner Funkstunde

Probleme des frühen NWDR-Fernsehens

Die DDR-Krimi-Reihe >Polizeiruf 11 0<

Briefwechsel Ernst Hardt- Alexander Maaß

Kriegsschuld im DDR-Rundfunk der 50er Jahre

Rezensionen

Bibliographie

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv

Zitierweise: RuG -ISSN 0175-4351 Redaktion: Ansgar Diller Edgar Lersch Redaktionsanschrift

Dr. Ansgar Diller, Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main - Berlin, Bertramstraße 8, 60320 Frankfurt am Main, Tel. 069-15687212, Fax 069-15687200, Email: [email protected] Dr. Edgar Lersch, Südwestrundfunk, Historisches Archiv, 70150 Stuttgart, Tel. 0711-9293233, Fax 0711-9293345, Email: [email protected] Redaktionsassistenz: Dr. Stefan Niessen Herstellung: Michael Friebel Redaktionsschluß: 10 . Mai 2000 Das Inhaltsverzeichnis von >Rundfunk und Geschichte< wird ab Jg. 19 (1993), H. 1, im INTERNET (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/zeitschr/RuGe/rugindex.htm) angeboten. Texte von >Rundfunk und Geschichte< werden ab Jg. 25 (1999), H. 4, online im INTERNET (http://www.medienrezeption.de) angeboten. Inhalt

26. Jahrgang Nr. 1 I 2 - Januar I April 2000

Aufsätze Susanna Großmann-Vendrey Die Operette in der Berliner Funkstunde 5 Petra Witting-Nöthen Rechtliche und wirtschaftliche Probleme des frühen NWDR-Fernsehens Vom Versuchsbetrieb zur Einführung des Fernsehens in Deutschland 14 Andrea Guder Genosse Hauptmann auf Verbrecherjagd Die DDR-Krimi-Reihe >Polizeiruf 110< 21

Dokumentation Pioniere des deutschen Rundfunks im Spiegel eines Briefwechsels Ernst Hardt- Alexander Maaß (1945/46) (Teil I) (Mira Doräevic) 29

Miszellen Arnold Weiß-Rüthel (1900- 1949) (Hans-Uirich Wagner) 44 »Die Gegenwart zwingt zur Besinnung!«. Die Thematisierung von Kriegsschuld in Kommentaren und Betrachtungen des DDR-Rundfunks der 50er Jahre (lngrid Pietrzynski) 45 Rückkehr in die Fremde? Remigranten und Rundfunk in Deutschland (1945- 1955) Eine Ausstellung (Ansgar Diller/Hans-Uirich Wagner) 50 Gelassenheit des Rückblicks als Identifikationsangebot Ausstellung über Günter Eich in Potsdam (lngrid Pietrzynski) 53 »Ökonomie von Medienunternehmen im 20. Jahrhundert«. Eine Tagung in Berlin (Monika Estermann) 54 Ungemütliche Bilder am Ende der 50er Jahre. Die Schwarz/Weiß-Filme des Kameramanns Heinz Pehlke. Eine Tagung in Marburg (Matthias Kraus) 55 »Die dunkle Seite der Medien«. Anmerkungen zu einem Phanomen und zu einer Tagung (Christan Filk) 57 Das Kulturarchiv der Hannoverschen Hochschulen Eine Dokumentations- und Forschungsstelle für die Medien (Peter Stettner) 59 Der» Bitterfelder Weg« im DDR-Hörfunk. Forschungsprojekt der an Universität Mannheim (lngrid Scheffler) 61 »Geschichte und Ästhetik des dokumentarischen Films in Deutschland 1895 - 1945« Ein DFG-Forschungsprojekt (Kay Hoffmann) 62 Fehlgeschlagene Radioarchaologie. Vom Verschwinden der Berliner Militärradios zehn Jahre nach dem Mauerfall (Oliver Zöllner) 64 2 Rundfunk und Geschichte 25 (1999)

Neuesaus »GIBAR-Land«. 15. »Gonference of International Boadcasters' Audience Research Services« (GIBAR) in Genf (Allen Gooper/Oiiver Zöllner) 65 BFBS auch in Großbritannien zu empfangen. Feldversuch in vier Garnisonsstadten (Oliver Zöllner) 66 50 Jahre ARD. Ein Symposium in Berlin 67 Internationaler Historikerkongress 2000 in Oslo mit Medienthemen 67

Rezensionen Konrad Dussel: Deutsche Rundfunkgeschichte. Eine Einführung Konrad Dussei/Edgar Lersch (Hrsg.): Quellen zur Programmgeschichte des deutschen Hörfunks und Fernsehens Jürg Hausermann: Radio Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik (Ansgar Diller) 68 Heide Riedel: »Lieber Rundfunk .. . « (Werner Schwipps) 69 Steffen Jenter: Alfred Braun- Radiopionier und Reporter in Berlin (Marianne Weil) 71 Hans-Uirich Wagner: Günter Eich und der Rundfunk (Ghristian Hörburger) 72 Dieter Breuer/Getrude Gepi-Kaufmann (Hrsg.): Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland (Ansgar Diller) 73 Ludwig Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration (Ansgar Diller) 73 Gerd Weckbecker: Zwischen Freispruch und Todesstrafe (Ansgar Diller) 74 Ludwig Fischer u.a. (Hrsg.): »Dann waren die Sieger da« Gabriele Giemens: Britische Kulturpolitik in Deutschland 1945 - 1949 (Ansgar Diller) 75 Stefan Rechlin: Rundfunk und Machtwechsel (Konrad Dussel) 76 Holger Böning u.a. (Hrsg.): Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte (Ansgar Diller) 77 Günther Schulz (Hrsg.): Geschaft mit Wort und Meinung (Wolfgang Mühi-Benninghaus) 78 Giemens Knobloch: Moralisierung und Sachzwang (Ghristian Filk) 79 Hermann Schreiber: Henri Nannen (Hans Bohrmann) 80 Bürgertum im »langen 19. Jahrhundert« Rudolf Stöber: Die erfolgsverwöhnte Nation (Edgar Lersch) 81 Wolfgang DegenhardUEiisabeth Strautz: Auf der Suche nach dem europaischen Programm Rüdiger Zeller: Die EBU (Barbara Thomaß) 84 Jürgen Kühling : Die Kommunikationsfreiheit als europaisches Gemeinschaftsrecht (Dietrich Schwarzkopf) 85 Inhalt 3

Ute Bechdolf: Puzzling Gender (Thomas Münch) 86 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Kriminalhörspiele 1924-1994 (Carmen Vosgrönne) 87 Herbert Kapfer (Hrsg.): Vom Sendespiel zur Medienkunst (Carmen Vosgröne) 88 Thomas Steinmaurer: Tele-Visionen (Peter M. Spangenberg) 89 Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist (Axel Schildt) 89 Roger Chartier/Gugliemo Cavallo (Hrsg.): Die Welt des Lesens Bodo Franzmann u.a. (Hrsg.): Handbuch Lesen Norbert Groeben (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft (Edgar Lersch) 90 Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht (Peter Hoff) 93 Scott Dikkers (ed .): Our Dumb Century (Oliver Zöllner) 94 Ralf Stockmann: Spiegel und Focus (Chritian Filk) 95 Ivor Wynne Jones: BFBS Cyprus (Oliver Zöllner) 96 Christine Engel u.a. (Hrsg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films (Wolfgang Mühi-Benninghaus) 97 Daniel Müller: Manfred Georg und die >Jüdische Revue< (Ansgar Diller) 98 Geschichte zum Hören - 1948 (Walter Roller) 98 Les images sont plus belles a Ia radio. 75 ans des sons partages (Muriel Favre) 99

Bibliographie Zeitschriftenlese 81 (1.9.- 31 .12.1999) (Rudolf Lang) 100

Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte Jahrestagung des Studienkreises 2000 in Stuttgart 103 Perspektiven des Studienkreises Rundfunk und Geschichte 104

Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Neuerscheinung in der Reihe des DRA Gundorf Winter u.a.: Die Kunstsendung im Fernsehen der Bundesrepublik Politische Musik in der Zeit des Nationalsozialismus 105 Weimarer Republik im Ton. Neue CD von DRA und OHM 105 ARD-Stipendien zur DDR-Rundfunkgeschichte 106 Geschichte des MDR als Buch 106 4 Rundfunk und Geschichte 25 (1999)

Autoren der längeren Beiträge

Prof. Dr. Mira Doräevic, Universitat Sarajevo, Philosophische Fakultat, Abteilung für Germanistik, F. Rackog 1, BiH-71000 Sarajevo

Prof. Dr. Susanna Großmann-Vendrey, Ebersheimstraße 1, 60320 Frankfurt am Main

Andrea Guder, Bockenbachstraße 25a, 57223 Kreuztal

Dr. lngrid Pietrzynski, Deutsches Rundfunkarchiv, Historisches Archiv, Rudower Chaussee 3, 12489 Berlin

Petra Witting-Nöthen, Westdeutscher Rundfunk, Historisches Archiv, Appellhofplatz 1, 50667 Köln Susanna Großmann-Vendrey

Die Operette in der Berliner Funkstunde

Wohl keine andere Großstadt im deutschen Berlins zu bestehen war allerdings für die Funk­ Sprachgebiet gebot in den 20er Jahren Ober ei­ stunde eine wesentlich schwierigere Aufgabe als ne ähnlich breite Palette theatralischer Institutio­ für andere Sendegesellschaften wie etwa in Köln nen wie die Millionenstadt Berlin. Von den Ober oder Stuttgart, an deren Standorten keine Ope­ 30 Häusern, die die Stadt um 1925 mit Darbie­ retten- und Revuetheater reüssierten und wo tungen aller Art versorgten, spielte zeitweise das unterhaltende Musiktheater in den Program­ mehr als die Hälfte Musiktheater, und ihr Re­ men stMtischer Opernhäuser, mit Berlin vergli­ pertoire deckte alle Bildungs- und Unterhal­ chen, nur ein Schattendasein fristete. tungsbedürfnisse von der seriösen Oper bis zur Posse, von der Revue bis zum musikalischen Lustspiel ab. Besonders als Zentrum der Ope­ Die Übertragung - Stars und Novitäten rette lief Berlin nach Ende des Ersten Weltkriegs der alten Operettenstadt Wien den Rang ab: Die Es ist bezeichnend, dass Bühnenwerk, spezifische Berliner Operette, die ihre ersten das die Berliner Funkstunde am 18. Februar Triumphe mit den schmissigen Melodien Paul 1924 live ihren Hörern ins Haus lieferte, eine Linckes noch um die Jahrhundertwende feierte, Operettennovität war: die Übertragung von Le­ lebte nach 1920 in den Werken der zweiten hars »Frasquita« aus dem Thalia-Theater.1 Das Operettengeneration (wie Walter Kollo, Walter im spanisch-exotischen Milieu angesiedelte Goetze, Eduard KOnneke) wieder auf; einige ·Stock aus der Feder des erfolgreichen k.u.k.­ Theaterunternehmer, die zeitweise mehrere Komponisten war im Mai 1922 in Wien mit gro­ Häuser betrieben, wie etwa Felix Saitenburg und ßem Erfolg herausgekommen; die Berliner Auf­ Erich Charell, erwiesen sich als finanzstark, risi­ führung versprach durch die Anwesenheit Le­ koreich und aktiv genug, um Uraufführungen ar­ hars, der die Aufführung am Dirigentenpult lei­ rivierter »k.u.k.«-Komponisten, wie etwa von tete, einen besonderen Reiz und die Gewähr für Franz Lehar, nach Berlin zu locken oder zumin­ authentische Vermittlung.2 Das akustisch eher dest die Rechte der deutschen Erstaufführung bescheidene Ergebnis tat der Sensation der für sich zu sichern. Die neue Gattung der auf Übertragung keinen Abbruch: die Sendung wur­ eingängige Schlager und auf Schaueffekte ab­ de am 18. März 1924 unter verbesserten techni­ zielenden Revue gedieh in der tanz- und unter­ schen Bedingungen wiederholt.3 haltungssüchtigen Atmosphäre Berlins beson­ Die Übertragungspolitik der Funkstunde ders gut und sorgte für weitere szenisch-musika­ blieb, was die Operette betrifft, in den weiteren lische Attraktionen. Jahren - soweit nicht wirtschaftliche Momente Es ist einleuchtend, dass die Berliner Funk­ Einschränkungen diktierten - von den Präferen• stunde an den Ereignissen des unterhaltenden zen der ersten Zeit bestimmt: Weiterhin standen Musiktheaters ebensowenig vorbeigehen konnte Novitäten oder besondere Aufführungen mit wie am Angebot der Staatsoper und anderer Starbesetzung im Zentrum des Interesses. Der hochkultureller Institutionen, wollte sie - wie es Gesichtspunkt der Aktualität, der Hang nach ihr Anspruch gebot- Kultur »für alle« vermitteln. Vermittlung von Sensationen, der dem Hörer das Dabei richtete sich ihr Ehrgeiz hauptsächlich Gefühl von Dabei-Gewesen-Sein suggerierte, darauf, die Hörer an den publikumswirksamsten Oberwog dramaturgische und ästhetische Be­ Operettenaufführungen Berlins via Übertragung denken und wurde partiell auch im Organisatori­ teilnehmen zu lassen - ein Ziel, das die Funk­ schen manifest: Im Herbst 1929 zeichnete für stunde bis in die 30er Jahre hinein beharrlich eine Weile die Aktuelle Abteilung der Funkstun­ verfolgte (und dabei vielfach auch als Versarger de unter Altred Braun auch für Operettenüber• finanzschwacher Sendegesellschaften, wie tragungen verantwortlich. Breslau und Königsberg, fungierte). Richard Tauber, konkurrenzloser Stern am Als der Rausch der ersten akustischen Sen­ deutschen Operettenhimmel und besonderer sationen verflogen war und allmählich - von den Interpret der Leharschen Rollen, war seit 1927 in hohen Honorarforderungen ganz abgesehen - der Funkstunde heiß begehrt. Während die künstlerische und technische Defizite der Über• Übertragung der Uraufführung von Lehars »Za­ tragung bewusst wurden, besann man sich auf rewitsch« (aus dem Deutschen Künstler-Thea• die Möglichkeiten im Studio und auf den Aufbau ter, geplant für den 22. Februar 1928) an seiner eines selbständigen Operettenrepertoires. Mit exorbitanten Honorarforderung und wohl auch einem eigenen Angebot neben den Theatern an der Konkurrenzangst des Direktors Felix 6 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Saltenburg, der seine Genehmigung zurückzog, blieb zwar vorerst noch bei der üblichen Logen­ scheiterte, zeigte sich der Sänger bald von der Conference9 Alfred Brauns, ab 1928 scheint es massenwirksamen Reklamewirkung des Rund­ jedoch gewisse Regie-Absprachen zwischen funks überzeugt: Der »Zarewitsch« wurde am 1. Theater- und Funkregie gegeben zu haben: Der August 1929 in einer Neueinstudierung doch Abend mit Benatzkys Revue-Operette »Die drei noch übertragen, wobei der Sängerstar in einer Musketiere« (8.1 0.1929; Wiederholung 17.11. ungewöhnlichen Funktion, nämlich als Dirigent, 1929) wurde als eine »für den Rundfunk herge­ fungierte.4 richtete Übertragung« angekündigt. Bei dieser Damit begann zwischen dem Berliner Sender »Einrichtung« durfte es sich um Experimente bei und dem Operettenstar eine für beide vorteil­ der Mikrofonaufstellung gehandelt haben, etwa hafte Beziehung: Die Funkstunde konnte sich so, wie es Cornelis Bronsgeest bereits bei der Richard Tauber langfristig als Publikumsmagnet Übertragung von Otterbergs »Goldfisch aus sichern, und der Sänger profitierte - neben sei­ Amerika« (31.5.1928) aus dem Zentraltheater nen Schallplatten- und Filmerfolgen - auch von angestellt hatte. Bronsgeest versuchte das der Publizität des Massenmediums Rundfunk. Übertragungsproblem dadurch zu lösen, dass er Die Berliner konnten Tauber im Winter 1928/29 die Mikrophone hin- und hertragen ließ und sie gleich in zwei Operettenkonzerten aus dem teilweise mit geschickter Improvisation in das Großen Schauspielhaus hören und am 30. Ja­ Spiel einbezog. Diese »Eingriffe des Funkregis­ nuar 1929 in der Uraufführung von Lehars seurs« in die Übertragung verbesserten die »Friederike«.s Von da an übertrug die Funkstun­ akustische Qualität und die theatralische Atmo­ de jedes Jahr die weihnachtliche Operettenpre­ sphäre erheblich, wie ein Berliner Kritiker aner­ miere Taubers aus dem Metropoltheater. Das kennend bemerkte.10 Nur verbissene Rundfunk­ letzte Mal war Tauber als Operettendarsteller ästheten vom Schlage Kurt WeiHs insistierten am 13. September 1932 von den Berlinern zu auf ihrer Meinung, dass bei der Revue-Operette hören. Die Auftritte des wohl berühmtesten Ope­ der Hörer leer ausginge.11 rettenstars der Weimarer Zeit in der Funkstunde, Den Übergang von der Revue zur Revue­ zudem in Rollen, die mit ihren betörenden Melo­ Operette initiierte in Berlin Erich Chare11.12 Cha­ dien ganz auf ihn zugeschnitten waren (»Friede­ rell brachte ab 1927 regelmäßig im Großen rike«, »Land des Lächelns«, »Zarewitsch«) wa­ Schauspielhaus neue Revue-Operetten (»Wie ren zweifellos Glanzlichter. Sie setzten aber einst im Mai« 1927; »Casanova« 1928; »Die drei zugleich einen starken Akzent auf die ehrgeizi­ Musketiere« 1929) und ältere Werke in neuer, gen, opernnahen und zudem stark sentimenta­ revuemäßiger Realisation heraus (»Mikado« len Spätwerke Lehars im Programm, 6 auf eine 1927; »Pompadour" und »Dreimäderlhaus« Richtung des Genres freilich, die für die Ope­ 1928; »Der liebe Augustin« 1929). Charells neue rettenproduktion des Jahrzehnts prägend gewe­ dramaturgische und szenische Konzeption der sen ist. Operette lag offenbar im Trend der Zeit und be­ Die sentimentale Idyllik schlich sich aber einflusste auch andere Regisseure, etwa Max auch durch die Übertragung erfolgreicher Re­ Reinhardts berühmte »Fiedermaus«-lnszenie­ vue-Operetten Charellscher Provenienz ins Pro­ rung am Deutschen Theater 1929.13 gramm ein. Diese jüngere Schwester der Revue, Dass die Funkstunde unmittelbar im An­ die in Berlin um 1926/27 in Mode kam, brachte schluss an die Revue-Versuche mit der Übertra• für die Funkübertragung bessere dramaturgische gung der revueartigen Operetten aus Charells Voraussetzungen mit als die Revue:7 Das übli• Theater begann, war nur ein Glied in der Kette che Feuerwerk szenischer Effekte, die in der der bereits bestehenden persönlichen und ge­ Revue eine Fülle bildhafter Assoziationen bot, schäftlichen Verflechtungen mit dem erfolgrei­ jedoch auf eine durchgehende Handlung meis­ chen Theaterunternehmer, zumal Charell zum tens verzichtete (und sich dadurch der Übertra• weiteren Zusammenspiel gleich mit einem gung sperrte), machte in der jüngeren Revue­ »Funkzauber« im dritten Akt seiner ersten Re­ Operette einer »durchgängigen, freilich schema­ vue-Operette »Wie einst im Mai« (von W. Kollo tischen und episodenreichen Handlung Platz, und W. Bredschneider; Übertragung am 5.3. die, aufwendig inszeniert, mit Ballett und festli­ 1927) animierte, einer sentimental-burlesken chen Aufmärschen durchsetzt, Auge und Gemüt Szene im Studio, wofür er Alfred Braun enga­ gleichermaßen ansprach«.s Bei einer Übertra• gierte. Das Ergebnis war eine Vereinbarung zwi­ gung war die Handlung einer Revue-Operette schen Funkstunde und Charell für die Spielzeit akustisch eher vermittelbar, und die Schlager­ 1927/28 über die Übertragung von vier lnszenie­ und Tanznummern ließen sich zwischendurch rungen.14 Die darauffolgende rege Beteiligung als Konzertnummern problemlos in die Übertra• Alfred Brauns an Charell-lnszenierungen und gung integrieren, ohne die Zuhörer durch unver­ -Übertragungen lässt vermuten, dass er als trei­ ständliche szenische Vorgänge zu irritieren. Es bende Kraft hinter der Liaison der Rundfunkge- Großmann-Vendrey: Die Operette in der Berliner Funkstunde 7

sellschaft mit dem Großen Schauspielhaus des Übertragungabkommens - auch noch aus stand. Bald nachdem er die ersten Revue­ der Staatsoper, 1930 kam noch eine Produktion Übertragungen als Contereneier in der Loge be­ der Krolloper dazu. gleitet hatte, trat Braun bei Charell als Sänger Bei derart zahlreichen außergewöhnlichen und Schauspieler in dem Singspiel-Evergreen Ereignissen am Operettenhimmel und bei der »Alt Heidelberg« auf, das am 8. Mai 1926 Ober­ eindeutigen Präferenz für bestimmte Theater tragen wurde. Von da an begleitete Braun die kamen andere Bühnen Berlins in der Operetten­ Chareii-Übertragungen entweder als Conteren­ Übertragung häufig zu kurz, wobei freilich büh• eier oder als Gast-Hauptdarsteller, eine Aufga­ nenakustische und technische Schwierigkeiten be, für die er von der Funkstunde regelmäßig auch eine Rolle gespielt haben mochten. Die »beurlaubt« wurde. Die Berliner Rundfunkkritik Leitung der Funkstunde bemühte sich aber nach sparte freilich - trotz mehrfacher Dementi - nicht 1928 sichtlich um Ausgewogenheit in der Über• mit hamischen Bemerkungen Ober die »unterir­ tragungsfrage. Besonders die ab 1930 aus dischen Beziehungen« zwischen dem Sender Kostengründen eingeführten Teilübertragungen und Charells »Revue G.m.b.H.« und Ober die und die Sendereihe Berliner Theater der Abtei­ dilettantischen Ausflüge des Funkregisseurs und lung Aktuelles der Funkstunde bezogen neue literarischen Leiters Alfred Braun in die Gefilde Häuser mit ein, trotzdem blieben lokale Ereig­ der Operette.15 Der Chefredakteur des >Deut­ nisse oder jüngere, noch unbekannte Werke bis schen Rundfunks<, Hans von Heister, kommen­ auf wenige Ausnahmen außerhalb der Aufmerk­ tierte 1928 lakonisch: samkeit der Sendegesellschaft. Die allerletzten Operetten-Novitäten im Berliner Rundfunk waren »Funk-Stunde und Großes Schauspielhaus, richtiger Braun und Charell. Diese Verbindung hat sich be­ die Uraufführung von Eduard Künnekes »Lise­ währt. Sie bedeutet für alle Beteiligten Gewinn und lott« (Teilübertragung aus dem Admiralspalast, Erfolg. Also hat man sich auch in diesem Jahre zu­ 7.3.1932) und die Erstaufführung des amerikani­ sammengetan«, schen Erfolgstücks »Studentenprinz« von Sieg­ mund Romberg (Teilübertragung, 24.11.1932 erhob aber geharnischten Protest dagegen, dass aus dem Großen Schauspielhaus.). Seide Wer­ in der Funkstunde Schuberts 100. Todestages ke deuteten bereits dezent an, in welcher Rich­ ausgerechnet mit der Übertragung des »revue­ tung sich die Operettenproduktion in den näch• artig aufgezogenen«, mittelmäßig-sentimentalen sten Jahren weiter bewegen sollte: in den Bah­ Evergreens »Dreimäderlhaus« gedacht worden nen der deutschen historischen Operette, gele­ war, zudem mit Braun in der unsäglichen Rolle gentlich mit einer gehörigen Portion Sentimenta­ der Schubert-Figur »Schwammerl«. lität gemischt. »Wenn Schubert auf dieser Weise populär gemacht werden soll, so wäre es schon besser gewesen, ihn in seiner Verborgenheit zu lassen. ( ... ) Es ist müßig Die klassische Operette im Sendespiel an dieser Stelle über das Werk selbst weitere Worte zu verlieren. Wir müssen uns nur dagegen stemmen, Als erstes Operetten-Sendespiel der Funkstunde daß eine so belanglose Angelegenheit von der Funk­ Stunde so ernst genommen wird: denn auf diese ging die »Fledermaus« von Johann Strauß an Weise könnte nach außenhin ein fürchterliches Bild Silvester 1924 Ober den Äther. Die Wahl dieses von dem geistigen Niveau des Berliner Senders ent­ anspruchsvollen Operetten-Klassikers in einer stehen.« 16 durchaus akzeptablen Besetzung17 war nicht nur ein ehrgeiziger Anfang, der dem Beginn der Das zweite Haus, das die Funkstunde bei Über• Opern-Sendespiele mit Mozarts »Figaro« (1.11. tragungen favorisierte, war das (zeitweilig von 1924) etwas Ebenbürtiges zur Seite stellen soll­ Charell gepachtete) Metropoltheater, in dem ei­ te, sondern gab auch den vorläufigen Rahmen nige sensationelle Uraufführungen herauska­ für die Operette vor. So kamen 1925 in allen vier men, das aber auch arrivierte neuere Stocke und Sendespielen der Sparte altbewährte Erfolgs­ altbewährte Operetten-Klassiker in exklusiver werke von Jacques Offenbach und Johann Besetzung in seinem Repertoire hatte. Die Reihe Strauß zu Wort; die Einstudierung besorgten al­ der Übertragungen eröffneten 1927 von Emme­ ternierend die vier namhaften (Gast-)Dirigenten rich Kaimans »Zirkusprinzessin«" und eine Fest­ der Funkstunde.1B Diese Einstimmung des aufführung von Lehars »Paganini« (17.11.) unter Spielplans auf das arrivierte Repertoire folgte der Leitung des Komponisten; ein ungewöhnli• partiell der außermedialen Praxis, gehörten doch ches Glanzlicht setzte 1930 Millöckers »Bettel­ Werke wie »Fledermaus« und »Orpheus in der student« (29.4.) auf mit Opernsängern allererster Unterwelt« zu jenen Standardwerken, die sogar Garnitur, wie Tino Pattiera, Gitta Alpär, Karl Jö• in Opernhäusern ihren Platz hatten. So blieb Jo­ ken und Leo Schützendorf. Klassische Operet­ hann Strauß, der Meister der klassischen Wle­ ten hörten die Berliner anfangs - im Rahmen ner Operette, mit seinen populärsten Werken bis 8 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) in die Spielzeit 1927/28 im Spielplan der Funk­ len ist man einfach erschlagen. Wie bei allen Meis­ stunde und wurde für Highlights der Saison auf­ tern dieser Gattung von Cervantes bis Chaplin ist ja gespart: Für den Jahresanfang 1927 studierte auch bei Offenbach die Persiflage eine andere Aus­ Leo Blech die »Fledermaus« ein (2.1.1927), ihr drucksform für ernste, philosophisch begründete ln­ folgten noch vier aufwendige Abende.19 Von da halte, die so, auf die Spitze gestellt, in ihrer schärfs• ten Prägnanz erscheinen. Von dieser Art von ernst­ an verschwand die Straußsehe Operette von der hafter Parodie hat die Musik die glänzenden Mittel Funkbühne,20 weil der Sender in seinen Büh• e~ner Umdeutung ins Tänzerisch-Beschwingte, und nensparten allmählich nach Alternativen zum memals hat ein Musiker sich dieses Mittels mit sol­ außermedialen Repertoire suchte. Sie ließen cher Meisterschaft bedient wie Offenbach. Dieser sich durchaus auch bei klassischen Werken fin­ musikalische Humor ist auch im Mikrophon von un­ den, wenn man sich nur jener älteren Meister vermindert durchschlagender Wirkung.«24 der Gattung erinnerte, die mittlerweile aus dem Der »Großherzogin von Gerolstein« folgten noch novitätssüchtigen Theaterbetrieb verschwunden drei weitere Einstudierungen,25 dann erlahmte waren. das lnteresse,26 um dann im FrOhjahr 1930 un­ Auf die »ungehobenen Schätze« der klassi­ ter dem neuen Intendanten Hans Flesch sich schen Operettenliteratur wies der Rundfunkkriti­ wieder zu intensivieren. ke~ Ru.~olf Lothar schon 1926 hin und zog in Nach einem mutigen Versuch mit der älteren seme Uberlegungen die französische Operette französischen Operette, mit Lecocqs aberwitzig­ (Audran, Lecoq) mit ein.21 So gelang es der grotesker »Girofle-Girofla« (30.1 0.1929) begann Funkstunde gerade in der Sparte der klassi­ in Berlin eine regelrechte Offenbach-lnflation. schen Operette, Schritt fOr Schritt Alternativen Sie war quasi das mediale Echo auf die Offen­ zum etablierten Repertoire anzubieten: Noch in bach-Renaissance, die sich um diese Zeit - der der Spielzeit 1925/26 führte sie drei ehemals be­ Geburtstag des Komponisten jährte sich 1929 liebte Werke von Franz v. Suppe auf (»Fatini­ zum 11 0. Male - auf den deutschen BOhnen za«, 7.3.1926; »Die schöne Galathee«, 3.4. bemerkbar machte. Daran hat auch der Wiener 1926; »Boccaccio«, 18.4.1926); im FrOhjahr Schriftsteller Karl Kraus wesentlich mitgewirkt, 1927 kam Carl Millöcker (»Bettelstudent«, 1.6.) der seit 1926 selten gespielte Offenbach-Operet­ und blieb von da an mit jährlich zwei Einstudie­ ten in neuer Übersetzung bearbeitete und in rungen präsent.22 Schließlich ergänzte im »Vorlesungen« - wie er seine Veranstaltungen Herbst 1929 noch Karl Zeller die Reihe der älte• nannte -, d.h. allein mit einem Klavierbegleiter ren Meister. 23 die Werke singend und sprechend vortrug. Im besten Sinne innovativ wurde der Spiel­ Kraus gastierte 1928 in München, Harnburg und plan erst, als der Sender sich dem Oeuvre von Prag sowie im Oktober 1929 mit seinem Jubi­ Jacques Offenbach zuwandte. Etwa ein Jahr läums-Zyklus auch in Berlin:27 Den Abend im nach dem ersten »Orpheus«-Sendespiel wählte Berliner Bechstein-Saal mit der »Prinzessin von die Funkstunde für eine öffentliche Aufführung Trapezunt« am 16. Oktober 1929 hat die Aktu­ am 25. Juni 1926 erneut das zugkräftige Stück in elle Abteilung der Funkstunde übertragen. Kraus hochkarätiger Besetzung unter Leo Blech. Der verstand sein Engagement fOr Offenbach als E~olg dieser Veranstaltung wurde in der Spiel­ Kampf gegen die »Verantwortungslose Heiter­ zelt 1926/27 zum Auftakt einer Reihe von Offen­ keit« der zeitgenössischen Wiener Operette Le­ bach-Aufführungen. Den Anfang machte am 8. harscher Provenienz und als Möglichkeit enga­ November 1927 die bissig-ironische Militär- und gierter, satirischer Gesellschaftskritik an den Feudalsatire »Die Großherzogin von Gerol­ Missständen der Österreichischen Republik (u.a. stein«. Dass es sich allein schon deshalb lohnte an der berüchtigten Revolverpresse Bekessys), weil Offenbachs listige musikalische Parodi~ auf die er in aktualisierten Zeitstrophen der sich ohne Einbußen durch das Mikrophon ver­ Couplets hinwies. Während die offizielle Kultur mitteln ließ, bestätigte auch Kurt Weill: ihn totschwieg, engagierten sich gerade Vertre­ »Schon die Idee, dieses Stück einmal wieder der un­ ter der musikalischen Avantgarde für Kraus' Of­ verdienten Vergessenheit zu entreißen, ist rühmens• fenbach-Arbeit und sahen in ihr die einzige Mög• wert: denn diese Hörspielaufführung ließ in allen lichkeit, Offenbach »dem heutigen reellen The­ Kreisen der Hörerschaft die erstaunte Frage auf­ ater nahezubringen« und sie »lebendig zu ma­ kommen, warum ein so genial hingeworfenes, von chen«.28 Ermuntert durch das Beispiel kleinerer glänzenden Einfällen übersprudelndes Werk so voll­ BOhnen, die allmählich anfingen, Kraus' Offen­ kommen von den Spielplänen unserer Opern- und Operettenhäuser verschwunden ist. ( ... ) Auf die übli• bach-Bearbeitungen szenisch aufzuführen,29 chen Operettensentimentalitäten ( ... ) müssen - wir setzte die Funkstunde am 9. März 1930 das hier verzichten. Dafür erscheinen hier aber die we­ Lieblingsstück von Kraus, »Madame I'Archiduc« se~tlich~t~n _Elemente der Operette: Witz, Tempo, ins Programm: Nach Meinung der Kritik gehört~ He1terke1t 1n Ihrer reichsten und schönsten Form. Be­ der Abend zu den besten Berliner Operetten- sonders von dem Reichtum an parodistischen Einfäl- Großmann-Vendrey: Die Operette in der Berliner Funkstunde 9 sendungen und bewies, »daß die Offenbach­ Die zeitgenössische Operette im Renaissance der letzten Monate viel mehr als Sendespiel eine Mode« gewesen war. 30 Der musikalische Leiter dieser Aufführung, Kaum in einer anderen musikalischen Pro­ der Wiener Dirigent und Neffe von Gustav Mah­ grammsparte zeigte sich die Funkstunde gegen­ ler Fritz Mahler, gehörte bereits in seiner Stu­ über der zeitgenössischen Produktion so aufge­ dienzeit zum erweiterten Schönberg-Kreis und schlossen, wie auf dem Gebiet des Operetten­ zu den Anhangern von Karl Kraus. Dass er mit Sendespiels. Eine gute Portion Berliner Lokal­ argumentativer Unterstützung von Kurt Weill und patriotismus mochte darin ebenso eine Rolle ge­ Ernst Krenek die Berliner Aufführung angeregt spielt haben wie der Wunsch, sich innerhalb der hatte ist wahrscheinlich, zumal er auch im fol­ unterhaltenden Institutionen Berlins einen mas­ gend~n Jahr haufig als Offenbach-Interpret in senwirksamen Platz zu erobern. Waren die Sen­ der Funkstunde auftrat. Als nachstes erschien sationen der Operetten- und Revuestadt Berlin am Nachmittag des Ostersonntags (20.4.1930) nur qua Übertragung in das Programm zu be­ Offenbachs bissige Satire auf das großspreche• kommen, so versuchte man im Sendespiel den rische Parvenütum, »Salon Pitzelberger«, auf Verlust unmittelbarer Authentizitat dadurch wett­ dem Spielplan der Funkstunde. Für den Sommer zumachen, dass man zeitgenössische, vor allem 1930 kündigte die Rundfunkgesellschaft bereits Berliner Operetten in den ersten Jahren auffal­ Offenbach-Spiele an,31 deren Abende größten• lend haufig durch die Komponisten selbst inter­ teils Fritz Mahler dirigierte. Der Zyklus griff zu­ pretieren ließ. So dirigierten bis Herbst 1928 nachst auf Werke zurück, die schon früher ein­ Victor Hollander, Paul Lincke, Oscar Straus, Le­ studiert worden waren (»Die Großherzogin von on Jessel, Leo Blech, Willy Bredschneider, Gie­ Gerolstein« 12.5.; »Briganten« 2.6.; »Prinzessin mens Schmalstich, Robert Winterberg, Walter von Trapezunt« 26.8.); erst im Herbst, zu Offen­ Schütt und Erik Meyer-Helmund ihre Operetten bachs 50. Todestag (5.10.), kam als Novitat die in der Funkstunde selbst.34 bis dato noch unbekannte »Seufzerbrücke« (»Le Knapp ein Jahr, nachdem man mit dem Sen­ 2 Pont des Soupirs«) ins Programm.3 Auf die despiel überhaupt begonnen hatte, erschien Offenbach-Spiele folgte schließlich eine Serie schon die erste Berliner Operette auf dem Spiel­ mit Kraus'schen Bearbeitungen. Sie begann En­ plan, Walter Kollos »Tanzende Prinzessin« de 1930 mit der »Schwätzerin von Saragossa« (16.12.1925). ln den nachsten Monaten, bis zu (28.11.1930); ihr folgten bis Ende 1931 noch vier Beginn der Sommerpause 1926, stand die Ope­ weitere Sendespiele, 33 in denen Kraus teilweise rettenproduktion der Funkstunde (von drei Wer­ auch für die Wort-Regie verantwortlich war. Die ken des Klassikers Millöcker abgesehen) voll­ letzte komplette Offenbach-Operette am Berliner standig im Banne der Berliner Operette: Von Sender, »Vert-Vert I Kakadu«, ging am 14. Ja­ Kollo folgten noch zwei weitere Werke;35 er­ nuar 1932 über den Äther. ganzt wurde die Reihe von Berliner Operetten­ Die Funkstunde konnte sich rühmen, unter größen durch Walter Goetze (»Ihre Hoheit, die den deutschen Sendegesellschaften in zehn Tanzerin«, 18.1.1926), Jean Gilbert (»Gaukler­ Jahren weitaus die meisten Werke Offenbachs könig«, 2.2.1926), Willy Bredschneider (»Die im Programm gehabt zu haben. Für die klassi­ beiden Nachtigallen«, 11.6.1926) und schließlich sche französische Operette standen in der durch Victor Hollander (»Die Schöne vom Stran­ Funkstunde noch die Namen Edmond Audran, de«, 28.4.1926). Die gleiche Tendenz setzte sich Robert Planqueue und Charles Lecocq; ihre in der nachsten Spielzeit 1926/27 fort: neben Werke führten aber im Programm - verglichen den bereits erwahnten »Klassikern« (Offenbach, mit Offenbach - ein verhältnismaßig bescheide­ J. Strauß, Audran, Millöcker) und Vertretern der nes Dasein. Als erster erschien 1926 Edmond neueren Wiener Operette (Fall, Lehar, Straus) Audran mit seiner harmlos-gemütlichen »Pup­ spielte die Funkstunde in dieser Saison über• pe« (15.9.1926) auf dem Spielplan; um langst durchschnittlich viele Operetten Berliner Kom­ akzeptierte, harmlos-sentimentale Erfolgswerke ponisten, wobei nicht nur Altmeister wie Paul handelte es sich auch bei PlanqueUes »Rip-Rip« Lincke (»Frau Luna«, 27.11.1926) und Jean Gil­ (18.2.1932) und »Der kleine Herzog« (5.6.1932), bert (»Die Dose seiner Majestat«, 29.3.1927), die erst 1932, schon zur Zeit erheblicher Spar­ sondern auch gediegene Außenseiter des Ope­ maßnahmen, einstudiert wurden. Mehr Risiko für rettenbetriebs wie die Dirigenten Leo Blech das Programm bedeutete das politisch angriffs­ (»Strohwitwe«, 28.8.1926) und Giemens lustige »Mamzell Angot« (9.2.1930)- ein Werk, Schmalstich (»Tanzerin aus Liebe«, 8.12.1926) das, inhaltlich in der Nähe Offenbachs angesie­ ihre Chancen erhielten. Sentimentale Ever­ delt, wohl mit Bedacht quasi gleichzeitig mit der greens blieben dagegen selten: Man ließ es mit Offenbach-Reihe ins Programm der Funkstunde Bertes »Dreimaderlhaus« (19.5.1927) und Leon genommen wurde. Jessels »Schwarzwaldmadel« (21.1 0.1927) be- 10 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) wenden . Dabei gestaltete sich besonders der geunerprimas« (25.5.1928) oder Lehars »Fras­ Beginn der Spielzeit anspruchsvoll: Zunächst quita,~ (24.4.1928). Der Anteil steigerte sich bis zum ersten Mal Eduard Künneke mit dem Er­ zur Spielzeit 1928/29, in der die zeitgenössische folgswerk »Der Vetter aus Dingsda« (5.8. Wiener Operette mit elf Abenden gut die Hälfte 1926),36 bald darauf holte man Walter Goetzes der Aufführungen bestritt. Da spielte man außer »Adrienne«, die einige Wochen zuvor (10.9. der »Prominenz« noch Edmund Eysler (»Der la­ 1926) ihre Berliner Erstaufführung erlebt hatte, chende Ehemann«, »Künstlerblut«), Leo Ascher in der Originalbesetzung der Komischen Oper (»Hoheit tanzt Walzer«), Oscar Straus (»Eine ins Studio (12.10.). Für November wurde sogar Ballnacht«), Robert Stolz {»Tanz ins Glück«) eine Uraufführung angekündigt: Willy Bred­ und Bruno Granichstädten (»Orlow«). Zählt man schneiders »Gietscherfee« (16.11.). Das recht die altere Wiener Operette mit weiteren fünf gefällige, aber nicht besonders schlagkräftige Werken von Millöcker und Zeller noch dazu, so Werk das im Fahrwasser der Heimatoperette kann man 1928/29 vom Kulminationspunkt der segelte, nahm die Kritik kühl auf, wobei mit Sei­ Wiener Operette im Programm der Funkstunde tenhieben auf die Programmpolitik der Funk­ sprechen. stunde nicht gespart wurde: »Muß man es als typisch bezeichnen, daß der Berli­ ner Sender nach dreijährigem Bestehen für seine Altes und neues »Singspiel« erste Uraufführung eine Operette gewählt hat? Der Schrei nach dem Hörspiel verhallt ungehört. Eine Ein gesondertes Leben in der Sparte Operette ganze Anzahl von Stücken, die speziell für die Zwe­ führte eine zeitlang in Berlin das Singspiel. Unter cke des Rundfunks verfaßt sind und die als Anfang diesem Namen reüssierten nicht nur modische einer neuen, eigenen Radiokunst großen Wert besit­ Sentimentalitäten, wie Meyer-Försters »Alt Hei­ zen, bleiben unaufgeführt. Und die Funk-Stunde delberg« (8.5.1926) oder Bertes »Dreimaderl­ glaubt ihren Hörern ein besonderes Ereignis zu bie­ haus« (17.4.1927), Werke, für deren Produktion ten, wenn sie die Uraufführung eines Werkes veran­ kritische Geister wie Kurt Weill schlechtweg staltet, das einer dem Rundfunk ziemlich fernliegen­ 40 den Gattung angehört und das auch innerhalb dieser »keine Entschuldigung« zu finden vermochten, Gattung nicht gerade zu den wertvolleren Neuer­ sondern erstaunlicherweise auch Bearbeitungen scheinungen zu zählen ist.«37 älterer deutscher Singspiele. ln ihrer zeitweiligen Wiederbelebung trafen Repertoirenöte und histo­ Dass in dieser Saison insgesamt drei Operetten risches Interesse aufeinander: Bereits um 1910 des bis dahin nur mäßig erfolgreichen Robert plädierte Ernst von Wolzogen, der Gründer des Winterberg auf dem Spielplan der Funkstunde künstlerischen Kabaretts »Überbrettl«, für die erschienen (»Der Günstling der Zarin«, 20.11 . Erneuerung des heiteren deutschen Singspiels; 1926; »Annelies von Dessau«, 3.5.1927; »Der gleichzeitig wandte sich auch die musikhistori­ alte Dessauer«, 19.5.1927), ist nicht allein damit sche Forschung in Denkmalerausgaben der zu erklären, dass die »historische Operette« in Gattung zu: Die »Musikalischen Hauskomödien« Mode kam: Hier dürften auch längere persönli• des Schweizer Komponisten und Musikelogen che Kontakte von Cornelius Bronsgeest zu dem Erich Fischer hatten freilich nicht historische Komponisten eine Rolle gespielt haben. 38 Die Werktreue, sondern die theatralische Praxis vor Berliner Operette hielt sich in der Funkstunde Augen41 und waren in der Besetzung auf kleine noch bis in die Saison 1927/28, um dann z.T. Kammeroperensembles zugeschnitten, was den durch Rückgang der Produktionszahlen und in­ Bedürfnissen des Rundfunks vielfach entgegen­ folge der neuen Programmpolitik, die sich be­ kam. Bereits 1925 gastierte die Münchener wusst auf Zugstücke und insbesondere auf Of­ Kammeroper mit drei Einaktern aus Fischers fenbach konzentrierte, allmählich vom Spielplan Hauskomödien (Adaptationen von Haydn »Die zu verschwinden.39 Ihr stärkster Konkurrent ist Spieluhr«, Schubert »Eintracht ernährt«, ohnehin schon von Anfang an die Wiener Ope­ Marschner »Der Schwiegervater«) beim Mittel­ rette »der zweiten Generation« mit so zugkräfti• deutschen Rundfunk in Leipzig (21 .11 .1925) und gen Namen wie Franz Lehar, Emmerich Kaiman, bei der Westdeutschen Funkstunde in Münster Leo Fall und Oscar Straus gewesen. Freilich (26.11.1925). ln der Berliner Funkstunde stu­ kamen wahrscheinlich aus urheberrechtliehen dierte Fischer zu Jahresbeginn 1928 zwei seiner Gründen von Lehar und Kaiman erst 1927 und Singspielbearbeitungen ein (»Die Weinprobe« auch dann nur altere Werke in das Programm; nach Heinrich Marschner, 8.1.1928; »Roman in aber nach bescheidenen Anfangen mit Lehars der Waschküche« nach Carl Ditters von Ditters­ »Rastelbinder« (16.3.1927) und Kaimans »Baja­ dorff, 21 .1.1928). Ein Jahr später setzte der dere« (16.3.1927) spielte die Funkstunde ab Nordische Rundfunk in Harnburg zwei der Musi­ Herbst 1927 immer zugkräftigere Werke, wie kalischen Hauskomödien Fischers ins Pro­ Kaimans »Csardasfürstin« (6.10 .1927) und »Zi- gramm (»Eintracht ernährt«, »Roman in der Großmann-Vendrey: Die Operette in der Berliner Funkstunde 11

Waschküche«). Das Singspiel »Der Hofnarr« der Adaption historischer Figuren war im Berli­ von Adolf Müller, das die Berliner Funkstunde ner Programm immerhin spürbar: Man findet sie am 23. Marz 1929 sendete, und eine Haydn­ etwa in Oscar Straus' sonst selten gespieltem Adaptation mit dem Titel »Ochsenmenuett«, das »Letzten Walzer«, der die Walzerseligkeit mit im Haydn-Jublilaumsjahr in Berlin produziert einem hochdramatischen Konflikt »um Leben wurde (5.2.1931 ), gingen höchstwahrscheinlich oder Tod« zu vereinen weiß oder in Kollos ebenfalls auf Fischers Bearbeitungen zurück. »Tanzende Prinzessin«, die traditionell-aristo­ Solche historischen Zwitter hielten sich jedoch kratisches Gehabe zu modernen Moden wie nur sporadisch im Programm: Ihre starksten Sportbegeisterung und Tanzsucht in Kontrast zu Konkurrenten waren neuere Singspiele, die in setzen versteht. ln der Geschichte, die sich in Norddeutschland im Fahrwasser der Singbewe­ W. Goetzes historischer Operette »Adrienne« gung entstanden und Grotesken mit Text und um Moritz von Sachsen und Adrienne Lecouv­ Gesang, wie die Hühnerhofgeschichte nach reur rankt, wird der Ausbruch aus dem höfischen Asops Märchen »Das fatale Ei«, das auch in Milieu vorexerziert.45 Berlin reüssierte (1 0.1 0.1927).42 Die Singspiele Bezüge zur Gegenwart kamen in der Ope­ der neueren Singbewegung erwiesen sich als rette Berlins dementsprechend selten vor: aktueller und die Offenbach-Bearbeitungen als »Zeitthemen« waren ohnehin nicht Sache des schlagkräftiger als die Fischers »Hauskomö• Genres, und die aktualisierten Couplets mussten dien«. sich schon allein aus Gründen der Zensur mög• lichst dezent halten. Einen gewissen satirischen Gegenwartsbezug artikulierte nur Hugo Hirschs Botschaften der Berliner Operette »Scheidungsreise«, die ihr Sujet als Kontrast zu der modischen Hochzeitsreisen-Thematik ver­ Wenn man nun nach »verborgenen Qualitäten« stand und Victor Holländers »Schöne vom des Repertoires, d.h. nach Botschaften und An­ Strande«, die den Knoten der Eifersuchtskomö• schauungen fragt, die durch die Operetten der die um die »Kinematographie« schnürte. Aber im Berliner Funkstunde an die Hörer vermittelt wor­ Couplet blieben aktuelle Bezüge harm- und risi­ den sind, so ergibt sich ein durchaus differen­ kolos, wie etwa in Suppes »Fatiniza«, wo eine ziertes Bild, das das vielfach noch heute ver­ Strophe die »Reformtürken« besang, oder in breitete Pauschalurteil, die Vorkriegszeit hatte Kollos »Drei alte Schachteln«, wo sich das größtenteils »bürgerlichen Operettendreck« Couplet »Ach Gott, was sind die Manner (Karl Kraus) verbreitet, in vielen ZOgen korrigiert. dumm«, genüsslich über die »Emanzen« aus­ Ein typisches Produkt der Epoche, die gefällige liess. Dass das junge Medium Rundfunk sich Tanz- und Schlageroperette mit ihren stereoty­ anfangs mit Vorliebe selbst in Zusatzstrophen pen Handlungsschemata, reüssierte allerdings in thematisierte, versteht sich von selbst: der am vielen Berliner Sendespielen: Besonders in den Detektorgerät herumbastelnde idyllische Haus­ Jahren von 1926 bis 1929 kamen häufig Stücke vater (J . Strauß: »Waldmeister«) oder der Prinz mit zentralen Tanzszenen ins Programm. ln der von Arkadien, der als »Sender auf den Wellen­ ersten Phase des Rundfunks war ihre mediale längen« sich zu »erden« vergisst (Offenbach: Vermittlung verhältnismäßig unproblematisch: »Orpheus in der Unterwelt«) mögen als Bei­ Tanz und Schlager erwiesen sich - den drama­ spiele selbstbezogener Aktualisierung genügen. turgischen Bedenken der Kritik zum trotz - ge­ Ein typischer Zug der Operettendramaturgie, radezu als Vehikel der Sendung: Sie entlasteten die Handlung zeitlich und räumlich fern der ge­ gleichermaßen Produzierende wie Hörer von genwartigen Erfahrungswelt anzusiedeln,46 lasst den darstellerischen und intellektuellen Anstren­ sich im Berliner Operettenrepertoire in seiner gungen eines komplizierten dramatischen Ab­ ganzen Ambivalenz beobachten. Die sentimen­ laufs. ln den Tanzoperetten von Gilbert, Goetze, tal-idealisierende Rokoko- und Biedermeierse­ Kollo, Stolz43 wiederholte sich zudem regelmä• ligkeit beschworen nicht nur Winterbergs Ope­ ßig eine leicht durchschaubare Verkleidungs­ retten, das »Dreimäderlhaus«, oder »Alt Heidel­ dramaturgie ohne viel Verwirrung; als sozialer berg<<: Bürgerliche Ordnung und Geborgenheit Ort der Handlung fungierte das feudale Klein­ (»Geheirat' muß sein!«) zu den Glocken von stadtmilieu, in dessen Schilderung kritische oder Sanssouci besangen auch Kollos »Drei alte ironische Züge meistens ausgespart blieben. Schachteln« und Bredschneiders »Seide Nach­ Nur wenig trennte diese Tanzoperetten mit ihrem tigallen«, die es ohnehin nach Wien, der Haupt­ aristokratischen Ambiente vom aufkommenden stadt des Biedermeiers zog. Solcherart kompen­ Typus des »historischen« Genres, in dem ideali­ satorische Flucht aus der tristen Gegenwart in sierte Gestalten der Geschichte als Operettenfi­ eine idealisierte Vergangenheit oder in die land­ guren herhalten mussten.44 Ein Sinn für Quali­ liehe Idylle lasst sich in Berlin anhand einer gan­ tätsunterschiede bei der Tanzoperette und bei ze Reihe von Operetten verfolgen, etwa an Falls 12 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

»Brüderlein fein«, an Jessels »Schwarzwaldma­ nischen Demontage großmauligen Soldaten­ del«, an Eyslers »Bruder Straubinger« und turns. Dass die Sympathie der Autoren allemal »SchOtzenliesel«, an Zellers »Vogelhandler« den kleinen Leuten gehört, die ihr GIOck ge­ und »Obersteiger«. Vom seligen Sich-Beschei­ zwungenermaßen außerhalb der Legalitat su­ den in der ländlichen Idylle erzahlen auch jünge• chen (»Les Brigants«, »Pericole«, »Gasparo­ re Erfolgswerke, wie Lehars »Zigeunerliebe« ne«) gehört nicht zu den unwichtigsten »Ge­ und »Wo die Lerche singt«. Selbst die schmissi­ heimbotschaften« dieser Operetten am Berliner gen Berliner Stocke Linckes oder Konnekes arti­ Sender. kulierten noch von Zeit zu Zeit solche Sehnsucht nach Geborgenheit in der Idylle Alt-Berlins (»Frau Luna«) oder in der intakten Dorfgemein­ Anmerkungen schaft (»Dorf ohne Glocke«). Erst recht die neue Wiener Operette von Lehar und Kaiman, aber Übertragen wurde nicht die Premiere, sondern auch manches Werk von J. Strauß, gaukelte eine Vorstellung, die einige Tage nach der Pre­ dem Hörer ein faszinierendes Bild jOngstvergan­ miere in deren Besetzung erfolgte. Auf das Risiko, gener »k.u.k«-Ordnung vor (Kaiman: »Gräfin eine Uraufführungspremiere zu übertragen, gin­ Mariza«, »Der Zigeunerprimas«, »Herbstmanö• gen Komponist und Rundfunk nicht ein. ver«; Lehar: »Zigeunerliebe«; J. Strauß: »Zigeu­ 2 Zu den technischen Details der Vermittlung vgl. nerbaron«, »Wiener Blut«). Friedrich Weichart: Die erste deutsche Operetten­ Die sentimentale Nostalgie nach der »guten, übertragung durch Rundfunk. ln: Der Deutsche alten Zeit«, die im Sendespiel reichlich ihren Rundfunk (künftig: DR) Jg. 2 (1924), H. 4, S. 77f.. Platz hatte, konterkariert schon in den ersten 3 Vgl. Die neuerliche Frasquita-Übertragung. ln: DR Sendejahren ein freches, kritisches und anarchi­ Jg. 2 (1924), H. 8, S. 544. sches Potential, das hauptsachlich in älteren Werken der Gattung überwintert, (aber sich z.T. 4 »Zarewitsch«. ln: DR Jg. 6 (1928), H. 33, S. 2191. auch in jüngeren Werken artikuliert). Hinter der 5 Übertragung aus dem Theater des Westens mit Fassade vordergrUndiger Exotik, die seit jeher Käthe Dorsch in der Hauptrolle. zum Arsenal der Operette gehört, lugt etwa in Suppes »Fatiniza« die erotische Verkleidungs­ 6 Vgl. Volker Klotz: Operette. München 1991 , S. 442. groteske und die Karikatur soldatischer Tugen­ den hervor; die Heidin in Falls »Perlen der Cleo­ 7 Vgl. Ascoltante: Übertragung der »Pompadour«. patra« ist eine selbstbewusste, moderne Frau. ln: DR Jg. 6 (1928), H. 3, S. 148. Die Handlung in der »Rose von Stambul« des 8 Franz-Peter Kothes: Die theatralische Revue in gleichen Komponisten changiert im Wechsel­ Berlin und Wien. Wilhelmshaven 1977. S. 107f. spiel zwischen Ehe und erotischem Abenteuer; die gleiche archaische Lust am ungezügelten 9 »Mikado«, 6.9.1927; »Pompadour«, 5.1 .1928. erotischen Vergnugen treibt die Ereignisse in 10 Ascoltante: Kritik. ln: DR Jg. 6 (1928), H. 24, S. Johann Strauß' »Fledermaus«, »Eine Nacht in 1580. Venedig« und Suppes »Boccaccio« voran. Ja, 11 Wll.: Kritik. ln: DR Jg. 7 (1929), H. 3, S. 107. manche Operetten sind sogar in der Lage, die Exotikmanie und das Fernweh der Gattung 12 Vgl. Kothes (wie Anm. 8), S. 107. selbst aufs Korn zu nehmen, wie es etwa in 13 Vgl. ebd. S. 120ft. Kaimans »Die Bajadere« oder in KOnnekes iro­ nischem »Vetter aus Dingsda« geschieht. 14 Knöpfke an Telegraphentechnisches Reichsamt, 28.9.1927, Postmuseum Frankfurt am Main 6/111111. Hinter der heiteren Maske der Operette ver­ birgt sich oft ein geheimer Hinweis darauf, wie 15 »Wiederum bescherte uns diesmal die Berliner es in der Wirklichkeit anders sein könnte: Wie Funkstunde eine jener Übertragungen aus dem man etwa dem Dilemma »Geld oder Liebes­ Großen Schauspielhaus, bei denen der Berliner glück« entgehen sollte, deuten Millöckers »Ar­ Funkregisseur unter die Operettenstars gegangen mer Jonathan« und Lehars »Eva« nur vorsichtig ist. Die Bedeutung eines solchen Urlaubs für die Hörer wie für den literarischen Leiter, der von die­ an. Der längst fällige Aufstand gegen falsche sem kraftstählenden Sport in dieser herrlichen Autoritäten wird hingegen nicht nur in Offen­ Lust sicherlich wie neugeboren zu seiner eigentli­ bachs »Pericole« und »Blaubart«, sondern auch chen Arbeitsstätte zurückkehren wird, ist von je­ in Millöckers »Bettelstudent« bereits geprobt- in her gewürdigt worden.« Sti. : Wieder Übertragung einem Werk, das auch die Möglichkeit friedferti­ aus dem Großen Schauspielhaus. ln: DR Jg. 7 gen kritischen Patriotismus' aufscheinen lasst. (1929), H. 11, S. 334. Die Kunst der komischen Inversion geht in Of­ 16 v.H .: »Das Dreimäderlhaus« im Großen Schau­ fenbachs »Großherzogin von Gerolstein« und spielhaus Berlin. ln: DR Jg. 6 (1928), H. 20, S. »Madame L'Archiduc« Hand in Hand mit der iro- 1311 . Die Beziehungen zwischen der Funkstunde Großmann-Vendrey: Die Operette in der Berliner Funkstunde 13

und Charells Revue G.m.b.H. waren in der Saison 32 Das Offenbach-Programm der Funkstunde 1930 1927/28 bzw. 1928/29 in der Tat sehr intensiv: wurde außerdem noch durch zwei Übernahmen Die Rundfunkgesellschaft plante pro Saison 18 aus Leipzig, »Der Ehemann vor der Tür«, 18.3., Sonntagsmatineen im Großen Schauspielhaus, und »Die verwandelte Katze«, 7.6., erweitert. daneben Bußtags-, Oster- und Weihnachtsveran­ 33 »Pericole«, 15.2.1931: »Pariser Leben«, staltungen, schließlich dramatische Jugendvor­ 23.3.1 931: »Blaubart«, 25.5.1931: »Fortunios stellung am Nachmittag. Lied«, 12.12.1931. 17 Als Klangkörper wurde das Orchester der Volks­ 34 Was in der Regel der zeitgenössischen Theater­ oper engagiert, die Leitung hatte der »AIIround­ praxis entsprach. Sonst oblag die Leitung der musiker der ersten Stunde«, Otto Urack. Operetten-Sendespiele hauptsächlich dem Chef­ 18 Offenbach: »Orpheus in der Unterwelt«, dirigenten Bruno Seidler-Winkler. 15.4.1 925 mit Georg Szell; »Die Verlobung unter 35 »Marietta«, 1.1.1 926; »Drei alte Schachteln«, der Laterne«, 22.5.1 925 mit Wilhelm Buschkötter; 23.2.1926. »Das Mädchen von Elizondo«, 3.11.1 925 mit Selmar Meyrowitz; Johann Strauß: »Waldmeis­ 36 Es kamen von ihm noch »Dorf ohne Glocke«, ter«, 28.10.1925 mit Bruno Seidler-Winkler. 23.7.1927, und »Wenn Liebe erwacht«, 26.12.1927. 19 »Tausendundeine Nacht«, 15.9.1927 unter Mey­ rowitz; »Wiener Blut«, 22.11.1 927; »Eine Nacht in 37 Wll.: Schauspiel, Oper und Operette im Berliner Venedig«, 3.12.1 927 in der Regie des neuen In­ Sender. ln: DR Jg. 4 (1926), H. 48, S. 3405. tendanten der Funkstunde Carl Hagemann; »Zi­ 38 Zu Weihnachten 1926 kam am Berliner Centrai­ geunerbaron«, 8.4.1 928 unter Meyrowitz. Theater die Winterberg-Operette »Der Trompeter 20 Bis auf die öffentliche Aufführung der »1001 vom Rhein« heraus (23.12.1926), eine Bearbei­ Nacht« im Großen Schauspielhaus. tung von Neßlers »Trompeter von Säckingen«, wozu Bronsgeest den Text verfaßte und in der 21 Vgl. Die Musik. ln: Drei Jahre Berliner Rundfunk­ Aufführung die Hauptrolle sang. Daß die Funk­ darbietungen. Berlin 1926, S. 14. stunde am Vorabend der Aufführung Ausschnitte 22 Spielzeit 1927/28: »Das verwunschene Schloß«, in der Originalbesetzung ins Programm setzte, »Gasparone«: Spielzeit 1928/29: »Der Feldpredi­ wurde in der Kritik als unzulässige Verflechtung ger«, »Die sieben Schwaben«: Spielzeit 1929/30 und als Reklame aufgefaßt. Wll.: Kritik der Woche »Der arme Jonathan«, »Der Vizeadmiral«; Spiel­ - Progammvorschau. ln: DR Jg. 5 (1927), H. 1, zeit 1930/31: »Das verwunschene Schloß«, »Apa­ S. 9. june, der Wassermann«. 39 1929 kamen noch Hugo Hirsch (»Die Scheidungs­ 23 »Der Vogelhändler«, 13./14.9.1 929; »Der Ober­ reise«, 13.1.1927; »Dolly«, 26.9.1927), Walter steiger«, 5.12.1 929. Bromme (»Mascottchen«, 3.11.1927), Ernst Stef­ fan (»Der Milliardensouper«, 8.2.1928) und Erich 24 Wll.: Bühnenwerke am Berliner Sender. ln: DR Jg. Meyer-Helmund (»Im Liebespavillon«, 22.9.1928) 4 (1926), H. 47, S. 3331. ins Programm, später lediglich Paul Lincke (»Frau 25 »Die schöne Helena«, 19.12.1926 unter Seidler­ Luna«). Zeitgenössische Operetten brachte die Winkler; »Pariser Leben«, 3.3.1927 unter Szell; Funkstunde von da an nur in Übertragung. »Dorothee« (eine nicht näher bekannte Offen­ 40 Wll.: Von der Berliner Sendespielbühne. ln: DR bach-Bearbeitung) in einem Einakterabend, Jg.3(1925), H. 17, S. 1069[ 25.5.1 927 unter Meyrowitz. 41 Sie faßten mehrere Musiknummern eines verges­ 26 »Banditen«, 7./8.8.1 928; »Prinzessin von Trape­ senen Werkes mit neuem Text zu einem leichten zunt«, 20.1.1 929. Singspiel zusammen. Vgl. Wilhelm Altmann: Mu­ 27 Wo er mit Brecht zusammentraf und »Die Drei­ sikalische Hauskomödien. Berlin 1924. groschenoper« besuchte. Georg Knepler: Offen­ 42 Vgl. Die musikalischen Darbietungen. ln: F. Kap­ bach, wie Karl Kraus ihn sah. Sendemanuskript hahn (Hrsg.): Zum fünfjährigen Bestehen des HR vom 13.11.1981, S. 3f. Mitteldeutschen Rundfunks. Leipzig 1929, S. 83 28 Eduard Steuermann in einem Brief an Karl Kraus. und S. 87. Ebd., S. 24f. 43 Gilbert: »Gauklerkönig«; Goetze: »Ihre Hoheit - 29 »Madame I'Archiduc«, 15.1.1 929, am Altmärki• die Tänzerin«: Kollo: »Die tanzende Prinzessin«: schen Landestheater zu Stendal. Kollo: »Marietta«: Stolz: »Tanzgräfin«. 30 -mer.: Offenbach und Tannhäuser. ln: DR Jg. 8 44 Gilbert: »Dose seiner Majestät«: Winterberg: (1930), H. 12, S. 66. »Anneliese von Dessau«, »Der alte Dessauer«, »Günstling der Zarin«. 31 Sommerpläne der Berliner Funk-Stunde. ln: DR Jg. 8 (1930), H. 18, S. 10; H. 19, S. 14. 45 Volker Klotz: Operette. München 1991, S. 337f. 46 Ebd., S. 66f. Petra Witting-Nöthen

Rechtliche und wirtschaftliche Probleme des frühen NWDR-Fernsehens Vom Versuchsbetrieb zur Einführung des Fernsehens in Deutschland*

Einführung studios nur an einem oder an mehreren Orten in An­ griff genommen werden soll. Ein Beschluß wird nicht gefaßt.«3 Am 13. August 19481 gab der Verwaltungsrat des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) Es war bei den Mitgliedern des Verwaltungsra­ grünes Licht für die Einführung des Fernsehens. tes noch nicht klar, ob Harnburg der Sitz des ln Großbritannien und vor allen Dingen in den Fernsehens werden solle. Zur Diskussion stand USA war das Fernsehen bereits etabliert, wah­ ebenfalls die Stadt Hannover, die als »zentraler rend Deutschland diesbezOglieh etwas ins Hin­ Punkt für die Fernsehversuchs- und spatere tertreffen geraten war. Die Kratte hatten sich Fernseharbeit des NWDR gewahlt werden kön• bisher auf den Wiederaufbau des Hörfunks nach ne.«4 dem Krieg gerichtet, so dass erst Ende der 40er Bevor 1950 schließlich mit einem Versuchs­ Jahre die Entwicklung des Fernsehens forciert betrieb begonnen werden konnte, waren vorab wurde. Gern hatte man dies noch etwas langer eine Reihe rechtlicher Fragen zu klaren, insbe­ hinausgezögert, jedoch wurde der Druck der sondere Vereinbarungen mit der Post zu treffen, Wirtschaft auf den Rundfunk verstarkt, da sogar damit diese Fernsehleitungen einrichtete. Hinzu konkrete Pläne vorlagen, Fernsehen als Privat­ kamen Verhandlungen mit den Verwertungsge­ unternehmen einzuführen. Es sollte sich durch sellschaften Ober die Auswirkungen von Urhe­ Werbeeinnahmen finanzieren. ln seinem Schrei­ berrechtsfragen im Fernsehen. Intern mussten ben an die Finanzbehörde der Stadt Harnburg die Arbeitsvertrage an die neuen Gegebenheiten vom 28. November 1952 schrieb der damalige angepasst werden. Hinzu kam, dass man sich NWDR-Justiziar Hans Brack: auch noch nicht im Klaren war, welche betriebs­ wirtschaftliche Organisationsform das künftige »Wir haben uns daher [hohe Kosten und Probleme der Finanzierung] lange überlegt, das Fernsehen ü• Fernsehen erhalten und wie es sich finanzieren berhaupt zu beginnen. Schließlich handelt es sich sollte. aber nicht mehr um die Frage, ob man das Fernse­ Es galt, ein neues Medium zu etablieren, von hen machen soll. Hier mußten wir unseren in der Sat­ dem noch gar nicht absehbar war, welch großen zung gestellten Aufgaben genügen. Hätten wir es Einfluss es gesellschaftlich gewinnen würde. nicht getan, wäre das Fernsehen in Deutschland Umso spannender sind die frOhen Diskussionen wahrscheinlich von der Fa. Philips in Eindhoven, die um die Organisationsmodelle - privatwirtschaft­ genügend Geld dafür besitzt, aufgezogen und finan­ lieh und öffentlich-rechtlich. Allen Beteiligten war ziert worden.«2 auch klar, dass das Fernsehen wegen der au­ Kurz vor Einführung des Versuchsbetriebes genscheinlich hohen Produktionskosten auf sprach sich der Verwaltungsrat noch einmal Werbeeinnahmen nicht würde verzichten kön• grundsatzlieh für die Einführung des Fernsehens nen. aus. Allgemeine Euphorie sollte jedoch nicht Neben diesen juristischen und betriebswirt­ aufkommen, noch war man verhalten und be­ schaftlichen Fragen galt es auch, ein Programm fürchtete unterschwellig, dass Ober das Fernse­ aufzubauen, dass genügend Attraktivitat besaß, hen, das ja sehr hohe Investitionskosten verur­ um Kunden für den Kauf eines Fernsehers zu sachte, der Hörfunk ins Hintertreffen geraten motivieren. Darauf soll an dieser Stelle aber könnte. ln der 28. Sitzung des Verwaltungsrats nicht eingegangen werden. vom 16./17. August 1950 hieß es: »Der Vorsitzende Prof. Dovifat faßt die Meinung des Verwaltungsrats zusammen, daß der NWDR ent­ Klärung urheberrechtlicher Fragen schlossen sei, mit Technik, Produktion und Organisa­ tion die Fernseharbeit entschieden zu fördern, dabei Von Anfang an ging die Geschaftsleitung des aber die übrigen Aufgaben (insbesondere das UKW­ NWDR davon aus, dass alle Mitarbeiter des Programm) keineswegs außer Acht zu lassen. Es soll Rundfunks bimedial, also sowohl im Hörfunk als nicht durch Verzögerung der vorbereitenden Arbeiten auch im Fernsehen einzusetzen seien und dass die große Kulturaufgabe gehemmt werden, die dem die Einführung des Fernsehens keiner besonde­ NWDR hier gestellt ist. Der Verwaltungsrat läßt die ren vertraglichen Vereinbarung bedOrfe.S lnsbe- Frage offen, ob die Begründung des Entwicklungs- Witting-Nöthen: Das frOhe NWDR-Fernsehen 15 sondere sollten die Musiker der verschiedenen hen gewesen ware, kam kurzfristig der Gedanke Orchester ohne zusatzliehe Honorierung auch auf, ein jeder von ihnen habe das Recht am ei­ für das Fernsehen arbeiten. Die Musiker wollten genen Bild, so dass von jedem Einzelnen eine dies jedoch nicht hinnehmen. ln einer gemein­ Einverstandniserklarung zur Übertragung des samen Besprechung am 29. Mai 1952, an dem eigenen Bildes einzuholen sei. So hatte es ein die Orchestervorstande Hermann (Harry) Spitz Vertragsentwurf für Sportveranstaltungen im und Franz Abegg sowie auf seiten der Ge­ Vorfeld des offiziellen Beginns des Fernsehens schäftsleitung Justiziar Dr. Hans Brack, Fern­ vorgesehen. 9 Da das in der Praxis nicht durch­ sehdirektor Dr. Werner Pleister und Verwal­ führbar war, entschied man sich auf Anraten von tungsdirektor Gerhard Schulz teilnahmen, kam Brack dazu, nur den veranstaltenden Verein um man jedoch überein, dass bei bildlichem Er­ eine generelle Übertragungserlaubnis zu bit­ scheinen des Orchesters bzw. einzelner Musiker ten.10 Schließlich traf der NWDR direkt mit dem auf dem Fernsehschirm eine zusatzliehe Hono­ Deutschen Fußball-Bund (DFB) eine vertragliche rierung von 1 0 DM je Aufführung gezahlt werde. Vereinbarung, die bis zum 31. Dezember 1953 Vertrage wurden noch vor dem offiziellen Be­ gültig blieb. Danach war der DFB der erste An­ ginn des Fernsehens mit der Schallplattenin­ sprechpartner für Übertragungen von Fußball• dustrie (28.6.1951 ), der Verwertungsgesellschaft spielen, aber lediglich der »Übermittler« finan­ GEMA (20.9.1952) sowie den Mitgliedern der zieller Vereinbarungen mit den einzelnen Verei­ Orchester und Chöre des NWDR (7.10.1952) nen. Für Landerspiele, Endspiele um die deut­ geschlossen. Außerdem waren urheberrechtli­ sche Meisterschaft und den Pokal waren 2 500 ehe Vereinbarungen mit den direkt für das Fern­ DM zu zahlen, für Spiele der Regional- und Lan­ sehen Beschäftigten, Vertrage mit der Wochen­ desverbande sowie internationale Städtespiele schau und den Autoren, mit Theatern und sons­ 2 000 DM, für Gruppenspiele um die deutsche tigen Übertragungsorten auszuhandeln. NWDR Meisterschaft 1 500 DM und für Meisterschafts­ und Bundespost schlossen Verträge über die spiele (Pflichtspiele der Oberliga) 1 000 DM. Für von der Zustimmung der britischen Militarregie­ alle anderen Fußballspiele mussten besondere rung abhängigen Frequenzzuteilung (14./24.5. Einzelvertrage ausgehandelt werden. Außerdem 1949) sowie über Fernsehgebühr und Fernseh­ galt diese Vereinbarung nur für die Zeit der Pro­ leitungen (20.8./18.9.1952).6 beübertragungen. Die Honorierung sollte sich Mit der Filmindustrie bestand vor 1945 eine entsprechend dem Anwachsen der Erträge aus Rahmenvereinbarung, wonach die Höhe der Fernsehgebühren erhöhen. Brack riet, die Ver­ Verleihkosten eines Films nicht von dessen einbarung dahingehend abzuandern, dass der Qualität, sondern von der Spieldauer in einzel­ DFB nicht mehr Übermittler der Vertrage, son­ nen Städten abhangig war. Insbesondere mit dern rechtsgültiger Vertreter der Vereine sein den Verleihfirmen sollte nach 1945 darüber ver­ sollte mit der Verpflichtung, die mit ihm ausge­ handelt werden, dass die Vermietung eines handelten Bedingungen bei den in Betracht kom­ Films jedwede Verwendung im Fernsehpro­ menden Vereinen auch durchzusetzen. Brack gramm umfassen sollte und urheberrechtliche warnte ebenfalls vor der Klausel, dass sich die Ansprüche der am Film Beteiligten - Regisseu­ Zahlungen an den DFB in ihrer Höhe an der An­ re, Kameraleute, Schauspieler, Komponisten zahl der Fernsehgerate ausrichten sollten.11 etc. - mit der Anmietung oder dem Erwerb des Filmes abgegolten seien. Mit der Neuen Deutschen Wochenschau Innere und äußere Struktur des GmbH (NDW) in Harnburg kam Programmdi­ Fernsehversuchs rektor Pleister am 5. Mai 1951 zu einer günsti• gen Vereinbarung?, die vorlaufig für die Ver­ Das Versuchsprogramm begann am 27. No­ suchssendung galt. Es wurde nach Filmmetern vember 1950 - im Übrigen zwei Tage spater als abgerechnet, die Kosten lagen zwischen 1,50 der offizielle Beginn des Versuchsbetriebes in DM und 5 DM. Kosten entstanden dem NWDR der DDR. Fernsehgebühren wurden noch nicht durch die Gehalter der Cutter und die Miete für erhoben, waren aber planmaßig nach offizieller entsprechende Räumlichkeiten. 8 Einführung des Fernsehens (vorgesehen war Welche urheberrechtliehen Probleme jedoch zunächst der September 1952) bereits vorgese­ in der frühen Phase noch ungelöst geblieben hen. waren, zeigte sich im Vorfeld der Fußballüber• Für das Fernsehen sollte nach der Vorstel­ tragung, die am ersten Tag des offiziellen Fern­ lung des NWDR der Zuschauer genauso viel wie sehprogramms ausgestrahlt werden sollte. Vor­ für den Hörfunk zahlen, namlich 2 DM. Die Vor­ gesehen war eine Live-Übertragung des Fuß• stellungen der Bundespost lagen jedoch bei ballspieles St. Pauli gegen Harnborn Da je­ 07. ganz anderen Größenordnungen. Vom Justiziar der einzelne Fußballspieler im Fernsehen zu se- der Post, Fritz Schuster, wurde 1951 eine Ge- 16 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) bOhr in Höhe von 10 DM zur Debatte gestellt, tierte fOr die Form eines Funkhauses mit einem wobei die Post davon 2,50 DM behalten wollte.12 Intendanten, einer eigenen Verwaltungs-, Pro­ Am 20. August bzw. 18. September 1952 gramm- und Technikabteilung und einem eige­ schließlich schlossen Post und NWDR einen nen Haushalt, der vom Generaldirektor geneh­ Vertrag Ober die Höhe der Fernsehgebühr. Die migt werden mosse. Dabei sollte die technische Höhe der Fernsehgebühr wurde auf 5 DM fest­ Infrastruktur des Fernsehens von der Zentral­ gesetzt, zahlbar ab dem 1. Januar 1953. Die technik entwickelt werden; lediglich die Be­ Gebühr, die die Post einzog, war so aufzuteilen, triebstechnik sollte dem Fernsehen unterstehen. dass sie 1 DM behielt und den Rest von 4 DM Nestei schlug außerdem vor, dem Fernsehen an den NWDR weiterzuleiten hatte. Bei einer etwa 10 Prozent des gesamten Haushaltes zur Fernsehteilnehmerzahl von 600 00013 war Ober Verfügung zu stellen. FOr das laufende Jahr die Gebühren erneut zu verhandeln.14 1951/52 waren es 5 Mio. DM, von denen 1,5 Über die Betriebsform des Fernsehens gab Mio. DM fOr Investitionen verwandt werden soll­ es jedoch noch Unklarheiten. Der Verwaltungs­ ten. ln den beiden folgenden Jahren 1952/53 rat des NWDR fOhlte sich mit der Komplexitat und 1953/54 sollte der Haushalt je 8,5 Mio. DM des Themas teilweise Oberfordert und wollte die fürs Fernsehen ausweisen.17 Der Vorschlag von finanzielle Verantwortung nicht übernehmen. Nestei wurde vom Verwaltungsrat in der Sitzung NWDR-Verwaltungsdirektor Franz Schmidt wur­ am 19./ 20. Januar 1952 weitgehend gebilligt. de beauftragt, mögliche Modelle von Fernseh­ Lediglich die Sendezeit, die Nestei vorschlug, betriebsfermen auszuarbeiten und vorzustellen. wurde dahingehend modifiziert, dass von einem Am 26. November 1951 stellte Schmidt zwei tagliehen dreistondigen Programm ausgegangen Möglichkeiten mit jeweils zwei Unterformen wurde, zwei Stunden abends und eine Stunde vor:15 nachmittags. Bei besonderen Anlassen sollte die 1. Unselbstandige Betriebsform Sendezeit erweitert werden.18 a. Das Fernsehen wird mit dem Etat des Noch bevor das Fernsehen den Versuchs­ Hörfunks zugleich verrechnet, fOr das Fernsehen status aufgab und ein regulares Programm aus­ werden lediglich Einzelplane verlangt in der gestrahlt wurde, erließ Generaldirektor Adolf Weise, wie es fOr die Führung der Funkhauser Grimme am 20. August 1952 die Organisations­ bisher gilt. Ansonsten werden alle Posten in ei­ und Betriebsordnung für die Abteilung Fernse­ nem Gesamtausgabeplan aufgehen. hen des NWDR. Danach vertrat der Intendant b. Das Fernsehen bekommt einen Sonder­ des Fernsehens dieses nach außen und innen haushalt, der die gleichen Einzelplane aufweist und hatte allein Prokura. Ihm unterstanden drei wie der Hörfunk. Hauptabteilungen: Sendung und Programm, Be­ 2. Selbständige Betriebsform triebstechnik sowie Verwaltung.19 a. Das Fernsehen wird als Eigenbetrieb einer Mit der Festlegung der Unternehmensstruktur Körperschaft des öffentlichen Rechts geführt und und betriebswirtschaftliehen Organisationsform stellt ein selbständiges Rechtssubjekt nach au­ des Hamburger Fernsehens war es jedoch nicht ßen dar. Die Verantwortung und Haftung fOr den getan. Um in Deutschland ein Fernsehprogramm Haushalt liegt dann voll und ganz bei der öffent• zu gestalten, mussten sich die einzelnen Rund­ lich-rechtlichen Körperschaft. funkanstalten schon aus finanziellen Gründen b. Das Fernsehen wird als eine Kapitalge­ zusammenschließen. Denn das Fernsehen war sellschaft, z.B. GmbH, geführt, bei der außer in der Einführungsphase mit erheblichen Investi­ dem NWDR noch ein weiterer Gesellschafter tionskosten belastet. Kapital und Namen einbringen müsste. Nach vollzogener Gründung könne das Kapital dann vom NWDR wieder erworben werden, so dass er Auf dem Weg zum ARD-Fernsehvertrag der 100-prozentige Inhaber und Eigentümer die­ ser Fernseh-GmbH wäre.16 1952, im Vorfeld des Fernsehvertrages vom 12. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile kam Juni 1953, äußerten sich denn auch die ver­ Schmidt zu der Ansicht, dass der unselbständi• schiedenen Rundfunkanstalten zu der Frage der gen Betriebsform mit gewisser Eigenständigkeit Organisationsform des Fernsehens innerhalb (1.b.) der Vorzug zu geben sei. ln erster Linie der ARD:20 sprächen die steuerlichen Nachteile bei den Dieter Sattler, Vorsitzender des Rundfunkra­ selbständigen Betriebsformen gegen deren Ein­ tes des Bayerischen Rundfunks, favorisierte in richtung . Der Technische Direktor des NWDR, seiner Denkschrift vom 28. April 1952 ein ge­ Werner Nestei nahm wegen der rundfunktechni­ meinsames Programm aller sechs Rundfunkan­ schen Probleme Stellung und plädierte fOr die stalten. Inhaltlich sollten die Fernsehbeiträge in Lösung, das Fernsehen nicht als wirtschaftlich einer Zusammenkunft der Intendanten ausge­ selbständigen Betrieb zu führen, sondern vo- handelt werden und nach einem noch festzule- Witting-Nöthen: Das frOhe NWDR-Fernsehen 17 gendem Schlüssel die Produktionskosten antei­ »Die Vorstellung, dass aufgrund des Fernsehvertra­ lig auf die einzelnen Anstalten ve~eilt werde~. ges in vorgeschlagener Form jede der an die Fern­ Ein zentral geführtes Fernsehen, w1e es etwa m sehgesellschaft angeschlossenen Anstalten die Frei­ Großbritannien und Frankreich bereits existierte, heit in der Programmgestaltung habe, ist aus diesem künstlerischen und aus dem entsprechenden finan­ lehnte Sattler aufgrund der besonderen födera• ziellen Grunde eine Chimäre. ( ... ) Durch die Gesell­ len Struktur des Rundfunks in der Bundesrepu­ schaftsstruktur ohne Rechtspersönlichkeit wird von blik entschieden ab. Anfang an unmöglich gemacht, das Fernsehen durch Auch Brack wandte sich gegen ein zentral die Hineinnahme von Kapital, das außerhalb der An­ gesteuertes Fernsehen: Eine bundesweite Aus~ stalten aufgebracht wird, zu stützen.« 21 strahlung eines Gemeinschaftsprogramm se1 auch durch einen Zusammenschluss innerhalb Im Übrigen hielt Haensel die Hineinnahme von einer Arbeitsgemeinschaft gewährleistet. Die Werbesendungen zur Finanzierung des Fernse­ dazu nötigen technischen Voraussetzungen hens für unumgänglich. Haensel gab einer Kör• würden zur Zeit durch den Bau eine Dezimeter­ perschaft des öffentlichen Rechtes den Vorzug. strecke von Berlin, Harnburg über Köln, Frank­ Der Süddeutsche Rundfunk (SDR) vertrat in furt nach München geschaffen. Nicht zu unter­ Person seines Justiziars Karl Neufischer mit schätzen seien die »Reibungsverluste«, die ent­ seinem Papier vom 12. September 1952 folgen­ stünden, wenn ein zentral gesteuertes Fernse­ de Ansicht: Im SDR entscheide man sich gegen ein Bun­ hen gegründet würde. Denn zur Finanzieru~g eines solchen Bundesfernsehens müssten d1e desfernsehen, halte es aber für eine Rundfunkanstalten zu einer Zwangsabgabe ver­ »kaum zu verantwortende Fehl-Investition ( ... ), wenn pflichtet werden. Nach Ansicht von Brack würde in Westdeutschland jede einzelne Rundfunkanstalt ein zentrales Fernsehen erheblich höhere Kos­ große Fernsehstudios erstellen und sich die Produk­ ten verursachen als ein föderales, weil dazu eine tion teurer Filme und Fernsehspiele erlauben wollte.« eigene völlig selbständige Verwaltung und Zur Finanzierung des Fernsehens nahm Neufi­ Technik aufgebaut werden müsste. Im übrigen scher gegen den Vorschlag von Brack Stellung, warnte Brack vor der politischen Gefahr, dass das Fernsehen durch die Rundfunkanstalten mit eine Zentralisierung des Fernsehens auch eine einem Fernseh-Gebührenanteil vorzufinanzie­ Zentralisierung des Hörfunks nach sich ziehen ren . »Dieser Vorschlag trägt den Gesichtspunk­ könne. Stattdessen setzte Brack auf die Errich­ ten des hier mehr als sonst notwendigen Fi­ tung eines Fernsehprogramms als Gemein~ nanzausgleichs nicht genügend Rechnung«, da Schaftsprogramm innerhalb der ARD. Dabei das Geld von vielen Rundfunkanstalten zur Fi­ sollte den Rundfunkanstalten die Gelegenheit nanzierung der Fernsehanlagen dringend benö• gegeben werden, unerwünschte Programmteile tigt werde. Neufischer forderte, im ersten Jahr nicht ausstrahlen zu müssen. Neben dem Ge­ das Gemeinschaftsprogramm kostenlos zur meinschaftsprogramm solle es ein Lokalpro­ Verfügung zu stellen. Das hieße im Klartext, gramme geben, das von jeder Rundfunkanstalt dass der NWDR das erste Jahr allein finanzieren selbst gestaltet und selbst bezahlt werden sollte. müsse. ln der Organisationsform schließt sich Brack den Schließlich kam es am 12. Juni 1953 zum Ausführungen von Sattler an. Die Finanzierung ersten Fernsehvertrag, der einen Finanzierungs­ des Gemeinschaftsprogramms war vorschuss­ schlüssel im Sinne des Finanzausgleichs vor­ weise zu leisten, wobei der NWDR zunächst für sah: das Programm allein aufkommen wollte. Bayerischer Rundfunk 20 % Vorgesehen war ein Programmausschuss, in Hessischer Rundfunk 10 % dem die Intendanten das zukünftige Fernseh­ Nordwestdeutscher Rundfunk 50 % programm inhaltlich festzulegen hatten, sowie Süddeutscher Rundfunk 10 % ein Exekutivausschuss, der zur Koordinierung Südwestfunk 10 % des Gemeinschaftsprogramms und für die Ge­ Zudem einigten sich die Beteiligten über fol- staltung aktueller Sendungen, die sich der vor­ gende Punkte: Über das Gemeinschaftspro­ herigen Planung entziehen, eingeschaltet wer­ gramm entscheidet ein Programmausschuss den sollte. nach Mehrheitsprinzip. Jede Rundfunkanstalt Am 29. Mai 1952 nahm der Justiziar des trägt die Kosten für ihre eigene Fernsehabtei­ Südwestfunks, Carl Haensel, in einem Papier lung. Den Anstalten obliegt neben der Abführung unter dem Titel »Die Wirtschaftsstruktur des finanzieller Beiträge auch die Pflicht, Sendungen künftigen Fernsehens« zum Entwurf eines Fern­ zu produzieren und damit zum Gemeinschafts­ sehvertrages, der im wesentlichen die Vorstel­ programm beizutragen. Dieser Verpflichtung lungen von Brack umsetzte, kritisch Stellung: kann man sich jedoch durch Geldzahlungen ent­ ziehen. 18 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Werbung im Fernsehen? Reemtsma, Mülhens 4711, Palmolive. Nach An­ gaben von Hessling lägen angeblich bereits Zu­ Schon früh wurde zur Finanzierung des Fernse­ sagen in Höhe von 2 Millionen DM vor. hens an die Einführung des Werbefernsehens Brack rechnete bei einer tagliehen Reklame­ gedacht. Anders als bei der Hörfunkwerbung zeit von einer halben Stunde mit einem Über• stand man beim Fernsehen dieser Einnahme­ schuss von rund 70 000 DM monatlich. Dieser quelle recht aufgeschlossen gegenüber. Über müssten jedoch, wie für ein Wirtschaftsunter­ Form, Dauer und Inhalt sollte jedoch übergrei• nehmen üblich, das auf Gewinn aus ist, entspre­ fend im Einvernehmen mit allen Rundfunkan­ chend versteuert werden. Daher bat Brack den stalten entschieden werden. 22 NWDR Berlin leitenden Regierungsdirektor der Hansestadt spielte den Vorreiter mit dem Vorschlag, einen Harnburg darum, die Körperschaftssteuer und sogenannten »Wirtschaftsfunk« im Fernsehpro­ die Gewerbesteuer für eine bestimmte Frist aus­ gramm einzurichten. Im November 1951 erar­ zusetzen, um dadurch eine umfangreiche An­ beitete der Technische Leiter in Berlin, Udo schubfinanzierung für das Fernsehen gewahr­ Blasser, bereits einen Vertragsentwurf zwischen leisten zu können. Alle Initiativen führten jedoch dem NWDR und der Kommerzbild GmbH aus. nicht zum gewünschten Ergebnis. Vorgesehen war, täglich eine halbe Stunde zwi­ Der Druck der privaten Wirtschaft auf die schen 18.00 und 18.30 Uhr Sendezeit für kom­ Rundfunkanstalten, Werbung im Rundfunk ein­ merzielle Zwecke zur Verfügung zu stellen. Die zuführen, insbesondere im Fernsehen, zeigt ein Kosten pro Werbeminute wurden mit 10 DM be­ Rundschreiben des Markenverbandes vom 1. rechnet. Dem Verbindungsmann von Kommerz­ April 1953. Die führenden Hersteller von Mar­ bild sollte innerhalb des Funkhauses ein Büro kenartikeln beabsichtigten, eine Aktiengesell­ mit Telefon zur Verfügung gestellt werden. Zur schaft (die sogenannte DENA AG) zur Aus­ Erweiterung des Fernsehkonsumentenkreises strahlung von privaten Werbefunksendern zu sah man vor, der Kommerzbild die Möglichkeit gründen. Da es aber keine freien Frequenzen einzuräumen, zusätzlich Fernsehstuben einzu­ gab, erwog die DENA, regionale UKW-Sender richten. Dem NWDR wurde eine Stimme im Auf­ mit einem Radius von 100 km zu bauen. Eine sichtsorgander Kommerzbild zugestanden.23 Sendelizenz der Amerikaner aus dem Jahr 1946 Die Leitung des NWDR lehnte jedoch diesen wurde diesem Plan zugrunde gelegt. 26 Vorschlag ab und berief sich auf den CDU­ Da inzwischen der Sättigungsgrad bei Radio­ Landtagsabgeordneten Josef Hermann Dufhues. geraten nach Ansicht der Rundfunkindustrie er­ Dieser hielt eine längerfristige vertragliche Bin­ reicht war, musste mit einem Rückgang des Ab­ dung in der Gründungsphase des Fernsehens satzes von Empfangern gerechnet werden. Des­ nicht für angebracht. Darüber hinaus kritisierte halb hoffte die Industrie darauf, einen neuen er, dass der Kommerzbild GmbH mit diesem Markt erschließen zu können und den Absatz­ Vertrag ein Exklusivrecht eingeräumt und dem verlust durch den Verkauf von Fernsehgeraten NWDR zu wenig Mitsprache und Einflussnahme aufzufangen. Dafür genügte ihr aber nicht, ermöglicht würde. Er hielt in einer Reihe von »wenn dreimal in der Woche ein Versuchsprogramm Punkten Einflussnahme und Kontrolle auf die gesendet werde, dafür würde ein Käufer keine 1.500 Gesellschaft und ihr Werbeprogramm für erfor­ DM aufwenden. Es müsse täglich eine Sendung er­ derlich. Im Übrigen bemängelte er, dass diese in folgen, damit die Käufer Interesse an den Apparaten Planung befindliche Gesellschaft noch keinen bekämen.« namhaften potentiellen Geschäftsführer vorwei­ So machte die Industrie in Person des Grafen sen könne, dem ein Ruf von Seriosität und Er­ Theodor von Westarp den Vorschlag für die fahrung vorausginge. Das würde eine gewisse ersten 100 000 verkauften Fernsehgerate je 50 Vertrauensbasis für Verhandlungen schaffen.24 DM an den NWDR zur Unterstützung des Pro­ Knapp ein Jahr später, im November 1952, gramms abzuführen. Das seien in der Summe 5 wurde in Harnburg ein neuer Anlauf unternom­ Mio. DM, womit das Programm attraktiver ge­ men: Der Leiter der Verwaltung des Fernsehens, macht und häufiger gesendet werden könnte. Hans-Joachim Hessling, empfahl die Gründung Darüber hinaus setzte sich Westarp dafür ein, einer Fernseh-Werbegesellschaft.25 Die großen Werbesendungen, nach seinem Wunsch mög• Industriefirmen hatten bereits starkes Interesse lichst vormittags, zu senden. 27 an einem Werbefernsehen bekundet. Eine Auf­ Man war sich auf seiten des Rundfunks je­ stellung, die aufgrund vertraulicher Gespräche doch darüber einig, dass die Entwicklung des mit Firmenleitungen geführt wurden, zeigte die Fernsehens nicht durch die Industrie forciert, Bereitschaft, rund 2,5 Millionen Mark für Rekla­ sondern in erster Linie durch den Rundfunk mesendungen im Fernsehen investieren zu selbst gesteuert werden solle. Der Rundfunk wollen. Unter den genannten Firmen waren Uni­ selbst hatte Interesse, die Verbreitung der Fern- lever, Henkel, Beiersdorf u. Co., Kaloderma, Witting-Nöthen: Das frOhe NWDR-Fernsehen 19 sehgeräte eher etwas zu drosseln, da bisher ximal 750 DM zu zahlen einschließlich einer Ta­ weder eine gesamteuropäische noch eine welt­ gesmiete für den Schneideraum von 35 DM. Die weite Norm eines Systems existierte. Erst wenn Vereinbarung galt rückwirkend vom 1.4.1951 bis Einigkeit über diese technische Norm bestünde, zum 31 .3.1952. Ebd .. könne man auch das Programm ausweiten, e­ 9 Dort heißt es in § 3, Abs. 2 u. 3: »Es ist insbeson­ ventuell auch durch internationalen Programm­ dere notwendig, dass (!) folgende Personen eine austausch. Insbesondere solle man nicht jetzt umfassende Genehmigung zur Aufnahme der schon den Markt mit Fernsehgeräten ausstatten, Veranstaltung in das Fernsehprogramm und zur die wenige Jahre später bereits veraltet seien. Aufnahme auf Wiedergabevorrichtung und deren Man müsse verhindern, dass das alte System Sendung geben: Die tragenden Persönlichkeiten sehr verbreitet wird. Bei einer Verlangsamung der Veranstaltung, wie Mannschaften bei einem müsste auch an die Zusammenarbeit mit den Fußballkampf, Boxer bei einem Boxkampf, Ein­ zelpersonen bei Leichathletikkämpfen, tanzende internationalen Stellen gedacht werden.28 Paare bei Tanzturnieren, Schiedsrichter oder an­ Es dauerte noch Jahre bis das Werbefernse­ dere mit der Beaufsichtigung, Beurteilung und hen begann, da es ARD-weit in Absprache mit dergleichen beauftragten Personen, Hilfsperso­ allen Rundfunkanstalten eingeführt werden soll­ nen, Kapellmeister, Orchestermitglieder, gegebe­ te. Die Realität holte jedoch die Planung der Ma­ nenfalls auch Raumgestalter, Modeschöpfer, cher ein. Zunehmend bediente sich die Wirt­ Maskenbildner, soweit es sich um Veranstaltun­ schaft der sogenannten Schleichwerbung, der gen handelt, bei denen von diesen Personen gezielten Positionierung ihrer Produkte verbal gestaltete Schöpfungen vorgestellt werden, sowie oder direkt im Fernsehbild: Bandenwerbung bei sonstige Personen, die irgendwie unmittelbar Sportveranstaltungen, Schleichwerbung für Le­ durch ihre Tätigkeit Recht irgendwelcher Art er­ bensmittel bei Kochsendungen, Präsentation der werben oder bei denen infolge der Übernahme für Gewinne mit Markennamen bei Quizsendungen das Fernsehprogramm oder der Aufnahme auf Wiedergabevorrichtungen Rechte zur Entstehung usw. 29 gelangen sollten.« 10 Ebd. Anmerkungen 11 Vertragsentwurf von Brack, 16.7 .1953, mit einer Gültigkeit bis zum 31.12.1953. Eine Neuverhand­ * Der Beitrag entstand im Zuge der archivischen lung der Honorarsätze sollte erst bei einer Fern­ Verzeichnung des Bestandes Hans Brack, Justi­ sehteilnehmerzahl von über 300 000 in Betracht ziar des NWDR ab 1948, Justiziar und Finanzdi­ kommen. Bestand Brack, Sign. 10064. Schon rektor des Westdeutschen Rundfunks (WDR) ab bald wurden die Begehrlichkeilen der Fußballver• 1956, ab 1961 zugleich Verwaltungsdirektor des eine geweckt. Zwar war die Masse der Fußball­ WDR im Historischen Archiv (HA) des WDR. vereine auch 1954 noch bereit, die Spiele für Brack trat im Dezember 1970 in den Ruhestand. 2 000 DM im Fernsehen übertragen zu lassen, je­ doch gab es auch schon vereinzelt Forderungen Das Protokoll dieser 4. Sitzung des Verwaltungs­ von 20 000 DM. Vgl. : Protokoll der 28. Sitzung rates, 13.8.1948, ist im HA leider nicht vorhanden. des NWDR-Hauptausschusses, 27.3.1954. Be­ 2 Brack an Regierungsdirektor Schug, Finanzbe­ stand Brack, Sign. 10070. hörde Hamburg, 28.11 .1952, mit der Bitte um 12 Aktennotiz zur Besprechung mit dem Justiziar der zeitlich befristeten Erlass der Steuern für Über• DBP Schuster, 1.11 .1951 . Bestand Brack, Sign. schüsse, die aus geplanten Reklamesendungen 10067. erwirtschaftet würden. Zugleich Vorlage für den Verwaltungsrat, 55. Sitzung am 13./14.12.1952). 13 Die Post hatte zunächst eine Neuverhandlung Bestand Brack, Sign. 10286. schon ab 400 000 Fernsehteilnehmer gefordert. 3 Protokolle der Sitzungen des NWDR Verwaltungs­ 14 Vertrag zwischen der DBP und dem NWDR vom rates. Bestand Brack, Sign. 6156. 18.9./20.8.1952 (Originalausfertigung). Ebd. 4 Protokoll der 29. Sitzung des Verwaltungsrates, 15 Aktennotiz, 22.11.1951 . Ebd. Bestand Brack, Sign. 23./24.9.1950. 6156. 16 Dieses Modell orientierte sich an einer Entwick­ 5 Aktenvermerk von Brack am 14.1.1952, Bestand lung am Ende der Weimarer Zeit, in der der Brack, Sign. 10064. Rundfunk von einer AG in eine GmbH überführt und schließlich 1933 enteignet und verstaatlicht 6 Vgl. Aufstellung für die Mitglieder des Verwal­ wurde. tungsrates, 15.12.1952. Bestand Brack, Sign. 10062. 17 Aktennotiz von Werner Nestei betr. technische Voraussetzungen für das Fernsehen, 3.12.1951. 7 NDW an Pleister, 5.5.1951 . Ebd. Bestand Brack, Sign. 10067. 8 Der NWDR erklärte sich bereit, die Gehälter des 18 Ebd. NWDR-Cutterpersonals über eine Höhe von ma- 20 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

19 Ebd. 20 Alle Denkschriften zur Organisationsform des Fernsehens liegen im Bestand Brack, Sign. 10082. 21 Ebd. 22 Protokoll der 28. Sitzung des NWDR-Hauptaus­ schusses, 27.3.1954. Bestand Brack, Sign. 10070. 23 Udo Blässer an Grimme, 6.12.1951. Bestand Brack, Sign. 10286. 24 Stellungnahme von Dufhues, 4.1.1952. Ebd. 25 Am 3. November übergab Hessling den Entschei­ dungsträgern des NWDR ein Papier mit einem Vorschlag zur Gründung einer Werbegesellschaft. Stammkapital solle bei 20 000 DM liegen. Als Ge­ sellschafter sollten der NWDR und ein Strohmann eingesetzt werden, die Aufsicht hätten unabhän• gige Persönlichkeiten und Personen aus dem NWDR zu führen. Alle erwirtschafteten Über• schüsse seien dem Fernsehen des NWDR zuzu­ führen. Allerdings müsse eine inhaltliche Kontrolle des Werbeprogramms durch den NWDR gesi­ chert sein. Hessling schlug vor, die Werbegesell­ schaft auch räumlich vom NWDR-Fernsehen zu trennen und ihr die Bunker I und II auf dem Hei­ liggeistfeld zu überlassen. Der Vorschlag basierte jedoch darauf, dass die Industrie durch eine Vor­ finanzierung von rund 600 000 DM eingebunden sein müsste. 26 Rundschreiben des Vorsitzenden des Markenver­ bandes e. V. , Lutz, 1.4.1953. Bestand Brack, Sign. 10286. 27 Sitzung der Fernsehkommission der ARD, 21.12. 1951, mit Wiedergabe der Ausführungen von Graf Westarp als Vertreter der Rundfunkindustrie. Be­ stand Brack, Sign. 10080. 28 Sitzung der Fernsehkommission, 30.1.1952. Ebd. 29 Vgl. dazu auch: Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart/Weimar 1998, S. 135 ff. ln diesem Zusammenhang erwähnt Hi­ ckethier, dass der NWDR der Wirtschaft 1952 be­ reits 30 Minuten Werbezeit einräumen wollte, was angeblich auf das Desinteresse der deutschen Wirtschaft gestoßen sei. Die Akten des Justiziars Brack geben genau das gegenteilige Bild: Die Entscheidungsträger des NWDR taten sich sehr schwer mit der Einführung der Werbefernsehens. Ein Vertrag kam deshalb aufgrund der zögerlichen Haltung des NWDR nicht zustande. Andrea Guder

Genosse Hauptmann auf Verbrecherjagd

Die DDR-Krimi-Reihe >Polizeiruf 11 0<*

Die Erfolgsgeschichte des >Polizeiruf 11 0< be­ zwölf (70er Jahre) bzw. 14 (80er Jahre) Produk­ ginnt am 27. Juni 1971 . Oberleutnant Fuchs ali­ tionen pro Jahr einen großen Teil des Gesamt­ as Peter Borgelt und Leutnant Vera Arndt alias budgets für die Dramatische Kunst in Anspruch. Sigrid Göhler ermitteln erstmals für das DDR­ Fernsehen. Ihr erster Einsatz - >Der Fall Lisa Murnau< - wird noch in Schwarz-Weiß ausge­ Ein schweres Erbe strahlt. Über 20 Jahre später, im Dezember 1991, endet nicht nur die Geschichte des DDR­ Der >Polizeiruf 11 0< tritt ein schweres Erbe an: Fernsehens, auch der Kriminalist Fuchs quittiert Er folgt dem Publikumsliebling >Blaulicht. Aus im letzten >Polizeiruf< der DDR den Dienst. Da­ der Arbeit unserer Kriminalpolizei<, die vom 20. zwischen liegen 153 Falle, in denen die »Son­ August 1959 bis zum 27. Oktober 1968 in 29 dergruppe Fuchs« den großen und kleinen Episoden über die ostdeutschen Bildschirme Verbrechen im sozialistischen Staat auf der Spur flimmert. Das Kriminalistentrio Hauptmann Wer­ ist. nicke, Oberleutnant Thomas und Leutnant Timm >Polizeiruf 11 0< ist eine der wohl bemerkens­ jagt zunächst Verbrecher in (Ost-)Berlin, später wertesten Fernsehproduktionen der DDR. Die verlagern sie ihr Betätigungsfeld mehr und mehr Reihe erlebt nicht nur 153 Episoden, sondern ist in die gesamte Republik. Doch die Konzeption auch der Exportschlager des DDR-Fernsehens. der Reihe verändert sich kaum: Der Frage »Wel­ ln über 35 Landern der Weit sieht man Fuchs che Kriminalität ergibt sich aus der Teilung und Genossen in Aktion: Man verkauft die Reihe Deutschlands?« will Autor Günter Prodöhl nach­ nicht nur nach Osteuropa - Bulgarien, Rumä• gehen, und so ist es kein Wunder, dass die Ur­ nien, Polen und Ungarn -, sondern auch in den sachen der Verbrechen, die in >Blaulicht< be­ Westen- z.B. Dänemark, Italien und Schweden gangen und natürlich auch aufgeklart werden, im - und in so exotische Gefilde wie Afghanistan, Westen liegen. So der Fall eines aus der die Mongolei und Vietnam. Der >Polizeiruf< lauft Schweiz stammenden Heiratsschwindlers, der in chinesischen und sowjetischen Kinos, und sich seine Opfer in der DDR sucht. Oder die selbst zur Devisenbeschaffung in der Bundesre­ (West-)Berliner Trickbetrügerin, die Rentner in publik Deutschland dient er. Dort wird er in den (Ost-)Berlin um ihr Erspartes bringt. Die Ost­ Dritten Programmen der ARD ausgestrahlt. West-Schiebereien von Autos, initiiert von Auch die Resonanz in der Heimat ist positiv, wie (West-)Berliner Kriminellen. Oder aber west­ die vielen Zuschriften, aber auch die Einschalt­ deutsche Agenten, die eine LPG-Scheune in quote, die meist bei 50 Prozent der gesamten Brand setzen. Und nicht zuletzt der aus (West-) Zuschauerschaft liegt, beweisen. Berlin stammende Mörder, der - begünstigt Die Reihe nimmt innerhalb des Programm­ durch die Unfähigkeit der (West-)Berliner Polizei angebots des DDR-Fernsehens einen expo­ und Justiz- in (Ost-)Berlin ein Kind tötet. nierten Platz ein: Von Beginn an wird sie am Seit >Blaulicht< 1968 eingestellt wird - und Sonntagabend, nach der >Aktuellen Kamera<, das mit einer exorbitanten Zuschauerquote von gesendet. Allerdings bedeutet dieser hervorge­ 69,9 Prozent für die letzte Episode -, wachst im hobene Sendeplatz auch eine besondere Her­ DDR-Fernsehen die Erkenntnis, schnellstens ausforderung, denn man steht in unmittelbarer eine Nachfolgereihe schaffen zu müssen. Denn Konkurrenz zum attraktiven West-Programman­ die Ergebnisse der zu dieser Zeit intensivierten gebot des Sonntags - das beinhaltet, in einigen Zuschauerforschung belegen den deutlichen Fallen in Konkurrenz zu den West-Krimis treten Wunsch der Rezipienten nach Krimis.1 zu müssen. Doch nicht nur der Sendeplatz ist Gleichzeitig setzt der Start des >Tatort< in der exponiert, auch der Aufwand, mit dem das DDR­ ARD im Nov~mber 1970 die Programmplaner in Fernsehen den >Polizeiruf< produziert, ist im­ Adlershof unter Zugzwang. Denn neben den mens. Im Durchschnitt werden sieben Folgen Nachrichtensendungen sind besonders die pro Jahr produziert, wobei eine Folge mit etwa spannungsgeladenen Produktionen des Wes­ einer Million Mark der DDR an Produktionskos­ tens ein Anreiz für DDR-Bürger, »grenzüber• ten zu Buche schlagt. Damit nimmt die Chefdra­ schreitend« fernzusehen . Und so feiert keine maturgie von >Polizeiruf 11 0< bzw. >Der Staats­ acht Monate nach dem ersten >Tatort< der >Poli­ anwalt hat das Wort< mit ihren durchschnittlich zeiruf 11 0< seine Premiere, wohl nicht zufällig auch am Sonntagabend. 22 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Die Ermittler tung gegenober dem Westen, besinnt man sich nun auf eine neue Linie: Basierend auf der Zwei­ Zentrale Figuren des >Polizeiruf< sind die Krimi­ Staaten-Theorie sieht man sich nun abgegrenzt nalisten. Geprägt wird die Reihe vor allem durch von der BRD, und der bisher allgegenwartige die Figur des Oberleutnant (spater Hauptmann) Klassenfeind rockt immer mehr aus dem Zen­ Fuchs. Mit 77 Einsatzen bis Ende 1989 ist er der trum der Betrachtung. prasenteste Kriminalist. Neben Fuchs treten in Im Gegensatz zu >Blaulicht< spielt grenzOber­ den ersten Jahren vor allem Oberleutnant Hüb• schreitende Kriminalitat in Form direkter westli­ ner (JOrgen Frohriep) und Leutnant Vera Arndt cher Einflosse nun zu Beginn der 70er Jahre (Sigrid Göhler) in Erscheinung. Mitte der 80er keine Rolle mehr. Auch der direkte deutschland­ Jahre betritt dann Andreas Schmidt-Schaller als politische Bezug, der für >Blaulicht< noch so cha­ Leutnant (später Oberleutnant) Grawe die >Poli­ rakteristisch ist, fehlt fast völlig. Als Erklarung für zeiruf<-BOhne und prägt die Reihe bis in die 90er kriminelles Verhalten liefert >Polizeiruf 11 0< - Jahre. ln stets wechselnden Kombinationen bil­ ebenso wie >Der Staatsanwalt hat das Wort<3 - den meist drei dieser Figuren die sogenannte konstant die gleichen Ursachenmodelle. Klein­ »zentrale Fahndungsgruppe der Volkspolizei«. bOrgerliehe Relikte oder Rudimente sind - ganz Diese klart Verbrechen aller Art in allen Winkeln gleich um welche Delikte es sich handelt- Ober­ der DDR auf. Man ermittelt in Eerlin, aber auch einstimmend ursachlieh für Kriminalität in der in anderen Städten (Frankfurt/Oder, Rostock, DDR. Es handelt sich also nicht mehr um einen Leipzig, Potsdam, Halle), auf dem Land, in Fe­ unmittelbaren negativen Einfluss westlicher rienorten an der Ostsee, im Harz, in Kleinstädten Kratte, sondern vielmehr um die mittelbare Infil­ wie Thale u.v.a.m. Dass die Ermittler republik­ tration durch bürgerliches Gedankengut. weit prasent sind, greift auf die Reihe >Blaulicht< Bei den dargestellten Delikten Oberwiegen zurück. Dort hat man sich - wie bereits erlautert die Gewaltverbrechen, gefolgt von den Eigen­ - in der zweiten Staffel ebenfalls vom alleinigen tumsdelikten. Die Erklarungen für Gesetzesver­ Handlungsort Berlin verabschiedet und ermittelt stöße liegen in individuellen Eigenschaften und an verschiedenen Orten der DDR. Zum Status Einstellungen des Täters, in den rudimentären der Sondergruppe in beiden Reihen gehört Ober­ Denk- und Verhaltensweisen wie Egoismus, einstimmend, dass man für alle möglichen De­ Habgier, Besitzstreben, falscher Ehrgeiz und liktformen zuständig ist: Mord, Totschlag, Raub, Obertriebener Individualismus. Überindividuelle, Körperverletzung, Sexualdelikte, aber auch Ein­ d.h. soziale Faktoren - wie negative Gruppen­ bruch, Erpressung, Diebstahl, Hochstapelei, Be­ oder Milieuprägung, gesellschaftliche Widersprü• trug, Jugendkriminalität, und sogar für die Ver­ che, mangelhafte Resozialisierung, Beschafti­ kehrserziehung in Grundschulen werden die gungslosigkeit, mangelhafte Wohnbedingungen Kriminalisten eingesetzt. - spielen kaum eine Rolle. Allenfalls die Familie und die dort aufgezeigten Erziehungsfehler als soziale Faktoren werden intensiv betrachtet. Er­ Ursachen der Kriminalität ziehungsdefizite außerfamiliarer Institutionen werden hingegen kaum beschrieben. Ist >Blaulicht< noch ein Kind des Kalten Krieges, Und wahrend als Ausgangspunkt der Krimi­ handelt von Agenten, Schiebern und Schmugg­ nalität persönliche Defizite ausgemacht werden, lern, die jenseits der deutsch-deutschen Grenze betont man dennoch die Oberindividuellen, ge­ zu Hause sind und ihren Geschaften in der DDR sellschaftlichen Folgen der Tat, den Schaden, nachgehen wollen, so verabschiedet sich >Poli­ den der Einzelne der Gemeinschaft zufügt. So zeiruf 11 0< ganzlieh von der »grenzüberschrei• vermittelt >Polizeiruf 11 0< die Einsicht in die tenden« Kriminalitat. Seit Beginn der 70er Jahre Notwendigkeit der Mithilfe aller BOrger bei der beobachtet man Fernsehkrimis, aber auch Vorbeugung und Bekampfung von Kriminalitat DEFA-Kriminalfilme, die keinerlei Anspielungen und erfüllt somit die Vorgaben, die der langjahri­ auf das zweite Deutschland mehr beinhalten. ge Chefdramaturg Lothar Dutombe 1981 in der Der Krimi verliert zusehends den bisher vorherr­ Zeitschrift >Film und Fernsehen< als Aufgabe der schenden deutschlandpolitischen Bezug und Reihe formuliert: »mit dem Genre >Gegenwarts­ greift somit das entspanntere politische Klima kriminalfilm< zur Kriminalitatsbekampfung und dieser Zeit auf. Auf dem VIII. Parteitag der SED Ursachenerforschung beizutragen, bei der Ver­ und der 6. Tagung des ZK wird denn auch ein­ brechensaufklarung mitzuhelfen, die Staats­ geraumt, dass eine »friedliche Koexistenz zwi­ macht darzustellen, um so Staats- und Rechts­ schen Staaten mit unterschiedlicher Gesell­ bewußtsein mit zu festigen sowie unseren BOr­ schaftsordnung«2 möglich sei. Statt einer frOhen gern Sicherheitsgefühl zu vermitteln.«4 Orientierung auf eine Wiedervereinigung im So­ zialismus, der später praktizierten Abwehrhal- Guder: Genosse Hauptmann auf Verbrecherjagd 23

Künstlerische Freiheit und sur. Da es aber keinen Krimi ohne Täter gibt und die­ staatliche Kontrolle se zwangsläufig immer gegen die Normen der Ge­ sellschaft verstoßen mußten, waren die Freiräume im Polizeiruf größer, und er geriet mehr und mehr zu ei­ Autoren und Regisseure, aber auch die Zu­ ner Nische, in der man arbeiten konnte, in der Rea­ schauer, suchen im >Polizeiruf 11 0< jedoch we­ lismus stattfand."6 niger die von Outambe formulierten didaktischen und quasi staatstragenden Aspekte, wie sie ei­ nem Krimi in der DDR wohl bescheinigt werden Medienlenkung, -planung und -kontrolle müssen. Vielmehr sind subversive Tendenzen interessant. Nicht die Suche nach dem Täter, Die Produktion des >Polizeiruf 11 0< wird geprägt sondern die Frage nach dem Warum der Tat durch die Verortung der Reihe in einem Medien­ steht für sie im Mittelpunkt. Gleichzeitig liegen system, für das staatliche Planung, Lenkung und hier die Grenzen des Darstellbaren: Individuelle Kontrolle durch den Staats- und Parteiapparat Motive und Eigenschaften - wie Habgier, Egois­ charakteristisch ist. Medien gelten in der DDR mus, übersteigerter Individualismus, Prestige­ offiziell als »Führungs- und Kampfinstrumente denken und Verlogenheit - überwiegen, wah­ der Partei der Arbeiterklasse und des sozialisti­ rend gesellschaftliche Missstande nur dezent schen Staates« und haben »ihren Beitrag zur angedeutet werden konnten . Dennoch greift die Veranderung der sozialistischen Wirklichkeit Reihe Konflikte auf, die im DDR-Fernsehen sel­ mittels spezifischer journalistischer beziehungs­ ten oder überhaupt nicht zur Sprache kommen: weise künstlerischer Mittel« zu leisten. 7 Um Me­ Alkoholismus (>Die flüssige Waffe<, 1988), Kin­ dien als »Herrschaftsmittel der Machtelite«8 der desmissbrauch (>Minuten zu spät< , 1972), Ver­ DDR zu instrumentalisieren, um mediale Herr­ gewaltigung (>Der Mann im Baum<, 1988), schaft überhaupt erst möglich zu machen, er­ Selbstmord (>Zwei Schwestern<, 1982) und Ju­ sinnt und perfektioniert man ein Leitungs- und gendkriminalität (>Der Einzelganger<, 1980). Die Kontrollsystem durch die Parteiführung der SED, Reihe erzahlt von den Konflikten der eigentlich deren wichtigste Orte von Beginn der DDR an »konfliktlosen« Gesellschaft DDR. Wie nötig bis 1989 das Politbüro und das zustandige ZK­ dieses - beispielsweise von Regisseur Helmut Sekretariat für Agitation und Propaganda sind. Kratzig beschworene - »ersatzpublizistische Das Verhältnis der SED-Führung zu den Me­ Wirken«5 war, zeigt die teilweise erstaunliche dien hat sich in vier Jahrzehnten jedoch grund­ Resonanz einzelner Filme. So erreichen die satzlich gewandelt: Wahrend Presse, Hörfunk Dramaturgie 1981 anlasslieh der 75. Episode und Kino in den 50er Jahren noch die dominan­ >Der Teufel hat den Schnaps gemacht< zahlrei­ ten Medien sind und demzufolge von der SED che Briefe, in denen nicht nur die eindringliche mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wer­ Darstellung des Alkoholikers Theo Lute gelobt den, entwickelt sich das Fernsehen9 in den 60er wird. Auch Betroffene - Süchtige und deren An­ Jahren zum zentralen Informations- und Unter­ gehörige, Arzte und Therapeuten - begrüßen die haltungsmedium der DDR. Erst zu diesem Zeit­ wohl zum ersten Male gelungene Auseinander­ punkt erkennt man die Rolle des Fernsehens als setzung mit Alkoholismus in der breiten Öffent• »massenwirksamstes« Medium.10 lichkeit, und der Film wird fortan in Therapieein­ Und so werden die Leitlinien der Medienpoli­ richtungen der ganzen Republik vorgeführt. Der tik durch das Politbüro vorgegeben und durch >Polizeiruf< greift also Konflikte auf, die - wie es das ZK-Sekretariat für Agitation und Propaganda der Regisseur Kratzig betont - »anderweitig und das ihm unterstehende Staatliche Komitee nicht behandelt« werden. Andere sehen im Krimi für Fernsehen (SKF) umgesetzt. Konkrete allgemein und im >Polizeiruf< im besonderen gar Schritte der Medienbeeinflussung sind u.a. die eine Nische in der ansonsten streng reglemen­ intensive und kontinuierliche Vorgabe allgemei­ tierten und kontrollierten Medienlandschaft der ner Richtlinien der Mediengestaltung durch die DDR. Das Ausloten eines Freiraums wahrend staatlichen Führungsgremien, eine gesteuerte der Zeit der SED-gelenkten Medien , so be­ Kaderpolitik, die Kontrolle der Produktions- und schreibt beispielsweise der nach der Wende Programmplanung, die Abnahme verschiedener eingesetzte Leiter der Hauptredaktion Fernseh­ Stadien des Medienangebots durch fernsehin­ spiel, Thomas Steinke, die Rolle der Reihe: terne und -externe Gremien und die Freigabe »Im staatlichen und zentralistischen Fernsehen der des Medienangebots für die Ausstrahlung. ehemaligen DDR kämpften die Künstler und Filme­ Die fiktionale Darstellung von Verbrechen macher ständig um Freiräume, denn die Liste der ta­ bleibt- ebenso wenig wie die Information in den buisierten Themen war lang. ( ... ) Das, was den Alltag Tagesmedien - nicht dem Einfluss der Medien­ im Osten prägte, kam in den sogenannten Gegen­ planer und -Ienker entzogen. Kriminalitat gehört wartsfernsehspielen zumeist nicht vor, und wenn es - wie es der westdeutsche Kriminologe Arnold vorkam, landeten die Stücke im Giftschrank der Zen- 24 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Freiburg formuliert - »im Propagandawettstreit deren lnteressensspharen durch konkrete Pro­ zwischen Ost und West - neben den Themen jekte tangiert sind, ab. So gibt es ein ungeschrie­ >Krieg und Frieden<, >Grund- und Menschen­ benes Gesetz, dass immer, wenn die Volks­ rechte<, >Lebensstandard< und >Sicherheit des oder Kriminalpolizei in einer Sendung prasent Arbeitsplatzes< - zum kleinen Kreis jener Fra­ ist, eine Beratung mit dem Ministerium des ln­ gen, anhand derer stets erneut die Schwache nern erfolgt. Sollen zum Beispiel Fernsehserien des jeweils anderen und die Überlegenheit des auslandischer Provenienz im DDR-Fernsehen jeweils eigenen Systems demonstriert« 11 wer­ gezeigt werden, in denen Sicherheitskratte vor­ den kann. Kriminalitat ist demnach als zentraler kommen, so wird eine Vorführung vor Mitarbei­ Aspekt eines deutsch-deutschen Ideologiewett­ tern der Hauptabteilung Kriminalpolizei anbe­ streites zu sehen. Die DDR-Führung und ihre raumt und deren Stellungnahme eingeholt. Medien vergleichen sich diesbezüglich geradezu Es kommt bei allen Krimireihen und -Serien, exzessiv mit dem Nachbarn Bundesrepublik, be­ die das Fernsehen produziert, zu solchen Ko­ schwören die positive Kriminalitatsentwicklung operationen. Partner sind die Hauptabteilung und prognostizieren das Absterben der Krimina­ Kriminalpolizei beim Ministerium des lnnern (für litat im Sozialismus. KriminaHtat ist nach marxis­ >Blaulicht< und >Polizeiruf 110<), die General­ tisch-leninistischer Auffassung kein natürliches staatsanwaltschaft der DDR (für >Der Staatsan­ Phanomen, keine anthropologische Konstante, walt hat das Wort<) oder aber das Ministerium sondern eine gesellschaftlich bedingte Erschei­ für Staatssicherheit (für die Serie >Drei von der nung und gilt als das >Muttermal< der kapitalisti­ K<) und die Zollverwaltung der DDR (für die Se­ schen Gesellschaft. Paradigmatisch ist das rie >Zollfahndung<). Wahrend die Kooperationen Thema KriminaHtat deshalb, weil ihr Vorhanden­ bei >Blaulicht< und den anderen Reihen noch sein unmittelbar Auskunft über den Entwick­ sporadisch sind, erfolgt für >Polizeiruf 110< eine lungsstand einer sozialistischen Gesellschaft kontinuierliche und enge Zusammenarbeit- eine geben kann. ln dieses Bild passt sowohl der in Tatsache, die übrigens nicht verheimlicht wird. der Tagespresse der DDR allgegenwartige Kri­ Bereits in der Vorankündigung zum Start der minalitätsvergleich Ost/West, der stets zuguns­ Reihe in der >FF Dabei< wird auf den »Fachbe­ ten der DDR ausfallt, als auch der restriktive rater Major M. von der Abteilung K« hingewie­ Umgang der DDR-Führung mit statistischen sen.14 Aussagen zur Kriminalitätsentwicklung.12 Ange­ Nach Beginn der Reihe 1971 folgt zunachst sichts des kritischen Potentials von Verbre­ eine Phase des Aufbaus der Beziehungen zwi­ chensdarstellungen aller Art etabliert sich für die schen der zustandigen Chefdramaturgie Polizei­ Produktion von Krimi-Reihen im DDR-Fernsehen ruf/Staatsanwalt und der Hauptabteilung Krimi­ eine spezielle Form der Kontrolle: die soge­ nalpolizei im Ministerium des lnnern, die u.a. nannte Zusammenarbeit der Krimi-Macher mit darin besteht, den Dramaturgen feste Konsulta­ »gesellschaftlichen Partnern«. tionspartner zuzuweisen. Diese echten Krimina­ listen beraten Autoren und Dramaturgen regel­ maßig, stellen ausgewahlte Polizei- und Ge­ Gesellschaftliche Partner richtsakten zur Verfügung, ermöglichen es den beteiligten Personen, an Gerichtsverhandlungen Die Kontakte zwischen den Beteiligten an der teilzunehmen oder in die Polizeiarbeit »hinein­ Krimiproduktion und den »gesellschaftlichen zuschnuppern«. Partnern« beginnen schon in der Frühzeit des Diese Kontakte - die auch von Seiten der DDR-Fernsehens. Eine Zusammenarbeit mit der Dramaturgie angeregt sind - werden in der Fol­ Deutschen Volkspolizei wird bereits bei >Blau­ gezeit auf eine rechtlich-verbindliche Grundlage licht< praktiziert. Autor Günter Prodöhl zur Ar­ gestellt. Die Leiter der Hauptabteilungen Krimi­ beitsweise: nalpolizei und Polizeiruf/Staatsanwalt schließen einen Vertrag, der von den Vorgesetzten, dem »Wir haben einen festen Fachberater, Major im Mi­ Minister des lnnern (Mdl) und dem Vorsitzenden nisterium des lnnern, der die Verbindung hält zwi­ des SKF, gegengezeichnet wird. Folgende schen Kriminalpolizei und Fernsehfunk. ( ... ) Gesprä• Grundsatze sind in der Vertragsausfertigung von che mit dem Chef der Kriminalpolizei oder mit Krimi­ nalisten bringen Anregungen. Es liegt jedem >Blau­ 197515 festgelegt: Gernaß der Aufgabenstellung licht< ein wirklicher Fall zugrunde. Aktenstudium und des VIII. Parteitages der SED soll die Sende­ Gespräche mit den Genossen, die den Fall behan­ reihe »zur Propagierung des sozialistischen deln, geben detailliertes Material. Natürlich haben wir Rechts, zur Festigung und Vertiefung des sozia­ auch an Vernehmungen und Gerichtsverhandlungen listischen Staats- und Rechtsbewußtseins sowie teilgenommen.« 13 zur weiteren Herausbildung sozialistischer Ver­ Das Fernsehen - wie andere Medieninstitutio­ haltensweisen« beitragen. Dabei sind die nen auch - spricht sich mit staatlichen Stellen, Schwerpunkte der KriminaHtat in der DDR zu Guder: Genosse Hauptmann auf Verbrecherjagd 25 beachten, d.h. »die Berücksichtigung typischer und positiven gesamtgesellschaftlichen Erschei­ Erscheinungsformen wie Eigentumsstraftaten, nungen besteht. Es muss ein deutlicher Kontrast Jugendkriminalität, unter Alkoholeinfluss began­ zwischen negativem Individuum und positivem gene Straftaten und Rückfallkriminalität«. Für Umfeld hergestellt werden. Das gesellschaftliche Kapitalverbrechen gelten besondere Vorschrif­ Umfeld der Täter ist durchweg positiv zu gestal­ ten: »Die Darstellung von Tötungsdelikten ist bei ten, »ehrliche, charakterlich positive Bürger«1B der Jahresplanung zu vereinbaren.« Außerdem dürfen nicht fehlen, ein intaktes soziales Um­ ist die »vertrauensvolle Zusammenarbeit der feld,19 »ein Umfeld arbeitsamer, ehrlicher Men­ Deutschen Volkspolizei mit den Werktätigen« zu schen« ist nötig.20 Wie es ein Gutachter anläss• propagieren, wobei die Kriminalisten als »be­ lich einer Abnahmebesprechung formuliert: »Gut wußte Staatsbürger« darzustellen sind, die »in herausgearbeitet wurde die total intakte Gesell­ Ausübung ihrer Funktion durch hohe Aktivität bei schaft. «21 der Vorbeugung und Bekämpfung der Kriminali­ Auch im Hinblick auf die dargestellten Ver­ tät ihren Beitrag zum Aufbau der entwickelten brechen nehmen die Mitarbeiter des Mdl Ein­ sozialistischen Gesellschaft leisten«. Krimina­ fluss: Es sollen nur solche Delikte dargestellt listen 16 im >Polizei ruf< haben einen »festen werden, die »typisch« und »repräsentativ« für Klassenstandpunkt« und sind keine »Einzelgän• die reale Kriminalität in der DDR sind, man solle ger«. auf die übermäßige Darstellung von schweren Der Verantwortungsbereich der Hauptabtei­ Gewaltverbrechen verzichten. Dass diesem lung Kriminalpolizei ist umfangreich und die ver­ Wunsch nicht gänzlich nachgekommen wird, traglichen Festlegungen werden auch im Pro­ beweist eine Analyse der im >Polizeiruf< behan­ duktionsprozess umgesetzt. Die Zusammenar­ delten Vergehen und Verbrechen: ln fast der beit umfasst folgende Aspekte: Die Kriminalisten Hälfte aller Fälle werden schwere Gewaltverbre­ kommentieren die vom Fernsehen eingereichten chen dargestellt, obwohl diese in der DDR nur Jahrespläne, machen selbst thematische Vor­ einen Bruchteil der realen Kriminalität ausma­ schläge für die Produktion, beraten Autoren und chen. Dramaturgen bei der Bucharbeit Sie begutach­ ten die verschiedenen Buchstadien, vom Expose über das Szenarium zum Drehbuch, sind bei den Darstellung der Staatsmacht Dreharbeiten vor Ort mitspracheberechtigt und nicht zuletzt bei den Abnahmen des Films zuge­ Die Darstellung der Staatsorgane, genauer ge­ gen. Sie nehmen also in vielfältiger Weise Ein­ sagt der »Genossen der Volkspolizei«, ist zen­ fluss auf den Produktionsprozess und somit die traler Ansatzpunkt der Stellungnahmen der Kri­ Gestalt der Filme selbst. minalisten. ln jedem der Gutachten ist die Art der Darstellung der Kriminalpolizei entscheidend für das Urteil. Es wird ausdrücklich begrüßt, Die Sicht der Kriminalisten wenn »der Kriminalist ganz in den Mittelpunkt der Handlung gestellt ist, dass gezeigt wird, wel­ Leitmotiv dieser Arbeit ist der schon im Vertrag che hohen (physische und psychische) Anforde­ fixierte Grundsatz, »Kriminalität als eine der Ge­ rungen der Beruf stellt.«22 Doch wie soll der so­ sellschaft wesensfremde Erscheinung« zu schil­ zialistische Kriminalist aussehen? Dazu geben dern. Kriminelles Verhalten ist als Sonderfall zu die Gutachten mannigfaltig Auskunft: behandeln und in Relation zur ansonsten positi­ - Der Kriminalist ist gesetzestreu: Sein Vorge­ ven sozialistischen Gesellschaftsordnung zu hen hat immer der »sozialistischen Gesetzlich­ setzen. Wo Kriminalität - untypisch für die Ge­ keit« zu entsprechen. Sein Handeln ist verhält• sellschaft allgemein - doch existent ist, müssen nismäßig. Voreingenommenheit der Untersu­ die gezeigten Delikte die von offizieller Seite chungs- und Justizorgane existiert nicht, unge­ sanktionierte Wirklichkeit widerspiegeln. Dies setzliches Handeln ist nicht darstellbar. äußert sich in der unbedingten Beachtung des - Der Kriminalist beachtet die Dienstvorschrift: Paradigmas der »Typik und Repräsentanz« der Er verhält sich nicht nur absolut gesetzestreu, Delikte für die »reale« Kriminalität in der DDR. auch Dienstvorschriften werden unbedingt ge­ Grundsätzlich ist - laut Funktionärsbild - »Kri­ wahrt. Die »Verletzung der Funkdisziplin (Über• minalität als eine der Gesellschaft wesensfrem­ mittlung von Fußballergebnissen)«23 kann zum de Erscheinung« 17 zu schildern und: »Unbedingt Beispiel nicht geduldet werden. Die Sichtweise zu vermeiden ist, dass beim Zuschauer der Ein­ des Innenministeriums: »Der Sprechfunkverkehr druck erweckt wird, die Gesellschaft wäre über• ist stärker nach der Dienstvorschrift darzustel­ durchschnittlich mit Kriminalität belastet.« Dazu len.«24 gehört auch, sicherzustellen, dass ein adäqua• - Der Kriminalist wahrt die Distanz zum Täter: tes Verhältnis zwischen negativen individuellen Es darf nicht zu einer »Verkumpelung« mit dem 26 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Straftater kommen. Man duzt Vernommene - Der Kriminalist vermischt niemals Beruf und nicht. Denn: »Das beeintrachtigt das sympathi­ Privates. Schon die Andeutung eines Verhaltnis­ sche Bild des Kriminalisten eines sozialistischen ses zwischen Kollegen wird bemangelt. Staates generell.«25 Gleichzeitig ist man Ver­ - Der Kriminalist hat einen vorbildlichen Le­ dachtigen und Tatern gegenüber unbedingt ob­ benswandel: Kriminalisten sind nicht geschie­ jektiv. den. - Der Kriminalist macht sich nicht lacherlich. Und tatsachlich zeigt das durch die Einfluss­ - Der Kriminalist - das gilt besonders für den nahmen der Kriminalisten in den Produktions­ Leiter der K - macht keine Fehler und versucht prozess eingebrachte Ermittlerbild signifikante keine Alleingange. Übereinstimmungen mit den tatsachlich reali­ - Der Kriminalist arbeitet planmaßig und ziel­ sierten Figuren. Hauptmann Fuchs und Genos­ gerichtet. sen unterscheiden sich von ihren zeitgenössi• - Der Kriminalist benutzt keine Schusswaffen. schen westlichen Kollegen durch ihre Überle• Der Gebrauch von Waffen durch die Kriminalpo­ genheit, ihr Vorbildhaftes Verhalten, die Be­ lizei, aber auch durch die Tater, gehört (mit we­ schrankung auf die Funktion des Kriminalisten nigen Einschrankungen) zu den Tabus des >Po­ und die Ausklammerung des Privaten. Sie lizeiruf 11 0<. Der Einsatz von Waffen soll grund­ scheinen durch ihre raumlieh nicht festgelegte satzlich unterbleiben. Tatigkeit allgegenwartig und durch ihren unbe­ - Der Kriminalist ist in seinem Verhalten vor­ dingten Erfolg im Kampf gegen das Verbrechen bildlich: Kriminalisten sind nicht vertraulich im allmachtig. Umgang miteinander. Kaffee und Kuchen im Auch was die dargestellten Delikte angeht - Dienst sind tabu. Sie lehnen nicht allzu lassig so die Aussagen zahlreicher Produktionsbetei­ am Tisch. Ein sachlicher Umgangston ist zu be­ ligter - gibt es Vorgaben der Kriminalisten, die vorzugen. Kriminalisten fahren kein Fahrrad26 - zumindest für einen bestimmten Zeitraum nicht schon gar nicht mit der Freundin auf dem Ge­ in Frage gestellt werden. Politische Straftaten packträger (»Verkehrsgefährdung«27). Krimina­ stehen nicht zur Debatte, Republikflucht als Ver­ listen benutzen keine Schimpfworte, sind nicht gehen ist nicht darstellbar.29 Selbstmord gehört unbeherrscht, nicht lustlos, nicht egozentrisch ebenfalls zu den »heißen Eisen«. Sexualdelikte oder übertrieben emotional, trinken keinen Alko­ sind bis in die 80er Jahre nur schwer durchsetz­ hol, nur weil sie vom Vorgesetzten gerügt wer­ bar. Zwar befasst sich >Minuten zu spat< 1972 den. Vielmehr sind sie sympathisch, souveran, mit einem Sittlichkeitsverbrechen, doch dann korrekt, rational und logisch handelnd. dauert es 16 Jahre bis Manfred Mosblech 1988 - Der Kriminalist ist bürgernah, mit einem be­ in seinem Film >Der Mann im Baum< wieder ei­ sonders guten Verhaltnis zu Jugendlichen. nen Sexualstraftater zeigt. Auch im Hinblick auf - Der Kriminalist ist immer erfolgreich in der die Tater gibt es ungeschriebene Gesetze: Leh­ Bekämpfung des Verbrechens und unermüdlich rer, Ärzte und Funktionare sind (fast) tabu. 30 Es für das Recht im Einsatz. Deshalb ist es auch gibt jedoch immer wieder >Polizeiruf<-Filme, die nicht möglich, dass die Ermittler Fuchs und diese ungeschriebenen Gesetze brechen. So Arndt ins Kino gehen, wahrend die Ermittlungs­ lasst der DEFA-Regisseur Helmut Nitzschke in arbeit noch läuft: >Harmloser Anfang< ( 1981) einen Betriebsleiter zum Mörder werden. Absolut unmöglich er­ »Unter Berücksichtigung des zu dieser Zeit gegebe­ nen Ermittlungsstandes ist diese Handlungsweise scheint es jedoch bis zum Ende der DDR, »die nicht vertretbar. Im Gegensatz zu den Erfordernissen KriminaHtat auf eine gewisse hohe Ebene der einer effektiven Untersuchungsführung wird unmoti­ Gesellschaft zu stellen«, beispielsweise einen viert eine »Pause« eingelegt und auch dem Zu­ »Tater aus den Reihen der Parteisekretare oder schauer ein unzutreffendes Bild von der Arbeitsweise der Kreisfunktionare oder des Politbüros oder der Kriminalpolizei vermittelt, das nicht geeignet ist, der Kombinatsdirektoren«31 darzustellen. das Zusammenwirken mit den Werktätigen zu för• Die Empfehlungen des Mdl sind dabei als dern. Es wird vorgeschlagen, auf diese Episode ge­ Richtlinien der Fernseharbeit zu sehen, die nerell zu verzichten.«28 meist - aber nicht immer - von allen Produkti­ - Der Kriminalist ist Funktionstrager und keine onsbeteiligten berücksichtigt werden. Zum Bei­ Privatperson: Kriminalisten dürfen nicht in inti­ spiel bemangelt ein Mitarbeiter des Mdl bezüg• men Situationen gezeigt werden. Ermittler besit­ lich der Episode >Zwei Schwestern< in seiner zen also - so lange der Fall nicht geklärt ist - Meinungsaußerung zum Szenarium den ge­ (fast) kein Privatleben. Wird der Ermittler doch planten Schluss. einmal im privaten Umfeld gezeigt, so erwartet »Die Bilder 62 und 63 werden in der vorliegenden man trotzdem die unermüdliche Beschaftigung Fassung nicht akzeptiert. Der Tod der 3 Personen mit dem Beruf. Ein Kriminalist stellt namlich alle kann abgewendet werden durch ein rechtzeitiges privaten Belange zurück, bis der Fall gelöst ist. Einschreiten der DVP [Deutsche Volkspolizei). (... ) Guder: Genosse Hauptmann auf Verbrecherjagd 27

Die veränderte Schlußszene sollte unbedingt dem Nach dem Mauerfall Mdl zur Kenntnis gegeben werden.«32 Diese Szene, in der eine der beiden Frauen den Nach dem Mauerfall im Herbst 1989 geht es erst Wagen, in dem noch ihre Schwester und ihr einmal weiter mit >Polizeiruf 110<, noch 20 Epi­ Ehemann sitzen, absichtlich an einen Baum soden werden in den Jahren 1990 und 1991 fährt, wird jedoch so gedreht wie ursprünglich ausgestrahlt. Allerdings mit Ver.::lnderungen: aus geplant. Ein Mitarbeiter des Mdl kritisiert dies bei dem Hauptmann wird der Hauptkommissar, und der Rohschnittabnahme und tr.::lgt damit einem der Trabant hat als Dienstfahrzeug ausgedient. ungeschriebenen Gesetz Rechnung, das die Die Reihe wird zum Spiegel der Wende, der ge­ Darstellung eines Selbstmordes fast unmöglich sellschaftlichen Veranderungen und zuletzt auch macht. Beim 100. >Polizeiruf< >Treibnetz< bei­ des Niedergangs der DDR. Mit >Thanners neuer spielsweise muss das vorgesehene Selbst­ Job<, ausgestrahlt als letzter >Polizeiruf< des mordmotiv noch entfernt werden. Dennoch geht Deutschen Fernsehfunks am 22. Dezember >Zwei Schwestern< unverändert über den Sen­ 1991, endet die Ara der DDR-Kriminalisten. der. Bisweilen werden - im nachhinein kaum er­ Doch auch noch nach dem Ende der DDR zeigt kl.::!rbar - Hinweise der politischen Instanzen sich die Ausnahmestellung der Reihe. >Polizeiruf nicht berücksichtigt. Dies relativiert ein wenig die 11 0< ist die einzige fiktionale Produktion, die Vorstellung, dass es sich beim Mdl um eine all­ dauerhaft33 in das Gemeinschaftsprogramm der mächtige Zensurbehörde handelt. ARD übernommen wird . 1993 werden zunachst Autoren, Regisseure und Dramaturgen be­ vier Episoden gezeigt. 1994 nimmt die ARD die urteilen die Rolle der gesellschaftlichen Partner Reihe offiziell in ihr Programm: gesendet wird aus heutiger Sicht unterschiedlich. Manche - am Sonntagabend um 20.15 Uhr - im Wechsel wie Befragungen zeigen - beurteilen sie als mit dem >Tatort<. Vor allem die Sendeanstalten »kleinkarierte Einmischung«, sehen sie im der neuen Bundesl.::lnder- MDR, NDR und ORB nachhinein als störend und bevormundend. Bei - produzieren neue Folgen, aber auch WDR, fast allen künstlerischen Kräften ist aber auch SFB, BR, SDR/SWR und HR.34 die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Kooperation vorhanden. Nicht nur, dass die Kri­ minalpolizei die Filmemacher kriminaltechnisch Anmerkungen und logistisch (man denke an die zur Verfügung gestellten Polizeiwagen, Hubschrauber, Polizei­ * Auszüge aus der Dissertation der Verfasserin: Der kräfte bei Großeins.::ltzen) unterstützt, die Zu­ Krimi in Film und Fernsehen der DDR. Diss. Mar­ sammenarbeit hilft, Konflikte zu lösen oder von tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1999. vornherein zu vermeiden. Es ist wohl kein Zufall, 1 Mehr zu den Ergebnissen der Zuschauerfor­ dass bereits zu Anfang des >Polizeiruf< von sei­ schung vgl. Guder: Der Krimi (wie Anm. *), S. ten der Dramaturgie eine Intensivierung der Be­ 134ff., 148f., 196-200. ziehungen gewünscht wird. Unsicherheiten der Macher, mit einem solch brisanten Thema wie 2 Thomas Beutelschmidt: Sozialistische Audiovisio­ nen. Zur Geschichte der Medienkultur in der DDR. Kriminalit.::lt umzugehen, spielen hier ebenso ei­ Potsdam 1995, S. 59f. ne Rolle wie das Bewusstsein, sich frühestmög• lich kriminaltechnisch, aber auch politisch­ 3 Diese Reihe »Kriminologischer Fernsehspiele« ideologisch durch die Konsultation von Fach­ sendet das DDR-Fernsehen vom 21.10.1965 bis männern abzusichern. 28.7.1991 . Vgl. Andrea Guder: Der Krimi im Fern­ Die persönliche Einsicht in die Notwendigkeit sehen der DDR: Ein gattungs- und programmge­ schichtlicher Überblick. ln: SPIEL Jg. 15 (1996), von Zugeständnissen und die Erkenntnis, dass H. 2, S. 342-364 und Karin Wehn: Karnickeldieb­ die Partner vor allem an der Gestaltung der Er­ stahl im großen Stil. Die Wende und der deutsch­ mittler interessiert sind, führt zu bewussten oder deutsche Fernsehkrimi. ln: Katholisches Institut unbewussten Konfliktvermeidungsstrategien vor für Medieninformation (Hrsg): Quotenfänger Krimi. allem der beteiligten Autoren und Regisseure. Das populärste Genre im deutschen Fernsehen. Man widmet sich weniger der Gestaltung der Köln 1999, S. 89-102. Ermittlerfiguren als vielmehr der Darstellung der 4 Lothar Dutombe u.a.: Der Teufel hat den Schnaps individuellen Motive des Täters, seiner Konflikt­ gemacht. Erfahrungen nach 75 Folgen Polizeiruf situation, seiner Lebensumstände und seines 110. ln: Film und Fernsehen Jg. 9 (1981), S. 3-7. sozialen Umfeldes. 5 Es sei hier verwiesen auf Äußerungen des Regis­ seurs Krätzig im Film »Gesetzesbrecher und Ge­ nossen: Die Krimiserie Polizeiruf 110 im DDR­ Fernsehen« von Dagmar Wittmers und Katrio Löschburg, den der ORB 1994 in der Reihe 28 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

»Rückblicke, Einblicke - Medien in der DDR« des 19 Vgl. die Meinungsäußerung zum Drehbuch >Die Adolf Grimme Instituts ausstrahlte. alte Frau im Lehnstuhl< (datiert auf den 28.4.1986). Bestand DRA. 6 ARD (Hrsg.): Polizeiruf 110. ln: Erstes Deutsches Fernsehen. 1994, Sonderheft 8, S. 1. 20 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium >Ab­ schiedslied für Linda< (datiert auf den 10.6.1985). 7 Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Sozio­ Bestand DRA. logie. Berlin 1977, S. 416. 21 Vgl. das Protokoll der Abnahme zum Film >Tödli• 8 Vgl. Rainer Geißler: Vom Kampf der Agitatoren che Illusion< (datiert auf den 13.11.1978). Bestand mit einem widerspenstigen System. Die Massen­ DRA. medien der DDR im Überblick. ln: Medium Jg. 16 (1986), H. 2, S. 18-23; ders. in: Hannes Haas: 22 Vgl. die Meinungsäußerung zum Drehbuch >Der Mediensysteme: Struktur und Organisation der 72-Stunden-Dienst< (undatiert). Bestand DRA. Massenmedien in den deutschsprachigen Demo­ 23 Vgl. die Meinungsäußerung zum Drehbuch >Nach­ kratien. Wien 1987, S. 92-101 . Peter Ludes: Das barschaft< (datiert auf den 11.8.1986). Bestand Fernsehen als Herrschaftsinstrument der SED. ln: DRA. Deutscher Bundestag (Hrsg .): Material der En­ quete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte 24 Ministerium des lnnern. Politische Verwaltung. und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Lorenz. Abschrift (undatiert). Bestand DRA. Bd. 11/3, Machtstrukturen und Entscheidungsme­ chanismen im SED-Staat und die Frage der Ver­ 25 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium >Der antwortung. Baden-Baden/Frankfurt am Main Mann, den es nicht gab< (datiert auf den 1995, S. 2194-2217. 16.8.1982). Bestand DRA. 9 Dem Programmstart des Deutschen Fernsehfunks 26 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium >Zwei am 3.1.1956 gehen zwei Phasen voraus: Ab Schwestern< (datiert auf den 18.12.1986). Be­ 20.12.1951 der interne Fernsehversuchsbetrieb stand DRA. und ab 21 .12.1952 das offizielle Versuchspro­ 27 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium >Der gramm. Fund< (undatiert). Bestand DRA. 10 Vgl. Peter Hoff: Der ungeteilte Himmel. ln: Ästhe­ 28 Ministerium des lnnern. HA Kriminalpolizei. Der tik und Kommunikation Jg. 21 (1990) , H. 73n4, S. Leiter. Schreiben an Lothar Outambe (Juni 1975). 87-95. Bestand DRA. 11 Vgl. Arnold Freiburg: »Eine Art Produktion und 29 Der einzige Versuch, sich dieses Themas anzu­ Reproduktion von Jugendkriminalität«. Die DDR­ nehmen, ist die >Staatsanwalts<-Episode >Risiko< Kriminologie auf dem Wege zum Realismus. ln: (Autor: Günter Karl, Regisseur: Helmut Krätzig, Deutschland-Archiv Jg. 18 (1985[, H. 1, S. 68-74, Dramaturgin: Käthe Riemann), die auf Anregung hier S. 73f. Dr. Przybylskis 1979 gedreht wird, die aber vor 12 Vgl. Guder: Der Krimi (wie Anm. *), S. 20ff. dem eigentlichen Ausstrahlungstermin abgesetzt und erst im Jahre 1990 vom Deutschen Fernseh­ 13 Gonstanze Pollatschek: Ein Bruder für >Blaulicht<. funk gesendet wird. ln: Wochenpost, 26.5.1967. 30 Werner Krecek, langjähriger Chefdramaturg, for­ 14 FF Dabei 1971, H. 16. muliert es in dem bereits erwähnten ORB-Film (Anm. 5) folgendermaßen: »Es gab bis zum 15 Ministerium des lnnern. Hauptabteilung Kriminal­ Schluss einen Widerwillen, also kein Verbot ( ... ), polizei; Fernsehen der DDR. Hauptabteilung Poli­ aber es trat dann doch wieder die Selbstzensur zeiruf/Staatsanwalt. Grundsätze für die Zusam­ ein. Also Lehrer tauchten kaum auf, Arzt war mit menarbeit der Hauptabteilung Kriminalpolizei des Vorsicht zu genießen«. Ministeriums des lnnern und der Hauptabteilung PolizeiruftStaatsanwalt des Fernsehens der DDR 31 So eine Aussage des Dramaturgen Lutz Schön vom Mai 1975. Bestand Deutsches Rundfunkar­ (wie Anm. 5). chiv (DRA), Standort Berlin. Die nachfolgenden Zitate stammen aus diesem Dokument. Der Ver­ 32 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium >Zwei trag wird 1980 aktualisiert und gilt bis 1989 un­ Schwestern< (datiert auf den 18.12.1986). Be­ verändert. stand DRA. 16 Die Figur eines Privatdetektivs ist diesen 33 Vgl.lngrid Brück u.a.: Bevor »Kommissar Fuchs« Grundsätzen zufolge nicht darstellbar. den »Genossen Schimanski« traf: Der sozialisti­ sche Kriminalfernsehfilm im gesamtdeutschen 17 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium »Di­ Kontext. ln: SPIEL Jg. 14 (1995), H. 2, S. 244- ogenes oder ein altes Märchen« (datiert auf den 273. 12.6.1985). Bestand DRA. 34 Mehr dazu in: Karin Wehn: Der >Polizeiruf 11 0< in 18 Vgl. die Meinungsäußerung zum Szenarium >Gier< der ARD: Kontinuität und Wandel. ln: Polizeiruf (datiert auf den 3.9.1985). Bestand DRA. 110. »Programm Extra« zum Pressedienst Erstes Deutsches FernsehentARO 1998, Nr. 21, S. 11f. Pioniere des deutschen Rundfunks im Spiegel eines Briefwechsels Ernst Hardt- Alexander Maaß (1945/46) (Teil I)

Die Nachkriegskorrespondenz von Ernst Hardt tätig und gründete 1947 die Rundfunkschule und Alexander Maaß umfasst 35 Briefe, die et­ Hamburg. was mehr als ein Jahr lang den Wiederaufbau Im Januar 1946 bot Alexander Maaß seinem des Rundfunks in Deutschland nach dem Ende früheren Intendanten während eines Besuchs des Zweiten Weltkriegs begleiten. 20 Briefe bei ihm an, die Leitung des Funkhauses in Harn­ schrieb Ernst Hardt, 15 Alexander Maaß von burg bzw. in Köln zu übernehmen. Diese Idee November 1945 bis Dezember 1946; sie befin­ scheiterte jedoch an Hardts schwer angegriffe­ den sich im Deutschen Literaturarchiv in Mar­ ner Gesundheit. Hardt ließ sich von Maaß aber bach/N.1 zu »kritischen Berichten« über das Programm Die ausführlichen und Briefe des nach dem des NWDR überreden und leistete damit einen Krieg sehr aktiven Alexander Maaß (1902-1971) wenn auch bescheidenen, dennoch aber wert­ und die nostalgisch gefärbten Briefe Ernst vollen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Hardts (1876-1947) gehen inhaltlich weit in die deutschen Vergangenheit. Am 3. Januar 1947 Vergangenheit zurück und befassen sich mit den starb Ernst Hardt an Bronchialkrebs in lchen­ Anfangsjahren des Rundfunks in Köln während hausen.3 der Weimarer Republik. Darüber enthalten die Briefe Informationen über die Schicksale ge­ meinsamer Freunde und Mitarbeiter darunter Charakter des Briefwechsels den wichtigsten Vertretern des Rundfunks in Deutschland wie Hans Bredow, Karl August Im Briefwechsel geht es um mehrere Themen­ Düppengießer, Hans Ebert, Paul Jobst Haslinde, komplexe: Hermann Probst, Eduard Reinacher, Rudolf - Die Briefe dokumentieren Alexander Maaß' Rieth, Alfred Erich Sistig, Willi Schäferdiek und Bemühungen, Ernst Hardt erneut für eine Arbeit Hans Stein. Der Briefwechsel kann durchaus ei­ beim Rundfunk zu gewinnen, und sie zeigen nen Beitrag sowohl zur Geschichte des deut­ Hardts Versuche, auf neue Rundfunkformen hin­ schen Rundfunks wie zu den Biographien seiner und auf ein anspruchsvolles Programm einzu­ wichtigsten Vertreter leisten. wirken, das aus Mangel an originären Funkar­ beiten und aufgrund des kulturellen Nachholbe­ darfs vorwiegend aus literarischen Adaptionen Zum biographischen Hintergrund bestand. Die spätere Entwicklung des Features als tatsächlich neues und eigenständiges Funk­ Ernst Hardt - angesehener und einflussreicher genre vor allem durch Ernst Schnabel und Alfred Intendant der Westdeutschen Rundfunk AG in Andersch dürfte nicht zuletzt Ernst Hardts frühen Köln der eine - und Alexander Maaß - Rund­ Anregungen zu danken sein. funksprecher und -reporter der andere - lernten - Die beiden Korrespondenzpartner tauschten sich in den späten 20er Jahren kennen. Dem Erinnerungen an die 20er und frühen 30er Jahre Jüngeren gelang es durch seine spontane und aus, in denen der Westdeutsche Rundfunk unter geistreiche Art immer häufiger, die Aura der Un­ Hardts künstlerischer Leitung Experimentelles nahbarkeit des Alteren zu durchbrechen und zu wagte und der Intendant den Rundfunk zur de­ einem seiner engsten Mitarbeiter zu werden.2 mokratischen Entwicklung nutzen wollte - eine Aus der engen beruflichen Zusammenarbeit Entwicklung, die durch die Machtübernahme der entwickelte sich eine von starkem gegenseiti­ Nationalsozialisten 1933 jäh unterbrochen wurde gem Vertrauen getragene persönliche Freund­ und erst nach 1945 wieder fortgesetzt werden schaft, die viele Jahre später in ihrem Brief­ konnte. ln diesem Zusammenhang wird auch wechsel zum Ausdruck kommen wird. Maaß des Funkhauses in der Kölner Dagobertstraße, sammelte nicht nur Rundfunkerfahrungen in eine intellektuelle Schaltstelle und Kultstätte mit Köln, sondern auch während der Jahre seiner besonderer Ausstrahlung, gedacht. Emigration bei Sendern in Spanien und in Groß• - Trotz seines Alters von beinahe 70 Jahren britannien, die ihm beim Wiederaufbau des machte sich Hardt anfangs noch Hoffnung auf Rundfunks in der britischen Besatzungszone ein Engagement in einer leitenden Stelle des Deutschlands ab 1945 zugute kommen sollten. neuen Rundfunks. Es begann jedoch bald eine Er war zunächst als Kontrolloffizier beim Nord­ Irrfahrt der Gefühle, verbunden mit einem stän• westdeutschen Rundfunk (NWDR) in Harnburg digen Wechsel zwischen dem Wunsch, noch 30 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) einmal ein Intendantenamt zu übernehmen, und Hamburg, den 14. November 1945 der Furcht, den neuen Anforderungen nicht ge­ Mein verehrter und lieber Herr Hardt! wachsen zu sein. Nach dem Besuch Alexander Maaß' wurde aber klar, dass eine Entscheidung Mit tiefer Freude erhielt ich heute Ihren Brief und da­ nicht bei ihm lag, sondern bei anderen. mit das zweite, wirkliche Lebenszeichen von Ihnen. - - Der Briefwechsel ist außerdem als eine Er­ Gestern wurde mir der Brief' hereingebracht, in dem Sie um Auskunft ob der »Woyzeck«, den wir aufführ• ganzung des bisher Bekannten aus Hardts Le­ ten, Ihre Einrichtung war. ben im Kontext von deutscher Rundfunk- und Schon über diese paar Zeilen war ich so aufge­ Kulturgeschichte zu betrachten, enthalt er doch regt, daß ich Ihnen nicht sofort schreiben konnte, neben Erinnerungen an langst verflossene Tage sondern es auf den heutigen Tag verschob und nun des Ruhms auch seine Gedanken über den kam heute morgen Ihr persönlicher Brief. Die Freude Rundfunkprozess wahrend der nationalsozialis­ darüber kann ich Ihnen nicht schildern. Ich hörte, daß tischen Zeit und die schweren und bitteren Jahre Sie lebten, konnte aber trotz verschiedener Nachfor­ danach. Ausführlich schildert Hardt seinem schungen Ihre Adresse nicht in Erfahrung bringen. Freund die Zeit des Krieges und wahrenddessen Ihre Zeilen haben mich wirklich tief bewegt und es seine Flucht aus Berlin. Am schmerzlichsten ehrt mich unbeschreiblich, von Ihnen zu hören, daß empfindet er aber sein frühes Vergessensein, Sie trotz der 12 schweren Jahre in großer Sorge an mich gedacht haben. - Glauben Sie mir, daß ich e­ seine Einsamkeit und Krankheit in der Nach­ benfalls in diesen Jahren nach jeder Nachricht über kriegszeit. Bei diesen Reminiszenzen an das Sie und Ihr Wohlergehen geforscht habe. Die Zeit Vergangene steht nicht so sehr der Kulturbot­ muß unsagbar hart für Sie gewesen sein. Von dem schafter und Rundfunkästhet im Mittelpunkt, Prozeß7 hörte ich, den man Ihnen anhängen wollte. sondern der Mensch Ernst Hardt, der als Zeitge­ Ich hörte davon, daß man Sie eingesperrt hatte und nosse einer längst vergangenen Epoche verein­ daß es dieser Bande trotzdem nicht gelungen war, samt bleibt und sich dennoch um einen An­ Ihnen aber auch die leiseste kriminelle Schuld nach­ schluss an das Neue bemüht. Sein Briefwechsel zuweisen. Was denen nur gelungen war zu bewei­ mit Alexander Maaß, wie kurz er auch zeitlich sen, daß Sie in Ihrer so grundständigen Gesinnung gewesen sein mag, wird in gewissem Sinne zur nicht einen Augenblick wankend wurden. Das hat Summe seines Lebens. Die Korrespondenz gibt mich immer wieder mit besonderer Freude und mit einen wertvollen Einblick in einen Teil deutscher besonderem Stolz erfüllt. Als mein Lehrer und mein Chef sind Sie, lieber Herr Hardt, aus meinem Leben Rundfunk- und Kulturgeschichte. einfach nicht wegzudenken. Ich muß es Ihnen sagen, Mira Dordevic, Sarajevo daß Sie immer und immer wieder für mich das Vorbild eines Menschen sind und daß Sie den entscheiden­ den Einfluß auf mein Leben genommen haben. Es ist Dokumente keine Sentimentalität von mir, Ihnen zu schreiben, sondern mein aufrichtigstes Bedürfnis. Bei jeder Ar­ beit, die ich den ganzen Jahren begann, waren Sie lehenhausen (o.B.} Günzburgerstr. 31 immer wieder mein Vorbild. o. D. [1945] 1933 beabsichtigte ich, ein Deutsches Theater frei Mein lieber Alexander Maaß, von jedem Nazieinfluß in Elsaß-Lothringen aufzubau­ en. Meine Aufgabe seinerzeit sah ich aber darin, unter den einiger Tatsächlichkeil verdächtigen Nach­ Statthalter, nur Statthalter zu sein und Sie sobald es richten, die mich in letzter Zeit in meinem allzu stillen möglich war, auf den Ihnen zukommenden Platz des Bombenexil4 (in Berlin ist das Meinige alles hin!} er­ Theaterleiters zu bitten. Daß dieses Projekt trotz Un­ reicht haben, befindet sich die Mitteilung, daß Sie heil terstützung der »Direction General d'Aisace et Lorai­ und unversehrt wieder in Deutschland sind. Ich kann ne« nicht zustande kam, lag an der maßlos kompli­ Ihnen schwer sagen, wie herzlich mich das erfreut, zierten politischen Situation in Elsaß-Lothringen. denn ich habe in den 12 schweren Jahren oft in 1936, als meine jetzige Frau von Spanien aus nach größter Sorge Ihrer gedacht. Kurz vor dem Einbruch Berlin fuhr (sie ist Ungarin und konnte sich das leis­ in Frankreich glaube ich Ihre Stimme als Ersatz der ten}, suchte sie Sie in Ihrer Wohnung auf, um über Ihr 5 plötzlich verschwundenen Stimme Heils über den Schicksal etwas zu erfahren. Leider aber waren Sie Pariser Sender zu hören, wo diese mir jetzt wieder nicht da. aufgetaucht zu sein scheint - ist dieses Alles zutref­ Nun will ich Ihnen in kurzen Strichen aufzeichnen, fend? was ich in den Jahren gemacht habe: Ich will jetzt nicht mehr schreiben und allen Aus­ Bis Ende 1935 war ich in Paris. Dieses Leben als tausch verschieben, bis ich von Ihnen eine zuverläs• Emigrant war wirtschaftlich sehr schwer, aber ge­ sige Nachricht in Händen habe. Wir werden beide messen an Ihrem Schicksal wars doch einfach und einander viel zu erzählen haben! unkompliziert, da ich keinem Gesinnungszwang und Seien Sie also einstweilen herzlich gegrüßt keiner Angstpsychose unterlegen war. Ende 1935, Ihr Ernst Hardt ich bekam dann etwas Geld, fuhr ich mit meiner Frau nach Mallorca und Ibiza, wo ich Walter Stern8, der sich dort als Fotograf niedergelassen hat, wieder traf. Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 31

Von da aus ging ich nach Barcelona, lernte Ton­ jetzt sehr darauf, ihm mitteilen zu können, daß ich meister im Film und war gerade dabei, mir eine Exis­ von Ihnen einen Brief habe.- Tage und Wochen ha­ tenz aufzubauen, als der Bürgerkrieg ausbrach. Ich ben wir in Paris nur von Ihnen gesprochen. meldete mich sofort als Soldat, wurde verwundet Ul[l]mann 14 lebte in Amsterdam und hat sich kurz (Lungenschuß), ging nach der Heilung wieder an die nach dem Einmarsch der deutschen Truppen er­ Front, wurde wieder verwundet (Bauchschuß) und hängt. ging im September 1938 nach Paris zurück. Da Stein 15 konnte nach England kommen, ist aber schrieb ich ein Buch[?]g über den spanischen Krieg, 1941 oder 1942 in London eines natürlichen Todes arbeitete für Schweizer Zeitungen, für den Manches­ gestorben. Es ist erstaunlich, daß es so etwas noch ter Guardian und schrieb auch noch schlechte Kurz­ gegeben hat. geschichten, von denen nur wenige veröffentlicht Inzwischen war ich an unserer alten Arbeitsstätte wurden. - Kurz vor Ausbruch des Krieges kam ich mit in Köln und habe dort die Prüfung und die Engage­ Jean Giraudoux10 zusammen, der vom ersten Tage ments der Mitarbeiter vorgenommen. Das Funkhaus, des Krieges [an] mich zu Propaganda heranzog. eine Nebenstelle von Hamburg, ist zu einem Drittel Trotzdem kam ich am 1. Juli 1940 in ein Camp de zerstört, dürfte aber schon in nächster Zeit wieder Concentration. Als die deutschen Truppen zu diesem völlig hergestellt sein. Köln sendet im Augenblick eine Lager kamen, brach ich aus, machte einen Fuß• Stunde täglich von 19 bis 20 Uhr eigenes Programm marsch von 33 Tagen durch deutsch besetztes Ge­ und übernimmt im übrigen das Programm aus Harn­ biet und kam dann nach Marseille. Einige Monate burg. Wenn aber der Sender Langenberg wieder auf­ später, als auch dort der Boden für mich zu heiß wur­ gebaut ist und das Kabel von Köln nach Harnburg de, ging ich als schwarzer Passagier nach Afrika. - funktioniert, wird Köln 5-6 Stunden täglich arbeiten. Das war Anfang 1941. Ende 1941 fuhr ich von Casa­ Zunächst traf ich sofort unseren alten Freund blanca nach Mexiko. Als das Schiff auf den Bermu­ Ernst.16 Ernst hat sich auch nicht im geringstens ver­ das von englischer Seite durchsucht wurde, wurde ändert. Er ist der alte, aufrichtige Bursche geblieben, mir eine Einladung der englischen Regierung über• der er war. Man hat ihn nicht in die Partei zwingen geben, nach England zu kommen. Ich fuhr dann erst können. Ich habe Ernst meine volle Unterstützung noch nach New York, dann nach Kanada und von gegeben und werde ihn auch zum zweiten Mann des dort in einem Convoi nach England. Kölner Senders machen können. Das Wiedersehen Dann war ich von Januar 1942 an in England, ar­ mit ihm war für mich eine große Freude. Mehrere beitete sehr viel und sehr nutzbringend und kam Stunden saß ich mit ihm und Rauer17 zusammen und dann am 23. Juli dieses Jahres als englischer Cont­ wir sprachen von Ihnen und Ihrer Arbeit in Köln. Ich roller zum Sender nach Hamburg. Hier habe ich nun muß Ihnen aufrichtig sagen, daß es etwas wehmütige diesen Sender aufgebaut und sehr viel Arbeit hinein­ Erinnerungen waren, die wir auffrischten. gesteckt, die, hoffe ich, sich wirklich gelohnt hat. - Dr. Rockenbach 18 fand ich auch vor, aber er war Das also ist so in Kürze, oder wie man hier sehr eben wegen seiner politischen, in diesem Falle sagt schön sagt, in Streiflichtern aufgezeigt, was ich in den man wohl besser, menschlichen Vergangenheit, für ganzen Jahren getan habe. Nun liegt dazwischen den Sender nicht zu tragen. natürlich eine Fülle von Erleben. Sehen Sie, lieber Herr Hardt, wir sind in den gan­ zen Jahren hart geworden und müssen hart bleiben, Mein Wunsch ist, Sie doch sehr bald einmal zu sehen wenn wir in Deutschland etwas Neues, wirklich Neu­ und dann alles mit Ihnen gemeinsam zu besprechen. es schaffen wollen und es gehört eine große Härte Jetzt will ich Ihnen noch von Ihren alten Mitarbeitern dazu, den ganzen Stall so auszumisten, daß nichts erzählen, die mir in der Zeit über den Weg gelaufen mehr übrig bleibt. sind, oder von denen ich gehört habe. Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt eine kurze Ge­ ln Barcelona traf ich Fritz Lewy 11 der bei Ausbruch schichte von gestern abend hier aus dem Funkhaus des Bürgerkrieges Kommunist wurde und dadurch wiedergebe: bessere Möglichkeiten hatte, Propagandaplakate zu Ich sprach mit Axel Eggebrecht19 und Heinz Hil­ machen. oder fuhr er mit seiner Frau nach 1937 1938 pert20 über den Tod. -Wie wenig Eindruck der Tod Amerika. (m)eines Menschen heute auf uns, auf alle Menschen Carl Heil war einige Jahre vor dem Kriege schon als überhaupt macht und ich erzählte von der Haltung Ansager beim P.T.T.12 in Paris, kam im Mai 1940 ins und der Stellungnahme, die Sie seinerzeit einnah­ Lager, wurde später von der Gestapo herausgeholt men, als der Staatspräsident von Württemberg das und dann in die Konzentrationslager Compiegne, Bu­ Todesurteil gegen irgendeinen armen Menschen chenwald, Ellrich und Oranienburg geschafft. - Dort bestätigte. Wie Sie ans Mikrofon gingen und diesen wurde er am 15. April von den Amerikanern befreit Staatspräsidenten, ich glaube, er hieß Bazille21, an­ und ist jetzt, wie Sie ganz richtig gehört haben, als klagten. - Glauben Sie mir, daß diese Beispiele Ihres Ansager beim P.T.T. unerhörten persönlichen Mutes immer wieder so star­ Es stimmt, daß Sie, als Heils Stimme aufhörte, im ken Eindruck auf mich gemacht haben, daß ich sie Mai 1940 mich als Ansager im Pariser Sender hörten. nie in meinem Leben vergessen werde. Nachdem alle Deutschen ins Lager kamen, blieb ich durch den besonderen Schutz von Mande[l].13 im Von meiner Vergangenheit habe ich Ihnen nun er­ Amt in Freiheit und übernahm die alleinige Redaktion zählt. Wie meine Zukunft aussehen wird, weiß ich des P.T.T.- Bis jetzt habe ich noch keine persönliche noch nicht, die ist im Augenblick völlig ungewiß. Es Fühlungnahme mit Carl Heil, ich hoffe aber bald von wurde mir angeboten, aus dem englischen Dienst ihm direkt zu hören. Jedenfalls freue ich mich schon auszuscheiden und Programmleiter, also der erste 32 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Mann nach dem Intendanten zu werden. - Der lchenhausen, 24.11.45 Rundfunk, wie alle anderen öffentlichen Institutionen Mein lieber Alexander Maaß, sollen in Bälde ganz in deutsche Hände übergehen. Ich habe aber abgelehnt und gesagt, daß ich nur an­ Mit einiger Ungeduld hatte ich seit meinem Brief an nehmen würde, wenn ich die erste Stellung, also die Sie unserem Briefträger gewißermaßen aufgelauert, des Intendanten bekäme. Sonst zöge ich vor, als und gestern hatte er wahrhaftig den Ihren in der Ta­ Controller beim Rundfunk zu bleiben. Ob das möglich sche, welcher das mir zugegangene Gerücht zu einer sein wird, kann noch niemand sagen. Ich bin nicht freudigen Tatsache macht. Engländer, sondern Civilian-Officer. Ob diese Stel­ Ich danke Ihnen von Herzen für all die guten lungen in Zukunft von Nichtengländern besetzt blei­ Worte, die Sie mir sagen und für all die erregenden ben, ist sehr fraglich. Oberflächlich gesehen, könnte Nachrichten, die mir wenigstens eine allgemeine ü• es eine Ungerechtigkeit sein, ist es aber nicht, wenn bersieht auf den zwölfjährigen, oft von mir sorgenvoll man die genaue Kenntnis der Vorgänge hat.Über überdachten Ablauf Ihrer Geschicke vermitteln. Ich diese Dinge allerdings könnte ich nur mündlich mit müßte heucheln, wollte ich nicht offen zugeben, daß Ihnen sprechen. mir die Erkenntnis, wie sehr doch manche der am Bei der Aufführung des »Woyzeck« habe ich dar­ Westdeutschen Rundfunk abgeschlossenen Verträge auf bestanden, daß Ihre Entzifferung und Einrichtung nicht kaufmännisch befristete Amtsverträge, sondern benützt würde. Bei der Gelegenheit möchte ich Ihnen gewissermaßen menschliche Lebensverträge von auch sagen, daß ich hier das Sendespiel eingerichtet vornherein gewesen oder geworden sind, ganz au­ habe und anbei können Sie sehen, was wir und unter ßerordentlich wohltut welcher Regie aufgeführt haben und aufführen wer­ Sie haben in den zwölf verflossenen Jahren einen den. Daß große Problem ist das ureigene Sendespiel, innerlich und äußerlich bunten Wechsel beinahe a­ das bis jetzt eben nicht existiert. Es wäre wunderbar, benteuerlicher Verhängnisse durchlebt, und da Sie wenn Sie uns dabei helfen würden. Im übrigen bin ich sie lebend überstanden haben, sitzen Sie nun ein an glücklich, Ihnen in den nächsten Tagen das Honorar Erlebnis und Erfahrung reich gewordener Mann in für den »Woyzeck« überweisen zu können. Die Auf­ Hamburg, der aus großer innerlicher Fülle fortan kühl führung22 war ausgezeichnet. Den »Woyzeck« und geruhig den rechten Weg weiterschreiten kann, spielte Gustav Knuth23, die »Marie« Hilde Krahl24, dessen er sich stets zutiefst bewußt gewesen ist. die Regie führte Robert Michal25. Sie können sich Das ist eigentlich ein sehr beneidenswerter Zu­ denken, wie lebhaft ich an Ihre beiden Aufführungen stand im Vergleich zu dem verzehrenden, dumpfen gedacht habe in Köln und in Berlin.- und Scheusäligen Abwehrkampf, der mir in gleichen Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, daß ich zwölf Jahren unversehrt zu überstehen auferlegt war. diesen Brief auf der Maschine schreiben lasse und Die Genugtuung, dem dummen und niederen Gegner Sie werden es sicher begreiflich finden, wie schwer immer überlegen gewesen zu sein und ihn schließlich es für mich gewesen wäre, Ihnen mit der Hand zu zum Aufgeben und zum Rückzug gezwungen zu ha­ schreiben und um wieviel schwerer es dann für Sie ben (Einstellung aller Verfahren auf Staatskosten) gewesen wäre, den Brief bei meiner unleserlichen wog den durchlebten Verdruß, die ohnmächtige Wut Handschrift zu entziffern. und die vielen toten Jahre nicht auf. Doch Schwamm darüber, denn ich sehe uns seit dem Empfang Ihres Nun, lieber Herr Hardt, brauche ich Ihnen nicht be­ Briefes vor meinem inneren Gesicht mit einander bei sonders zu sagen, wie froh ich wäre, wenn ich bald einer Flasche Whisky sitzen und uns unsere wech­ von Ihnen Nachricht bekäme. Ich brauche auchnicht selseitigen Geschicke mit Heiterkeit erzählen, denn besonders zu betonen, wie glücklich ich wäre, etwas ich habe aus meinen Verhörungen und Vernehmun­ für Sie persönlich zu machen. Vielleicht haben Sie gen, meinen Klingelputz-Tagen26, meiner zweijähri• Wünsche in England, vielleicht brauchen Sie irgend­ gen Klosterkrankenstube und der Gerichtssitzung im welche Dinge, die ich Ihnen aus England ohne Refektorium des Kölner St.Anna-Hauses27 mehr be­ Schwierigkeiten schicken lassen könnte. Hoffentlich seligenden Humor gesogen, als aus meinem ganzen geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen meine wirkliche übrigen Leben, das allerdings im Vergleich zu dem Dankbarkeit, die ich Ihnen gegenüber empfinde, zu ganzen teuflischen Possenspiel des Nazi-Versuches, beweisen. mich dingfest zu machen, immerdar eine vielleicht Seien Sie in aufrichtiger Verehrung sehr herzlich allzuernst aufgefaße Angelegenheit gewesen ist. Die gegrüßt von Ihrem ganze Komödie all jener Versuche mit untauglichen Alexander Maaß Mitteln am untauglichen Subjekt wurde für mich erst [p.s. hs.) in ihrer Umkehrung bedenklich und gefährlich, als Woyzeck wird am 3.XII-45 wiederholt. Es wäre fein, 1938 der Befehl erfolgte: »mich in ein meiner Persön• wenn Sie es hören könnten. Besonders dankbar wäre lichkeit entsprechendes Amt wieder einzusetzen«2B, ich Ihnen, wenn Sie mir dann Ihr Urteil schreiben und etwas später die Aufforderung hinzutrat, im würden. Kurzwellenrundfunk für das Ausland am Vormittag und am Nachmittag eines jeden Sonntags zwei Zwanzig-Minuten-Sendungen für je RM. 500.- zu ver­ anstalten, vormittags orgel- nachmittags musikum­ rahmt- also verschämte Religiosität und unver­ schämte Kultur. Sowohl in diese Amts- wie in die Sendeverlockung nicht gewilligt zu haben, und den- Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 33 noch mit dem Leben davongekommen zu sein, war Gehly[?] in Köln, Probst35 durch eine Granate in Ri­ ein sehr schwieriges Kunststück, dessen Vollbrin­ ga, er hat mich noch als Marineleutnant (Propagan­ gung selbst ein Feind von mir um so eher bravourös dakompagnie) in Berlin besucht[e] und schickte mir und honorabel nennen dürfte, als ich ja Existenzsor­ einen großen Litauer Käse. Der Dummkopf Haslin­ gen hatte, denn für alle Bühnen blieb ich auf der de36 soll irgendwo im besetzten Osten sogar Inten­ schwarzen Liste stehen. So sind denn auch 1935 ei­ dant gewesen sein. Sistig,37 der mich hier oft besu­ ne Aufführung des Tantris am Wiener Burgtheater chen konnte, wird am 1. Januar 1946 Dramaturg am und 1944 am Prager Nationaltheater auf tschechisch Stadttheater in München. Er ist natürlich äußerlich in den 12 Jahren die beiden einzigen Aufführungen und innerlich ebenso wie Ernst aufrecht geblieben, im eines meiner Dramen gewesen. Sofort nach meiner Augenblick ist er bei seiner Mutter in Orsoy und hilft Verhaftung brachte mir der Auslandsrundfunk da­ ihr, ihren alten völlig zerstörten Gasthof wieder auf­ durch eine kleine Ovation, daß Prag und Zürich mei­ zubauen. Ich hatte heute einen langen Brief von ihm ne Ninon von Lenclos sandten. Zuguterletzt hatte ich über meinen König Salomo, wir bereden gerade ge­ im Naziturn eine Pechsträhne, indem ein großes und meinsam, ob er nicht heute das gegebene Stück sein kleines Buch mit Erzählungen,29 die gerade erschei­ könnte, sein letzter Akt hat in dieser Beziehung etwas nen sollten, das kleinere war sogar fertig gedruckt, unhernlieh Zeitnahes. Schäferdiek,38 der zuguterletzt vermaledeiterweise den Schlußbomben zum opfer noch Munitionsfahrer werden mußte, und sieben Mo­ fielen. Gleicherweise zwei große Übersetzungen : nate in amerikanischer Gefangenschaft verbrachte, Der Bel-ami von Maupassant und einer seiner No­ sitzt jetzt bei Frau und vielen Kindern in Siegen und vellenbände. 30 zwar brotlos. Er war zuletzt in seiner Gesinnung ein Ich bin im August 1943, acht Tage vor der Zerstö• wenig haltlos geworden, im tieferen Grunde aber an­ rung meiner Berliner Wohnung durch Bomben und ständig geblieben. Rockenbach ist besser aus dem Brand, hierher gekommen und danke diesem Um­ Gedächtnis zu streichen. Und denken sie: Kandner!39 stande, vor allem wohl im Hinblick auf den bevorste­ Als ich nach meiner Entlassung aus dem Klingel­ henden Winter, ernährungs- und wärmemäßig das pütz von meiner Krankenstube aus einen Spazier­ Fortleben. Mein Gewicht ist während des Nazismus gang in den menschenleeren Kölner Anlagen machte, von 145 Pfund auf 89 Pfund herabgekommen, an de­ und er mich aus der Ferne herankommen sah, drehte nen es nun eigensinnig festhält Sie werden diese er sich ab und suchte nach einem scheinbar verlore­ Entfettung an dem beiliegenden Iehenhauser Bilde nen Gegenstand eifrig im Grase, ich erlöste den Bra­ erkennen können. Der verwunderliche Spitzbart ist ven, indem ich einen von ihm fortführenden Neben­ inzwischen wieder verschwunden. Er war als ein weg in seinem Rücken einschlug. Aber er war ja dauernder, aber wunderbarer politischer Protest ge­ schon in unserem Rundfunk »Charakterspieler« ge­ gen den Nazismus von mir beschlossen worden, ich wesen. Rieth40 ist (aufrecht geblieben) bei den Ame­ fand dann jedoch mein natürliches Gesicht aus einem rikanern in der Bad Neuheimer Rundfunkzentrale. A­ anderen Grunde als dem Zusammenbruch des Na­ denauer41 war eine Weile lang wieder Kölner Ober­ zismus wieder, indem ich mich - nach meiner Schei­ bürgermeister, ich hatte einen müden, traurigen Brief dung im Jahre 194031- im Jahre 1944 wieder verhei­ von ihm.42 Bredow43 wurde in Wiesbaden zum Ober­ ratete.32 Meine jugendlich tatkräftige Frau schreibt regierungspräsidenten44 ernannt, erkrankte, mußte nach meinem Diktat diesen Brief umso lieber an Sie, sich zweimal operieren lassen, trat zurück, ist, wie er als ich ihr oft und viel von Ihnen erzählt hatte, so daß schreibt, wieder wohlauf und versucht im Augenblick, sie an Ihrem Brief fast die gleiche Freude hatte wie mich den Amerikanern zum mindensten als Rund­ ich, und sich nun allerdings besonders ärgert, Ihnen funkberater mundgerecht zu machen und zuzuspie­ auf Mallorca nicht begegnet zu sein, wo sie mit Ihnen len. Steins Sekretärin, die damalige Frau Gunder­ wohl um die genau gleiche Zeit gewesen ist. Auch auf mann, hat hier eine Tante wohnen und ist nach man­ der Flucht, aber aus Liebeskummer. nigfachen Irrfahrten mit ihrem Manne geflohen, aus Der lange Satz hat mich von dem abgebracht, Lastwägen nach Köln und dann wieder hierher zu­ was ich eigentlich habe sagen wollen, nämlich, daß rück, von Sehnsucht nach unserem Rundfunk hin­ dieser zwar lebensrettende Aufenthalt in diesem und von Hunger wieder hergetrieben. Landstädtchen mich nach dem Zusammenbruch in zu Mein Gott, lieber A. Maaß, was ist das für ein lan­ verwünschender Weise von dem Geschehen in ger, unvernünftiger Brief voller Tatsachen geworden, Deutschland abgedrängt hat und am Mitfassen völlig er hat etwas vom Bagger-Forträumen der zwölfjähri• hindert. Da ich mich inzwischen dem siebenten Jahr­ gen Schuttverschüttung an sich. Daß Harnburg nicht zehnt nähere, es bricht für mich im nächsten Jahr an, den falsch gelesenen »Wozzek«, sondern meinen kann ich auf die Möglichkeit des Mitredens, Mitratens richtig gelesenen Woyzeck aufgeführt hat, freute und Mittuns im verwüsteten Deutschland nur mit einer mich unendlich. Und wenn ich jetzt bisweilen an das schwermütigen Zweifelsucht blicken. Für mein Geisti­ angekündigte, unterwegs befindliche Honorar45 den­ ges Temperament, welches nichts von sieben Jahre­ ke, mache ich große, männlichfeste Schritte durchs zehnten spürt, ein recht quälerischer Zustand. Zimmer. Damit Sie gewissermaßen etwas mit mir Unser alter Rundfunk? Ja Stein starb in England verbundenes Lebendiges zu sehen bekommen, habe im Krankenhause. Ich hörte es sofort über den engli­ ich meiner in Harnburg flügge werdenden Enkeltoch­ schen Rundfunk. Worm33 starb in Buenos Aires, im ter aufgetragen, Ihnen einen Gruß von mir zu über• Garten an der Schreibmaschine sitzend schmerzlos bringen. Ob ihre Leidenschaft zur Bühne sachlich, an einem Herzschlag. Anheißer34, trotz allerlei Ver­ d.h. durch Talent unterlegt ist, hatte ich keine Gele­ suchen nicht in Gnaden aufgenommen, in Berlin, genheit zu prüfen oder festzustellen. ( ... ) 34 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

So! Nehmen Sie diesen Brief trotz seiner Länge haben, nachzuforschen. Ein Teil meiner Bücher z.B. doch nur für das, was Staatsmänner ein Pour-Parler befindet sich oder befand sich im russischen Sektor. oder ein Pronunziamento nennen. Zu Einzelheiten, Denken Sie einmal darüber nach, lieber Alexander zur Ruhe und zu einer humoristischen Betrachtung Maaß, ob sich die geplante Fahrt und die geplante der Weit dürfte er immerhin den Weg frei geschaufelt Forschungsaktion meiner Frau durch eine amtliche haben. englische Auftragserteilunmg so unterstützen ließe, Herzlich daß Sie Ihre eigene Autorität gewähren könnte. Die Ihr getreuer Ernst Hardt Schallplattensammlung, die ich erwähnte, meine Wohnung also, liegt im englischen Sektor. Meine Bü• cher, d.h. die von mir geschriebenen und übersetz• lchenhausen, 9.Dezember 1945 ten, abgesehen davon, daß sie nach den unsagbaren Zerstörungen allenthalben an sich zu Seltenheiten Mein lieber Alexander Maaß! geworden sein müssen, sind Vorzugsdrucke auf Ja­ Ich hoffe, daß mein langer Brief glücklich in Ihre Hän• panpapier, und sie alle befinden sich im russischen de gelangt ist. Inzwischen hatte ich auch eine unmit­ Sektor von Berlin in einer Villa im Dachgestühl ver­ telbare Benachrichtigung seitens des Nordwestdeut­ staut. Die Bewohner, bzw. Besitzer des Hauses ha­ schen Rundfunks über den Woyzeck. Am 3. Dezem­ ben es verlassen müssen und die Villa selbst wurde ber habe ich bei ungewöhnlich ungestörtem Empfang als Lebensmittelmagazin beschlagnehmt und ist von die Aufführung46 abhören können, welche zunächst russischen Posten dauernd bewacht. Das Betreten das kleine Denkmal für mich aufbaute, meinen Na­ und Nachforschen in dieser Villa ließe sich natürlich men nach 12 Jahren wiederum über den Aether, der nur mit amtlicher russischer Erlaubnis durchführen, mit ihm ja einigermaßen vertraut war, erklingen zu und diese Erlaubnis würde kaum einer Privatperson, hören. Es ist nun einigermaßen unmöglich, ein Werk wohl aber einem von der englischen Militärregierung das man einmal für die Bühne47 und zweimal für den Ausgewiesenen und Beauftragten russischerseits Rundfunk inszeniert und außerdem selber erforscht gegeben werden. Das sind so Sorgen und Probleme, und festgelegt hat, in einer anderen Inszenierung lieber Alexander Maaß. ( ... ) objektiv zu beurteilen ; denn man stellt ja unwillkürlich Neulich hörte ich übrigens eine Hörspielsendung aus nur fest, wo das Neugehörte von dem Selbstgeform­ Frankfurt (ein Wildgans-Stück[?])51 für die Rudolf ten abwich ... Rieth verantwortlich zeichnete, die ganz von unserer Wenn Sie an die Schallplatten meiner Berliner ln­ Kölner Tradition52 erfüllt und wirklich makellos war. szenierung4B zurückdenken, werden Sie sich an das Auch München alles in allem ausgezeichnet, Stuttgart atemlose Verdrängen in der Aufeinanderfolge der hingegen unter dem Strich. Szenen erinnern, in der das Musikalische nicht wie in Herzliche Grüße einstweilen! dieser Aufführung trennte, sondern im Gegenteil ver­ Ihr Ernst Hardt band und vorwärtstrieb. Diesem Umstande schreibe ich es vor allem zu, daß das ganze dramatische Ge­ schehen nicht aufeinander getürmt, sondern neben­ Hamburg, den 13. Dezember 1945 einander gesetzt wirkte und in den einzelnen Auftrit­ ten das Geschehen für den Hörer nicht jene plasti­ Mein lieber und sehr verehrter Herr Hardt! sche Verständlichkeit besaß, auf der die Wirksamkeit des Dramas als Hörspiel beruht. Vielleicht interessiert Mit unsagbarer Freude erhielt ich Ihren Brief. den Regisseur meine Aussage zu den beiden Auffüh• Mir ging es genauso wie Ihnen, ich konnte die rungen, die ja dadurch im Rundfunk in allen Bespre­ Antwort darauf nicht abwarten und wurde von Tag zu chungen eine gewisse Berühmtheit erlangte, daß Tag ungeduldiger.Was ich bei Ihrem Brief empfand, zum ersten Mal jemand sagte: »Schaltet ab«, anstatt kann ich Ihnen einfach nicht beschreiben. Ich kann des gewohnten »Das müßt Ihr unbedingt hören!« Ihnen auch nicht sagen, wie oft ich ihn gelesen habe, Meine Rückerinnerung legt die Frage nahe: was nur daß ich ihn heute noch immer wieder zur Hand haben die Nazis mit dem Kölner Schallplattenarchiv nehme.Sie sind mir nicht böse darüber, daß ich eine und all meinen darin sorgasam aufgehobenen Insze­ Abschrift Ihres Briefes meiner Frau Margit nach Lon­ nierungen getan? Ich selber besaß sie zwar, aber sie don geschickt habe. Jedenfalls möchte ich das, was sind im Mai 1944 in den Keller meiner Wohnung ver­ Margit darauf geschrieben hat, Ihnen nicht vorent­ staut worden, das Haus ist stehen geblieben, aber ob halten, umso weniger, da sie ganz genau das aus­ spricht, was ich bei Ihrem Brief empfand. sie darin ungestohlen erhalten geblieben sind, weiß ich natürlich nicht. Sie könnten jetzt so reiche Gele­ Vor allem haben Sie meinen besonders herzlichen genheit zu jener oder dieser Erinnerungsendung ge­ Dank für das Foto. Wenn ich das jetzt schreiben wür• ben (ich denke nur an den inzwischen leider gestro­ de, was ich dabei empfunden habe, ich glaube, ich 4 benen Granach 9, der als Mephisto im 2. Teil Faust50 müßte mich schämen. Vor allem, wenn ich dann noch nach seiner eigenen Aussage zur höchsten Wirkung Ihren Brief vor mir habe und sehe, mit welcher Be­ seines herrlichen Schauspielertums gebracht war. herrschung und mit welcher Schönheit der Sprache Aus diesem und manchen anderen Gründen drängt Sie Ihre Empfindungen ausdrücken. Am Ende Ihres es meine Frau unaufhörlich zu dem tollkühnen Unter­ Briefes schreiben Sie »zu Einzelheiten, zur Ruhe und nehmen, nach Berlin zu fahren und dem Verbleib die­ zu einer humoristischen Betrachtung der Weit dürfte ser Platten und mancher anderer Gegenstände, die er immerhin den Weg frei geschaufelt haben«.53 - jetzt eine zehnfache kulturelle Wichtigkeit bekommen Das ist es, da wollen wir anfangen. Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 35

Es gibt so unendlich viel zu erzählen, nicht nur an Bitte, lassen Sie mich wissen, ob Sie da mitar­ komischen und wirklich humorvollen Dingen, die ich beiten wollen. Selbstverständlich kann ich nicht ent­ in den Jahren der Emigration erlebt habe, auch die scheiden, aber ich (hier begehe ich eine Indiskretion) wirklich eigenartigen Zwischenfälle, die dann bestim­ habe einen Bericht über Sie an unsere höchste Stelle mend für meinen Weg waren. nach Buende geschickt und erwarte in den nächsten Lassen Sie mich ganz kurz eine Episode erzäh• Tagen die Antwort. len: Das ist das, was in in Augenblick als meine Mit Margit zusammen also fuhr ich nach Mexiko. Hauptaufgabe ansehe. Wie sollte der Rundfunk bei Es war bekannt, daß das Schiff, die »Serpapinto«, bei dem absoluten Mangel an wirkliche Fachkräften die den Bermudas54 halten würde, um von den Englän• Rolle in Deutschland spielen können, die ihm zu­ dern kontrolliert zu werden. Ich hatte Grauen vor Me­ kommt, wenn nicht ein Mann wie Sie an verantwortli­ xiko. Unter keinen Umständen wollte ich soweit von cher Stelle in der Organisation stehen wird. Es fehlt Europa weg. Ich wollte mit dabei sein und überlegte, jede Persönlichkeit, alles sind fleißige und tüchtige wie kann ich bei den Bermudas aussteigen. Zunächst Arbeiter, aber es ist nicht möglich, wertvolle Men­ also schrieb ich einen Brief an den Gouverneur der schen heranzuziehen, weil einfach der Magnet fehlt. Insel, dann, um noch besser(er) und sicherer gehen Ich weiß nicht, ob Sie aus dem Wust dieser etwas zu können, schrieb ich einen anderen Brief, in dem sehr verdrehten Sätze ganz klug werden, aber sicher ich mich (angeblich natürlich von einem anderen ge­ wissen Sie genau, was ich meine und sehr wichtig ist, schrieben), beschuldigte, ein deutscher Spion zu daß ich sehr bald Ihre Gedanken darüber erfahre. sein, und die englischen Behörden aufforderte, mich Aus den verschiedensten Gründen habe ich es zu verhaften. Jetzt kamen wir an; englisches Militär abgelehnt, aus dem englischen Dienst auszuschei­ kam an Bord. den und die Stellung des Generalintendanten in Ich gab einem Soldaten meinen Brief an den Harnburg anzunehmen. Gründe, die ich Ihnen bei un­ Gouverneur. Ein Offzier kam dazu, schnauzte mich serer hoffentlich zustande kommenden Zusammen­ furchtbar an, daß es verboten sei, Briefe ohne Zensur kunft besser mündlich erklären kann. vom Schiff zu geben. Ich bat ihn, die Adresse zu le­ Dann lieber Ernst Hardt, sollten wir zusammen sen. Daraufhin fragte er mich nach meinem Namen, sitzen, dann ist es bestimmt bei einer Flasche Whisky ich sagte »Maass« und er fragte, mit zwei a und zwei und ich fürchte, daß eine Flasche zuwenig sein wird, s und Alexander? Sie können sich vorstellen, daß mir um Ihr ganzes Erleben in den zwölf Jahren zu erfah­ das einfach den Atem verschlagen hat. Dann sagte ren. Wie sehr ich es bedauere, Ihre Frau auf Mallorca er, Sie werden nacher von uns hören und gab mir nicht getroffen zu haben, werde ich sicher erst ganz den Brief an den Gouverneur zurück. Nach einer richtig erfahren, wenn wir zu dritt die Flasche Whisky Stunde wurde ich gerufen und von einem sehr un­ austrinken. scheinbar aussehenden Mann und einer sehr gut Ihre im Harnburg flügge gewordene Enkeltoch­ aussehenden Frau gefragt, ob ich nach England ter56 habe ich ab 1. Dezember bei uns engagiert und kommen wollte, es läge eine Einladung von der briti­ genauso wie Sie, bin ich mir noch nicht im klaren schen Regierung für mich vor. Meine Antwort brau­ darüber, ob sie eine starke Begabung ist, unbegabt che ich Ihnen nicht zu sagen, denn sonst wäre ich jedenfalls ist sie nicht und sie wird hier Gelegenheit jetzt nicht hier.- Nach dem zum Teil furchtbaren Jah­ haben, zu zeigen, ob eine künstlerische Ent­ ren der Emigration war ich nun Gast der britischen wicklunmg möglich ist. Jedenfalls aber habe ich sie Regierung auf den Bermudas und wurde ungefähr so davon abhalten können, sich an einer Tournee zu behandelt, wie seinerzeit König Aman-UIIah55 bei beteiligen. Sie sollte die »Amalia« in den »Räubern« seiner Reise durch Europa. Es war einfach unbe­ spielen und wäre natürlich durch ein solches Enga­ schreiblich. -Alle diese ganzen Dinge muß ich Ihnen gement von vornherein verdorben worden. Das Gute erzählen und damit komme ich zum wichtigsten Teil zumindest wird dieses Engagement für sie haben, meines Briefes. daß sie von dieser Schmiererei abgekommen ist. Ich hoffe, Ende Januar oder Anfang Februar Sie ln den letzten Tagen schickte ich Ihnen einige in Ihrer verwunschenem Nest besuchen zu können. kleine Paketehen und hoffe, diese doch sehr be­ Sie bedauern, in »verwünschender Weise« nach dem scheidene Serie fortsetzen zu können. Aus den Zei­ Zusammenbruch von dem Geschehen in Deutsch­ len57 meiner Frau können Sie ersehen, daß wirklich land abgedrängt zu werden. Das geht nicht, das ist die Hoffnung besteht, diese Serie nicht abreissen zu unmöglich! Lieber Herr Hardt, bitte fassen Sie es lassen. Wenn ich Mitte Januar aus London zurück• nicht als eine Phrase auf; wir können nicht auf Men­ komme, werde ich mir das große Paket für Sie auf­ schen wie Sie verzichten. heben, bis ich es Ihnen persönlich dort unten über• Was gibt es denn in Deutschland heute für Men­ geben kann. schen. Wer ist denn da, der wirklich mit anfassen Ich habe Angst, diesen Brief zu überlesen, denn kann? Es sind doch nur die Menschen vorhanden, würde ich es tun, so käme ich vielleicht in Versu­ die 1918 mit angepackt haben und heute immer noch chung, ihn nicht abzuschicken. Denn wenn ich Ihren die eigentliche Jugend Deutschlands sind. Brief wieder lese, so habe ich direkt einen Minder­ Der Rundfunk in der britischen Besatzungszone wertigkeitskomplex. wird in absehbarer Zeit in deutsche Hände übergehen Sie wissen aber und das von bin ich überzeugt, mit Intendanten bei den einzelnen Sendestellen Köln, wie ich es meine und mir liegt vor allen Dingen daran, Bremen, Hannover und Berlin und einem Generalin­ Sie mit meinem Gefühl vertraut zu machen. tendanten in Hamburg.- 36 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Nun, lieber Herr Hardt, haben Sie nochmals mei­ etwas unternahm, das besagte Loch in dem Strumpf nen herzlichen Dank für Ihren Brief und meinen be­ damit zuzulöten (.. .) sonderen Dank dafür, daß ich Ihnen so bescheidene Sie merken natürlich, daß ich diesen Brief schreibe, Kleinigkeiten schicken kann. Meine Freude ist, zu während vor uns auf einem kleinen runden Tisch auf­ wissen, daß Sie und Ihre Frau etwas damit anfangen gebaut ruht, was unter den verschiedensten Ausrufen können. des freudigen Erstaunens, ja, einer fast erschreckten Sie und Ihre Frau grOße ich sehr von Herzen und Wiedererinnerung aus Ihren drei Päckchen heraus­ ich bin in alter und aufrichtiger Verehrung geholt worden ist (... ) Ihr Alexander Maaß Ich hoffe, lieber Alexander Maaß, daß sowohl meine [p.s.] negative wie meine positive Schilderung der einge­ - Soeben wurde ich gebeten, Sie rein persönlich zu tretenen Ereignisse Ihnen besser sagt, als unmittel­ fragen, ob Sie bereit wären, hier bei uns in verant­ bare Worte es vermöchten, wie groß die Freude ist, wortlicher Stellung mitzuarbeiten.SS Die Arbeit wird die Sie uns bereitet haben. Ich hoffe, daß morgen bestimmt nicht leicht und einfach sein. Schwieriger o­ der Obermorgen nun auch ein Brief von Ihnen eintrifft, wohl, als damals in Köln, denn zu der Zeit gab es ei­ und den verspreche ich, vernünftig und gesetzt zu gentlich nur Schwierigkeiten mit Behörden, während beantworten. heute noch dazu die verschiedenartigen politischen Heute bekam ich von der amerikanischen Militär• Fragen auftauchen. Bitte, antworten Sie mir doch regierung auch die Nachricht, daß mir eine uneinge­ sofort. Ich habe von mir aus vorgeschlagen, meine schränkte Lizenz erteilt sei, zu drucken, aufführen zu Reise zu ihnen auf einen früheren Termin, vielleicht lassen oder öffentlich im Rundfunk oder sonstwo zu schon in den nächsten Tagen, zu legen, um alles an sagen, wozu es mich immer drängen möchte. Ort und Stelle mit Ihnen besprechen zu können. Be­ Bitte, schreiben Sie mir in Ihrem nächsten Brief, greiflicherweise bin ich furchtbar aufgeregt und warte ob man den verschiedenen Rundfunkstationen ge­ sehr auf Ihre Antwort. genüber ebenso wie zu unserer Zeit verfahren muß, Ihr A. M. oder ob man die gleiche Sendung etwa neben dem amerikanischen auch dem englischen Rundfunk vor­ schlagen und anbieten darf. lchenhausen, 14.12.45 Inzwischen habe ich mit großem Vergnügen die aus­ Mein lieber Alexander Maaß! gezeichnete Sendung des »Weißen Rössr «59 abge­ Ich glaube es hat schon seit dem Altertum her Vor­ hört. Mein Gott, wie vergnüglich und harmlos ist doch schriften gegeben, was der Erwachsene und was das die Zeit gewesen, wie solche unbeschwert heiteren Kind tun müsse, um sich auf eine Freude innerlich und im Grunde belanglosen Dinge zum Ergötzen der würdig vorzubereiten und sich dann auch wirklich zu Menschen erdenken konnte. Zu dem Erfolg eines je­ freuen. Ich halte diese Rezepte nach meiner jüngsten den solchen Schwankes der Blumenthal60 und Ka­ Erfahrung alle für falsch. Ich glaube man kann nur delburg gehörte damals, daß etwas nie dagewesenes empfehlen, zwölf Jahre Hitlerismus und davon sechs auf der Bühne passierte, im weißen Rössr war es Jahre Krieg durchzumachen, um innerlich für das Er­ das plötzliche Herniederprasseln eines Regengusses leben großer Freuden vorbereitet zu sein. - Sie erin­ aus veritablem Wasser. Dieses Jugenderlebnis hat nern sich, daß in südlichen Ländern auf den Straßen mich später immer behaupten lassen, die Versuche Kinder und Erwachsene mit langen Stöcken herum­ Parsevals und Zeppelins, ein Luftschiff zu erfinden, laufen, in deren Spitzen sie Nadeln eingebohrt ha­ seien umständlicher und komplizierter Weg. Es brau­ ben, um die auf den Straßen herumliegenden von che doch ein Schwankautor in seinem Stück nur ein großkotzigen Leuten weggeworfenen Zigaretten­ lenkbares Luftschiff vorkommen zu lassen, und jeder stummel aufzuspießen, zu sammeln und dann zu BOhnenregisseur würde es ohne weiteres erfinden. rauchen. Nun, ich hate mir einen solchen Stock auch Knuth war wiederum ausgezeichnet und in seinem bereits vorbereitet, und nun stellen Sie sich meine drastischen Berlinerturn überraschend. Aber ich fan­ Enttäuschung vor, als ich damit bewaffnet und zum ge an, Ihre Geduld zu ermüden. Schluß also und Äußersten entschlossen auf die lchenhausener Stra­ herzlichen Dank, lieber Maaß! ßen herunterging und trotz angestrengtem Umher­ Ihr schauen auch nicht ein einziger Stummel zu entde­ Ernst Hardt cken war. Also auch damit war es nichts! Oder stellen Sie sich vor, daß man ein großes Loch in einem seiner vorletzten Paar Strümpfe hatte, Hamburg, den 14. Dezember 1945 eine Verkäuferin liebäugelnd zu becircen suchte, und Mein sehr verehrter und lieber Herr Hardt! schließlich etwas in die Hand gedrückt bekam, was sie Stopfgarn nannte, und wenn man dann nach Bitte, seien Sie nicht erstaunt, wenn Sie schon wieder Hause kam und das Tütchen aufpackte, befand sich einen Brief von mir bekommen. Aber die Sache ist etwas darin, was sich schwer definieren läßt. Weder wichtig genug, um sie nicht lange hinauszuschieben. anständiger richtiger Draht, noch anständiger richti­ ln meinen Briefen deutete ich Ihnen schon an, ger Zwirn, sondern ein Mittelding zwischen Pferde­ daß ich hier beim Nordwestdeutschen Rundfunk als haar und Holzfaser. Jedenfalls in keinem Falle dazu englischer Controller arbeite. Mit meinen englischen geeignet, mit seinem Fuß heraufzutreten, falls man Kameraden61 gemeinsam habe ich den ganzen Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 37

Funkbetrieb aufgebaut. Eigentlich ist unsere aktive allervernünftigste, lieber Alexander Maaß, Sie kämen Mitarbeit bei der Programmgestaltung beendet, so mit einem Ihrer englischen Kammeraden zusammen daß wir uns kurz oder lang auf die Kontrolle allein zu­ hierher, um den gesamten Umkreis aller Fragen vor­ rückziehen werden. Der ganze Funkbetrieb, ein­ bereitend zu besprechen? schließlich des bestehenden Nebensenders Köln und Herzlichste Grüße und Weihnachtswünsche! der geplanten anderen Nebensender wird in deutsche Ihr Hände übergehen. Sie wissen selbst, wie wenig qualitative Kräfte in Deutschland vorhanden sind und unter diesem Man­ O.D., o.O. gel an Menschen leiden wir hier beim Rundfunk na­ türlich in erster Linie. Was wir brauchen, sind politisch Lieber Herr Hardt! völlig unbelastete Menschen, die imstande sind, den Meinen letzten ßriet63 nehmen Sie doch bitte außer Programmaufbau, den wir begonnen haben, erfolg­ den rein persönlichen Dingen als nicht für existent. reich fortführen zu können. Ich hatte Ihnen etwas voreilig Dinge geschrieben, die Mit meinem vorgesetzten englischen Kameraden vorläufig noch sehr delikat behandelt werden müs• habe ich über das Problem gesprochen. sen. Wie gesagt, es betrifft nicht das rein Persönli• Da aus Ihrem Briefe eine solche geistige Überle• che. genheit, Frische und und Beweglichkeit spricht, bin Beiliegenden Brief wollen Sie in diesem Sinne so ich davon überzeugt, daß Sie, lieber Herr Hardt, der beantworten, daß ich ihn verwenden kann. Aber las­ Mann sind, der wirklich berufen ist, an entscheiden­ der Stelle hier im Nordwestdeutschen Rundfunk mit­ sen Sie sich nicht irritieren, der Fehler lag bei mir nur in der Voreiligkeit. zuarbeiten. Gleichzeitig aber möchte ich Ihnen auch nicht verhehlen, welche Schwierigkeiten zu überwin• Ihr. A. M. den sind, Schwierigkeiten allerdings, die meines Er­ achtens nicht im Verhältnis zu der Bedeutung der Aufgabe stehen. Dennoch muß ich Ihnen aber sagen, Harnburg 31.Dezember 1945 daß die äußeren Verhältnisse in Harnburg nicht die besten sind. Mein lieber und sehr verehrter Herr Hardt! Die Lebensbedingungen in Harnburg werden nicht zu Sie werden nicht böse sein, wenn mein privater Brief vergleichen sein mit denen dort unten im Schwäbi• heute kurz sein wird. schen . Es ist hier ungleich alles härter. Das alles bitte 1. Wir haben Sylvester, ich Sie zu überlegen. 2. steckt mir die ganze Arbeit der Weihnachtswo­ Würden Sie mir mitteilen, wie Sie über diesen, chen noch in den Knochen und meinen Vorschlag denken? Wollen Sie ihn bitte auch 3. fahre ich morgen in der Frühe auf 2 Tage fort, vertraulich behandeln. komme dann auf einige Stunden nach Harnburg zu­ Wie sehr ich mich freuen würde, mit Ihnen ge­ rück und fahre am gleichen Tage abends auf Urlaub meinsam diese Arbeit fortzusetzen, brauche ich Ihnen nach London.- wohl nicht zu sagen. Haben Sie meinen aufrichtigsten Dank für Ihre beiden Briefe vom 14. und 9.Dezember. Darum nen­ Bitte, grüßen Sie Ihre Frau sehr von mir und seien ne ich den am 14. Geschriebenen zuerst, da ich den Sie auch zuerst bekam. Gerade dieser Brief vom 14. hat besonders herzlich gegrüßt von bei mir eine Heiterkeit ausgelöst, die ich Ihnen kaum Ihrem ergebenen Alexander Maaß. beschreiben kann. Seien Sie nicht böse, wenn ich es sage, aber man muß doch ein Ernst Hardt sein, um etwas schreiben zu können, das ein solches Vergnü• lchenhausen, 22.12.45 gen bei einem Menschen auslöst. Es ist ja fein, daß Mein lieber Alexander Maaß! Ihnen die Päckchen mit den Kleinigkeiten solche Freude gemacht haben. Inzwischen werden Sie hof­ Herzlichen Dank für Ihre Briefe.62 Ich antworte Ihrem fentlich auch die drei weiteren Päckchen erhalten ha­ Wunsch gemäß heute nur schnell auf Ihre unmittelba­ ben. re Frage und zwar sozusagen in einem Satz: Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen meinen Glück• Es besteht in mir große Bereitwilligkeit zu jeder wunsch zu der Erteilung der unein-geschränkten Li­ öffentlichen Tätigkeit, welche den inneren Wiederauf­ zenz, die Sie von der Amerikanischen Militärregie• bau unseres armen Deutschlands fördern könnte, rung64 erhalten haben, auszusprechen. Meine große mein Kopf hat von seinen früheren Fähigkeiten bis Hoffnung dabei ist, daß die Zusammenarbeit mit Ih­ jetzt nichts eingebüßt, meine körperliche Leistungs­ nen und dem Rundfunk doch noch enger wird und vor fähigkeit ist meinem Alter entsprechend dagegen allen Dingen so, wie es Ihrer überragenden Persön• nicht unerschöpflich, wie sie es früher war, und eine lichkeit entspricht. Daß ich mich heute schon wie ein hohe Inanspruchnahme beider würde zu einer Art Kind auf unser Zusammentreffen freue, brauche ich Voraussetzung wohl den zur Verfügung stehenden Ihnen nicht erst zu sagen. Betriebsstoff haben (Fett, Eiweiß, Kohlenhydrate, Der Rundfunk in der britischen Zone ist völlig ge­ Zimmertemperatur). trennt von dem in der amerikanischen. Rechtliche Wäre es nun in anbetracht der Gewichtigkeit der Grundlagen allerdings existieren noch nicht und sind, zu erörternden beiderseitigen Entschlüsse nicht das soweit mir bekannt ist, bis jetzt auch noch gar nicht in 38 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Angriff genommen. Es ist also selbstverständlich, in Urlaub fahre, obwohl er mir schon nach 3-monati­ wenn Sie Ihre Werke dem englischen, dem amerika­ ger Anwesenheit in Harnburg zustand. nischen, wie auch dem russischen Rundfunk in Berlin Ich freue mich auf die Fahrt nach London und freue vorschlagen. mich umso mehr, da ich dann die Möglichkeit habe, Ich danke Ihnen für das Kompliment, daß Sie zu von dort einige Kleinigkeiten mitzubringen, die Ihnen unserer Sendung des »Weißen Rössel« gemacht ha­ wiederum Freude machen werden. Leider braucht die ben. Denn schließlich ist, wie Sie sich denken kön• Post so furchtbar lange Zeit, sonst wäre es möglich nen, gerade das Hörspiel bei uns mein ureigenstes gewesen, mir über mein hiesiges Büro einen Brief Kind. Mein Stolz, den ich manchmal für dieses Kind nach London zukommen zu lassen, in dem Sie mir empfinde, erleidet auch dann keine Beeinträchtigung, die Wünsche Ihrer Frau , wie auch die Ihrigen mit­ wenn Sie mir einen Tadel aussprechen über die Sen­ teilten. Machen Sie das aber bitte in jedem Fall, daß, dung des »Woyzeck« in Ihrem Brief vom 9.12. - wenn ich zurückkomme, sofort bei meiner Frau das Leider war mir Ihre Sendung nicht mehr so im bestellen kann, was Sie dringend brauchen. Haben Ohr, daß ich hätte in dem Sinne eingreifen können. Sie um Gottes Willen keine Hemmungen dabei. Ich Auf mich hat die Sendung einen großen Eindruck bin glücklich, wenn ich Ihnen einen Gefallen tun gemacht. Es ist sehr schade, daß Sie mich bezüglich kann. Bedenken Sie auch, daß es meiner Frau und Ihrer Kritik einer Schweigepflicht unterworfen haben. mir keine Mühe macht. Sehr gerne hätte ich Ihre Kritik zum Gegenstand ei­ ner positiven Diskussion unter den Beteiligten ge­ Von Paul Korte68 bekam ich einen Brief aus Schopf­ macht. Da nach der ersten Aufführung des »Woy­ heim/Baden. Wie wäre es, wenn man Korte zur Mit­ zeck« eine Reihe von empörten Briefen aus dem Hö• arbeit heranziehen würde. Was denken sie darüber? rerkreis eingegangen war, hatte ich eben den einlei­ tenden Vortrag65 durch Axel Engelbrecht veranlaßt ln diesem Sinne , seien Sie nicht böse, wenn ich die­ Eggebrecht hatte Ihren einleitenden Vortrag66 sen Brief trocken und fast möchte ich sagen, unper­ noch nicht gelesen., aber ich muß ihm bestätigen, sönlich halte. Aber es ist jetzt 18 Uhr und ich habe daß er in der Grundtendenz völlig in Ihrem Sinne ge­ noch eine schreckliche Menge zu tun. sprochen hat. Auch er sagte zum Schluß, daß man Sehr verspätet, aber darum nicht weniger herzlich uns allein lassen möge. - Lieber Ernst Hardt, wir wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau ein wirklich schö• werden bald Gelegenheit haben, uns persönlich aus­ nes und glückliches neues Jahr. Ich habe nur den giebig darüber zu unterhalten. einen Wunsch, daß das in Erfüllung gehen möge, ln irgendeinem Salzbergwerk hat man das ge­ was ich geplant und angeregt habe. samte Schallplattenarchiv des deutschen Rundfunks gefunden. Wir haben bei uns eine neue Abteilung ln aller Herzlichkeit bin ich Ihr Ihnen sehr ergebener gegründet, die mit der weiteren Auftindung und Sor­ Alexander Maaß tierung dieses Archivs beauftragt ist. Hoffentlich kommt etwas Productives dabei heraus. Zu Ihrem Vorschlag, ob Ihrer Frau die Möglichkeit einer Fahrt lehenhausen 31.12.45 nach Berlin gegeben werden kann, kann ich, so leid Mein lieber Alexander Maaß! es mir tut, im Augenblick nichts sagen. Ich denke a­ ber, daß, wenn ich mit Ihnen zusammenkomme, wir Wie Sie anregten, habe ich Ihnen auf Ihre in einem die Möglichkeiten einer solchen Reise erwägen. Mei­ Beiblatt gegebene unmittelbare Anfrage geantwortet ne Meinung ist, daß sie zustande kommen kann . (22.12.). Ich nehme an, daß meine Antwort Ihren Er­ Jetzt im Augenblick hat es sehr wenig Sinn, daß ich wartungen entsprochen hat und daß Sie auch den mich damit befasse, da ich, wie gesagt, am Don­ Sinn meines Reisevorschlages richtig verstanden ha­ nerstag nach London fahre. ben. Man trägt eine Katze vielleicht im Sack zu Margit, meine Frau, ist nicht in Hamburg. Sie ar­ Markte, aber den Käufer läßt man sie doch vorher beitet in London in einer Film Section des Foreign besichtigen, sonst wird man beschuldigt, die Katze im Office67. Sack verkauft zu haben. Und um im Bilde zu bleiben, Haben Sie meinen sehr herzlichen Dank für Ihre liegt gerade mir daran, die Katze aus dem Sack zu Einladung, Weihnachten zu Ihnen zu kommen. Aber lassen, was sich besser oder am besten mündlich tun es wäre für mich, auch wenn ich Ihre Einladung frü• läßt. Über die ganze Angelegenheit habe ich noch her erhalten hätte, unmöglich gewesen, zu kommen . folgendes zu sagen: der alte Mensch ist wie ein frü• Sie wissen selbst, wieviel Arbeit gerade an solchen herer Verschwender, der plötzlich einsehen muß, daß Feiertagen in einem Funkbetrieb ist. Außerdem ist er nur noch sehr zählbare Taler in seiner Geldtasche Ihnen sicher bekannt, welches Arbeitstempo ich ein­ hat, und er fängt plötzlich an, knauserig zu bedenken, schlagen kann, wenn eine Arbeit mich brennend inte­ wofür es sich lohnt, sie auszugeben. Dies ist mein ressiert und diese Arbeit hier interessiert mich eben Fall. Ich habe täglich immer wieder Gelegenheit, doch ungeheuer. Schließlich ist zu einem ziemlich durch die Erzählungen Durchreisender zu erkennen, hohen Prozentsatz der Nordwestdeutsche Rundfunk wie schwer das Leben in anbetracht des Winters mein Kind und ich war lange Zeit der einzige Sach­ durch Heizungs- und Nahrungsmangel und die verständige, der außerdem noch aus der Schule von Wohnverhältnisse geworden ist und daß ich sozusa­ Ernst Hardt kam . Es hat sehr viel Arbeit gegeben. Sie gen der Vorsehung dankbar sein muß, vor allem die­ können es durchaus am besten ermessen, daß ich sem hier bewahrt zu sein. Aber ich bin der Hoffnung, seit dem 22. Juli nur 2 freie Tage hatte und jetzt erst daß sich die Präliminarien unserer Überlegungen und Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 39 der endlichen Entschlüsse bis in das späte Frühjahr werden, sobald Sie zurückgekehrt sind. Auf alle Fälle hinauszuziehen werden. schon heute herzliche Glückwünsche ins Neue Jahr, Inzwischen bekam ich einen Briet69 von Herrn das ja irgendwie eine Wendung für uns alle im be­ Kettler70 in Sachen »Tantris«, »König Salomo« und sonderen und für die Weit im allgemeinen bringen »Ninon«. Ich habe ihm ausführlich geantwortet.71 muß. So, lieber Alexander Maaaß, das wäre sozusagen Ihr das Geschäftliche oder Berufliche, und wir können zu [E.Hardt] einer privaten Unterhaltung übergehen. Ich vermute Sie im Augenblick in London bei Ihrer Frau, bei der ich mich auf das Herzlichste für ihre guten Worte und Hamburg, den 31. Dezember 1945 für ihre Gaben bedanke. Sie werden meinen Brief, Mein sehr verehrter und lieber Herr Hardt! der durch das Eintreffen der ersten beiden Päckchen ausgelöst wurde noch vor Ihrer Abreise erhalten ha­ Eben erhielt ich Ihren Brief vom 22.ds.Mts. und ben. Inzwischen ist noch ein herrliches Seifenpaket möchte Ihnen meinen besonderen Dank aussprechen und dann noch eines angekommen. Alle zusammen für Ihre Bereitwilligkeit, bei uns mitzuarbeiten. genommen haben Sie mir und meiner Frau sozusa­ ln der zweiten Hälfte des Monats Januar werde gen königliche Festtage in einem Schlaraffenlande ich mit meinem Chef zu Ihnen herunter kommen, um bereitet. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche schwer alle notwendigen Dinge mit Ihnen zu besprechen. zu schildernde Erquickung der Kaffe, der Tee und die Zigaretten und der Tabak für mich gewesen sind, a­ Mit sehr herzlichen Grüßen bin ich Ihr Ihnen ber ich will Sie darüber mit neuen Schilderungen nicht ergebener langweilen. Alexander Maaß Es scheint mir nun vor allem geboten zu sein, daß Sie an der Absicht festhalten, die Überquerung Hamburg, den 4. Januar 1945 Deutschlands hinüber in meinem Winkel in bälde Alexander Maass auszuführen. Es gilt ja nicht nur, einen vergnüglichen und behaglichen Austausch aller Erlebnisse in den Sehr verehrter und lieber Herr Hardt! verflossenen 12 Jahren vorzunehmen, sondern auch Kurz vor meiner Abreise nach England, die sich um mit einiger Ernsthaftigkeit das allgemeine Problem einen Tag verzögert hat, möchte ich Ihnen noch mit­ Deutschland zu besprechen, auch im Hinblick auf teilen, daß ich meinen Aufenthalt in England nicht so persönliche Entschlüsse. lange wie vorgesehen nehmen werde. Voraussicht­ Ich lege Ihnen die Abschrift eines Briefes4 bei, lich werde ich am Sonnabend nächster Woche zurück den ich zur Ergänzung meines Fragebogens an den sein und dann, falls nichts Unvorhergesehenes da­ Stuttgarter amerikanischen Referenten geschrieben zwischen kommt, Sie wenige Tage später mit 2 ande­ hatte und der Ihnen selbst eine gewisse Übersicht ren Herren aufsuchen. über Wissenswerte gibt. Daß ich inzwischen Veröf• Wollen Sie also bitte unseren Besuch in etwa 10- fentlichungs- und Druckerlaubnis bekam, schrieb ich 14 Tagen erwarten; wie gesagt, falls nichts Unvorge­ wohl schon. sehenes dazwischen kommt. Ich kann mich nicht entsinnen, ob Sie bei meinem ln dieser Unterredung werden wir Zeit und Gele­ großen Krach mit dem antisemitischen Dr. Krumma­ genheit haben, alles Notwendige zu besprechen. Ich cher73 noch in Köln waren. Nachdem die Nazis ihn betone noch einmal, wie sehr ich mich darauf freue zum Landrat befördert hatten (er war Leutnant im und wie sehr ich hoffe, daß diese Unterredung das Weltkrieg gewesen) erschoß er sich. Ich habe das Ergebnis haben wird, das ich mir wünsche. immer als eine Strafe genommen, weil er durch Ver­ öffentlichung des ebenfalls beiliegenden Briefes wirk­ Mit den herzlichsten Grüßen, auch an lich widerwärtige Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Ihre Frau, bin ich Ihr Ihnen sehr ergebener Er wird Sie ergötzen, gar, wenn ich Ihnen sage, daß Alexander Maaß eine furchtsame Hand ihn unter eine Dachpfanne unter eigener Lebensgefahr versteckte - das Dach war steil und glitschig - während die Kriminalpolizei lchenhausen, 9.1.46 das Haus und meinen Schreibtisch durchsuchte, weil Mein lieber Alexander Maass! sie nicht wußte oder sich nicht erinnerte, daß der Brief lange in der Presse gestanden und zudem in Heute traf Ihr Brief ein, der Ihren Besuch ankündigt. einer zweiten Kopie im Rundfunk vorhanden war. Al­ Meine inzwischen geschriebenen Briefe werden Sie les das sind Erinnerungen, die man aufschreiben o­ entweder noch vor Ihrer Abreise bekommen oder der zumindesten erzählen sollte. vorfinden, wenn Sie aus London nach hoffentlich glücklich verbrachten Tagen an die Arbeit zurückkeh• Für Ihre Arbeit mache ich Ihnen vielleicht eine ren . Auch ich schreibe heute nur kurz und schnell, Freude, wenn ich sage, daß das Programm und die damit Sie, wenn Sie wieder in Harnburg sind, über Sendungen in Harnburg in ihrer Güte neben den an­ zwei Punkte meine Meinung erfahren haben. deren deutschen Sendern sehr auffallen. 1) Ich bin ganz erstaunt, daß sich die Nazis es Ich glaube, daß ich jetzt alle mittelbaren und unmit­ haben angelegen sein lassen, ihr Schallplattenarchiv, telbaren Fragen beantwortet oder mindenstens ge­ daß ihnen von uns überkommen war, gewissermaßen streift habe und auch von der meinen eine vergnügli• einzupökeln. Es ist ja dann möglich, daß manches che Zeit. Ich bin sicher, daß Sie mir sofort schreiben 40 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Wertvolle unversehrt erhalten geblieben und trotz der Fragen, die mich seit gestern abend unaufhörlich be­ fortgeschrittenen Technik noch genutzt werden kann. schäftigen. Ich bitte Sie, mir diese sofort zu beant­ 2) Paul Korte: ehe er bei uns eingeschoben wur­ worten, ganz unbeschadet des schließliehen Aus­ de, ich brauche absichtlich das Wort »schieben«, war ganges unserer gestrigen Besprechung, was meine er Direktor einer Filiale der Deutschen Bank in Lon­ eigene Person angeht; denn wie auch immer wird Ih­ don gewesen. Also sozusagen ein reiner Buchungs­ nen das Ergebnis meiner Überlegungen und meine kaufmann. Er war ein ganz großer Dummkopf, wel­ etwaige Hilfe zu ihrer Verwirklichung zur Verfügung cher in der Hoffnung, sich dadurch zu verankern, in stehen. der letzten Zeit vor der Machtergreifung in den Ver­ Schreiben Sie mir bitte sofort, welche Persönlich• waltungsbetrieb hinter meinem Rücken lauter Nazi­ keiten für welche Sendestelien zu finden wären. Wie spitzel in den Westdeutschen Rundfunk eingescho­ Sie alle drei sehr richtig erkannt haben, beruht hierin ben hatte, die dann auch im entscheidenden Augen­ die Hauptschwierigkeit der zu schaffenden geistigen blick auf das Unheilvollste und Widerwaltigste gewirkt und gesellschaftlichen Organisation. An Persönlich• haben. Er ist der einzige von allen Rundfunkleuten, keiten besteht ein gewisser Mangel und man kann die in dem großen Rundfunkprozeß vorkamen, der nicht frühzeitig genug anfangen, darüber nachzuden­ sich menschlich unanständig zu benehmen an­ ken, um zu erkennen, ob man unter Umständen zu­ schickte und zwar so sehr, daß Bredow aufstand und nächst in der Getsaltung der Organisation ein Aus­ den kurzen Satz sprach :»Mir liegt daran, zu bekun­ weichen suchen müßte, um nicht grundsätzlich als den, daß nicht etwa ich diesen unfähigen Mann in organisatorisch notwendig erkannte Posten unzu­ den deutschen Rundfunk verpflichtet habe, sondern länglich besetzen zu müssen. Habe ich richtig ver­ das hat ohne mein Wissen Herr Tormin74 getan«. standen, daß für die gesellschaftliche Gesamtord­ Das Endurteil75 im Prozeß hebt hervor, daß Herr P.K. nung der Sendestelien eine zentrale kaufmänische sich als ein vollkommen unfähiger Kaufmann erwie­ Kraft gefunden werden soll? Welche Zweigstellen sen hatte. Er spielte mit Herrn Schröder76 (Werag) sollen einen Intendanten bekommen? Ich meine da­ und mit einem diesem befreundeten Rechtsanwalt mit einen künstlerischen Leiter, der den geistigen ü• mehrmals wöchentlich Skat und schusterte diesem berblick über das Gesamtprogramm seiner Sende­ Rechtsanwalt hinter meinem Rücken und ohne meine stelle hat, und welche Posten an den Sendestelien Unterschrift die unfaßbarsten Honorare zu, was ich stehen sonst noch aus? Ist irgendwo noch Platz für selbst erst, nachdem ich im Prozeß zum Zeugen ge­ einen musikalischen Vorstand? (Konzert, Oper usw. macht war, erfuhr. Er hat im Abwehrkampf gegen den mit Dirigierverpflichtung.) Nazispitzel Theo Toeller77, der ja mein Sekretär war, Ich denke dabei zunächst rein theoretisch an und den der Vorsitzende im Berliner Prozeß als einen Hans Ebert79, der ja als langjähriger Kapellmeister schwachsinnigen Erpresser bezeichnete (woraufhin bei der DurnontBC und als musikalischer Vorstand bei er von Goebbels zum Abteilungsleiter in Frank­ uns in Köln auch nach der journalistisch-komposi­ furt/Main ernannt wurde) die Summe von sage und torischen Seite hin alle Voraussetzungen besitzt und schreibe 20 000 RM. als Anwaltshonorare an jenen alle Erfahrungen gesammelt hat. Rechtsanwalt ohne meine Gegenzeichnung ausbe­ Neben der Angabe der offenen Stellungen bitte ich zahlt. Er trug ein Holzbein und ich hatte mir immer um Angabe der in Hamburg, Bremen, Hannover und vorgenommen, es ihm gelegentlich aus der Bandage Köln bereits fest besetzten Posten und ihrer Aufga­ zu reißen und auf den Kopf zu hauen; denn er hat in ben. Auf Grund dieser Doppelangaben werde ich mir den entscheidenden Monaten durch Dummheit und eine ziemlich genaue Vorstellung von dem bereits Feigheit für die Angestellten unseres Hauses großes erprobt Vorhandenen und dem noch Herbeizufinden­ Unheil herbeigeführt, ohne daß dabei für ihn selber den machen können. Hoffentlich ist dieser Brief nicht etwas herausgekommen wäre. Er hatte sich jetzt wiederum eine Ewigkeit unterwegs, und hoffentlich auch an Bredow gewandt, um wieder in den Rund­ frieren Sie heute nicht allzusehr in Ihrem Wagen. funk zu schlüpfen, wo er bestimmt nicht hingehört. Er hat eine tüchtige Frau, die nach seiner Entlassung Bitte schreiben Sie mir auch, ob ich Ihnen einen aus­ eine Fremdenpension in Dresden aufgemacht hatte. gefüllten Fragebogen zusenden soll, falls der Text mit Ich nehme an, daß sie unter Trümmern begraben dem amerikanischen Fragebogen übereinstimmt. wurde, er aber mit heiler Haut und wenigstens einem heilen Bein davongekommen ist. Sein Kopf und sein Mit meinen besten Grüßen an Sie alle drei Charakter jedoch werden sich unter dem Bombarde­ Ihr ment kaum zum Vorteil verändert haben. Hardt Schönste Grüße und auf Wiederhören! P. S. Die beiliegende Einschreibequittung bitte ich Ihr EH. weiterzugeben.

lchenhausen, den 23. Januar 1946 lchenhausen, 25.1.46 Mein lieber Alexander Maass! Mein lieber Alexander Maass! Ich kapsele alles ab, was sich vom Menschlichen her Seien Sie nicht unwirsch, wenn Sie öfter von mir jetzt über Ihren und Ihrer Kameraden7B Besuch zu sagen Anfragen erhalten, die Ihnen Arbeit machen und die herandrängt und springe sofort ins Sachliche einiger eben nur unter den Ihnen in meinem letzten Brief ge- Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 41 gebenen Gesichtspunkt nicht verfrüht erscheinen. Anmerkungen Mein Gehirn fährt immer noch mit vier Pferden, und es tut ihm nicht gut, wenn ich den Lauf aufhalte. Bitte Vgl. Deutsches Literaturarchiv Marbach/N.: schreiben Sie mir oder lassen Sie mir schreiben, was Nachlaß Ernst Hardt. Vgl. auch: Der Rund­ ich im Nachfolgenden frage: funknachlaß Ernst Hardts im Deutschen Literatur­ Ich möchte mir eine sehr konkrete Vorstellung ü• archiv Marbach/N. ln: RuG Jg. 23 (1997), H. 1, S. ber das kulturelle Hinterland bilden, das um die ein­ 37ff. zelnen Sendestellen des Nordwestdeutschen Rund­ funks gebreitet ist: Universitäten, wissenschaftliche 2 Vgl. Wolf Bierbach: Versuch über Ernst Hardt. ln: und künstlerische Akademien, Schauspielhäuser, O­ Walter Först (Hrsg.): Aus Köln in die Welt. pernhäuser, Konzertorchester, wissenschaftliche In­ Köln/Berlin 1974, S. 363-405; hier S. 395. stitute: a) mit Forschungszwecken, b) mit Lehrzwe­ 3 Vgl. Ebd., S. 403. cken und Sitzstellen für Handel, Landwirtschaft und Industrie. Dies alles gruppiert um die den Instituten 4 lehenhausen bei Günzburg am nächsten liegenden Sendestellen. Dann hätte ich gerne eine Zeittafel für die im 5 Carl Heil, bis 1933 Spielleiter und Regisseur des Laufe befindlichen Sendeprogramme. Schreiben Sie Westdeutschen Rundfunks. mir doch noch einmal kurz, was mit Kraege81 los war. 6 Hardt an den NWDR [nicht ermittelbar). Er war ein Hühnchen, aber fähig und willig. Ist Ihnen noch der Name derjenigen Verstärker• 7 Im Laufe des Runfunkprozesses 1933/1934 ge­ beamten in Erinnerung geblieben, den ich für meine langte Hardt in Untersuchungshaft. eigenen großen Sendungen bevorzugte? Seiner poli­ 8 Walter Stern, bis 1933 Mitarbeiter der Vortrags­ tischen Gesinnung nach Sozialdemokrat. Er war abteilung des Westdeutschen Rundfunks. klein, rund und dick. Und was war mit Knaack (ein entfernter Verwandte Bredows) auch ein Hühnchen, 9 Titel nicht ermittelbar. aber zuverlässig. 10 Jean Giraudoux, französischer Schriftsteller; Gestern nacht überlegte ich mir, welchen Ein­ 1936-1939 Inspekteur der französischen Aus­ druck ich ganz im allgemeinen von dem heutigen ge­ landvetretungen, 1939/40 Leiter des lnformati­ samtdeutschen Sendebetrieb allmählich bekommen onsdienstes. habe. Es herrscht sehr viel Lärm, sehr viel Hast und kaum Vertiefung und Geruhsamkeit. Es liegt, glaube 11 Fritz Lewy, bis 1933 Chefgraphiker des West- ich, zum Teil in dem fortwährenden Eindrehen von deutschen Rundfunks. irgendwelchen Schallplatten, und sei es auch nur für 12 Post-Telegraphen- und Telephon-Verwaltung. eineinhalb Minuten. Das Auffälligste ist vielleicht, daß die Stimmen der 13 Geoffrey Mander, britischer Labour-Politiker. Ansagerinnen etwas von den Stimmen von Laden­ 14 Hans Ulmann, 1926-1933 Mitarbeiter der Literari­ mädchen an sich haben. Es mag daran liegen, daß schen Abteilung, später Dramaturg und Leiter der sie Texte hersagen sollen, deren Inhalt an sich läp• Programmabteilung. pisch und flach ist und den sie durch Getue aufpul­ vern wollen (dieser Eindruck bezieht sich in keiner 15 Hans Stein, bis 1933 Leiter der Vortragsabteilung Weise auf Hamburg). Hätten zwischen Ihrer Ankunft des Wetdeutschen Rundfunks. und Ihrer Abreise 24 Stunden gelegen, so würde ich wahrscheinlich im Hinblick auf die Planung, was mei­ 16 Bernhard Ernst, 1925 Sprecher und Reporter des ne Person angeht, einen überraschenden, aber ver­ Westdeutschen Rundfunks und Reichssenders wunderlich glücklichen Vorschlag gemacht haben. Köln, 1945 Leiter der Abteilung »Aktuelles Wort« Abgesehen von Ihnen selbst ist mir von unserem des NWDR Köln. Zusammensein der Eindruck eines begonnenen Ge­ 17 Rudi Rauher, 1926 Rundfunksprecher beim spräches zurückgeblieben, das ich, wie auch immer, Westdeutschen Rundfunk. noch einmal fortzusetzen die Gelegenheit haben 18 möchte. Es ist seltsam, wie schnell sich oft rein Martin Rockenbach, 1928 Mitarbeiter des West­ menschliche Sympathien einstellen. deutschen Rundfunks, 1930 Leiter der Literari­ Hier ist es jetzt richtig kalt geworden, aber die schen Abteilung, bis 1942 beim Reichssender Sonne scheint. Die Neue Zeitung, die Ihr hoffentlich Köln . zu sehen bekommt, brachte einen Aufsatz über 19 Axel Eggebrecht, Schriftsteller, Literaturkritiker, Hamburg, der mein besonderes Interesse erweckt Publizist, Regieassistent, Rundfunkdramaturg; hat. Über den Hamburger Sender hörte ich Teile aus 1945-1949 Abteilungsleiter beim NWDR Harn­ einer Rede von Grimme82, die meine lebhafte Erinne­ burg. rung an ihn als einen ungewöhnlich sympathischen Menschen von ruhiger Klugheit bestätigte. 20 Heinz Hilpert, 1932-1934 Schauspieler; Direktor der Deutschen Volksbühne Berlin; 1934/35 Inten­ Herzliche Grüße aus unserem Haus in Eure Häuser dant des Deutschen Theaters Berlin; 1938-1944 Ihr EH des Theaters in der Josefstadt Wien; nach dem Krieg 194 7/48Gastregisseur im Schauspielhaus Zürich; anschließend Chefintendant der Deut- 42 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

sehen Bühnen in Frankfurt am Main, Konstanz 43 Hans Bredow, 1919-1921 Ministerialdirektor, und Göttingen. 1921-1926 Staatssekretär im Reichspostministe­ rium, 1926-1933 Rundfunkkomissar. 21 Wilhelm Bazille, deutscher Politiker, 1924-1928 württembergischer Staatspräsident und bis 1933 44 Gemeint ist »Regierungspräsident«. württembergischer Kultusminister. 45 Von Oktober bis Dezember 1945 erhielt Hardt 22 NWDR Hamburg, 3.12.1945. vom NWDR insgesammt 9 536,50 RM. ln dieser Zeit wurde seine Woyzeck-Bearbeitung zweimal 23 Gustav Knuth, deutscher Schauspieler. gesendet. 24 Hilde Krahl, Österreichische Schauspielerin. 46 Georg Büchner, Woyzeck, in der Funk-Fassung 25 Robert Michal, Schauspieler und Regisseur. von Ernst Hardt und mit einem Vortrag von Axel Eggebrecht »Georg Büchner«, NWDR Harnburg 26 Von 10.9. bis 16.9.1933 verbrachte Hardt in Un­ 3.12.1945. tersuchungshaft im Gefängnis Klingelpütz (Köln). 47 Deutsches Nationaltheater Weimar, 1919. 27 Nach Untersuchungshaft in Köln fand zu jener Zeit der körperlich geschwächte Hardt Unterkunft 48 Georg Büchner, Wozzeck, Regie und Einleitung: im Sankt- Anna Hospital in Köln-Lindenthal. Ernst Hardt. 28.1.1930. DRA Frankfurt am Main 60 u 309. 28 Auf Veranlassung Hermann Görings wurde Hardt rehabilitiert, entzog sich aber der Anweisung, sich 49 Alexander Granach, Schauspieler; 1933 Emigrati­ wieder in ein »entsprechendes Amt einsetzen« zu on. lassen. 50 »Faust II«, Regie Ernst Hardt, gesendet am 22. 29 Der Ritt nach Kapp Spartell und Don Hjalmar, März 1932 im Rahmen von den Kölner Klassiker­ beide erschienen in eigener Ausgabe 1946. Inszenierungen am 100. Todestag Goethes; dazu die »Deutsche Zeitung« vom 23.März 1932: »Sieg 30 Der Horla [nicht veröffentlicht]. des Wortes, Sieg der Sprache, Sieg der Stimme - 31 Scheidung von seiner zweiten Frau, Louise höchster Sieg an der Dichtung, die hier in aller Daenner. Klarheit und symbolischer Bedeutung Auferste­ hung feierte«. 32 Heirat mit Tilla Schmalhorst am 21.3.1943. 51 Anten Wildgans, Dramatiker und Direktor des 33 Fritz Warm, Buchhändler, Leiter der Literarischen Burgtheaters; der Titel des Stückes nicht ermittel­ Abteilung der WERAG. bar. 4 3 Dr. Siegfried Anheißer, seit 1927 Operndramaturg 52 Der Inszenierungstil der Kölner Tradition, von und Regisseur bei der WERAG; 1933 fristlos ent­ Hardt geprägt und von seinem Oberspielleiter Ru­ lassen. dolf Rieth fortgeführt, war schlicht und einpräg• 35 Hermann Probst, 1926 Ansager in Dortmund. sam. Er zeichnete sich durch größt mögliche Werktreue, den sparsamen Einsatz von Musik 36 Paul Jobst Haslinde, seit 1926 Programmverant­ und die Hervorhebung des Wortes aus. wortlicher des Senders in Dortmund 53 Hardt an Maaß, 24.11.1945, lchenhausen. 3? Alfred Erich Sistig, 1928 Assistent des Dramatur­ 54 gen Hans Ulmann engagiert; er blieb in ständigem Bermuda-lnseln, seit 1684 englische Kolonie und Kontakt zu Hardt sowohl nach dem Rundfunkpro­ ein stark befestigter Flotten- und Luftstützpunkt zeß als auch während des Krieges. Vgl. Sistig an Großbritaniens und (seit 1940) der Vereinigten Hardt, 1929-1944, Konv. 21 Br., 1 Kte.,1 Tele­ Staaten; seit 1888 Kolonie unter weitgehender gramm. DLA Marbach. Selbstverwaltung. 38 Willi Schäferdiek, Schriftsteller, seit 1928 Drama­ 55 Aman Ullah, König [Emir] von Afganistan. Durch turg der WERAG, ab 1937 beim Reichssender seine Paktpolitik mit England und der Sowjetunion Saarbrücken. erlangte er 1919 die Unabhängigkeit des Landes; 1929 mußte er wegen seinen überstrürzten Neue­ 39 Josef Kandner, seit 1926 Oberspielleiter der rungen abdanken und ins europäische Exil flie­ WERAG; danach des Reichssenders Köln. hen. 40 Rudolf Rieth, Spielleiter der WERAG, 1934 ent­ 56 Niko, Hardts Enkelin. lassen; 1935 Reichssender Frankfurt, 1945 bei Radio Frankfurt. 57 Margit Maaß an Alexander Maaß. 41 Konrad Adenauer, 1917-1933 und 1945 Oberbür• 58 Gemeint ist die Leitung des Funkhauses in Köln germeister von Köln. oder in Hamburg. 42 Adenauer an Hardt, 31.7.1945, Köln [Vgl. Briefe 59 Heitere Rundfunksendung nach dem Vorbild des an Ernst Hardt, hrsg. von J.Meyer. Marbach 1975, berühmten Lustspieles »Im weißen Rössl« von S. 128 Gustav Kadelburg und Oskar Blumenthal. Ernst Hardt und Alexander Maaß im Briefwechsel 43

60 Oskar Blumenthal, Theaterkritiker, Feuilletonre­ 76 Gemeint ist Heinz Schroeter, vor 1933 musikali­ dakteur, 1888 Gründer des Berliner Lessingthea­ scher Mitarbeiter des Westdeutsehn Rundfunks, ters. ab 1949 Leiter der Hauptabteilung Musik beim Hassischen Rundfunk. 61 Mr. Ralph Poston und Richard D'Arcy Marriot, engl. Kontroll-Offiziere beim NWDR. 77 Theo Toeller, 1927-1930 Privatsekräter bei Hardt, wegen der Verleumdnung Hardts am 12.11.1930 62 Maaß an Hardt, 13. und 14.12.1945. entlassen. 63 Maaß an, 14.12.1945 78 Englische Kontrolloffiziere Ralph Poston und 64 Auch Hardt mußte Entnazifizierungsfragebögen Wing-Commander Marriott. der amerikanischen Besatzer ausfüllen und Re­ 79 Hans Ebert, ab 1928 Hauskomponist des West­ chenschaft abelgen über seine Zeit während des deutschen Rundfunks, 1933 fristlos entlassen. Nationalsozialismus. Military Goverment of Ger­ many Fragebogen. Zur Person mit Anlagen, 80 Gemeint ist das Düsseldorfer Schauspielhaus. 27.8.1946. Zug. Mat. 89.97.511. 81 Rudolf Kraege, 1927 Leiter des Senders Langen­ 65 Büchner, Woyzeck (wie Anm. 46). berg, 1930 Betriebsleiter des Westdeutscxhen Rundfunks, 1934-1945 des Reichssenders Harn­ 66 Ernst Hardt: Georg Büchner. Einleitung für die burg. Woyzeck-lnszenierung. ln Hans Kettler an Hardt, 3.12.1945. 82 Adolf Grimme, 1930-1932 preußischer, 1946- 1948 niedersächsischer Kultusminister, 1948- 67 Foreign Office, das britische Außenministerium, 1956 Generaldirektor des Nordwestdeutschen (Secretary of State for Foreign Affairs). Rundfunks. 68 Paul Korte, seit Februar1927 Verwaltunsdirektor der Westdeutschen Rundfunk A.G., Entlassung 1933. 69 Kettler an Hardt, 3.12.1945. 70 Hans Kettler, Rundfunkregisseur, 1945 Leiter der Hörspielabteilung, 1946 der Abteilung Künstleri• sches Wort des NWDR-Hamburg. 71 Hardt an Kettler, 28.12.1945. 72 Ernst Hardt an Stevens, 16.11.1945. 73 Von Gottfried Adolf Krummacher, einem Antisemi­ tisten und Nazi wurde Hardt in der Presse scharf angegriffen, weil er zum »Tag des Buches« 1932 den Juden Kurt Tucholsky zu einem Vortrag ein­ geladen hatte. Hardt erwiderte darauf mit einem Brief an Krummacher, in dem zu lesen war: »Ich würde als Deutscher rein arischen Blutes den­ noch niemals Bedenken tragen, in einem deut­ schen Zeppelin zu fahren, obwohl Graf Zeppelin dem Österreichischen Juden Schwarz zur Erbau­ ung dieses Luftschiffes einen Teil der Konstrukti­ onspläne abgekauft hat. Ich trage auch keine Scheu, dem deutschen Rundfunk zu dienen, ob­ wohl diese Erfindung doch im wesentlichen auf den deutschen Juden Her(t)z zurückgeht. Ich wünsche auch durchaus, an dem letzten großen Ruhm der deutschen Wissenschaft teilzunehmen, obwohl dieser Ruhm dem Genie des deutschen Juden Einstein zu verdanken ist (... ) Ich bin alles in allem der Meinung, daß in Dingen des Geistes und der Seele der Mensch alles und die Rasse nichts bedeutet.« Nach Anlage zum Brief an Maaß, 31.12.1945. 74 Richard Termin, Baurat, 1924-1932 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Westdeutschen Funkstunde bzw. des Westdeutschen Rundfunks. 75 Vgl. Das Urteil im Rundfunkprozeß. ln: Kölnische Zeitung, Morgenblatt, 14.6.1935. Miszellen

Arnold Weiß-Rüthel (1900 - 1949) gebracht, doch der streitbare Humorist kann nicht stumm bleiben. Im Gegenteil, er versucht, Er muss als einer der vielen heute vergessenen die Freiheit des Humors zu verteidigen. Mit Heft Autoren, Publizisten und Rundfunkmacher gel­ 7 vom 6. Februar 1934 Obernimmt Arnold Weiß• ten: der Humorist und Satiriker, Lyriker und Ro­ Rüthel die Schriftleitung der in MOnehen er­ mancier, Hauptschriftleiter und Chefdramaturg scheinenden Zeitschrift >Jugend<. Das einstige Arnold Weiß-ROthel. Wer war dieser Ur-Münch• Forum für den »Jugend-Stil« ist mittlerweile ein ner, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden 16seitiges Unterhaltungsblatt, ein wöchentliches ware und dessen Biographie gepragt ist von Sammelsurium aus Erzählungen, Lyrik, Anek­ dem Versuch, im Dritten Reich die Freiheit des doten, Witzen und Aphorismen. Bildende Künst• Humors zu verteidigen, und der dies mit einer ler werden vorgestellt, Cartoons bilden den Ab­ langen KZ-Haft büßte? schluss. Es ist eine Gratwanderung. Zugestand­ Am 21. Februar 1900 wird Arnold Weiß in nisse müssen gemacht werden. Ausgerechnet MOnehen geboren. Sein Interesse an der Arnold Weiß-ROthel, der Pazifist, muss eine Schauspiel- und Kabarettkunst verschafft ihm »Soldaten-Nummer« verantworten, die reichlich bald Zutritt zu den Boheme-Zirkeln. Aus Arnold martialische Töne anschlagt. Der Schriftleiter Weiß wird das Künstlerpseudonym Arnold Weiß• weiß sich zu rachen. Für befreundete Schrift­ ROthel. Eine Namensänderung, für die eine der steller wie Georg Schwarz und Ernst Hoferichter letzten großen femmes fatales der Schwabinger raumt er Platz ein; der von Weiß-ROthel so ge­ Szene Patin stand. ln Else ROthel (1899-1938) schätzte Maler Benjamin Gordon wird vorge­ verliebten sich junge Literaten und Adepten rei­ stellt. Else ROthel, die inzwischen emigrierte, henweise, beispielsweise auch Hans Sahl, der kann kleine Texte in der >Jugend< publizieren. Else Rüthel in seinen Memoiren verewigte.1 Sehr viele der Cartoons sind anti-militaristisch; Die frOhen 20er Jahren führen den jungen sie geißeln zum einen das Wettrosten der euro­ Eleven ohne Schauspielausbildung zu ersten päischen Nachbarn Frankreich und Großbritan• Engagements an verschiedene bayerische Pro­ nien - womit sie der nationalsozialistischen Pro­ vinzbOhnen. Bedrückt von den materiellen All­ paganda dienen -, sie verspotten aber ebenso tagssergen zieht Weiß-ROthel 1925 in die Lan­ den Kasernenton und das Großmachtgehabe in deshauptstadt zurück. Er beginnt zu schreiben. Deutschland. Dieser Kurs von Arnold Weiß• Erste Couplets und satirische Texte erscheinen ROthel, die >Jugend< redaktionell zwischen An­ in dem in Berlin herausgegebenen Monats-Ma­ passung und Freiraum zu manövrieren, ist au­ gazin >Uhu<, es folgen humoristische Glossen im ßerst gewagt. Münchner >Simplicissimus< und wenig später Die Nationalsozialisten verstehen in puncto gehört Weiß-ROthel zu den Stammautoren der Humor keinen Spaß. Verschiedene Nazi-Blatter renommierten >WeltbOhne<. ln seinen Beiträgen wie >Die Bewegung<, die Zeitschrift des Natio­ geht Weiß-ROthel pointiert gegen das Spießbür• nalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, gertum und den Untertanengeist in der Weima­ das >Schwarze Korps<, die Zeitschrift der SS, rer Republik vor. Dem erstarkenden Nationalis­ und der >Völkische Beobachter< schießen sich mus wird unmissverständlich eine Absage erteilt. auf die >Jugend< ein. Zielscheibe des Münchner Weiß-Rothel ist ein überzeugter Pazifist. Nichts Pressestreits ist die Person Arnold Weiß• spornt ihn mehr an, seine Feder zu spitzen, als Rüthels. Das letzte Heft, für das er offiziell noch Militarismus und die schon wieder einsetzende verantwortlich zeichnet, erscheint im November Kriegsverherrlichung. 1936. Es folgen Monate der intensiven Bespit­ 1929 kündigt sich Weiß-ROthel, der in den zelung und provozierende Schikanen. Als die Schwabinger Kleinkunstzirkeln zu Hause ist, so­ Geheime Staatspolizei nach mehreren Haus­ gar der literarische Erfolg als Prosaautor an. durchsuchungen Ende 1939 endlich fündig wird Hermann Kesten nimmt Weiß-ROthel in seine und Tagebücher und Manuskripte beschlag­ Anthologie >24 neue deutsche Erzähler< auf, ei­ nahmt, ergeht am 5. März 1940 ein Schutzhaft­ ne Sammlung, die »Frühwerke der neuen Sach­ befehl. Es folgen fünf Jahre Haft im Konzentrati­ lichkeit« präsentieren will. Doch die anti-militari­ onslager Sachsenhausen in Oranienburg bei stische Erzählung vom >Musketier Reue< bleibt Berlin. Ein Leben auf Abruf, taglieh in der Ge­ ein isolierter Erfolg.2 fahr, vernichtet zu werden. Ein Leben - »in der 1933 andern sich mit der Machtergreifung die Nachbarschaft des Todes« -wie der Häftling Nr. Möglichkeiten für politische Satire grundlegend. 18 710 Arnold Weiß-ROthel schreibt: »Ich wohne Für Arnold Weiß-ROthel ware Zurückhaltung an- I in der Nachbarschaft des Todes, I ich höre ihn I allnachtlieh dumpf rumoren, I ich sehe ihn I am Miszellen 45

Abend als ein rotes I und wildes Flammenspiel Spielprogramm vornimmt. Sein Interesse gilt a­ im Essenrauch. I Dann wissen wir, I daß hinter ber ebenso der Unterhaltung und dem bayeri­ jenen Toren I die Teufelspriester ihre Hymnen schen Humor. Zusammen mit Fritz Benscher singen, I dem Horngekrönten I ihre Opfer brin­ bildet Weiß-Rüthel eine Fraktion im Münchner gen, I dem braunen Götzen mit dem Trommel­ Funkhaus, die sich deutlich von dem Kreis um bauch. I Der Minotaurus I wälzt sich durch die den konservativen Chefredakteur Felix Butter­ Gänge I des Labyrinths I und bläst ins Opferfeu­ sack abgrenzt, die aber auch in einer gewissen er, I das seiner Taten Spur vertilgen muß. I Ich Spannung zum bürgerlich-liberalen Sendeleiter aber höre seine Festgesänge, I ich sehe sche­ Rudolf von Scholtz steht. menhaft das Ungeheuer- I und alle fünf Sekun­ Am 26. Juni 1949 stirbt Arnold Weiß-Rüthel. den I fällt ein Schuß.«3 Sein Gesundheitszustand hatte es ihm schon Es war ein hoher Preis, mit dem Weiß-Rüthel einige Monate zuvor nicht mehr ermöglicht, im seine aufrechte, geradlinige Haltung bezahlte: Rundfunk zu arbeiten. Nach seinem Tod werden »Was waren alle Schrecken der Front( ... ) gegen die künstlerisch-literarischen Abteilungen des diese Mördergrube, in der ich fünf Jahre gelebt Münchner Senders, der inzwischen als öffent• hatte. Gelebt! Ich muß sagen: gelebt, denn wir lich-rechtliche Rundfunkanstalt lizenziert worden haben das Wort nicht, das diesen Zustand des ist, neu geordnet. Die Mammut-Abteilung Chef­ Seins so benennt, daß jeden, der es nur hört, dramaturgie, unter deren Dach sich Hörspiel, das Grauen kalt überläuft. Und gerade darum Literatur und Unterhaltung sowie Dramaturgie müßten wir es haben, dieses Wort.«4 und Produktion vereint hatten, wird aufgelöst. Nach seiner Befreiung aus der KZ-Haft folgen Zwei eigenständige Bereiche Literarische Abtei­ in den Nachkriegszeit kurze, arbeitsintensive lung/Hörspielabteilung sowie Unterhaltungsab­ Stationen, die überschattet sind von Krankheit teilung mit Kabarett und bayerischen Sendungen und der zerrütteten physischen Konstitution: En­ entstehen; Friedrich-Carl Kobbe und Ralf Didc­ de 1945 fungiert Weiß-Rüthel als erster öffentli• zuhn, seit Herbst 1948 bereits Stellvertreter von cher Kläger bei der Spruchkammer in Wasser­ Arnold Weiß-Rüthel, werden die neuen Abtei­ burg am lnn. Er arbeitet unermüdlich. Viele pub­ lungschefs. Der Münchner Sender aber hat eine lizistische Beiträge und literarische Arbeiten ent­ seiner prägendsten Persönlichkeiten in der un­ stehen. Er schreibt für die in München redigierte mittelbaren Nachkriegszeit verloren, die Spuren >Neue Zeitung<. Ein größerer pazifistischer Es­ des so früh Verstorbenen verwischen sich. say - überschrieben: »Der verratene Soldat« - Hans-Uirich Wagner, Wiesbaden wird im Richard Pflaum-Verlag veröffentlicht. >Die Herzensuhr<, ein Sammelband mit Gedich­ 1 Vgl. Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Erin­ ten, erscheint; ein Bericht über die KZ-Haft wird nerungen I. Harnburg-Zürich 1990, S. 48ft. in verschiedenen Ausgaben unter dem Titel 2 ln: Hermann Kesten (Hrsg.): 24 neue deutsche >Nacht und Nebel. Aufzeichnungen aus fünf Jah­ Erzähler. Frühwerke der Neuen Sachlichkeit. ren Schutzhaft< verlegt. [1929]. München: Kurt Desch 1973, S. 223-260. Und es folgt die kurze Periode als Rund­ 3 Die Herzensuhr. Gedichte. Bad Wörishofen 1947, funkmacher: Radio München entscheidet sich S. 47. mit der Berufung von Arnold Weiß-Rüthel als Chefdramaturg zwar für einen ehemaligen KZ­ 4 Nacht und Nebel. Aufzeichnungen aus fünf Jah­ Insassen, doch gleichzeitig für einen Ur­ ren Schutzhaft. München 1946. Münchner - ein Umstand, der damals eine be­ sondere Rolle spielte, da Radio München in der Kritik stand, »fremdbestimmt« zu sein von »lin­ »Die Gegenwart zwingt zur Besinnung!« ken« und »auswärtigen« Mitarbeitern. Georg Die Thematisierung von Kriegsschuld in Kannewischer, Musikredakteur am Sender, hatte Kommentaren und Betrachtungen des den deutschstämmigen amerikanischen Kon­ DDR-Rundfunks der 50er Jahre trolloffizier Klaus Brill auf Weiß-Rüthel aufmerk­ sam gemacht. Kommentare und Betrachtungen als Programm­ Im Juli 1947 beginnt der neue Chefdramaturg gattungen mit vor allem meinungsbeeinflussen­ seine Arbeit bei Radio München. Weiß-Rüthel dem Wirkungspotential waren seit den Grün• fördert nachdrücklich die literarischen Sendun­ dungstagen wesentlicher Bestandteil, ja Mar­ gen und das Hörspiel. Er widmet sich explizit kenzeichen des DDR-Rundfunkprogramms. Sie politischen Programminhalten, wenn er bei­ sind authentische Zeitzeugnisse für die staatli­ spielsweise Sendungen wie »Gedenkstunden für che Sicht auf Politik und Gesellschaft und waren die Opfer des Faschismus« arrangiert und eine Teil jener propagandistischen DDR-Offensive, Bearbeitung des Hamburger Heimkehrerstückes mit der der Wettbewerb mit der Bundesrepublik »Draußen vor der Tür« für das Münchner Hör- Deutschland im deutsch-deutschen Ätherkrieg 46 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

geführt wurde. Ein wesentlicher Teil dieser Aus­ und Missbrauchte. Die individuelle Schuld ist in einandersetzung war der Umgang mit der ge­ dem Konstrukt von der »geschichtlichen meinsamen nationalsozialistischen Vergangen­ Schuld«, die einer gewissen Kollektivverant­ heit, womit öffentliche Legitimierung des »antifa­ wortung gleichkommt, aufgehoben, woraus sich schistischen Staates DDR« und seine internati­ die Folgerung »Niemals wieder politische Orien­ onale Akzeptanz intendiert wurden.1 tierungslosigkeit!« ergibt. ln der zweiten Halfte der 50er Jahre hatte Ausgeblendet bei dieser Behandlung der sich die seit der DDR-Gründung staatlich vorge­ Schuldfrage blieben die sich nicht nur in politi­ gebene permanente Thematisierung der natio­ scher Orientierungslosigkeit erschöpfenden ehe­ nalsozialistischen Verbrechen und der - vorwie­ maligen Handlungsmotivationen der Menschen, gend kommunistischen - Widerstandstradition in die den Nationalsozialismus unterstützt oder den Medien weitestgehend etabliert.2 Im Kontext sich für den Krieg begeistert hatten. Ihre Stel­ mit anderen Angeboten, wie Bildung oder Kultur, lungnahme zum eigenen ehemaligen Verhalten, kann man dabei von einem Informations-Über• ihre persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen angebot sprechen, das an ein Publikum gerichtet blieben ihnen somit mehr oder weniger selbst war, das den Nationalsozialismus mehr oder überlassen, wenn auch subtil an ihr »untergrün• weniger direkt gestützt hatte und den Wider­ dig schlechtes Gewissen« appelliert wurde.5 stand mehrheitlich nicht aus eigenem Erleben Man forderte von den Menschen distanzierende kannte.3 Mit dieser als »Waffe gegen die eige­ Er- und Bekenntnisse über die »eigentlichen nen Erinnerungen der Menschen« (Wieland Schuldigen« und noch mehr die Bereitschaft ein, Herzfelde) eingesetzten Aufarbeitungsstrategie sich in die neuen Verhaltnisse und Bedingungen einher ging die standige, abstrakte Mahnung, als Sühne der Schuld einzuordnen. Dabei stand sich von den nationalsozialistischen Verbrechen für die offizielle Erinnerungspolitik weitestgehend zu distanzieren - ein breit angelegter Versuch, fest, dass im Westen Deutschlands offizielles, das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung neu­ öffentliches und individuelles Verschweigen vor­ und umzustrukturieren. herrscht. Die gemeinsame nationalsozialistische Die Kriegsschuldfrage wurde - neben einer Vergangenheit als ein zentrales Feld der abstrakt konstatierten »Mitschuld der Deut­ deutsch-deutschen Auseinandersetzung im schen« - vor allem mit deren »weit verbreiteten Kalten Krieg wurde in diesen Jahren im DDR­ Hilflosigkeit in politischen Fragen« beantwortet, Rundfunk durch Prasentation der bereits einge­ die es ihnen nicht ermöglicht habe, Konsequen­ schliffenen Feindbilder von der nicht bewältigten zen zu ziehen. Insofern hätten sowohl die Sol­ Vergangenheit im und der erneuten Weltkriegs­ daten als auch die Zivilisten, die sich dem Natio­ gefahr aus dem Westen behandelt. nalsozialismus unterwarfen, eine »geschichtliche »ln der DDR hat man sich mit der Frage der ge­ Schuld«, die es anzuerkennen gelte: schichtlichen Schuld klar und mutig auseinanderge­ »Schuld fordert Sühne, das ist eine der ältesten Er­ setzt Man hat erklärt, was geschehen ist, kann nicht kenntnisse der Menschheit. (... ) Das deutsche Volk ungeschehen gemacht werden, aber es darf niemals hat als ganzes sicherlich keine Schuld an den zwei wieder geschehen! Und daraus hat man die politi­ Weltkriegen. Es wurde in sie hineingezwungen von schen und wirtschaftlichen Konsequenzen gezogen. einer verhältnismäßig kleinen Schicht. Das deutsche Aber diese Aufgabe ist erst halb vollbracht. ln West­ Volk als ganzes hat auch keine Schuld an den fürch• deutschland redet man zwar viel von der >unbewäl• terlichen Greuel der SS und Gestapo in den ver­ tigten Vergangenheit<. Das ist ein schönes Schlag­ schiedenen Ländern Europas. (.. .) Das deutsche Volk wort für Kongresse und Tagungen. Aber die führen• ist keine Verbrechernation. Aber trotzdem besteht den Schichten dachten und denken gar nicht daran, eine Schuld geschichtlicher Natur. Deutsche unter­ diese Vergangenheit zu >bewältigen<, sondern je warfen sich dem Gangsterregime und von diesem mehr prominente und unbelehrbare Faschisten in verbrecherischen System ging der zweite Weltkrieg Schlüsselstellungen kamen, desto mehr suchte man aus. Unsere geschichtliche Schuld liegt darin, daß wir umgekehrt diese Vergangenheit wiederherzustellen längst nicht alle rechtzeitig auf die Warnungen von und die Schuldfrage einfach beiseite zu schieben. vor 1933 geachtet haben, daß viele Millionen weg­ Statt die Wurzeln des Nazismus auszurotten, insze­ hörten, wenn Ernst Thälmann sagte: >Hitler - das ist nierte man eine Hetze gerade gegen die schärfsten der Krieg!< Für diese historische Schuld mußten wir und unversöhnlichsten Bekämpfer des Faschismus: durch die Katastrophe von Krieg und Niederlage süh• gegen die Kommunisten, gegen alle Antifaschisten, nen. Und diese Sühne war gewiß schwer.«4 gegen die DDR, gegen die Volksdemokratien und vor allem gegen die Sowjetunion. ( ... ) Solange man Diese Argumentation folgt den in diesen Jahren Kriegsverbrecher ihren Richtern entzieht, ihre Be­ in der DDR gangigen Erklärungsmustern zur strafung verhindert, solange bleibt auch die ge­ Kollektivschuld-These: Dem nationalsozialisti­ schichtliche Schuld, die auf Deutschland ruht, in der schen Staat und seinen Exponenten wird die Bundesrepublik ungesühnt!«6 Kriegsschuld zugeordnet, die Bevölkerung - Soldaten und Zivilisten - erscheinen als Opfer Miszellen 47

Im staatlichen DDR-Verständnis wurde das Ab­ wieder eine Brutstätte gefunden, von denen sie im tragen von Kriegsschuld gleichgesetzt mit den Hitlerstaat ihre Honorare kassierten!« 10 erheblichen politischen und wirtschaftlichen Um­ Das Erregen von Mitleid für die Täter, u.a. bei wälzungen, die seit Kriegsende im Osten der Darstellung von Zwangslagen, in die Wehr­ Deutschlands vollzogen worden waren: Die machtsaffiziere geraten seien, oder Missbrauch strikte Umsetzung der Beschlüsse des Potsda­ der Heimatgefühle von Vertriebenen, 11 nicht je­ mer Abkommens von 1945, die Enteignung von doch Abscheu vor den Verbrechen, Anteilnahme Kriegsverbrechern und die Verstaatlichung der an den Leiden der okkupierten Völker und Aner­ Schlüsselindustrien sowie die Entfernung von kennung der im Gefolge des Krieges entstande­ Naziaktivisten aus entscheidenden Positionen in nen Grenzen sei die Wirkungsabsicht dieser Gesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft. »geheimen Verführer«, was den fortschreitenden Unnachgiebig machte man dagegen ver­ Prozess der Refaschisierung in der Bundesre­ meintliche und tatsächliche Defizite öffentlich, publik belege. die sich nach diesem Verständnis im Westen Der Schriftsteller müsse aber das Gewissen Deutschlands auf diesem Gebiet offenbarten. der Nation sein. Angesichts der deutschlandpoli­ Besonders im >Deutschlandsender<, der mit sei­ tischen Entwicklung Ende der 50er Jahre, der nem gesamtdeutschen Wirkungsanspruch vor Berlin-Krise, des von den Westmächten abge­ allem westdeutsche Hörer ansprechen sollte, lehnten sowjetischen Vorschlages für eine Frie­ rückte man in diesen Texten die Täter ins Blick­ denskonferenz, des Wirkens von Soldaten-, Tra­ feld, die ditions- und Vertriebenenverbänden, des KPD­ »Seite an Seite mit Adenauer in einer deutschen Re­ Verbots und der daraus resultierenden Krimina­ gierung sitzen konnten, obwohl die maßgebenden lisierung von KPD-Mitgliedern musste eine vom Kreise längst Bescheid wußten . Nur unter dem Druck jüdischen Schriftsteller und Kommunisten Louis der öffentlichen Weltmeinung, nur unter dem Zwange Fürnberg 1945 gehaltene Rede wie eine hell­ der Dokumente, die von der DDR vorgelegt worden sichtige Voraussage des nun voll entbrannten sind«.? Kalten Krieges erscheinen, so dass der Verleger hatten sie immer wieder zum Rücktritt veranlasst und Schriftsteller Gerhard Wolf, in den 50er Jah­ werden können. ren literarischer Redakteur beim DDR-Rundfunk, Der schon lange übliche, undifferenzierte und sie 1959 im Rundfunkprogramm brachte. inflationäre Gebrauch der Begriffe »Faschis­ ln der Rede hatte Fürnberg 1945 zwar an mus« und »Antifaschismus« wurde eingesetzt, Maidanek, Lublin, Auschwitz und Buchenwald um den tatsächlich zögerlichen und zum Teil erinnert, aber den Schwerpunkt seiner Aussa­ skandalträchtigen Umgang mit dem Nationalso­ gen auf die seiner Meinung nach hinter dem Fa­ zialismus in der Bundesrepublik als »staatlich schismus stehenden Kräfte gelegt, die auch geförderten Neofaschismus« darzustellen.s nach der militärischen Niederlage Deutschlands Holzschnittartige Schwarz-Weiß-Malereien do­ keineswegs beseitigt seien: Kapitalismus und minierten die vorgetragenen Botschaften, die ih­ Imperialismus, deren Vertreter einer überlebten re Funktion im Ätherkrieg auch in der Weise er­ Gesellschaftsform mit äußerster Systematik und füllten, dass die gegenüber der Bundesrepublik gesteigerter Aggressivität ihr Vernichtungswerk erhobenen Vorwürfe dort zur generellen Abwehr betrieben hätten, um das Heraufkommen einer der zum Teil schrillen Anklagen führte und Re­ neuen Gesellschaftsordnung, repräsentiert flexionsblockaden erleichterte. durch die Sowjetunion, zu verhindern. Der Über• Die genannten Argumentationslinien be­ fall auf die Sowjetunion sei ein Angriff auf Hu­ herrschten das DDR-Rundfunkprogramm in allen manität, Fortschritt und Zivilisation überhaupt Programmsparten. So enthielten auch die Lite­ gewesen. Fürnberg warnte vor Franco-Spanien, ratursendungen dieser Jahre einen hohen Anteil deutschen Nationalsozialisten in Lateinamerika an Kommentaren. 9 Diejenigen Literaturkom­ und mentare, die sich mit der Kriegsschuldfrage be­ »spalterischen Kräfte in der polnischen Nation. ( ... ) schäftigten, bezogen sich ausschließlich auf Wir dürfen dort, wo sich der Faschismus in welcher Vorgänge in der Bundesrepublik und setzten Vermummung auch immer regt, nicht müßig sein. ( ... ) sich vorzugsweise mit der »literarischen Restau­ Eine Demokratie, in deren Rahmen auch der Fa­ ration« im Westen auseinander. Sie machten auf schismus seinen Platz haben wird, ist selbstmörde• aus der Vergangenheit in die damalige Gegen­ risch.« 12 wart fortwirkende Kontinuitäten bei Verlagen, Wolf benutzte die Phrase vom »Ausrotten mit Verlegern und »Nazi-Skribenten« aufmerksam: Stumpf und Stiel« und viele der damals und »Die unverbesserlichen Nazi-Schriftsteller haben in später gängigen klassenkämpferischen Argu­ Westdeutschland teilweise in denselben Verlagen mente und Worthülsen. ln seiner Einführung wies Wolf 1959 darauf hin: 48 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

»Eine besorgte Rede ( ... ), kein Triumpfgesang, son- die Bundeswehr-Truppenbüchereien empfohlen« dern eine Mahnung. ( .. .) Die Umstände haben sie wurde.16 Hinzu kamen die den Zweiten Weit­ wieder geweckt und da steht sie vor uns: Die Gegen­ krieg als Abenteuerstoff verbrauchenden, in ho­ wart zwingt zur Besinnung. Besonders in diesen Ta­ hen Auflagen und absatzfördernd aufbereiteten gen, da es um den Frieden in Deutschland und die Voraussetzungen dafür geht. Landsmannschaften Landserhefte, die - oft als Tatsachenberichte marschierten in Wien und forderten die Annektion aufgemacht - Erlebnishunger, Abenteuerlust tschechoslowakischer Territorien, Nazirichter verur­ und technisches Interesse junger Menschen teilen Antifaschisten, die braune Journaille von der missbrauchten. Dabei würden sich die Serien feldgrauen >Soldatenzeitung< bis zum rabenschwar­ nicht darauf beschranken, »deutsches Helden­ zen >Rheinischen Merkur< klittert in Antikommunis­ tum zu feiern«, sondern beschwörten die »Ge­ mus und fordert Raketen. Der Beispiele sind viele.« 13 fahr aus dem Osten«, weckten Ressentiments 1960 brachte der Deutschlandsender eine Por­ gegen slawische Völker und tratreihe über ehemalige Mitglieder der Reichs­ »beziehen die Amerikaner mit ein, so vorwegneh­ schrifttumskammer und ihre neuen Publikatio­ mend, was man sich in einem dritten Weltkrieg nen in der Bundesrepublik.14 Die vorgestellten wünscht, Hitlers Konzeption der letzten Tage getreu, Autoren hatten wahrend des Krieges sentimen­ in denen er an den gemeinsamen Marsch der Ameri­ tale und verlogene Durchhalteliteratur produziert kaner und Deutschen gegen Moskau glaubte. ( ... ) Die oder als PK-Berichterstatter markige Reportagen Gefühlskälte, die Grausamkeit, die Erbarmungslosig­ und süßliche Stimmungsberichte verfasst. Der keit, das ist es, was man wecken will, weil man nur so Schriftsteller Günther Cwojdrak polemisierte die jungen Menschen in das umbilden kann, was sie werden sollen: Mörder!« 17 scharf gegen das »heute wieder propagierte Bild vom tapferen deutschen Soldaten, der sich für Auch der moderne Slogan vom »Bürger in Uni­ sein Vaterland aufgeopfert hat«, und benannte form« könne nicht verdecken, was das eigentli­ damit ziemlich treffend diese in den 50er Jahren che Vorbild für die Bundeswehr sei: und lange darüber hinaus in der öffentlichen Er­ »Die deutsche faschistische Armee des zweiten innerung der Bundesrepublik gültige Opferper­ Weltkrieges mit all ihrem Drill, mit aller Zackigkeit, mit spektive, die pure Thematisierung des eigenen dem unbedingten Gehorsam gegenüber jedem Be­ Leidens, den Mythos von der sauberen Wehr­ fehl.« 18 macht. Mit Hans Eisen, der ein 1943 veröffent• lichtes Buch 1953 umgeschrieben hatte, prasen­ Die inzwischen ebenfalls - wenn auch noch oh­ tierte Cwojdrak »ein besonders pragnantes Bei­ ne Wehrpflicht - existente Nationale Volksarmee spiel für dessen betrügerische Geschaftstüchtig• der DDR fand in diesen Kommentaren keine Er­ keit«: ln dem 1943 erschienenen Durchhaltero­ wahnung. Man sprach die Hörer in der Bundes­ man hatte dieser eine an der Ostfront einge­ republik ganz direkt auf ihre Meinung zu diesen schlossene Kompanie sich »tapfer zu den deut­ Vergangen an: schen Stellungen durchkampfen« lassen, in der »Wußten Sie, liebe Hörerinnen und Hörer in der Bun­ 1953er Version wäre die Kompanie in die »Un­ desrepublik, daß solche Bücher bei Ihnen erschei­ menschliche sowjetische Kriegsgefangenschaft« nen? Finden Sie, daß man einem Staat seine Fried­ geraten, um so das »heutige Feindbild Sowjet­ fertigkeit glauben soll, der das duldet? ( ... ) Bitte sor­ union um so geschäftstüchtiger zu bedienen«. gen Sie mit dafür, daß er (der entsprechende Verlag] nicht auf seine Kosten kommt!« 19 »Wir zweifeln aber Und nicht nur das: andererseits auch nicht daran, daß alle ehrlichen »Heute möchte der Autor Eisen die Jugend in West­ westdeutschen Buchhändler und Verleger dieses deutschland wieder für ähnlich >leuchtende Ideale< schmutzige Geschäft von sich weisen werden.«20 und ähnlich >große Ziele< begeistern. Er möchte, dass nochmals >Räder rollen für den SiegFestung< als Kriegsgefangener) hat deutschen Staaten. Berlin 1995, S. 31-46. noch eine antifaschistische Tendenz, das aus dem Jahre 1959 ist von dem Festungskomman­ 3 Zu den Defiziten dieser Thematisierung vgl. u.a. danten General Lasch, der sich offen der Arbeit Wilfried Schubarthffhomas Schmidt: »Sieger der rühmt, die er dort geleistet hat. Er hetzt gegen die Geschichte«. Verordneter Antifaschismus und die Sowjetunion und treibt nazistische Propaganda. Folgen. ln: Der antifaschistische Staat entläßt Diese Publikation ist mit Unterstützung der Archi­ seine Kinder. Jugend und Rechtsextremismus in ve im Bonner Ministerium für Vertriebene entstan­ Ostdeutschland. Köln 1992, S. 12-28; Annette den«. DRA Berlin, HA HF, Deutschlandsender Leo: »Die Helden erinnern sich«. ln: Die wieder­ 1960/174, Freigabeschein. Die Argu (=Argumen­ gefundene Erinnerung. Verdrängte Geschichte in tation) war auf den Freigabescheinen zu den Osteuropa. Berlin 1992, S. 159-172. Sendungen enthalten. ln ihr hatten die Redakteu­ 4 Theodor Schulze-Waiden: Betrachtung am Kar­ re kurz Inhalt und politische Wirkungsabsicht zu freitag, 15.4.1960. Deutsches Rundfunkarchiv beschreiben. Dabei bediente man sich oft auch Berlin (im folgenden DRA Berlin), Historisches Ar­ aus taktischen Gründen politischer und tagesak­ chiv, Schriftgut Hörfunk (im folgenden HA HF), tueller Formulierungen, um die Sendungsfreigabe Sendemanuskript Berliner Rundfunk 1960/393, S. zu erhalten. Diese Texte sind ein oft überdeutli• 1ff. cher Nachweis der politischen und didaktischen Wirkungsabsichten, geschrieben für die Chefs, denn in dieser Direktheit wurden sie nur selten in 50 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

die Sendungen übernommen. Sie lassen Einbli­ Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, cke in die Wirkungs-Wunschvorstellungen zu, die steht, wurde federführend von der Stiftung Deut­ von den Programmverantwortlichen dann mitunter sches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main - - entsprechend den damals gültigen vereinfach­ Berlin in Kooperation mit der Stiftung Archiv der ten Vorstellungen von quasi voraussetzungsloser Akademie der Künste Berlin und mit Unterstüt• Umsetzung medialer Botschaften in Wirkungen - zung weiterer Kulturinstitute in der Bundesrepu­ mit der Wirklichkeit verwechselt wurden. blik erarbeitet. 12 Louis Fürnberg: Betrachtung. Die politische und Multimedial konzipiert, werden in der Aus­ moralische Niederlage des Faschismus, 7.6.1959. stellung in 13 Kapiteln einzelne Phasen und DRA Berlin, HA HF, Sendemanuskript Deutsch­ Schwerpunkte der Entwicklung durch Tondoku­ landsender 1959/564, S.7. mente der Zeit vorgestellt, die von einführenden 13 Gerhard Wolf: Ansage zur Betrachtung. Die politi­ Texten, biographisch orientierten Beschreibun­ sche und moralische Niederlage des Faschismus gen, Zitaten, Fotos und Faksimiles in ihren histo­ von Louis Fürnberg. Sendereihe Deutsch für rischen Kontext eingeordnet werden. Dem The­ Deutsche, 7.6.1959. Ebd., S. 1. ma angemessen bildet ein zeitgenössisches 14 Diese Reihe basierte auf der von Günther Radiogerat den entsprechenden Blickfang, wo­ Cwojdrak herausgegebenen Publikation Die litera­ bei zu den einzelnen Kapiteln einige kurze Aus­ rische Aufrüstung. Berlin 1957. züge aus Gesprachen, Reden, Hörspielen, Le­ sungen als Toncollage eingespielt werden. Au­ 15 Günther Cwojdrak: Porträt des Schriftstellers ßerdem gibt es die Möglichkeit, sich 30 längere Heinrich Eisen. Sendereihe Literarische Um­ schau, 17.9.1957. DRA Berlin, HA HF, Sendema­ Tonpassagen an einer Hörbar vorzuspielen. nuskript Deutschlandsender 1957/822, S. 3; so­ Den Auftakt der Ausstellung bilden zwei Ka­ wie ders.: Porträt des Schriftstellers P.E. Ettighö• pitel, in denen die Situation des Rundfunkmedi­ fer. Sendereihe Literarische Umschau, 27.8.1957. ums am Ausgang der Weimarer Republik und Ebd. 1957/751; Werner Steinberg: Betrachtung: Beginn der nationalsozialistischen Zeit sowie die »Vom Kochtopf zum Atlantik«. Porträt des Autors Mitwirkung der Emigranten beim Rundfunk ihrer Hans Herlin - Sohn von Richard Euringer. Sende­ Gastlander einerseits und der Ausbau des reihe Literarische Umschau, 4.1 .1960. Ebd. Rundfunks im Dritten Reich zu einem Instrument 1960/13. zur Lenkung der Bevölkerung andererseits ge­ 16 Helmut Baldauf: Kommentar. Angebote des schildert werden. Erinnert wird daran, dass die Musterschmidt-Verlages Göttingen für die Trup­ Nationalsozialisten das Medium wegen seiner in penbüchereien der Bundeswehr. Sendereihe Lite­ der Weimarer Republik festgelegten Staatsnahe rarische Umschau, 29.1.1957. Ebd. 1957/090, S. schnell in Besitz zu nehmen wussten und der 1f. Reichsminister für Volksaufklarung und Propa­ 17 Werner Steinberg: Kommentar. Serienproduktion ganda Joseph Goebbels bereits Mitte Marz 1933 von Landserheften in der Bundesrepublik. Sende­ die politische, personelle und Programmkontrolle reihe Gehört, gelesen, mitgeteilt, 25.7 .1959. Ebd. von den Reichsministern des lnnern und der 1959/721, S. 7.; Vgl. hierzu auch Klaus F. Geiger: Post übernahm. Schon Anfang der 30er Jahre in Kriegsromanhefte in der BRD. Inhalte und Funkti­ Pressekampagnen publizistisch vorbereitet, sa­ onen. Tübingen 1974. hen sich nach der nationalsozialistischen Macht­ 18 Steinberg: (wieAnm. 17), S.1. übernahme dem neuen Regime missliebige Rundfunkmitarbeiter, die jüdischer Abstammung 19 Steinberg: (wie Anm. 11), S. 5 u. 9. waren, der kommunistischen oder sozialdemo­ 20 Baldauf: (wie Anm. 16), S. 1. kratischen Partei angehörten, mit einer Verhaf­ tungs- und Entlassungswelle konfrontiert. Zehn Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunks bei­ Rückkehr in die Fremde? spielsweise kehrten dem Dritten Reich den Rü• Remigranten und Rundfunk in cken; sieben von ihnen kamen nicht mehr nach Deutschland zurück. Deutschland (1945 - 1955) Viele Emigranten engagierten sich wahrend Eine Ausstellung des Dritten Reiches bei deutschsprachigen Re­ daktionen der Rundfunkstationen ihrer Gastlan­ Am 19. Marz 2000 ist in der Akademie der der, waren tatig als Übersetzer, Autoren, Spre­ Künste Berlin die Jahresausstellung des Ar­ cher und Regisseure, sie durften die Sendungen beitskreises selbstandiger Kulturinstitute e.V. aber nicht zur Durchsetzung eigener politischer Bonn (AsKI) »Rückkehr in die Fremde? Remig­ Ziele und Vorstellungen nutzen. Von rund 100 ranten und Rundfunk in Deutschland 1945 - Rundfunkstationen weltweit, die deutschsprachi­ 1955« eröffnet worden. Die Ausstellung, die un­ ge Sendungen in der Absicht ausstrahlten, über ter der Schirmherrschaft des Prasidenten des das verbrecherische System des Nationalsozia- Miszellen 51 lismus aufzuklären, waren aber nur die wenigs­ Andere hingegen, die als Zivilisten zurück• ten im Deutschen Reich empfangbar. Dazu ge­ kamen, wurden von der jeweiligen Besatzungs­ hörten der Deutsche Dienst der BBC, die Stim­ macht mit bestimmten Aufträgen betraut und me Amerikas, Radio Luxemburg, Radio Moskau, fanden beim Rundfunk ein längerfristiges Ar­ der Deutsche Volkssender und der Sender des beitsfeld. So hatte Hans Mahle, im Moskauer Nationalkomitees »Freies Deutschland«. Doch Exil in verschiedenen deutschsprachigen Rund­ der Empfang dieser »Feindsender« war während funkredaktionen tätig, von der sowjetischen Be­ des Zweiten Weltkriegs im Dritten Reich verbo­ satzungsmacht den Auftrag zur Wiederinbe­ ten, wer dennoch hörte wurde mit Gefängnis• triebnahme des Rundfunks in Berlin erhalten; bis und Zuchthausstrafen, in Extremfällen gar mit 1951 fungierte er als Generalintendant der der Todesstrafe bedroht. Rundfunksender in der sowjetischen Besat­ An einem der prominentesten Schriftsteller, zungszone. Fritz Eberhard, der während des an dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann Zweiten Weltkriegs in London fOr den Sender entzündete sich, wie in der Ausstellung vertie­ der Europäischen Revolution tätig gewesen war fend dargelegt wird, die »große Kontroverse« und mit dem Auftrag nach Deutschland zurück• zwischen Exilanten und Dagebliebenen, die sich kam , fOr die Amerikaner Informationen Ober die der »inneren Emigration« zurechneten. An ihm, militärische und politische Lage in Deutschland der sich während seines Exils in den Vereinigten zu sammeln, wurde im Juli 1945 Programmbe­ Staaten regelmäßig in der Sendereihe »Deut­ rater von Radio Stuttgart und amtierte von 1949 sche Hörer!« zu Wort gemeldet hatte, entspann bis 1958 als Intendant des Süddeutschen sich eine exemplarische Diskussion. Dabei wur­ Rundfunks. de deutlich, wie tief der Graben geworden war Deutsche Remigranten waren es auch, die zwischen beiden Seiten, so dass nach dem sich in Rundfunksendungen an der Auseinan­ Krieg viele Deutsche die ROckkehr der Exilanten dersetzung mit der Vergangenheit beteiligten, ablehnten und nur vereinzelt Stimmen laut wur­ die dafür sorgten, das besatzungspolitische Ziel den, die sie zur ROckkehr aufforderten. Die in der »Umerziehung«, der »Reeducation« umzu­ den publizistischen Medien, so auch im Rund­ setzen, die Diskussion um Schuld und SOhne zu funk, ausgetragene Kontroverse gipfelte im Vor­ initiieren und die Bevölkerung mit den Gräuelta• wurf von Frank Thieß an die Exilanten, sie wor­ ten des Nationalsozialismus bekannt zu ma­ den in den »Logen und Parterreplätzen« der chen . Kein Forum eignete sich dafor besser als deutschen Tragödie zuschauen. Thomas Mann die breit angelegte Berichterstattung des Rund­ hingegen bezeichnete »Bücher, die von 1933 bis funks Ober den Prozess gegen die Hauptkriegs­ 1945 in Deutschland gedruckt werden konnten, verbrecher in NOrnberg 1945/46. Während deut­ weniger als wertlos und nicht gut, in die Hand zu sche Journalisten aus Platzgründen jeweils nur nehmen.« Ihnen hafte »ein Geruch von Blut und fOr wenige Tage zu den Verhandlungen im Ge­ Schande« an . Sein Verdikt lautete: »Sie sollten richtsgebäude zugelassen waren, konnte bei­ alle eingestampft werden.« spielsweise Eberhard Schütz, ausgewiesen Auf etliche ROckkehrer in der Uniform einer durch eine »War Correspondenrs Temporary der alliierten Mächte, die vorwiegend als Kon­ Licence«, fOr den Deutschen Dienst der BBC trolloffiziere beim Wiederaufbau des Rundfunks zweimal zwölf Wochen lang berichten. im zerstörten Deutschland halfen, wird mittels Im Zeichen der Umerziehungspolitik standen Foto und Kurzbiographie aufmerksam gemacht. die Aktivitäten der Remigranten bei der Vermitt­ Zu ihnen gehörte Alexander Maass, vor 1933 lung kultureller Werte und kulturellen Gedan­ Mitarbeiter der Westdeutschen Rundfunk AG in kenguts, die während der zwölfjährigen national­ Köln, während der Emigration bei verschiedenen sozialistischen Diktatur unterdrückt worden wa­ Rundfunkstationen in Spanien und Großbritan• ren . Bücherknappheit und Papiermangel ließen nien, ab 1945 beim Nordwestdeutschen Rund­ den Rundfunk zum Medium werden, durch das funk in Köln. Aber auch Golo Mann war im so mancher literarische Text erstmals sein Pub­ Dienste der Besatzungsmacht im Rundfunk tätig: likum erreichte. Die »akustische Bibliothek« zunächst bis Februar 1945 als stellvertretender Rundfunk, die den Hörern die im Dritten Reich Leiter des deutschsprachigen Dienstes der Ame­ verbotene Literatur oder im Exil entstandene lite­ rican Broadcasting Station in Europe, bis FrOh­ rarische Werke nahebrachte, sollte zur Neuori­ jahr 1946 dann bei Radio Frankfurt. ln den sel­ entierung beitragen und der Maxime »Erziehung tensten Fällen gaben diese »ROckkehrer in Uni­ zur Kultur« folgen. Es bestand fOr die Rundfunk­ form« ihre während der Exilzeit erworbene redakteure »der gute Wille, etwas Neues zu (neue) Staatsbürgerschaft auf, so dass die Tä• schaffen«, wie sich Hans Mayer ausdrückte, der tigkeit fOr den Rundfunk nur eine kurze Episode nach seiner ROckkehr aus dem Schweizer Exil ihrer wechselvollen Biographien blieb. fOr wenige Monate 1946/47 als Chefredakteur Politik bei Radio Frankfurt wirkte und hier ge- 52 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) meinsam mit dem ebenfalls aus der Schweiz Feiern zum 200. Geburtstag Johann Wolfgang nach Deutschland zurückgekehrten Stephan von Goethes deutschen Boden. Als Symbolfigur Hermlin unter dem Titel »Ansichten Ober einige des »anderen Deutschland« setzte sich der Lite­ neue Schriftsteller und Bücher« Essays für den raturnobelpreistr~ger dagegen zur Wehr, vom Rundfunk schrieb. einen oder anderen der gerade entstehenden »Schriftsteller unter der Hitlerdiktatur« und deutschen Teilstaaten vereinnahmt zu werden. »Schriftsteller in der Emigration« lauteten einige Mit der Aussage »Mein Besuch gilt dem alten der Themen, mit denen sich der Erste Deutsche Vaterlande als Ganzem« hielt er seine Festan­ Schriftstellerkongress vom 4. bis 8. Oktober sprache in der Frankfurter Paulskirche und an­ 1947 in Berlin befasste. Von den Westalliierten schließend im Weimarer Schauspielhaus; in bei­ eher argwöhnisch beobachtet, setzte sich die den St~dten nahm er den Goethepreis entge­ Sowjetische Militäradministration nachdrücklich gen. Unter einem ebenso unglücklichen Stern für die Veranstaltung ein und gewann so einen standen die Besuche Thomas Manns in Mar­ entscheidenden Einfluss auf die Tagung. Wäh• bach am Neckar und in Weimar 1955 anlasslieh rend es gelang, zwischen den gebliebenen und von Friedrich Schillers 150. Todestag. Fast zeit­ den emigrierten Schriftstellern einen breiten gleich trat die Bundesrepublik der NATO und die Konsens herzustellen, wurde bei anderen The­ DDR dem Warschauer Pakt bei, so dass Tho­ men die Kluft zwischen Ost und West offenbar. mas Manns Versuch scheiterte, die politisch Bei der Frage, wie die Isolation der deutschen geteilte Welt im Kulturellen zu vereinen. Nachkriegsliteratur Oberwunden werden sollte, Vor allem in Berlin stand der Rundfunk beim und bei der Diskussion um Literaturkonzepte Wettkampf der ideologischen und politischen brachen die ideologischen Fronten auf. Das Systeme im Mittelpunkt, seine Sendungen, aus­ »Parlament des Geistes« ging im Streit ausein­ gestrahlt im Westen Ober den RIAS Berlin und ander. Daran vermochte die im Juli 1947 mit ei­ im Osten Ober den Berliner Rundfunk, spiegelten ner sowjetischen Lizenz vom Remigranten Al­ den Kalten Krieg auf unnachahmliche Weise wi­ fred Kantorowicz, der während des Zweiten der. Nach je unterschiedlichen Dispositionen Weltkriegs im Dienste einer amerikanischen beteiligten sich die aus der Emigration zurück• Rundfunkgesellschaft gestanden hatte, als ge­ gekehrten Publizisten, Schriftsteller und Politiker meinsames Diskussionsforum gegründete Zeit­ an den Auseinandersetzungen. So warb der in schrift >Ost und West< nichts mehr ändern. der Weimarer Republik bekannt gewordene Manche Remigranten kamen zwar zurück, es Dramatiker Carl Zuckmayer, der in die Verei­ gelang ihnen aber nicht wirklich heimzukehren, nigten Staaten emigriert war, in Rundfunksen­ da sich ihnen viele Schwierigkeiten in den Weg dungen um Verst~ndnis für dieses Land. Ernst stellten. Diejenigen, denen es mißlang, an ihre Reuter, aus der Emigration in der Türkei zurück• durch das Exil unterbrochene Laufbahn anzu­ gekehrt, erhielt als Berliner Oberbürgermeister knüpfen, resignierten oder sie äußerten sich in im RIAS eine eigene Sendereihe »Wo uns der heftigen Attacken gegen ihre Benachteiligung. Schuh drückt«. Im Berliner Rundfunk bestritt der Die Reaktionen reichten von nur besuchsweiser West-Remigrant Friedrich Karl Kaul juristische Rückkehr bis zur erneuten Emigration in das ur­ Sendereihen, während andere, auch aus dem sprüngliche Exilland. So übersiedelte Alfred Westen in den Osten Zurückgekehrte, perso­ Döblin, der 1933 nach Frankreich emigriert, nellen S~uberungswellen beim Rundfunk zum 1940 in die Vereinigten Staaten geflohen und Opfer fielen. 1945 als Angestellter der französischen Milit~r­ Die Bundesrepublik Deutschland, Rechts­ regierung im Rang eines Offiziers zurückge• nachfolgerin des Deutschen Reiches, fühlte sich kommen war, 1953 nach Paris, weil er sich »in aus politischen und moralischen Gründen zur diesem Lande, in dem ich und meine Eltern ge­ »Wiedergutmachung« verpflichtet. Doch die Be­ boren sind« überflüssig vorkam. Daraus sprach troffenen hatten sich bürokratischen Verfahren die Enttäuschung eines Schriftstellers, der sich zu fügen, die sie als unangemessen ansahen. in regelmäßigen Sendungen für den Südwest• Auch innerhalb der Arbeitsgemeinschaft der öf• funk Baden-Baden in den Dienst der »Reeduca­ fentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wurde tion« gestellt hatte, der 1950 aus der Pro­ diskutiert, wie auf freiwilliger Basis den Verfolg­ grammarbeit verdrängt wurde und dessen profi­ ten und bis weit in die Nachkriegszeit unter lierte Literaturzeitschrift >Das Goldene Tor< 1951 menschenunwürdigen Umst~nden im Ausland ihr Erscheinen einstellen musste. lebenden Emigranten geholfen werden könnte. Zu den Schriftstellern, die sich nicht zur Entgegen dem Zeitgeist machten engagierte Rückkehr nach Deutschland entschließen Rundfunkredakteure auf deren Schicksal auf­ konnten, gehörte auch Thomas Mann. Erst wäh• merksam und hielten die Themen Emigration rend seiner zweiten Europareise nach dem und Remigration wach. Vor allem im Rundfunk Zweiten Weltkrieg betrat er 1949 anl~sslich der konnten sich Emigranten selbst immer wieder Miszellen 53

Gehör verschaffen. So pragte beispielsweise dem Ende der Biographie« über Günter Eich ist Theodor W. Adorno, wahrend der Jahre des der Titel eines seiner spaten Gedichte. Mit der Dritten Reiches in Großbritannien und den Ver­ darin zum Ausdruck gebrachten Gelassenheit einigten Staaten, mit vielen musiktheoretischen des Rückblicks wollen die Ausstellungsmacher Vorträgen und kulturkritischen Essays nachhaltig unter Leitung von Peter Walther Positionswand­ das Kulturprogramm des Hessischen Rundfunks lungen sowie biographische Brüche in der Le­ in den 50er und auch noch in den 60er Jahren. bensgeschichte und im Oeuvre von Eich deutlich Die Ausstellung kann kein abschließendes machen. Dies geschieht auf thematischen Bild des Verhaltnisses von Remigranten und Schautafeln, die Dokumente, Fotos und Zitate Rundfunk von 1945 bis 1955 und der Themati­ prasentieren und zugleich die Vita in chronologi­ sierung von Emigration und Remigration in den scher Kurzfassung beschreiben. Die sparsame, Rundfunkprogrammen vermitteln. Sie will aber nüchterne und übersichtliche Anordnung wird Anstöße geben, sich intensiver als bisher mit durch von der Decke hangende Transparente dem Beitrag von Remigranten am gesellschaftli­ erganzt, auf denen einige Eich-Gedichte wieder­ chen, wirtschaftlichen und politischen Aufbau gegeben sind. der beiden deutschen Staaten zu befassen. Erfreulich, dass diese kleine Präsentation Zur Ausstellung hat der VISTAS-Verlag Ber­ nicht der sonst üblichen Kalender-Dramaturgie lin (ISBN: 3-89158-269-2) einen 192seitiger Be­ folgt: Anlass ist kein Jahrestag oder Jubiläum. gleitband publiziert, der über das in der Ausstel­ Auch akustisch kann man sich mit Eich in der lung Gezeigte hinaus weitere Texte und insge­ Ausstellung vertraut machen: Die auch auf einer samt 289 Abbildungen enthalt. Eingeleitet wird CD verfügbaren und von Wolfram Wessels zu­ der von Hans-Uirich Wagner (Deutsches Rund­ sammengestellten Hörbeispiele umfassen Le­ funkarchiv Frankfurt am Main - Berlin) erarbei­ sungen und Reden des Dichters sowie Hörspiel• tete Band, durch einen Essay von Peter Stein­ Ausschnitte aus den Jahren von 1949 bis 1968. bach (Freie Universität Berlin). Außerdem ist ei­ Im Begleitbuch kommen Michael Gratz, Karl ne CD mit 17 Tondokumenten zur Emigration Karst, Joachim W. Storck, Axel Vieregg, Hans­ und Remigration erschienen. Uirich Wagner und Peter Walther zu Wort. Es Im Anschluss an die bis zum 24. April dau­ enthält auch einige Eich-Texte, von denen »Der ernde Präsentation in Berlin wird die Ausstellung Weltreisende« (1949) hier erstmals vollstandig im Haus der Geschichte Sonn, in der Bayeri­ veröffentlicht wird. schen Staatsbibliothek München, in der Deut­ Die mehrfachen ästhetischen Revisionen im schen Bibliothek Frankfurt am Main, im Litera­ Werk des Lyrikers und Hörspielautors, seine turhaus Magdeburg, im Sachsischen Landtag Entwicklung vom betont unpolitischen Lyriker in (veranstaltet von der Sachsischen Landes- und der Weimarer Republik zum finanziell erfolgrei­ Universitätsbibliothek) Dresden, in der Württem• chen Rundfunkautor in der Zeit des Nationalso­ bergischen Landesbibliothek Stuttgart, in der zialismus, vom radikalen Skeptiker der Nach­ Niedersächsischen Landesbibliotkek Göttingen, kriegszeit zum verspielten, meditierenden Dich­ in der Staats- und Universitatsbibliothek Harn­ ter am Lebensende, werden in ihren biographi­ burg sowie im Museumszentrum des UNESCO­ schen Zusammenhangen anschaulich ins Bild Weltkulturerbes Kloster Lorsch zu sehen sein. gesetzt. Besonders betont sind lokale Bezüge im An allen Ausstellungsorten werden Begleitver­ Werk des im Land Brandenburg geborenen anstaltungen wie Filmretrospektiven, Vortrage Dichters, der hier seine Kinder- und Jugendjahre und Lesungen organisiert, die das Thema Emig­ verbrachte und der in dieser Gegend zu DDR­ ration und Remigration zusatzlieh vertiefen sol­ Zeiten dennoch relativ unbekannt geblieben ist. len. So vermittelt die Prasentation vielen neuen Bun­ Ansgar Diller/Hans-Uirich Wagner, desbürgern sicher eine erste Begegnung mit Frankfurt am Main Günter Eich. Biographie und Lebensleistung Günter Eichs, der nach dem Krieg mit seinen Hörspielen Gelassenheit des Rückblicks Rundfunkgeschichte schrieb, werden in der als Identifikationsangebot Ausstellung prononciert mit großer Gelassenheit Ausstellung über Günter Eich in Potsdam betrachtet. Peter Walther hat den Anspruch for­ muliert, mit den Brüchen und Widersprüchen in der Eichsehen Lebensgeschichte ein Identifikati­ Das Motto der von der Geschäftsstelle Märki• onsangebot an ehemalige DDR-Bürger zu ma­ sche Dichterlandschaft und vom Brandenburgi­ chen, die - phasenverschoben, mit den Um­ schen Literaturbüro ausgerichteten und vom 22. brucherfahrungen der Wendezeit- ähnliche Brü• März bis 7. Mai in Potsdam im Pavillon der che erlebt hätten. Sie sind immer noch einem Freundschaftsinsel gezeigten Ausstellung »Nach erheblichen Rechtfertigungsdruck für ihr Leben 54 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) in der DDR und mitunter, je nach Lebensalter, nachzeichnete - geradezu musterhaft. Springer, auch für das in der NS-Zeit, ausgesetzt. Gelas­ dessen Vater schon den Verlag Hammerich & senheit wird da weniger gewährt oder praktiziert. Lesser erworben hatte, erhielt, da nicht durch Angesichts der intensiven Tätigkeit von das Dritte Reich belastet, von der britischen Be­ Günter Eich für den nationalsozialistischen satzungsmacht drei Lizenzen, mit denen er von Rundfunk, deren Facetten von unpolitischen 1946 an sein Imperium aufbauen konnte. Er Schulfunksendungen bis zu relativ einseitiger schaffte sich durch >Hörzu<, das >Hamburger Propaganda reichen und die von Hans-Uirich Abendblatt<, etwas später >Bild< und >Die Welt< Wagner im Begfeitbuch als »bewusst opportu­ einen Vorsprung, den andere Zeitungsverleger nistisches Votieren für eine medienliterarische nicht mehr aufholen konnten. Ein perfektes Ver­ Karriere« interpretiert werden, stellen sich schon triebssystem und leistungsstarke Druckereien Fragen nach dem Verhältnis von politischer Mo­ trugen zum weiteren Erfolg bei. Springer beerbte ral, Anpassung und (literarischer) Lebensleis­ bei seinem Start das traditionsreiche >Hambur­ tung . Erst nach dem Tod des Dichters hat es in ger Fremdenblatt<, das von den Nazis auf kaltem der alten Bundesrepublik mehrfach Kontrover­ Wege, durch gedrosselte Papierzuteilung, zur sen zu seiner Anpassung an den Nationalsozia­ Einstellung gezwungen worden war, worauf lismus gegeben, bis in die jüngste Vergangen­ Christiane Teetz, Hamburg, den Schwerpunkt heit hinein, so zuletzt anlasslieh der Entdeckung ihres Referats legte. seines Hörspiels »Rebellion in der Goldstadt« Auf ein extremes Beispiel für die Bedeutung auf Schallfolien, von dem sich allerdings nichts der Ökonomie im Verlagsbuchhandel wies auf der CD findet. Auch von den genannten Thorsten Grieser, München, entlang der wirt­ Kontroversen erfährt der Ausstellungsbesucher schaftlichen Entwicklungslinien der Inflationsjah­ wenig. Gelassenheit weicht hier wohl doch mit­ re von 1914 bis 1923 hin. Die Geldentwertung unter der Glättung. kam nicht wie eine Naturkatastrophe, sie brachte Dennoch macht die Exposition mit ihren in­ aber dem Buchhandel mit seinem System des tendierten Denkanstößen zu einer lebenslangen, festen Ladenpreises die größten Schwierigkei­ aber gelassenen Selbstbefragung ein unaufge­ ten. Die galoppierende Teuerung traf vor allem regtes, stilles Angebot in einer Zeit, die von die Sortimenter, die ihre Interessen in der neu schrillen, sensationshungrigen Lebensbetrach­ gegründeten Buchhandler-Gilde besser vertre­ tungen beherrscht wird. ten sahen als im Börsenverein, in dem die Ver­ Begleitbuch: Peter Walther (Hrsg.): Günter leger das Sagen hatten. Der Konflikt drohte 1922 Eich (1907- 1972). Nach dem Ende der Biogra­ fast den Börsenverein zu sprengen. Gemessen phie. Mit CD. Berlin: Lukas Verlag für Kunst und an anderen Gewerben, überstand der Buchhan­ Geistesgeschichte 2000, 111 Seiten. del aber mit seinen meist mittelständischen lngrid Pietrzynski, Berlin Strukturen die Inflation relativ gut, da er über mehr Sach- als Geldwerte verfügte. ln systematisch-ökonomischer Sicht unter­ »Ökonomie von Medienunternehmen suchte Jürgen Heinrich, Dortmund, Funktion und im 20. Jahrhundert« Struktur der Medienunternehmung des Zei­ tungsverlags. Während der Verleger im Buch­ Eine Tagung in Berlin verlag seine Texte vom Autor, also vom Markt bezieht, ist der Journalist für die tägliche Pro­ Vom 19. Stock des Verlagshauses Axel Springer duktion meist fest angestellt. Ein Mittel der Kos­ in Berlin, früher in unmittelbarer Nähe der Mauer tensenkung wie das häufig zitierte Outsourcing gelegen, überblickt man die ganze, rasch aus erweist sich hier als äußerst ambivalent, denn der Erde hochwachsende neue Hauptstadt. Ei­ das Produkt ist abhängig von der Qualität des nen Überblick zu finden war auch das Ziel der Lieferanten, es verringert sich die Vielfalt. Die hier am 18. und 19. November 1999 stattfinden­ Abhängigkeit des Verlags von der werbetreiben­ den Tagung der Historischen Kommissionen des den Wirtschaft bringt auch die Gefahr der ver­ Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und stärkten Anpassung an die Werte der Ökonomie der ARD, des Instituts für Zeitungsforschung der mit sich, etwa durch die mehrfache Nutzung und Stadt Dortmund und des Studienkreises Rund­ zunehmende Verflachung eines Stoffs im »Kas­ funk und Geschichte über das Thema »Ökono• kadenjournalismus«, bei dem das Fernsehen zur mie von Medienunternehmen im 20. Jahrhun­ »schrottverarbeitenden Industrie« werden kann. dert«. ln neun Vorträgen ging es um die zentrale Der technische Wandel führt zu dem Phänomen, Frage der Medien Buch, Zeitung und Rundfunk, dass der digitale Vertrieb billiger wird als die den Faktor des Geldes. Produktion - eine Entwicklung, die Analogien Die Medienkarriere Axel Springers und sei­ zum Buchhandel hat. nes Verlags verlief- wie Erik Lindner, Hamburg, Miszellen 55

Beim Neuanfang nach dem Ende des Zwei­ rungsaustausch zwischen Kameraleuten und ten Weltkriegs spielte die wirtschaftliche Situati­ Medienwissenschaftlern zu integrieren, war ei­ on im Buchhandel wie im Zeitungsverlag, die nes der Anliegen der »2. Marburger Kamerage­ Spannung zwischen Lizenztrager und Altverle­ spräche« am 3. und 4. März 2000 im Filmtheater ger, eine unterschiedliche Rolle. Bis zur Wah­ der Stadt. Der Rahmentitel ist Programm: 1997 rungsreform herrschte wirtschaftlich ein nahezu zum ersten Mal und jetzt erneut veranstaltet, idealer Zustand, denn für den Zeitungsverlag sollen die »Kameragespräche« nun jährlich die mussten die Besitzer von Druckereien ihre Un­ akademische und filminteressierte Landschaft ternehmen zur Verfügung stellen, aber rasch Marburgs bereichern. stellten sich Gewinne ein. Wie Johannes Lud­ Im Zentrum der Tagung, die vom Bundesver­ wig, Berlin, ausführte, überlebten 95 Prozent der band Kamera (bvk), der Marburger Medienwis­ lizenzierten Zeitungen die Nachkriegszeit. Er senschaft und dem Kammer-Filmkunsttheater zeigte mehrere Modelle, unter anderen das Marburg ausgerichtet wurde, standen die Stuttgarter Modell, in denen Zeitungsverlage Schwarz/Weiß-Filme des Berliner Kameramanns durch Zusammenlegung von Redaktionen ihre Heinz Pehlke am Ende der 50er Jahre. Stärker Fixkosten senkten, sich nicht nur auf den stei­ noch als bei dem ersten Gemeinschaftsprojekt genden Gewinn in der Auflagen-Anzeigen­ zwischen Theorie und Praxis rückten hier die Spirale konzentrierten, sondern einen Spielraum Filme selbst, die Problematik ihrer Machart, ihr für die selbstbestimmte Festsetzung und Balan­ spezifisches Zeitkolorit und die kameratechni­ ce zwischen monetären und nicht-monetären schen Besonderheiten in den Mittelpunkt des Zielen eröffneten. Interesses: Der Akzent lag auf Filmen und Die Situation des Buchhandels in dieser Zeit­ Werkstattgesprächen mit dem ??jährigen Kame­ spanne sah dagegen anders aus. Hans Alten­ ramann und erst in zweiter Linie auf den Vorträ• hein wies auf die Schwierigkeit hin, dass die gen zum Thema. Der Kameramann ist maßgeb• Firmenarchive meist nicht erschlossen und wirt­ lich für die Atmosphäre eines Films verantwort­ schaftliche Informationen über die sich oft in lich, weil auf seiner Arbeit die Erwartungen des Familienbesitz befindenden Unternehmen Publikums ruhen und weil er die erste Instanz schwer zu erhalten sind. Am Beispiel der Verla­ der Umsetzung von Interessen in der filmischen ge Rütten & Loening, Beltz und Stahlberg zeigte Wahrnehmung ist. Gerade diese Schnittstellen­ er den sehr unterschiedlichen Erfolg von Neu­ funktion zwischen Regie und Sichtbarem wird in gründungen. Auch im Buchhandel war die Diffe­ der öffentlichen und auch filmkritischen Optik renz zwischen Lizenzträgern und Altverlegern häufig vernachlässigt (Karl Prümm, Medienwis­ groß, aber zu Beginn der 60er Jahre dominierten senschaftler). wieder die Altverleger, hatten die meisten lizen­ Die Begrenzung auf die Schwarz/Weiß-Filme sierten Verlage sich nicht halten können. Ihnen - gezeigt wurden »Die Halbstarken« (1956), fehlten die Rechte, auch an ausländischen Auto­ »Das Totenschiff« (1959) und »Schwarzer Kies« ren, oder sie hatten Probleme mit dem Vertrieb. (1960/61) - sollte den besonderen bildkünstleri• Die Tagung machte deutlich, dass die inter­ schen Zugang zur restaurativen Zeit eines sich disziplinäre Zusammenarbeit der Medienhistori­ wieder etablierenden Bürgertums aufzeigen (Mi­ ker die Binnenperspektiven erweitert und Frage­ chael Neubauer, bvk): »Ungemütliche Bilder« stellungen erweitert, dass trotz der Unterschied­ einer bei näherem Hinsehen doch recht unge­ lichkeit sich vergleichbare Strukturen abzeich­ mütlichen Zeit, die nicht nur von den Verheißun• nen und dass die gegenseitige Information drin­ gen der Warenwelt und dem Traum von Sicher­ gend notwendig ist. Es ist dem Axel Springer heit und Glück, sondern eben auch von Korrup­ Verlag in Berlin zu danken, dass er diese Ta­ tion, Arbeitslosigkeit, aufkeimender Rebellion gung möglich gemacht hat. und ldentitatssuche gekennzeichnet war. Monika Estermann, Frankfurt am Main Heinz Pehlke lernte sein Handwerk in den 40er Jahren bei Ufa-Kameraleuten wie lgor Oberberg, Franz Weihmayr, Ekkehard Kyrath, Ungemütliche Bilder am Ende Albert Benitz und vor allem Kurt Hasse. Nach der 50er Jahre zahlreichen Kameraassistenzen sowie eigen­ standigen kleineren Produktionen aus dem Do­ Die Schwarz/Weiß-Filme kumentar- und Werbefilmbereich drehte er 1956 des Kameramanns Heinz Pehlke mit »Die Halbstarken« unter der Regie von Ge­ Eine Tagung in Marburg arg Tressler seinen ersten Spielfilm als lichtset­ zender Kameramann. Ab 1958 entwickelte sich Wenn Praktiker und Theoretiker aufeinander eine enge Zusammenarbeit mit Wolfgang Treu treffen, sind Kontroversen vorprogrammiert; die­ als Schwenker, ein damals angesichts schwerer se Kontroversen zu einem anregenden Erfah- und unhandlicher Kameras noch unverzichtbarer 56 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Beruf. Treu, der Pehlke als seinen Lehrmeister ben, dieser dem Kameramann relativ freie Hand betrachtet und später selbst Filme wie »Das gelassen habe; so gehen etwa die expressiven Schloss« (1968, Rudolf Noelte), »Nordsee ist Untersichten allein auf Pehlkes Konto. Ob sich Mordsee« (1976, Hark Bohm) oder »Herr Ober« an den handwerklichen Eigenarten seiner Arbeit (1992, Gerhard Polt) fotografierte, drehte mit ein individueller Stil ablesen lasse, beantwortete Pehlke innerhalb von fünf Jahren 17 Filme. Die­ Pehlke lapidar damit, dass er immer nach foto­ se Zusammenarbeit entwickelte sich im Lauf der grafischen Lösungen inhaltlicher Zusammen­ Jahre zu einer engen Freundschaft, wie Treu in hange gesucht habe. Sein Stil sei eine Erfindung seinem Einführungsvortrag durchblicken lasst. der Universitäten, merkte er ironisch an. Ganz Nach einem Werbefilm realisierte das Team klar hat der Mann einen eher intuitiven Zugang Pehlke/Treu 1958 unter der Regie von Helmut zur eigenen Arbeit, er will sich nicht festlegen, Kautner den bis dahin aufwendigsten und teu­ betrachtet Stil als Gemeinschaftsprodukt, wirkt ersten Nachkriegsfilm: »Der Schinderhannes«. aber andererseits in ästhetischen Fragen unkor­ Viele weitere sollten folgen, bei denen Treu das rumpierbar. Handwerk der Kadrage und die Kunst, mit Licht Im Spannungsfeld zwischen Pehlkes Ufa­ unterschiedlichste Stimmungen zu erzeugen, Wurzeln und seinem dokumentarischen Zugriff­ lernte. Pehlke drehte in den spaten 40er und frühen Studieren konnte man diese in Pehlkes ers­ 50er Jahren zahlreiche Kurz-Dokumentarfilme - tem Spielfilm »Die Halbstarken«. Die Abwen­ entdeckte der Berliner Filmpublizist Robert Mül• dung vom »geleckten« Ufa-Stil, das Bemühen, ler ganz spezifische ästhetische Merkmale, die den Bildern durch harte Kontraste und höher• dann doch so etwas wie stilistische Homogenität empfindliches Material einen quasi-dokumentari­ suggerieren. An einer Reihe von Schwarz/Weiß• schen Charakter zu verleihen, lasst den Film Filmen entwarf er ein Panorama charakteristi­ äußerst frisch und modern erscheinen. ln der scher Gestaltungselemente von Pehlkes »dis­ Diskussionsrunde, moderiert von dem Kamera­ tanziert moderner Fotografie«: konturierendes, mann Rolf Coulanges und ergänzt um Wolfgang scharfes Licht, die nuancierte Arbeit mit Refle­ Treu am Podium, erläuterte Pehlke Produktions­ xen und spiegelnden Oberflachen, die sich deut­ hintergründe, technische Detailfragen, und vor lich von der Sanftheit des Ufa-Lichts abhebt und allem erzählte er zahlreiche Anekdoten: Berichte stattdessen auf kurze Brennweiten und klare eines Zeugen nicht nur der zeitgenössischen Schatten setzt. Gerade die Arbeit mit Zwielicht Filmindustrie, sondern auch des von divergie­ und Lichtakzenten erinnert an vergleichbare Ef­ renden Stimmungen zerrissenen Lebensgefühls fekte im Film Noir: die Irritationen und visuellen der 50er Jahre. Verratselungen, die von halbverdeckten Ge­ Die schwere Super Parvo-Kamera, mit der sichtern oder Körpern ausgehen, das Herein­ Pehlke drehte, erlaubte, anders als heutige und Heraustreten aus dem Licht, die deutlich Spiegel-Reflex-Systeme, einen Blick auf das zu gesetzten Kontraste zwischen Spitzen- und Füll• fotografierende Bild nur durch den laufenden licht oder alternierendes Licht als Ausdruck einer Film hindurch. Das Ergebnis hing also mehr von Atmosphäre von Bedrohung und Unsicherheit. Berechnung und Erfahrung als von dem tatsach­ Auch was die Kadrage betrifft, geht Pehlkes lich Sichtbaren ab, denn das Material ist ja nur in Fotografie, so Müller, über die narrative Logik oft einem gewissen Maß transparent. Pehlke weit hinaus: Eine expressive Kadrage mit für schweifte immer wieder ab und beantwortete den deutschen Spielfilm ungewöhnlichen Per­ Fragen selten direkt. ln seinen Erzählungen spektiven, etwa extrem niedrigen Positionen und wurde jedoch immer wieder die Anteilnahme des gewagten Froschperspektiven, vor allem aber unmittelbar Beteiligten spürbar. So berichtete er Pehlkes Vorliebe für die Binnenkadrage, den etwa von dem enormen Konkurrenzdruck unter Rahmen im Rahmen, verleihen seinen Drama­ den Kameraleuten, von den Zufälligkeiten, die turgien oft symbolische Akzente. So finden sich ein Engagement befördern konnten und auch erstaunlich häufig Figurenrahmungen durch von seiner Frustration am Beginn der 50er Jah­ Fenster, Türen oder Durchreichen, die die Pro­ re, als er für die Hamburger Real-Film zahlreiche tagonisten gleichsam gefangen halten: Bildkom­ Filme zu Ende drehte, ohne in den Credits ge­ positionen, die die Figurenpsychologie reflektie­ nannt zu werden. ren und visualisieren. Die Fragen aus dem Auditorium richteten Heinz Pehlke dagegen betonte immer wieder, sich immer wieder auf die Art der Zusammenar­ dass seine Arbeit sich nicht an stilistischen Pa­ beit mit dem Regisseur und den gestalterischen rametern, sondern immer an den Inhalten orien­ Anteil des Kameramanns am fertigen Produkt. tiert habe, dass also Lichtführung und Kadrage Viele der Entscheidungen in den »Halbstarken« immer kontext- und vor allem genreabhängig hatte Pehlke eigenständig getroffen, zumal es gewesen seien. Befragt darauf, wie die Homo­ mit Tressler keine Diskussion über Inhalte gege- genität zwischen Außen- und Innenaufnahmen Miszellen 57 im »Totenschiff« gelöst worden sei, antwortete verbindet. Pehlke berichtete in diesem Zusam­ Pehlke, er habe halt einfach »richtig fotogra­ menhang von der Empörung von Kirche und fiert«. Die Wiederbegegnung mit dem Film, der Presse über die soziale Schärfe der Inszenie­ an Abenteuerfilme wie John Hustons »Treasure rung und die Notwendigkeit, drei alternative of the Sierra Madre« (1948) anknüpfen wollte Filmschlüsse zu entwerfen, erläuterte aber e­ und den Pehlke zwischen zwei Freddy-Quinn­ benso spezifische Beleuchtungsprobleme oder Filmen drehte, inspirierte den Kameramann zur die Realisierung einer komplizierten Rückprojek• ausführlichen Schilderung der Suche nach ei­ tion. nem geeigneten Schiff: Drei Wochen lang habe Die Frage, inwiefern Pehlkes Filme Ausdruck man die spanische Küste nach einem tauglichen eines individuellen Stils ist, konnte die Tagung Frachter abgesucht, weil sich die Produktions­ nicht beantworten. Zumindest aber lässt sich firma nicht darum gekümmert habe. Der Bana­ festhalten, dass Pehlke, aus der Ufa-Tradition nendampfer, den man schließlich auftrieb, kommend, verschiedenste stilistische Konventi­ musste schwarz angestrichen werden. Der von onen des zeitgenössischen Films und der zeit­ der zeitgenössischen Kritik verrissene Film be­ genössischen Fotografie zu einer expressiven sitzt indessen wenig von der visuellen Klarheit Bildsprache verbunden hat, die ihn als Hand­ der »Halbstarken«. werker ersten Ranges auszeichnet. Nach dem Pehlkes »ungemütliche Bilder« stellte Karl Niedergang des kommerziellen deutschen Films Prümm in einen Kontext mit der internationalen und dem Generationswechsel brach für Pehlke zeitgenössischen Schwarz/Weiß-Fotografie und der Draht zum Kinofilm rasch ab, und er arbei­ betonte die explorative Funktion des Mediums tete ab den 60er Jahren hauptsächlich für das für den Film. Die visuellen Expeditionen einzel­ Fernsehen. Dass damit der Schwarz/Weiß-Film ner Fotografen durch die Stadtlandschaften der noch lange nicht am Ende war, zeigten unter SOer Jahre erscheinen als Ausdruck eines auch anderem die Protagonisten des Neuen Deut­ technisch präfigurierten Zeitgefühls. Gerade die schen Films und der Nouvelle Vague oder das aufkommende und sich auf allen Gebieten des mit Cassavetes einsetzende unabhängige ame­ Visuellen durchsetzende Farbfotografie verhalf rikanische Kino. der Schwarz/Weiß-Fotografie zu völlig neuen Heute verbindet sich mit dem Label Gestaltungsmöglichkeiten. Unter der »Bedro­ »Schwarz/Weiß« vor allem das Etikett »Kunstki­ hung« durch die Farbe schöpfte sie noch einmal no«. Die schwarz/weißen Arbeiten so unter­ ihre Potenzialitäten aus. Ihr experimenteller und schiedlicher Regisseure wie Francis Ford Cop­ konstatierender Gestus drückt sich etwa in Hil­ pola, Jim Jarmusch, Aki Kaurismäki, Tim Burton, mar Pabels Stadtansichten aus, die auch zum Woody Allen und vieler anderer zeigen, dass die abstrakten Formenspiel gerinnen können. Es Bildgestaltung allein mit Licht und Schatten auch geht hier um die Auslotung sozialer Räume, der im aktuellen Kino eine neben dem Farbfilm be­ Straße als Bild der Zeit, als Bühne und Schau­ rechtigte Nische füllt. platz des Öffentlichen, dessen neuer visueller Matthias Kraus, Marburg Erfahrungsraum zwischen den Polen Schwarz und Weiß angesiedelt ist; so in den visuellen Zi­ vilisationsstudien von Robert Frank, der seine »Die dunkle Seite der Medien« Figuren in zwischen Statik und Dynamik chan­ Anmerkungen zu einem Phänomen gierende Arrangements einbindet, oder in Will­ und zu einer Tagung Harn Kleins New York-Bildern, die die Men­ schenmenge als ästhetisch formbares Material Während sich die Medienhistoriografie immer exponieren oder die Wirklichkeit des Stadtbildes wieder mit irrationalen und hysterischen Phäno• in komplexe Raumkompositionen und -staffelun­ menen medialer Kommunikation befasst hat, hat gen verschieben. die Medientheorie hingegen nicht selten über Die Embleme der Warengesellschaft, die At­ dysfunktionale und - in diesem Sinne - proble­ traktivität urbaner Architekturen, die Dynamisie­ matische Momente medialer Prozesse hinweg­ rung des Raums durch Licht, die Nutzbarma­ gesehen. Vor diesem Hintergrund hatte das Lite­ chung schwarz/weißer Kontraste zur Illustration ratur- und Kommunikationswissenschaftliche sozialer Differenzen - all dies findet sich modifi­ DFG-Graduiertenkolleg »lntermedialität« in Sie­ ziert auch in den Schwarz/Weiß-Filmen Heinz gen unter dem Titel »Die dunkle Seite der Me­ Pehlkes, besonders anschaulich in Helmut dien - Ängste, Faszinationen, Unfälle« vom 30. Käutners »Schwarzer Kies«, ein Film, der das November bis zum 1. Dezember 1999 zu einer Zusammenleben von Bürgern im Hunsrück mit Fachtagung eingeladen. Den Referentinnen und der amerikanischen Besatzungsmacht schildert Referenten aus dem Bereich der Medien-, Kul­ und geschickt persönliche Tragödien und politi­ tur- und Literaturwissenschaft oblag es heraus­ sche Motive zu einem stimmigen Bild der Zeit zufinden, welche Aufschlüsse man über Me- 58 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) diendiskurse und -theorien erzielt, wenn man auf dramaturgisch aufeinander bezogen sind und deren >dunkle Seite< reflektiert. dass das, was bereits in diesem Sujet entworfen ln seinem Eingangsstatement hob Jochen ist, auf frappierende Weise mit dem heutigen Venus hervor, dass eine (differenz)theoretische nachrichtentechnischen Standard korrespon­ Zweiseitenunterscheidung zwischen der >dunk­ diert. len< und der >hellen< Seite der Medien eine Un­ Die mitunter affektiven technik- und medien­ terscheidung ist, die »keinen Unterschied induzierten Zäsuren, vor allem seit dem 18. macht« - schließlich handelt es sich lediglich um Jahrhundert, gaben den historischen Bezugs­ eine metaphorische Sprachregelung. DarOber rahmen fOr die Ausführungen von Manfred Geier hinaus gibt es, so der Tenor, kaum klare Krite­ sowie Kirsten von Hagen ab. Ausgehend von Ai­ rien fOr das spezifische Vermögen einer be­ schylos' Triologie um Prometheus zeichnete stimmten Medientheorie, mithin sind Medienthe­ Geier den Mythos der künstlichen Frau nach und orien als funktional äquivalent zu betrachten. verfolgte das Motiv der Töchter Pandoras durch Dieser Befund war fOr Venus Anlass genug, sich die Literaturgeschichte. ln der Metaphorik der mit denjenigen Medienphänomenen konfrontie­ künstlichen Frau manifestieren sich epochale ren zu lassen, die sich einer allzu glatten funkti­ Krisenmomente, die mit einem jedweden medi­ onalen Erklärung entziehen. alen Umbruch eine Neuauflage der Mechanisie­ Zwei Referenten setzten sich mit genuin the­ rung der Frauengestalt kommandieren. ln ihrem oretischen Fragestellungen auseinander. Am Referat problematisierte von Hagen die »Tücken Beispiel des Fernsehens diskutierte Lorenz En­ des Briefverkehrs«, exemplifiziert an Choderlos gel! »Mediengeschichte im Einzelfall«. Die de Laclos' »Les Iiaisons dangereuses«. Sie »Welt« ist schon immer dagewesen, auch in den enttarnte die (Selbst-)Widersprüche des Medi­ Medien. Wir erfahren etwas Ober die >Welt< le­ ums Briefroman, seiner grundständig zerdehnten diglich Ober Regelfällen und deren Kohärenzen. Kommunikationssituation, seiner Somatik, sei­ Man kann nach Engeil nur dann von Einzelfall nes Geheimnisses und nicht zuletzt seiner Sug­ sprechen, wenn die »Welt« ihren »Latenz­ gestion des Liebesbegehrens. Ihr Fazit: Es gibt schutz« preisgibt - sei es als »Negation«, »Un­ »keine Authentizität des Mediums«. fall« oder »Zusammenbruch«. Ein solches Er­ Die Vorträge Tine Kopfs und Jens Ruchatz' eignis ist nicht wiederholbar, es ist »einmalig«. waren der funktionalen Analyse der musealen Und Dierk Spreen beschäftigte sich unter der Ausstellung beziehungsweise der fotografischen Überschrift »Schnittstelle und Friktion« mit eini­ Aufzeichnung gewidmet. Als Folge eines sus­ gen allgemeinen Problemen der Medientheorie. pendierten gesellschaftlichen Bildungsideals Er führte - durchaus kittlerianisch intoniert - verkoppelt die Ausstellung als lnstitutionalisie­ aus, dass sich die Funktion, mit der Technik im rung von Wissen, so Kopf, Objekte oder Objekt­ gesellschaftlichen Kontext adressiert wird, als konstellationen zu Aussagen oder Aussagen­ »Effekt der medialen Diskursstelle« erweist. Ei­ komplexen. Zudem wies sie darauf hin, dass im ne Medientheorie formuliert in der Kulturge­ Museumsoikos immer noch der Glaube an die schichte einen weiteren Modus, der das »episte­ »Authentizität« einer musealen Aura vor­ mische Problem der Moderne« markiert: Me­ herrscht. ln seinem Beitrag erörterte Ruchatz dientheorie konzeptualisiert Technik und Pro­ den »Realismus als Problem der Fotografie«. duktivkrafte nicht »artifiziell«, sondern »medial«. Seiner Auffassung nach bedarf es einer soziali­ Dem dramatischen Oeuvre eines William sierten Aneignung der technischen Hardware Shakespeare ließen sich, wie nicht anders zu und einer Diskursivierung dieser Wissensbe­ erwarten, in besonderer Weise düstere Facetten stände in soziale Praxen, um die jeweiligen Re­ abgewinnen. Anhand von einigen historischen ferenzen einer Fotografie identifizieren zu kön• und aktuellen Inszenierungen Shakespear'scher nen. Erst durch Anwendung eines solchen Rost­ Dramen zeigte K. Ludwig Pfeiffer, wie das Thea­ zeugs lässt sich der jederzeitigen Manipulierbar­ ter als Repräsentationsmedium fungierte. Als ein keit der Fotografie begegnen. Kardinalpunkt des Vortrags und der anschlie­ Einige Referenten konzentrierten sich auf ßenden Diskussion nahm sich das Wechselspiel aktuelle skurrile bis pathologische Phänomene von Differenzierung und Entdifferenzierung dra­ der AV-Medien und ihrer Diskurse. Veit Spren­ matischer Effekte im medialen Ensemble von ger untersuchte Rollenschemata und Corporate Text, BOhne und Film aus. ln einem narrativ ge­ Designs von Helge Schneider. Ausgehend von haltenen Exkurs bot Klaus Theweleit am Exem­ der These, dass das Dispositiv »Off-Show« eine pel von Shakespeares »The Tempest« eine »Methode« ist, »die den Gegner irritiert«, ge­ neue Lektore des englischen Dichters und des wann er Erkenntnisse Ober die medienspezifi­ transatlantischen Diskurses an. Er entfaltete die sche Präsenz und Serialität dieses Protagonis­ Thesen, dass die Topoi Geheimdienst und Poe­ ten. Sprengers Resümee: Soloperformer wie tik literaturhistorisch erstmals bei Shakespeare Helge Schneider bedienen durch ein identitäts- Miszellen 59 stiftendes Arsenal an Styles und Images spezifi­ sehe Funktionskonzepte gerade an den Effekten sche Erwartungshaltungen und Leerstellen im der Affekte strukturell scheitern (müssen). Mithin Fernsehen. Auf der Basis einer psychoanaly­ ist in diesem Umstand wohl ein charakteristi­ tisch inspirierten Diskursanalyse skizzierte Tho­ sches Merkmal der vorgangigen Diskussion zu mas Morsch die diskursive Gemengelage um sehen. Und je mehr der Überlegungshintergrund den sexuellen Kindesmissbrauch. ln den 80er von Einzel- und Detailanalysen zu faszinieren und 90er Jahren sind Fragmente des sexuellen oder zu provozieren wusste, desto mehr ging die Kindesmissbrauchs als kulturelle Phanomene in - vermutlich ohnehin falsche - Aussicht auf eine Mediendiskurse integriert worden, etwa indem konsensfähige Theorie der »dunklen Seite« der die Pornografiedebatte revitalisiert und der pro­ Medien verlustig. Nicht zuletzt wegen der hier tektionistischen Pradisposition eine Struktur des aufgeworfenen Fragen bedarf es der fortge­ »romantischen Begehrens« implementiert wur­ setzten Auseinandersetzung mit diesem Prob­ de. Schließlich forderte Morsch neue asthetische lem. Ein konstruktiver Anfang wurde mit der Ta­ Prasentationscodes und Narrative der Inszenie­ gung gemacht. rung von Kindheit in Medien(diskursen) ein. Und Christian Filk, Köln Georg Christoph Tholen charakterisierte im Re­ kurs auf die Lacan'sche Psychoanalyse die Konstruktion des televisuellen Talks als einen Das Kulturarchiv der Hannoverschen »nach innen gewendeten Blick der Kontrollge­ Hochschulen sellschaft« beziehungsweise als eine »Selbstin­ Eine Dokumentations- und Forschungsstelle szenierung im panoptischen Blick«. Die Talk­ für die Medien show seit Mitte der 90er Jahre avanciert nach Tholen, durch das Prasenzpublikum entscharft, Seit gut vier Jahren gibt es in der niedersachsi­ zur »säkularisierten Beichte«, die als »sakulari­ schen Landeshauptstadt eine Einrichtung, die in siertes Surrogat des Religiösen« in der Gesell­ der Bundesrepublik in dieser Form einmalig sein schaft fungiert. dürfte: Drei Hannoversche Hochschulen, die U­ Last but not least standen die ambivalent zu niversitat Hannover, die Hochschule für Musik nennenden >Botschaften< der Online-Medien im und Theater und die Fachhochschule Hannover Zentrum der Tagung. An Beispielen verdeut­ (FHH) tragen gemeinsam ein Archiv, dessen lichte Helene Hecke, dass die so »hype« Netz­ Aufgabe die Sammlung, Archivierung und Do­ welt kaum etwas zu bieten hat, zumindest dann, kumentation kulturgeschichtlicher Materialien ist. wenn man sie an Messages aus der Fernseh­ Die Vorgeschichte des Archivs reicht bis in werbung für Online-Dienstleister, an Visionen die 80er Jahre zurück, als einige Doktoranden der Hypermediaumgebung oder an sich hyste­ und Projektmitarbeiter gemeinsam mit der Histo­ risch gerierenden Internetmythen misst. Als rikerin lrmgard Wilharm zum Bereich »Film und Quintessenz plädierte sie für eine Starkung der Geschichte«, insbesondere zu dem Thema »kritischen Urteilskraft« des Einzelnen. Schluss­ »Spielfilme als historische Quellen« arbeiteten. endlich befasste sich Björn Laser mit dem PM­ ln diesem Zusammenhang gerieten u.a. Nach­ nomen der durch E-Mail verbreiteten fingierten l::isse ehemaliger niedersachsischer Filmproduk­ Viruswarnung. Elektronische Virenwarnungen tionsfirmen in den Blick, die im Anschluss daran dienten ihm als Beispiel für die Dialektik von gesichert werden konnten: zum einen der Kontrolle und Kontrollverlust technischer Appa­ Nachlass der Junge Film-Union Bendestorf, der raturen . Im thematischen Kontext reprasentiert zunachst in der damaligen Landesmedienstelle sich die E-Maii-Viruswarnung als Moment einer aufbewahrt wurde, zum anderen die Materialien grassierenden Computerviren-Hysterie, im Text­ der Filmaufbau GmbH Göttingen, die in dan­ zusammenhang als eine sich selbst reproduzie­ kenswerter Weise der frühere Produzent und rende Struktur und im Verbreitungskontext als spatere Programmdirektor Deutsches Fernse­ Gerücht nach dem »Vom Hören und Sagen«­ hen Hans Abich zur Verfügung stellte. Motiv. Den organisatorischen Rahmen bildete ein im Die Analysen der Medienhysterien und ihrer Jahre 1989 gegründeter Verein, die Gesellschaft Diskurse sowie die Analysen medialer Dysfunk­ für Filmstudien e.V. (GFS) Hannover, die für ei­ tionalitäten haben nachdrücklich gezeigt, dass nige Jahre in drei kleinen Raumen der Musik­ die vage Chiffre »Die dunkle Seite der Medien« hochschule arbeiten konnte. Erfolgreiche Pro­ sehr verschiedene Bearbeitungsmöglichkeiten jekte, neben den Nachlassaufarbeitungen vor eröffnet. Ein eindrucksvolles Resultat stellte da­ allem die Ausstellungen »Lichtspieltraume. Kino bei die Vielfältigkeit der Perspektiven dar, mit in Hannover 1896-1991 « und »Wir Wunderkin­ denen die Referentinnen und Referenten ihren der. 100 Jahre Filmproduktion in Niedersach­ Themen nachgingen. Man konnte sich kaum des sen«, sowie entsprechende Publikationen führ• Eindrucks erwehren, dass »etablierte« theoreti- ten nicht nur zu einem weiteren Materialzu- 60 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) wachs, sondern auch zu einer verstarkten öf• - Filmarchiv. Dieses Prasenzarchiv für die wis­ fentlichen Anerkennung und Wertschatzung. senschaftliche Forschung beinhaltet ca. 3 000 Nicht zuletzt aus den genannten Hochschulen Filmkopien, überwiegend Video-Formate, aber wurde der Wunsch laut, die kulturhistorisch­ auch 16mm- und 35mm-Filmkopien, die im Ar­ archivarische und mediengeschichtliche Arbeit in chiv gesichtet werden können. einer Institution mit einer Planstelle zu verfesti­ - Tonarchiv. Dieser Komplex umfasst haupt­ gen. Im Jahre 1995 gelang es schließlich, ein sachlich rund 500 Tantrager der ehemaligen Kulturarchiv als Betriebseinheit der drei Hoch­ Landesmedienstelle, die für den Unterrichtsein­ schulen zu gründen. Im Rahmen des Fachhoch­ satz gedacht waren, sowie jüngst vom Staatsar­ schui-Entwicklungsprogramms erfolgte die orga­ chiv Bremen übernommene etwa 1 500 Tonban­ nisatorische Anbindung an den Fachbereich In­ der mit Sendungen von Radio Bremen, die von formations- und Kommunikationswesen (IK) der 1947 bis Anfang der 70er Jahre ausgestrahlt FHH, ein Fachbereich, an dem u.a. Dokumenta­ wurden. re ausgebildet werden. Die GFS brachte ihre - Fotoarchiv. Szenen- und Werkfotos aus Fil­ Materialien zur weiteren Bearbeitung und Pflege men, Schauspielerportrats etc. in das Kulturarchiv ein und erhielt im Gegenzug - Plakatarchiv. Vornehmlich Filmplakate. das Recht, die neuen Raumlichkeiten für Ver­ - Biografische Sammlung. Personen, Firmen einsarbeit und Projekte zu nutzen.1 der Filmgeschichte. Die Aufgaben, die das Kulturarchiv laut Grün• - Pressearchiv Film. Rezensionen, Filmpro­ dungsvereinbarung wahrzunehmen hat, sind al­ grammhefte etc. lerdings nicht nur auf das Medium Film bezogen: - Sammlung Niedersachsische Kinogeschich­ Es sollen diejenigen Schriftgut-, Bild-, Ton- und te. Filmmaterialien gesammelt, archiviert und do­ - Zeitschriftenarchiv. Vornehmlich Filmfach­ kumentiert werden, die nicht zum Sammlungsbe­ zeitschriften. reich staatlicher Archive gehören. Die Abgren­ - lnstitutsbibliothek. Vornehmlich die Bereiche zung zu staatlichen Archiven macht Absprachen Dokumentation, Archivierung, Film I Fernsehen in Einzelfällen sinnvoll und notwendig, wie bei­ und Theater. spielsweise bei dem Nachlass der Junge Film­ Aus der Übersicht wird deutlich, dass der Union Bendestorf, der nach Auflösung der Lan­ Schwerpunkt des Archivs im Bereich Film liegt. desmedienstelle Eigentum des Niedersachsi­ Nur hier werden zur Zeit über Nachlasse hinaus schen Hauptstaatsarchivs wurde, welches den systematische Sammlungen gepflegt. Die Do­ Nachlass dem Kulturarchiv als Leihgabe über• kumentation erfolgt datenbankgestützt mit dem ließ. Im übrigen versteht sich das Kulturarchiv Programm »MS Access«. vornehmlich als Regionalarchiv für den nieder­ Neben den genannten inhaltlichen Schwer­ sachsischen bzw. norddeutschen Raum. punktsetzungen liegt die Besonderheit des Kul­ Zu den wichtigsten Bestanden zahlen: turarchivs darin, dass die Arbeit eng mit der - Nachlässe der Filmproduktionsfirmen: Junge Ausbildung an den beteiligten Hochschulen ver­ Film-Union Bendestorf (1947-1952, u.a. »Die bunden ist. Erschließung, Dokumentation und Sünderin«), Filmaufbau GmbH Göttingen (1946- Archivierung der Materialien wird im wesentli­ 1960, u.a. »Wir Wunderkinder«, »Die Budden­ chen durch Praktikanten und Diplomanden (vor­ brooks«), Rudolf W. Kipp (norddeutscher Doku­ nehmlich, aber nicht nur Studierende des Fach­ mentarfilmproduzent, u.a. »Asylrecht«, 1949). bereichs IK der FHH) sowie mit Hilfe von Pro­ Die Nachlasse umfassen vor allem Planungs-, jektmitarbeitern geleistet, die vom Leiter des Produktions- und Rezeptionsunterlagen zu den Kulturarchivs angeleitet und betreut werden. ln jeweiligen Filmen. Die Materialien sind durch diesem Sinne hat das Kulturarchiv den Charak­ Findbücher bzw. Datenbanken erschlossen und ter einer Ausbildungswerkstatt Zum anderen umfassen zwischen 300 und 800 Archivbehält• wird die kulturgeschichtliche Forschung der be­ nisse bzw. Dokumentationseinheiten. teiligten Hochschulen aktiv durch den Leiter des - Geschäftsnachlass der Volksbühne Hanno­ Kulturarchivs unterstützt. Dies geschieht nicht ver e.V. ( 1949-1995). Dieser jüngst erschlosse­ nur durch die Betreuung von Forschungsinteres­ ne Nachlass dokumentiert die Arbeit der nach sierten, die das Archiv aufsuchen. Vielmehr Berlin zweitgrößten bundesdeutschen Volks­ werden entsprechende Fragestellungen, The­ bühne in der Nachkriegszeit. Neben der kom­ men und Anregungen, sich mit neuem Material pletten Vereinszeitschrift weist der Bestand ca. zu befassen, in die Hochschulen getragen. Dies 300 Akteneinheiten auf sowie eine historisch ge­ geschieht sowohl durch Info-Post als auch durch wachsene Vereinsbibliothek. Der Gesamtnach­ Einführungs-, Vortrags- und Lehrveranstaltun­ lass wurde gemeinsam mit dem Seminar für gen sowie entsprechende Kooperationen mit Deutsche Literatur und Sprache der Universität Hochschullehrern, die vom Leiter des Kulturar­ Hannover vom Kulturarchiv übernommen. chivs initiiert und organisisert werden. 2 Darüber Miszellen 61 hinaus wird das Archiv auch von kulturhistorisch »Fragen der Entwicklung der sozialistischen Li­ interessierten Einzelpersonen genutzt, die nicht teratur und Kultur«, die er vor Schriftstellern, von hannoverschen Hochschulen kommen, so­ Künstlern, Funktionären und Arbeitsbrigaden im wie von Verlagen, Rundfunk- und Fernsehan­ Elektrochemischen Kombinat hielt, die Schrift­ bietern, sowie weiteren Institutionen. steller und Künstler auf, »selbst am sozialisti­ Kontakt: Kulturarchiv, Leitung: Dr. Peter schen Aufbau teil[zu]nehmen« und »Zirkel des Stettner, Hanomagstr. 8, 30449 Hannover, Tel.: schreibenden Arbeiters« zu organisieren und zu 0511-9296433, Fax: 0511-9296434, E-Mail: Pe­ fördern. 3 Die professionellen Schriftsteller sollten ter. Stettner@ik. fh-hannover.de, www. ik.fh-han­ dazu in die Betriebe gehen und mit Brigaden zu­ nover.de/iklkultarch/kultur.htm. sammenarbeiten, die Arbeiter der Chemiekom­ Peter Stettner, Hannover binate selbst als Autoren ihre Erfahrungen im Produktionsbereich literarisch gestalten. Damit Zu nennen ist hier etwa das bundesweite Projekt sollte die Trennung von Kunst und Leben aufge­ »Deutsche Filmografie«, innerhalb dessen die hoben, Hand- und Kopfarbeit einander angenä• GFS den Zeitraum von 1933 bis 1945 erarbeitet hert werden. hat: eine Basisdokumentation für alle in Deutsch­ Beim »Bitterfelder Weg« handelte es sich land produzierten und/oder aufgeführten Filme, »um eine von oben initiierte Kampagne zur ideo­ einschließlich der Kurz- und Dokumentarfilmpro­ logisch-politischen Abstützung eines Wirt­ duktion. schaftsprogramms und zur Mobilisierung der Be­ 2 Die Vielfältigkeit der Aufgaben, die hier nur in den reitschaft der Arbeiter, im sozialistischen Wett­ Grundzügen aufgeführt ist, und die Tatsache, bewerb Höchstleistungen zu erstreben.«4 Für dass der Leiter des Archivs auch dessen einziger die Buchliteratur galt, dass die Bitterfelder Politik Festangestellter ist, setzen der Arbeit allerdings nicht die gewünschte Wirkung zeigte: »Die kul­ auch Grenzen. turpolitischen Widersprüche wuchsen, weil die karge Bitterfelder Programmatik literarischen, also ästhetischen, Ansprüchen nicht genügte.«5 Der» Bitterfelder Weg« im DDR-Hörfunk Das Ende dieser Bitterfelder Bewegung doku­ Forschungsprojekt an der mentiert die »Bitterfelder Konferenz« vom 24./ Universität Mannheim 25. April1964, auf der Ulbricht das Scheitern der Konzeption mehr oder weniger indirekt einge­ Im Januar 2000 startete an der Fakultät für So­ stehen musste. zialwissenschaften der Universität Mannheim das Projekt »Direktive Kulturpolitik und literari­ Die Medienpolitik der DDR in den 50er Jahren sche Praxis im DDR-Hörfunk: Der Bitterfelder war geprägt von dem Zwiespalt, den Aufbau des Weg (1958/59 -1964)«. Das Projekt ist am Sozialismus' zu betreiben und sich vom Westen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Zeit­ abzugrenzen, doch gleichzeitig einer gesamt­ geschichte angesiedelt und wurde in themati­ deutschen Orientierung Rechnung zu tragen: scher Anbindung an Studien zur DDR-Geschich­ »Westliche Stationen sind Vorbilder und Übel te am Mannheimer Zentrum für empirische Sozi­ zugleich.«6 alforschung (MZES) entwickelt.1 Da im An­ Die Umsetzung des »Bitterfelder Weges« im schluss an die Analyse des Hörfunkangebots DDR-Hörfunk stellt ein Forschungsdesiderat dar, eine vergleichende Studie zum »Bitterfelder das durch das Projekt, das die Trinität »Politik - Weg« vorgesehen ist, steht das Mannheimer Rundfunk - Literatur« in dieser besonderen kul­ Vorhaben auch in Verbindung mit dem breit an­ turpolitischen Phase untersucht, aufgearbeitet gelegten Forschungsprojekt der Universitäten werden soll. Die Materiallage ist äußerst günstig, Leipzig, Halle-Wittenberg, der Humboldt-Univer­ da die Archivalien des DDR-Rundfunks für den sität zu Berlin und der Hochschule für Fernse­ Zeitraum der Bitterfelder Beschlüsse nahezu hen und Film in Potsdam zur vergleichenden komplett vorliegen. Durch sie, die direkt in die Programmgeschichte des Fernsehens von DDR Kultur- und Medienpolitik der DDR eingriffen, und Bundesrepublik.2 Weiterhin ergibt sich aus bietet sich die außergewöhnliche Möglichkeit, thematischen Bezügen eine Zusammenarbeit einen Zeitraum zu erschließen, der stellvertre­ mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung tend für die Kulturpolitik in der DDR steht. Am in Potsdam, an dem auch ehemalige Mitarbeiter Beispiel des »Bitterfelder Wegs« kann empirisch des MZES tätig sind. durch eine Quellenanalyse die Umsetzung von Die kulturpolitischen Weichen für den »Bit­ politischen Maßgaben, der Versuch einer Ideo­ terfelder Weg« wurden mit dem fünften Parteitag logisierung in der kulturellen und medialen Rea­ der SED 1958 und mit der »1. Bitterfelder Konfe­ lität nachgewiesen werden. renz« am 24. April 1959 gestellt. 1959 forderte Dabei ergeben sich grundsätzliche Erkennt­ Walter Ulbricht in seiner »Bitterfelder Rede« zu nisse über die politische Funktion von medialer 62 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Literaturvermittlung in einem von totalem Durch­ 4 Ebd., S. 87. dringungs- und Herrschaftsanspruch gepragten 5 Joachim-Rüdiger Groth: Widersprüche. Literatur System. Nicht die allseits bekannte Tatsache, und Politik in der DDR 1949-1989. Frankfurt am dass der DDR-Staat eine manipulative Kultur­ Main u.a. 1996, S. 67. und Rundfunkpolitik betrieben hat, soll bestatigt werden, entscheidend ist vielmehr, das »Wie« 6 Rolf Geserik: Wettkampf der Systeme. Hörfunk und Fernsehen in der DDR von 1952 bis 1982. ln: der Strategien, Strukturen und Muster auf den ARD-Jahrbuch 1991, S. 44-55, hier: S. 44. verschiedenen Ebenen »Kulturpolitik, Hörfunk und Sprache« offenzulegen. Den Intentionen der Hörfunkverantwortlichen, wie ideologieimmanen­ te Argumentationen, parteipolitische und wirt­ »Geschichte und Ästhetik des schaftliche Interessen, stehen die Autoren mit dokumentarischen Films in ihrer literarischen Eigendynamik sowie die sozi­ Deutschland 1895 - 1945« ale und politische Wirklichkeit gegenüber. Es gilt Ein DFG-Forschungsprojekt zu prüfen, inwieweit die kultur- und literaturpoliti­ schen Sendungen tatsachlich der offiziellen kul­ Filmgeschichten behandeln bisher in erster Linie turpolitischen Vorgabe des Bitterfelder Modells den Spielfilm. Eine umfassende Geschichte des entsprachen oder ob nicht eigenständige Kam­ nicht-fiktionalen Films in Deutschland - insbe­ munikationsformen entstanden sind . Die Frage sondere vor 1960 - sucht man vergeblich. Die nach der Intensität bei der Verknüpfung von po­ Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter­ litischer Doktrin und literarischer Praxis in den stützt deshalb ein großangelegtes Forschungs­ Medien ist von zentralem Forschungsinteresse. projekt unter Federführung des Wissenschaftli­ »Der Bitterfelder Weg« ist auch im Hinblick chen Leiters des Hauses des Dokumentarfilms, auf weiterführende vergleichende Medien- und Peter Zimmermann, das diese Lücke schließen Literaturforschung aufschlussreich: Wie das soll. Es wird die wichtigsten Perioden der Ge­ Bitterfelder Modell - im Rückgriff auf die Traditi­ schichte des dokumentarischen Films in on der Arbeiterkorrespondenten und Avantgar­ Deutschland zunachst von den Anfangen bis debewegung in der Weimarer Republik- »Kunst 1945 erforschen. Mitantragsteller sind Martin und Leben« verknüpfen wollte, entstand in der Leiperdinger von der Universitat Trier, ein aus­ Bundesrepublik im Rahmen der 68er-Bewegung gewiesener Experte für die Frühzeit des Kinos dokumentarische Literatur und Arbeiterliteratur und des Dritten Reiches. Er ist einer der Her­ als Ausdruck eines neuen Wlrklichkeitsbegriffs, ausgeber des KINtop-Jahrbuchs zum frühen der sowohl die Aufgabe des Rundfunks als auch Film in Deutschland und hat gerade eine detail­ das Selbstverständnis der Literatur änderte. Die lierte Studie zur Zusammenarbeit der Lumieres Forschungsperspektive des Projekts liegt auf der und dem Kölner Schokoladenkonzern Gebrüder Kommunikatorseite: bei der Kommunikatororga­ Stollwerck veröffentlicht. Er wird sich mit seinen nisation mit den Medienangeboten der Schrift­ Mitarbeitern auf die frühe Entwicklung im Kaiser­ steller. Der umfassende Ansatz deckt Interferen­ reich (1895 - 1918) konzentrieren. Klaus Krei­ zen zwischen kulturellen, politischen und medi­ meier von der Universitat Gesamthochschule alen Konsequenzen sowie Kausalitäten auf, die Siegen wird mit seinem Team den dokumentari­ in den Einzeldisziplinen sonst häufig nur ge­ schen Film in der Weimarer Republik (1918- trennt untersucht werden. 1933) aufarbeiten. Nach dem beruflichen Start lngrid Scheffler, Mannheim beim Hessischen Rundfunk war Kreimeier lange Zeit als Filmpublizist tätig. 1979 löste ein Artikel 1 Siehe insbesondere das Forschungsprojekt »In­ in der >Zeit< über neuere Entwicklungen im deut­ tentionen, Methoden und Dimensionen innerpar­ schen Dokumentarfilm die berühmte Kreimeier­ teilicher >Säuberungen< im kommunistischen Herr­ WIIdenhahn-Debatte aus. 1992 publizierte er schaftssystem« von Hermann Weber und Ulrich »Die Ufa-Geschichte«. Im Haus des Dokumen­ Mählert. Vgl. Egbert Jahn u.a. (Hrsg.): Jahrbuch tarfilms werden die Jahre des Dritten Reiches für Historische Kommunismusforschung 1999. Berlin 1999. (1933 - 1945) und seiner Kulturfilmproduktion sowie der Wochenschau erforscht. Insgesamt 2 Vgl. Programmgeschichte des Fernsehens - kom­ arbeiten mehr als ein Dutzend Filmwissen­ paristisch. ln: RuG Jg. 25 (1999) , H. 4, S. 274. schaftler und Archivare an diesem Projekt mit; 3 Vgl. Joachim-Rüdiger Groth/Karin Groth: Kultur­ im Jahr 2003 sollen die Ergebnisse in einer drei­ politik in der DDR. Ein Überblick. ln: Dies. : Mate­ bändigen Buchpublikation inklusive einer Filme­ rialien zu Literatur im Widerspruch. Gedichte und graphie auf CD-ROM veröffentlicht werden. Prosa aus 40 Jahren DDR. Kulturpolitischer Über• Eine wichtige Basis für die Forschungen ist blick und Interpretationen. Köln 1993, S. 16-19. die in den vergangenen Jahren von verschiede­ nen Institutionen erstellte Deutsche Filmogra- Miszeffen 63 phie, die grundlegende Informationen zum doku­ Kampfhandlungen oft nachinszeniert wurde und mentarischen Film enthalt. Diese Datenbank ba­ keineswegs so authentisch ist, wie es scheint. siert im wesentlichen auf der Auswertung der Auch für die Weimarer Republik hat sich die Zensurlisten. Dies bedeutet aber auch, dass es bisherige Forschung auf den Spielfilm und seine keine inhaltlichen Beschreibungen gibt und kei­ Produktions- und Rezeptionsbedingungen kon­ nen Nachweis, welche Filme heute noch wo er­ zentriert. Die breite Palette an Kulturfilmen, halten sind. Für die Zeit des Dritten Reiches sind Lehr- und Unterrichtsfilmen ist bisher nicht sys­ zum Beispiel 864 lange Dokumentarfilme über tematisch erfasst. Es gibt Einzelstudien, die sich 1 000 Meter (ca. 36 Min.), über 11 000 kurze aber oft auf Personen wie Walter Ruttmann oder Dokumentarfilme und 4 000 deutsche Wochen­ Subgenres wie die experimentellen Ansatze des schauen nachgewiesen. Eine weitere Basis ist Avantgardefilms konzentrieren. Relativ umfang­ die enge Zusammenarbeit mit Filmarchiven in reiche Studien gibt es zur Ufa, die ja 1919 eine Deutschland. Dies gilt insbesondere für das eigene Kulturabteilung gründete. Die Bedeutung Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin, das das Pro­ dieses Genres wird durch »Das Kulturfilmbuch« jekt und die Sichtungen im Archiv als Kooperati­ von 1924 unterstrichen, in dem die ganze Band­ onspartner erst möglich macht; unerlasslich ist breite dargestellt wird. Der Kulturfilm wird als ty­ außerdem das freundliche Entgegenkommen pisch deutsche Ausformung des dokumentari­ der Rechteinhaber und nicht zuletzt der Fried­ schen Films gesehen, wobei es zu einer Vielzahl rich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden. von Spezialisierungen kommt (z.B. Naturfilm, Auch wird das Projekt von zahlreichen weiteren Tierfilm, Lehr- und Unterrichtsfilm, Wissen­ Institutionen unterstützt wie unter anderem von schaftsfilm, Laborfilm, lndustriefilm, Sportfilm, Cinegraph Hamburg, dem Deutschen Filminstitut Medizinfilm, Reise- und Expeditionsfilm, Koloni­ in Frankfurt am Main, der Stiftung Deutsche Ki­ alfilm, Volkskundlicher Film, Kunst- und Archi­ nemathek in Berlin und der Kinemathek Ruhrge­ tekturfilm, Stadte- und Reklamefilm, Hygiene­ biet film). Ziel ist es, Wissen kurzweilig zu vermitteln. Die Entwicklung des dokumentarischen Films Deswegen kommt es sehr früh zur Vermischung ist mit den großen Umbrüchen der deutschen verschiedener Formen, etwa durch den Einbau Geschichte eng verbunden, wobei sich für die inszenierter Rahmenhandlungen oder aufwendi­ verschiedenen Perioden unterschiedliche He­ ger Trickaufnahmen. Der Kulturfilm wird über• rangehensweisen ergeben. ln der Kaiserzeit er­ wiegend von spezialisierten Produktionsfirmen gibt sich eine Forschungslücke insbesondere (z.B. Cürlis, Schonger, Rikli, Schomburgk) her­ zwischen den Anfängen 1895/96, zu denen eini­ gestellt, die zum Teil aufwendige Kamera- und ges veröffentlicht wurde, und den Jahren von Tricktechnik einsetzen, um zu guten Resultaten 1908 bis 1910, als sich das Kino etablierte und zu kommen. sich sowohl der lange Spielfilm als auch der Das Dritte Reich stellt im Hinblick auf den Verleih von Filmen durchsetzte. Die rund 140 dokumentarischen Film keinen tiefgreifenden bisher erschienen Lokalstudien zur Kinoge­ Einschnitt dar, sondern ist weit starker durch schichte konzentrieren sich auf die Kinobetreiber Kontinuitat gepragt. Zwar wird die Reichsfilm­ und die Örtlichkeiten. Programmgeschichtliche kammer geschaffen, die eine zentrale Kontrolle Studien fehlen ebenso wie ein Vergleich des Ki­ darstellt und jüdische Filmschaffende ebenso noangebots mit den übrigen Unterhaltungs- und wie Missliebige von der Produktion ausschließt. Freizeitformen. Bis 1914 dominierten auslandi­ Doch ahnlieh wie beim Spielfilm sind auch im sche Unternehmen den Markt mit Aktualitaten, nicht-fiktionalen Bereich reine Propagandafilme Stadte-, Reise- und Naturbildern, die aber durch­ wie >Das Erbe< (1935), >Ewiger Wald< (1936), aus in Deutschland gedreht wurden. Unter den >Der ewige Jude< (1940), >Feuertaufe< (1940), Sujets ist vor allem der Deutsche Kaiser zu nen­ >Sieg im Westen< (1941) oder >Feldzug in Polen< nen, der nach einer Aufstellung Herbert Biretts eher die Ausnahme - sieht man einmal von der bis 1911 in 118 Filmen zu sehen ist. Für dieses Wochenschau ab, die zumindest nach Beginn Teilprojekt sind Grundlagenforschungen dazu des Zweiten Weltkriegs eine wichtige politische notwendig, welche Kurzfilmprogramme in den Funktion bekam. Bisherige Filmgeschichten kon­ Varietes und von Wanderkinematographen ge­ zentrieren sich auf diese Propagandafilme und zeigt wurden. Außerdem fehlen Firmenge­ stellen für den Dokumentarfilm vor allem Leni schichten zum frühen Film, die erarbeitet werden Riefenstahl und Walter Ruttmann in den Mittel­ müssten, wobei hier die Quellenlage außerst punkt. Ihre fünf Filme, die Leni Riefenstahl im schwierig ist. Im Ersten Weltkrieg etablierten Dritten Reich produziert hat, waren stilbildend - sich dann deutsche Unternehmen wie die insbesondere >Triumph des Willens< (1934/35) Meester-Woche oder Eiko, wobei Historiker und ihre beiden >Oiympia<-Filme (1938). Dies lag nachgewiesen haben, dass das Material von an ihrem modernen Schnitt ebenso wie an der exzellenten Kameraarbeit, die von Kameraleuten 64 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) der Freiburger Schule um den Bergfilmer Arnold sen, inzwischen ist sie Ausdruck von Normalität Fanck beigesteuert wurde. Doch die Masse der im vereinten Berlin. ». ..und plötzlich war die 12 000 Filme sah anders aus und folgte Kon­ Mauer weg!«, zitiert >88Acht! - Das Stadtradio< ventionen, die in den 20er Jahren entwickelt und des Senders Freies Berlin (SFB) einen nicht nä• auch nach 1945 noch lange beibehalten wurden. her bestimmten Zeitzeugen und wählt diesen Es blieb auch bei einer Vielfalt kleinerer und Ausspruch als Titel einer Sendung zum zehnten größerer Produktionsfirmen, die nur schwer Jahrestag der Grenzöffnung am 9. November gleichgeschaltet werden konnten. Erst im August 1999.1 Die Refrainzeile aus einem Marlene­ 1940 wurde die Deutsche Kulturfilmzentrale ge­ Dietrich-Lied ». .. wo sind sie geblieben?« hätte gründet, die die Produktion besser koordinieren allerdings auch ein passendes Motto für die und kontrollieren sollte. Interessante Aspekte Produktion geliefert, denn es sollte in der vier­ sind das Verhältnis der Nationalsozialisten zur stündigen Nostalgie-Revue um die einst in der Moderne und Avantgarde, das längst nicht so Stadt ansässigen Militärradios der vier Alliierten ablehnend war, wie man bislang meinte. Dies gehen. American Forces Network (AFN), British zeigt sich auch daran, dass »linke« Filmemacher Forces Broadcasting Service (BFBS), Forces wie Walter Ruttmann, Wilfried Basse, Carl Jung­ Fran9aises de Berlin (FFB) und Radio Wolga hans oder Willy Zielke noch lange weitergear­ waren angekündigt, jeweils eine Stunde Pro­ beitet haben, ihren modernen Stil beibehalten gramm zu gestalten und sich zu erinnern, wie es konnten und noch 1936/37 im offiziellen Organ war- damals, als die Mauer noch stand und wie >Der Deutsche Film< als Avantgardisten gewür• sie durchlässig wurde. Die Idee zur Sendung digt wurden. stammte von Heidi Brauer, einem eingefleisch­ Interessant ist gerade für den dokumentari­ ten BFBS-Fan aus dem Osten Berlins, für die schen Film ein weiterer Aspekt: Durch die ge­ das Hören des Programms durch all die Jahre schichtlichen Umbrüche von 1933 und 1945 nach eigenem Bekunden ein »Tor zur Freiheit« wurde das, was vorher als wahr und wirklich­ gewesen war. keitsgetreu gegolten hatte, hinterher zur Propa­ Den Auftakt machte BFBS und dessen ehe­ gandalüge und ideologischen Verfälschung er­ maliger Sendedirektor Peter McDonagh, selbst klärt und durch ein neues dokumentarisches Pa­ ein gebürtiger Berliner, live aus dem Alliierten­ radigma ersetzt. Das Dokumentarische erweist Museum an der Clayallee. Traurig sei er zu­ sich damit als eine Qualität, die den Filmen nicht nächst gewesen, als er vom Mauerfall hörte, er­ ein für allemal eingeschrieben ist, sondern die innert sich der Rundfunkmann, denn er habe im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess gewusst, dass dies das »Ende eines Stückchens stets neu diskutiert und problematisiert werden Geschichte« ist. »Hello Goodbye« sangen denn muss. auch die Beatles, und McDonagh spielte Aus­ Die geplante Filmgeschichte ist jedoch nicht schnitte aus der BFBS-Reportage, die Redak­ nur aus filmhistorischen, sondern auch aus me­ teur Patrick Eade am Tag aller Tage nicht ohne dienpädagogischen Gründen sowie für die au­ Euphorie vom Brandenburger Tor aus übermit• diovisuelle Vermittlung der Zeitgeschichte des telt hatte. Durch die Schilderungen des damali­ 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung. Als An­ gen Chefreporters Robin Merrill erfuhr der Hörer schlussprojekt ist daher eine wissenschaftlich­ aus erster Hand, in welcher völligen Überra• kommentierte Videoedition einiger wichtiger Fil­ schungssituation die Berichterstattung zum Fall me dieses Zeitraums geplant, die die Filmdoku­ der Mauer seinerzeit organisiert wurde - ein mente für medienpädagogische Zwecke verfüg• wahrer Journalistenhimmel! bar macht. Perspektivisch soll dann die Erar­ Näher an die Militärradios, die ja im Mittel­ beitung der Geschichte des dokumentarischen punkt stehen sollten, rückte die 88Acht!­ Films von 1945 bis zur Gegenwart fortgesetzt Sondersendung in den folgenden drei Stunden werden. dann kaum mehr heran. Ja, AFN war einmal ei­ Kay Hoffmann, Stuttgart nes der beliebtesten Hörfunkangebote in Berlin, konnte dessen früherer Programmdirektor Mark White bestätigen, und erhielt sogar noch nach Fehlgeschlagene Radioarchäologie dem Mauerbau Fanbriefe aus der DDR. Gespielt Vom Verschwinden der Berliner wurde vor allem Swing- und Country-Musik aus Militärradios zehn Jahre nach dem Mauerfall den 50er und 60er Jahren, wohl ein Zugeständ• nis an das eher ältere Publikum von 88Acht!, Der Verkehrsfunk meldet eine Sperrung des das an den aktuellen Pop-Formaten von AFN Brandenburger Tores und bittet, den Pariser und BFBS wahrscheinlich keine große Freude Platz weiträumig zu umfahren. Zehn Jahre zuvor gehabt hätte. wäre diese Durchsage reiner Zynismus gewe- Was für Musik im russischen Truppenbetreu­ ungsprogramm Radio Wolga gespielt wurde, Miszeffen 65

blieb völlig unklar. Als Interviewgast geladen war Neuesaus »CIBAR-Land« Wladimir Ostrogorski, ein ehemaliger Mitarbeiter 15. »Conference of International von Radio Moskau und heute Berliner Korres­ Broadcasters' Audience Research pondent von dessen Nachfolger, de~ . Stimme Services« (CIBAR) in Genf Russlands. Radio Wolga wurde dabe1 1m Dun­ keln gelassen. Waren dort meist Aufnahmen des Was Anfang der 80er Jahre als informelles Bü• Ensembles der Schwarzmeerflotte zu hören, wie rotreffen einer Handvoll Medienforscher begann, der Eröffnungstitel der dritten Sendestunde _sug­ entwickelt sich immer mehr zur festen Einrich­ gerierte? Oder Elton Johns »Nikita<~ oder ~1lbert tung mit weltweitem Teilnehmerkreis. Letzt~s Becauds »Natalie«? Die Geschichte d1eses Jahr fand bereits die 15. »CIBAR« statt, d1e Senders der gemeinsam mit seinen westlichen Konferenz der Medienforscher der Auslands­ 1994 Berlin bzw. Potsdam verließ, ist Pendant~ rundfunkorganisationen. Knapp 40 Delegierte noch ungeschrieben. Zumindest erfuhr man, von 22 Veranstaltern trafen sich vom 10. bis dass Radio Wolga nach der »Wende« in der zum 12. November 1999 bei der Europaischen DDR begann, auch einige Beiträge in deutscher Rundfunk-Union (European Broadcasting Union, Sprache auszustrahlen, um die Beziehungen zur EBU) in Genf. Wie jedes Jahr standen der fach­ Zivilbevölkerung zu verbessern. liche Austausch und die Vorstellung neuer Pro­ Ähnlich wenige Spuren hat das französische jekte und Forschungsergebnisse i_m Vorder­ Militärradio FFB hinterlassen, das Aufhänger der grund; diesmal auch die Selbstreflex1on: ln we~­ vierten Stunde der 88Acht!-Sondersendung war. cher Form soll sich die CIBAR in Zukunft organi­ Jean-Marie Weiss, der ehemalige Pressespre­ satorisch präsentieren, um die gewachsenen cher der französischen Streitkräfte in Berlin, und Herausforderungen der weltweiten Publikums­ Kari-Aibert Walk, Mitarbeiter des deutschen forschung auch weiterhin annehmen zu können? Dienstes von Radio France Internationale, schil­ Die Vorträge und Prasentationen deckten das derten ihre eigenen Reaktionen auf die Grenz­ ausdifferenzierte Arbeitsfeld der internationalen öffnung wie auch die des politischen Frankreich Medienforschung in ihrer Breite und in ihrer und die des »hemme de Ia rue« . Der Bezug zu Tiefe ab. Ein Fenster widmete sich der Rolle des FFB schien der zu sein, dass die Moderatorin Krisenrundfunks in der Balkan-Region während Marion Hanel seinerzeit selbst für den Sender des Kosovo-Krieges. Hörfunksendungen aus tätig gewesen war. Mehr zum Gegenstand war dem westlichen Ausland entwickelten sich dort nicht zu erfahren. zur wichtigsten Informationsquelle mit beein­ Insgesamt erscheint die SFB-Sendung, trotz druckenden Nutzungsraten - und sind es bis der charmanten Idee, als eine verschenkte Ge­ heute. Die Vorträge machten wieder einmal legenheit. Statt einer Reise in die Geschichte deutlich, unter welch enormen Schwierigkeiten von vier einzigartigen früheren Lokalsendern, Medienforschung für Auslandsrundfunk oftmals statt radiophonischer Stadtarchäologie, präsen• durchgeführt wird, nicht nur im Kosovo. Zu be­ tierte 88Acht! auswechselbare Standarderzäh• wältigen sind Probleme methodelogischer und lungen des Mauerfalls, wie sie an jene~ ~ag organisatorischer, aber auch interkultureller und x-mal auch woanders zu hören waren: Platzlieh infrastruktureller Art. Oft genug fehlen schlicht war die Mauer weg und alle Welt war gerührt die Straßen, um Befragte leicht erreichen zu und verwundert. Das selbst gewählte und breit können. angekündigte Thema »alliierte Militärradios« Die Arbeit der Medienforschung für Auslands­ wurde so größtenteils verfehlt. Vielleicht ist dies rundfunk beschränkt sich längst nicht auf die Er­ aber auch nur der Hinweis darauf, wie wenig von mittlung von Hörfunk- und Fernsehreichweiten diesen Sendern überliefert ist, insbesondere von oder Daten zur Programmoptimierung. Auch der Radio Wolga und Forces Francaises de Berlin. Geschäftsführung muss sie Vorlagen liefern - Wo sind sie geblieben? besonders wenn Regierungen (als Finanziers) Oliver Zöllner, Köln den Nutzen des Auslandsrundfunks nicht mehr einsehen mögen. Vor wenigen Jahren erst war 1 » ... und plötzlich war die Mauer weg!«, SFB 88Acht!- Das Stadtradio, 9.11.1999, 9.05-13.00 Radio Canada International (RCI) von Schlie­ Uhr. ßung bedroht; seit 1999 steht die Deutsche Wel­ le (DW) vor bedrohlichen Haushaltskürzungen. Forscher der beiden Häuser skizzierten die Ent­ wicklungen und verwiesen darauf, wi~ ihre ~ut­ terorganisationen Forschungsergebnisse nicht nur zur verbesserten Marktpositionierung ver­ wenden sondern auch zur Scharfung des Be­ wusstse'ins nach außen beigetragen haben, wie 66 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) wichtig Auslandsrundfunk als freies Informati­ auch im Heimatland Großbritannien empfangbar onsmedium und Korrektivorgan von Propaganda zu sein. Unter dem Namen British Forces Net­ sowie als Vermittler des Images ist. work (BFN) waren von April 1999 bis April 2000 Vertreter von Voice of America (VOA), Canal an vier Garnisonsorten in Großbritannien jeweils France International (CFI) und des amerikani­ für zweimal vier Wochen BFBS-Produktionen via schen InterMedia-Instituts stellten in Fallstudien UKW zu hören. Die Sendeanlagen wurden direkt neuere Ansatze zur Ermittlung »indirekter« Hör• vom britischen Heer betrieben. funk- und Fernsehpublika via Rebroadcasting Bisher beschrankte sich der Programmver­ vor. Die weiter wachsende Rolle der Forschung anstalter Services Sound and Vision Gorparation für die Programmstrategie wurde exemplarisch (SSVC) auf Stationierungsgebiete britischer Sol­ von Radio Free EuropetRadio Liberty (RFE/RL), daten in Übersee. 1 Der Schritt auf die britische dem BBC World Service und dem United States Insel hatte drei Zielsetzungen: Erstens hatten Broadcasting Board of Governors dargelegt. heimatstationierte und »BFBS-sozialisierte« Sol­ Wissenschaftler von Radio France Internationale daten immer wieder nach den vertrauten Tönen (RFI), CFI und Radio Free Asia (RFA) gingen des Truppenbetreuungsprogramms verlangt; dem Publikumsverhalten im trankaphonen Afri­ dieser Wunsch konnte nun erfüllt werden. Zwei­ ka, in China und bei der Internet-Nutzung nach, tens sollte daheim gebliebenen Familien eine Art was in einer anschließenden Sitzung zu neuen Brücke zu den Soldaten gebaut werden, indem Technologien von RFI und BBC weiter vertieft auf BFBS und BFN bestimmte Sendungen zeit­ wurde. gleich ausgestrahlt werden. Drittens wurde an Eine zentrale Stellung nahm bei der diesjah­ den Garnisonsorten in Großbritannien bewusst rigen Konferenz die Erörterung eines festeren der Kontakt zur Zivilbevölkerung auch per Radio organisatorischen Rahmens für die CIBAR ein. aufgenommen. ln Übersee ist dieser PR-Aspekt Eine Befragung der Mitglieder im Frühjahr 1999 nur ein offiziell nicht intendierter Nebeneffekt hatte ergeben, dass vor allem großes Interesse Die SSVC wird vollstandig vom britischen Ver­ an Informationsaustausch und gemeinsamen teidungsministerium subventioniert, dem diese Forschungsprojekten besteht. Ins Auge gefasst Imagepflege offensichtlich wichtig ist. wurde in diesem Zusammenhang unter anderem Das Programmformat von BFN konzentrierte eine engere Anbindung der Konferenz an die sich auf »radiofreundliche« Musik für die Alters­ EBU. gruppe der 18- bis 45-Jahrigen. Informations­ Zum ersten Vorsitzenden der CIBAR wurde segmente beinhalteten Nachrichten aus den für ein Jahr Oliver Zöllner (DW-Medienfor­ Streitkratten am Ort wie in Übersee, Lokal- so­ schung) gewahlt; Stellvertreter ist Bill Bell (Inter­ wie britische und internationale Nachrichten. Der national Broadcasting BureauNOA). Ihnen steht Hauptanteil des BFN-Angebots wurde von (zivi­ ein als Beirat fungierender Ausschuss zur Seite, len) SSVC-Mitarbeitern in eigenen mobilen Stu­ der sich aus Geraldine Taylor (BBC), Jean-Marc dios in den Kasernen produziert; in der übrigen Belchi (CFI), Helene Robillard-Frayne (RCI), Zeit wurde das BFBS-Mantelprogramm vom Gene Parta (RFE/RL), Daniel Nobi (RFI) und Sendezentrum in Chalfont übernommen. Ladislav Kubis (Radio Slovakia International) Rechtsgrundlage des Experiments in Bulford/ zusammensetzt. Logistisch wird die Konferenz Tidworth, Catterick, Goichester und Aldershot von der EBU unterstützt werden. waren »restricted service licences« der Londo­ Die 16. CIBAR wird im November 2000 bei ner Radio Authority, der für den Privathörfunk in der DW in Köln stattfinden; Ansprechpartner ist: Großbritannien zustandigen Lizenzierungs- und Dr. Oliver Zöllner, DW, Medienforschung, 50588 Aufsichtsbehörde. Köln, Tel.: (02 21) 3 89 41 41, Fax 3 89 41 55, Ob der Versuch wiederholt oder gar in einen E-mail: [email protected]. standigen Sendebetrieb überführt wird, steht Allen Cooper, Walton-on-Thames/ noch nicht fest. Rundfunkhistorisch ist der Rück• Oliver Zöllner, Köln griff auf das Markenzeichen BFN bemerkens­ wert: British Forces Network war von 1945 bis 1964 der Name des britischen Truppenradios in BFBS auch in Großbritannien Deutschland.2 Es ist allerdings zu vermuten, zu empfangen dass man für den Feldversuch in Großbritannien weniger eine Tradition pflegen als vielmehr eine Feldversuch in vier Garnisonsstädten Verwechslung mit der British and Foreign Bible Society vermeiden wollte, die sich ebenfalls Der britische Militarrundfunk British Forces BFBS abkürzt. Broadcasting Service (BFBS) hat im Frühjahr Oliver Zöllner, Köln 2000 einen einjahrigen Feldversuch abgeschlos­ sen, mit einem speziellen Hörfunkprogramm Miszellen 67

1 Eine Ausnahme bilden seit 1993 die regulären Internationaler Historikerkongress 2000 BFBS-Ausstrahlungen in Nordirland (via Mittel­ in Oslo mit Medienthemen welle}. 2 Vgl. Alan Grace: This ls the British Forces Net­ Vom 6. bis 13. August 2000 findet der 19. Inter­ work. The Story of Forces Broadcasting in Ger­ nationale Historikerkongress in der Hauptstadt many. Stroud 1996; zur ordnungspolitischen Be­ Norwegens, Oslo, statt. Im Mittelpunkt der acht­ deutung des BFN in der Nachkriegszeit vgl. Arnulf tägigen Veranstaltung stehen die Perspektiven Kutsch: Rundfunk unter alliierter Besatzung. ln: der weltweiten Geschichte an der Wende zum Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bun­ desrepublik Deutschland. Köln u.a. 1999, S. 59- dritten Jahrtausend. Gefragt wird unter anderem 90, hier S. 64. danach, ob Universalgeschichtsschreibung mög• lich ist, und thematisiert werden die kulturellen Auseinandersetzungen zwischen den Kontinen­ 50 Jahre ARD ten über die Jahrhunderte hinweg. Auch den Medien sind einige Veranstaltungen, die parallel Ein Symposium in Berlin zu den Plenarsitzungen stattfinden, gewidmet. So befasst sich eine Gesprächsrunde mit der Aus Anlass des 50. Jahrestags der Gründung »Medienrevolution (Multimedia und Internet) und der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtli• die Geschichtswissenschaft« unter Leitung von chen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik William Uricchio (Niederlande) und eine andere Deutschland veranstaltet die Historische Kom­ mit »Hörfunk- und Fernsehprogrammen als mission der ARD am 8. September 2000 in Ber­ Quellen der Geschichte«, geleitet von Hans lin im Studio C des Sender Freies Berlin, Masu­ Fredrik Dahl (Norwegen) und mit einem Beitrag renallee 8-14, ein Symposium. >»Mit vereinten von lnge Marßolek (Deutschland). Weitere In­ Kräften<. Rundfunk- Föderalismus als Zukunfts­ formationen können unter der E-mail-Adresse ordnung« lautet das Thema der halbtägigen »cish@ congrex.no« angefordert werden. Veranstaltung, auf der rückblickend und in die RuG Zukunft gerichtet Leistungen und Probleme des föderativ verfassten öffentlich-rechtlichen Rund­ funks behandelt werden. Das Symposium wird um 13.00 Uhr beginnen und um 18.00/18.30 Uhr enden. Als Referenten und Themen sind vorge­ sehen: Prof. Dr. Peter Steinbach (Freie Universität, Berlin): »No Politics of Propaganda«. Weichen­ stellungen für einen föderalistisch geprägten Rundfunk im besiegten Deutschland nach 1945; Prof. Dr. Günther von Lojewski (Berlin): Wei­ chenstellungen für einen föderalistisch gepräg• ten Rundfunk im wiedervereinigten Deutschland nach 1990; Dietrich Schwarzkopf (Programmdirektor a.D. des Deutschen Fernsehens, Vorsitzender der Historischen Kommission der ARD, Starnberg): »Die ARD macht uns keiner nach«. Erfahrungen mit den Stärken und Schwächen ihrer föderalen Verfassung; Prof. Dr. h.c. Albert Scharf (Intendant des Bayerischen Rundfunks, Präsident der Europäi• schen Rundfunkunion, München/Genf): Öffent• lich rechtlicher Rundfunk - ein europäisches Modell; Dr. Norbert Schneider (Direktor der Landes­ anstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen, Düs• seldorf): Von Karpfen, Hechten und Teichen. Welche Rolle wird der öffentlich-rechtliche Rund­ funk zwischen Kommerz und Konvergenz spie­ len können? EL Rezensionen

Konrad Dussel drungen (fast) auch ebenso viele offen lassen. So Deutsche Rundfunkgeschichte. gesehen gibt die Publikation - hervorgegangen aus Eine Einführung (= Reihe Uni-Papers, Bd. 9). Lehrveranstaltungen für Studenten der Geschichts-, Konstanz: UVK Medien Verlagsgesellschaft 1999, aber auch der Medien- und Kommunikationswissen­ 313 Seiten. schaft an der Universität Mannheim -, deren einzelne Kapitel mit kommentierenden Literaturhinweisen en­ Konrad Dussei/Edgar Lersch (Hrsg.) den, auch viele Anregungen für weitere Forschungen. Quellen zur Programmgeschichte des deutschen Als eine (erste) Antwort auf die aufgezeigten Defi­ Hörfunks und Fernsehens. zite, aber auch auf die Schwierigkeiten, denen eine (= Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 24). Programmgeschichte gegenübersteht, ist der von Göttingen I Zürich: Muster-Schmidt Verlag 1999, Konrad Dussel und Edgar Lersch herausgegebene 461 Seiten. Quellenband zu verstehen. ln sieben Kapiteln werden Texte präsentiert, die aus verschiedenen Blickwinkeln Jürg Häusermann die Programme des Hörfunks und des Fernsehens Radio. beleuchten. Dokumente administrativer Art finden (= Grundlagen der Medienkommunikation, Bd. 6). sich ebenso wie Äußerungen der Programmmacher - Tübingen: Niemeyer 1998, 106 Seiten. vom Intendanten bis zum Redakteur - und Auszüge aus Programmankündigungen. Die Herausgeber fan­ Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik. den ihre Quellen - schon publizierte und bisher noch St. lngbert: Werner J. Röhrig Universitätsverlag nicht veröffentlichte - in Jahrbüchern und einschlägi• 1998, 312 Seiten. gen Zeitschriften, in Fachbüchern und Akten ver­ schiedener Provenienzen. Das älteste Dokument ln ihrem »Streiflicht« vom 16. November 1999 erin­ stammt aus der Programmzeitschrift >Süddeutscher nerte die >Süddeutsche Zeitung< (unfreiwillig?) an das Rundfunk< und gibt die geplante Programmfolge für gute, alte Dampfradio. Der Verfasser der Zeilen er­ den 23. Oktober 1924 wieder, das jüngste ist der ging sich in Spekulationen, was jemandem während Nachdruck eines Beitrags »Vom Begleitprogramm des »Stadt-Land-Fluss-Spiels« beim Buchstaben »B« zum Formatradio« von Friedmar Lüke, dem seiner­ einfallen könnte, wenn er sich an das Radio seiner zeitigen Hörfunkdirektor des Süddeutschen Rund­ Kindheit erinnerte: nicht etwa an »Berlin«, sondern an funks aus dem Jahr 1994. Lükes Text von Mitte der »Beromünster« und beim Buchstaben »H« natürlich 90er Jahre ist eine absolute Ausnahme, da die Her­ an »Hilversum« und bei »M« selbstverständlich an ausgeber sich vorgenommen haben, nicht über die »Monte Ceneri« - alles keine deutschen, sondern Mitte der 80er Jahre hinauszugehen und sich damit in Auslandssender. Heutzutage hingegen werde mit das unwegsame und unübersichtlichen Gelände des Ortsnamen Politik gemacht, wie das Erscheinen von dualen Rundfunksystems zu wagen - ein Vorhaben, »Saarbrücken« seit Sommer 1999 auf der Wetter­ das sie ansonsten einhalten. karte des Zweiten Deutschen Fernsehens zeige und Jedes Kapitel (1 .1 Hörfunk in der Weimarer Re­ wie die angekündigte Platzierung von »Rostock« ab publik; 1.2 Hörfunk im NS-Staat; 1.3 Hörfunk in der dem 1. Dezember 1999 andeute.1 DDR; 1.4 Hörfunk in Westdeutschland - Hörfunk in Mit solchen Details der Rundfunkentwicklung der Bundesrepublik; 2.1 Fernsehen im NS-Staat; 2.2 können sich Publikationen natürlich nicht abgeben, Fernsehen in der DDR; 2.3 Fernsehen in der Bundes­ die sich zum Ziel gesetzt haben, Überblicke zu bieten republik) beginnt jeweils mit einer Einleitung von vier - wenn auch in unterschiedlicher Intensität und ganz bis acht Seiten, auf denen kurzgefasst die organisa­ unterschiedlicher Zielsetzung. torischen Hintergründe für den Rundfunk des jeweili­ Konrad Dussel, als Rundfunkhistoriker einschlä• gen Zeitabschnitts beschrieben werden und auf Be­ gig ausgewiesen durch seine Habilitationsschrift über sonderheiten einiger Quellentexte hingewiesen wird. die Tätigkeit der Rundfunk- und Verwaltungsräte Es folgen Literaturhinweise, in denen - wie sollte es beim Südwestfunk in Baden-Baden und beim Süd• angesichts der bisherigen Forschungsschwerpunkte deutschen Rundfunk in Stuttgart von 1949 bis 1969,2 der Rundfunkgeschichte auch anders sein - Mono­ will in seiner »Deutschen Rundfunkgeschichte« »eine graphien zur Rundfunkorganisation und zur Rund­ »Einführung« bieten, mit den organisatorischen und funkpolitik überwiegen, zur Programmentwicklung a­ Programmstrukturen, Hörfunk wie Fernsehen, wäh• ber eine rare Ausnahme bilden. rend verschiedener Epochen der deutschen Ge­ So äußerte sich bereits 1924 der Vorstand der schichte - Weimarer Republik, Drittes Reich, Ost­ Süddeutschen Rundfunk AG, Alfred Bofinger, über deutschland, Westdeutschland, geeintes Deutschland »Grundsätzliches zur Programmgestaltung des Rund­ - bekannt machen und gleichzeitig den Leser mit den funks«, kaum ein halbes Jahr nach Aufnahme des Defiziten der rundfunkhistorischen Forschung, die Programmbetriebs seiner Rundfunkgesellschaft. Auf hauptsächlich in der Programmgeschichte zu veror­ die sich selbst gestellte Frage, was der Rundfunk ten sind, konfrontieren. Dussels kenntnisreiches, gut bringen könne, lautete seine Antwort: »>Alles<. Man lesbares und anschaulich geschriebenes und als kann tatsächlich alle Gebiete, auf denen sich der Einführung sehr zu empfehlendes Kompendium menschliche Geist jemals bewegt hat durch den schneidet zwar viele Fragen an , muss aber notge- Rundfunk vermitteln.« Er ahnte nicht, dass zwei Jah- Rezensionen 69 re später durch staatliche Richtlinien Zensurgremien August Winkler), auszuwerten. Für den Rundfunk ist etabliert wurden, die diese Freiheit beträchtlich be­ festzustellen, dass die >Weltbühne< die allmählich schnitten. So zieht sich wie ein roter Faden die staat­ deutliche~ werdende einseitige politische Ausrichtung liche Kontrolle, die staatliche Aufsicht, die staatliche des Medrums anprangerte und die Autoren der dem Anleitung und Gängelung des Rundfunks und seiner Radio gewidmeten Beiträge - zu nennen sind vor al­ Programme durch die deutsche Rundfunkgeschichte. lem Carl von Ossietzky und Rudolf Arnheim - darauf Das schränkte die Programmkreativen zwar einer­ hinwiesen, dass »der freie Geist und die Freiheit der seits ein, andererseits hinderte diese Einschränkun• Meinungsäußerung immer mehr aus den Funkhäu• gen sie nicht daran, ihrer Phantasie zugunsten der sern verdrängt wurden.« (S. 51f.) La Grotta gibt aber Hörer und Zuschauer freien Lauf zu lassen. Von we­ auch zu bedenken, dass das Wochenblatt gelegent­ nigen Stunden täglich bis zu vielfältigen Programm­ lich die Wirklichkeit des Programmalltags aus dem angeboten rund um die Uhr wuchsen die Radio- und Blick verlor und die durchaus modernen Züge des Fernsehprogramme, was die beiden Herausgeber Programmangebots nicht wahrnahm. durch den Abdruck von zwei bis vier Programman­ Ansgar Diller, Frankfurt am Main kündigungen pro Kapitel eindrucksvoll belegen. Das »Radio«-Buch von Jürg Häusermann- auch Das Streiflicht. ln: Süddeutsche Zeitung, 16.11. eine Überblicksdarstellung für Studierende vor allem 1999, S. 1. der Medienwissenschaft - sieht das elektronische 2 Rezension in RuG Jg. 23 (1997), H. 2/3, S. 156f. Medium nicht so sehr unter nationalen, vielmehr unter internationalen Aspekten, so dass neben deutschen Entwicklungen auch solche in anderen Ländern der Heide Riedel Erde seit Anfang der 20er Jahre berücksichtigt wer­ »Lieber Rundfunk... «. den. So heißen denn auch Häusermanns Kapitel 75 Jahre Hörergeschichte(n). »Radio im Mediensystem«, »Kommunikatoren«, Berlin: Vistas Verlag 1999, 357 Seiten. »Akteure«, »Rezipienten« und »Inhalte«. Der Leser kann sich - im internationalen Vergleich - informieren Es ist ein kühnes Unterfangen, 75 Jahre Radioge­ beispielsweise über den Wettbewerb zwischen Zei­ schichte in Deutschland in seiner ganzen Vielfalt auf tung und Radio im Zusammenhang von Schnelligkeit nur 350 Seiten darstellen zu wollen. Zwar wird im Ti­ und Kosten, über die Organisationsmodelle von öf• tel ein Teilaspekt, die Hörerrezeption, herausgestellt, fentlichem und privatem Rundfunk, über die Arten aber im Grunde handelt es sich um die Gesamtdar­ von Abhängigkeit eines Mediums in einer staatlichen stellung der Geschichte des Mediums Hörfunk. Nichts Organisation, über den Hörer als Konsument oder als ist ausgelassen, was diese Geschichte seit 1923 einer am Programm Beteiligter, über Radiosprache ausmacht, weder das zeitgeschichtliche Umfeld, in und den Inszenierungsrahmen für Programme und dem der Rundfunk in der Weimarer Republik ent­ Formate. stand und danach betrieben, auch missbraucht wur­ Das zum vierten Mal erschienene »Jahrbuch zur de, noch wie er in seinen Programmen Zeitgeschichte Literatur der Weimarer Republik« veröffentlichte an­ spiegelte, auch nicht die Tatsache, dass er selbst lässlich des 75jährigen Rundfunkjubiläums in häufig genug Objekt zeitgeschichtlicher Entwicklun­ Deutschland gleich zwei auf das Medium bezogene gen wurde, den Begierden von Staat und Parteien Aufsätze: »Radio-Hören- der Sinn der Vernunft. For­ sowie anderer Interessengruppen ausgesetzt war und schungsperspektiven zwischen Literatur-, Kultur- und bis heute ist. Natürlich kann die Autorin auch nicht Medienwissenschaften« von Harro Zimmermann so­ darauf verzichten, die Organisationsgeschichte sowie wie »Ein Kampf für Kunst, Kultur und Wahrheit im die Grundzüge der Programmgeschichte darzustel­ Rundfunk. Eine Auseinandersetzung um das Radio in len, ebenso wenig wie auf die permanente Diskussion der >Weltbühne< 1925 bis 1933« von Luigi La Grotta. um verordnete Staatsnähe und angestrebte Staats­ Zimmermann befasst sich mit den Problemen der ferne sowie auf wichtige technische Entwicklungen in Schriftsteller, die längere Zeit benötigten »bis sie die­ der Studio- und der Sendertechnik. sen Impuls [Rundfunk] zur >Elektrifizierung der Dich­ Für die Sicht der Hörer bemühte Heide Riedel tung< für ihre eigene Schaffenskraft zu nutzen ver­ langjährige Leiterin des Deutschen mochten« (S. 16). Ähnlich, so Zimmermanns Tenor, Rundfunk~ Museums in Berlin, Erinnerungsberichte sowie Hö• erging es der Germanistik, die lange brauchte, um rerbriefe und die Ergebnisse von Hörerumfragen. sich der über das Massenmedium Radio verbreiteten Systematische Hörerforschung auf wissenschaftlicher Kunst anzunehmen. Ein ausführlicher Anmerkungs­ Grundlage hat in den Jahren nach dem Zweiten apparat untermauert mit vielen Quellenbelegen Zim­ Weltkrieg eingesetzt und kann erst von diesem Zeit­ mermanns dezidierte Äußerungen. punkt an Berücksichtigung finden. Die Erinnerungen Eine Untersuchung, wie die >Weltbühne< während von Zeitzeugen, wie die in Programmzeitschriften und der Weimarer Republik das neue Medium Radio be­ von den Rundfunkanstalten selbst veröffentlichten gleitet hat, war seit langem überfällig. La Grotta hat Hörerzuschriften, sind zwar amüsant zu lesen, aber sich die Mühe gemacht, die entsprechenden Artikel weder repräsentativ noch in ihrer Zufälligkeit von wis­ des Sprachrohrs linker Intellektueller, angesiedelt »ir­ senschaftlichem Wert. Hier lässt es die Autorin an der gendwo im politischen Niemandsland zwischen dem gehörigen Distanz fehlen. Sie zitiert beispielsweise linken Fl_ügel der SPD und der KPD«, das allerdings die Aussage eines Zeitzeugen wie folgt: »Schon als dazu bergetragen habe »das politische System aus­ Schuljunge hörten wir mit einem Detektor die ersten zuhöhlen«, das es »zu verteidigen meinte« (Heinrich Sendungen aus dem Vox-Haus an der Potsdamer 70 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Straße (... ). Um einen guten Empfang zu bekommen, Rundfunk im dualen Rundfunksystem wettbewerbs­ kam mein Bruder auf die Idee, die Zahngoldbrücken fähig zu halten. meiner Mutter als Antenne zu benutzen. Wir hatten Mit eigenen Kommentaren ist Heide Riede! höchst einen guten Empfang. Nur meine Mutter hielt nicht so sparsam, wenn sie aber kommentiert, tut sie es mit lange still.« Eine derart skurrile Aussage (S. 49) sollte spitzer Zunge. »Goebbels läßt grüßen« fügt sie der nicht unkommentiert in einem Band stehen, der von Feststellung hinzu, dass Hörer in der amerikanischen der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv und dem Besatzungszone nicht den ganzen Tag über Jazzmu­ Deutschen Rundfunk-Museum herausgegeben ist. sik im Radio hören wollten (S. 174). Und gleich dar­ Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hö• auf konstatiert sie für die Nachkriegszeit: »Die Ableh­ rerforschung auch im zentralistischen Rundfunksys­ nung von Jazz als >Niggermusik< war deutschland­ tem der DDR eine große Rolle gespielt hat. Es gab weit«, was ganz gewiss nicht für die Jugend galt, die dort, möglicherweise auf die Arbeiter-Radio-Bewe­ damals gar nicht genug den Sender AFN hören gung in der Weimarer Republik zurückgehend, Hö• konnte. Generell lässt das Vokabular der Autorin zu rerversammlungen, Höreraussprachen und schon wünschen übrig. Ausdrücke wie »Nichtsdestotrotz« 1952 eine spezielle Redaktion Hörerverbindung, von oder »tolle Zusammenarbeit« klingen befremdlich in 1956 an dann eine »Abteilung zur wissenschaftlichen einer Publikation, die seriös angelegt ist. Und was, Erforschung der Hörermeinung«. Inwieweit die Er­ bitte, ist ein »Superhet« (S. 95), in dessen »positivem gebnisse der Rezeptionsforschung Eingang in die Verkauf« in den 30er Jahren Heide Riede! einen Programmgestaltung des DDR-Rundfunks fanden, Ausweis dafür sieht, dass es den Deutschen wirt­ bleibt dahingestellt. Immerhin gaben sie Aufschluss schaftlich besser zu gehen beginnt. Zu einem Beitrag über den Grad der politischen Ausrichtung der Bür• im Evangelischen Pressedienst (»die epd«?) aus ger. dem Jahre 1963, in dem die Anpassung der Europa­ Ausführlich stellt die Autorin dar, in welch hohem welle Saar des Saarländischen Rundfunks an das Maße die Menschen in der DDR Radio- und später kommerzielle Programm oder besser Nichtprogramm Fernsehsendungen westlicher Rundfunkanstalten von Radio Luxemburg beklagt wird, und in dem es empfingen. Hier seien besonders die Programme des hieß, das Niveau werde vom Transistorgerät be­ Senders Freies Berlin (SFB) und des RIAS Berlin so­ stimmt, das die jungen Burschen unterm Arm trügen, wie des Norddeutschen, des Hessischen und des wenn sie mit ihrem Mädchen spazieren gingen, merkt Bayerischen Rundfunks genannt, die weite Teile der die Autorin an: »Aus dem Autor sprach der blanke DDR erreichten. Das führte dazu, dass der DDR­ Neid - auf das Transistorradio, die Jugend oder das Rundfunk ähnliche Wunsch-, Rätsel- und Quizsen­ Mädchen?« (S. 237). Eine wissenschaftliche Aus­ dungen in sein Programm aufnahm, wie sie die drucksweise ist das nicht. Weststationen brachten. Ein wenig kurz kommt in Es bleibt genug übrig, was lesenswert und auch diesem Zusammenhang die Tatsache, dass umge­ wichtig genug ist, in Erinnerung gerufen zu werden: kehrt auch Hörer und Zuschauer in (West-)Berlin wie zum Beispiel, dass die Unabhängigkeit des Rund­ in den Zonenrandgebieten Gefallen an einzelnen funks nach 1945 in den drei westlichen Besatzungs­ DDR-Programmen fanden. Dazu gehörte beispiels­ zonen von den Besatzungsmächten dekretiert wor­ weise das Jugendmagazin DT 64: durchweg live mo­ den ist, in der amerikanischen Zone sogar gegen den deriert und mit ausschließlich live eingespielten, also erklärten Widerstand der deutschen Nachkriegspoliti­ nicht vorproduzierten Wortbeiträgen, dazu westlicher ker, insbesondere des Ministerpräsidenten von Würt• Beatmusik. DT 64 fand, wie der Rezensent bezeugen temberg-Baden, Reinhold Maier, durchgesetzt wer­ kann, in (West-)Berlin so viele jugendliche Hörer, den musste (S. 195). Die Regierung Adenauer hat dass der SFB umgehend eine gleichartige Jugend­ dann schon in ihrer ersten Legislaturperiode den Ver­ sendung entwickelte. such unternommen, den föderalistischen Rundfunk Es versteht sich von selbst, dass vieles verkürzt durch Bundesgesetz neu zu organisieren (S. 198). ln behandelt werden muss und kaum Raum bleibt, tiefer ihrer zweiten Amtsperiode setzte die Bundesregie­ zu schürfen. Die Programmgeschichte mit oft regional rung diese Bemühungen fort und plante zugleich den geprägten Entwicklungen kommt dadurch ebenso zu Zugriff auf das Fernsehen, dessen erstes Programm kurz wie die Tatsache, dass das Radio wesentliche inzwischen als Gemeinschaftseinrichtung der ARD Beiträge zur Kulturgeschichte geleistet hat. Es wird den Sendebetrieb aufgenommen hatte, beides unter auch nicht recht klar, für wen dieses Buch eigentlich dem Gesichtspunkt der »Wahrung des Bundesinte­ geschrieben ist, an wen es sich wendet: an die resses«. Im Februar 1961 erklärte dann das Bundes­ Rundfunkmacher selbst, an Lehrende und Lernende, verfassungsgericht das sogenannte »Adenauer-Fern­ an eine breitere Öffentlichkeit? Letzteres erscheint sehen« für verfassungswidrig und hat seitdem in acht am wahrscheinlichsten, wofür auch die Betulichkeil Urteilen die Unabhängigkeit des Rundfunks bestätigt. spricht, mit der die Autorin den Leser hier und da an Von der so gesicherten Rundfunkfreiheit profitie­ die Hand nimmt: »Zurück zur grundsätzlichen Goeb­ ren seit den 70er und 80er Jahren auch die privaten bels-Rede vom März 1933« (S. 95) oder »Ein Pensi­ Anbieter von Hörfunk- und Fernsehprogrammen. An onär hat gut reden« (S. 207) im Zusammenhang mit das duale System von öffentlich-rechtlichem und der Mahnung des ausscheidenden langjährigen Fern­ kommerziellem Rundfunk haben die Zuhörer und Zu­ sehprogrammdirektor des Westdeutschen Rundfunks schauer sich inzwischen gewöhnt. An ihren Konsum­ (WDR) Heinz Werner Hübner an die ARD, nicht am gewohnheiten hat sich dadurch aber nicht viel geän• Programm zu sparen, um den öffentlich-rechtlichen dert. Jüngste wissenschaftliche Erhebungen belegen, dass die Rezipienten nach wie vor nur zwischen zwei Rezensionen 71 oder drei Programmen wählen. Und noch eine Er­ Andererseits will er den prägenden Einfluss Brauns kenntnis ist sehr bemerkenswert: Der oft totgesagte auf die Entstehung der Radio-Reportage darstellen. Hörfunk erlebt mit neuen Programmstrukturen, ver­ Nach einer Einführung in die Struktur des Rund­ mehrter Regionalberichterstattung und vielfältigen funks der Weimarer Republik, nach einer biografi­ Service-Sendungen eine Art Renaissance. Die Digi­ schen Skizze und einem Überblick über die vielseiti­ talisierung der Programme wird den Anreiz, wieder ge Tätigkeit Alfred Brauns beim noch jungen, perso­ vermehrt Radio zu hören, vermutlich noch erhöhen. nell kleinen und im Experimentierstadium befindlichen Hinzu kommt, dass die ARD beginnt, ihre Kräfte Rundfunk, widmet sich der Autor einem der zwei zu bündeln. Es ist anzunehmen und vor allem zu thematischen Schwerpunkte, der Entstehung der Ra­ hoffen, dass der Zusammenführung von Süddeut• dio-Reportage. Was Hans Bodenstedt für Harnburg schem Rundfunk und Südwestfunk über kurz oder und Paul Laven für Frankfurt, das war Alfred Braun lang weitere regionale Zusammenschlüsse folgen. für Berlin. Wann immer ein Experiment gewagt wur­ Heinz Kühn, langjähriger Ministerpräsident und aus­ de, zum ersten Mal »Prost Neujahr« über den Äther gewiesener Rundfunkpolitiker, hat schon vor 40 Jah­ ging, die Gymnastikstunde eingeführt, Fußballspiele, ren überzeugend dargelegt, dass vier oder fünf etwa Auto- oder Pferderennen geschildert wurden, meis­ gleich große öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten tens stand Alfred Braun am Mikrofon. Seine eigene ausreichten, den regionalen Interessen wie der kultu­ Begeisterung über die neue Aufgabe und die Faszi­ rellen Vielfalt in Deutschland in angemessener Weise nation der zahlreicher werdenden Radiohörer am Rechnung zu tragen. neuen Medium mischten sich. Alfred Braun wurde Last but not least: Der Band ist reich mit faksimi­ bekannt und beliebt. Der erste große Ruhm kam mit lierten Dokumenten sowie mit Fotos bestückt. Rund einer Reportage vom Tempelhafer Feld im Juni 1927. 200 Abbildungen in durchweg guter Qualität belegen Alfred Braun erwartete zusammen mit Tausenden die Entwicklung des Hörfunks zu einem der wichtigs­ von Berlinern die Ankunft von Chamberlain und Levi­ ten Massenmedien in 75 Jahren aufregender Zeitge­ ne nach ihrer Überquerung des Atlantiks auf dem schichte und machen den eigentlichen Wert der Pub­ Flugfeld. Das Ereignis zog sich hin, der Reporter likation aus. musste improvisieren. Und wie er das machte, wurde Werner Schwipps, Köln von Zeitgenossen und in Kritikern in höchstem Maße gelobt. Alfred Braun erlebte seine beste Zeit. »Im Re­ portagefieber« nennt Steffen Jenter diesen Abschnitt. Steffen Jenter Die vier bekanntesten, auf Wachsplatte mitge­ Altred Braun - Radiopionier und schnittenen und zumindest teilweise erhaltenen Re­ Reporter in Berlin. portagen Alfred Brauns untersucht der Autor auf die (= Veröffentlichungen des Deutschen Umstände ihrer Realisierung und ihre stilistische Rundfunkarchivs, Bd. 22). Gestaltung. Es sind die von der Trauerfeier für Gus­ Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1998, tav Stresemann (1929), von der Verleihung des Lite­ 166 Seiten. raturnobelpreises an Themas Mann (1929), vom Festakt der Reichsregierung zur Reichsgründung vor Alfred Brauns Reportage vom Trauerzug Gustav 60 Jahren (1931) und vom ADAC-Autorennen auf der Stresemanns am 6. Oktober 1929 gilt als Klassiker Berliner Avus (1932). und wird als Vorbild in der Journalistenausbildung Die zeitgenössische Kritik an Alfred Braun, z.B. analysiert. Dort hat sie auch Steffen Jenter kennen an seiner Monopolstellung in der Funk-Stunde oder gelernt; er machte Alfred Braun zum Gegenstand an seinem pathetischen Stil, referiert Steffen Jenter, seiner Diplomarbeit Eine seit Jahren registrierte Lü• tut sie dann aber etwas schnell ab. Bemerkungen wie cke wird endlich geschlossen. Dass das so lange ge­ »So schlecht kann er nicht gewesen sein, sonst wäre dauert hat, ist freilich nicht ganz zufällig und liegt im er nicht so beliebt gewesen«, ersetzen keine Ausein­ Forschungsgegenstand begründet. Es steht kein per­ andersetzung. Auch die grundsätzliche Kritik an der sönlicher Nachlass zur Verfügung, es gibt keine Noti­ Finanzstruktur des Weimarer Rundfunks, die ja nicht zen, Manuskripte, Briefe oder Tagebücher aus der nur Braun, sondern auch andere zentrale Figuren wie Weimarer Zeit, die zum Beispiel die Rekonstruktion den Intendanten Hans Flesch traf, wird etwas schnell seiner Arbeitsweise möglich gemacht hätten. Mit­ mit der aus der heutigen politischen Auseinanderset­ schnitte aus dieser Zeit sind rar. Die ausführlichsten zung stammenden ideologischen Vokabel vom »So­ und immer wieder kolportierten Berichte über Alfred zialneid« abgetan. Ausgespart aufgrund der themati­ Brauns Wirken stammen von ihm selbst. Doch ihre schen Eingrenzung bleibt die Regiearbeit Brauns im Überprüfung ist aus den genannten Gründen schwie­ Hörspiel, die Ende der 20er Jahre massiv kritisiert rig. wurde. Steffen Jenter hat die vorhandene Literatur ge­ Zweifellos am interessantesten ist das Kapitel sichtet, Interviews aus den 60er und 70er Jahren her­ über die Zeit nach 1933. Es ist der zweite, biografi­ angezogen - Alfred Braun wurde ja fast 90 Jahre alt sche Schwerpunkt der Arbeit. Alles, was in den For­ und war ein beliebter Gesprächspartner. Er hat Inter­ mulierungen des Selbstdarstellers Alfred Braun weg­ views mit der Tochter Brauns und dem Patensohn gelassen wurde oder dunkel blieb, wird dort in seiner Götz Kronburger geführt und neues Material, insbe­ ganzen Widersprüchlichkeil aneinandergereiht Ver­ sondere über die Zeit nach 1933 aus dem Archiv des haftung 1933, Aufenthalt im Konzentrationslager 0- Auswärtigen Amtes ausgewertet. Er verfolgt einer­ ranienburg, Emigration noch vor Beginn des Rund­ seits biografische Fragen: Wer war Alfred Braun? funkprozesses gegen »den Systemfunk« in die 72 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Schweiz, vergeblicher Versuch der Rückkehr und grafischen Stationen des Radiodichters akribisch Rehabilitation durch Distanzierung von den »soge­ nachzeichnet und der Diskussion nach der persönli• nannten Emigranten«, 1936 Lehrtätigkeit in Ankara, chen Verflechtung Günter Eichs in das nationalsozia­ Rückkehr nach Berlin 1939, Kriegsberichterstattung, listische Rundfunksystem keineswegs ausweicht. Er Engagements bei der UFA, Kooperation mit Veit thematisiert dabei die ambivalente Verschränkung Harlan u.a. beim Film »Jud Süß« und beim letzten von Gegnerschaft und willfährigem Opportunismus, Durchhaltefilm »Kolberg«. Steffen Jenter hat auch die eine Symbiose die übrigens auch bei Erich Kästner Behauptung von der angeblichen Mitgliedschaft Alt­ im Detail nachzuweisen wäre, behutsam und doch red Brauns in der NSDAP widerlegt. Folgt der Zick­ nachdrücklich. Wagner teilt in dem sogenannten zack-Kurs nach Kriegsende, als die sowjetzonalen Eich-Streit jedenfalls nicht die Auffassung von Karl Kulturfunktionäre sich um Alfred Braun bemühten, der Karst, der in einem ausführlichen Beitrag anlässlich 1947 nach Berlin in das Haus des Rundfunks zurück• der neuerlichen Ausstrahlung von »Rebellion in der kehrte und wieder als Reporter, Contereneier und Goldstadt« (1993) von manipulativen Texteingriffen in Hörspielregisseur arbeitete. Bis Februar 1950 stand das Propagandastück ausgegangen war - eine The­ er unter Vertrag, was bedeutete, dass er auch wäh• se, die letztlich der Exkulpation des Dichters dienlich rend der Blockadezeit für die Ostseite sprach. hätte sein können. Für eine kritische Würdigung des Als bei der Suche nach einem Intendanten für den frühen Eichs scheint nun der vorgelegte Band eine Sender Freies Berlin (SFB) der Name Altred Brauns große Hilfe zu sein, wenngleich damit erneut Schat­ fiel, wurden schwere Bedenken laut- mehr noch we­ ten auf ihn fallen. gen der Mitarbeit beim Ostsender als wegen der Nä• Es gehört zu den ironischen Kuriositäten, dass he zu Veit Harlan. Doch das Kalkül auf seine Beliebt­ Eich zwar mit dem Datum 1. Mai 1933 einen Antrag heit bei den Hörern hat sich durchgesetzt. Und so auf Mitgliedschaft in die NSDAP gestellt hatte, doch wurde denn aus dem Diener aller politischen Syste­ die Aufnahme nach den akribischen Recherchen me lange vor der Entdeckung des Vogels Wendehals Wagners nie vollzogen wurde: »Vieles spricht für die der erste Intendant des SFB. Tatsache, dass Eichs bewusst unternommener Marianne Weil, Berlin Schritt zusammenfällt mit einer Flut von Anträgen, der sich die NSDAP nach ihrem Sieg bei den März• Wahlen gegenübersah. Süffisant sprach man in Hans-Uirich Wagner Deutschland daraufhin von den >Märzgefallenen<, die Günter Eich und der Rundfunk. nun der NSDAP beitreten wollten. Der somit deutlich Essay und Dokumentation (= Veröffentlichungen des opportunistische Züge tragende Wunsch, jetzt Partei­ Deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 27). genosse zu werden, wurde parteiintern einem Prü• Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1999, fungsverfahren unterzogen. Zum Zeitpunkt des Aus­ 422 Seiten. füllens seines RDS[Reichsverband Deutscher Schrift­ steller]-Formulars im Juli war Eich noch kein Partei­ Günter Eich (1907 - 1972), der deutsche Hörspiel• Mitglied, und er sollte es auch nie werden.« (S. 52) dichter par excellence, bestimmte wie kein anderer Die kommentierte Radiographie (rund 270 Seiten) den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und sein Flagg­ Eichs - sie umfasst die Sendungen von 1930 bis schiff, die akustische Radiokunst nach 1945. Vom 1972 und damit alle wesentlichen Produktionen - »Eich-Maß« sprachen die Dramaturgen und die Här• dürfte sich nunmehr als eine große Hilfe für die Eich­ tunkkritik zumindest bis in die 60er Jahre hinein, als und Hörspielforschung erweisen, zumal hier auch die es galt, den Weg in die akustischen Traum- und ln­ umfangreichen Neuproduktionen und ihre Genese nerlichkeitswelten des Mecklenburgers zu feiern. Da­ ausgewiesen sind. Wenn es immer wieder zu Neu­ nach wurde es um den solitären Radiokünstler etwas produktionen kam (z.B. »Träume«, »Das Jahr Lazer­ stiller, denn die jungen Hörspielmacher suchten sich tis«, »Blick auf Venedig«, »Allah hat hundert Na­ in der antiautoritären Schule des Neuen Hörspiels men«), so hatte dies selten etwas mit künstlerischen von der Vätergeneration loszulösen. Die Forschung, Notwendigkeiten zu tun. Es spiegelt vielmehr immer aber auch literarische Enkel wie Friedrich Knilli, Hel­ wieder den heftigen Konkurrenzkampf der öffentlich• mut Heißenbüttel oder Ludwig Harig beargwöhnten rechtlichen Rundfunkanstalten untereinander, die direkt oder indirekt den Hörspielfürsten und fragten sich auf diese Weise der Eich-Teilhabe zu versichern immer häufiger nach jener umfangreichen Rund­ suchten. Wie es zu solchen Neuinszenierungen ge­ funktätigkeit Eichs, die deutlich vor 1945 lag. Der kommen ist - und wie dürftig die Begründungen der amerikanische Germanist Glenn R. Cuomo vertiefte konkurrierenden Dramaturgien dafür von Fall zu Fall diese »sehr deutsche« Debatte, in dem er 1984 ein waren - lässt sich jetzt im Einzelfall bei Wagner sehr annotiertes Verzeichnis von 84 Sendungen vorlegen schön nachzeichnen. Der Kampf beispielsweise in konnte, die die überaus produktive Rundfunkarbeit Hamburg, Stuttgart und München um die möglichst Günter Eichs in der Zeit des Nationalsozialismus komplette Eich-Teilhabe war jedenfalls heftiger als es nachdrücklich bestätigte. die Sendedaten allein vermuten lassen, und der Der Germanist Hans-Uirich Wagner konnte jetzt Dichter fügte sich dieser noblen und einträglichen die Diskussion über das Radioschaffen Günter Eichs Auseinandersetzung offensichtlich nicht ungern. mit einer Monographie zu einem gewissen Abschluss Bedauern wird der Leser, der sich nun mit Eichs oder doch neuen Diskussionsstand führen. Die um­ Radio- und Hörspielschaffen näher auseinanderset­ fängliche Arbeit gliedert sich in einen bescheiden zen kann, freilich die Tatsache, dass Wagner seine vom Autor als »Essay« gegliederten Teil, der die bio- klugen persönlichen und »essayistischen« Einschät- Rezensionen 73 zungen über den Radiodichter mit dem Jahr 1953 ab­ gefördert worden sind, der Modernisierungsprozess schließt. Als Desiderat bleibt eine Fortschreibung des aber dennoch nicht aufgehalten werden konnte. Den Essays für die Jahre von 1954 bis 1972. Da der Eich­ Fragen nachzugehen, warum das so war, setzte sich Spezialist und Radiohistoriker nicht mehr gesucht der Arbeitskreis zum Ziel. Alle vertretenen Disziplinen werden muss, sollte die wünschenswerte und not­ steuerten denn auch »Fallstudien zum Schicksal der wendige Abrundung nicht allzu lange auf sich warten Moderne unter der nationalsozialistischen Herr­ lassen. Alles in allem: ein faszinierendes, zum Teil schaft« bei, »insbesondere zum Verhalten der auch ernüchterndes Projektergebnis, das sich sei­ Schriftsteller, Künstler, Redakteure, Regisseure, tenweise (besonders für die Zeit vor 1945) wie ein [Theater-]lntendanten und Architekten, die sich bis deutscher Kriminalroman mit tragischen Zwischentö• dahin für die Moderne engagiert hatten und nicht aus nen liest, und das, weil »die Unfähigkeit zu trauern« rassistischen Gründen vertrieben worden waren.« auch den verschlossenen und bedeutendsten Radio­ (S. 12) Im Mittelpunkt stand also der Versuch zu re­ dichter der Nachkriegszeit betraf. konstruieren, wo der Modernisierungsprozess nach Christian Hörburger, Obernau/N. 1933 weiterging, sich gar beschleunigte oder abge­ blockt wurde. Zwei Beiträge über die Rolle des Rundfunks in Dieter Breuer I Gertrude Cepi-Kaufmann (Hrsg.) dieser Zeit seien eigens hervorgehoben: Renate Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland. Schumacher, Frankfurt am Main, befasst sich unter Vorträge des interdisziplinären Arbeitskreises zur dem Haupttitel »Zur Geschichte der Westdeutschen Erforschung der Moderne im Rheinland. Rundfunk A.G,« mit Hans Stein, einem Mitarbeiter der Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1997, Kölner Rundfunkgesellschaft von 1927 bis 1933, der 657 Seiten. in enger Zusammenarbeit mit dem Rundfunkinten­ danten Ernst Hardt vor allem für die damalige Zeit 1989 konstituierte sich ein Arbeitskreis in Nordrhein­ innovative Gesprächssendungen entwickelte und Westfalen, der- interdisziplinär aus Mitarbeitern von manche Themen ins Programm brachte, die ansons­ Hochschulinstituten, Archiven und Museen des Lan­ ten im Rundfunk tabuisiert waren.2 Stein gehörte zu des zusammengesetzt - sich mit der kulturellen Ent­ den Rundfunkmitarbeitern, die nach der nationalsozi­ wicklung des Rheinlands im 20. Jahrhundert befasst. alistischen Machtübernahme in die Emigration gingen Im Vordergrund der Forschungsbemühungen steht und nicht auf eine (zweite) Karriere im damals noch dabei, wie sich die Moderne durchgesetzt hat bzw. neuen Medium Rundfunk hofften. Birgit Bernard, wie sie verhindert worden ist. ln mehreren Tagungen Köln, zeichnet die »Gleichschaltung im Westdeut­ hat sich der Kreis bisher seinem Thema genähert und schen Rundfunk 1933/34« nach. Dabei steht Fritz konnte erste Ergebnisse seiner Arbeit 1994 in einer Lewy, Chefgrafiker der Rundfunkgesellschaft - auch Publikation vorlegen, die sich mit der Durchsetzung er in die Emigration getrieben - als Beispiel für viele der Moderne in Literatur, Theater, Musik, Architektur andere. sowie angewandter und bildender Kunst von 1900 bis Es ist zu hoffen, dass sich weitere Veranstaltun­ 1933 befasst hat.1 Zeitlich nahtlos schlossen sich gen anschließen werden, deren Ergebnisse in glei­ zwei Veranstaltungen an, die sich schwerpunktmäßig cher Weise in einer Publikation ihren Niederschlag mit der Zeit des Nationalsozialismus befassten, aber finden. auch immer wieder Rückbezüge in die Jahre davor, in Ansgar Diller, Frankfurt am Main die Weimarer Republik, und in die Zeit danach, in die nationalsozialistische Diktatur, angeraten sein ließen. Dieter Breuer (Hrsg.): Die Moderne im Rheinland. Die Texte dieser während der Veranstaltungen an der Ihre Förderung und Durchsetzung in Literatur, Universität Düsseldorf gehaltenen Vorträge werden Theater, Musik, Architektur [.] angewandter und im vorliegenden Buch publiziert. bildender Kunst 1900-1933. Köln 1994. ln fünf Kapiteln befassen sich Autorinnen und 2 Vgl. Renate Schumacher: Hans Stein (1894 - Autoren, die in ihrer weit überwiegenden Mehrzahl 1941). ln: RuG Jg. 21 (1995), H. 1, S. ?Off. aus Nordrhein-Westfalen stammen, in zwischen vier und acht Beiträgen mit den einzelnen Themen »The­ oretische Aspekte«, »Literatur«, »Theater, Rundfunk, Ludwig Eiber Film und Musik«, »Bildende Kunst« und »Architek­ Die Sozialdemokratie in der Emigration. tur«. Etwas aus dem Rahmen fällt das sechste Kapi­ Die »Union deutscher sozialistischer tel, das zwei Beiträge über die Rolle des Katholi­ Organisationen in Großbritannien« 1941- 1946. schen Akademikerverbandes am Ausgang der Wei­ Protokolle, Erklärungen, Materialien (= Archiv marer Republik und beim Übergang in das Dritte für Sozialgeschichte, Beiheft 19). Reich bietet. Bann: Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger 1998, ln ihrem Vorwort bemühen sich die Herausgeber CLXXV und 911 Seiten. herauszuarbeiten, dass Moderne und Nationalsozia­ lismus, wenn auch auf den ersten Blick ein Wider­ Zur »Union deutscher sozialistischer Organisationen spruch an sich, in der Realität dennoch zusammen­ in Großbritannien« schlossen sich 1941 der Vorstand gehen konnten. Und sie verweisen dabei darauf, der SPD sowie der Vorstand des Internationalen So­ dass zwar die Protagonisten der Moderne ab 1933 zialistischen Kampfbundes, die Leitung der Sozialisti­ von den Nationalsozialisten vertrieben und regime­ schen Arbeiterpartei Deutschlands in England und konforme Heimatkunst und Volkstumsschriftstellerei das Auslandsbüro von Neu Beginnen, die sich in der 74 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Endphase der Weimarer Republik bzw. während der die Stelle einer von den Briten zunächst favorisierten Emigration von der Sozialdemokratie abgespalten europäischen Revolution getreten war. hatten, zusammen. Mit ihrem Zusammenschluss ga­ Dies ist zwar alles bereits bekannt gewesen, reiz­ ben die vier Gruppierungen ein deutliches Zeichen, voll ist es dennoch, es noch einmal anhand der wie sie sich die künftige politische Struktur der sozi­ edierten Dokumente im Gesamtzusammenhang der aldemokratischen Partei in der Nachkriegszeit vor­ Aktivitäten der sozialistischen Emigration nachzule­ stellten, die dann mit entschiedener Unterstützung sen. Schade nur, dass das Sachregister die Passa­ aus Großbritannien in den Westzonen Deutschlands gen über den Rundfunk so schwer auffindbar machen nach 1945 durchgesetzt wurde. - Stichproben zeigen, dass in diesem Register etwa Die Edition von Protokollen und Erklärungen so­ zwei Drittel aller einschlägigen Stellen nicht erfasst wie anderer Materialien setzt die Veröffentlichungen sind. der Sitzungsniederschriften des sozialdemokrati­ Ansgar Diller, Frankfurt am Main schen Parteivorstandes in der Emigration (Sopade) in Prag und Paris von 1933 bis 1940 fort.1 ln seiner Vgl. Marlis Buchholz/Bernd Roter: Der Parteivor­ mehr als 150seitigen Einleitung schildert der Bear­ stand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade beiter zunächst allgemein einführend die Situation 1933-1940. Bonn 1995; vgl. Rezension in: RuG der Emigration in Großbritannien und anschließend in Jg. 25 (1999), H. 1, S. 70f. zwei längeren, vergleichbar aufgebauten Kapiteln die Organisationsstrukturen und Finanzen, die internen und externen Kommunikationsmöglichkeiten sowie Gerd Weckhecker die einzelnen Politikfelder von Union und Sopade. Es Zwischen Freispruch und Todesstrafe. folgen knappe Übersichten über Kampfhund, Neu Die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Beginnen und Arbeiterpartei. Es geht dabei um die Sondergerichte Frankfurt/Main und Bromberg. Verbindung der deutschen sozialistischen Organisa­ Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1998, tionen zu nichtsozialistischen deutschen Gruppierun­ 866 Seiten. gen, um das Verhältnis zur Labour-Party, zu briti­ schen und alliierten Regierungsstellen sowie um die Gerd Weckheckers Buch, eine 1994 vom Rechts- und Beziehungen zu emigrierten europäischen Sozialis­ Wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich der Jo­ ten und internationalen sozialistischen Organisatio­ hannes-Gutenberg-Universität zu Mainz angenom­ nen. mene Dissertation, befasst sich vergleichend mit zwei Als ein Mittel, Verbindung nach Deutschland auf­ Sondergerichten in der Zeit des Nationalsozialismus. rechterhalten zu können, galt natürlich der Rundfunk. Die Aktivitäten des Gerichts in Frankfurt am Main Im Sender der europäischen Revolution, auf Anre­ (nicht: »Frankfurt/Main«) werden für die Jahre von gung von Neu Beginnen seit Oktober 1940 unter der 1933 bis 1945 und diejenigen des Gerichts in Brom­ Obhut des britischen Geheimdienstes betrieben, berg, erst nach der Annektion polnischer Territorien konnten deutsche Emigranten zunächst mit großem durch das Deutsche Reich errichtet, für den Zeitraum politischen und journalistischen Freiraum zu Wort von 1939 bis 1945 untersucht. Weckbecker weist, wie kommen. Doch bei der wichtigeren britischen Rund­ dies auch Darstellungen über die Sondergerichte funkeinrichtung, dem Deutschen Dienst der BBC, wa­ Düsseldorf, Hannover und Mannheim getan haben, 1 ren die Möglichkeiten viel geringer, da sich die BBC darauf hin, dass diese Gerichte keine Erfindung des weigerte, mit der Union als Organisation oder mit ih­ nationalsozialistischen Regimes gewesen sind, son­ ren Vertretern zusammenzuarbeiten. Hingegen waren dern dass sie auch schon zu Zeiten der Weimarer Deutsche als Einzelpersonen willkommen - als Spre­ Republik existierten. Doch im Vergleich zu den Jah­ cher und Textlieferanten. Dieses Ergebnis einer Be­ ren davor, in denen sie in einigen Städten des Deut­ sprechung von Vertretern des Exekutivkomitees der schen Reiches zeitweise damit betraut waren, politi­ Union mit der BBC kommentierte ein Teilnehmer der sche Delikte gegen den demokratischen Staat zu be­ Komiteesitzung in einer kurzen Notiz Mitte 1941 mit: kämpfen, entwickelten sie sich im Dritten Reich - »restlos negativ«. Im Tätigkeitsbericht des Sopade­ durch eine staatliche Verordnung vom 21 . März 1933 Parteivorstandes für das Jahr 1942 hieß es realisti­ reichsweit eingeführt - zu einer Dauereinrichtung und scherweise und resignierend, gegenüber dem deut­ zu einem Unterdrückungsinstrument des nationalso­ schen Hörer werde in den Sendungen der BBC kein zialistischen Staates. Zweifel darüber gelassen, »dass es sich um eine offi­ ln seiner Untersuchung kommt es Weckbecker zielle englische Propaganda handelt. (... ) Im Rahmen darauf an, ParalieHtäten der beiden Gerichte in dieser Politik sind die Grenzen für eine aktive und re­ Frankfurt am Main und in Bromberg herauszuarbei­ gelmäßige selbständige Mitarbeit der deutschen poli­ ten, aber auch die jeweiligen Besonderheiten auf­ tischen Emigranten sehr eng gezogen.« (S. 649) Als grund ihrer unterschiedlichen historischen Hinter­ dieser Bericht Anfang 1943 geschrieben wurde, gab gründe und geographischen Zuständigkeiten darzu­ es den Sender der europäischen Revolution seit legen. Die unglaubliche Materialfülle setzt den Autor mehr als einem halben Jahr nicht mehr - er war der in die Lage, systematisch die Rechtsprechung der neuen militärischen Lage nach dem Angriffsbeginn beiden Sondergerichte auf jeweils rund 350 Seiten Deutschlands auf die Sowjetunion zum Opfer gefal­ abzuhandeln. Dabei ergeben sich als Gemeinsam­ len, da das Streben nach einem militärischen Sieg keiten die Rechtsprechung zu den Ursprungsdelikten, und der bedingungslosen deutschen Kapitulation an den speziellen Kriegs-, Wirtschafts- und den allge­ meinen (Kriminai-)Delikten. Weitere Abschnitte des Rezensionen 75

Buches befassen sich parallel für das eine bzw. für diglich ihre Neugierde befriedigen.« (S. 802) So ge­ das andere Gericht mit seiner Errichtung, dem Ge­ sehen überraschen die teilweise milden Urteile nicht. schäftsanfall und der Geschäftsentwicklung, den Er­ Ansgar Diller, Frankfurt am Main mittlungs- und Hauptverfahren, der Richterschaft in Frankfurt und derjenigen in Bromberg, Strafvollzug Vgl. Rezension in: RuG Jg. 24 (1998), H. 4, S. und -Vollstreckung und dem weiteren Schicksal der 271f. Angeklagten, das durch die Geheime Staatspolizei vorbestimmt wurde. Durch die Auswertung von vor allem mehreren hundert Akten der Staatsanwaltschaft Ludwig Fischer u.a. (Hrsg.) beim Landgericht Bromberg im Staatsarchiv Byd­ »Dann waren die Sieger da«. goszcz und der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Studien zur literarischen Kultur in Harnburg Frankfurt am Main im Hassischen Hauptstaatsarchiv 1945 - 1950 (= Schriftenreihe der Harnburgischen Wiesbaden konnte Weckhecker viele Verfahren re­ Kulturstiftung, Bd. 7). konstruieren und seine Erhebungen in mehr als 100 Hamburg: Dölling und Garlitz Verlag 1999, Tabellen aufbereiten, ergänzt um Fotos und Faksi­ 416 Seiten. miles. Zu den speziellen Kriegsdelikten gehörte auch die Gabriele Clemens Verfolgung aufgrund der »Verordnung über außeror• Britische Kulturpolitik in Deutschland 1945 -1949. dentliche Rundfunkmaßnahmen«, die kurz nach Literatur, Film, Musik und Theater (= Historische Kriegsbeginn am 7. September 1939 in Kraft trat und Mitteilungen, Beiheft 24). die jeden mit Gefängnis- und Zuchthausstrafen, aber Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997, 308 Seiten. auch mit dem Tode bedrohte, der ausländische Sen­ der abhörte oder das Abgehörte weitergab. Dank ei­ ln 23 Beiträgen, davon etwa die Hälfte Interviews mit nes differenzierten 15seitigen Stichwortverzeichnis­ Beteiligten, legen ein Dutzend Wissenschaftler das ses wird der Leser/Benutzer des Buches unter Ergebnis eines mehrjährigen, von der Volkswagen­ »Rundfunkdelikte« mit den Unterpunkten »Abhören Stiftung geförderten Forschungsprojekts des Litera­ ausländischer Sender«, »Antragsrecht« und »Ver­ turwissenschaftlichen Seminars der Universität Harn­ breitung von Nachrichten ausländischer Sender« ge­ burg zur literarischen Kultur in Harnburg von 1945 bis zielt zu den ihn interessierenden Textpassagen ge­ 1950 vor. Sie sind in acht Abschnitte um jeweilige führt. Im Abschnitt über Frankfurt macht der Autor thematische Schwerpunkte, u.a. »Theater«, »Auto­ darauf aufmerksam, dass bereits vor 1939 beispiels­ ren«, »Kultur und Politik«, »Verlage«, »Presse« so­ weise Kommunisten verfolgt worden sind, wenn sie wie »Rundfunk«, gruppiert. Die Bearbeiter hatten sich Radio Moskau abhörten, und zitiert dabei aus einer zum Ziel gesetzt, die »blinden Flecken« aufzuspüren, Verfügung des Polizeipräsidenten in Kassel vom 7. die trotz Untersuchungen zu den Autoren und ihren November 1933, die Hörern des Moskauer Senders Werken, schriftstellerischen Programmatiken und mit der Abnahme des Radiogeräts und mit Schutzhaft Gruppierungen, geistigen Haltungen und Wertungen drohte. Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges wurden bei Beginn des Projekts existierten. Die Wissen­ vor dem Frankfurter Sondergericht 143 Personen schaftler verstehen darunter, »die Wiederbelebung wegen Rundfunkdelikten angeklagt, 89 Verfahren und Neuorganisation des literarischen Lebens in all fanden statt, in denen 94 Personen wegen des Abhö• seinen Verflechtungen« zu erkunden (S. 8), um eine rens und 45 wegen der Weitergabe des Abgehörten Bestandsaufnahme vorzunehmen. Was wurde im verurteilt wurden; 24 wurden freigesprochen (wobei Jahrfünft nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Harn­ jeder achte Angeklagte trotz Freispruchs weiterhin burg geschrieben, gelesen und gehört, gedruckt, von der Gestapo inhaftiert blieb), 115 erhielten Frei­ verlegt und gesendet, in welchen administrativen, or­ heitsstrafen - im Durchschnitt acht Monate Gefäng• ganisatorischen, sozialen und ökonomischen Zu­ nis. Dass zwei Drittel der Verurteilten der Regelstrafe sammenhängen kam Literatur zustande, wurde ge­ Zuchthaus entgingen, führt Weckhecker darauf zu­ fördert und behindert durch Zensur, Lizensierung, rück, »daß das Sondergericht Frankfurt bei den Registrierung und Papierzuteilung, so lauten die Fra­ >Rundfunkdelikten< recht milde geurteilt hat«, (S. 183) gen. ln ihrem Vorwort machen die Herausgeber aber wie durch die Kritik an einigen Richtern des Sonder­ auch fairerweise auf Defizite ihres Projektes aufmerk­ gerichts durch den Oberstaatsanwalt belegt ist. ln sames und weisen darauf hin, dass aus Kapazitäts• Bromberg wurden nur 18 Anklagen - zwölf gegen gründen u.a. auf Film, Universität, Schule, englische Polen, sechs gegen Deutsche - erhoben, die damit Besatzungsverwaltung und kirchliche Organisationen nur ein Prozent (Frankfurt etwas über sechs Prozent) habe verzichtet werden müssen. Der Lapsus, auch aller Verfahren vor dem Sondergericht ausmachen, das Theater sei ausgeblendet gewesen, hätte sich erklärbar nach Weckbecker, weil die polnische Be­ allein bei einem nochmaligen Blick in das Inhaltsver­ völkerung im Oktober 1939 ihre Rundfunkgeräte hatte zeichnis vermeiden lassen, das zwei Beiträge dazu abgeben müssen. ankündigt (S. 25-77). ln seiner, die Ergebnisse der Untersuchung resü• Die Lektüre vermittelt, was allerdings so neu wie­ mierenden Zusammenfassung kommt Weckhecker derum nicht ist, die überragende Position des Rund­ zu einer differenzierenden Sicht. Auf das Abhörverbot funks in diesen Jahren für die Vermittlung von Lite­ gemünzt lautet sie: Die von der Verordnung Betroffe­ ratur und Kultur überhaupt. Ist es da nicht symptoma­ nen waren keine, die Widerstand leisteten, sie han­ tisch, dass der Titel des Sammelbandes auf einen delten nicht nach politischen Motiven, sie wollten »le- Ausspruch von Axel Eggebrecht, einen Mitarbeiter des frühen Nachkriegsrundfunks, zurückgeht? Der für 76 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) die gesamte britische Besatzungszone zuständige Stephan Rechlin Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR), dessen Zen­ Rundfunk und MachtwechseL trale die Briten in Harnburg errichteten und mit dem Der Südwestfunk in den Jahren 1965- 1977. sich Horst Uhde in einem 30seitigen Beitrag befasst, Eine Institutionsgeschichte in rundfunkpolitischen bot in dieser Zeit Schriftstellern und Publizisten, Fallbeispielen (= Südwestfunk Schriftenreihe Journalisten, Schauspielern und Musikern ein Betäti• Rundfunkgeschichte, Bd. 8). gungsfeld und damit auch Verdienstmöglichkeiten. So Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1999, erinnert Günther Wolf, damals Jungredakteur bei der 405 Seiten. >HörZu<, in einem Gespräch über die Anfänge des Programmblatts unter Chefredakteur Eduard Rhein Wie gut, dass es nicht nur Schlagzeilen und spekta­ an couragierte Journalisten wie Eggebrecht, Peter kuläre Überschriften, sondern auch ergänzende Un­ von Zahn und Thilo Koch, die aus dem Medium - tertitel gibt! Auch im Falle der Potsdamer Dissertation unterstützt durch den britischen Chief-Controller Stephan Rechlins tut man als Leser gut daran, seine Hugh Carlton Greene - gegen den Widerstand deut­ Erwartungen nicht am Titel zu orientieren. »Macht­ scher Politiker - ein publizistisches Instrument wechsel« - da wird natürlich die Assoziation zu Ba­ schmieden wollten, aber auch an dezidierte Mei­ ring/Görtemakers berühmtem Buch nahegelegt, und nungsäußerungen beispielsweise des Remigranten man sollte erwarten, dass es um Fragen ginge, wie Kurt Hiller. Doch der Zugriff der Parteien auf den der Rundfunk den Übergang zur sozialliberalen Koa­ Rundfunk konnte nicht verhindert werden, wie sich lition darstellte oder ob er ihn gar am Ende verursacht gleich bei der Wahl des ersten deutschen Generaldi­ habe. Entsprechend würde man nach Programmen rektors des NWDR erwies - parteipolitisch ungebun­ und Programmgestaltung fragen, nach Programmge­ dene Kandidaten, wiewohl als Experten ins Gespräch schichte und Programmwirkung. Und der Frust wäre gebracht, hatten keine Chance. vorprogrammiert, denn von Programm ist bei Rechlin ln einen größeren Zusammenhang der britischen so gut wie gar keine Rede und von Wirkungsge­ Kulturpolitik in Deutschland von 1945 bis 1949 stellt schichte überhaupt nicht. Selbst wenn man die Politik Gabriele Giemens ihr Buch, eine Habilitationsschrift beiseite ließe: Pop Shop und SWF 3? Quadriga und an der Universität Marburg, das darauf aufmerksam Kulturprogramm SWF 2? Blick ins Land und S 3? Die macht, dass sich die alliierten Besatzungsmächte ab Aushängeschilder des Südwestfunks (SWF) der 70er 1945 nicht allein damit begnügten, die öffentliche Jahre finden bei ihm keine nennenswerte Erwähnung. Verwaltung und die Wirtschaft neu zu ordnen, son­ Wozu aber soll man sich dann durch 360 Seiten dern dass sie auch nachhaltig in die Organisation der Text kämpfen (wenn man die Bibliographie und das Medien und der Kultur eingriffen. Auf Literatur, Film, Register einmal keines Blickes würdigt)? Rechlin hat Musik und Theater hat sich die Autorin konzentriert, ein interessantes Angebot: Er untersucht am Beispiel um die Ziele der britischen Besatzungspolitik in kultu­ des SWF die These von der »Degeneration des öf• rellen Fragen zu beleuchten. Sie beginnt bei der fentlich-rechtlichen Rundfunks« (S. 21), nach der- in auswärtigen Kulturpolitik Großbritanniens nach dem der Formulierung Wolfgang Hoffmann-Riems - der Ersten Weltkrieg, geht über zu den in britischen Be­ »lntegrationsfunk mit pluralistischer Zugangsgaran­ hörden ausgedachten Pläne zur Kulturkontrolle in tie« zu einem »Proporzfunk mit proportioniertem Pro­ einem Deutschland nach dem Ende des Zweiten gramm und ausgewogenen Personalentscheidun­ Weltkriegs, erläutert die institutionellen Zuständig• gen« herabgesunken sei (zit. S. 15). Bei diesem An­ keiten für die Kultur in der britischen Zone Deutsch­ satz macht es durchaus Sinn, sich nicht sofort auf lands sowie die Maßnahmen, die zur Entnazifizierung Programmuntersuchungen zu stürzen: Die öffentlich• des deutschen Kulturlebens beitrugen, und unter­ rechtliche Rundfunkordnung der Bundesrepublik un­ sucht abschließend den Wiederaufbau der deutschen terstellt nämlich einen direkten Zusammenhang zwi­ >Kulturindustrie<. schen Rundfunkorganisation und Rundfunkpro­ Warum nicht auch Presse-Verlage und ihre Pro­ gramm. Gesetzt, das Programm habe sich in den dukte sowie der Rundfunk miteinbezogen worden 70er Jahren im Vergleich zu den 50er und 60er Jah­ sind, bleibt leider unklar, so dass die Autorin etwas ren deutlich verändert (worauf alle bisherigen For­ unreflektiert dem Film einen »großen Stellenwert« schungen - vor allem im Fernsehen - hindeuten), so (S. 75) einräumt. Zu unterstreichen ist aber sicherlich liegt es nahe, die Ursachen dafür in den Veränderun• Gabriefe Giemens' Feststellung, dass es »Ziel der gen bei den vorgelagerten Organisationsbedingun­ Kulturpolitik« gewesen sei, »ein möglichst positives gen zu suchen, die im Kontext des »Machtwechsels« Bild von Großbritannien nach Deutschland zu ver­ zu lokalisieren wären. Oder anders herum: Könnten mitteln und den Deutschen klar zu machen, daß politisch bedingte gravierende innere Organisations­ Großbritannien als nachahmenswertes Vorbild eine veränderungen nachgewiesen werden, hätte es Plau­ wichtige Rolle bei der Gestaltung der Nachkriegsord­ sibilität, daraus die Programmveränderungen abzu­ nung spielen konnte.« (S. 76) Nicht allein auf leiten. Deutschland, so die zentrale Aussage des Buches, Auf diese Weise in Rechlins Argumentation ein­ sei die britische Kulturpolitik, die sich als »ein Mittel zuführen, gibt auch gleich einen Eindruck von seinem zur Beeinflussung der Eliten« (S. 209) verstand, ge­ Stil: Die knappe These, der gewagte Schluss sind richtet gewesen, sondern auf das eigene Land, das - seine Sache nicht. Stattdessen begrenzt er seine auf internationaler Bühne ins Hintertreffen geraten - Untersuchungsziele und verfolgt sie bedächtig mit sich damit zu profilieren versuchte. detailreichen Argumentationsketten. Seine Stärke ist Ansgar Diller, Frankfurt am Main die unpoiemische Nuance, die im Zweifelsfalle lieber Rezensionen 77

auf eigene Stellungnahme verzichtet als sich auf un­ dass sie in der Lage waren, »eine stets drohende ln­ gesichertes Terrain vorzuwagen. strumentalisierung des Rundfunks durch Staat und Das erste Kapitel ist einem der Schlüsselelemente Parteien abzuwenden«. »Allerdings« - so fährt er fort des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gewidmet, den - »vermochten sie es nicht, eine eigene, rundfunkpo­ Rundfunk- und Verwaltungsräten. Vor dem Hinter­ litische Programmatik zu entwickeln.« (S. 364). Liegt grund der medienpolitischen Positionen von Parteien genau an dieser Stelle das Problem? Rechlins Unter­ und anderen entsendeberechtigten Institutionen wird suchung macht jedenfalls deutlich, dass man sich die konkrete Zusammensetzung der SWF-Gremien von allzu simplen Degenerationsmodellen verab­ analysiert. Im Ergebnis zeigt sich ein »regierungsna­ schieden muss. Verschwörungstheorien gleich wel­ her Verwaltungsrat« und eine >»graue< Mehrheit im cher Couleur greifen zu kurz. Auf einem ganz ande­ Rundfunkrat« (S. 83ft) - nicht gerade im Sinne der ren Blatt steht allerdings die Frage danach, welche Gesetzgeber, aber auch kein Grund, gerade die Situ­ Auswirkungen atmosphärische Veränderungen hat­ ation der 70er Jahre als besonders besorgniserre­ ten, ob nicht permanenter Tropfen (politischer Kritik) gend zu betrachten. auch den Stein (unabhängiger Meinungsbildung) Kapitel zwei behandelt ausführlich »die ausge­ höhlt. Dieser Frage werden jedoch andere nachge­ bliebene Neuordnung der Rundfunkstruktur 1967- hen müssen. 1970« (S. 86ff.) und mit ähnlich negativem Ergebnis Vor diesem Hintergrund erübrigt es sich, an De­ im Sinne der Ausgangsfrage. Auch die Befunde des tails von Rechlins Arbeit herumzunörgeln und bei­ dritten Kapitels über »Gebührenabhängigkeit und spielsweise zu fragen, ob es tatsächlich angebracht Haushaltsautonomie« (S. 145ff.) sorgen für keine war, im gewählten Zusammenhang die - damals Überraschung, weil die bereits für die 50er und 60er letztlich ausgebliebene - Neuordnungsdebatte auf Jahre vorliegenden Befunde »in weiten Teilen für die fast 60 Seiten Text nachzuzeichnen. Sicherlich wäre 70er Jahre fortgeschrieben werden« können (S. 179). dies wie auch anderes knapper zu fassen gewesen, Mit am meisten Interesse verdient sicherlich das aber darum wäre noch kein adäquater Raum für die vierte Kapitel, das »Einflussnahmen auf personalpoli­ Programmgeschichte frei geworden. Man muss sich tische Entscheidungen« untersucht (S. 183ff.). Zur mit der Tatsache abfinden, dass Rundfunkgeschichte Debatte steht vor allem das Führungspersonal, der eine sehr komplexe Materie ist und komplexer For­ Intendant, die Direktoren und die Studioleiter. Jeder schung bedarf. Rechlin hat für eine Umbruchszeit Positionswechsel wird akribisch beleuchtet und man­ sorgfältig einige Rahmenbedingungen der Pro­ che Erwartung zerstört. Von überraschend wenig grammproduktion beim SWF untersucht. Es ist zu Parteienstreit ist da die Rede, und am Auffälligsten hoffen, dass sich daran Forschungen anschließen, dürfte sein, wie einfach er beigelegt werden konnte, die die Produktionen selbst analysieren und Rechlins wenn er doch einmal auftrat: Die scharfen SPD­ Ergebnisse entsprechend berücksichtigen. Proteste gegen die Personalpolitik des neugewählten Konrad Dussel, Frankfurt am Main/Forst Intendanten Willibald Hilf 1976/77 »verstummten, als der ehemalige baden-württembergische Justizminis­ ter und Fraktionsvorsitzende Rudolf Schieier 1977 Holger Böning u.a. (Hrsg.) den freigewordenen Platz Hilfs im Verwaltungsrat des Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte. SWF einnahm; die zweite Stimme der SPD in diesem Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1999, 314 Seiten. Gremium« (S. 212). Vor diesem Hintergrund kann Rechlins Fazit am Ende der gesamten Untersuchung ln ihrem Vorwort zum ersten Band des »Jahrbuchs vielleicht am besten in Frage gestellt werden: Für für Kommunikationsgeschichte« weisen die drei Her­ »Degeneration - verstanden als lnstrumentalisierung ausgeber - Holger Böning von der Deutschen Pres­ durch eine einzige politische oder gesellschaftliche seforschung an der Universität Bremen, Arnulf Kutsch Kraft « (S . 365) gibt es tatsächlich kaum Belege; auf vom Institut für Kommunikations- und Medienwissen­ einem ganz anderen Blatt steht, ob nicht von einer schaft an der Universität Leipzig sowie Rudolf Stöber Degeneration aufgrund einer »großen Koalition« der vom Institut für Kommunikationsgeschichte an der politischen Kräfte insgesamt auszugehen ist, der alle Freien Universität Berlin -darauf hin, dass stärker als anderen gesellschaftlichen Kräfte unterlagen. in der Kommunikationswissenschaft in anderen Dis­ Doch selbst diese These ist nur bedingt zu ver­ ziplinen das Interesse an Kommunikationsgeschichte treten, wenn man die Ergebnisse von Rechlins fünf• gewachsen sei. Sie nennen die Fächer, die sich »in­ tem und sechstem Kapitel einbezieht, in denen die tensiv mit der Verdichtung, Ausdifferenzierung und »programmpolitischen Rahmenbedingungen« im all­ Professionalisierung der Öffentlichen Kommunikation gemeinen (S . 241ff.) sowie »Redaktionsstatute und sowie mit der Popularisierung der Medien seit den Mitbestimmung« (S . 319ff.) insbesondere untersucht ersten Anfängen des Buchdrucks« (S. V) befasst ha­ werden. Versuche brachialer Einflussnahmen Außen• ben. Die schwache Position der Kommunikationsge­ stehender sind da mit der Lupe zu suchen. Langwie­ schichte innerhalb der Kommunikationswissenschaft rige Kontroversen waren in der Regel »hausge­ soll das Jahrbuch als interdisziplinäres Forum, so die macht« - etwa bei der Absetzung des Meinhof­ Intention, stärken helfen - durch die Präsentation Fernsehspiels »Bambule« 1970- und im übrigen gab kommunikationshistorischer Forschungsergebnisse, es regelmäßig nur minimale Veränderungen. Die in quellennah erarbeiteten Aufsätzen, Miszellen, die »grauen«, das heißt die parteipolitisch nicht gebun­ sich auf kommunikationshistorische Archivbestände denen Gremienmitglieder erhielten dabei eine beson­ stützen, sowie Buchbesprechungen und eine aus dere Bedeutung. Rechlin schreibt ihnen durchaus zu, mehr als 100 internationalen Zeitschriften erarbeitete 78 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) und zum Teil mit Annotationen versehene Bibliogra­ Günther Schulz (Hrsg.) phie. Geschäft mit Wort und Meinung. Das Themenspektrum der ersten Ausgabe des Medienunternehmer seit dem 18. Jahrhundert. Jahrbuchs reicht von der Reformation und dem Drei­ Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1996 ßigjährigen Krieg im 16. und 17. Jahrhundert mit Bei­ und 1997 (= Deutsche Führungsschichten der trägen über »Protestantismus und Buchverehrung in Neuzeit, Bd. 22). Deutschland« (Dietrich Kerlen, Leipzig) und »Der München: Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg große Krieg und die frühe Zeitung« (Johannes We­ Verlag 1999, 385 Seiten. ber, Bremen) bis in die Weimarer Republik und die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhun­ Der Band gibt Beiträge zweier im Schloss zu Büdin• dert mit Aufsätzen über »>Melos< - die Geschichte gen veranstalteter Tagungen der Ranke-Gesellschaft einer außergewöhnlichen Musikzeitschrift« (Stephan und des Instituts für personengeschichtliche For­ Schulze, Bielefeld) und »>Geistige Grenzgänger<: schung wieder. Eingeleitet wird das Buch durch zwei Medien und die deutsche Teilung« (Michael Meyen, grundsätzliche Beiträge. Im ersten umreißt Günther Leipzig). Außerdem gibt es Beiträge über »Die Schulz, ausgehend vom Versuch, Unternehmer im >Volkslehrer<. Zur Trägerschicht aufklärerischer Pri­ Medienbereich zu definieren, historische und gegen­ vatinitiative und ihren Medien« (Reinhart Siegert, wärtige Veränderungen in diesem Berufsfeld. Im Freiburg im Breisgau), über >»Judenbibliothek. Zum zweiten beschreibt Johannes Ludwig den Unterneh­ Besten jüdischer und christlicher Armen< (1786/ merischen Spagat von Kunst und Kommerz in Me­ 1787). Ein jüdisch-christliches Zeitschriftenprojekt für dienunternehmen und verdeutlicht deren Wachs­ Toleranz und Emanzipation« (Michael Nagel, Bre­ tumsgrenzen; zugleich stellt er auch die Rolle nicht­ men), über »Vom sozialistischen Schriftsetzer zum ökonomischer Faktoren, wie Geschmackspräferen• liberalen Zeitungsverleger: Die ungewöhnliche Karrie­ zen, subjektive Interessen- und Motivkonstellationen re des Berthold Feiste! in der uckermärkischen Pro­ heraus, die, so die sicher streitbare These, im Me­ vinz« (Peter Franke, Berlin) und »>Gerechtigkeit er­ dienbereich eine wichtigere Rolle spielen als in ande­ höht ein Volk?< Die erste deutsche Frauenbewegung, ren Zweigen der Volkswirtschaft. ihre Sprachrohre und die Stimmrechtsfrage« (Susan­ Der historische Spannungsbogen des Bandes ne Kinnebrock, München). Die (einzige) Miszelle be­ reicht vom verlegerischen Know-how Johann Fried­ fasst sich mit Archivalien, die sich in lokalen Archiven rich Cottas Ende des 18. Jahrhunderts (Bernhard Fi­ zur Frühgeschichte der Leipziger Presse befinden scher) bis zu Unternehmern von Online-Medien am (Frank Andert, Leipzig). Beginn der 90er Jahre (Niko Waesche). Hervorzuheben ist vor allem der Aufsatz Meyens, Für den Bereich der audiovisuellen Medien ver­ der sich als »ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte in dienen drei Aufsätze besondere Beachtung: Daniel den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten« in Otto befasst sich mit der Filmwirtschaft als medienpo­ Deutschland versteht. Der Autor legt erste For­ litischer Komponente schwerindustrieller Unterneh­ schungsergebnisse im Zusammenhang mit seiner mensstrategien im Stinnes-Konzern während des Habilitation über das Rezeptionsverhalten in beiden Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik, Edgar deutschen Staaten vor. Dabei geht es um die aus­ Lersch mit den Rundfunkintendanten als Medienun­ schlaggebenden Jahre des Kalten Krieges, vor allem ternehmern und Ansgar Diller mit den als »Führer der vom Beginn der Ost-Kampagne gegen »Kriegshet­ Sender« bezeichneten Rundfunkintendanten im »Drit­ zerpresse« und »Feindsender« im Westen kurz nach ten Reich«. der Währungsreform 1948 bis zur »Aktion Ochsen­ Mit seinem Beitrag über die Filmaktivitäten des kopf« nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, als Stinnes-Konzerns betritt Otto Neuland, da er nicht nur Mitglieder der sogenannten »Freien Deutschen Ju­ eine klassische Firmengeschichte schreibt, sondern gend« durch die Erstürmung von Hausdächern und diese auch zu den zeitgeschichtlichen Diskussionen die Ausrichtung der Fernsehantennen nach Osten über einen zukünftigen europäischen Film in Bezie­ den West-Empfang zu unterbinden trachteten. Doch hung setzt. Nachdem der Erste Weltkrieg die Interna­ die DDR-Bevölkerung, die die eigenen Medien für tionalität des Mediums eingeschränkt und das Ent­ unglaubwürdig hielten, nutzten nach wie vor die bun­ stehen nationaler Filmindustrien wesentlich forciert desrepublikanischen elektronischen Rundfunkange­ hatte, spielte die Idee des europäischen Films in der bote, so dass, woran Meyen erinnert, der Staatsrats­ Weimarer Republik trotz der oft beklagten Dominanz vorsitzende Erich Honecker im Mai 1973 das beliebi­ amerikanischer Produktionen auf den Filmmärkten ge Ein- und Ausschalten von westdeutschen Hörfunk• der alten Welt nur eine untergeordnete Rolle. Otto und Fernsehprogrammen seinen »Untertanen« zu­ gelingt es , an Hand neuer Quellen überzeugend gestand. Der Autor befasst sich aber auch mit den nachzuweisen, dass die 1924 von Stinnes inszenierte DDR-Medien in der Bundesrepublik, stellt aber ein­ Wesli-Gründung keine Marotte des damals wahr­ leitend sofort fest: »Der gesamtdeutsche Anspruch scheinlich reichsten deutschen Unternehmers war, der DDR-Medienmacher blieb ein Wunsch.« (S. 209) sondern hier offensichtlich versucht werden sollte, Das Potential der »geistigen Grenzgänger«, wie sie einen europäischen Film zu entwickeln, der auf einem Kari-Eduard von Schnitzler, der ehemalige Chef­ den USA vergleichbaren »einheimischen« Absatzge­ kommentator des DDR-Fernsehens charakterisierte, biet basieren sollte. Darüber hinaus bestand das Ziel bewegte sich offenbar auf einer Einbahnstraße - von von Stinnes in der Produktion von Spielfilmen, die Ost nach West. kapitalseilig und inhaltlich Filmen aus Hollywood Ansgar Diller, Frankfurt am Main ebenbürtig waren. Der oft auch als lnflationsgewinnler Rezensionen 79

gescholtene Stinnes gründete das Unternehmen vier grammzentralisierung permanent zu und damit die Monate vor seinem Tod. Innerhalb dieses kurzen Rolle regionaler Sendungen ab. Schließlich hatte Zeitraums hatte die Firma bereits Dependancen in Goebbels auch die zur Verfügung gestellten finanziel­ Frankreich und Italien, einen Ableger in Österreich len Mittel eingefroren, so dass den jeweiligen »Füh• und enge Geschäftskontakte mit der schwedischen rern der Sender« kaum ein Gestaltungsspielraum Filmindustrie aufgebaut. Die Auflösung der Westi im blieb. Vor dem Hintergrund einer weitgehenden Gän• Zuge der Zerschlagung des Stinnes-Konzerns nach gelung der Intendanten der Reichssender herrschte, 1924 beendete in den 20er Jahren auch alle weiteren wie Diller mit Hilfe eines längeren Zitats nachweist, praktischen Ansätze zur Förderung eines europäi• Ratlosigkeit über ihre eigentlichen Aufgabe. schen Films. Insgesamt gibt der Sammelband eine Reihe auch ln einem Buch über Medienunternehmer zwei methodisch interessanter Anregungen, über Medien­ Aufsätze über Intendanten von Rundfunkanstalten zu unternehmer nachzudenken. Von daher ist zu hoffen, finden, mag auf den ersten Blick sicher etwas unge­ dass die Tagungen fortgesetzt und neuere Ergebnis­ wöhnlich sein. Die Beiträge zeigen jedoch überzeu• se bald publiziert werden. gend, dass bei allen Besonderheiten, die diese Funk­ Wolfgang Mühi-Benninghaus, Berlin tion kennzeichnet, eine Vergleichbarkeit durchaus gerechtfertigt ist. Hervorzuheben ist hier der Abriss von Edgar Lersch über die berufliche Herkunft der Intendanten zwischen 1923 und der Gegenwart. Die Clemens Knobloch Intendanten der Weimarer Republik und der frühen Moralisierung und Sachzwang. Bundesrepublik waren überwiegend in kunstkriti­ Politische Kommunikation in der Massendemokratie. schen Berufen tätig bzw. hatten, wie Hans Flesch, Duisburg: Duisburger Institut für Sprach- und einen hochentwickelten ästhetischen Sachverstand. Sozialforschung 1998, 227 Seiten. Heute stehen dagegen überwiegend Journalisten und JuristenNerwaltungsfachleute an der Spitze der öf• Das »konventionelle« linguistische Methodenset zur fentlich-rechtlichen Anstalten. Dieser Wandel korres­ Untersuchung politischer Sprache hat sich als denk­ pondiert offensichtlich mit den jeweils aktuellen Vor­ bar ungeeignet erwiesen. Diesen Standpunkt vertritt stellungen über das Medium. Der »Vater des deut­ der Sprachwissenschafter Clemens Knobloch. ln sei­ schen Rundfunks«, Hans Bredow, wollte nicht zuletzt nem Buch analysiert er Vokabula und Strategien öf• mit Rücksicht auf die Verleger, die dem potentiellen fentlichen Sprechens sowie verbale Inszenierungen Konkurrenten mit Skepsis begegneten, mit dem neu­ und »präsentable« Motive einer »Massendemokra­ en Medium einen theaterähnlichen Kulturbetrieb er­ tie«. richten. Auch im Nachkriegsdeutschland hatte der Eingangs begründet der Autor seine Position. Die Kultur- und Bildungsgedanke einen hohen Stellenwert »Wirkungen« von Worten basiere mitnichten auf ihren für die Programmgestaltung der Rundfunksender. jeweiligen »Bedeutungen«, vielmehr auf schwer aus­ Seither hat sich das Verständnis von Rundfunkpro­ zumachenden Zusammenhängen, in die sie die grammen im Zuge einer enormen Vermehrung der »Praxen des öffentlichen Sprechens« (S. 10) stellen. Angebote grundlegend verändert. Schließlich ist der Sowohl bei der Artikulation als auch bei der Interpre­ Einfluss der Parteien auf das Medium permanent ge­ tation orientiere man sich an einer Folie mit fünf ln­ wachsen. Vor diesem Hintergrund sind Berufungen stanzen, die eng aufeinander abgestimmt seien, von parteipolitisch gebundenen Journalisten, die in nämlich: Aktant, Aktion, Intention, Situation und der Regel in den jeweiligen Rundfunkanstalten gear­ sprachliches Instrumentarium. Wenn die Arbeit beitet haben, bzw. von Verwaltungsspezialisten seit Knoblochs von »präsentablen« Motiven politischer den 80er Jahren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Kommunikation in einer »Massendemokratie« han­ die Regel; die Zeit der Künstlerintendanten ist end­ delt, so setzt der Verfasser voraus, dass sie »me­ gültig abgelaufen. dienöffentlich« erzeugt und aufrechterhalten werden Die Rundfunkintendanten im Dritten Reich waren (müssen). Mithin gehöre es zu den Grundregeln einer weder mit denen der Weimarer Republik noch denen Massendemokratie, stets zwischen der Logik kom­ der jungen Bundesrepublik zu vergleichen. Die Inten­ munikabler Motive für die Öffentlichkeit (politische danten unter Goebbels waren, so weist Ansgar Diller Kommunikation) einerseits und der Logik politischer nach, Erfüllungsgehilfen des Berliner Propagandami­ Entscheidungsprozesse (Politik) andererseits zu un­ nisteriums. Hier wurden unter Mitwirkung und Auf­ terscheiden. sicht des Ministers die rundfunkpolitischen Leitlinien Nach Knobloch lassen sich mindestens drei zen­ erarbeitet, die die jeweiligen Intendanten umzusetzen trale Funktionen der Massenmedien identifizieren: hatten. Um die Vorgaben effektiv durchsetzen zu kön• Erstens die »Themen- und Focusfunktion« (S. 75): nen, wurden auf Anordnung aus Berlin alle Anders­ Anhand der Struktur ihrer Angebote sei abzulesen, denkenden bereits in den ersten Monaten nationalso­ dass Medien einerseits den »tribalistischen« Ver­ zialistischer Herrschaft aus den Funkhäusern entlas­ zweigungen der Publikumsinteressen weitgehend zu sen. Innerhalb weniger Wochen standen nur noch entsprechen trachten, andererseits dass sie Thema­ NSDAP-Mitglieder an der Spitze der Rundfunkgesell­ ta, Termini (be)setzen und symbolisch kodieren, die schaften. Seide Maßnahmen dienten der reibungslo­ auf ein kollektives Augenmerk schließen lassen. sen Durchsetzung der Vorgaben der Reichssende­ Zweitens die »narrative Funktion« (S. 77): Darunter leitung. Nach 1933 entwickelte sich der Programm­ fasst Knobloch den Umstand, dass es ausschließlich austausch sprunghaft, nahmen die Tendenz zur Pro- die »narrative Form« eines Ereignisses sei, die 80 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Beurteilungs- und Handlungsbereitschaft evoziert. Detailanalysen als begründet. Ähnlich wie kommuni­ Drittens die »Zoom-Funktion« (S. 79): Der Verfasser kations- und medienwissenschaftliche Studien macht unterscheidet die Wirkungsweise von Sprache und er zu Recht darauf aufmerksam, wie bescheiden die (visueller) Wahrnehmung. Während eine sprachliche explikatorische Reichweite lexikalischer, semanti­ Präsentation relativ »distanziert« aufgenommen wer­ scher und texttheoretischer Ansätze bei der Untersu­ de, schaffe das Bild des Fernsehens »Nähe« und chung medialer Kommunikation ausfällt, insbesonde­ suggeriere »Authentizität«. Darüber hinaus erfülle der re dann, wenn sich diese allzu begriffs- oder textzent­ Nähe-Ferne-Gegensatz noch eine »tropische Funkti­ riert gerieren. Jedoch ist man weniger geneigt, on«, da kommunizierte Geschehnisse mit den Rezi­ Knoblochs Einlassung hinsichtlich der beschränkten pienten in Zusammenhang gebracht werden müss• Einsatzmöglichkeiten pragmatischer Prozedere für ten. seine Zwecke zu teilen, ganz im Gegenteil: Die Ferner fordert Knobloch eine Reflexion auf die Pragmatik ist eine der wenigen (auch linguistischen) entpersonalisierte, anonymisierte und auf Goutierung Teildisziplinen überhaupt, die sprachliche Ausdrücke durch »Massen« ausgerichtete Hegemonie ein, die in spezifischen Verwendungssituationen zum Ge­ für den »modernen Kapitalismus« konstitutiv sei. Der genstand haben. Verfasser hegt keinen Zweifel daran, dass Kapital Positiv zu vermerken ist, dass Knobloch sein an­ und Markt die Promotoren sind, die den »Egalitaris­ gestammtes Terrain der Linguistik zu überschreiten mus« und den »Atomismus der Massendemokratie« weiß, um einige Kardinalpunkte seiner Fragestellun­ (S. 87) erzeugen. Die Medien einer Massendemokra­ gen in den Fokus zu bekommen. Dies betrifft neben tie würden als »Gleichrichter« für politische State­ der visuellen Komponente von Kommunikation vor ments fungieren, die ohne Ausnahme durch den me­ allem das, was Knobloch die »narrative Form« von dialen Fokus hindurch müssen. Hierbei müsse all Ereignissen nennt. Mittels eines solchen Zugriffs das, was nicht der »Aufmerksamkeitslogik« der politi­ zeigt sich der Verfasser in der Lage zu verdeutlichen, schen Kommunikation, sondern der »Entscheidungs­ wie politische Kommunikation die Bereitschaft, einer logik« der Politik (S. 90) zuzuschreiben sei, abge­ bestimmten Politik zuzustimmen, befördert, indem sie schattet werden. bestimmte Geschichten erzählt. Schließlich konsta­ Seine theoretischen Prämissen erläutert Knobloch tiert Knobloch völlig zu Recht, dass (politische) Kom­ exemplarisch anhand einiger Deutungsmuster politi­ munikation mit Wahrnehmung und Aufmerksamkeit scher Kommunikation. Betrachtet man die Deutungs­ zu tun hat, nicht aber mit unmittelbaren faktischen muster von »Giobalisierung« und »Standort« zu­ politischen Entscheidungen. Und er kann demonstrie­ sammen, so könne man eine politische Semantik in­ ren, in welchem Ausmaß politische Wahrnehmung stallieren, die eine jedwede Ausprägung von Sozial­ und Aufmerksamkeit von Geschehnissen von der politik »gleichzeitig als nationalistisch und als nicht im Kontingenz ihrer Kodierungen abhängen. Interesse der Nation etabliert« (S. 116). Mithin könne Aufs Ganze gesehen hat Clemens Knobloch eine man »Nationalismus« als »veralteten Partikularis­ instruktive Analyse der politischen Kommunikation ins mus« verurteilen und in einem Atemzug dessen neo­ Werk gesetzt, deren mitunter provokante Darstel­ liberaler Form als »Standort-Nationalismus« das Wort lungsform nicht zuletzt (mit) dazu beiträgt, die diffizi­ reden. Vehement vertritt Knobloch die These, »Mora­ len Probleme einer »Mediendemokratie« genauer zu lisierung« und »Sachzwang« könnten als komple­ erkennen. mentäre Richtungen in der Machtkommunikation ver­ Christian Filk, Köln standen werden. Während in einer funktional-diffe­ renzierten Gesellschaft ein exponentieller Anstieg von Interessen- und Perspektivenalteritäten zu ver­ Hermann Schreiber zeichnen sei, fungiere Moral lediglich dort als Wer­ Henri Nannen. tungsinstanz, wo ganz klare Polarisierungen vorherr­ Drei Leben. schend seien. Gesteigerten Wert legt Knobloch auf München: Bertelsmann, 1999, 447 Seiten. die Feststellung, dass man darauf schauen solle, an welcher strategischen Position einer politischen »Nar­ Henri Nannen (1913-1996) ist durch die Illustrierte ration« die »Sachzwang«-Motivik geschaltet werde. >Stern< als bedeutender Journalist, Chefredakteur, Zu diesem Komplex gehöre es auch, »Spezialisten« Manager der Publizistik in Erinnerung. Der >Stern< ist zu konsultieren und somit eine politische Teilverant­ sicher Henri Nannens Werk, verdankt sich zugleich wortung an andere zu kommandieren. Zwar falle es in aber der britischen Pressepolitik in Norddeutschland der Regel leicht, die Interessen hinter »Moral«- und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Blatt war zeitweilig »Sachzwang«-Argumenten zu erkennen, hingegen die auflagenstärkste Illustrierte der Welt und für seine sei es wesentlich schwerer, eine valide Deutung Verleger (Bucerius, Gruner, John Jahr und dann zu­ von lnteresse-Rhetoriken zu bewerkstelligen. »Das vörderst für Bertelsmann) ein renditeträchtiges Ob­ kommt daher, daß wir nicht, wie die Common-sense­ jekt. Der >Stern< war nicht nur ein »Musikdampfer«, Ideologie suggeriert, einerseits Interessen (und Be­ sondern zumindest zeitweilig zugleich ein politisches dürfnisse) >haben< und andererseits sie auch ausdrü• Magazin, das sich auch an den Kopf breiter Leser­ cken, wir >haben< sie vielmehr nur insofern, als sie schatten gewandt hat und damit Erfolg hatte. auch symbolisch bebildert sind« (S. 190). Hermann Schreiber hat die Biographie Henri ln der Tat erweist sich Knoblochs Ablehnung der Nannen geschrieben und dessen »Drei Leben« (Un­ konventionellen Linguistik und der klassischen Rheto­ tertitel) beschrieben. Der Text ist von der ersten bis rik im vorgängigen Kontext durch seine Diskurs- und zur letzten Seite spannend, weil sich im Leben Henri Rezensionen 81

Nannens und in seinem publizistischen Werk die Bürgertum im »langen 19. Jahrhundert«. deutsche Zeitgeschichte spiegelt. Man kann daraus Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für viel lernen, nicht nur über das Leben des Helden, Historische Sozialwissenschaft Jg. 25 (1999), H. 1. sondern auch über die Phasen der vornehmlich poli­ tischen und kommunikationspolitischen Entwicklung Rudolf Stöber unserer Republik. Das Buch ist mit fast drei Dutzend Die erfolgsverwöhnte Nation. Photos gut illustriert. Der Form nach ist es ein Ro­ Deutschlands öffentliche Stimmungen 1866 bis 1945. man, geschrieben aus der Perspektive eines allwis­ Stuttgart: Franz Steiner 1998, 394 Seiten. senden Erzählers. Der Ton erinnert immer wieder an eine (gute) >Spiegei<-Story. Das Sujet wird von der Es ist schon bemerkenswert, dass eine renommierte Geburt bis zum Tode präzise von sozusagen allen historische Fachzeitschrift gleich mit zwei Aufsätzen Seiten dargestellt, nicht zufällig wohl in einer Mi­ zur Mediengeschichte aufwartet. schung, die dem >Stern< durchaus ebenbürtig ist. Da­ Der Beitrag »Öffentlichkeit und Medien als Ge­ bei werden kritische Punkte keineswegs verschwie­ genstände historischer Analyse« (S. 5-32) von Jörg gen, wenn auch die Absicht durchgängig die Lebens­ Requate, der 1995 mit einer hervorragenden Arbeit beschreibung ist. Pamphlete gab es zu Lebzeiten be­ zur Sozialgeschichte des Journalismus im 19. Jahr­ reits genug. hundert bekannt wurde, steht in einem lockeren Zu­ Ungewöhnlich für einen Roman findet sich nach sammenhang mit dem im Titel des Themenheftes an­ der Danksagung ein relativ reichhaltiges Literaturver­ gekündigten Forschungen zum Bürgertum im 19. zeichnis (fünf Druckseiten, das eine Zusammenstel­ Jahrhundert. Dabei greift Requate auf die in seiner lung der Artikel Nannens zur Kunst aus dem Dritten Dissertation 1 erarbeiteten methodischen Grundfragen Reich und einige seiner PK-Berichte nachweist). Zu und Ergebnisse zurück und wendet sie ins Grund­ begrüßen ist ein Namensregister (übrigens: Max sätzlichere: Wie können mediengeschichtliche Spezi­ Amann schreibt sich mit einem »m«). Trotzdem ist die alstudien für die allgemeine Geschichte fruchtbar wissenschaftliche Einordnung des Textes schwierig. gemacht und dort besser integriert werden? Auf die­ Schreiber grenzt sich im Vorwort (Liebe Leserin, lie­ sem Felde sind noch viele Wünsche offen. ber Leser) ausdrücklich von Fußnoten und kritischem »Transferbericht« sind die Ausführungen des Apparat ab. Mit derartigen Formalien sei bereits ge­ Hamburger Medienwissenschaftlers und Medienhisto­ nug Unfug getrieben worden, und im übrigen passe rikers Knut Hickethier überschrieben, der unter dem es nicht zu Henri Nannen, in solcher Art präsentiert Titel »Zwischen Gutenberg-Galaxis und Bilder­ zu werden. Ob das Argument durchschlägt, wage ich Universum. Medien als neues Paradigma, Welt zu zu bezweifeln, denn es schränkt zugleich die Nach­ erklären« (S. 146-172) sich mit den unterschiedlichen prüfbarkeit der Darstellung und Argumentationen des Argumentationsweisen derer auseinandersetzt, die er Autors ein. Liest man den Text aufmerksam, kann als »neue Medienphilosophen« (Bolz, Flusser, Kittler, einem nicht entgehen, dass der Autor an den ein­ Rötzer u.a.) bezeichnet, und sie mit den Ergebnissen schlägigen Stellen offenbar intensiv recherchiert hat. medienhistorischer Detailforschung vergleicht. Jenen Er hat Registraturen ausgewertet, Briefwechsel ein­ diene - so Hickethier - das Aufkommen der neuen gesehen und vor allem Zeitzeugen befragt. Wo sich Digitalmedien dazu, diese Entwicklungen zu einem welche Unterlagen heute befinden, wie es um deren Epochenumbruch zu stilisieren. Mit vergleichbaren mögliche Zugänglichkeit steht (gibt es ein Henri Nan­ Überlegungen würden frühere tatsächliche oder nur nen-Archiv bei Gruner & Jahr in Harnburg oder im vermeintliche mediengeschichtliche Zäsuren zu sol­ Emdener Museum oder bei seiner Frau Eske oder chen reinterpretiert bzw. neu gesetzt. Dabei argu­ seinen Kindern oder an all diesen Stellen, und wie mentierten sie mit fragwürdigen gesellschafts- und reichhaltig sind die Archive?) wird nicht berichtet. Es technikgeschichtlichen Versatzstücken, insbesondere dürfte sich lohnen, ein solches Archiv zusammenzu­ jedoch mit der Annahme, dass die (technischen) Me­ tragen und die Dokumente dem normalen Fluss der dien als Verlängerung der menschlichen Sinnes­ Dinge (und damit der Vernichtung) zu entreißen, weil wahrnehmungen angesehen werden könnten - eine Henri Nannen ein ungewöhnlich erfolgreicher Publi­ von Marshall McLuhan entwickelte Theorie. Auch die zist und sein Leben in vieler Hinsicht repräsentativ für Auswirkungen auf Inhalte und Verstehensweisen seine Generation war. durch das, was man als »Materialität der Kommuni­ Hans Bohrmann, Dortmund kation« bezeichnet (ein bereits in der Kunstdebatte der Aufklärung diskutierte Frage), werde überinter• pretiert und überbewertet. Dem stellt er entgegen, dass es wichtiger sei, die institutionelle Ausgestaltung der Medienorganisation und ihre Macht zu untersu­ chen, als unter so vielen Menschen Ideen und vor allem Bilder zu verbreiten. Hintergründe und Zusam­ menhänge dieser Einflussnahme wie die vermittelten Inhalte müssten detailliert beschrieben und interpre­ tiert werden. Kritisch setzt Hickethier sich auch mit der Systemtheorie und dem »radikalen Konstrukti­ vismus« auseinander. Sie seien offensichtlich nur begrenzt dazu in der Lage, medienhistorische Er- 82 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) kenntnisse für andere Disziplinen »anschlussfähig« derte Sicht zur Welt, um die neue, zur Ritualisierung zu generalisieren und zu interpretieren.2 neigende Zeitstrukturierung des Alltags durch die Die klare Abgrenzung von den zwischen »trendi­ Nutzung der elektronischen Medien, die Konfrontation ger« Modephilosphie und hermetischer Schreibweise mit dem ununterbrochenen Programmfluss der »Er­ schwankenden neuen Medienphilosophen bzw. -eu­ zählmaschine« Fernsehen und der apparativen phorikern, liegt auf einer Linie mit der Distanz, die Hi­ Konstellation, die Materialität der Rezeptionssituation ckethier - hier unausgesprochen - zur sogenannten im von Hickethier selbst häufiger beschriebenen Medienphilologie gewahrt hat, von der er ja her­ »Dispositiv Fernsehen« in den Wohnstuben der Zu­ kommt. Diese war und ist nicht frei von ausufernden schauer geht. So wie Hickethier im Transferbericht Theoriedebatten, spekulativen Zukunftsszenarien die Mediengeschichte vorstellt, ließe sie sich auf bzw. selten darum verlegen, die komplexen Wech­ klassische Medienphilologie und Historiographie der selprozesse von Medienproduktion und -rezeption Medienorganisation reduzieren: Inhalte werden be­ häufig durch eher verdunkelnde denn aufklärende schrieben und in einen Zusammenhang damit ge­ Metaphern und Wortspiele in den Griff zu bekommen, bracht, was die Kommunikatoren denn wohl zu prä• statt erst einmal durch das Studium der Quellen den sentieren beabsichtigt haben könnten. >Fakten< auf den Grund zu gehen. Beispielgebend für Requates Anspruch geht ausdrücklich ein Stück die Erarbeitung und Analyse des kleinen Details stellt weiter. Er will über den viel strapazierten, gleichwohl Hickethier Arbeiten aus der Filmgeschichtsschrei­ sehr abstrakt gebliebenen Begriff der »Öffentlichkeit« bung und der Programmgeschichte des Hörfunks und Medienkommunikation und gesellschaftliche Ent­ Fernsehens vor - Forschungen, die er selbst durch wicklung enger zusammenführen. »Öffentlichkeit« sei seine eigenen zahlreichen kleineren wie umfangrei­ geprägt von vielfältigen Strukturen öffentlicher Kom­ chen Veröffentlichungen bereichert hat. Nun stehen munikation, an der auch, aber nicht allein, die Me­ diese Veröffentlichungen zweifellos in Methodik und dien, unter spezifischen Bedingungen auch die mo­ Detailorientierung den Historikern näher als die ande­ dernen Massenmedien, beteiligt seien. Fassbarer ren erwähnten, gleichwohl: Resonanz finden sie in würden diese Strukturen hinsichtlich ihrer Bedingun­ der etablierten Geschichtswissenschaft kaum, ver­ gen und Voraussetzungen wie hinsichtlich ihrer Fol­ mutlich auch deshalb, weil sie für die Problemstellun­ gen und Wirkungen, wenn man - auch abhängig von gen der Gesellschaftsgeschichte kaum so formuliert den eingesetzten Kommunikationsmedien - von ab­ sind, als dass dort viel mit ihnen anzufangen wäre. gestuften und sich überschneidenden Teilöffentlich• Dies gilt auch im großen und ganzen für die vor­ keilen ausginge, von Teilöffentlichkeilen der direkten liegende Veröffentlichung. Merkwürdigerweise be­ Kommunikation in Kleingruppen bis hin zu massen­ lässt es Hickethier in dem als »Transferbericht« be­ medialen. Diese verarbeiteten und distributierten auf zeichneten Beitrag bei der methodischen Analogie je unterschiedliche Weise Informationen und Meinun­ zwischen seinem Verständnis von Medienwissen­ gen, seien untereinander auf eine näher zu bestim­ schaft und einer eher am historischen Detail orien­ mende Weise vernetzt, dazu von gesellschaftlichen tierten Geschichtswissenschaft und vergibt, eigent­ und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig lich, eine Chance. ln einer historischen Zeitschrift, die und wirkten auf diese Weise wieder zurück. Als Bei­ wie keine sonst der zweifellos nicht unbestrittenen spiele für seine Grundthese stellt Requate die unter­ Gesellschaftsgeschichte und damit sozialwissen­ schiedlichen Pressesysteme und vor allem das schaftlicher Methodik und Theoriebildung verpflichtet Selbstverständnis der Journalisten in den USA, ist, geht er auf die Zusammenhänge zwischen den Frankreich und Deutschland im 19. und frühen 20. generellen mentalen und gesellschaftlichen Entwick­ Jahrhundert vor. Requate greift auf das Beispiel lungen und den spezifischen Entwicklungen der ge­ Deutschland zurück, wo bis weit in das 20. Jahrhun­ sellschaftlichen Kommunikation, wie sie die Medien dert hinein die in extrem gegeneinander abgeschot­ ermöglichen, nicht ein. So fehlen auch Hinweise, wie tete Teilöffentlichkeilen gespaltene »Gesinnungs­ man sich das Wechselverhältnis zwischen spezifi­ presse« vorherrschend gewesen ist und somit die schem »kommunikativem Bedarf« der Gesellschaft Medienwelt Spiegelbild einer zerrissenen Gesell­ bzw. einzelner Schichten und Gruppen und den Me­ schaft wurde. dieninstitutionen vorzustellen habe. Requate fasst seinen Beitrag in der Frage zu­ Es ist nicht ganz ersichtlich, warum die strikte sammen, die bei künftigen, allgemeine und medien­ Distanzierung von den »neuen Medienphilosophen« geschichtliche Aspekte miteinander verbindenden Hickethier möglicherweise dazu veranlasst, nur au­ Forschungen zu stellen sei. Es sei aufzuarbeiten, ßerordentlich knapp mit einem Hinweis auf die Ar­ »welche Öffentlichkeitsstrukturen sich aus dem viel­ beiten von Zielinski, die von ihm selbst in anderen fach verschränkten Wechselverhältnis von >realer< Veröffentlichungen thematisierten gesellschaftlichen Welt und medialer Wiedergabe unter den Bedingun­ Funktionen des Fernsehens bzw. dessen Wirkungen gen diverser äußerer Einflüsse entwickeln und was anzusprechen, die über den »Transport« manifester dies wiederum für die jeweilige Gesellschaft bedeu­ Inhalte (etwa in dem Austausch von Informationen tet«. zur Politik und anderen öffentlichen Angelegenheiten) So gesehen zeichnet sein Beitrag eine schrittwei­ hinausgehen. Zweifellos wird jedoch einiges von die­ se Entfaltung der Fragestellungen, Kategorien und sen Fragestellungen - häufig in übertriebener und Begriffe nach, die für eine »anschlussfähige« kom­ verabsolutierender Weise und hermetischer Sprache munikationsgeschichtliche Arbeit notwendig sind. O­ - von den Medienphilosophen thematisiert, wenn es ber das Konzept der vernetzten Teilöffentlichkeilen um die Beschleunigung des Zeitgefühls, die verän- hinaus bleibt der Autor eine weitergehende Konkreti- Rezensionen 83 sierung schuldig. Eine Einschränkung bedeutet es und messbarer Stimmung innerhalb der sekundären auch, wenn die Medienkommunikation auf den Be­ Erfahrungsweiten am größten war, während sich Le­ reich der Publizistik, auf die Informationsmedien be­ benslagen und Eindrücke ohne den »Umweg« über schränkt wird, kulturelle Kommunikation sowie die die Medien im Bereich der primären Erfahrungen unterhaltenden und zerstreuenden Mediengattungen (wirtschaftliche Lage in Kombination mit anderen Kri­ mit all ihren Facetten und Übergangsformen ausge­ senerfahrungen) unmittelbarer und unbeeinflussbarer blendet werden. in den Stimmungen niederschlugen. Ob daraus ge­ Rudolf Stöbers Habilitationsschrift war Requate - schlussfolgert werden darf, dass die Wirkung der Me­ da bei Abfassung des Aufsatzes noch nicht erschie­ dien eher als gering einzustufen ist, bedürfte einge­ nen - nicht bekannt. Sonst hätte er diese in seinem henderer, detaillierterer Forschungen. Beitrag als einen ambitionierten, letztlich in der Ent­ Man bewundert an Stöbers Studie, dass er sich wicklung des Kategorienrahmens weiterreichenden nicht scheut, von dem vielfältigen und komplexen Versuch vorstellen können, in dem viel von dem ein­ Bedingungsgefüge öffentlicher Kommunikation nicht gelöst wurde, was er gefordert hat. Stöber geht es um nur zu reden, sondern es für seine Untersuchung nichts weniger als zu erfassen, wie sich der Gang der auszubreiten und am Ende ein Ergebnis vorzuführen, »realen« Geschichte in Deutschland seit den Eini­ in dem nahezu alle für die »öffentliche Stimmung« gungskriegen (1866) bis zum Ende des Reichs am verantwortlichen Einflussfaktoren und »Filter« über• Ende des Zweiten Weltkriegs in dem niederschlug, prüft wurden. Darüber hinaus erscheint mir gerade für was er als »öffentliche Stimmung«3 bezeichnet. Die­ die Auseinandersetzung mit den Historikern beson­ se »öffentliche Stimmung« wurde durch die Medien ders wichtig, dass die auf einem anderen Kampffeld, öffentlicher Kommunikation mit erzeugt, verstärkt, d.h. der Abwehr kulturkritischer Medienschelte, verlo­ verbogen etc.. Deshalb fügt Stöber eine - selten so ren gegangene Einsicht in die primär und sekundär konzise formulierte, komprimierte - Darstellung der vermittelten Erfahrungsweiten und die Übergänge Medienentwicklung in seinem Untersuchungszeit­ zwischen beiden von Stöber reaktiviert wurde. Denn raum an, schildert diese einschließlich der zahlrei­ allzu sehr erliegt auch der Kundige dem im öffentli• chen Rahmen- und Randbedingungen sowie der un­ chen Mediendiskurs bevorzugten Paradigma von der terschiedlichen Versuche in erster Linie des Staates Allmacht der Medien. Entsprechend seinen großen bzw. seiner führenden Repräsentanten (Bismarck, Vorbildern in der Demoskopie wählt Stöber den Weg Oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, National­ der »Draufsicht« von oben, die Analyse der lnterpre­ sozialisten), über die Medien »Stimmungsmache« zu tate, die aus hermeneutischer Sicht immer unter dem betreiben. Auch Vereine und Verbände zählt Stöber Verdacht des Zirkelschlusses steht. Über die eigene zu den »Medien« der öffentlichen Kommunikation, Sicht der Betroffenen in der primären Erfahrungswelt, wie er überhaupt den kommunikationsgeschichtlichen ihre Aneignung des »realen« Geschehens wie der Zugriff nicht auf die Medien beschränkt, sondern sekundären, durch die Medien vermittelten Erfah­ auch die überkommenen Formen des mündlichen rungssphäre und die Vermischung der beiden wüsste Austauschs einbeziehen möchte. man gerne mehr. Dies ist auch ein Problem der Auskunft über »öffentliche Stimmungen« ent­ Quellen. Stöber wäre der letzte, der gegen erfolgver­ nimmt Stöber einem spezifischen Korpus von Quel­ sprechende Hinweise auf dem Weg in diese Richtung len, die vor der »Erfindung« der Demoskopie und ih­ etwas einzuwenden hätte. rer spezifischen Methoden darüber informieren bzw. Edgar Lersch, Stuttgart diesbezüglich ausgewertet werden: die lmmediatsbe­ richte der preußischen Beamten an den preußischen Vgl. Jörg Requate: Journalismus als Beruf. Göt• König, Lageberichte des Reichskommissars für die tingen 1995. Rezension in: RuG Jg. 23 (1997), H. Überwachung der öffentlichen Ordnung in der Wei­ 1, S. 86. marer Republik, die Deutschlandberichte der Sopade 2 Vgl. auch meine Hinweise in der Rezension zu - dem Vorstand der Sozialdemokratie im Exil - und der systemtheoretisch konzipierten Geschichte die diversen Stimmungsberichte der Gestapo und der des Schweizer Fernsehens von Ursula Ganz­ SS. Mehrfach betont Stöber, dass seine Analysen Biättler und Ulrich Saxer in RuG Jg. 25 (1999), H. und Auswertungen als »lnterpretat des lnterpretats« 3, S. 282ff. zu gelten haben, die deshalb entsprechend quellen­ kritisch gewichtet wurden. 3 Es handelt sich um eine Begriffsbildung, die Stö• Seine Analyse teilt Stöber in zwei große Blöcke ber in einer eingehenden und umfänglichen Aus­ auf: Er untersucht systematisch Selbst- und Fremd­ einandersetzung mit dem Begriff der »Öffentlich• bilder der Bevölkerung und unterscheidet bei einem keit« bei Jürgen Habermas bzw. dem der »öffent• Gang durch die Geschichte seit 1866 zwischen von lichen Meinung« bei Elisabeth Noelle-Neumann den Bewohnern des Deutschen Reichs primär erfah­ entwickelt. renen Tatbeständen und ihren Auswirkungen (Wirt­ schaftsentwicklung vor allem), die auch in den Me­ dien behandelt, kommentiert und auch verzerrt dar­ gestellt wurden, und der sekundären Erfahrungsweit (Ausland, Außenpolitik, führende Repräsentanten), die lediglich durch die Medien zugänglicher waren. Der Verfasser kann belegen, dass die Korrelation zwischen Umfang und Einfärbung der Medienthemen 84 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Wolfgang DegenhardUEiisabeth Strautz Autoren -, sprachliche und kulturelle Differenzen in Auf der Suche nach dem europäischen Europa soweit konzeptionell zu überwinden, dass Programm. daraus ein gemeinsames Programm hätte entstehen Die Eurovision 1954 - 1970. können. Aus der Zielsetzung des Regimes heraus - Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1999, der Bildaustausch war der Eurovision genug - erklä• 203 Seiten. ren die Autoren das Scheitern der europäischen Pro­ grammidee. Dennoch würdigen sie die Zusammenar­ Rüdiger Zeller beit innerhalb der Eurovision abschließend als ein Die EBU. erfolgreiches internationales Regime und schlagen so Union Europeenne de Radio-Television (UER)­ den Bogen zu dem eingangs aufgestellten theoreti­ European Broadcasting Union (EBU). Internationale schen Bezugsrahmen, der allerdings im Verlauf der Rundfunkpolitik im Wandel. Darstellung keine weitere Erhellung erfährt. Die Rolle Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1999, der UER für die Entwicklung der Eurovision wird in 322 Seiten. dem Werk als nicht besonders förderlich dargestellt; eher gilt diese als ein Apparat, der zu schwerfällig für »Auf der Suche nach dem Europäischen Programm« die Aufgabe des Programmaustausches schien und haben Wolfgang Degenhardt und Elisabeth Strautz demgegenüber tatkräftige Männer - Europa- und ihre Darstellung der Eurovision, der Austauschorga­ Rundfunkenthusiasten- ihre Vision durchsetzten. nisation für Fernsehprogramme der Union der Euro­ ln dem nahezu zeitgleich erschienenen Buch von päischen Rundfunkorganisationen (UER), von 1954 Rüdiger Zeller über die EBU = UER wird dement­ bis 1970 genannt. Das Ergebnis dieser Suche ist be­ sprechend der Eurovision keine größere Bedeutung kannt: Zumindest in dem genannten Zeitraum ist so beigemessen. Die Darstellung konzentriert sich auf etwas wie ein integrierendes europäisches Programm ihre Struktur und die Organisation und erörtert die nicht zustande gekommen, und auch die jüngeren Konflikte, die sich aus der grenzüberschreitenden Anläufe und Ergebnisse aus der Fernsehgeschichte Zusammenarbeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunk­ der späteren Jahre haben keine überwältigenden Re­ anstalten innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes sultate erbracht. Die Gründe dafür können in der ergeben. Dabei wird zunächst der Wandel der Rund­ Frühgeschichte gefunden werden, wie sie hier nach­ funklandschaft im Blick auf Technik und Recht sowie gezeichnet wird. Die Arbeit leistet dreierlei: eine Auf­ deren Auswirkungen auf die internationale Rundfunk­ arbeitung der Programmgeschichte der Eurovision kooperation dargestellt. Dieser Teil liefert einen unter Berücksichtigung ihrer programmpolitischen knappen und präzisen Überblick über die Geschichte Intentionen im historischen Verlauf, eine Anwendung europäischen Rundfunks. Die Darstellung der Orga­ der politikwissenschaftlich generierten Regimetheorie nisation der UER und der Willensbildungsprozesse in mit der Frage nach dem Verhalten von Akteuren im ihr, ihrer Dienstleistungen und Produkte, Fragen der historischen Prozess eines bestimmten internationa­ Finanzierung und der vereinsrechtlichen Grundlagen len Regimes sowie die Bibliographierung und Aufbe­ breitet detailliertes Faktenmaterial aus, mit dem sich reitung der Fülle der UER-Materialien: Die Literatur­ auch ein interessanter Vergleich zu anderen Rund­ liste macht allein 60 Seiten aus. Hier liegt die Stärke, funkunionen ziehen lässt. aber auch das Problem der Studie. Sie ist eine her­ Es fehlt der als Dissertation entstandenen Arbeit vorragende Quelle für jene, die die Details der Ent­ im Vergleich zu dem vorher besprochenen Buch al­ scheidungsmotive und -abläute im Rahmen der Euro­ lerdings ein theoretischer Rahmen. Stattdessen führt vision erkennen wollen und für einzelne Phasen und ihr leitender Gedanke ins Zentrum aktueller Ausei­ Aktionsfelder der Eurovision Auskunft benötigen. Hier nandersetzungen, da sie sich in ihrem Hauptteil mit liefert die Sichtung und Aufarbeitung des Aktenmate­ der Stellung der UER und der durch sie vermittelten rials einzelner nationaler Rundfunkanstalten sowie internationalen Rundfunkkooperation im Rahmen des der Zeitschriften der UER reichhaltige Quellen. Aller­ Rechts der Europäischen Union (EU) befasst. Zwar dings war es notwendig, das Quellenstudium an lässt die im ersten Teil angebotene Einschätzung, manch entscheidenden Stellen durch Interviews mit dass die Öffnung der Rundfunkmärkte im wesentli­ ehemals Beteiligten zu ergänzen. Denn die Autoren chen von den nationalen Staaten ausgegangen sei kommen zu einem Ergebnis, das die Bedeutung des und nicht von der Europäischen Gemeinschaft (EG), Atmosphärischen innerhalb der Eurovision betont. Zweifel aufkommen, ob solch eine juristisch ausge­ Die Organisation war- so das Fazit- nur deshalb so richtete Arbeit der politischen Rolle der EG/EU ge­ erfolgreich, weil sie sowohl stabil als auch flexibel war recht werden kann. Doch zeigen die weiteren Ausfüh• und damit über funktionsfähige Konfliktlösungsme• rungen, dass der Autor durchaus die Problematik der chanismen verfügte. Diese Qualität war ihr zu eigen, Sonderstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks so die Autoren, weil in ihrem Kreis eine persönliche im Rahmen des Gemeinschaftsrechtes, wie es in den Atmosphäre vorherrschte, die den Mitgliedern das Verträgen zur Gründung der EG bzw. der EU nieder­ Gefühl gab, »Mitglied eines exklusiven Clubs zu sein, gelegt ist, zu diskutieren weiß. Die sozialen, kulturel­ in dem persönliche Freundschaft und Anerkennung len und demokratischen Funktionen des öffentlich• fast noch mehr zählte als das >Eigeninteresse< der rechtlichen Rundfunks und die ihn auf europäischer beteiligten Institutionen« (S. 92). Ebenfalls als ver­ Ebene vertretende UER kollidieren in vielen Fragen bindend galt eine gemeinsame Wertorientierung, die mit der Sichtweise des Europäische-Gemeinschaft• dem europäischen Gedanken verpflichtet war. Diese Vertrags (EGV) und der ihm nachfolgenden Regelun­ reichte allerdings nicht aus - so die Einschätzung der gen, die ihn als Dienstleistung im allgemeinen wirt- Rezensionen 85 schaftliehen Interesse verortet Zeller breitet diese Es gibt bedeutende und gewichtige Ansätze zu Problematik u.a. anhand der Auseinandersetzung einem Gemeinschaftsverständnis von Kommunikati­ über Sportübertragungsrechte, Fragen der Wettbe­ onsfreiheit in der Rechtsprechung des Europäischen werbsordnung, der Bedeutung von Angebots- und Gerichtshofs (EuGH), in der Europäischen Men­ Nachfragemacht und der Diskussion der EU-Beihilfe­ schenrechtskonvention (EMRK), die über die EU hin­ regelungen aus. Im Ergebnis dieser Betrachtung aus reicht und von allen Mitgliedstaaten des Europa­ kommt er zu der Einschätzung, dass die Finanzie­ rats ratifiziert wurde, in den Entscheidungen des dazu rungsgrundlagen der UER gemeinschaftsrechtlich gehörenden Gerichtshofs (EGMR), in der Ausprä• gesichert sind. Die Frage der Entwicklung eines eu­ gung der Kommunikationsfreiheit in den EU-Ländern ropäischen Programms spielt auch hier eine wichtige sowie in den Grundrechtsentschließungen des Euro­ Rolle. Zeller macht Sprachprobleme und das Interes­ päischen Parlaments, die freilich mangels Gesetzge­ se der Mitgliedstaaten an einem eigenen Satelliten­ bungskompetenz keine Rechtsquelle sind. Auch die fernsehen dafür verantwortlich, dass die Schaffung nationalen Grundrechte und die EMRK sind für die eines europäischen Vollprogramms nicht gelang - EU lediglich rechtlich nicht bindende Erkenntnisquel­ also auch hier die Einschätzung, dass eine an sich len, obgleich Anzeichen für eine faktische Bindung funktionsfähige Organisation nicht genügend Integra­ des Luxemburger EuGH an den Straßburger EGMR tionskraft gegenüber den Einzelinteressen der Mit­ erkennbar sind, der sich zu einem europäischen gliedstaaten aufwies. Verfassungsgerichtshof herausgebildet hat. Interessant ist - und hier ergänzen sich die bei­ Die wissenschaftliche Literatur sieht ihre Aufgabe den Publikationen -, dass auch Zeller die Bedeutung darin, zur Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte funktionsfähiger Konfliktlösungsmechanismen im und zu deren Integrationspotential beizutragen. Die­ Rahmen der UER hervorhebt und hier ebenfalls auf sem Ziel dient auch Jürgen Kühlings Buch. Es ist ei­ den informellen Konsens verweist, der dies möglich ne sehr sorgfältige, klar gegliederte, materialreiche macht. Dass die UER ihre Funktion als Mittlerin bei und aussagekräftige Arbeit. Der Autor befasst sich zwischenstaatlichen Rundfunkkonflikten aufgrund der zunächst mit der Notwendigkeit einer gemeinschafts­ Globalisierung der Rundfunkmärkte verliert, ist in die­ rechtlichen Kommunikationsfreiheit sowie den Ansät• sem Zusammenhang ein nachvollziehbarer Schluss. zen zu ihrer Entwicklung, untersucht sodann die Er­ Offen bleibt, wer in Zukunft entsprechende und wei­ kenntnisquellen und fasst schließlich zusammen, was terzuentwickelnde Aufgaben übernehmen könnte. zur Konkretisierung daraus abzuleiten ist. Angesichts der zunehmenden Nichtregulierbarkeit Kommunikationsfreiheit wird dabei, in Anlehnung internationaler Kommunikationsverhältnisse werden an Art. 10 EMRK, der in dieser Hinsicht als »Polar­ auf Organisationen und Regime noch bedeutende stern« gilt, als ein Grundrecht verstanden, das alle Aufgaben der Selbstregulierung zukommen. Inwie­ Medien sowie sämtliche Schritte des kommunikativen weit dabei auf die Erfahrungen von UER und Eurovi­ Prozesses umfasst (Äußerung von Meinungen und sion aufgebaut werden könnte, ist eine Frage, die Informationen, die aktive Suche nach ihnen und ihren sich nach der Lektüre der beiden umfänglichen Dar­ Empfang). Diese Einheitskonzeption wird nicht von stellungen auftut. allen Mitgliedstaaten geteilt. Das deutsche Grundge­ Barbara Thomaß, Harnburg setz unterscheidet zum Beispiel Meinungs- und In­ formationsfreiheit und enthält spezifische Garantien für Presse, Rundfunk und Film, wenn auch Ansätze Jürgen Kühling zu einer vereinheitlichenden Betrachtung festzustel­ Die Kommunikationsfreiheit als europäisches len sind. Gemeinschaftsgrundrecht Kühling hebt hervor, dass unter dem Dach der (= Schriften zum Europäischen Recht, Bd. 60). europäischen Menschenrechtskonvention ein »be­ Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 1999, 584 Seiten. eindruckendes Schutzgebäude für die Kommunikati­ onsfreiheit« entstanden sei, Indiz für ein »gemeineu­ Kommunikation ist zunehmend grenzüberschreitend; ropäisches Grundrechtserbe«. Wenn auch bei den die Begriffe Informations- und Kommunikationsge­ EMRK-Organen die abwehrrechtliche Dimension der sellschaft sind nicht mehr national bestimmbar. So­ Kommunikationsfreiheit im Vordergrund steht, so bil­ weit die sich entwickelnde Kommunikationsgesell­ det sich doch immer mehr eine objektivrechtliche schaft die der Europäischen Union (EU) ist, bedarf sie Komponente heraus, die den Staat zu pluralismussi­ einer als Gemeinschaftsgrundrecht gesicherten Korn­ chernden und konzentrationsbekämpfenden Maßnah• munikationsfreiheit Bei der Umsetzung dieser Er­ men verpflichtet, aber eine gerichtliche Verurteilung kenntnis ist freilich zu berücksichtigen, dass das Ge­ des Staates zu solchen Maßnahmen nur im Fall einer meinschaftsrecht nach wie vor ohne Grundrechtska­ erheblichen Bedrohung des Pluralismus zulassen talog auskommt (der Entwurf einer Grundrechtscharta will. Art. 10 EMRK enthält eine ausführliche Liste von ist in Arbeit), dass die Gemeinschaft eine einheitliche Schranken der Kommunikationsfreiheit, sieht aber Kommunikationsverfassung nicht hat, und dass es an auch Schranken-Schranken vor, besonders die, dass konkreten Fällen wie an Szenarios von Konflikten eine Begrenzung der Kommunikationsfreiheit nur zu­ zwischen der EU und den Mitgliedstaaten auch in lässig ist, wenn sie »in einer demokratischen Gesell­ diesem Bereich nicht fehlt. Hinzu kommt die Frage, schaft notwendig« ist. ob angesichts der Globalisierung der Kommunikation Als Tendenzen im Verständnis der Rolle der die europäische bzw. die EU-Dimension ausreicht. Kommunikationsfreiheit in der EMRK sind erkennbar: ein starker Schutz gegen rassistische und neonazisti- 86 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) sehe Aussagen, ein hoher Stellenwert für den Schutz Frankreich, Italien, Portugal und Schweden. Ein ge­ religiöser Gefühle, Zulassung von Kritik mit erhöhter nerelles Verbot von Tabakwaren in der Gemeinschaft Intensität an Personen des öffentlichen Interesses erscheint - auch grundrechtlich - als ausgeschlos­ und besonders an Politikern. So hat der EMGR ak­ sen. Wohl ist dem Autor auch bei dem Fernsehwer­ zeptiert, dass Jörg Haider als »Trottel« bezeichnet beverbot nicht, zumal der Nachweis eines Ursachen­ wurde, was allerdings in Sondervoten und Teilen der zusammenhangs zwischen Werbung und Tabakge­ Literatur beanstandet wurde, weil dadurch einer Ver­ nuss bisher ausgeblieben sei. Die Pflicht zu warnen­ rohung des öffentlichen Diskurses Vorschub geleistet den Hinweisen auf den Zigarettenpackungen verstie­ werde. Der Vergleich der nationalen Regelungen er­ ße in Kühlings Sicht dann gegen die Kommunikati­ gibt homogene Vorstellungen bei der Zurückdrän• onsfreiheit, wenn die Hinweise vom mündigen gung rassistischer Inhalte, wobei die Österreichischen Verbraucher tatsächlich so zu verstehen seien, »dass Vorschriften besonders streng sind. sie eine zwingende Monokausalität und Zwangsläu• Der Autor gewinnt so Bausteine für die Konkreti­ figkeit« des Rauchens für Herz- und Gefäßkrankhei• sierung eines gemeinschaftlichen Grundrechts der ten, Krebs und letztlich den Tod ausdrücken wollten. Kommunikationsfreiheit in der EU. Grenzen der Ge­ Aber verstehen die Raucher die Hinweise so? Man meinsamkeit werden freilich auch deutlich. So ist weiß es nicht, kann es aber bezweifeln. »derzeitig nur schwer ersichtlich, wie es auf Gemein­ Dietrich Schwarzkopf, Starnberg schaftsebene zu gerichtlich entwickelten spezifischen Pflichten des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Plura­ lismussicherung kommen könnte«. Ein Vorhaben der Ute Bechdolf EU-Kommission, das Medienkonzentrationsrecht eu­ Puzzling Gender. ropäisch zu harmonisieren, traf auf den entschie­ Re- und Dekonstruktionen von densten Widerspruch der Bayerischen Staatsregie­ Geschlechterverhältnissen im und beim rung, die der Gemeinschaft »beim aktuellen Stand Musikfernsehen. der Integration« die Kompetenz dazu absprach. Eine Weinheim: Deutscher Studienverlag 1999, 280 gemeinschaftliche Definition von Pornographie gibt Seiten. es nicht, wenn man etwa die Vorstellungen von Irland und Dänemark vergleicht. Und was hilft die Feststel­ Hinter dem auf den ersten Blick etwas verwirrenden lung, dass die rechtsverbindliche Festlegung von und sperrigen Titel verbirgt sich eine wissenschaftlich Fernseh-Sendequoten für europäische Werke in der fundierte Studie, die dabei zugleich spannend und EU-Fernsehrichtlinie in die Kommunikationsfreiheit gut lesbar ist. Es geht um den Umgang Jugendlicher der Fernsehveranstalter eingreifen würde, wenn die­ mit dem Musikfernsehen aus geschlechtsspezifischer se Quote in Frankreich zum Beispiel nun einmal Perspektive sowie die Konstruktion von Geschlecht rechtsverbindlich ist? im Musikfernsehen. Zum Schutz oder zu legitimer Einschränkung der Das Buch ist in drei große Kapitel gegliedert. Im Kommunikationsfreiheit kann die EU eingreifen, wenn ersten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen der Eingriff dem Gemeinwohlinteresse der Gemein­ der Studie anhand der Stichworte »Medien - Ge­ schaft dient. Der Verfasser findet, dass der EuGH schlechter - Diskurse« offengelegt sowie das metho­ den Interessenbegriff sehr weit fasst, und fordert eine dische Vorgehen erläutert. Entscheidende Anregun­ stärkere Konturierung und Qualifizierung der einen gen gewinnt die Autorin einerseits aus der vielschich­ Eingriff legitimierenden Interessen. Eine nationale tigen Geschlechterforschung, andererseits aus Mo­ Grundrechtskontrolle des Gemeinschaftsrechts dellen zur medialen Bedeutungskonstruktion im kommt, wie der Autor betont, nicht in Frage. Damit ist Kontext der Cultural Studies. Geschlecht im Sinne freilich ein Spannungsverhältnis zwischen dem EuGH von »Gender« versteht sie als »kulturelle Verhand­ und dem deutschen Bundesverfassungsgericht kei­ lungssache«. »Die Produktion von Musikvideos führt neswegs aufgehoben. zu Texten, die von Zuschauerinnen rezipiert werden, Kühling untersucht die Eingriffslegitimation der die in sozialen und kulturellen Kontexten verankert Gemeinschaft anhand von zwei Schutzbereichen, sind, die wiederum die Produktion von Musikvideos dem der Beamtenkommunikation und dem der Ta­ bedingen. Zwischen diesen idealtypisch gedachten bakwerbung. Im Hinblick auf die Kommunikationsfrei­ Situationen entsteht kulturelle Bedeutung, werden heit der Beamten ergibt sich ein liberales Bild. Bei Diskurse hervorgebracht und transformiert« (S. 46). Missständen in der Verwaltung muss sich der Beamte Im zweiten Kapitel werden für die Analyse der freilich um interne Abhilfe bemühen, bevor er als »Ul­ Texte des Musikfernsehens semiotisch ausgerichtete tima ratio« an die Öffentlichkeit geht. Unter den EU­ Entschlüsselungsstrategien verwendet. Zunächst Beamten sind aktive Mitglieder der Kommunistischen wird ein knapper Aufriss zur Geschichte des Musik­ Partei, die jedoch auf konkrete Betätigung für verfas­ fernsehens und den dort herrschenden Produktions­ sungsfeindliche Ziele verzichten müssen. Weiterrei­ und Distributionsmechanismen aus der Perspektive chende Pflichten gelten für politische Beamte. des Geschlechterdiskurses gegeben. Anschließend Das Verbot der Fernseh-Werbung für Tabak in werden exemplarisch einzelne Videoclips analysiert, der EU-Fernsehrichtlinie, die inzwischen auch in in­ um an ihnen drei Repräsentationsstrategien von Ge­ nerdeutsches Recht umgesetzt ist, hält der Autor für schlecht zu zeigen: »Traditionen und Affirmationen«, eben noch verhältnismäßig, das totale Werbeverbot »Oppositionen und Rebellionen«, »Auf-Brüche und in der Tabakwerberichtlinie nicht mehr. Ein totales Gender-B(I)ending«. Letztere Repräsentationsstrate• Werbeverbot gibt es freilich bereits in Finnland, gie zielt auf die grundsätzliche Infragestellung des Rezensionen 87

Konstruktionsprinzips der Zweigeschlechtlichkeit z.B. rausbringen zu wollen, bereits als Schüler beschäf• durch Androgynität, während es bei »Opposition und tigte. Rebellion« »nur« um eine Überwindung der bisheri­ Entstanden ist dabei die sorgfältige Verzeichnung gen Machtverhältnisse geht. Insgesamt dominiert in (nahezu) aller Kriminalhörspiele von den Anfängen den untersuchten Musikvideos die erste Repräsenta• des Rundfunks in Deutschland 1923/24 bis Ende tionsstrategie, d.h. traditionelle Geschlechterdefinitio­ 1994. Dabei stand die Produktion im Vordergrund nen werden bestätigt. und nicht der noch erhaltene Tonträger. Die Erläute• Im dritten, dem umfangreichsten Kapitel geht es rung hierzu im Vorwort, dass eine Beschränkung auf um die Rezeptionsstrategien von Jugendlichen. Zum Hörspiele, zu denen noch Tonträger greifbar sind, Verständnis der Interaktionen zwischen den medialen den Umfang der Dokumentation erheblich reduziert Texten und den Rezipientinnen werden qualitative, hätte, sollte jedoch nicht als Begründung für die pro­ kontextbezogene Verfahren der empirischen Sozial­ grammgeschichtliche Orientierung dienen. Vielmehr forschung verwendet. Insgesamt werden mit 22 Ju­ ließen sich kaum zutreffende Aussagen über die gendlichen und jungen Erwachsenen ein, bisweilen Entwicklung des Genres, seine Themenschwerpunkte auch zwei intensive Leitfaden-Interviews geführt. Ei­ etc. machen, wenn nicht die Produktionen in ihrem nen Teil des Interviews beinhaltet das gemeinsame Gesamtumfang zugrunde gelegt würden, die ja auch Ansehen von sechs im zweiten Kapitel analysierten tatsächlich ausgestrahlt und von den Hörern gern re­ Musikvideos (Billy Idol, Whitney Houston, K7, zipiert wurden. Salt'N'Pepa, Aerosmith, Madonna), die also Ge­ Wenn auch die Dokumentation der über 3 000 schlechterdifferenz in unterschiedlicher Art und Wei­ Hörspielproduktionen mit mehr als 500 Seiten ein­ se thematisieren. schließlich Quellenangaben und Register eindeutig Die Auswertung der Interviews macht deutlich, den Hauptteil des Bandes einnimmt, so sind doch die wie die Jugendlichen - entsprechend der theoreti­ einleitenden Aufsätze lesenswert: Der Bearbeiter schen Annahmen - durch ihren Musikgeschmack, die stellt hier die Frage »Wann ist ein Hörspiel ein Kri­ Vorliebe für bestimme Musikvideos und durch deren mi?« (S. 11ff.) und versucht die - von ihm weit ge­ Interpretation aktiv Geschlechterverhältnisse re- und fassten 1 - Grenzen der Gattung zu ziehen. Er merkt dekonstruieren. Die in den analysierten Musikvideos durchaus richtig an, dass die bisherige theoretische sich manifestierenden Repräsentationsstrategien Auseinandersetzung die sehr populäre Sparte Krimi­ werden von den Jugendlichen in ganz unterschiedli­ nalhörspiel vernachlässigt hat. Deutlich wird, dass die cher Weise erlebt, verstanden und für die eigene Abgrenzung zum sogenannten literarischen Hörspiel Biographie verfügbar gemacht. Diese Konstruktionen und eine Unterscheidung von »U« und »E« dem Gen­ sind jedoch »weder beliebig noch zufällig« (S. 221), re oftmals nicht gerecht wird. sondern von vielerlei Faktoren wie Alter, Bildungs­ Das Kriminalhörspiel steht vielfach in der Tradition stand, Geschlecht usw. der Rezipientinnen bestimmt. der Kriminalliteratur. Ebenso wie andere Hörspielgen• Insgesamt zeigt sich die Autorin - und mit ihr der res bezog und bezieht es häufig seine Stoffe aus der Rezensent - von der Vielzahl an Rezeptionsmöglich• Literatur - als Funkbearbeitung einer Roman- oder keiten der Jugendlichen beeindruckt. Eine Interviewte Erzählvorlage. Der Beitrag »Geschichte der Kriminal­ drückt die Möglichkeiten so aus: »Und da sieht man, erzählung« (S. 21-28) trägt dem Rechnung. Der fol­ wie viele Möglichkeiten es eigentlich gibt, also, dass gende Aufsatz »Das Kriminalhörspiel - Themen, Ty­ man am Rand ist, so zwischen allem, dass man alles pen, Töne« (S. 31-59) leistet einen Überblick zur sein kann, und dass man auch mal auf die andere Entwicklung der Gattung von 1924 bis 1994, wobei Seite hüpfen kann.« (S. 224). auch die Zeit des Nationalsozialismus nicht ausge­ >Puzzling Genden von Ute Bechdolf ist eine wich­ spart bleibt und zudem den Produktionen der DDR tige Studie, die der Auseinandersetzung mit dem Mu­ ein eigenes Unterkapital gewidmet ist. Der kleine sikfernsehen viele neue Impulse geben kann. Ihr prä• Beitrag »Kriminalhörspiele zum Kaufen« (S. 63f.) ziser Blick auf das Medium aus einer Rezipientlnnen­ zeigt die neuere Entwicklung auf, Hörspiele nicht nur perspektive hilft ein seit langem bestehendes For­ im Rundfunk auszustrahlen, sondern sie zusätzlich schungsdesiderat zu mindern. auch als Kaufkassetten bzw. CDs zu vertreiben. Wie Thomas Münch, Oldenburg die zahlreichen Verlagsgründungen bzw. Verlagsko­ operationen mit Rundfunkanstalten zeigen, ist inzwi­ schen ein boomender Markt im Bereich (Kriminal-) Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.) Hörbuch entstanden. Kriminalhörspiele 1924-1994. Die eigentliche Dokumentation (S. 69-573) führt Eine Dokumentation. Zusammengestellt und Kriminalhörspiele im Alphabet der Titel auf. Die we­ bearbeitet von Andreas Meyer (= Veröffentlichungen sentlichen Angaben zu Autor, Inhalt (soweit möglich), des Deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 14). Regie, Musik, Mitwirkenden, produzierendem Sender, Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1998, Produktionsjahr, Länge des Hörspiels und Betriebsart 600 Seiten. (falls Mono) sind jeweils aufgeführt, zum Teil angerei­ chert durch Wissenswertes über den Autor, den Er­ Die Dokumentation ist das Ergebnis der Arbeit eines folg eines Hörspiels oder eines Mehrteilers, die Krimi- und Kriminalhörspiel-Liebhabers, der sich mit mehrfache Bearbeitung eines Stoffes durch verschie­ der Materie und der klaren Zielsetzung, einen Katalog dene Rundfunkanstalten. Zurückgegriffen hat der Be­ mit den Daten der wichtigsten Krimi-Hörspiele he- arbeiter bei seinen umfangreichen Recherchen auf Tonträger, Manuskripte, Sendenachweise, Honorar------·------·------

88 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

belege, zum Verfassen der Abstracts auf Pressetexte ren, Komponisten, Regisseure, Dramaturgen und der Sender, Ankündigungen in der Programmpresse Hörspielleiter sind hier versammelt, die in ihrem Me­ - was man den Formulierungen zum Teil auch an­ tier richtungsweisend für das Hörspiel - nicht nur des merkt. Entstanden ist eine umfangreiche und wert­ BR- tätig waren bzw. sind. volle Zusammenstellung, die sicherlich einige Lücken Der Aufsatz »Hörspiel revisited« (S. 149-157) be­ aufweist (z. 8. fehlen die drei Dickie Dick Dickens­ richtet über Remix-Hörspiei-Produktionen - eine Art Staffeln von Radio Bremen (RB) 1960/61, die Reihe »Gestaltungsabenteuer« der 90er Jahre, das ältere »Spurlos verschwunden« in acht Teilen, RB 1957, Produktionen mittels zeitgenössischer Produktions­ das Dürrenmatt-Hörspiel »Die Panne« in der Produk­ praxis und -theorie in neue Zusammenhänge stellt. tion des DDR-Rundfunks von 1962). Insgesamt Dem Hauptteil des Bandes, dem Katalog der Hör• schmälert das den Wert der Dokumentation nicht, spielproduktionen des BR von 1949 bis 1999 (S. 165- denn wer bei einer solchen Arbeit Vollständigkeit er­ 417), ist ein editorischer Bericht vorangestellt, der wartet, kann das nur in Unkenntnis der oft rudimentä• Auswahl, Umfang und Anlage der Dokumentation um­ ren und widersprüchlichen Quellen- und Materiallage. reisst: Sie umfasst die einschlägigen Produktionen Carmen Vosgröne, Osnabrück der Abteilungen des BR, die mit dem Hörspiel befasst waren bzw. sind, grenzt aber ab zu Features, Radio­ Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« hier einzu­ Opern, Theatermitschnitten etc. Aus programmge­ ordnen, erscheint allerdings doch etwas verfehlt. schichtlichen Erwägungen wurden auch alle ge­ löschten Produktionen aufgeführt, was natürlich die Recherche vor schwierigere Aufgaben gestellt hat, Herbert Kapfer (Hrsg.) gleichwohl unverzichtbar ist, will man die gesamte Vom Sendespiel zur Medienkunst Hörspielproduktion des genannten Zeitraums er­ Die Geschichte des Hörspiels im Bayerischen schließen, einordnen und bewerten. Der Katalogein­ Rundfunk. Das Gesamtverzeichnis der trag zum einzelnen Hörspiel beschränkt sich auf die Hörspielproduktion des Bayerischen Rundfunks primären Produktionsangaben in chronologischer 1949-1999. Ordnung nach dem Erstsendedatum. Darüber hinaus München: belleville Verlag Michael Farin 1999, gehende Angaben wie Sprecher und Rollen sind in 487 Seiten. der Datenbank des BR nachgewiesen. Schade ist, dass man hier mit dem Nachweis der Hörspiele erst Mit »Vom Sendespiel zur Medienkunst« legt der Bay­ im Jahr 1949 beginnt und nicht die gesamte Produk­ erische Rundfunk (BR) einen umfangreichen Band tion seit Programmbeginn des Münchner Senders zur Hörspielgeschichte des Senders vor - entstanden 1924 aufführt. Da die Autorin Bettina Hasselbring in auf Initiative der Abteilung Hörspiel und Medienkunst ihrem Aufsatz »Am Anfang war Dorfrichter Adam« mit Unterstützung von Hörfunkdirektion und Sende­ (S. 19-30) die Zeitspanne von 1924 bis 1933 behan­ leitung im Rahmen eines zweijährigen Projekts. delt, einschließlich des Ausblickes auf die Entwick­ Wenn der Herausgeber in seinem einleitenden lung nach 1933, und etliche Produktionen mit Sende­ Beitrag (S. 11ff.) den Nachweis der Hörspielprodukti• datum nennt, scheint doch hier eine Datenbasis vor­ onen der Rundfunkanstalt lediglich als »Nebenpro­ handen zu sein, auf die man hätte zurückgreifen kön• dukt« der Digitalisierung bezeichnet, so bietet der nen. Die Produktionen Radio Münchens, des SR­ Band doch weitaus mehr. Drei Aufsätze (S . 19-130) Vorgängers, sind zwar von 1945 bis 1949 in einer spannen den Bogen vom ersten in München ausge­ Publikation des Deutschen Rundfunkarchivs 1 veröf• strahlten Hörspiel 1924 bis zu neuesten Entwicklun­ fentlicht, doch auch hier wäre es wünschenswert ge­ gen 1999. Die kenntnisreichen Beiträge befassen wesen, sie nochmals aufzuführen, um ein möglichst sich mit Aspekten der Hörspielentwicklung in einzel­ geschlossenes Bild des Hörspielrepertoires eines nen Zeiträumen: der Existenzberechtigung des Hör• Senders zu erhalten. Eine Diskographie - Hörspiele spiels als einziger, originärer Radiokunst, der institu­ des BR, die auf Schallplatte, MC bzw. CD veröffent• tionellen Verankerung, dem Einfluss der jeweiligen licht wurden - schließt sich an, wobei sich in die Chefdramaturgen bzw. Abteilungsleiter. Einzelne Überschrift »Diskographie 1970-1999« eine Unge­ herausragende Produktionen werden hervorgehoben; nauigkeit bezüglich der ersten Jahresangabe einge­ Zitate und Produktions- bzw. Autorenphotos illustrie­ schlichen hat und der Bezugspunkt - Produktionsjahr ren die Hörspielgeschichte. Zudem wird der Einfluss des Hörspiels beim Sender vs. Veröffentlichung auf der Hörspieltheorie deutlich gemacht. Die Frage der LP/MC/CD- nicht klar ist. Preisrichter des Hörspielpreises der Kriegsblinden Der insgesamt sehr informativ und sorgfältig zu­ anlässlich der eingereichten Produktionen von 1974 sammengestellte Band erschließt sich über drei Re­ »Was ist eigentlich ein Hörspiel und welchem Zweck gister (ab S. 426): je ein Titel- und Personenregister dient es?« (S. 75) wurde von Beginn an gestellt und zum Katalogteil und ein integriertes Personen- und eigentlich nie eindeutig beantwortet: Das Genre hat Sachregister zum TextteiL durch neue Verfahren und Entwicklungen immer die Carmen Vosgröne, Osnabrück eigenen Grenzen im Fluss gehalten, was auch der Titel der Publikation unterstreicht. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Hörspiel Eine Zusammenstellung der Porträts von 17 Hör• (1945-1949). (= Veröffentlichungen des Deut­ spielmachern (S . 131-148), jeweils mit einem Photo schen Rundfunkarchivs, Bd. 12). Potsdam 1997. versehen, stellt Biographien und Schaffen von A wie Rezension in RuG Jg. 24 (1998), H. 2/3, S. 176. llse Aichinger bis W wie Paul Wühr zusammen: Auto- Rezensionen 89

Thomas Steinmaurer Die Akzeptanz des Fernsehens bei seinem Publi­ Tele-Visionen. kum war von Beginn an nicht durch ein technisches Zur Theorie und Geschichte des Fernsehempfangs Interesse zu vermitteln, sondern von ökonomischen (= Beiträge zur Medien- und Faktoren und vor allem vom Angebot bestimmt. Da Kommunikationswissenschaft, Bd. 3). die optische »Qualität« des frühen Fernsehens und lnnsbruck/Wien: Studienverlag 1999, 460 Seiten. die Intensität der Rezeption mit Film und Kino nicht konkurrieren konnte, musste sich die »televisuelle Der zentrale Ansatz der Dissertation von Thomas Disposition« (S. 70) durch andere Vorteile auszeich­ Steinmaurer liegt in der Bemühung, einige wesentli­ nen. Die Ausweitung und Beherrschung des Raumes che nationale und firmenspezifische Entwicklungsge­ durch Verkehrs- und Wahrnehmungstechnologien schichten des Fernsehens zusammenzuführen. Sein werden zur Begründung dieser Dispositionen zu­ reich dokumentiertes und mit vielen Schwarz/ Weiß• sammengeführt, wobei der Verfasser Mobilität und Abbildungen versehenes Buch berücksichtigt ein Privatisierung als sich wechselseitig ergänzende breites Spektrum von technischen Entwicklungsleis­ Entwicklungstendenzen in den Mittelpunkt rückt. Indi­ tungen, wirtschaftlichen Interessen und politisch mo­ vidualverkehr und virtuelle Weltaneignung durch das tivierten PR-Aktionen rund um das Fernsehen. Fernsehen werden hierbei als parallele Stränge be­ Zugleich wird beim Lesen deutlich, wie sehr die tech­ handelt. nische Entwicklung - ihre Erfolgsgeschichte und ihre Mit dem Gerät als »negativer Wohnzimmertisch« Sackgassen - mit den Visionen und Utopien des 19. (S. 297) wird das Fernsehen in die Normalität seiner und 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die Durchset­ Zuschauer eingebaut und verliert im Laufe der Zeit zung der Technologie als Massenmedium ist hiervon den Status einer nicht-alltäglichen zeremonialen Re­ ebenso betroffen wie die ökonomischen und sozialen zeptionssituation. Zugleich bedeutet dieses negative Zukunftsphantasien, die die Aussicht auf Verbreitung Zentrum nur einen Schritt hin in Richtung einer indivi­ von kommerziellen Audiovisionen im Internet hervor­ duelleren Kopplung zwischen Gerät, Einzelrezipien­ ruft. Bei der aktuellen Euphorie über die Cyberspace­ ten und Zielgruppenangeboten. Die Normalität des Technologjen ist es erstaunlich, dass der Verfasser Mediums und seine Leitbildfunktion sieht der Verfas­ gute Gründe dafür angeben kann, dass das Fernse­ ser darin, dass es nun in vielfältige andere Alltags­ hen sowohl als Angebots- wie auch als Rezeptions­ praxen eingebaut wird: Hotelfernsehen, Begleitmedi­ form durchaus noch eine lange Zukunft haben könn• um in Luxusautos oder auf Flugreisen gehören hierzu te. wie die Normalität einer kommerziell orientierten An­ Die Beschreibung der Fernsehgeschichte wird gebotsstruktur, der sich das Fernsehen auch in Euro­ anhand der Leitidee der »mobilen Privatisierung« pa nicht entziehen konnte. modelliert. Dieser Ansatz ist aus dem cultural studies Die Erfolgsgeschichte des Mediums setzt sich bis approach abgeleitet und setzt sich zum Ziel, Ent­ heute durch vielfältige Ausdifferenzierungen und wicklungslinien von Medien- und Verkehrsgeschichte Vermischungen mit anderen Medien- und Rezepti­ zu integrieren. ln diesem flexiblen Theorierahmen onsumgebungen fort. Hier unterstreicht der Verfasser werden Technik-, lnstitutions- und Rezeptionsge­ die Offenheit der Zukunftsperspektiven. So ist es schichte berücksichtigt, die als Bestandteile einer durchaus wahrscheinlich, dass einige Rezipien­ »sozio-technischen Mentalitätsgeschichte« (S. 70) zu tengruppen weiterhin die Angebotsform des heutigen verstehen sind. Für die Zeit der frühen Funktionsuto­ Fernsehens bevorzugen; für andere Interessenten ist pien führt dies beispielsweise dazu, dass die Paralle­ zu erwarten, dass diese Angebotsformen von einem lität der Visionen im Umfeld mentalitätsgeschichtlich weit gefassten Mediendispositiv Audiovision aufge­ benachbarter Medien wie Telegrafie, Hörfunk, Film sogen werden. und Fernsehen wieder vereinigt werden können und Peter M. Spangenberg, Köln nicht vom gegenwärtigen Zielpunkt der Entwicklung beschrieben werden. Diese vergangene Zukunft von Technologienentwicklungen, die noch nicht mit dem Reiner Burger Pluraletantum »die Medien« bezeichnet wurden, öff• Theodor Heuss als Journalist. net den Blick für bekannte (Robida: Le vingtieme si­ Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher ecle. 1883) und weniger bekannte (Charles: The Fai­ Geschichte (= Kommunikationsgeschichte, Bd. 7). ry Electric. 1928) Diskursverknüpfungen. Parallelen Münster u.a.: Lit Verlag 1999, 558 Seiten. zu den technik- und mentalitätsgeschichtlichen Un­ tersuchungen von Wolfgang Schivelbusch (z.B. Licht, Der erste Bundespräsident ist als schwäbischer Schein und Wahn. Berlin 1992) sind für den Leser Schöngeist in Erinnerung geblieben, der die politi­ hier offensichtlich. Die Ausweitung und Beherrschung sche Kultur der jungen Republik durch kluge, häufig des Raumes durch Verkehrs- und Wahrnehmungs­ humorvolle Beiträge bereicherte und einen eigenen techniken sowie die bildliehe Fernanwesenheit eines Stil zivilistischer lntellektualität prägte, der ihn populär Kommunikationspartners sind hier in vielfältigen Vari­ und posthum stetig populärer werden ließ. Theodor ationen zu beobachten. Die allgemeine Entwicklung Heuss (1884-1963) wusste um die Zusammenhänge der Industrieproduktion und das unterschiedliche von Politik und Öffentlichkeit, hatte er doch zeitlebens Entwicklungstempo in den USA und in Europa wer­ versucht, sowohl journalistisch wie politisch tätig zu den dabei unter dem Gesichtspunkt der Mobilisierung sein. Angesichts dieses Umstandes ist es geradezu und der »Privatisierung« der individuellen Erfahrung verwunderlich, dass in der reichhaltigen Heuss­ zusammengedacht Literatur diesem Aspekt bisher nur geringe Aufmerk- 90 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) samkeit gezollt wurde. Reiner Burger hat die Lücke tik, auf das sich >Die Hilfe< nun konzentrierte, han­ mit seiner Eichstälter Dissertation jetzt zu einem gu­ delte es sich allerdings in den ersten Jahren des ten Teil geschlossen. Die Darstellung umspannt das Dritten Reiches wohl eher um partiell gleichgerichtete halbe Jahrhundert journalistischer Tätigkeit des spä• imperialistische Interessen nationalkonservativer, na­ teren Bundespräsidenten bis zu dessen Amtsantritt. tionalliberaler und nationalsozialistischer Observanz. Ausgeklammert bleibt lediglich - bis auf einen kurzen Dennoch geriet >Die Hilfe< wegen einiger mutiger Äu­ »Appendix<< - das Verhältnis zu den Medien in die­ ßerungen, etwa gegen den primitiven Antisemitismus sem Amt. des >Stürmer<, ins Visier der Gestapo. Um die Exis­ Seine Karriere begann Heuss 1905 als Feuilleton­ tenz der Zeitschrift nicht zu gefährden, gab Heuss die redakteur an Friedrich Naumanns Zeitschrift >Die Leitung Ende 1936 auf und zog sich nun immer mehr Hilfe<, für die er schon drei Jahre zuvor - noch als auf feuilletonistische Beiträge für verschiedene Blät• Schüler - den ersten Artikel verfasst hatte. Im Rah­ ter zurück - darunter die >Europäische Revue< des men der nationalsozialen Strömung des deutschen Prinzen Rohan und 1940/41 für das nationalsozialis­ Liberalismus entfaltete Heuss fortan eine erstaunliche tische Renommierorgan >Das Reich<, das sich erfolg­ journalistische Produktivität - Burger hat weit über reich um so manche prominente Edelfeder des bür• 4 000 Artikel erfasst -, während er sich gleichzeitig gerlichen Journalismus bemühte. Ein recht vorteil­ um parlamentarische Mandate bemühte. Es wech­ hafter Ausschließlichkeitsvertrag band ihn seit Mitte selten Phasen, in denen er ausschließlich für Zeitun­ 1941 an die >Frankfurter Zeitung< - vorteilhaft auch gen und Zeitschriften schrieb, und solche, in denen deshalb, weil das monatliche Fixum nach deren Ein­ die politische Arbeit im Vordergrund stand - ohne stellung vom Societäts-Verlag bis 1944 weiter ausbe­ dass er allerdings den Journalismus ganz aufgab. zahlt wurde, während er nebenbei für das >Hambur­ Und es wechselten - zeitbedingt - die journalisti­ ger Fremdenblatt< und die >Potsdamer Zeitung< schen Felder vom Feuilleton zu politischen Themen schreiben konnte. Dass Heuss 1945 einer der Li­ und zurück. Burger gliedert seine Darstellung in den zenzträger der Heidelberger >Rhein-Neckar-Zeitung< einzelnen chronologischen Kapiteln jeweils nach dem wurde, verweist auf die Machtverteilung in den Gre­ gleichen Schema: Nach einer (etwas zu) knappen mien alliierter Pressepolitik, die sich abseits der offi­ Skizze des historischen Kontextes werden die Zei­ ziellen Richtlinien gestaltete, denen zufolge Heuss tungen und Zeitschriften beschrieben, für die Heuss als durchgängig aktiver Journalist im Dritten Reich journalistisch tätig wurde, dann werden Umfang und zumindest für einen führenden Posten nicht infrage Schwerpunkte seiner Beiträge quantitativ und teilwei­ gekommen wäre. Allerdings führte der Weg ohnehin se inhaltsanalytisch erfasst. Dies macht die Darstel­ bald in die Politik und damit zum Abschied vom akti­ lung sehr übersichtlich, aber eine darstellerische In­ ven Journalistenleben. tegration hätte einige Wiederholungen vermeiden und Die quellengesättigte Arbeit von Burger bereichert das Lesevergnügen sicherlich steigern können. unsere Kenntnisse nicht nur über den Lebensweg Noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges des ersten Bundespräsidenten und die Zeitschriften (1912) übernahm Heuss die Chefredaktion der in und Zeitungen, für die er tätig war, sondern markiert Heilbronn erscheinenden >Neckar-Zeitung< und redi­ darüber hinaus allgemeine biographische Muster von gierte parallel das von Albert Langen, Ludwig Thoma Journalisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Hermann Hesse gegründete literarisch-politische - über die politischen Regime-Zäsuren hinweg. Blättchen >März<. Während der Weimarer Republik Axel Schildt, Harnburg befand sich Heuss in Berlin, wo er die >Deutsche Po­ litik< (1918-1922) und die >Deutsche Nation< (1922- 1925) leitete- Zeitschriften, die sich auf der Linie von Roger Chartier/Gugliemo Cavallo (Hrsg.) Naumanns Imperialismuspropaganda bewegten. Für Die Welt des Lesens. die Deutsche Demokratische Partei (DDP) von 1924 Von der Schriftrolle zum Bildschirm. bis 1928 und dann wieder ab 1930 im Reichstag, Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag/Edition de Ia betätigte sich Heuss als freier Journalist, vorzugswei­ Maison des Seiences de I'Homme 1999, 688 Seiten. se für den >Volkswirt<. Das interessanteste Kapitel bildet die Zeit des Dritten Reiches, zum einen als Bodo Franzmann u.a. (Hrsg.) Beitrag zur insgesamt noch kaum zureichend aufge­ Handbuch Lesen. arbeiteten Pressegeschichte während des NS-Regi­ München: K.G. Saur Verlag 1999, 690 Seiten. mes, zum anderen, weil die Ausführungen in den Memoiren von Heuss einige Sachverhalte etwas Norbert Groeben (Hrsg.) weichgezeichnet hatten. Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Heuss, der als Abgeordneter der Staatspartei Ein Schwerpunktprogramm (= Internationales (Nachfolgerin der DDP) dem Ermächtigungsgesetz Archiv für Sozialgeschichte der deutschen zugestimmt und deshalb zeitlebens ein schlechtes Literatur, Sonderheft 10). Gewissen hatte, übernahm zunächst >Die Hilfe< und Tübingen: Niemeyer 1999, 252 Seiten. kehrte damit gewissermaßen wieder zu seinen An­ fängen zurück. Dort versuchte er einen Kurs zu steu­ Nimmt man das in italienischer Sprache bereits 1995 ern, der, so Burger, »auf Integration, Kooperation, erschienene, von einem Kreis renommierter und höchstens auf vage kritische Begleitung angelegt war sachkundiger Autoren vornehmlich aus dem romani­ und oftmals zu erstaunlichen inhaltlichen Konzessio­ schen Kulturkreis verfasste Opus »Die Welt des Le­ nen führte<< (S. 304). Auf dem Gebiet der Außenpoli- sens<< zur Hand, weht den Leser der lange Atem der Rezensionen 91 abendländischen Bildungs- und Wissenschaftsge­ des Lesens möglicherweise weniger bedeutsam ist: schichte an, die ganz entscheidend von ihrer Schrift­ dies gelte ebenso für das Hochmittelalter wie für die kultur geprägt ist. Die Entwicklung des Denkens und »Leserevolution« des 18. Jahrhunderts. Diese Beo­ Forschens vollzog sich weitgehend in der Form des bachtungen decken sich durchaus mit Erfahrungen schriftlich fixierten Textes; die schriftliche Dokumen­ bei der Ausbreitung der elektronischen Medien - dort tation der Ergebnisse war Grundlage bzw. Aus­ allerdings in viel kürzeren Zeitintervallen. Technische gangspunkt für den weiteren Erkenntnisfortschritt Entwicklungen für Herstellung, Verbreitung und Re­ Wandel im Denken und Argumentieren manifestiert zeption standen bereits zur Verfügung, bevor darüber jeweils auch einen Wandel der Schrift- und Buchkul­ entschieden wurde, wie sie im gesellschaftlichen tur, wie sich an den überkommenen Zeugnissen ab­ Kontext angeeignet und verwendet werden sollten. lesen lässt. Geschrieben und später gedruckt wurde Lesegeschichtliche Abhandlungen erstaunen den im Laufe der Jahrhunderte zweifellos auch viel Trivi­ von empirisch-sozialwissenschaftlicher Methodik ales. Doch das Zerstreuende bzw. Unterhaltende nicht unbeeindruckten Rezensenten zuweilen da­ verbindet der Unbefangene wie auch der Kundige in durch, mit welcher Unbekümmertheit die Buch- und erster Linie mit den nicht schriftgebundenen moder­ Lesehistoriker nur spärlich fließende Informationen nen Massenmedien, dem Film, dem Radio und dem nicht nur über das antike wie mittelalterliche, sondern Fernsehen. Bei allem Respekt vor deren kulturellen auch das Lesen im 19. und 20. Jahrhundert typisie­ Spitzenleistungen wie auch dem seriösen aktuellen ren bzw. zu einem Gesamtbild verallgemeinern und Journalismus der elektronischen Medien: Diese vor den Lektürekonsum in ein soziales bzw. kulturelles allem werden wahrgenommen als die Unterhalter und Umfeld integrieren. Demgegenüber bleiben die heuti­ »Verführer« der Massen. gen quantitativen und um soziodemographische Dif­ Auch diesbezüglich markiert »Die Weit des Le­ ferenzierungen ergänzten Nutzungsdaten häufig sens« indirekt die zuweilen unsachgemäßen und un­ blass. Man fragt sich zum wiederholten Mal, ob und gerechten Zuschreibungen und Wertungen im Dis­ wie die aktuelle Lese- und auch Rezeptionsforschung kurs über die verschiedenen Medien. Bei diesem im Rundfunkbereich eine ausgewogenere Balance Buch kommt der oben skizzierte Eindruck auch des­ zwischen exakten quantitativen Methoden und einer halb zustande, weil es sich in erster Linie auf den Zu­ Vergehensweise finden könnte, die den komplexen sammenhang von hochkultureilen Leistungen in Lite­ Vorgang der Medienrezeption in seiner Breite erfasst ratur bzw. Wissenschaft und der Schrift- bzw. Lese­ und mit Verzicht auf statistische Genauigkeit dennoch kultur konzentriert. Die »niederen Sphären« werden an repräsentativen Beispielen exemplifiziert. nicht ausgeklammert, da Presse und Buch seit dem Gewinnt das erstgenannte Buch aus historischer 19. Jahrhundert auch zu Massenmedien mutierten. Selbstvergewisserung Statur und einer alles in allem ln zwölf Kapiteln dokumentiert der Sammelband optimistischen Wertung auch der Zukunft des Le­ den Umgang mit Schrift und »Schriftspeichern« von sens, so ist nicht zu verkennen, dass das »Handbuch der vorchristlichen Antike bis in das 19. Jahrhundert. Lesen« alles in allem aus einer defensiven Position Im 13. Kapitel wird merkwürdigerweise nicht das 20. heraus geplant und geschrieben wurde. Aus der an­ Jahrhundert behandelt. Über dieses erfährt man so sonsten kargen Einleitung geht immerhin hervor, gut wie nichts, dafür wird hier die Zukunft des Lesens dass die Herausgabe stark, wenn nicht ausschließ• erörtert, die nicht literarische bzw. -wissenschaftliche lich, dadurch motiviert war, eine aus der historischen Lektüre der »Massen« bzw. ihre Lesestoffe bleiben in Tradition wie den Ergebnissen aktueller Forschungen dem ganzen Band unterbelichtet Ein besonders mar­ entwickelte Strategie gegen den durchaus nachweis­ kantes Beispiel dafür, wie das abendländische Den­ baren Rückgang des Lesens zu entwickeln, der in ken und Wissen mit den Formen der schriftlichen erster Linie auf die Herausforderungen durch die au­ Aufzeichnung bzw. ihrer Reproduktion verwoben ist, diovisuellen bzw. die neuen Digitialmedien zurück• findet sich in den Passagen, die sich mit dem Aus­ geführt wird. tausch der (Papyrus-)Rolle durch den Codex, d.h. Das Buch ist in 18 sogenannte Großkapitel von das Buch in unserem Sinne, in der Spätantike be­ teilweise sehr unterschiedlichem Umfang aufgeteilt. schäftigen, eine Veränderung, die sich - aber nicht Von den Herausgebern nicht weiter strukturiert, er­ alleine - unter dem Einfluss des veränderten Verhält• kennt der Leser bald drei große Abschnitte. Ein erster nisses der Christen zum Text vollzog. Weniger ge­ Block behandelt die »Aufnahme« des Lesestoffs läufig aber ebenso wichtig ist der Wandel des wis­ durch das Subjekt, beginnend mit einem kompri­ senschaftlichen Argumentierens im Hochmittelalter in mierten Beitrag über die Geschichte des Lesens bis Theologie, Philosophie und Jurisprudenz, was sich 1945. Es folgen Ausführungen zur empirischen Le­ postwendend auf Buchaufbau und Schriftbild aus­ seforschung seit den 50er Jahren und ein zusam­ wirkte, da man sich von der alleinigen Berufung auf menfassender Überblick über den Stand der Psy­ die »Tradition« und die Belegstellen für seine An­ chologie des Lesens bzw. die Kenntnisse über hirn­ sichten löste. Die damit verbundene »Leserevolution« physiologische Vorgänge bei der Rezeption von im 12./13. Jahrhundert stellte möglicherweise einen Texten. bedeutenderen Einschnitt dar als Renaissance und ln einem zweiten Block des Handbuchs geht es in Reformation und die in diesem Kontext stattfindende sieben Kapiteln um Herstellung und Distribution des Erfindung des Buchdrucks bzw. seine rasche Verbrei­ Lesestoffs, jeweils unter Berücksichtigung der ge­ tung. Diese Einsicht lässt die Herausgeber in ihrer schichtlichen Voraussetzungen. Einem Kapitel über Einleitung feststellen, dass der technische Fortschritt die »Druckmedien« schließen sich Bemerkungen der Textherstellung und -distribution für den Wandel über die mögliche Zukunft der digitalen Textverbrei- 92 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) tung (CD und Internet) an. Das »Autor und Publikum« tung - nicht ohne Nutzen, über ein vergleichbares überschriebene Kapitel befaßt sich im wesentlichen Handbuch zu Hörfunk, Fernsehen, Film und zu öen unter sozialgeschichtlichen bzw. soziologischen As­ neuen Verbreitungsformen zu verfügen. Die Schwie­ pekten mit der Rolle des Autors und stellt Autoren­ rigkeit der Aufgabe, ein solches Handbuch bei der vereinigungen als Interessenverbände vor. Dem Heterogenität der methodischen Zugänge nicht nur »Buchhandel« (im weitesten Sinne) ist ein Kapitel als einheitliches Ganzes zu konzipieren, sondern gewidmet, ebenso der Formenvielfalt der »Bibliothe­ auch zu realisieren, wird nicht verkannt.1 ken« sowie der Zensur in Geschichte und Gegenwart. Liest man parallel zum »Handbuch Lesen« eine Der letzte Block des Handbuchs beschäftigt sich erste Veröffentlichung des DFG-Schwerpunktpro­ mit der »Lesekultur« und Leseförderung, wobei die gramms »Lesesozialisation in der Mediengesell­ Förderung von Literatur-»Herstellung« und -rezeption schaft« drängt sich die Frage auf, ob es möglicher• im Vordergrund steht. Breiten Raum nehmen Didaktik weise sinnvoll gewesen wäre, mit der Herausgabe und Methodik des Lesenlernens in der (Grund-) des »Handbuchs Lesen« zu warten, bis (Teii-)Ergeb­ Schule und des schulischen Literaturunterrichts ein nisse dieses Forschungsprojektes vorgelegen hätten. und die im Zusammenhang mit jeglichen Formen des Jedenfalls ist es unübersehbar, dass dessen Kon­ Lese- bzw. Schreibunterrichts stehende familiäre und zeption, wie sie im Abdruck des Schwerpunktpro­ darüber hinausgehende (meist literarische) Lesesozi­ gramms sowie in der Beschreibung von zwölf Einzel­ alisation. Den Abschluss des Buches bildet ein Kapi­ projekten vorgestellt werden, viel breiter angelegt ist. tel über die Ikonographie des Lesens. Auch fehlt der defensive, an überkommenen Vorstel­ Bei allem Respekt vor dem Zusammentragen ei­ lungen des (literarischen) Lesens orientierte Grund­ nes so disparaten Stoffs können einige grundsätzli• zug des Handbuchs. Dies zeigen schon die knappen che Schwächen in Anlage und Konzept des Hand­ Zusammenfassungen der in den Stand der Lesefor­ buchs nicht verschwiegen werden. So ist zu monie­ schung und der zahlreichen Forschungslücken bzw. ren, dass der Stellenwert des Lesens im Ensemble -desiderata im »Prozess der Aneignung und Vermitt­ der Nutzung anderer Medien der technisch vermittel­ lung von Kompetenz zur Textrezeption und -Verarbei­ ten Kommunikation mit Besorgnis und wenig offensiv tung« Einblick gebenden Einleitung von Norbert Gro­ diskutiert wird; vorbehaltloser geht da der Band »Le­ eben, Bettina Hurrelmann, Hartmut Eggert und Chris­ sesozialisation« mit dem Gegenstand um. »Kulturkri­ tina Garbe. tisch« gewendete Werturteile prägen auch dort die Explizit sollen »neben literarischen Texten und Perspektive, wenn letztlich die verschiedenen Arten >literarischem< Lesen auch Gebrauchstexte und in­ des Lesens nicht aufeinander bezogen werden und formierendes Lesen berücksichtigt« werden. Wenn unklar bleibt, ob man nun das gesamte Spektrum von hier die »motivational-emotionale[n] sowie die sozia­ Lesestoff-Produktion und -Rezeption ausbreiten solle. le[n] Aspekte« - die kognitiven sollen nicht eigens An keiner Stelle wird begründet, warum sich das thematisiert werden - angesprochen werden, so sind Handbuch im wesentlichen auf den Umgang mit dem damit die Einflussfaktoren gemeint, die im weiteren Buch und dem Lesen »schöner Literatur« konzent­ Verlauf als sozialer Kontext bzw. die »Mediengesell­ riert. Die Zusammenhänge mit der Rezeption von schaft« näher expliziert werden. Sie können mögli• Zeitungen und Zeitschriften, von Sachbüchern und cherweise die Lesefähigkeit und -freudigkeit fördern sonstigen Formen der Lektüre - beispielsweise dem oder einschränken (S. 1). Drei Problemebenen sollen im beruflichen Alltag weiter Bevölkerungskreise zu­ dabei untersucht werden: die diachron-historische der nehmenden Umgang mit Texten - hätten, wenn Gesellschaft, die diachron-individuelle in der Ontoge­ schon nicht integriert, wenigstens systematisch und nese und die synchron-systematische der derzeitigen ausdrücklich abgegrenzt werden müssen. Man ver­ Medienstruktur und -nutzung.« (S. 2) Quer dazu ste­ misst leitende Vorstellungen über die z.B. von Erich hen die geschlechterspezifischen Grundlagen und Schön für den geschichtlichen Rückblick fruchtbar Ausprägungen, worauf angesichts besonderer Erfah­ gemachte, allerdings in Geschichte und Gegenwart in rungen der Geschichte des Lesens und des überwie• vielen Zwischenstufen vermittelte Reziprozität von genden weiblichen Elements in der Erziehung zur Le­ Produktion und Rezeption von Lesestoff. sefähigkeit besonderer Wert gelegt wird. Wenn vor­ Schließlich scheint nicht abschließend geklärt urteilsfreier geklärt wird, »inwieweit und in welcher worden zu sein, ob denn ein wissenschaftliches Form die Lesesozialisation als Voraussetzung für ei­ Handbuch oder eines für die Praxis herausgegeben ne aktive Teilnahme an der Mediengesellschaft gel­ und wie dieser Anspruch im einzelnen eingelöst wer­ ten kann« (ebd.), sind die aktuellen Tendenzen in der den soll. Vor allem große Teile der Kapitel über die Entwicklung der anderen Medien anders zu bewer­ Leseförderung sind allzu deskriptiv und gelegentlich ten, als dies die Autoren des Handbuchs entweder »bemüht« geraten, und man fragt sich auch, ob die offen oder unterschwellig tun. didaktischen und methodischen Handreichungen und Ein Teil der in den einzelnen Beiträgen explizier­ beispielsweise die lückenlose Ausbreitung von z.T. ten Forschungsprojekte geht in der Entwicklung ihrer kurzlebigen Einrichtungen und Projekten der Lese­ Fragestellung von der Medienkonkurrenz und deren förderung nicht besser in ein Handbuch oder Lexikon Auswirkungen auf Lesefähigkeit und Leseverhalten für die Praxis (von Bibliothekaren, Lehrern etc.) ge­ aus. Zwei Projekte thematisierten expressiv verbis hörten. den Einfluss des Fernsehens auf die individuelle Le­ Zweifellos wäre es auch für die (Hochschui-)Lehre sekultur, zwei weitere untersuchen die noch allzu und Forschung wie auch einen breiteren Kreis inte­ wenig bekannten Zusammenhänge zwischen der Le­ ressierter Leser - z.B. in pädagogischer Verantwor- sesozialisation in den verschiedenen Schultypen und Rezensionen 93 der Lesefähigkeit bzw. dem Lektürekonsum; unter u.a. (Hrsg.): Fernsehforschung. 2 Bände. Baden­ Leitung von Bettina Hurrelmann soll noch einmal die Baden 1998. ln: RuG Jg. 25 (1999), H. 2/3, S. Lesesozialisation im Wandel der Familienstrukturen 175f. Es bleibt abzuwarten, ob das Handbuch behandelt werden. Näher betrachtet wird in mehreren »Medienwissenschaft« (hrsg. von Joachim-Felix Projekten die medienübergreifende Relevanz des Leonhard, Hans-Werner Ludwig, Dietrich Schwar­ Narrativen für die Bewältigung des Alltags und die ze, Erich Straßner), dessen erster Band erschie­ sogenannte ldentitätsbildung: Auch in diesem Zu­ nen ist, diesem Anspruch gerecht werden kann. sammenhang zieht das Forschungsprojekt keine so harsche Trennung zwischen dem Lesen und den elektronischen Medien. Und: Auch die Lektüre infor­ Hubert Winkels mierender Texte wird in das Schwerpunktprogramm Leselust und Bildermacht einbezogen, wenn das »Zeitungslesen lernen« aus­ Literatur, Fernsehen und Neue Medien. drücklich Gegenstand der Untersuchung wird. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997, 282 Seiten. Man muss sich fragen, ob es beim Stand der Be­ arbeitung der Projekte, die zum Zeitpunkt der Abfas­ Die Leselust des Rezensenten war zunächst gering. sung der Manuskripte noch nicht einmal ein Jahr Das Thema schien nach allen Richtungen hin seit gefördert wurden, sinnvoll war, über diese bereits in Jahrzehnten wissenschaftlich ausgeschritten, Exkur­ einer vergleichsweise aufwendigen Publikation zu sionen durch die Gutenberggalaxis lassen keine neu­ berichten. Zweifellos vertiefen die Einzelbeiträge den en Entdeckungen mehr erwarten, alle Aspekte des in der »Welt des Lesens« skizzierten Rahmen und Verhältnisses zwischen der Literatur und den Medien geben konkrete Einblicke in die Vorhaben. Jedoch sind betrachtet und erwogen, apokalyptische War­ kann in den wenigsten Fällen über die Richtigkeit der nungen wie kulturoptimistische Verheißungen ver­ Fragestellung, den Erfolg der gewählten Methoden kündet; wozu also jetzt noch dieses Buch? noch vor allem über erste Ergebnisse berichtet wer­ Alle diese Vorbehalte und Überlegungen ver­ den. schwanden nach der Lektüre der ersten Zeilen der Zwei Überblicke über die »Theorielandschaft«, Einleitung. Trockene Gelehrsamkeit findet in dem d.h. einer über die der »ontogenetische[n] Lesesozia­ recht umfangreichen Buch von Hubert Winkels nicht lisation« des bekannten Entwicklungspsychologen statt. Der Autor stellt seine Position schnell klar: Da Rudolf Oerter und ein zweiter von Siegfried J. schreibt ein Literaturkritiker, der auch das Fernsehen Schmidt über »Mediengesellschaft« sollen ein »Hin­ bestens kennt, hat er sich doch eben dieses Medi­ tergrundraster entwickeln, in dem sich die einzelnen ums für seine kritischen Exkurse zur Literatur be­ Projekte verorten sollen, sozusagen als erster Schritt dient. Und der sich des neuen Mediums nicht nur als auf dem langen Weg zu einer Theorieintegration« (S . Instrument zur Propaganda für das alte bedient, son­ VII). Seide heben darauf ab , Lesesozialisation und dern der es ernst nimmt und sich darüber tief lotende Leseverhalten entsprechend dem beobachteten Wir­ Gedanken gemacht hat. Der Autor kennt die Fern­ kungsgefüge auf den Zusammenhang von intrapsy­ sehstudios wie die Podien diverser wissenschaftlicher chischen Vorgängen und interpsychischen - oder Tagungen sehr gut. Zu den Fragen, über die er hier anders ausgedrückt - gesellschaftlichen Prozessen schreibt, ist er schon häufig befragt worden, und er bzw. von Kommunikation zu beziehen. hat seine Antworten wohl erwogen. Und er beobach­ Insgesamt erscheint es in der Tat verfrüht, schon tet das Fernsehprogramm nicht weniger aufmerksam. jetzt »zu fragen, inwieweit die hier skizzierte Zukunft Winkels schreibt mit Kenntnis und Witz. Damit fällt der Lektüre und des Lesens, bestehend aus individu­ das Buch von Winkels schon einmal aus dem Rah­ ellen Praktiken, aus persönlichen Entscheidungen men gegenwärtiger Iiteratur- oder medienkundlicher und Ablehnung von Regeln und Hierarchien, aus pro­ Publizistik in diesem Lande, denn ein geistvoller Es­ duktivem Chaos und wildem Konsum, aus Hybridisie­ sayismus ist nicht gerade eine vorherrschende Stil­ rungen und verschiedenen Repertoires und divergie­ auffälligkeit deutschsprachiger Publizistik. renden, doch parallelen Produktionsniveaus, zu be­ Das Buch ist in vier Hauptabschnitte gegliedert. grüßen oder abzulehnen ist. Tatsächlich befinden wir Der methodelogisch richtungsbestimmenden Einlei­ uns offenbar in einem ausgedehnten und komplexen tung folgt ein Essay zur Position des Literaturkundi­ Prozess, der sich im Laufe eines oder zweier Jahr­ gen in einer Medienwelt, in der das Fernsehen (vor­ zehnte, zusammen mit der Wende vom zweiten zum erst noch) den Ton des gesellschaftlichen Diskurses dritten Jahrtausend konsolidieren und durchsetzen angibt. Seine Kapitel, unter die er jeweils mehrere wird. Erst in 50 oder 100 Jahren werden wir wissen, Texte subsummiert, nennt Winkels »Zerstreuung I« wohin er uns geführt hat, und können dann, wenn uns und »Zerstreuung II«, getrennt bzw. verbunden durch der Sinn danach steht, ein Urteil darüber fällen. Jetzt ein »Zwischenspiel. Der Poet im Cyberspace«, das ist es dafür noch zu früh.« (Welt des Lesens, S. 530) Winkels Dichtern oder Schriftstellern unseres »Me­ Alle drei angezeigten Bücher bieten eine große dienzeitalters« gewidmet hat wie Gert Heidenreich, Fülle von Materialien und Anregungen dafür, diesen Robert Coover, Nieholsen Baker, Bret Easton Hili und Entwicklungsprozess mit dem notwendigen Maß an Michael Crichton. Die Unterschiedlichkeit dieser Auto­ Reflexion zu begleiten. ren deutet die Breite von Winkels' Überlegungen an. Edgar Lersch, Stuttgart Im ersten Kapitel setzt er sich mit Peter Handke und dessen Position im Bosnienkrieg auseinander, mit Vgl. zu den Schwierigkeiten der Aufgabe die Re­ einem der wichtigsten Medienereignisse der 90er zension von Helmut Schanze zu: Walter Klingler Jahre also, in dem der Schriftsteller mit seiner 94 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Schreibtätigkeit der politischen correctness zuwider Scott Dikkers (ed.) handelte, indem er der von den Medien als Mei­ Our Dumb Century. nungsführer kollektiv geächteten serbischen Seite New York: Three Rivers Press 1999, 164 Seiten. Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Winkels ver­ gleicht Rainald Goetz und Patrick Roth im Hinblick Das 20. Jahrhundert wurde zur Jahreswende 19991 auf ihre »Zuwendung« zu den neuen Medien durch 2000 in den Medien allseits für beendet erklärt, wobei »Techniken und Effekte«, wie sie sich in ihren literari­ der zarte Schmelz der Nostalgie nur selten fehlte. schen Produktionen offenbaren, in »Form, Material Warum bloß? Dieamerikanische Zeitung >The Onion< und Reflexion«, wobei Winkels feststellt, dass die blickt in einer Faksimile-Dokumentation von rund 150 Autoren »ihr Engagement in der Medienkonkurrenz eigenen Titelseiten zurück auf ein ganz und gar ( ... ) camouflieren« (S. 95). »dämliches Jahrhundert«: einer stummen Parade von Die »Zuwendung« zu den Neuen Medien be­ » 100 Jahren Schlagzeilen von Amerikas bester Nach­ stimmt so auch Winkels' eigene Reflexionen über Li­ richtenquelle« - der besten Quelle für sprachlos ma­ teratur, die er über die eigene Medienerfahrung ana­ chende Nachrichten, möchte man hinzufügen. Denn lysiert und so das scheinbar Unvereinbare in Bezie­ das 20. Jahrhundert war eigentlich nur so verkorkst, hung setzt; die Literatur zu den gängigen Fernseh­ wie es das besagte Blatt geschildert hat. Historische formaten, dabei immer wieder am konkreten literari­ Tief- oder auch Nullpunkte gerieten bei ihm im Spie­ schen Beispiel orientiert (Thomas Kling, Marcel Bey­ gel selbstgezimmerter redaktioneller Katastrophen er). Bisweilen zeigt er sich als stilsicherer Erzähler, zur humoristischen Glanznummer. >The Onion< ist das letzte Wort aber hat immer doch der Kulturphilo­ journalistischer Eiertanz in Reinform, genauer - man soph. ahnt es bereits - : blanke Parodie. Hubert Winkels setzt einen literarisch hoch gebil­ »War Over! 50 Years of Nuclear Paranoia Begin deten Leser voraus, dessen Leseinteresse sich von Today« titelt das Blatt (freilich nur für das vorliegende der experimentellen avantgardistischen Lyrik bis hin Buch) unter dem Datum des 15. August 1945. zur Kolportage erstreckt und der sich dabei auch Schlagzeilen wie diese und die dazugehörigen Artikel noch den Medien und ihren Formaten öffnet; eine un­ sind nur mit dem Wissen von heute verständlich und gewöhnliche Anforderung in der gegenwärtigen Kul­ genießbar. Dieses Prinzip gilt für alle Ausgaben von tur. Er nimmt die Populärkultur und ihre Hervorbrin­ >The Onion<. Sie ist schließlich auch ein eher zeitge­ gungen ernst. Noch das Science-Fiction-Horrorsze­ nössisches Medienprodukt Erst 1988 kam das Blatt narium des Actionthrillers »Speed« (S. 270ff.) ist für in den USA auf den Markt und kommentiert seither - ihn ein Entwurf der Zukunft, der durchaus philosophi­ in der Anmutung einer Boulevardzeitung - wöchent• sche Dimensionen erschließt. lich das aktuelle amerikanische und Weltgeschehen So wird in Winkels' Betrachtung das Verhältnis mit beißendem Spott und Zynismus - und großem von Literatur und Medien nicht apokalyptisch zum Erfolg an den Kiosken. Dieses Konzept hat die Re­ Kulturverfall hin gedeutet. Winkels geht davon aus, daktion nun auch in einer historischen Rückschau auf dass die Medien - allen voran: das Fernsehen - un­ die Jahre von 1900 bis 2000 verfolgt. widerruflich zu unserem Alltag gehören, zu unserer Der Ansatz ist genialisch einfach: Die geschichtli­ natürlichen Lebenswelt, dass wir uns ihnen nicht ent­ chen Tatsachen werden stets so verdreht und ver­ ziehen können, auch eigentlich nicht entziehen wol­ zwirbelt, dass sie am Ende wieder stimmen. Hinter len. Die stand-by-Schaltung des Fernsehgerätes wird diesem Prinzip steckt eine tiefere Wahrheit. Gerade für ihn zum Symbol dieses Verhältnisses, wahrnehm­ Dinge, die nicht zueinander passen, erhalten durch bar im »ewigen Licht« auf der Funktionsleiste des ihre Nebeneinanderstellung neue Bedeutungen. >The Fernsehempfängers, das »abschweifende Gedanken Onion< ist ein gigantischer mentaler Zwiebelfisch - sammelt und momentweise löscht«. »Ein beruhigen­ und ein postmoderner >>rriedia fake« . des Gefühl geht von diesem schwachen Licht aus, Sehr anschaulich lässt sich anhand der liebevoll ein Gefühl, dass alles da ist und alles weitergeht, die gekujauten Titelseiten die Evolution des Zeitungsde­ Welt und über die Welt hinaus alles Mögliche« (S. signs, der englischen Zeitungssprache und der Typo­ 282). Ein Gefühl, das auch die zeitgenössische Lite­ graphie von 1900 bis heute studieren. Das ist bis ins ratur durchdringt. kleinste Detail stimmig: von den persiflierten Annon­ Das Buch von Hubert Winkels jedenfalls stiftet cen bis zum Zeitungskopf. Jede Ausgabe geht so vergnügliches Nachdenken über ein interessantes haarscharf an den historischen Fakten vorbei, dass Verhältnis, das er klug, mit Ironie und philosophisch sie die richtigen Antworten auf nicht gestellte Fragen klar an aussagekräftigen Beispielen darzustellen ver­ gibt, etwa unter der Datumszeile des 12. September steht. Die »Leselust« gipfelt für den aufgeschlosse­ 1928 der Artikel: >>Peace-Torn Struggles nen Leser im Lesegenuss. with No War in Sight I Germans Bemoan Decade of Peter Hoff, Berlin Tranquility I Tanks, Guns Gather Dust in Painful Era«. Es sind gelegentlich auch Ereignisse der Medienge­ schichte, die sich in >The Onion< widerspiegeln, etwa die Einführung des Fernsehens in einer Nummer von 1947: >>>Tele-Vision< Promises Mass Enrichment of Mankind I >Drama and Learning Box< Will Make Schools Obsolete by 1970 I New Device to Provide High-Minded Alternative to Mindless Drivel Found on Radio«. Wir wissen, es kam anders. Rezensionen 95

Ein Leckerbissen für Erforscher der Frühzeit des Während man mit dem >Spiegel< kritischen in­ Hörfunks ist die kleine Programmnotiz am unteren vestigativen Journalismus, ein spezifisches News Ende einer Titelseite aus dem Jahr 1925: »Today's Story-Konzept und eine eigene ironisch bis zynische Wireless Radio Schedule 19:00 a.m. to 3:00 p.m ...... Sprachstilistik (Personalisierung wäre zu ergänzen) static I 3:00 p.m. to 3:02 p.m ...... faint sound of hu- assoziiert, verbindet man mit >Focus< klare Formen, man voice I 3:02 p.m. to 9:00 a.m ...... static«. So eine einfache Sprache und farbige Gestaltung, ein muss es gewesen sein. Ganz und gar hintersinnig Angebot mit Gebrauchswert ohne belehrenden Un­ wird der Erfolg des Walkman 1980 überschrieben: terton, aber mit positiver Grundstimmung. »Sony Introduces Populace-Pacification Device«. Aufgrund dieser Befunde stellen sich für Stock­ Angesichts all der abgekapselten Kopfhörer tragen­ mann in erster Linie drei Fragen: 1. Worin bestehen den Einzelgänger auf den Straßen bringen es die die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Redakteure wohl auf den Punkt. Auf die Spitze trei­ Nachrichtenmagazine? 2. Ob und, wenn ja, wie hat ben sie es mit ihrer simulakrierten Version des Golf­ der >Spiegel< auf die große Nachfrage von >Focus< kriegs, der ja angeblich nicht stattgefunden hat. Unter bei Lesern und Werbekunden reagiert? 3. Inwieweit der Headline »CNN Deploys Troops To lraq« vom 18. lassen sich Unterschiede in der publizistischen Qua­ Januar 1991 wird ein gewisser »Generalmajor« Wolf lität zwischen den Magazinen messen? Blitzer (der wirklich so heißt) mit den markigen Wor­ Nach Maßgabe seines Erkenntnisinteresses er­ ten zitiert: »the cable network can no Ionger Iet Sad­ fasst Stockmann sein Untersuchungsmaterial in drei dam Hussein's aggression go unchecked«, und NBC­ Wellen mit jeweils unterschiedlichen Kategoriensys­ Kamerad Tom Brokaw sekundiert: »United, we will temen: Er wertet Titelblätter aus, kodiert alle Artikel defeat Saddam Hussein in what he hirnself has called und Anzeigen innerhalb bestimmter Magazinausga­ the >Mother Of All Sweeps Weeks«<. Wer zuletzt ben und nimmt eine Volltextanalyse einzelner Artikel lacht, hat die beste Quote. vor. Um statistisch valide Aussagen bei der Kodie­ Bei allem Flachs und bösen, hintergründigen Hu­ rung der Magazinausgaben treffen zu können, legt mor von >The Onion< behält dieses Buch aber auch Stockmann ein Untersuchungssampie von 30 >Fo­ nach dem letzten Lachen seinen Reiz, nicht nur für cus<- sowie von 36 >Spiegei<-Nummern (davon sechs Kommunikationshistoriker. Vergnüglicher lässt sich aus 1992) zugrunde, die er in gleichbleibenden Inter­ Geschichte im Spiegel eines Mediums kaum vermit­ vallen von sechs Wochen zieht. Bei der Volltexterhe­ teln. Davon abgesehen ist die Publikation zudem ein bung einzelner Magazinartikel wählt Stockmann je­ schönes Beispiel für angewandten Konstruktivismus. weils 30 Artikel zu gleichen Themen aus beiden Peri­ Vielleicht war ja wirklich alles ganz anders. odika aus, die den in der zweiten Welle kodierten Oliver Zöllner, Köln Magazinausgaben entnommen werden. Das Ergebnis der Studie: Sowohl >Spiegel< als auch >Focus< verfügen über die »klassischen« Res­ Ralf Stockmann sorts und über nahezu den gleichen Aufbau. Seide Spiegel und Focus. Magazine wissen um die (verkaufs)strategische Re­ Eine vergleichende Inhaltsanalyse 1993- 1996 levanz ihrer Titelgeschichten: Während sich der (= Göttinger Beiträge zur Publizistik, Bd. 1). >Spiegel< im Prinzip mit einem Titel auf dem Cover Göttingen: Volker Schmerse, Wissenschaftlicher präsentiert, offeriert >Focus< in der Regel vier bis fünf Verlag 1999, 151 Seiten. Themen pro Titelseite. Stockmann mutmaßt, dass beide Medienangebote bestrebt sind, sich nicht mit Die Markteinführung von >Focus< im Jahre 1993 offenkundigen Themata der vergangen Woche zu be­ avancierte zum kontrovers diskutierten Medienevent. scheiden, vielmehr versuchen, durch thematische Der bis dato dieses Marktsegment seit Jahrzehnten Akzente den Diskurs der kommenden Woche vor­ konkurrenzlos beherrschende >Spiegel< sah sich zugeben. Hinsichtlich der Werbekunden werden durch die publizistische Offensive aus München mit >Spiegel< und >Focus< ähnlich charakterisiert. Zwar ist einem gleichsam unliebsamen wie erfolgreichen Mit­ das Layout des >Spiegel< moderner, farbiger gewor­ bewerber konfrontiert. Angesichts dürftiger Resultate den, aber eine Adjustierung an >Focus< ist laut aus der komparatistischen Presseforschung ver­ Stockmann nicht nachweisbar. Die modulare >Focus<­ spricht die Studie 1 des Göttinger Sozialwissen­ Optik wird nicht aufs Fernsehdesign, sondern auf die schaftlers Ralf Stockmann in diesem Kontext grund­ grafikorientierten Computer-Betriebssysteme der legende Aufschlüsse, zumal er eine vergleichende zweiten Generation zurückgeführt. Die mittels einer computergestützte Inhaltsanalyse der beiden Nach­ vergleichenden hermeneutischen Textanalyse ge­ richtenmagazine von 1993 bis 1996 ankündigt. wonnenen Befunde hinsichtlich der »Informations­ Eingangs bemüht sich Stockmann, sich seinen leistung« der Magazine lassen nach Stockmann die Untersuchungsgegenstand genretypologisch zu ver­ Feststellung zu: Seide bieten ein »solides Maß an gegenwärtigen. Doch kommt er über die bekannten >Grundinformationen<«; jedoch bringt der >Spiegel< Definitionsvorschläge nicht hinaus, um schließlich - »mehr exklusive Informationen«, die zudem auch wenn auch erklärtermaßen unbefriedigt - den Positi­ eingehender diskutiert werden als in >Focus< (S. 134). onen beizupflichten, die >Spiegel< und >Focus< eine Mit Blick auf seine dreifache Fragestellung resü• »Sonderstellung« in Deutschland (Heinz PüreriJo• miert Stockmann: 1. Die Bewusstseinshaltung, die hannes Raabe) sowie vor allem die Aufgabe der poli­ fürs Genre konstitutive Aufgabe der »Kontrolle und tischen »Kontrolle und Kritik« (Rüdiger Hoffmann) zu­ Kritik« wahrzunehmen, ist bei beiden Anbietern ge­ schreiben (S. 14). geben, wenn auch beim >Spiegel< in stärkerem Maße. 96 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

2. Die Studie liefert kein Indiz für die verbreitete The­ steht am Anfang der Geschichte: Die Ausstrahlungen, se, der >Spiegel< habe auf den Markteintritt von >Fo­ die eine vier Mann starke Rundfunkeinheit des briti­ cus< reagiert, vielmehr hat >Focus< lange gebraucht, schen Heeres 1948 von eiligst und notdürftig einge­ um »seine einheitliche Linie« (S. 138) zu finden. Und richteten Behelfsstudios in einem Flecken nahe Niko­ 3. Die Studie zeigt: >»Focus< informiert zunächst >an­ sia aufnahm, waren die ersten Rundfunksendungen ders< als der >Spiegel< - und im Ergebnis schlechter« speziell für die Insel überhaupt. Die damalige Kron­ (S. 138). kolonie lag in der Rundfunkentwicklung weit zurück. Von der Anlage her hebt sich Stockmanns Unter­ Zuvor war Zypern von Anrainerstaaten bzw. vom bri­ suchung positiv von ähnlichen Studiendesigns ab, da tischen Mutterland nebenversorgt worden. Ein ara­ sich die Meßpunkte von 1992/1993 bis 1996 über ei­ bischsprachiges Programm, Sharq ai-Adna (Naher nen hinreichend großen Zeitraum erstrecken, um se­ Osten), war zwar schon zwei Monate vor dem Militär• riös Trends und Tendenzen belegen zu können. Als radio von der Insel aus auf Sendung gegangen; Ziel­ gewöhnungsbedürftig nimmt sich Stockmanns Orien­ gebiet dieses pro-britischen Propagandaprogramms tierung an dem kaum adaptierten HO-H1-H2-Schema der Special Operations Executive war allerdings die bei der Hypothesenbildung aus. Dieses formale Pro­ Arabische Halbinsel (S. 5f.). Die erste offizielle Ra­ zedere vermag zwar einerseits eine eindeutige Verifi­ diostation des Territoriums, die heutige Cyprus zierung beziehungsweise Falsifizierung von Hypothe­ Broadcasting Corporation, sollte ihren Sendebetrieb sen gewährleisten, führt aber in der vorliegenden Do­ erst im Oktober 1953 aufnehmen. kumentation zu einer umständlichen Darstellung. Un­ Nach dem Ende des britischen Mandats in Paläs• terschiedlich sind die Größenordnungen der Stich­ tina und der Gründung des Staates Israel im Mai proben - in Abhängigkeit von ihren Analysekontexten 1948 wurde die Rundfunkeinheit No. 4 Forces Broad­ - einzuschätzen. Im Falle der ersten beiden Wellen casting Station, die bis dahin die britischen Truppen mag das gewählte Sampie (n = 30) in der Tat zurei­ des Mandatsgebiets von Jerusalem aus mit Informa­ chen; allerdings erweist sich eben dieses unter me­ tion und Unterhaltung versorgt hatte, hastig nach Zy­ thodologischem Gesichtspunkt der dritten Welle als pern verlegt. Mehr als ein paar verlassene wellblech­ nicht unproblematisch, was Stockmann in Teilen an­ gedeckte Baracken eines früheren Militärflugfeldes erkennenswerter Weise auch konzediert. Der Um­ fand die Handvoll Soldaten sowie zwei eingeschmug­ stand, dass die hermeneutische Textanalyse mit ei­ gelte Ansagerinnen bei ihrer Ankunft am 28. Mai ner Stichprobe von 30 Artikeln klein ausfällt und in­ 1948 im 900-Seelen-Dorf Kato Lakatamia nicht vor. haltliche Vergleichbarkeit (etwa wegen der Zusam­ Doch schon am 1. Juni begannen sie über einen Ein­ mensetzung der >Spiegei<-Artikel) nur bedingt gege­ Kilowatt-Sender mit Testausstrahlungen, die überall ben ist, ist durch den Verweis auf die partiell umfäng• im östlichen Mittelmeerraum zu hören waren. Binnen lichen Artikel nicht zu relativieren. Die vorliegende weniger Tage wurde ein regelmäßiges englischspra­ Studie wird von ihrem Verfasser, was Aussagewert chiges Programm produziert, zunächst über Kurz­ und Tragweite anbelangt, umsichtig und differenziert welle, schließlich auf Mittelwelle. beurteilt. Zweifelsohne liefert Stockmann wichtige Die Sprachpalette erweiterte die No. 4 Forces Befunde, was formale Untersuchungsaspekte der Broadcasting Station in den nächsten Wochen um Konkurrenten >Spiegel< und >Focus< betrifft. Hierdurch Sendungen in Griechisch und Türkisch, die sich an müssen einige in Publizistik und Wissenschaft kursie­ die Soldaten des lokalen Cyprus Regiment richteten, rende Thesen als revidiert angesehen werden. Das im weiteren Verlauf auch um Programme in Franzö• ist auch das besondere Verdienst Stockmanns. Aber sisch (für Soldaten aus Mauritius) und Arabisch (die die letztlich spannenden Fragen nach der »qualitati­ von den britischen Militärstationen in Benghazi und ven« Informationsleistung und der journalistischen Tobruk in Libyen angeliefert wurden). Vorbild für die­ Meinungsführerschaft unter den deutschen Nach­ se fremdsprachigen Sendungen des britischen Mili­ richtenmagazinen müssen bis auf weiteres offenblei­ tärrundfunks war nach Jones nota bene das deutsch­ ben. sprachige Programm für Angehörige des German La­ Christian Filk, Köln bour Corps in der Suezkanalzone, das sich aus ehe­ maligen Soldaten des deutschen Afrika-Korps zu­ sammensetzte (S. 8). lvor Wynne Jones Nach einem Brand 1952 wurde die Militärradio• BFBS Cyprus. station zunächst nach Nikosia verlegt, 1964 nach 1948-1998. Dhekelia. Zehn Jahre später hatte BFBS Cyprus, wie Llandudno: Selbstverlag 1998, 16 Seiten. der Sender inzwischen hieß, seinen Glanzauftritt, als er während der türkischen Invasion 1974 die einzige Ein kleines Heft gilt es anzuzeigen, in geringer Aufla­ verlässliche und neutrale Nachrichtenquelle der Insel ge auf einem Fotokopierer hergestellt, aber mit ISBN war. Seit 1992 strahlt er unter dem Zusatz-Markenna­ versehen, inzwischen gar in den Beständen der Bri­ men The Hot FM von der Militärbasis in Akrotiri aus. tish Library nachweisbar und damit zur allgemein Personell gewachsen ist BFBS Cyprus in den 50 Jah­ verfügbaren Quelle geadelt. ln ihm skizziert der wali­ ren seiner Existenz kaum: ganze neun (zivile) Mitar­ sische Autor und Zeitzeuge lvor Wynne Jones aus beiter bestreiten heute Programm und Verwaltung. Anlass des 50-jährigen Jubiläums die Geschichte des Jones' in all ihrer Knappheit sehr gut zu lesende British Forces Broadcasting Service (BFBS) in Zy­ Darstellung ist präzise und nachvollziehbar belegt. Es pern. Sie ist für jenes Land keine bloße Seitenlinie, finden sich viele Details und Hintergrundinformatio­ kein kommunikationshistorischer Abweg, sondern nen, die die Ereignisse lebendig werden lassen. Als Rezensionen 97

Akteur der Ereignisse vor 50 Jahren schildert der Kommunikationsmittel gewesen. »Dieses Prinzip der Autor den Großteil der Geschehnisse aus erster karnevalistischen Erniedrigung und Erhöhung als Hand. Neben einigen gedruckten Quellen konnte Jo­ Umkehrung der Hierachien« sieht Evgenij Margolit nes auch weitere Zeitzeugen befragen, mit denen er auch noch bei in den 30er Jahren entstandenen in Kontakt steht. Mehr als eine historische Skizze ist Spielfilmen wie >Tschapajew< oder >Veselye Rebjata< sein Heft freilich nicht; eine größere Publikation zum gegeben (S. 58). Diese Interpretation ist aus zwei Thema scheint allerdings in Planung zu sein. Gründen ausgesprochen fragwürdig: Zum einen sind Oliver Zöllner, Köln karnevalistische Umkehrungen historisch nicht nur im Sinn von Erniedrigung zu Erhöhung, sondern auch in entgegengesetzter Richtung möglich. Zum anderen Christine Engel u.a. (Hrsg.) steht insbesondere >Veselye Rebjata< wie auch der Geschichte des sowjetischen und wenige Jahre später gedrehte Spielfilm >Wolga Wol­ russischen Films. ga< ganz offensichtlich in der Traditionslinie der Stuttgarti\/Veimar: J.B. Metzler 1999, 382 Seiten. Sprachtheorie Stalins. Erstgenannten im Sinne Bach­ tins zu interpretieren, ist aus diesem Grund nicht ver­ Der relativ geringe Umfang der vorliegenden Ge­ tretbar. Die Schwierigkeiten mit dem eindimensiona­ schichte des russischen und sowjetischen Films len Ansatz werden auch an anderer Stelle, bei zwang die Autorlnnen, sich kurz zu fassen. Dieser »Grenzen der totalitären Ästhetik: Eisenstein, Sav­ Umstand vermittelt dem Leser das Gefühl, er bewege cenko, Dovzenko« deutlich. Hier wird u.a. auch Ei­ sich im !CE-Tempo durch eine schwierige, mit vielen sensteins letztes großes Filmepos >lvan der Schreck­ Brüchen versehene Landschaft. liche< abgehandelt. Den Begriff einer totalitären Äs­ Die Herausgabe einer geschlossenen sowjetisch­ thetik in Bezug auf die beiden Filme und die Person russischen Filmgeschichte in deutscher Sprache war Eisensteins zu verwenden, ist ungewöhnlich und längst überfällig. Darauf verweist auch die dem Buch kann auch durch die gebotene Kürze der Argumenta­ beigefügte umfangreiche Bibliographie. Sie zeigt, tion im Buch nicht überzeugen. dass nach der Öffnung der russischen Archive eine Ein weiterer grundsätzlicher Einwand betrifft die Vielzahl neuer Arbeiten erschienen sind. Dem inte­ Filmgeschichte der 20er Jahre. Die Darstellung er­ ressierten Leser erschließt sie ausreichende Mög• weckt den Eindruck, als ob vor allem der Revoluti­ lichkeiten, um sich in jeder Hinsicht weiter informieren onsfilm für diese Zeit dominant sei. Dagegen wird den zu können. Darüber hinaus haben die beiden letzten vielen Unterhaltungsfilmen, die gleichzeitig entstan­ Kapitel »Der Film der Perestrojka« und »Der Film des den, kaum Platz eingeräumt. Der Abriss folgt damit neuen Russland« in deutschsprachigen Publikationen sicher den klassischen filmhistorischen Vorbildern, keine Vorläufer. Insgesamt unterscheidet sich die die immer wieder die Besonderheiten der Montage­ Publikation auch dadurch von anderen, dass sie den filme herausstellten. Insofern ist die einseitige Be­ letzten 50 Jahren der sowjetisch/russischen Filmge­ trachtung wohl dem vorhandenen Forschungsdefizit schichte und hierbei noch einmal den letzten 15 Jah­ geschuldet. ren einen ungewöhnlich breiten Platz einräumt. Unter Ein letzter kritischer Einwand gilt der kaum als dem Gesichtspunkt des sicherlich in Deutschland be­ skizzenhaft zu bezeichnenden Darstellung der Film­ stehenden Defizits an Kenntnissen jüngster Filmpro­ produktionen in den verschiedenen Sowjetrepubliken, duktionen ist diese Einteilung durchaus akzeptabel. die durchaus eigene unverwechselbare Filmsprachen lnfolge der bereits vorhandenen umfangreichen entwickelt haben. Darüber hinaus hätte man etwa an Publikationen war sicher die Darstellung der Filmge­ georgischen oder auch an mittelasiatischen Filmen schichte bis in die 30er Jahre besonders schwierig. wesentlich deutlicher exemplifizieren können, dass Dennoch scheinen für diesen Zeitraum einige kriti­ die politische Loslösung von Moskau um 1990 film­ sche Bemerkungen angebracht: Zum ersten fällt auf, ästhetisch schon Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. dass die Zeit des frühen russischen Films unverhält• Für den deutschen Leser wäre z. B. sicher auch inte­ nismäßig kurz abgehandelt wird und die Ergebnisse ressant gewesen, dass sich nach Stalins Tod die ge­ neuerer Filmforschung zur frühen Filmgeschichte, die orgischen Regisseure ebenso wie die deutschen auch in der Bibliographie ihren Niederschlag gefun­ Autorenfilmer als »vaterlose Gesellen« bezeichneten, den haben, sich im Text nicht wiederfinden. So sind weil beide das Verhalten ihrer Väter unter den jewei­ etwa Gorkij-Texte von 1896 bekannt, die über Film­ ligen Diktatoren ablehnten. Unerwähnt bleibt in die­ vorführungen in Russland reflektieren. Das Buch sem Zusammenhang auch, dass im georgischen Film setzt aber den Beginn des russischen Films erst um viele der Parabeln, der folkloristischen Elemente 1907 an. Ein zweites Problem stellt der methodische auch dazu dienen konnten, eine zweite Sprachebene Ansatz dar. Neben undifferenzierten und auch frag­ aufzubauen, die von den Zensoren nicht verstanden würdigen Behauptungen wie: »Im Vergleich zum in­ wurde. ln diesem Sinne hat der georgische Film ternationalen Film orientierte sich der russische gene­ durchaus karnevaleske Züge. rell stärker am Geschmack des einfachen Volkes, von Trotz der Einwände liegt mit dieser Filmge­ dem er als Attraktion im Rahmen der Volksbelusti­ schichte ein empfehlenswertes Buch vor, das erste gungen aufgefasst wurde« (S. 1), wird versucht, mit Orientierungen zum Thema wesentlich erleichtert. Hilfe der Verkehrungstheorien Bachtins dem Leser Wolfgang Mühi-Benninghaus, Berlin die Filmgeschichte theoretisch zu erklären. Auf diese Weise entsteht der Eindruck als sei Film bis zum frü• hen Tonfilm ein einseitiges vor allem subversives 98 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

Daniel Müller Geschichte zum Hören - 1949. Manfred Georg und die >Jüdische Revue<. Berlin: DeutschlandRadio Marketing GmbH, Eine Exilzeitschrift in der Tschechoslowakei Audio-Verlag 1999, 5 CDs. 1936- 1938 (=Journalismus und Geschichte, Bd. 1). Konstanz: UVK Medien Verlagsgesellschaft 2000, Ende 1999 veröffentlichte DeutschlandRadio (DLR)­ 173 Seiten. wie in den vergangenen Jahren - eine Cassette mit 5 CDs: »Geschichte zum Hören -1949«, in der 45 Titel Die deutschsprachige >Jüdische Revue< erschien im mit insgesamt 344 Minuten zusammengestellt sind, Verlag Nekudah in 29 monatlichen, 68seitigen Aus­ also fast sechs Stunden aus den beiden Programmen gaben von Juni 1936 bis November 1938 in einer des Deutschlandradio Berlin und Deutschlandfunks Stadt im äußersten Osten der Tschechoslowakei, in Köln. Der kürzeste Beitrag ist eine Erinnerung an den Mukacewo in Karpatorussland. Herausgegeben wur­ Komponisten Hans Pfitzner, der 1949 starb (Länge de sie von Manfred Georg, wohnend in Prag und ab 1'20), der umfangreichste behandelt »Musik und Ka­ April 1938 in Paris (und von 1939 bis 1965 als Man­ barett 1949«, eher ein Sammelsurium knapp kom­ fred George Chefredakteur des >Aufbau<). mentierter Schlager und Schnulzen, das mit einer Georg, bis 1933 im Ullsteinhaus in der Berliner pathetisch überhöhten 0-Ton-Reportage von der Be­ Kochstraße beschäftigt, war danach in der Tsche­ erdigung Richard Strauss' im September 1949 endet choslowakei - in der Doppelfunktion als Reichsdeut­ (28'). Einer der besten Beiträge ist sicher die Sen­ scher und mit einem honduranischen Pass ausgestat­ dung über den Deutschland-Besuch von Thomas tet- auch für das >Prager Montagsblatt<, für das >Pa­ Mann im Goethe-Jahr 1949, die eindrucksvolllängere riser Tageblatt< und die >Pariser Tageszeitung< tätig. Originaltoneinblendungen aus Frankfurt und Weimar Dass Georg die >Jüdische Revue< in Karpatorussland mit informativer Kommentierung verknüpft. erschienen ließ, hing mit dem überproportional hohen Dies ist überhaupt die Stärke einer solchen CD­ Anteil jüdischer Einwohner (rund 14 Prozent, in den Sammlung: authentische ältere Tonaufnahmen aus anderen Teilen der Tschechoslowakei zwischen ein heutiger Sicht zu präsentieren, um so einen Eindruck und vier Prozent) zusammen. Der 1928 in Mukacewo von der damaligen Atmosphäre zu vermitteln. Dies (25 000 Einwohner mit einem 50prozentigen jüdi• geschieht hier in vielfältiger Weise, so bei der Aufhe­ schen Bevölkerungsanteil) gegründete zionististisch bung der Berliner Blockade, der Verkündigung des orientierte Verlag mit einem polyglotten Buchpro­ Grundgesetzes, der Wahl Bonns zur vorläufigen gramm entschloss sich auch, die >Jüdische Revue< Bundeshauptstadt, der ersten Bundestagswahl, der zu verlegen. Bildung der ersten Regierung Adenauer, der Wahl Über Auflagenhöhe, Abonnentenwerbung, Anzei­ Piecks zum Staatspräsidenten der DDR usw. Insge­ gen, Subventionen und die Kosten der Zeitschrift, samt bieten die fünf CDs ein interessantes, mit zahl­ festgemacht an Gehältern, Spesen und Honoraren, reichen gut ausgewählten 0-Tönen illustriertes Pano­ lässt sich kaum Konkretes mitteilen, eher schon über rama der politischen Geschichte des Jahres 1949, mit die (u . a. geographische) Herkunft der Autoren und dem geteilten Deutschland als Schwerpunkt. Etwas die Inhalte, die eine »Weltdeutung aus jüdischer zu kurz kommt die wirtschaftliche und kulturelle Ent­ Sicht« vermitteln. Dabei stand eindeutig Palästina im wicklung. Auch der Sport findet in einigen Beiträgen Vordergrund mit Artikeln, die sich mit dem Aufbau der Berücksichtigung, so in einer der wenigen witzigen jüdischen Gemeinschaft in dieser Gegend, mit der Sendungen: Bei den Ruder-Meisterschaften in Mann­ Universität und dem Rundfunksender in Jerusalem heim gelingt es den Berliner Ruderern, ihr Boot aus und anderen kulturellen jüdischen Einrichtungen des der Siegerposition heraus gegen die Ufermauer zu damals britischen Protektorats, der Zukunftsplanung rammen. und dem Aufstand der Araber ab 1936 befassten. Ei­ Vielleicht kann DLR für 1950 daran denken, die ne kämpferische Haltung gegenüber dem Dritten Entwicklung in der DDR stärker zu berücksichtigen, Reich und seinen antisemitischen Maßnahmen ist zu als es für 1949 der Fall war. DLR besitzt ja mit dem vermissen, Äußerungen zum deutschen Exil sind Schallarchiv des RIAS Berlin einen wenig genutzten, spärlich, erklärbar mit dem Selbstverständnis des Pe­ aber sehr umfangreichen Archivfundus. riodikums als zionistisches Organ, das in einer Spra­ Leider entspricht das umfangreiche Booklet bei che publiziert wurde, die »in Ost und West gleicher­ weitem nicht der Qualität der Tonbeispiele: Auf Seite maßen verstanden« (S . 101) wurde. 100 soll das »Impressum« stehen, aber die Seite 100 Ansgar Diller, Frankfurt am Main gibt es nicht, auf Seite 96 sollen die Frequenzen an­ gegeben werden, aber diese Liste ist gänzlich ver­ Die Essentials der Studie sind bereits seit einiger schwunden. Schwerer wiegt, dass bei der Übersicht Zeit zugänglich. Vgl. Wilfried Scharf/Ralf Stock­ zu den einzelnen Sendungen sehr oft der für den Hö• mann: >Der Spiegel< und >Focus<. Eine verglei­ rer wichtige Vermerk fehlt, dass diese Sendungen chende Inhaltsanalyse 1993 bis 1996. ln: Publi­ 0-Ton-Dokumente enthalten. Die nützliche Chronolo­ zistik Jg. 43 (1998), Nr. 1, S. 1-21. gie enthält einen deutschen und einen internationalen Teil; dass dabei die Parlamentswahlen vom Oktober 1949 in Österreich auch in der deutschen Chronolo­ gie aufgeführt werden, hat wohl nicht unbedingt poli­ tische Gründe. Es wäre sicher auch nicht völlig falsch, wenn der Bearbeiter des Booklets auch die Tonbeispiele angehört hätte: Zu der erwähnten Pfitz- Rezensionen 99

ner-Sendung schreibt er »0-Ton-Dokument unda­ ist und über zu wenig Kenntnisse über das Land tiert«, in der gesprochenen Einführung zu der Lesung verfügt, der Zugang zu diesen Erinnerungen ver­ selbst heißt es richtig: »1938«. sperrt. Andererseits kann er sich nur darüber wun­ Walter Roller, Frankfurt am Main dern, wie bekannt ihm einige Personen (die ersten Sportreporter), Daten (1931 für die erste Rundfunk­ aufnahme), Erfindungen (das Aufnahmegerät Nagra), Sendungstypen (die Hörspiele) oder auch Ausspra­ Les images sont plus belles ä Ia radio. chen (charakteristisch für die 40er, die 70er Jahre 75 ans de sons partages. usw.) vorkommen. Lausanne: Radio Suisse Romande RSR 1997, CD und Booklet liefern den konkreten Beweis, wie 1 CD + Heft, 72 Seiten. notwendig es ist, über den nationalen Tellerrand hin­ auszublicken, dass aber viele Schwierigkeiten damit Das 75. Jubiläum ihres Rundfunks haben die Schwei­ verbunden sind. zer schon 1997 gefeiert: Am 26. Oktober 1922 wurde Muriel Favre, Frankfurt am Main/Paris als erster der Lausanner Sender eingeweiht; einige Monate früher als in Deutschland, am 26. Februar 1923, ging dann die erste offizielle Sendung über den Äther. Aus diesem Anlass wurde von der französisch• sprachigen Rundfunkanstalt Radio Suisse Romande das vorliegende Set herausgebracht, das eine 70minütige CD und ein reich bebildertes Begleitheft enthält. Mag der Titel (»Bilder sind schöner im Ra­ dio«) rätselhaft klingen, weist der Untertitel darauf hin, was dokumentiert werden soll: 75 Jahre einer gemeinsamen Geschichte. Wer daran nicht teilgenommen hat, weiß leider mit der CD nicht viel anzufangen. Diese wird in 17 the­ matische Kapitel (bzw. Takes) unterteilt, in denen kurze Ausschnitte aus Sendungen von 1939 bis 1997 zusammengefasst wurden. ln manchen Fällen ist es klar zu erkennen, was vorgeführt wird: ein Kommen­ tar von Rene Payot zur internationalen Lage 1944, Nachrichten, eine Fußballreportage ... Da viele Titel mysteriös formuliert wurden (Take 1: »das Jenseits ist da«; Take 13: »merkwürdige Moduln«) und die Angaben zu den Sendungen verständlicherweise auf das Notwendigste beschränkt sind (Sender, Titel, beteiligte Personen, Datum), muss meistens geraten werden, worum es sich handelt. Da die Autoren als Präsentationstechnik gerne auf die Collage zurück• gegriffen haben, sind sogar innerhalb eines Takes die verschiedenen Ausschnitte nicht immer einwandfrei zu identifizieren. Das Begleitheft hilft dabei wenig. Es bietet keine direkten Erläuterungen zu der CD, auch wenn einzel­ ne Informationen zu entnehmen sind (wie beispiels­ weise ein Bild samt Legende zu einer Stimme). Es versteht sich auch nicht als Einführung in die schwei­ zerische Rundfunkgeschichte, sondern vielmehr als Familienalbum, in dem die wichtigsten Ereignisse er­ wähnt, die beliebten Stimmen von gestern und heute vorgestellt, die Arbeitsweisen erklärt werden. Die Lie­ be der Radiomacher zu ihrem Beruf und dem Medium im allgemeinen wird spürbar, ebenso wie ihr Wunsch, sie mit den Hörern zu teilen. Dennoch hätte ein (selbst-)kritischerer Blick überzeugender gewirkt: ln der Welt des Radios geht es auch um Zukunftsper­ spektiven, politische Einflüsse und Geld. Der Beitrag der Edition zur Rundfunkgeschichte liegt eigentlich anderswo: Sie bringt auf hervorragen­ de Weise den zugleich nationalen und internationalen Charakter des Rundfunks ans Licht. Einerseits bleibt demjenigen, der nicht in der Schweiz groß geworden Bibliographie

Zeitschriftenlese 81 Chronik der laufenden Ereignisse. Von September (1.9.- 31.12.1999) 1997 bis Mai 1999 (Deutsche Fernsehweit 1998/99). ln: Programmbericht zur Lage und Entwicklung des Fernsehens in Deutschland. Hrsg. von der Arbeits­ [Die 68er Bewegung und ihre archivischen Quellen. 4 gemeinschaft der Landesmedienanstalten (ALM). Beiträge]. ln: Info 7. Jg. 14. 1999. H. 1. S. 33-44. 1998/99. Berlin 1999. S. 131-151. Georg Polster: Die 68er Studentenbewegung - Zur Überlieferungssituation in Hörfunk und Fernse­ Davies, Alan: The first radio war: broadcasting in the hen der ARD Spanish Civil War, 1936- 1939. ln: Historical journal Gerald Wiemers: Quellen zur 68er Bewegung an of film, radio and television. Vol. 19. 1999. Nr. 4. S. den Universitäten und Hochschulen der ehemaligen 473-513. DDR Dohmen, Ludwig: Der Zaungast des Parlaments. 50 Edgar Lersch: 1968 und die Folgen. Tagung der Jahre Hörfunkberichterstattung aus Bonn. ln: ARD­ Historischen Kommissionen des Börsenvereins des Jahrbuch. Jg. 31. 1999. S. 17-26. Deutschen Buchhandels und der ARD in Verbindung mit dem Deutschen Rundfunkarchiv im Deutschen Eser, Ruprecht: 200. Sendung »halb 12«. »Eser und Literaturarchiv Marbach am 5. und 6. November 1998 Gäste« - die politische Gesprächssendung am Sonn­ Edgar Lersch: 1968 als massenmediales Ereig­ tagvormittag. Interview: Thomas Hagedorn. ln: ZDF. nis. Workshop des Arbeitskreises für Historische Ju­ MonatsjournaL Jg. 15. 1999. H. 4. S. 74-75. gendforschung im Deutschen Literaturarchiv Mar­ Das Fernsehjahr 1997/98. [2 Beiträge]. ln: Jahrbuch bach/N . vom 3. bis 5. Dezember 1998 Fernsehen 1997/98. Mari u.a. 1998. S. 81-120. Altmann, Klaus: Immer nah dran. Das ARD-Studio Knut Hickethier: Kleine Konfliktchronik 1997 Bonn - eine Erfolgsgeschichte. ln: ARD-Jahrbuch. Dietrich Leder: Tourtagebuch. Das Fernsehjahr Jg. 31 . 1999. s. 27-36. 1997 in Daten und Stichworten Arnold, Frank: Du hast nur 23 Minuten - Alfred Hitch­ Firchau, Joachim: 30 Jahre Berliner Fernseh- & cocks Fernseharbeiten. ln: Lars-Oiav Beier, Georg UKW-Turm. ln: Kurier mit weltweit hören. 1999. H. Seeßlen (Hrsg.). Alfred Hitchcock. Berlin 1999. 20. s. 11. s. 163-184. Zur Geschichte des (Ost-)Berliner Fernseh- und Im Mittelpunkt steht die Serie »Aifred Hitchcock UKW-Turms. Eröffnung: 4. [3.!] Oktober 1969. presents«. Fischer, Jörg-Uwe: Die »Aktuelle Kamera«. Die Sen­ Bartosch, Günter: 30 Jahre in der alten Mitte. Der degrafiken der Hauptnachrichtensendung des DDR­ Berliner Funkturm feiert Geburtstag. ln: ZDF-Kontakt. Fernsehens (Fotos aus dem Deutschen Rundfunkar­ 1999. H. 10. S. 21 . chiv). ln: Info 7. Jg. 14. 1999. H. 1. S. 30-32. Zur Geschichte des (Ost-)Berliner Fernsehturms. 15 Jahre 3sat. [7 Beiträge]. ln: ZDF-Kontakt. 1999. Eröffnung: 3. Oktober 1969. H. 12. S. 6-17. Bartosch, Günter: Fernsehen als Geburtshelfer des darin: Hörfunks. Die weitgehend unbekannte Geschichte Walter Konrad: Mut zum Experiment. Über 15 der Ultrakurzwelle. T. 3. ln: ZDF-Kontakt. 1999. H. 4. Jahre 3sat. s. 14-15. Ulrich Hartner: Vom Reiz der frühen Jahre. 3. Vor 65 Jahren: UKW - Die Welle des Fernse­ Engelbert Sauter: Star ohne Allüren. 15 Jahre hens. 3sat - die Philosophie. Biener, Hansjörg: 60 Jahre Radio Schweden in Genug ist nie genug. »NOVA«, das politische Maga­ Deutsch. ln: Kurier, mit weltweit hören. 1999. H. 22. zin von Frauen für alle, wird zehn Jahre alt. ln: ZDF­ s. 7. Kontakt. 1999. H. 10. 14-15. Mit Stimmen zum Jubiläum: Sie gratulieren. Bohrmann, Hans: Kurt Koszyk 70 Jahre. ln: Publizis­ tik. Jg. 44. 1999. H. 3. S. 337-340. Hillrichs, Hans Helmut: Zum Tode von Karl Schnel­ Kommunikationswissenschaftler, geb. 31.5.1929. ting. ln: ZDF-Kontakt. 1999. H. 12. S. 39. 1976 - 1993 Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kul­ Broda, Ruth: Grandseigneur mit Pfeife: Fred Metzler. tur. ln: SWR die Zeitschrift. 1999. H. 9. S. 19 Hörfunkmoderator (SDR, SWF, HR, SWR), Janke, Hans: Fraglose Gefragtheit. Freitag, 19. No­ (dienst)»ältester Moderator der ARD« . vember [1999], 20.15 Uhr: »Der Alte« zum 250. Mal. ln: ZDF. MonatsjournaL Jg.15. 1999. H. 11. S. 74. Brosius, Hans-Bernd: Die Entwicklung der dritten Fernsehprogramme in Deutschland. ln: Medientage Jordan, Günter: Schatten vergangener Ahnen. Bilder München '98, Werbegipfel '98. Dokumentation. Hrsg.: aus der Arbeitswelt in ost- und westdeutschen Do­ Reinhold Kreile/Münchner Gesellschaft für Kabel­ kumentarfilmen der 60er & 70er Jahre. ln: Film und kommunikation (MGK). Baden-Baden 1999. S. 84-86. Fernsehen. Jg. 27. 1999. H. 2. S. 32-43. Unter Berücksichtigung des Dokumentarfilms im Fernsehen. Bibliographie 101

Kepplinger, Hans Mathias: Medienfolgenabschät• Flimmerkiste. Ein nostalgischer Rückblick. Hildes­ zung. ln: Universitas. Jg. 54. 1999. H. 10 (640). S. heim 1999. S. 14-30. 940-951 . Mießner, Robert: »Einheit ohne Einigung« - Der 1. Zur Geschichte und zu den Methoden der Me- Mai 1946 und der Berliner Rundfunk. (Fotos aus dem dienfolgenabschätzung (Medienwirkungsabschät- Deutschen Rundfunkarchiv). ln: Info 7. Jg. 14. 1999. zung) seit dem 15. Jahrhundert. H. 2. S. 122-124. Körner, Torsten: Retromaschinisten im Musee imagi­ Müncheberg, Hans: Daß die Kraft von Wort und Bild naire. ln: Jahrbuch Fernsehen 1998/99. Mari u.a. der Volkserziehung diene... Zur Geschichte des 1999. S. 36-46. Fernsehens in der DDR. ln: Nina Schindler (Hrsg.) Über das Fernsehprogramm als privates »Musee Flimmerkiste. Ein nostalgischer Rückblick. Hildes­ imaginaire« oder »Musee sentimental« für die eigene heim 1999. S. 31-46. Medienbiographie bzw. Mediengeneration. Nuy, Sandra: Die Macht der Auswahl. Theater und Kreuzer, Helmut: Erfindung und Wirklichkeit, Indivi­ Fernsehen - über eine schwierige Beziehung. ln: dualität und Kontinuität: Streiflichter auf deutsche Theater heute. Jg. 40. 1999. H. 8/9. S. 40-43. Hörspiele um 1930. ln: Sibylle Bolik u.a. (Hrsg.) Me­ Zur Präsenz des Theaters im deutschen Fern­ dienfiktionen. Illusion - Inszenierung - Simulation. sehprogramm seit 1951. Anläßlich der Ankündigung Festschrift für Helmut Schanze zum 60. Geburtstag. des ZDF, einen eigenen Theaterkanal einzurichten Frankfurt am Main u.a. 1999. S. 115-131. dessen Basis 500 Inszenierungsaufzeichnungen au~ Küsters, Bernd: Serengeti lebt noch immer. Natur­ den vergangeneo Jahrzehnten sein sollen. sendungen im Fernsehen der ARD. ln: ARD­ Odenwald, Ulrike: Heiko Ebert. Meisterhafter Anima­ Jahrbuch. Jg. 31. 1999. S. 99-106. tor in einer einfallsreichen Arbeitsgruppe der DEFA. Zur Entwicklung des Genres Natur-/Tiersendung ln: Film und Fernsehen. Jg. 27. 1999. H. 2. S. 66-71 . im öffentlich-rechtlichen und privaten deutschen Über die Film- und Fernseharbeiten der DEFA­ Fernsehen. Trickfilmgruppe. Kuhl, Harald: 40 Jahre Evangeliumsrundfunk. ln: Ku­ Odenwald, Ulrike: Konrad Petzold. Regisseur für Kin­ rier mit weltweit hören. 1999. H. 20. S. 8-10. der-, Jugend-, Indianerfilme in der DEFA. ln: Film und Der Evangeliumsrundfunk (ERF) in Wetzlar pro­ Fernsehen. Jg. 27. 1999. H. 1. S. 34-37. duziert die deutschsprachigen Hörfunk- und Fern­ Unter Berücksichtigung seiner Fernsehfilme. sehprogramme der evangelischen Missionsgesell­ schaft Trans World Radio (TWR). Over, Berthold: La Westdeutscher Rundfunk Köln (WDR) e Ia musica antica. Un panorama. ln: Gin­ Kunczik, Michael: Sprache des Krieges. Geschichte quant' anni di produzioni e consumi della musica dell' der paradoxen Kommunikation . ln: Universitas. Jg. eta di Vivaldi 1947- 1997. A cura di Francesco Fan­ 54. 1999. H. 5 (635). S. 420-432. na e Michael Talbot Firenze 1998. S. 367-380. Zur Entwicklung der Kriegsberichterstattung von La storia; II repertorio; L'importanza culturale delle der Antike bis zum Kosovo-Krieg . attivita. Labenski, __Jürgen: Gedreht, abgespielt und wegge­ Peternak, Mikl6s: Der Beginn der zentralen Pro­ worfen ... Uber drei Jahrzehnte Filmrekonstruktionen grammsendung - Budapest 1893. Die Telefon Hir­ im ZDF. ln: ZDF. MonatsjournaL Jg . 15. 1999. H. 7. mond6 (Abriß). ln: Lab. Jahrbuch für Künste und Ap­ s. 72-74. parate. Hrsg. von der Kunsthochschule für Medien Leicht gekürzt. ln: ZDF-Kontakt. 1999. H. 7/8. S. Köln ... 1996/97. Köln 1997. S. 373-382. 16-17. Der Telefon-Bote (»Telefon-Zeitung«) des Ungarn Langenbucher, Wolfgang R. : Peter Glotz 60 Jahre. Theodor (Tivadar) Puskas, 1893 in Budapest begon­ ln: Publizistik. Jg. 44. 1999. H. 2. S. 218-222. nen, war mit seinen festen täglichen Sendezeiten Kommunikationswissenschaftler, Publizist und (Uhrzeit, Nachrichten, Parlamentsinformationen) der (Medien-)Politiker, geb. 6.3.1939. Vorläufer des ungarischen Rundfunks und gilt als der erste »reguläre Rundfunkbetrieb« überhaupt. Leder, Dietrich: Hingeschaut, weggeschaut Ein Rückblick in 13 Kapiteln auf das Fernsehjahr 1998. Pinfold, Debbie: »Das war schon einmal da, wie ln: Jahrbuch Fernsehen 1998/99. Mari u.a. 1999. S. langweilig!«? »Hörspiel« and narrative in the work of 83-103. Gert Hofmann. ln: German life and letters. Vol. 52. 1999. Nr. 4. S. 475-489. Ludwig, Johannes: Vom Buchdruck zum Internet. Gesellschaftliche Emanzipationsprozesse als Folge Pirat mit der höchsten Antenne. Ehemaliger Seesen­ ökonomischer Entwicklungen. ln: Rundfunk und der kommt jetzt aus 36 000 km Höhe. ln: Markus Fernsehen. Jg . 47. 1999. H. 3. S. 341-367. Schüren u.a .. Hörzu-Radio-Guide 2000. Alles über Rundfunksender und Radiohören in Deutschland. 2. Matzen, Christiane: Chronik der Rundfunkentwick­ Ausg. 2000. Meckenheim 1999. S. 259-263. lung in Deutschland 1998. ln: Rundfunk und Fernse­ Zur Geschichte von Radio Caroline, das nach hen. Jg. 47. 1999. H. 2. S.319-329. 1Ojähriger Zwangspause seit Anfang 1999 wieder Mayer-Ebeling, Alf: »Daß die Kraft von Wort und Bild sendet, diesmal über Satellit. das Gute wirke ... «. Zur Geschichte des Fernsehens Pürer, Heinz, Thomas Steinmaurer: Michael Sehrnel­ in der Bundesrepublik. ln: Nina Schindler (Hrsg.) ke zum 65. Geburtstag. ln: Publizistik. Jg. 44. 1999. 102 Rundfunk und Geschichte 26 (2000)

H. 2. S. 217-218. Vollberg, Susanne: Fiktion oder gesellschaftliche Kommunikationswissenschaftler, geb. 13.2.1934. Wirklichkeit? Verbrechen im ost- und westdeutschen Krimi. ln: Sibylle Bolik u.a. (Hrsg.) Medienfiktionen. Saxer, Ulrich: Franz Ranneberger (1913 - 1999). ln: Illusion - Inszenierung - Simulation. Festschrift für Publizistik. Jg. 44. 1999. H. 2. S. 224-225. Helmut Schanze zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Kommunikationswissenschaftler, gest. 30.3.1999 Main u.a. 1999. S. 285-291. Schill, Wolfgang, Wolf-Rüdiger Wagner: Dieter Baa­ Zur »Wirklichkeits- und Alltagspräsentation« im cke lebt nicht mehr. ln: Medien praktisch. Jg. 23. » Polizeiruf 11 0« und im »Tatort«. 1999. H. 4. (92). S. 35. »Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern.« Jubiläum Kommunikationswissenschaftler und Medienpä• einer Programmarke. ln: ZDF-Kontakt. 1999. H. 11 . dagoge (2.12.1934 - 23.7.1999), führte den Begriff S. 27. »Kommunikative Kompetenz« (Medienkompetenz) in Zur 250. Folge der ZDF-Krimiserie »Der Alte«. die Kommunikationswissenschaft ein. Voß, Peter: Ein Meilenstein in der Geschichte der Seibert, Peter: Von der Zeitenwende zur Wendezeit ARD. Die Fusion von SDR und SWF zum SWR. ln: Anmerkungen zu Brechts Lindberghflug I Ozeanflug. ARD-Jahrbuch. Jg. 31. 1999. S. 73-81 . ln: Sibylle Bolik u.a. (Hrsg.) Medienfiktionen. Illusion Historischer Überblick über die Entwicklung der - Inszenierung - Simulation. Festschrift für Helmut öffentlich-rechtlichen Rundfunkreformen in Südwest• Schanze zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main u.a. deutschland bis zur Gründung des SWR. 1999. S. 133-150. Über Brechts Hörspiel »Lindberghflug« (1929, Voß, Peter: Deutschlands Kulturfaktor Nummer eins. 1930 u.d.T.: »Der Flug der Lindberghs«, 1950 auf ln: ARD-Jahrbuch. Jg. 31. 1999. S. 13-16. Anordnung Brechts wegen des zeitweiligen Engage­ Über »wichtige Stationen in der Entwicklung« der ments Lindberghs für das Dritte Reich in »Der Oze­ ARD der letzten 50 Jahre und über die kulturelle anflug« umbenannt, unter dem Aspekt der Brecht­ Rolle, die die ARD »in vielfältiger Weise, unter ande­ sehen Radiotheorie und im Vergleich zur Fernseh­ rem als Konzertveranstalter oder Förderer der Film­ fassung »Lindbergflugh I Ozeanflug« (ARTE 1993). wirtschaft, wahrnimmt«. Sozialdemokratie und Medien nach 1945. Themen­ Wiedemann, Dieter: Eine Idee wird bleiben: Nachruf schwerpunkt. ln: Medien & Zeit. Jg. 14. 1999. H. 3. S. auf Dieter Baacke. ln: TV Diskurs. H. 10. 1999. S. 4-56. 110. Die Beiträge beziehen sich auf Österreich und die Wunden, Wolfgang: Dieter Baacke - Nachruf auf ei­ SPÖ. nen Medienpädagogen. ln: Medien praktisch. Jg. 23. Wolfgang Pensold: Vom Staatskanzler [Karl Ren­ 1999. H. 4 (92). S. 73. ner] zum Medienkanzler [Bruno Kreisky] . .. Drei Dogmen im medienpolitischen Diskurs der SPÖ nach Yogeshwar, Ranga: Wissen schafft Quote. Wissen­ 1945. schaft und Technik im Fernsehen. ln: ARD-Jahrbuch. Christian Dickinger: »Zampano tritt auf.« Bruno Jg. 31 . 1999. S. 82-89. Kreisky und die Medien: eine Spurensuche. Über die Veränderungen der Fernseh-Wissen­ Hugo Portisch: Über das »Rundfunk-Volksbegeh­ schaftsberichterstattung seit Ende der 60er Jahre. ren« . Zeitzeugenbericht Rudolf Lang, Köln SR-Gründungsintendant Dr. Franz Mai gestorben. Zum Tode des Baumeisters und Vordenkers. Von 1958 bis 1977 an der Spitze des Senders. ln: Saar­ ländischer Rundfunk. Info. 1999. H. 11. S. 22. Steinwärder, Philipp: Die Zusammenarbeit der Rundfunkanstalten in der ARD. Befunde einer rechtswissenschaftliehen Untersuchung. ln: Rund­ funk und Fernsehen. Jg. 47. 1999. H. 3. S. 368-378. Theunert, Helga: Dieter Baacke 2.12.1934 - 23.7. 1999. ln: Medien und Erziehung. Jg. 43. 1999. H. 5. S. 269. Töpel, Arnim: Wo auch alte Hasen lächelnd wachsen. 25 Jahre Studio-Brettl [SWFISWR]. ln: SWR die Zeit­ schrift. 1999. H. 4. S. 6-8. Vier fröhliche Wellen - Die Luxemburg-Story. ln: Markus Schüren, Wolf Siebel [u.a.] Hörzu-Radio• Guide 2000. Alles über Rundfunksender und Radio­ hören in Deutschland. 2. Ausg. 2000. Meckenheim 1999. s. 157-163. Rückblick auf die Entwicklung des deutschspra­ chigen Programms von Radio Luxemburg (RTL Ra­ dio). Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte

Bilanz der Regionalisierung im lierte Steinmetz konkrete Fragen zur Untersu­ Rundfunk seit 1975 chung lokaler und regionaler Programme des Hörfunks und des Fernsehens. Jahrestagung 2000 des Studienkreises MOIIer-Sachse umriss die Geschichte der Regionalisierung im öffentlich-rechtlichen Rund­ Was ist eigentlich Regionalisierung? Wie wurde funk. Seiner Analyse nach hat das Thema diese in den letzten 25 Jahren ausgestaltet? wechseln.de Konjunkturen durchlaufen: »Es gab Was bringt Regionalisierung in Hörfunk und P.hasen, 1n denen die Regionalisierung ein mar­ Fernsehen? Lohnt sich der Aufwand dafor? - g~nales Thema war (z.B. zwischen 1985 und Solche Fragen standen auf der Agenda der 1993) und Phasen, in denen >Regionalisierung< diesjährigen Jahrestagung des Studienkreises ~~m SchlOsseibegriff der gesamten rundfunkpo­ Rundfunk und Geschichte, die vom 30. März bis litischen Debatte avancierte (zwischen 1977 und 1. April beim SUdwestrundfunk (SWR) in Stutt­ 1982).« Dabei habe jede einzelne Rundfunkan­ gart stattfand. stalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit un­ Wenn es um den Begriff Regionalisierung terschiedlichen Konzepten und programmati­ geht, gibt es viele Verwirrungen. Zum einen sind sch.en A.n~atzen mehr oder weniger umfangreich Unterschiede zwischen lokal und regional raum­ reg1onahs1ert. Erst im Laufe der 90er Jahre kam Iich marginal (ab welcher Flächen- oder Einwoh­ es dann im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu nergröße?); zum anderen existieren inhaltliche einer Neubelebung des Interesses am Regiona­ Differenzen: Erschöpft sich Reg ionalisierung in len. Informationen Ober den betreffenden Raum oder Mehrere Referenten informierten Ober Erfah­ mossen wichtige nationale Informationen auf rungen und Probleme bei der Regionalisierung den regionalen Rahmen »heruntergebrochen« in verschiedenen Sendern, Ländern und Regio­ (ein liebgewordenes, dennoch schreckliches nen: Radiger Mahlfeld: Westdeutscher Rund­ Modewort) werden oder ist Regionalisierung funk, Stefan Sutor: Privatradios in Bayern; Jo­ auch, wenn entsprechende Schauplatze und chen Lukas: Radiolandschaft in Berlin; Prof. Dr. Akteure im Unterhaltungsbereich auftreten? Radiger Steinmetz: Halle/Leipzig; Dr. Walter Dr. Karl H. MOIIer-Sachse (INSPEX, BOro fOr Klingler: Stuttgart. Fazit: Es gibt keine - auch Kultur- und Medienforschung in Köln) machte in nur näherungsweise - einheitlichen Strukturen seinem Eröffnungsstatement auf diese Dilem­ und kein einheitliches Erfolgskonzept Kein mata aufmerksam, ohne freilich eine schiOssige Wunder, denn in keinem Land der Welt gibt es Antwort zu geben. Der einfachste Konsens laute: so unterschiedliche Regionalisierungsmöglich• »Regional ist das, was in der Region stattfindet«, keite~ . Darober informierte auch Dipl.-lng. Peter aber da dies allein noch keine hinreichende Be­ Pfirst~nger vom Bayerischen Rundfunk in seinem dingung sein kann, mosse noch ein Adressaten­ Vortrag Ober technische Aspekte der Regionali­ bezug mitgedacht werden. Noch weiter dachte sierung im UKW-Hörfunk und die Möglichkeiten Prof. Dr. Reinhold Viehoff (Universität Halle­ und Grenzen digitaler Verbreitung. Wittenberg), der die Beziehungen zwischen Re­ Obwohl die Hörer und Zuschauer regionale gionalem und Globalem beleuchtete: Vom Mond Programme gerne annehmen (»Das ist mein könne man die ganze Welt beschauen. Und Programm.«), ist den Untersuchungen von Prof. auch auf der Erde bringen neue Kommunikati­ Dr. JOrgen Heinrich (Universität Dortmund) zu­ onstechniken neue Überschaubarkeit. Und was folge Rundfunk-Regionalisierung unter medien­ ist dann regional?. ökon~mischen Aspekten nahezu durchweg un­ ~twas irdis~her betrachtete Prof. Dr. Radiger effektlv und ein Wagnis. Die Printmedien seien Ste~nmetz (Umversitat Leipzig) das Thema. Er dafOr besser geeignet, da die Streuverluste beim ging auf Beziehungen zwischen Rundfunk­ Publikum geringer sind. Der private lokale Hör• Regionalisierung und Identitätstindung des Ein­ funk decke im Prinzip gerade mal seine Kosten. zelnen ein: Die Medien »geben zugleich den Christian Schurig (Landesrundfunkausschuss fOr raumliehen Rahmen fOr regionale Identifikation Sachsen-Anhalt) ergänzte, dass privat-kommer­ und sie sind Objekt von ldentifikationsprozes~ zielle Veranstalter bei der Regionalisierung an sen. Es ist zu bestimmen, wie groß ihr Anteil an Grenzen kommen, weil sie sich selbst nicht ge­ der Herausbildung von Identität ist.« Seiner Mei­ nagend engagieren und den finanziellen Auf­ nung . nach werden alle kommunikativen Ange­ wand (einschließlich enorm steigender Telekom­ bote 1n der Nahwelt realisiert und insofern auch Kosten) unterschätzen. Hinzu käme eine unzu- regionalisiert. Vor diesem Hintergrund formu- 104 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) reichende Frequenzsituation und die Ausweitung den >Fernseh-Informationen<, um eine erweiterte des öffentlich-rechtlichen Bereichs. Der wirt­ Leserschaft zu erreichen. Eine Nullnummer ist schaftliche und journalistische Erfolg sei um so bereits realisiert und über »http://www.uni­ größer, je selbstandiger der Veranstalter vor Ort leipzig.de/-kmw/skrug« abrufbar. ist. Zu beklagen sei, dass bei den Medienstand­ - Jahrbuch mit wechselnder Hauptverantwor­ ort-Kampfen die neuen Bundeslander nicht mit­ tung (Herausgeberschaft). Hieran wird derzeit halten können. mit konkreten Planungen gearbeitet. Alles in allem eine sehr informative Tagung, - Fortführung des erfolgreichen und attraktiven bei der auch deutlich wurde, dass hier noch ein Examens-Colloquiums in Baden-Baden. weites Forschungsfeld unbeackert brach liegt. - Jahrestagungen haufiger mit externen Part­ Immer wieder mussten die Referenten auf »alte« nern bzw. in der Hand der Fachgruppen des Arbeiten von Willibald Hilf und Will Teichert zu­ Studienkreises und deren Partnern, mindestens rückgreifen. in jedem zweiten Jahr aber eine Jahrestagung in Nicht zu vergessen: Der Südwestrundfunk der Hand des Studienkreises wie bisher. hatte kurz hintereinander zum zweiten Mal zu - Berücksichtigung der Erweiterung des Rund­ einer Studienkreis-Tagung eingeladen und sie funkbegriffs mit den Saulen »Radio«, »Fernse­ entsprechend unterstützt. Das ist unter Bedin­ hen«, »Neue Medien/Multimedia« unter Beibe­ gungen knapper Finanzen wahrlich keine Selbst­ haltung der Saule »Geschichte«. verstandlichkeit mehr. - Erweiterung um die Saule »Film und Ge­ Margarete Keilacker schichte«; dies ist in der Zeitschrift durchaus bisher immer schon berücksichtigt worden. - Langerfristig nachdenken über einen neuen Namen, der dieser Entwicklung Rechnung tragt Perspektiven des Studienkreises und zugleich Signalwirkung hinsichtlich unserer Rundfunk und Geschichte Tradition hat. Z.B. Gesellschaft für audio-visuelle Medien und Geschichte. - Kooperation mit den wissenschaftlichen Ver­ Der Studienkreis hat eine lange Tradition, kann einigungen Deutsche Gesellschaft für Publizis­ aber nur mit einem wohl überdachten neuen tik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) Konzept in der wissenschaftlichen und fachli­ und Gesellschaft für Film- und Fernsehfor­ chen Gemeinschaft sowie vor dem Hintergrund schung (GFF). des sich entscheidend verandernden Gegen­ Rüdiger Steinmetz, Leipzig standes »Rundfunk« im nachsten Jahrzehnt überleben. Dieses Konzept sollte wesentliche thematische und strukturelle Elemente des bis­ herigen Studienkreises bewahren, aber auch mutiger als bisher neue Themen und Strukturen integrieren. Auf der Basis einer Bilanz traditio­ neller Starken und Schwachen schlage ich vor, in einem erneuerten Studienkreis in folgende Richtungen zu arbeiten und zu diskutieren: - Starkere Öffnung als bisher gegenüber den privat-kommerziellen Rundfunkanbietern und neuen Medieninstitutionen; dabei selbstver­ standlieh Beibehaltung der Anbindung an die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. - Anknüpfen an das gewachsene, verzweigte Netz von Studienkreis-Aiumni auf allen Ebenen des Wissenschafts- und Rundfunkbetriebes: Kontakt über Newsletter, (reprasentative) Kon­ taktmeetings zwischen Alumni und Nachwuchs­ wissenschaftlern; Themenbörse. - Erganzend zur Zeitschrift >Rundfunk und Ge­ schichte< Herausgabe eines Newsletter (etwa viermal pro Jahr), um den Kontakt und die Dis­ kussion der Mitglieder untereinander und zum Vorstand anzuregen; der Newsletter wird sowohl über die Hornepage des Studienkreises abrufbar als auch per e-mail und herkömmlicher Post multiplizierbar sein. Beilage des Newsletter zu Informationen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv

Neuerscheinungen in der wusstseinspragender Organisationen vor allem Buchreihe des DRA für die Jugend, die Allgegenwart der Massen­ medien und der Einsatz von Masseninszenie­ ln der Buchreihe »Veröffentlichungen des Deut­ rungen. Diese Erscheinungen moderner Diktatu­ schen Rundfunkarchivs« Frankfurt am Main - ren kommen nicht ohne den manipulativen Ein­ Berlin sind zwei weitere Bande erschienen - die satz von Musik aus. Nur scheinbar im Wider­ Publikation »Die Kunstsendung im Fernsehen spruch zur Modernitat der politischen Sphare der Bundesrepublik Deutschland (1953- 1985)« finden sich hier auch überlebt geglaubte Formen der drei Autoren Gundolf Winter, Martina Dobbe, wieder, die, wie das Lied, nun eine gewaltsame Gerd Steinmüller, sowie der Katalog »Politische Neugeburt aus rohem Geist erleben. Die Macht Musik in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein dieser Musik verdankt sich nicht zuletzt ihrem Appell an das positive Wir-Gefühl, an vorzivili­ Verzeichnis der Tondokumente (1933 - 1945)«. satorische Instinkte und an die neuen Glaubens­ Für Orientierung und öffentliche Meinungsbil­ surrogate. Ihre Anbindung an die ansonsten ver­ dung im Bereich der bildenden Kunst spielt das hasste Kultur der 20er Jahre zeigt sich in den Fernsehen als Informationsquelle eine zentrale zahlreichen Adaptionen des Arbeiterliedgutes Rolle. Bildschirmbilder von bildender Kunst pra­ und in der nahtlosen Umdeutung der Jugendmu­ gen nicht nur unsere Wahrnehmung von Kunst; sikbewegung. sie formulieren zugleich in zunehmendem Maße Dieser Katalog erschließt erhaltene Tonauf­ die bildliehen Standards, die für unsere deutlich nahmen aus der Zeit von 1933 bis 1945, in der visuell akzentuierte, ja von Bilderfluten domi­ großen Mehrzahl nationalsozialistischen Inhalts nierte Kultur insgesamt charakteristisch sind. daneben aber auch Musik des antifaschistische~ Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung Widerstands und Propagandamusik der Alliier­ widmet sich die vorliegende Veröffentlichung der ten. Analyse des Genres der Kunstsendung im Fern­ Politische Musik in der Zeit des Nationalso­ sehen der Bundesrepublik Deutschland. zialismus. Ein Verzeichnis der Tondokumente Teil I untersucht auf der Grundlage eines (1933- 1945). Zusammengestellt und bearbeitet Vergleichs zwischen den traditionellen künstleri• von Marion Gillum und Jörg Wyrschowy (= Ver­ schen Medien Malerei, Plastik, Architektur und öffentlichungen des Deutschen Rundfunkar­ dem neuen Bildschirmmedium Fernsehen die chivs, Bd. 30). Potsdam: Verlag für Berlin Bran­ televisuellen Präsentationsformen der Kunst in denburg 2000, 205 Seiten, ISBN 3-932981-74-X. historischer, typologischer und ästhetischer Di­ DRA mension. Teil II prasentiert ein chronologisches Ver­ zeichnis aller Kunstsendungen von 1953 bis Weimarer Republik im Ton 1985 mit umfassenden Informationen sowohl zu Neue CD von DRA und DHM den Themen und Inhalten als auch zu den pro­ grammspezifi~chen Merkmalen der jeweiligen Innerhalb der Reihe »Stimmen des 20. Jahrhun­ Sendungen. Uber die beigefügten Register wer­ derts« hat die Stiftung Deutsches Rundfunkar­ den die Daten in systematischer Weise als chiv Frankfurt am Main - Berlin in Zusammenar­ Nachschlagewerk verfügbar gemacht. beit mit dem Deutschen Historischen Museum Gundolf Winter/Martina Dobbe/Gerd Stein­ Berlin eine neue CD herausgebracht: »Weimar_:_ müller: Die Kunsts~ndung im Fernsehen der Das Scheitern einer Demokratie«. Bundesrepublik Deutschland (1953 - 1985) (= Mit 23 Tonaufnahmen wird die politische Ge­ Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkar­ schichte der Weimarer Republik in Schwerpunk­ chivs, Bd. 28). Potsdam: Verlag für Berlin-Bran­ ten nachgezeichnet, beginnend mit der Ausru­ ~enburg 2000. Teil 1: Geschichte - Typologie - fung der Republik im November 1918 durch Phi­ Ästhetik. 531 Seiten, ISBN 3-932981-69-3. Teil lipp Scheidemann bis zur Regierungserklarung II : Chronologisches Verzeichnis und Register. ihres letzten Reichskanzlers, General Kurt von 399 Seiten, ISBN 3-932981-70-7. Schleichers, im Dezember 1932. Zu hören sind außerdem unter anderen Reichsprasident Fried­ Zu den wesentlichen Stützen der nationalsozia­ rich Ebert und Reichskanzler Gustav Bauer, die listischen Herrschaft gehörte die Lenkung von sich für einen demokratischen Neuanfang nach Massen: die Bildung gesellschafts- und be- dem verlorenen Weltkrieg aussprachen, Reichs- 106 Rundfunk und Geschichte 26 (2000) außenminister Gustav Stresemann, der preußi• der 24teiligen Reihe »Radiogeschichte«, die sche Ministerprasident Otto Braun und Reichs­ anlaßlieh von 75 Jahren MDR 1998 und 1999 in kanzler Heinrich Brüning, die die Republik in den der Programmzeitschrift >Triangel< von MDR Jahren von 1928 bis 1930 zu konsolidieren ver­ Kultur erschienen ist. Mit dem Schwerpunkt 20er suchten, sowie die Reichstagsabgeordneten Wil­ und 30er Jahre wird über Technik und Organi­ helm Pieck und Clara Zetkin, Reichsprasident sation, Programm und Rezeption berichtet. Paul von Hindenburg, Reichskanzler Franz von : Radio-Geschich­ Papen, der nationalsozialistische Propaganda­ te(n). Altenburg: Verlag Klaus-JOrgen Kamprad leiter und Reichstagsabgeordnete Joseph Goeb­ 2000, 319 Seiten, ISBN: 3-930550-10-5. bels und schließlich NSDAP-Führer Adolf Hitler, DRA die in unterschiedlicher Weise zu Beginn der 30er Jahre an der Zerstörung der ersten deut­ schen Demokratie mitgewirkt hatten. Der CD ist ein reich bebildertes Booklet beigefügt. DRA

ARD-Stipendien zur DDR-Rundfunkgeschichte

Zum sechsten Mal hat das Kuratorium der ARD zur Vergabe von Stipendien an Doktoranden, die sich in ihren Dissertationen mit der Erforschung der Rundfunk- bzw. Mediengeschichte der DDR befassen, über die Stipendien entschieden. Die mit einem Betrag von DM 1 500,- monatlich ge­ förderten Stipendiaten sind Petra Galle (Hum­ boldt-Universität zu Berlin; Betreuer: Prof. Dr. Wolfgang Mühi-Benninghaus), lngelore König (Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam; Betreuer: Prof. Dr. Dieter Wiedemann) sowie Claus-Dieter Rück (Universitat Leipzig; Betreuer: Prof. Dr. Arnulf Kutsch). Petra Galle vergleicht in ihrer Dissertation den RIAS Berlin und den Berliner Rundfunk von 1945 bis 1949 unter der Fragestellung, welche Bedeutung die eine Rundfunkstation für die Ent­ wicklung der anderen hatte. lngelore König un­ tersucht die dramatischen Produktionen des Kinderfernsehens im sozio-kulturellen Kontext der DDR-Gesellschaft. Claus-Dieter Röck befaßt sich mit der Medienlenkung und der Medienwir­ kung am Beispiel des Auslandsrundfunks der DDR. DRA

Geschichte des MDR als Buch

Der Mitteldeutsche Rundfunk MDR) in Leipzig, die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) Frankfurt am Main - Berlin und die Gesellschaft der Freunde der Geschichte des Funkwesens e.V. (GFGF) haben in Kooperation eine Ge­ schichte des Mitteldeutschen Rundfunks vorge­ legt. Die opulent ausgestattete, mit Schwarz­ Weiß-, Farbfotos und Faksimiles- vieles davon aus den Bildarchiven des DRA an seinen beiden Standorten - illustrierte Publikation basiert auf