Neue Soziale FORSCHUNGSJOURNAL Bewegungen

ENDE DER VOLKSPARTEIEN? Analysen & Auswege

Heft 1 – Februar 2010 € 15,- Inhalt 1

EDITORIAL 39 Matthias Machnig ...... Der endgültige Abschied von der Macht 3 Das Ende der Volksparteien? oder Analysen & Auswege Der Wahlkampf der Illusionen

AKTUELLE ANALYSE 47 Thomas Steg ...... Das Wahljahr als Rutschbahn 6 Tissy Bruns Alles nur Wahlkampf! 49 Olaf Scholz Politik statt Schach THEMENSCHWERPUNKT 52 Michael H. Spreng ...... Der Wahlkampfvermeidungswahlkampf STRATEGIEN OHNE LAGER – Eine Analyse der CDU-Wahlstrategie 2009 LAGER MIT STRATEGIE? 55 11 Joachim Raschke/Ralf Tils DIE LINKE im Fünfparteiensystem Die Qual der Wahl: Das Debakel der SPD und strategische Optionen in der Lagerstruk- DAS ENDE DER VOLKSPARTEIEN? tur des deutschen Parteiensystems 59 Hubert Kleinert 17 Herbert Hönigsberger/Andreas Kolbe/Sven Bundestagswahl 2009 – Osterberg Volksparteien im Abstieg? Lager denken. Nicht links, nicht rechts – 64 Warnfried Dettling sondern demokratisch Wachstumsperspektiven für eine 21 Peter Lösche Volkspartei Sozialmoralische Milieus und politische 67 Herfried Münkler Lager Ist die SPD politisch überflüssig 24 Richard Meng geworden? Machttechnik reicht nicht. Koalitionsoptio- 71 Wolfgang Schröder nen der Zukunft und der Anspruch der Mitte vs. Mitte Politik Die SPD zwischen Gemeinwohl und Par- 27 Karl-Rudolf Korte teiwohl auf der Suche nach sich selbst Wie bilden sich zukünftig Koalitionen? 75 Albrecht von Lucke Antworten aus der politikwissenschaftlichen Volkspartei neuen Typs: Die Merkel-Union Theorie 78 Gerd Langguth UNTER DER LUPE: Erreicht Kohls Amtszeit von PARTEIENPRAXIS AUF DEM PRÜFSTAND 16 Jahren?

31 Richard Hilmer Warum die SPD das Wahldebakel nicht ab- wenden konnte Sechs Thesen zur Bundestagswahl 2009 2 Inhalt

PULSSCHLAG TREIBGUT ...... 81 Christoph Schwarz 98 Materialien, Notizen, Hinweise Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan im LITERATUR Bundestagswahlkampf 2009: Ein Nachwort ...... 104 Und der Zukunft abgewandt... 86 Albrecht Lüter Neue Literatur über politische Parteien Rückkehr der Gesellschaftstheorie (Thymian Bussemer) 91 Stellungnahme 107 Die Regierung des Sozialen: Kontrolle durch Folgenreiche Realitätsverleugnung: Das Aktivierung neue Extremismusbekämpfungsprogramm (Albrecht Lüter) der Bundesregierung 111 Neue Perspektiven auf Jürgen Habermas 96 Tagungsankündigung (Mundo Yang) Schafft die demokratische Öffentlichkeit!

113 ANNOTATIONEN

114 ABSTRACTS ......

123 IMPRESSUM ...... Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 3

Das Ende der Volksparteien? Schwarz-Gelb, ist die Mehrheit im Bundesrat Analysen & Auswege nicht mehr gesichert. Die ‚Berliner Erklärung‘ der CDU vom Ja- „Unsere Ziele sind nachhaltiges Wirtschaften nuar 2010, wonach künftig die Wählersegmen- für Wohlstand, neue Chancen für Aufstieg durch te der SPD, aber auch der Grünen und der FDP Bildung und sozialer Zusammenhalt für ein star- programmatisch ins Visier genommen werden kes Deutschland (...)“ lautet es vollmundig in sollen, kann ein erster Hinweis sein, dass es der Präambel des offenbar übereilt zusammen- Angela Merkel gelingt, ihre „asymmetrische geschusterten Koalitionsvertrages zwischen Demobilisierung“ entschlossen zu verfolgen. CDU, CSU und FDP. Allein es fehlt der Glau- Eine Marginalisierung der SPD auf dem derzei- be, wenn man die ersten Monate der Regie- tigen Niveau würde der Union auf Dauer eine rungskoalition in Berlin Revue passieren lässt. stabile Machtbasis garantieren. Wie wollen die zentralen Akteure ernsthaft für Es ist also angebracht, die Bundestagswahl Zusammenhalt in Deutschland arbeiten, wenn 2009 und deren Auswirkungen auf die Rolle sie sich nicht einmal innerhalb der Koalition auf von politischen Parteien in den Blick zu neh- einen stabilen Grundkonsens und verlässlichen men und dabei die Substanz von ‚politischen Fahrplan einigen können? Kaum ein Thema, Lagern‘ zu überprüfen. Hier setzt das vorlie- das nicht mit kontroversen Diskussionen oder gende Themenheft des Forschungsjournals an. fundamentalem Streit begleitet wird – ob in der Der Zustand und die Entwicklung der beiden Steuerpolitik, Änderungen im Gesundheitswe- Volksparteien CDU und SPD stehen dabei, auch sen oder an der Sozialgesetzgebung. Eine Par- angesichts des Ergebnisses der SPD und der allele zum Amtsbeginn der rot-grünen Koaliti- Richtungsdebatten innerhalb der Union, im on 1998/1999 drängt sich auf: Die damaligen Mittelpunkt der plural angelegten Analysen. Protagonisten um Gerhard Schröder und Josch- Die Diskussion, ob es in Deutschland noch ka Fischer, beseelt vom Wahlsieg und Machtge- ein linkes und ein bürgerliches Lager gibt, wird winn, fassten nur sehr schwer Fuß in den Mü- durchaus kontrovers geführt. Die überwiegen- hen der Regierungsarbeitsebenen. ‚Die können de empirische Forschung findet nach wie vor es nicht‘, so die damalige Resonanz in Medien ein schwarz-gelbes und ein rot-grünes Lager und Bürgerschaft. Gleiches ließe sich auch heute vor. Schwarz-Gelb ist es gelungen, eine Mehr- sagen. In jedem Falle fehlt der Bundesregierung heit des so genannten ‚linken Lagers‘, das bei eine gemeinsame Idee des Regierens. Das Retro- den vorangegangenen Bundestagswahlen seit Vorhaben einer „geistig-politischen Wende“, zu 1998 immer eine Mehrheit hatte, zu verhindern. dem sich Guido Westerwelle in Reden verstieg, Die konsequente Strategie von Angela Merkel, erinnert an bodenlose Übertreibungen. sich von den neoliberalen Positionen des Leip- Ein „Durchregieren“ (Angela Merkel) in ziger Parteitages 2005 zu distanzieren und Kon- und Bundesrat wäre auf der Basis troversen mit der SPD um jeden Preis zu ver- der Länder-Mehrheiten ohne weiteres möglich. meiden, brachte der FDP zugleich einen großen Doch noch geschieht – unabhängig von Unei- Raum der inhaltlichen Entfaltung. nigkeiten etc. – dies vor allem deshalb nicht, Das Vorhaben der CDU, weiter um von der weil mit der Wahl im bevölkerungsreichsten SPD enttäuschte oder irritierte WählerInnen zu Bundesland Nordrhein-Westfalen im Mai die- werben, passt in diese Linie. Dieser Weg war sen Jahres ein heikler und richtungsweisender und ist ein riskantes Vorhaben, da nur Erfolge Urnengang ansteht, der auch über die Stimmen- diesen Kurs innerhalb der Unionsparteien lang- verhältnisse im Bundesrat entscheidet: scheitert fristig etablieren können. In einem Papier kriti- 4 Editorial

sierten jüngst vier Fraktionsführer aus den Lan- Linken, sich als soziale Protest- und Anti- desparlamenten1 die Linie der ‚Arbeitsteilung‘ Kriegsstimme zu etablieren, konnte aufgehen, im bürgerlichen Lager scharf und öffentlich. weil die SPD eine Koalition mit ihnen katego- Zwar wird die gewonnene Mehrheit des bür- risch ausschloss: die innerparteilichen Kämpfe gerlichen Lagers bei der Bundestagswahl 2009 angesichts einer möglichen Übernahme von honoriert, aber das eigene Abschneiden mit 33,8 Regierungsverantwortung blieben Lafontaine, Prozent als enttäuschend bewertet. Mehr noch: Gysi & Co. noch erspart. Mittelfristig muss die das Ergebnis wird als glücklicher Zufall be- Partei im Süden und Westen der Bundesrepub- schrieben: „Die Regierungsmehrheit für CDU/ lik weiter Fuß fassen, bevor ein Mitte-Links- CSU und FDP war nicht das Ergebnis einer Bündnis auch auf Bundesebene realistisch wird. überzeugenden Wahlkampfstrategie. Vielmehr Der viel beschriebene Linksruck der SPD ist hatte die Union schlichtweg Glück. Die Wahl- dafür vielleicht gar nicht nötig, wohl aber ihre kampftaktik der weichen Botschaften und der Profilierung als Vertreterin einer Politik der so- gewollten Profillosigkeit führte in den Hoch- zialen Gerechtigkeit. Dies zu erreichen wird je- burgen zu massiven Verlusten.“ Und an anderer doch eine Generation beschäftigen, da die Ero- Stelle wird der Merkel-Kurs noch deutlicher sion der Kompetenzen im Themenfeld der sozi- kritisiert: „Eine strategische Positionierung der alen Gerechtigkeit über die vergangenen Jahre CDU als neuer SPD würde dauerhaft zu einer in der Regierungsverantwortung zu groß war. Stärkung der FDP und zum Entstehen konser- In diesem Zusammenhang bleibt es bis heu- vativer Parteien rechts von der CDU führen.“ te ein Rätsel, warum die SPD die Finanzkrise Konservative und wirtschaftsliberale Stamm- nicht als zugespitzte Gerechtigkeitsfrage zur wähler müssten zurück gewonnen werden heißt Mobilisierung im Wahlkampf genutzt hat. Ein es anderer Stelle. Wahlkampf-Alpha-Tier wie Gerhard Schröder Erstmals scheinen sich Merkel-Gegner zu hätte sich das wohl nicht entgehen lassen - un- positionieren, um die bis dato erfolgreiche Bun- abhängig davon, wie seine Politik in den Jahren deskanzlerin und in weiten Teilen ungeliebte zuvor ausgesehen haben mag. Ohne klaren Parteivorsitzende gegebenenfalls unter Druck Kurs, ohne inhaltlichen Kompass und ohne setzen zu wollen. Der Inhalt des Papiers könnte konsistentes Personal konnten die WählerIn- spätestens dann eine Steilvorlage für parteinin- nen bei der Bundestagswahl 2009 kaum eine terne Gegner und Kritiker der Bundeskanzlerin Alternative zu Schwarz-Gelb erkennen. Der werden, wenn etwa die Wahlen in NRW für die Wunsch der SPD-Spitze, eine Ampel-Koalition Union verloren gehen sollten. Ihre oft kritisier- anzustreben, wurde durch den eigenen Wahl- te schwache Verankerung in der Partei würde kampf unterminiert: Mit der FDP koalieren zu Merkel unter Druck setzen. wollen, diese aber zugleich im Wahlkampf zu Wichtige Kriterien, die ein Lager ausmachen, attackieren, wirkte unbeholfen. Offenkundig gab sind unter anderem die gesellschaftspolitische es kein linkes Lager, das ähnlich ‚arbeitsteilig‘ Verankerung von Parteien. Das bürgerliche La- hätte agieren können wie es Union und FPD ger konnte diese Verankerung in der beschrie- taten. Ebenso unklar war und ist das Verhältnis benen ‚Arbeitsteilung‘ von Union und FDP für zwischen Linkspartei und Grüne. Beide weisen sich optimal nutzen. Anders die SPD. Rot-Rot- fundamentale Differenzen auf, so etwa in der Grün hätte eine Mehrheit anstreben können. Orientierung der Grünen auf angestrebte Bünd- Doch schloss die SPD im Vorfeld der Bundes- nisse mit der CDU. tagswahlen vehement eine Regierungskoalition Möglich, dass sich langfristig die Lager ver- mit der Partei Die Linke aus. Die Strategie der ändern und regionale Spezifika zunehmen. In Editorial 5

diesem Zusammenhang bleibt abzuwarten, Die Redaktion des Forschungsjournals bedankt wie die Arbeit der Koalitionen in Hamburg sich auch an dieser Stelle sehr herzlich bei den (Schwarz-Grün) und im Saarland (‚Jamaika‘) Partnern, die den bereits traditionellen Work- von den WählerInnen bei den nächsten Land- shop ermöglichten. tagswahlen bewertet werden. Oft können Lager übergreifende Politikentwürfe auch abgestraft Vera Faust (Aachen), Peter Kuleßa (Berlin), werden, weil sie das eigene Wählerklientel über- Thomas Leif (Wiesbaden) fordern. In dieser spannenden Gemengelage bewe- Mitteilung in eigener Sache gen sich die Texte des vorliegenden Themen- Das Forschungsjournal freut sich mitzuteilen, heftes. Im ersten Teil des Heftes wird die Dis- dass Jan Rohwerder, seit 2005 Mitglied der kussion um ‚politische Lager‘ aufgegriffen; der Redaktion, das Team der Herausgeber verstär- zweite Teil umfasst Analysen aus den und über ken wird. Jan Rohwerder war bis Januar 2010 die Parteien, vor allem der Union und der SPD. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Dabei stellt sich angesichts eines Fünf-Partei- Politische Wissenschaft der RWTH Aachen en-Systems generell die Frage, wie sich zukünf- und ist zur Zeit Leiter der Geschäftsstelle des tige Koalitionen innerhalb der Lager oder lager- Europäischen Wissenschaftsparlaments, einem übergreifend bilden werden. Die Erosion sozi- Gemeinschaftsprojekt von Stadt Aachen und almoralischer Milieus oder die sinkende Bereit- RWTH Aachen. Mit Beginn dieses Jahrgangs schaft zu längerfristigen Parteibindungen etwa wird er die bisherigen Herausgeber in ihrer machen sich insbesondere für die Volksparteien Tätigkeit unterstützen; zugleich hat sich auch CDU, CSU und SPD im Wählerverhalten wie die Redaktionsanschrift geändert (s. Impres- in der Mitgliederstruktur negativ bemerkbar. Das sum). Ende der Volksparteien auszurufen, wäre jedoch verfrüht. Volksparteien bemühen sich gemeinhin Die Herausgeber um WählerInnen aller gesellschaftlicher Grup- pen und Schichten und nicht nur um WählerIn- Anmerkung nen einer Klasse oder einer bestimmten Klien- tel. Dies gilt weiterhin für CDU/CSU und SPD. 1Verfasser des in der Frankfurter Allgemei- Fraglich bleibt, ob sie ihre einstige Größe mit nen Sonntagszeitung vom 10. Januar 2010 er- gemeinsamen Stimmenanteilen von bis zu 80 schienenen Textes sind die drei CDU-Frakti- Prozent wieder erreichen. Sprich: Das Argu- onsvorsitzenden aus Hessen, Sachsen und Thü- ment der quantitativen Ausdehnung kann künf- ringen, Christean Wagner, Steffen Flath und tig hinter dem der inhaltlichen Positionierung Mike Mohring sowie die stv. Fraktionsvorsit- zurücktreten – und dennoch kann es weiter zende Saskia Ludwig aus . möglich sein, von Volksparteien zu sprechen. Der hessische Ministerpräsident Roland Ein Pulsschlagbeitrag und ein Literaturessay Koch hat sich zwar umgehend von dem Papier runden den Themenschwerpunkt ab. distanziert. Gemeinhin ist das Verhältnis zwi- Die Texte gehen zurück auf einen Workshop, schen einem Regierungschef und dem Frakti- den Prof. Dr. Thomas Leif, Prof. Dr. Joachim onsvorsitzenden seiner ihn tragenden Partei ein Raschke und Dr. Ralf Tils gemeinsam mit der vertrauensvolles. So ist es schwer zu glauben, IG Metall und der Hans-Böckler-Stiftung am dass weder Roland Koch noch seine Amtskol- 23. Oktober 2009 in der Berlin-Brandenburg- legen Wolfgang Böhmert und Stanislaw Tillich ischen Akademie zu Berlin veranstaltet haben. nichts von dem Papier gewusst haben. 6 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Tissy Bruns

Alles nur Wahlkampf!

Als die Finanzkrise noch ziemlich frisch und Mehrheiten gewinnen wollen. Nach diesem die Bundesregierung mit Rettungsschirmen, Wahlkampf muss man sich fast überwinden, an Konjunkturpaketen und Kurzarbeitergeld be- solche Maßstäbe noch zu erinnern, weil sie so schäftigt war, also schon im letzten Quartal des weltfremd erscheinen. Denn der politische Zy- Jahres 2008, durchzog der Hinweis auf das nismus hat sich tief festgesetzt, demzufolge kommende Wahljahr die Krisenberichterstattung Politik sich nur um Macht und Taktik dreht, das wie ein roter Faden. „Der Wahlkampf hat bereits Denken der Politiker beherrscht und Wahlkampf begonnen“, das war ein fester Topos, der nur darum geht, wer beim Wählerfang die raffi- keineswegs nur Kommentare, sondern auch nierteste Kampagne aufbietet. Mit der Folge, Nachrichtentexte geradezu durchdrungen hat. dass die Bürger sich nicht mehr als politisches Die Krisenberichterstattung stand unter dem Subjekt beteiligt sehen, sondern nur noch als ausgesprochenen oder subkutanen Dauerver- Wähler, als Objekt des Stimmenfangs, gefragt dacht, dass die politischen Akteure, ob es um fühlen. Abwrackprämie oder Opelrettung ging, vor al- Gerade dieser Bundestagswahlkampf hat den lem anderen vom Motiv des Stimmenfangs ge- faulen Wahlversprechen und der Hochglanzin- leitet wurden. szenierung der Politik in gewisser Weise den Was für ein langweiliger Wahlkampf! Das Garaus gemacht. Nicht wegen, sondern trotz war dann die finale Zusammenfassung der letz- angekündigter Steuergeschenke und anheimeln- ten Wahlkampfwochen. Irgendwann in einem der Plakate, wird über das Kreuz auf dem unaufhörlichen Dauerrauschen des Polit-Talks Stimmzettel entschieden. Das aber hat einen konnte man einen Frank Plasberg in seiner Sen- bedenklichen Preis. Zwischen Bürgern und dung sehen, der sich indigniert einer Front sei- Politikern ist eine gefährliche Spirale entstan- ner Gäste gegenüber sah, die darauf pochte, dass den: Die normalen Leute haben das Gefühl, von Politiker nicht nur die Macht, sondern auch po- Politkern und Parteien um die großen Rich- litische Ziele im Auge haben. Sigmar Gabriel tungsfragen betrogen zu werden und winken und Oskar Lafontaine ließen sich nicht von ei- ab; sie erwarten nichts mehr von der Politik. nem Moderator ins Bockshorn jagen, der sie Aber gerade diese Abwendung und Passivität unbedingt in ein rot-rotes Bündnis packen woll- erleichtert den politischen Profis einen Wahl- te. Da ist der Fernsehmoderator einmal auf wirk- kampf der Politikvermeidung. Das Ergebnis ist liche Politiker getroffen, hart, aber fair. eine genügsame, eine ermattete Demokratie. Die allerdings waren Mangelware im Ange- Es wäre wohlfeil, wenn sich die professio- bot der alten und neuen Formate, der Wahlare- nellen politischen Akteure aus ihrer Verantwor- nen, Duelle, Dreier- und sonstiger Runden, die tung für den langweiligen Wahlkampf nach dem das Fernsehen uns überreichlich präsentierte: Motto herausreden würden: Das Volk, es will Wirkliche Politiker, die im Wahlkampf eine betrogen sein. Es weiß und erlebt nur, dass es Chance sehen, Menschen von ihrem „Dennoch“ angeschwindelt wird. In Wahlkämpfen liegt die zu überzeugen, von dem Max Weber spricht, Verantwortung für politische Konzepte, Ideen von ihrer Sache, an die sie glauben, für die sie und Vorschläge bei denen, die Politik als Beruf Alles nur Wahlkampf! 7

betreiben. Sie müssen dem Volk, das seine Politik von Thatcher, Blair, Schröder, Merkel, Staatsgewalt ja – laut Grundgesetz – „in Wahlen Bush gefolgt ist. Doch neue Chancen in einer und Abstimmungen“ ausübt, etwas zur Entschei- globalisierten Welt hat das den Wirtschafts- und dung vorlegen. Die verfassungsrechtliche Le- vor allem den Finanzeliten gebracht. Längst vor gitimation der Parteien (und ihrer Führungen) dem großen Crash hat die Bevölkerung gespürt, wiederum liegt in ihrer Mitwirkung an der „po- dass der Politik etwas entgleitet. Der Durch- litischen Willensbildung des Volkes“. Artikel 20 schnittsbürger erlebte die neue Freiheit als Ver- und 21 GG beschreiben natürlich idealtypische lust von Sicherheiten, als neue Arbeitskonkur- Zustände der Demokratie, die auch in zurück- renz, Wegzug von Unternehmen, als Erpres- liegenden Wahlkämpfen selten ganz eingelöst sungspotential der Unternehmerverbände auf die worden sind. Politik. Dieser Wahlkampf aber lässt das Grundge- Und damit sind wir unweigerlich bei den setz aussehen wie einen hoffnungslos vertrot- Medien. Sie waren beteiligt: Das neoliberale telten Don Quijote. Und an der großen Koaliti- Denkmuster war zugleich der mediale Main- on liegt das nicht – auch wenn die tatsächlich stream. Professionelle Akteure der Politik sind, dazu beigetragen hat, die Unterschiede der bei- zumal in Wahljahren, keineswegs nur die Politi- den Hauptkontrahenten noch einmal zu verklei- ker, sondern auch die Journalisten, Intendan- nern. Sicher ist die Rauflust von Spitzenkandi- ten, Zeitungen, Fernsehsender, Onlinemedien, daten, die vier Jahre an einem Kabinettstisch deren öffentliche Verantwortung darin besteht, zusammengearbeitet haben, begrenzt. Es stimmt, Politik zu vermitteln, im Wortsinn eben als ‚Me- dass Angela Merkel seit ihrem schlechten Wahl- dien‘ zu fungieren. Sie sind zudem nach dem ergebnis von September 2005 an ihrem Macht- ersten Fernsehurteil des Bundesverfassungsge- erhalt arbeitet. Und wahr ist auch, dass in Ge- richts ein „eminenter Faktor“ der öffentlichen stalt von Frank-Walter Steinmeier ein Sozialde- Meinungsbildung. mokrat in die Arena geschickt wurde, der als Die traurige Wahrheit ist: Das war einmal. Kanzlerkandidat zum ersten Mal um einen Wahl- Das TV-Duell als Höhepunkt des Wahlkampfs kreis kämpfen musste. im Fernsehen und vor allem seine medialen Vor- Was ganz und gar nicht stimmt ist jedoch, und Nachbereitungen sprechen eine deutliche dass unserer Zeit die großen Fragen ausgegan- Sprache. Der Strukturwandel der Öffentlich- gen wären, die den Wahlkämpfen von Konrad keit, eingeleitet durch das Privatfernsehen, hat Adenauer und Willy Brandt ihre Spannung ge- sich zu einer Krise der demokratischen Öffent- geben haben. Die Finanzkrise hat, im Gegen- lichkeit ausgeweitet. Mit der Einführung des teil, die Widersprüche unserer Zeit dramatisch privaten Fernsehens, im großen Rauschen der zugespitzt – und das eigentliche Debakel dieses dualen Fernsehwelt, ist das Politische in den Wahlkampfs war, dass Parteien und Spitzen- Medien in eine Randrolle geraten. Beschleuni- kandidaten sich der Überprüfung des politischen gung war das erste spürbare Kennzeichen der Paradigmas entziehen konnten, dass diese Kri- technologischen Revolution des Internets. Ihr se erst ermöglicht hat. Denn die wichtigste Fra- demokratisches Potential hat in diesem Wahl- ge wurde nicht gestellt: Muss sich die Politik kampf zum ersten Mal eine Rolle gespielt. Die nicht grundlegend überprüfen und neu besin- Bilanz ist ambivalent. Soziale Netzwerke der nen, wenn das Deutungsmuster, dem sie an- verschiedensten Art haben tatsächlich zu einer derthalb Jahrzehnte gefolgt ist, derart katastro- Aktivierung von Menschen beigetragen, die phale Folgen hatte? Deregulierung, die Freiheit weder über ‚die Märkte und Plätze‘ noch über der Märkte, das war das Paradigma, dem die Parteien oder die Zeitungen zu erreichen sind. 8 Tissy Bruns

Für die traditionellen Medien, vor allem aber Beispiel die gängigen Bilder und Urteile über für das Fernsehen, waren die neuen technologi- die Bundeskanzlerin. Der (zutreffende) Vorwurf, schen Möglichkeiten aber eine zusätzliche Aus- dass niemand weiß, wofür sie eigentlich ein- rede, nicht selbst zu denken. tritt, wurde höchst konform in allen Texten oder Der Bedeutungsverlust der professionellen Fernsehporträts über sie erhoben, wie ebenso politischen Akteure war das Subthema dieses konform diese Meisterschaft des Ungefähren Wahlkampfs. Die Politiker wollten und konn- als taktische Raffinesse der Machtsicherung be- ten ihre Verantwortung für ihre verlorenen Ge- wundert wurde: Der schlaue Machiavellist im staltungskraft in der globalisierten Welt nicht Journalisten, der mit dem tiefen Einblick in die thematisieren – obwohl jeder und jede weiß, Innereien der Macht, schlägt im Regelfall den dass über den Einzelthemen Managerboni, Ei- Aufklärer, der er einmal sein wollte. genkapitaldecke oder Finanzaufsicht das Meta- thema vom Primat der Politik steht. Der profes- 2 Umfragewahlkampf sionelle Journalismus wiederum steht ohne Antwort vor einer digitalisierten Medienwelt, Zum dritten Mal in Folge haben die Medien der die den traditionellen Geschäftsmodellen für Logik der Umfragen freie Bahn gelassen. Nach Nachricht und Information die Grundlage ent- den Irrtümern von 2002 und 2005 kann man zieht. Wichtiger noch: Welche Wirkung die öf- nur noch sagen: wider besseres Wissen. Umso fentlichen Meinungsbildner auf die Köpfe und interessanter die Frage: warum? Tatsächlich ex- Herzen der Bürger wirklich haben, wird ange- erziert die professionelle Öffentlichkeit selbst sichts einer Öffentlichkeit, in der potentiell je- vor, was sie den Politikern später vorgeworfen der sein eigener Meinungsmacher sein kann, hat: den inhaltsarmen Wahlkampf. Denn Um- immer rätselhafter. Und weil die Medien ihren fragen und Popularitätsrankings liefern einen Anteil an der Finanzkrise nicht reflektieren, taktischen Ersatz für die kritischen Fragen nach können sie den der Politik nicht ernsthaft the- politischen Inhalten und Konzepten. Wenn eine matisieren. Partei so im Umfrage-Hintertreffen liegt wie die SPD, reduziert sich der Umgang mit ihr auf die Frage, die keine ist: „Woher nehmen Sie bei 1 Immer auf der richtigen Seite – diesen Umfragewerten die Zuversicht, dass sie mit Politzynismus es noch schaffen können?“ Die suggestive Kraft Im Wahlkampf haben Medien jeden nur erdenk- der Umfrage macht die SPD und ihre Spitzen- lichen Tribut gezahlt, um an solchen Wahrhei- politiker zur Verliererpartei, die Wahlentschei- ten nicht zu rühren. Ob Print, privates, öffent- dungen der Bürger werden latent zur Wette auf lich-rechtliches Fernsehen oder Online – den den Sieger. Es waren Journalisten, die unisono sichersten Halt bietet allen die weit verbreitete und in gleichem Atemzug Münteferings Atta- nihilistische Haltung zur Politik. Politikwissen- cken auf die Kanzlerin kritisiert haben, weil die schaftler, Journalisten, Experten aller Art ver- wegen ihrer Popularitätswerte kontraproduktiv künden, dass es in der Politik nun einmal und seien – und Steinmeier vorgehalten haben, dass nur um Macht geht. Wie der Chor der griechi- er zum politischen Angriff überhaupt nicht fä- schen Tragödie begleitet ein durchdringend hig sei. Die Umfragen waren in diesem Wahl- negativer Grundton das Geschehen in der kampf das erste Surrogat für politischen Inhalt. öffentlichen Arena. Ein Chor, der Politik als Die Frage nach dem Unterschied zwischen Macht- und Taktikmaschine anklagt. Dass die- Merkels hoher persönlicher Beliebtheit und den se Haltung selbst machtzynisch ist, zeigen zum Werten ihrer Partei war der Running Gag dieses Alles nur Wahlkampf! 9

Wahlkampfs. Die demoskopischen Werte wur- fast 15 Millionen zugeschaut haben. Der medi- den zum bestaunten Fetisch, der die simple kri- ale Grundtenor danach war ebenso einhellig, tische Frage erledigt hat, welchen Wert Popula- wieder hieß es „Gähn“, zusätzlich einigte man rität für eine Kanzlerin (oder einen neuen Wirt- sich auf die Formel ‚Duett statt Duell‘. Zwei schaftsminister) in einem Parteienwahlsystem Tage immerhin wurden die Fernsehsender selbst überhaupt hat. zum Gegenstand der Kritik. Vier Moderatoren, deren Geltungsbedürfnis ein enges Gespräch- korsett verlangte, haben in anderthalb Stunden 3 Bloß nicht langweilen! ein Drittel der Gesprächszeit für sich selbst be- Das macht nur die Politik ansprucht, keine Frage zum Bildungsthema ge- Das TV-Duell zwischen Merkel und Steinmei- stellt, und sich gegenseitig durchkreuzt, wann er hat den Wahlausgang beeinflusst, wahrschein- immer es hätte interessanter werden können. lich allein deshalb, weil Millionen Menschen Ob es hier vielleicht mehr um den Bundesmo- sich erstmals ihr eigenes Bild über den SPD- derator als den Bundeskanzler gegangen sei, Kanzlerkandidaten machen konnten. Die medi- fragte die Süddeutsche Zeitung spöttisch. Die ale Vorbereitung in den Vorwochen kann in ei- Energieleistung war eindrucksvoll, mit der die nem Wort zusammengefasst werden: „Gähn“. Verantwortlichen in den Medien die Schwächen Es bleibt unerfindlich, warum ein vorher so ein- des Duells von sich selbst auf die Politiker ab- gestimmtes Publikum auf dieses Duell gespannt geschoben haben. Im Fünf-Parteien-System, da sein sollte, so dass es eher erstaunlich ist, dass war man sich schnell einig, sei ein Duell zwi- 10 Tissy Bruns

schen Kanzlerin und Herausforderer nicht mehr wegducken, wenn mit Einspielern auf ihn ge- zeitgemäß. Dabei war das Duell das einzige Fern- worfen wird? sehformat, das in diesem Wahlkampf spürbare Zu den beliebtesten Unterbrechungsforma- Wirkung auf den Wahlausgang hatte. ten gehören mittlerweile Frager aus dem Inter- net, die wie schwarz-weiße Gespenster auf dem Bildschirm erscheinen. Oder parallel zur lau- 4 Fernsehen als ständige fenden Sendung an Laptops ermittelte Statisti- Unterbrechung ken, bei denen durchaus herauskommen kann, Das neue Format, mit dem Sabine Christiansen dass nach einer mehrstündigen Befragung von flankiert von Stefan Aust in die Talkarena zu- Spitzenpolitikern alle die Begriffe Kinder und rückkehrte, ließ keinen Zweifel mehr zu: Zuviel Familie besonders häufig genutzt haben. Er- Flitter und Twitter. Doch auch in vielen anderen kenntniswert: null. Runden des Talks erreichte das Fernsehen im Die krampfhaften Versuche, das Fernsehen Wahljahr eine neue Qualität in der Kunst, Ge- technologisch auf Hochniveau zu präsentieren, danken und Argumente möglichst rasch zu un- erweisen sich als Blendwerk. Das sind nur terbrechen. Besonders fatal gerieten dabei die Mätzchen, die sich an die partizipativen Mög- Versuche, sich mit Hilfe von Einspielern aller lichkeiten des Internets anhängen wollen, tat- Art als volksnah und durch Indienstnahme von sächlich aber das Fernsehen geradezu zu einer Onlineformaten auf der Höhe der Zeit auszu- Politikvernichtungs-Maschine degradieren. weisen. Nichts gegen Wahlarenen, in denen das Eine Dienstwagenaffäre in den Sommerwo- Publikum die Fragen stellt. Aber alles gegen die chen hat nur den bedenklichen Vorgeschmack gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ver- geliefert auf das mediale Wahljahr 2009. Skan- breiteten Einspieler, die Politiker mit jenen Vox dale, Umfragen, Rankings, Vox Pops und Mo- Pops konfrontieren, von deren Manipulierbar- deratorenduelle zeigen eine professionelle Öf- keit jeder Medienstudent im ersten Semester fentlichkeit, die nicht mehr daran glaubt, der weiß. Was eigentlich sollen oder Wirklichkeit mit ihren Mitteln zu Leibe zu rü- Peter Müller antworten, wenn Volkes Stimme cken. Man begnügt sich mit Ersatzhandlungen auf die Frage „Was halten Sie von...“ verkün- aller Art. Im Vergleich zu den Politikern, die det: „Kenn ich nicht.“ oder „Weiß man ja nicht, den Herausforderungen nicht besser gewach- was der vorhat.“ Nach dem Auftritt von Stein- sen sind, gibt es eine strategischen Vorteil: Die meier bei ‚Anne Will‘ charakterisierte die Frank- haben die Wähler über sich, die Medien nicht. furter Allgemeine Zeitung diesen Journalismus treffend als eine Form des altbekannten Torten- Tissy Bruns ist Politische Chefkorrespon- werfens. Das Fernsehen teste eigentlich nur die dentin und leitende Redakteurin des Tagesspie- Reflexe der Politiker: Kann er sich rechtzeitig gels. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 11

Joachim Raschke/Ralf Tils

Die Qual der Wahl: Das Debakel der SPD und strategische Optionen in der Lagerstruktur des deutschen Parteiensystems

1 Das Wahldebakel der SPD: FDP eingesammelt werden und so dem bürger- Strategiegründe lichen Lager erhalten bleiben (dabei war ein er- heblicher Teil von Wählern, die sonst CDU In ein Lehrbuch für politische Strategie können wählen). Merkel vertraute auch darauf, dass die nach dieser Wahl zwei Beispiele aufgenommen Wertkonservativen mangels alternativen Partei- werden: Das Positiv-Beispiel der Merkel-Stra- angebots zum größeren Teil dann doch CDU tegie, bei der fast alles richtig war. Und das wählen – was geschah. Da im bürgerlichen La- Negativ-Beispiel der SPD-Strategie, bei der fast ger die Wahlbeteiligung klassischerweise hoch alles falsch war. liegt, die Wahlnorm noch etwas gilt, die Partei- Für beide Seiten ging es um Machterwerb identifikation stärker ist, kann sie (im Unter- durch Wahlkampf. Für Merkel hieß das strate- schied zur SPD) ihrer Wählerschaft auch mehr gische Ziel, als Kanzlerin einer schwarz-gelben zumuten. Merkels Konzept seit der Wahlnie- Regierung gewählt zu werden. Dabei war uner- derlage 2005 lautet: Alles Sozialdemokratische heblich, dass sie persönlich bei freier Entschei- aufsaugen, um in der Mitte wählbar zu sein. Die dung eine Große Koalition vorgezogen hätte – CDU hat von der SPD-Wählerschaft einen er- sie musste sich den Wunsch ihrer Partei und heblichen Teil dessen gewonnen, was sie an die Wählerschaft nach einer bürgerlichen Regierung FDP verloren hat. Dieses Ergebnis ist Ausdruck zu Eigen machen. einer fast perfekten Lager-Strategie. Die SPD hatte drei strategische Ziele Bei der Gegner-Strategie ging es um die (schon das konnte nicht gut gehen). Das offi- Demobilisierung der SPD. Über den Staubsau- zielle hieß: Ampelkoalition mit Kanzler Stein- ger-Effekt hinaus bedeutete das, der SPD jedes meier. Das inoffizielle hieß: Große Koalition Thema zur Mobilisierung von enttäuschten An- mit Vizekanzler Steinmeier. Am Schluss war hängern abzuschneiden. Entsprechend dem es das Ziel, einen katastrophalen Stimmenan- Drei-Mehrheiten-Theorem kommt es darauf an, teil unter 25 Prozent zu vermeiden. Zielsi- seine charakteristischen Stärken bei den diver- cherheit (bei Merkel) stand gegen Zielunsi- gierenden ökonomischen, sozialen und kultu- cherheit (bei der SPD). rellen Bevölkerungsmehrheiten auszuspielen. In drei Punkten lässt sich sagen, warum Da das bürgerliche Lager stark war bei der öko- Merkel diesmal so vieles richtig gemacht hat: nomischen Mehrheit, durften SPD und linkes Sie hatte eine Lager-Strategie, eine Gegner-Stra- Spektrum – aus der Sicht von Merkel – ihre tegie und eine Personalisierungs-Strategie. soziale und kulturelle Mehrheit nicht ausspie- Der Leitgedanke der Lager-Strategie hieß len. Als kulturelles Thema war nur Atomener- Machtgewinn durch Mitte-Verschiebung. Die gie auf dem Markt – das half den Grünen. Das Lagermehrheit war nicht nur ihr Ziel, sondern sozialdemokratische Großthema soziale Gerech- auch ihr Bezugsrahmen. Merkel musste in die tigkeit neutralisierte Merkel konsequent. Gleich- Mitte rücken und darauf setzen, dass die for- zeitig zeigte sie persönlich beim Wirtschaftsli- cierten Markt- und Steuerinteressen von der beralen und beim Wertkonservativen nur ein 12 Joachim Raschke/Ralf Tils

schwaches Profil, um nicht schlafende Hunde gen die FDP sein. Das Fehlen einer begründba- zu wecken. ren Machtoption war unvermeidbar. Es gehörte Gegen viele Ratschläge aus der eigenen Par- diesmal zur nicht behebbaren Schwäche der tei oder den Medien und als andere nervös wur- SPD. Man machte aber aus einer Schwäche den (z.B. nach den Landtagswahlen Ende Au- gleich zwei: keine Machtoption plus das Ver- gust) hat Merkel ihre Strategie durchgezogen: schenken eines Angriffsthemas. Es fehlte die kein Feldzug gegen mögliche Links-Bündnisse Zuspitzung gegen Schwarz-Gelb über kontinu- in Thüringen und im Saarland, keine Rote So- ierliche, argumentative, harte Angriffe auf die cken-Kampagne, kein neues Thema für Wirt- FDP. schaftsliberale oder Wertkonservative. Die Stär- Fehlen eines zuspitzenden Themas für sozi- ke des eigenen Lagers sorgte gleichzeitig für ale Gerechtigkeit. Ohne ein solches Mobilisie- die Schwäche des Hauptkonkurrenten SPD – rungsthema, und das war das Schlimmste, konn- allerdings nur unter der Bedingung, dass diese te die SPD ihre Kernkompetenz nicht hinrei- Merkels Aufsaug-Strategie in der Mitte nicht chend demonstrieren. Mindestlohn war ein gu- aktiv durchkreuzte. An sich war die Strategie tes Thema, aber es wurde verschenkt. Es wurde riskant. Noch nie ist es im letzten Jahrzehnt ei- nicht eingebaut in eine neue Politik der Solida- nem Lager gelungen, mit der Mobilisierung nur rität, bei der auch Teile der alten, eigenen Politik einer Themenmehrheit (hier der ökonomischen) auf den Prüfstand gemusst hätten. Die Finanz- die Mehrheit der Stimmen zu erringen. 2002 krise als Gerechtigkeitsthema fiel einer weite- und 2005 ist die Union genau daran gescheitert. ren Selbstblockade der SPD zum Opfer: Sie Eigene Mehrheit plus Schwächung der Ande- hatte selbst Deregulierung betrieben, sich selbst ren – so brachte Merkel anderthalb Mehrheiten an fragwürdigen Geschäften beteiligt (Landes- auf ihre Seite und war erfolgreich. Volkspartei- banken) und durch Minister Steinbrück selbst en sind heute nicht mehr danach zu bewerten, bei der administrativen Neuregulierung in Mini- ob sie 40 Prozent erreichen, sondern danach, ob Schritten mitgewirkt. Es fehlten Mut und Phan- sie ein Lager erfolgreich organisieren und mo- tasie zu Selbstkritik plus Offensive. Die SPD bilisieren. Das hat Merkel geschafft. Und des- hatte keine Kraft für eine Doppel-Strategie: im halb war sie klüger als viele in ihrer Partei. Amt und im Wahlkampf. Im November 2008 Die Selbstinszenierung im Rahmen ihrer erarbeitete sie einen breiten Forderungskatalog, Personalisierungs-Strategie dementierte ihr versteckte diesen dann aber. Eine Forderung Lager nicht, passte aber gleichzeitig zur lager- nach Zerschlagung der Großbanken, der Her- übergreifenden Positionierung. Merkel gerierte auslösung des Investmentbanking, hätte sich als Kanzlerin für alle Deutschen. Das be- beispielsweise breite Zustimmung gefunden und stehende inhaltliche Vakuum wurde durch ihre die Polarisierung in der Sache geschaffen, die Person aufgefüllt. Dieses Vorhaben gelang ihr der SPD so sehr fehlte. nicht zuletzt durch das gekonnt-kontrollierte Personalisierungs-Strategie. Hier musste Spiel mit den Medien. man der starken Merkel-Strategie etwas entge- Ebenfalls in drei Stichworten lässt sich zei- gensetzen, hätte einen Richtungskandidaten ge- gen, warum die SPD wahlstrategisch fast alles braucht, nicht eine Kopie der Kanzlerin. Stein- falsch gemacht hat: durch koalitionspolitische meier hatte zum Schluss hin gute Kompetenz- Selbstblockade, ausbleibende Gerechtigkeitsmo- und Persönlichkeitswerte, aber die Figur und bilisierung und fehlenden Richtungskandidaten. Position des Kanzlers war schon besetzt. Da Selbstblockade durch die Koalitionsfrage. Steinmeier zu keiner Zeit Kanzler werden konnte Man kann nicht vehement zugleich für und ge- (und die Leute das wussten), war nur über ein Die Qual der Wahl: Das Debakel der SPD 13

ausgewiesenes Richtungsprofil etwas zu holen. regierung zu zahlen. Angesichts der bestehen- Dafür hätte der Kandidat einen für die SPD den Lagerkonstellation ist kurz etwas zur Kate- wichtigen inhaltlichen Konflikt durchstehen gorie und den Bedingungen politischer Lager müssen (irgendwann in seinem Kandidatenjahr). zu sagen. Lager sind etwas, über dessen Exis- Willy Brandt, der sozialdemokratische Vizekanz- tenz man nicht streiten kann. Sie stellen eine ler der ersten Großen Koalition, war 1969, am empirische Tatsache dar, wenn man sie (ver- Ende der schwarz-roten Regierung, nicht als nünftigerweise) als eine verbindende und ab- ein sympathischer Politiker erfolgreich, sondern grenzende Orientierung definiert. Mehr als Ko- als einer, der mit den Konfliktfeldern Ostpolitik alition, weniger als Milieu (die Leute müssen und Demokratisierung Profil gewonnen hatte. nicht alle in derselben Kneipe sitzen und im Das waren drei strategische Schwächen der selben Quartier wohnen). Lager spiegeln aber SPD, die ‚nicht hätten sein müssen‘. Die Mise- auch grundlegende Wertorientierungen. Dennoch re der SPD war natürlich größer. Die SPD war kann man sie über Parteipräferenz, Zweitpräfe- nicht mehrheitsfähig: Führung und Richtung renz, Koalitionspräferenz und Stimmensplitting waren nicht geklärt, es fehlte eine plausible hinreichend operationalisieren. Machtperspektive. Aber sie hätte auch unter die- Das Schwierigste im Lager ist die Arbeits- sen ungünstigen Rahmenbedingungen mehr teilung. Beide größere Parteien, Union und SPD, holen können als 23 Prozent (etwas zwischen müssen ihr Lager in der Mitte verbreitern. Eine 25 und 27 Prozent). riesige Herausforderung unter der Bedingung Angela Merkel verfolgte eine erfolgreiche schrumpfender Volksparteien (mit gefährdeter Machterwerbs-Strategie, die hohen Kosten bei Kernkompetenz), die eigentlich nichts mehr zu der Machtausübung wurden dabei ausgeblen- verschenken haben. Das wird meist nicht ver- det und sind erst in der anschließenden Lager- standen, auch nicht akzeptiert und führt zu Kon- 14 Joachim Raschke/Ralf Tils

flikten. Merkel wird das in ihrer eigenen, grö- Heiner Geißlers Lagertheorie von Mitte der ßeren Lagerpartei erfahren. Sie hat das Profil 1980er Jahre bezog sich auf den Gegensatz von ihrer Partei verändert. Dort dachte man aber, Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Diese Lagerkon- das sei nur die Große Koalition. Wenn sie in der stellation galt von 1983 bis 2005. 2005 bis 2009 Mitte bleibt, verletzt sie ideologische Interessen gab es eine um die Linkspartei erweiterte Mehr- in CDU und CSU. Und sie wird Konflikte mit heit des rot-grünen linken Spektrums, die we- der kleineren Lagerpartei FDP erleben, die sich gen Unvereinbarkeit politischer Positionen nicht zum eigentlichen Interessenvertreter des Lagers genutzt wurde – Folge war die Große Koaliti- stilisiert und vom Dauerkonflikt mit der größe- on. 2009 verlor Rot-Rot-Grün seine rechneri- ren Lagerpartei zu profitieren sucht. Die Freien sche Mehrheit. Es ist offen, ob das linke Spek- Demokraten spezialisieren sich darauf, Erwar- trum zu einem funktionierenden Lager zusam- tungen hoch zu fahren und hoch zu halten – menwächst. Noch sind die Distanzen und Dif- egal, was die Realität zulässt. Die FDP als An- ferenzen zwischen Wählern der SPD, Grünen treiber, die Union als Blockierer und Realitäts- und Linkspartei groß. Noch gibt es kein über- kontrolleur, das ist eine konflikthaltige Kon- greifendes und wie im bürgerlichen Lager mess- stellation. bares Lagerbewusstsein. Auch die Repräsen- Fährt Merkel wie im Wahlkampf und der tanten der drei Parteien haben unterschiedliche Großen Koalition fort, wird es also die Lager- Auffassungen darüber, wie sie – unter dem logik sein, die sie in der Mitte hält. Möglich ist Druck des regierenden bürgerlichen Lagers – aber auch, dass Angela Merkel – wie so oft – mit dem Potential eines linken Lagers umgehen nur auf die unmittelbar gegebenen Kräftever- sollen. hältnisse reagiert, auf die Anwesenheit der FDP in der Regierung und die derzeitige Schwäche 2 Strategieoptionen im deutschen der SPD in der Opposition. Dass sie also die Parteiensystem Sozialdemokratisierung ihrer Politik durch eine FDPisierung ablöst. Wenn sich ihr augenblicks- Bisher war es eine Schwäche des linken Partei- orientiertes Lavieren gegen das Festhalten an enspektrums, dass es angesichts seiner Selbst- strategischen Grundüberlegungen durchsetzt, blockierung über keine eigene Machtperspekti- gibt sie die Arbeitsteilung auf, zu der sie die ve verfügte. Fragt man vor dem Hintergrund Lagerlogik zwingt. Dann kann die Regierung der Lagerstruktur des deutschen Parteiensys- des bürgerlichen Lagers als Episode enden. tems nach den bundespolitischen Perspektiven Im Wahlkampf hat Merkel von der Lagerre- im Anschluss an die Wahl 2009, ergeben sich alität profitiert, Nebenfolgen und Kosten ihres drei grundlegende strategische Optionen. Die Wahlerfolgs muss sie in den nächsten vier Jah- erste Option ist eine Links-Strategie, bei der der ren aufarbeiten. Der politische Kampf geht auch Wille zur Bildung einer Regierung der drei Par- innerhalb des Lagers weiter. Das Lager bleibt teien des linken Spektrums ausdrücklich erklärt aber eine Bezugsgröße für die Akteure. Das und offensiv vertreten wird. Die zweite Option muss sich auch in Analysen der Wahl und der kann als lagerübergreifende Strategie bezeich- neuen Parteienkonstellation widerspiegeln. net werden, bei der die Parteien versuchen, ihr Bislang haben wir es mit einer asymmetri- Lager zu verlassen, indem sie Bündnisse jen- schen Lagerstruktur zu tun. Das schwarz-gel- seits der Lagergrenzen anstreben (Ampel, Ja- be, bürgerliche, heute regierende Lager ist ein maika, Große Koalition). Die dritte Variante ist Faktum, das linke Lager ein Problem. Das linke schließlich eine Strategie des Offenlassens, bei Spektrum ist ein potentielles, unfertiges Lager. der die Eigenständigkeit der eigenen Partei und Die Qual der Wahl: Das Debakel der SPD 15

Position betont wird, ohne dass man sich auf gerlichen Lagers die Oppositionsarbeit und den verbindliche Bündnisaussagen einlässt. Wahlkampf erheblich erschwert. Für den Wahl- Ein objektives Interesse an einer Links-Stra- kampf 2013 kann eine lagerübergreifende Stra- tegie als ausdrücklicher Lager-Strategie hat nur tegie nicht explizit gemacht werden, solange das die Linkspartei. Das gilt schon deshalb, weil es bürgerliche Lager für eine Fortführung des auf Sicht ihre einzige Chance auf Machtteilhabe schwarz-gelben Regierungsbündnisses wirbt im Bund ist. Sowohl die SPD als auch die Grü- (und das wird sie). Die Oppositionsarbeit ver- nen haben mit Ampel oder Großer Koalition kompliziert eine lagerübergreifende Strategie sowie Jamaika oder Schwarz-Grün alternative ebenso: Wie sollen eine unsoziale und klientel- Machtoptionen. Eine explizite Lager-Strategie orientierte FDP-Politik glaubwürdig angegrif- ist risikobehaftet – zumindest für SPD und Grü- fen und Angela Merkel als Kanzlerin der blo- ne. Sie kann innerhalb des Lagers Sanktionen ßen ‚Ankündigung‘ (Klimapolitik, Finanzmarkt- derjenigen Wähler heraufbeschwören, die ein regulierung etc.) oder als ‚soziales Feigenblatt‘ Bündnis mit der Linkspartei grundsätzlich ab- der Regierung etikettiert werden, wenn man lehnen (zurzeit befürwortet nur eine Minderheit zugleich den Wunsch nach einem Ampel- oder sozialdemokratischer und grüner Wähler Rot- Jamaika-Bündnis bzw. einer Großen Koalition Rot-Grün). Sie stellt aber zugleich Macht-Prä- hegt? Derartige Selbstblockierungen durch den mien in Aussicht, da der Abstand des linken Widerspruch von Machtperspektive und (op- Lagers gegenüber Schwarz-Gelb bei der Bun- positionellem) Rollenspiel erlitt die SPD schon destagswahl 2009 nur 2,7 Prozent betrug und in diesem Jahr. Insgesamt wird das mangelnde damit relativ ‚leicht‘ einholbar erscheint. Das Interesse des linken Spektrums an dieser Opti- Schwierigste einer Lager-Strategie wäre für die on auch den in den Medien beliebten Diskurs einerseits unabhängigen und konkurrierenden, über lagerübergreifende Strategien bremsen. anderseits im Lager gebundenen Akteure eine Vorerst bleibt eine lagerübergreifende Koaliti- richtig verstandene Arbeitsteilung. Die Sozial- on allenfalls eine mögliche Konstellation für demokratie müsste versuchen, ins bürgerliche einzelne Bundesländer. Lager abgewanderte Wähler zurück zu gewin- Die letzte Alternative ist die Strategie des nen, um dem eigenen Gesamtlager eine Mehr- Offenlassens und der Ambivalenz, die zumindest heitsperspektive zu verschaffen. Das bringt sie Attraktivität für die Parteien des linken Spek- zum einen in Schwierigkeiten, weil dann das trums mit mehr als einer Option entfaltet (SPD Pathos des Lagers zugleich artikuliert und de- und Grüne). Propagiert wird mit ihr die Eigen- mentiert werden muss. Es schafft darüber hin- ständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber den aus besondere Probleme, wenn eine Mitte-Ori- Lagerkollegen, die zu einer Profilschärfung der entierung von den sozialdemokratischen Strö- eigenen Partei führen soll. Die fehlende Macht- mungen als interne Machtverschiebung inter- perspektive macht diese Variante jedoch gleich- pretiert und durch die anderen Lagerparteien mit zeitig zu einer Strategie der Schwäche, weil dem Verratsvorwurf sozialdemokratischer Ide- kaum realistisch plausibel erklärt werden kann, ale gebrandmarkt wird. Eine notwendige, aber wie ein Regierungswechsel konkret herbeizu- nicht verstandene Arbeitsteilung führte dann führen ist – und vor allem wie er dann aussieht. auch im linken Lager zu Konflikten innerhalb Allerdings gibt es auch Prämien der Lagerver- des Lagers und in der größeren Lagerpartei. meidung. Kassieren kann sie eher eine kleinere Eine lagerübergreifende Strategie erscheint Partei mit Mitte-Orientierung, heute also die für SPD und Grüne wenig attraktiv, weil sie Grünen (nicht aber die Linkspartei). Für die grö- angesichts des Faktums eines regierenden bür- ßere Mitte-Partei des linken Spektrums, die 16 Joachim Raschke/Ralf Tils

SPD, greift hingegen das Problem der fehlen- linken Lager, müsste sich der Mitte-Frage stel- den Machtoption. len. Hier greift erneut das Gesetz der Arbeitstei- Strategien der Offenheit verlagern Bündnis- lung. Die radikale Linke kann sich mit einer fragen – weg vom Bund – stärker zu den Län- Selbstverortung als ‚Linke‘ begnügen, die ge- dern. Tendenziell wird die Landespolitik dann mäßigte Linke (SPD und Grüne) muss von lin- zur Kommunalebene, auf der man das Verschie- ken Positionen aus den Diskurs um die politi- denste ausprobieren kann (wenngleich der Ein- sche Mitte führen. Für ein erfolgreiches linkes fluss auf den Bundesrat weiter zu berücksichti- Bündnis wäre beides notwendig. gen ist). Was hier bündnispolitisch geht (und was nicht), wird nicht primär ideologisch, son- 4 Arme Wähler dern pragmatisch entschieden. Die Autonomie der Landespolitik nimmt zu. Bundespolitische Wer soll das alles verstehen? Und die Wirklich- Optionen ergeben sich dann auch im Lichte lan- keit ist noch komplizierter. Alle drei Parteien despolitischer Erfahrungen. Was sich im Land des linken Spektrums sind in sich gespalten über bewährt, hat größere Chancen, im Bund über- die Koalitions- und Lagerfrage. Bei der SPD nommen zu werden. zum Beispiel gibt es prinzipielle Anhänger ei- ner Großen Koalition oder Ampelkoalition ebenso wie prinzipielle Verfechter eines Links- 3 Trotz Lager: Mitte wird nicht bündnisses. Wähler müssen also auch noch ab- obsolet schätzen, wie stark der jeweilige Einfluss der Im Links-Rechts-Spektrum, in dem sich die parteiinternen Strömungen, wie verbindlich eine Wähler unverändert einordnen und orientieren, Koalitionsansage der Parteiführung vor der gibt es auch Werte in der Mitte der Skala, sogar Wahl ist. besonders viele. Das ist aber nicht ‚die Mitte‘, Das überschreitet Grenzen rationaler Kal- über die in der Politik geredet wird. Dort ist kulierbarkeit aller Akteure. Und dennoch wol- ‚Mitte‘ ein Kampf- und Diskursbegriff, mit dem len die meisten Wähler keine Lotterie. Heuche- man Vorteile erzielen will. lei, Wählertäuschung, Wortverdrehung werden Die bürgerlichen Parteien in Deutschland den Übergang zu neuer Übersichtlichkeit ebenso identifizieren sich mit der ‚Mitte‘, egal wie rechts begleiten wie versuchte Ehrlichkeit, Offenheit ihre Politik im Einzelnen einzustufen ist. Die und Selbstbegrenzung. Auch die Wähler müs- ‚Rechte‘ ist nach dem NS-Regime kein legiti- sen andere Formen von Flexibilität und Ver- mer Ort mehr. Für eine gemäßigte, Mehrheit bindlichkeit lernen. Am Ende werden vorweg- suchende ‚Linke‘ entsteht daraus das Problem, genommene programmatische Klarheit und auf- dass sie Überschneidungen mit Wählern im rechterhaltene Glaubwürdigkeit einen größeren mittleren Meinungsfeld aufrechterhalten, ihre Stellenwert gewinnen. Anders lässt sich mit den Selbstdefinition aber über Links finden muss. unvermeidbaren Tatsachen von Fünfparteien- Orientierung an Links, Öffnung zur Mitte – die- system und Lagern nicht leben. se dialektische Bewegung heißt ‚linke Mitte‘. Eine Linke, die nicht auch um die Mitte kämpft, Prof. Dr. Joachim Raschke ist Parteien- und in den Diskurs darüber nicht eintritt, hat keine Strategieforscher und lehrte Politische Wissen- Mehrheitschance. Eine Partei der Linken, die sich schaft an der Universität Hamburg. über die Mitte definiert, hat schon verloren. Dr. Ralf Tils ist wissenschaftlicher Mitar- Eine Koalition der Parteien des linken Spek- beiter am Zentrum für Demokratieforschung der trums, aber auch deren Verdichtung zu einem Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 17

Herbert Hönigsberger/Andreas Kolbe/Sven Osterberg

Lager denken Nicht links, nicht rechts – sondern demokratisch

Die Bundestagswahl 2009 haben nicht die Pro- halten können. Von diesem Symbolthema geht bleme und die besseren Vorschläge zu ihrer Be- zudem noch etwas ganz anderes und weitaus wältigung, sondern die Bindung großer Wäh- mehr aus als nur die Andeutung, die Wähler lergruppen an ein politisches Lager und dessen könnten mit einigen 100 Euro mehr in der Ta- höhere Attraktivität für die Wähler mit schwä- sche rechnen. Große Wirkung erzielt die glaub- cherer Parteibindung entschieden. Das ‚bürger- hafte Versicherung, im Zweifelsfalle rangierten liche‘ Lager hat gewonnen, weil es ein politi- die Interessen Steuern zahlender Wirtschafts- sches Lager ist. Seine politischen Zentren ha- subjekte höher als die der Gesellschaft, gehe ben mit der Steuerfrage das integrierende Sig- Individuum vor Staat. Mit dem Steuersenkungs- nal-, Schlüssel- und Symbolthema platziert, das thema wird ein ganzer ideologischer Kosmos sich als geeigneter Nukleus für die politische gesellschaftlicher Zusammenhänge und Bezie- Lagerbildung erwies. Die ‚linken‘ Parteien da- hungen aufgespannt. Dass wirtschaftliche Er- gegen hatten im Wahlkampf allenfalls mäßigen träge Resultat individueller Anstrengungen und Erfolg, dem bürgerlichen Lager das Recht zur individuelle Einkünfte Ergebnis persönlicher ausschließenden Nutzung des Labels ‚bürger- Leistungsfähigkeit sind, ist Teil der notorischen lich‘ abzusprechen. Und überhaupt nicht gelun- Selbstüberschätzung und Fehldeutung sich in- gen ist ihnen zu dementieren, dass es sich um dividualisiert wähnender Individuen. Sie popu- ein Lager handelt. Gewonnen hat ein gefestig- listisch zu bedienen ist die ‚große‘ Leistung von tes politisches Lager, das weiß, dass es regieren Union und FDP. Das Steuersenkungsthema ap- will, gegen disparate politische Strömungen pelliert an die niederen Instinkte, die die kapita- ohne Regierungsprojekt. Gewonnen hat eine listische Erwerbsgesellschaft produziert. Es ist Union, die zur Lagerbildung fähig und gewillt Populismus für die besseren Kreise. Dieser Steu- war, gegen eine SPD, die das nicht war. Ge- erpopulismus dockt an die verbreitete pseudo- wonnen haben diejenigen, die einen Begriff von anarchoide Staatsaversion der gehobenen Ge- Macht- und Herrschaftssicherung haben. sellschaftsschichten an und forciert dort allerlei asoziale und klassenkämpferische Attitüden. Eine Entgegensetzung von Individuum und 1 Mechanismen der Lagerbildung Staat, wie sie im Steuerthema mitschwingt, Anhand der Karriere des Steuerthemas lassen mobilisiert in Deutschland allerdings nicht nur sich die Mechanismen der politischen Lagerbil- das nackte ökonomische Interesse, sondern auch dung entschlüsseln. Das Leitmotiv Steuern sen- eine wohlbegründete Staatsskepsis. Deutsch- ken muss weder vernünftig sein, noch muss die land hat im 20. Jahrhundert zwei Staatsgebilde Wahrscheinlichkeit hoch sein, dass es überhaupt hervorgebracht, die – wenn auch mit substanti- realisiert werden kann. Seine Urheber müssen ellen Unterschieden – sich das Recht auf die nur glaubhaft versichern können, dass sie die absolute Unterwerfung des Individuums unter Parteien der Steuersenkung sind. Das Publi- Staatszwecke angemaßt haben, weswegen libe- kum muss nur die Überzeugung gewinnen, dass rale Impulse geradezu zwingend zur Grundaus- sie ihr Versprechen halten werden, wenn sie es stattung eines post-faschistischen und post-re- 18 Herbert Hönigsberger/Andreas Kolbe/Sven Osterberg

alsozialistischen, genuin bundesdeutschen Nati- nicht nur die unerschütterliche Vorstellung, Uni- onalcharakters gehören. Doch schwingt im anti- on und FDP seien unter allen Umständen ihre bürokratischen Cantus firmus der zeitgenössi- verlässlichen Interessenvertreter. Das konser- schen liberalen Steuersenker jede Menge Demo- vativ-liberale Parteienbündnis gilt auch als die kratieaversion und Marktutopie mit. Zuletzt kippt berufene Regierung der Bundesrepublik. Das der Unwille zur Steuerleistung für die demokra- strukturelle Gewinnerpotential der Konservati- tische Republik ins Antidemokratische. Gegen ven und der Liberalen resultiert daraus, dass sie all das helfen keine Rechnungen, wie sie die SPD sich der Zähigkeit ökonomischer Interessen, des im Wahlkampf aufzumachen versucht hat. massiven Willens bestimmter sozialer Milieus Sinn des Steuerthemas war, die Bande zwi- zur Exklusivität und des Selbstbehauptungswil- schen Wählern, die sich primär ökonomisch lens der Inhaber gesellschaftlicher Schlüssel- definieren – dem gebeutelten Mittelstand, Selb- positionen sicher sein können. Dieses Lager will, ständigen und Global Playern, den Profiteuren dass Union und FDP regieren – egal was ist. Es der Krise und ihren unbelehrbaren Opfern, nebst gewährt diesen Parteien einen fast grenzenlo- dem ganzen wissenschaftlichen und medialen sen Vertrauensvorschuss und attestiert ihnen Tross – und den Parteien des ‚bürgerlichen‘ blanko höhere sachlich-fachliche Kompetenz. Lagers zu festigen. In diesen Milieus grassiert Ihre Politik gilt von vornherein als richtig, weil Lager denken 19

sie von diesen Parteien kommt. Es muss schon Konkurrenz. Und sie muss – das Schwierigste viel passieren, dass diese festen Bande gelo- überhaupt – Diskurse zwischen den Oppositi- ckert werden. Nach 16 Jahren Kohl war dieser onsparteien in Gang setzen. Punkt erreicht. Wenn aber die Probleme so un- überschaubar werden wie in der Finanz- und 3 Progressives Lager – Wirtschaftskrise, wenn ökonomische Interes- demokratisches Lager sen und sozialer Status gefährdet sind, dann zählt die Geschlossenheit des Lagers wieder Jetzt streiten drei Oppositionsparteien um die umso mehr. Führung im Lager diesseits der Union. An sich käme diese Rolle der SPD zu, doch muss sie ihren Führungsanspruch erst wieder neu legiti- 2 Dafür oder dagegen mieren. Das Fünf- respektive Sechs-Parteien- Müssen die drei Oppositionsparteien im Bun- System erfordert zur Lagerbildung ein Partei- destag nun den Ball aufnehmen, den ihnen das enbündnis. Und für eine Lagerbildung, die auf ‚bürgerliche‘ Lager ins Feld gedroschen hat? nachhaltige Veränderungen mittels Regieren Müssen sie sich also als ‚linkes Lager‘ fin- abzielt, ist ein dauerhaftes Parteienbündnis als den? Ja und nein! Lagerbildung, die Formie- Zentrum nötig, das mehr ist als eine bloße Ab- rung eines Gegenpols zum ‚bürgerlichen‘ La- lösungskoalition. Ob die drei Oppositionspar- ger ist das Gebot der Stunde. Letztlich organi- teien dazu in der Lage sind, ist völlig offen. Die sieren sich alle politischen und anderen Kon- grundlegenden normativen Orientierungen und troversen bipolar: Mehrheit oder Minderheit, politischen Mentalitäten der drei Oppositions- Regierung oder Opposition, für oder gegen parteien weisen allerdings untereinander mehr Atomkraft, für oder gegen Mindestlohn, für Gemeinsamkeit auf als mit der Union. Ihre je- Steuerfinanzierung öffentlicher Güter oder da- weiligen Deutungen der fundamentalen bürger- gegen, Raucher oder Nichtraucher, Schalke lichen Wertetriade von Freiheit, Gleichheit und oder Dortmund. Je fragmentierter und indivi- Brüderlichkeit verbinden sie untereinander mehr dualisierter Gesellschaften sind, desto mehr als mit den Konservativen. Und sie sind allesamt verlangen sie nach der Reintegration durch kapitalismusskeptischer als die kapitalismuseu- sozio-politische Lagerbildung. Minderheiten- phorische Konkurrenz. In Sache und Substanz interessen haben nur Aussicht auf Erfolg als reicht es – politischen Willen vorausgesetzt – Teil einer überwölbenden Programmatik. Die jederzeit zur Lagerbildung und zum Parteien- Fragmentierung der Gegenkräfte hat den Sieg bündnis. des ‚bürgerlichen‘ Lagers begünstigt. Doch fällt auf die Regierungsperspektive ein Die Leitpartei einer Gegenformation zum Schatten. Ein Bündnis der drei Oppositionspar- ‚bürgerlichen‘ Lager steht vor einer Herkules- teien schließt die ökonomischen Eliten im We- arbeit. Sie muss nicht nur zahlreiche bipolare sentlichen vom Regieren aus. Das schafft in Kontroversen zu einem Programm bündeln. Sie Gesellschaftsformationen, die von der Ökono- muss auch das integrierende Signal-, Symbol- mie so abhängen wie die bürgerliche Gesell- und Schlüsselthema identifizieren, hinter dem schaft von der kapitalistischen Produktionswei- sich ein mehrheitsfähiges politisches Lager ver- se, Probleme. Die alten Volksfronten sind eine sammeln kann. Sie muss nach den Usancen je- Warnung. Als Bündnis von Kapital und Arbeit ner sozialen Milieus, die die Gegenformation – so die Selbststilisierung – hatte die soziallibe- zum ‚bürgerlichen‘ Lager tragen, erheblich hö- rale Koalition von SPD und FDP eine spezifi- heren konzeptionellen Aufwand treiben als die sche Stärke gegenüber Rot-Grün. Eine grüne 20 Herbert Hönigsberger/Andreas Kolbe/Sven Osterberg

sozial-liberale Koalition – also von SPD, FDP Bezugspunkte mehr für Identifikation. Das pro- und Grünen – hätte diese Stärke erst recht, gressive Lager immerhin fasst die Erben der zumindest in der Theorie. Sie könnte das refor- französischen Revolution zusammen und stellt matorische Erbe der sozial-liberalen Koalition sie den konservativen Nachfahren des ancien und von Rot-Grün in einer Reformkoalition regime gegenüber. Es zieht die Lagergrenzen bündeln, die sich wirklich ‚groß‘ nennen dürf- anders als ‚bürgerlich‘ und ‚links‘ und erlaubt te. Dieses Bündnis könnte seine Bindekräfte auch einer Partei wie der FDP, sich einzuord- zudem aus den gemeinsamen Bezügen zur fran- nen. Wer die Unterscheidung progressiv und zösischen Wertetriade ziehen. Doch fühlt sich konservativ für zu substanzlos hält, mag es mit die reale existierende liberale Partei einstweilen dem Lager der Demokratie oder dem demo- an der Seite der Konservativen besser aufgeho- kratischen Lager versuchen. Die Formel greift ben. Das muss aber nicht so bleiben. Denn die eine wesentliche Differenz zwischen konserva- Grenzen zwischen den politischen Lagern sind tiv und progressiv auf, nämlich die zwischen verschiebbar. Wo sie verlaufen, hängt von den einer formalistisch entleerten und einer partizi- Fähigkeiten der jeweiligen Leitparteien zur He- patorisch aufgewerteten Demokratie. Und dem gemonie in zentralen Diskursen ab. ‚bürgerlichen‘ Lager das demokratische Lager Nach Lage der Dinge entscheidet über die gegenüberzustellen, hat einen gewissen Reiz. Perspektiven der politischen Lager in den nächs- Denn diese Konfrontation macht dem ‚bürger- ten Jahren, wer die Definitionshoheit über die lichen‘ Lager die demokratische Dimension auf Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit und dieselbe Weise streitig, wie Union und FDP den Diskurs darüber gewinnt, was ‚soziale den Oppositionsparteien das Bürgerliche. Aller- Marktwirtschaft‘ im Gegensatz zum Kapitalis- dings – und darin besteht der für Diskurse we- mus ist. An der Fähigkeit der oppositionellen sentliche Unterschied – mit weitaus mehr Recht Leitpartei zu einem neuen Freiheits- und Markt- und Berechtigung. wirtschaftsdiskurs hängt, ob das ‚bürgerliche‘ Lager zusammenbleibt. Vorab ist nicht ohne Herbert Hönigsberger ist Sozialwissen- Bedeutung, ob die Oppositionsparteien die La- schaftler, Politikberater und Autor zahlreicher gerkonkurrenz mit einem adäquaten Etikett an- Artikel zu Politik und Politikberatung. treten. Selbst wenn rechts und links noch schlüs- Andreas Kolbe und Sven Osterberg sind sige Kategorien für die Unterscheidung politi- Diplom-Sozialwissenschaftler und zusammen scher Intentionen wären, liefern sie nur noch mit Herbert Hönigsberger in der Geschäftsfüh- die Label für Negativ-Kampagnen, aber keine rung der Nautilus Politikberatung Berlin tätig. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 21

Peter Lösche

Sozialmoralische Milieus und politische Lager

Parteienforschern und generell politischen So- gewesen, also politische Organisationen, die zum ziologen ist der 1965 veröffentlichte Aufsatz Teil, wenn auch nicht vollständig, aus sozial- von Otto Kirchheimer „Der Wandel des west- moralischen Milieus hervorgegangen sind und europäischen Parteiensystems“ bestens bekannt, in diesen noch verankert waren. Entgegen der in dem damals aktuelle Entwicklungen der Par- Annahme Kirchheimers sind Teile der Mitglie- teien und des Parteiensystems insbesondere in der, vor allem der Parteiaktivisten und Funktio- der Bundesrepublik skizziert wurden. Dort heißt näre, aber auch der Wähler geistig und werte- es u.a.: Die bürgerliche Partei alten Stils werde mäßig in die Partei eingebunden gewesen. Wo- jetzt zur Ausnahme, sie bestimme nicht mehr her sonst wäre die Bindekraft gekommen, de- den Charakter des Parteiensystems. „Zugleich ren Nachlassen in den 1980er Jahren und erst formt sich die Massenintegrationspartei, die in Recht heutzutage so beklagt wird? Da ist aktu- einer Zeit schärferer Klassenunterschiede und ell von fast anarchischer Volatilität die Rede. deutlich erkennbarer Konfessionsstrukturen Wie sonst wäre die Unterscheidung zwischen entstanden war, zu einer Allerweltspartei (catch- Stammwählern und aktuell in einer Wahl ge- all party), zu einer echten Volkspartei, um. Sie wonnenen Wählern sinnvoll gewesen? Gehörte gibt die Versuche auf, sich die Massen geistig es nicht gerade zum Spezifischen einer Volks- und moralisch einzugliedern, und lenkt ihr Au- partei, die historisch aus der Massenintegrati- genmerk in stärkerem Maße auf die Wähler- onspartei hervorgegangen war, dass sie über ein schaft; sie opfert also eine tiefere ideologische Fundament an Stammwählern verfügte, das bei Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung etwa 20 Prozent der Wähler lag und das durch und einen rascheren Wahlerfolg.“ (Kirchheimer das sozialmoralische Milieu in die Partei einge- 1965: 352). bunden war? Erst von dieser Milieu-Basis aus Ich will im Folgenden nach fast einem hal- vermochte der Spagat in die (neue) Mitte gewagt ben Jahrhundert und nach den Wandlungen, die zu werden, um insgesamt 35 Prozent oder mehr wir inzwischen am bundesrepublikanischen der Stimmen zu erreichen. Parteiensystem beobachten konnten, Otto Kirch- Dieser Sockel an Stammwählern gab nicht heimer in einem Punkt widersprechen, der nur Selbstvertrauen, sondern ermöglichte es wiederum für unsere Fragestellung nach der auch, Bündnisse, profaner ausgedrückt: Koali- möglichen Formierung von Lagern und Bünd- tionen auf längere Zeit zu schließen – etwa im nissen relevant ist. Jenem Diktum nämlich, die Preußen der Weimarer Republik zwischen Zen- Volksparteien würden die Massen nicht mehr trum und Sozialdemokratie oder 1969 bis 1982 versuchen, geistig und ideologisch einzubinden. zwischen SPD und FDP. Volksparteien waren Im historischen Rückblick auf die deutschen also (noch) keine Allerweltsparteien, keine catch- Volksparteien CDU/CSU und SPD in den all parties, denn sie sind – wenigstens partiell – 1960er und 1970er Jahren, also auf deren Blü- tief in der Gesellschaft verankert gewesen und tezeit, trifft, so meine ich, die These Kirchhei- sie banden ein Segment der Wähler geistig, ide- mers nicht zu. Vielmehr sind Volksparteien in ologisch und intellektuell an sich. Beide sozial- dieser Zeit nach wie vor u.a. Milieu-Parteien moralischen Milieus in der Bundesrepublik, das 22 Peter Lösche

katholische wie das sozialdemokratisch-solidar- wissensbasierte Produktion, Expansion des gemeinschaftliche, sind durch eine feste soziale Dienstleistungsbereichs, Flexibilisierung der Ar- Basis gekennzeichnet gewesen, nämlich Kon- beitsverhältnisse und erhöhte Mobilität der Ar- fession bzw. gewerkschaftlich organisierte Fach- beitnehmer sind wesentliche Gründe. Der Nie- arbeiter. Ein damals noch in Relikten vorhande- dergang der Volksparteien, nicht zuletzt bedingt nes Organisationsnetzwerk verband die Partei durch Erosion der Milieus, hat also gesellschaft- mit Freizeitorganisationen, Berufsverbänden, liche und wirtschaftliche, mithin strukturelle Konsumgenossenschaften und anderen Einrich- Ursachen, und ist nicht einfach auf Parteiversa- tungen im Vorfeld bzw. Umfeld. Und geistig gen zurückzuführen. Und die Niedergangsgrün- existierte so etwas wie eine Vorstellung davon, de können nicht dadurch aufgehoben werden, wie der gesellschaftliche Status quo abgelöst dass Werbekampagnen vom Zaum gebrochen, werden könne durch eine künftige Gesellschaft, Schnuppermitgliedschaften eingeführt oder in der soziale Gerechtigkeit, Fairness und Soli- Netzwerkparteien ausgerufen werden. Mit dem darität an Bedeutung gewann. Verkoppelung mit Wegbrechen der sozialmoralischen Milieus hat einem Milieu hieß für die Volksparteien Ver- die Volatilität unter den Wählern überhaupt erst wurzelung in (einem Segment) der Gesellschaft. richtig begonnen, ein ganz entscheidender Ein- Die sozialmoralischen Milieus, die die Volks- schnitt in der Nachkriegsgeschichte der Partei- parteien einst mitgetragen haben, sind bekannt- en. Die Parteien sind sich heute ihrer Wähler lich aus unterschiedlichen Gründen erodiert. Das nicht mehr sicher, schon gar nicht im aktuellen katholisch-christliche Fundament, auf dem CDU Fünf-Parteien-System. und CSU einst selbstsicher standen und Bünd- Neue sozialmoralische Milieus haben sich um nisse zu schließen vermochten, ist durch die die kleinen Parteien herum nicht entfaltet, auch Säkularisation zerbröselt. Und das alte solidar- wenn man das Gegenteil zuweilen den politi- gemeinschaftliche Milieu wurde gleichsam weg- schen Feuilletons entnehmen kann. Bei den Grü- modernisiert. Veränderungen in der Arbeitswelt, nen sind die Traditionen der drei sozialen Bewe- Sozialmoralische Milieus und politische Lager 23

gungen, aus denen sie ursprünglich kommen wonnen wurde. Für mich stellt sich mithin die (Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umwelt- Frage, ob es im Zeitalter des Fünf-Parteien-Sys- bewegung) kulturell, organisatorisch und an ei- tems und der allgemeinen Volatilität und Unü- nem gewissen Grad der Vernetzung in bestimm- bersichtlichkeit überhaupt noch sinnvoll ist, mit ten Nachbarschaften durchaus zu spüren. Und solchen Begriffen wie ‚Bündnis‘ und ‚Lager‘ bei der Linkspartei sind die Milieuansätze in den zu operieren. Zu fragen wäre, ob es reicht, ‚La- neuen Bundesländern am ehesten entwickelt, nicht ger‘ irgendwo zwischen Milieu und Koalition zuletzt aufgrund ihrer Verankerung durch ehe- zu verorten und ansonsten mit Hilfe von Indi- malige DDR-Massenorganisationen wie Volks- katoren zu arbeiten, die nur das Wahlverhalten solidarität, Kulturbund und Frauenbund in den beschreiben. Drängen sich nicht weitere Krite- Nachbarschaften. Allerdings: Ein Milieu, das mit rien auf, die – noch in Anlehnung an den Mili- dem katholischen oder solidargemeinschaftlich- eubegriff – kulturelle Faktoren, vor allem aber sozialdemokratischem vergleichbar wäre und soziale und ökonomische Interessenlagen in den entsprechend Bindekraft, geistige und moralische Blick nehmen? Genau dies scheint mir die – Einbindung einer Partei gegenüber einem festen wenn man so will: umgangssprachliche – Ge- Wählersegment hergestellt hätte, hat sich weder fahr des Lagerbegriffs zu sein. Eine weitere bei den Grünen noch den Linken eingestellt. Gefahr ist, Kategorien wie ‚Lager‘ und ‚Bünd- Warum die Betonung und Diskussion sozi- nis‘ normativ so aufzuladen, dass sie politische almoralischer Milieus in diesem Beitrag? Wenn Illusionen transportieren und zu politischen von ‚Lagern‘ die Rede ist, knüpfen wir dann Kampfbegriffen werden. Anders formuliert: Der nicht mehr oder minder bewusst an den Begriff Lagerbegriff ist – im Zusammenhang mit dem der alten sozialmoralischen Milieus an, trauern des ‚Bündnis‘ – noch zu dicht an den des Mili- ihnen gleichsam nach, wollen nicht wahrhaben, eus gekoppelt, negiert den Zerfall der Milieus, dass sie und die Volksparteien an ihr Ende ge- schafft eine Art Ersatzbegriff und verkennt da- kommen sind? Die beiden Begriffe ‚Bündnis‘ mit den eigentlich prekären Zustand des deut- und ‚Lager‘, die mit im Mittelpunkt des Strate- schen Parteiensystems. Oder um eine der Fra- gie-Workshops standen, signalisieren Kontinu- gestellungen des Strategie-Workshops explizit ität und Stabilität, das Gegenteil von Volatilität. aufzunehmen: Künftige Bündnisse werden nicht Meine These ist nun, dass Lager sich – wenigs- durch die Logik der Lager bestimmt, da diese tens in der deutschen Geschichte – nicht zuletzt gesellschaftlich und parteipolitisch überhaupt durch gesellschaftlich verwurzelte sozialmora- nicht mehr markant sind. lische Milieu und deren Verbindung zu politi- schen Parteien konstituiert haben. Durch den Peter Lösche ist Politikwissenschaftler und Wegbruch der Milieus sind auch die Lagergren- Experte für Parteienforschung und hatte bis zu zen porös geworden, schließlich verschwinden seiner Emeritierung eine Professur am Seminar diese ganz. Und ‚Bündnis‘ meint offenkundig für Politikwissenschaft an der Universität Göt- keine zufällig einmalige Kooperation, sondern tingen inne. Zusammenarbeit aufgrund gemeinsamer Inter- essen und Ziele über einen längeren Zeitraum. Literatur Das nötige Selbstvertrauen für eine derartige Kooperation konnte, so meine These, aus der Kirchheimer, Otto (1969): Der Wandel des Sicherheit geschöpft werden, die sozialmorali- westdeutschen Parteiensystems. In: Ziebura, sche Milieus versprachen, nicht zuletzt aus dem Gilbert (Hg.): Beiträge zur allgemeinen Partei- Vertrauen, das aus der Stammwählerschaft ge- enlehre, 341-374. 24 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Richard Meng

Machttechnik reicht nicht Koalitionsoptionen der Zukunft und der Anspruch der Politik

Auf den ersten Blick sieht es schön trennscharf die SPD muss ihre Bereitschaft und Fähigkeit aus. Schwarz-Gelb hier – Rot-Rot-Grün da. Eine erst noch beweisen, neu die Führungsrolle links ‚bürgerliche‘ Mehrheit und eine ‚linke‘ Oppo- von Schwarz-Gelb zu übernehmen. Im Osten sition, beide fast gleichauf: Das suggeriert, Po- macht ihr das die Linkspartei streitig, in den litik ließe sich endlich wieder in zwei klaren westdeutschen Großstadtmilieus sind es die Alternativen denken. Und als würde die Logik Grünen. Nach all den Wahlniederlagen kann sie der Macht schon dafür sorgen, dass die politi- sich jetzt nur gegen Schwarz-Gelb aufstellen, schen Debatten damit wieder spannend wer- muss dann aber neu definieren, was das positiv den. Weil knappe Regierungsmehrheiten sich gewendet heißen kann. selten lange auf die Sympathie ursprünglicher Schon auf dieser herkömmlichen Ebene par- knapper Bevölkerungsmehrheiten verlassen teipolitischer Bündnis- und Strategiefragen können. Aber Vorsicht: Das ist eine viel zu ein- reicht also Machttechnik nicht, um die Konse- fache Sichtweise. Schon der Oberflächenblick quenzen aus der Bundestagswahl 2009 zu zie- zeigt das. hen. Wer mit wem bis 2013 welche Bündnisse Auf der Regierungsseite erweist sich wie wie erfolgreich eingehen kann, ist erst die dritte schon 1998, dass eine demoskopisch lange vor- Frage. Vor ihr stellt sich als Problem die innere hergesagte neue Mehrheit gleichwohl konzepti- programmatische Entwicklung der Parteien, onell unvorbereitet ans Ruder kommt, und sie speziell derer in der Opposition. Indes: Auch es zunächst eher mit Konfliktvermeidung ver- dies lässt sich nachhaltig erst beantworten, wenn sucht, durch Vertagen und viele Prüfaufträge. vorneweg einer drängenden Grundfrage der Jedenfalls nicht mit Gestaltung in einer Radika- Politik nicht länger ausgewichen wird: Was ist lität, die den eigenen Parteitagsprogrammen nahe überhaupt noch zu bewegen? Genauer: Was ist käme. Auf der Oppositionsseite ist, von der der eigene Anspruch angesichts der in Wahl- Kritik an der Regierung abgesehen, nicht nur kämpfen gerne verdrängten Ohnmacht des Po- die gemeinsame Strategie ungeklärt, auch in je- litischen? der der drei Oppositionsparteien selbst gibt es ungeklärte Strategiefragen. 1 Ohnmachtsverwaltung und Die Linkspartei ist noch lange nicht stabil Wirtschaftskrise realpolitisch ausgerichtet. Die Versuchung bleibt groß, den gewachsenen kommunalen Einfluss Die schrittweise Erweiterung des deutschen im Osten und die neue parlamentarische Exis- Parteiensystems – immer in Zeiten von Mitte- tenz im Westen durch wahltaktischen Verbalra- Links-Regierungen und zu deren Lasten – hat dikalismus auf Bundesebene zu sichern. Die stets mit enttäuschten Emotionen zu tun gehabt. Grünen öffnen sich emotional und konzeptio- Mit als zu klein empfundenen Fortschritten und nell rapide in Richtung bürgerliche Mitte und mangelnder Offenheit für neue Ängste. Mit Ohn- ihre nach wie vor tragende Generation der jetzt machtserlebnissen letztlich. Sowohl auf Regie- 50- bis 60-Jährigen will noch mal regieren. Also rungsseite als auch in der ehemaligen Wähler- werden sie sich nicht eindeutig festlegen. Und klientel. Seit Beginn des Abstiegs von Rot-Grün Machttechnik reicht nicht 25

dominiert Mitte-Links allemal dieses Ohn- einem angesichts internationaler Verflechtung, machtserlebnis. Nicht nur in Deutschland, dies- national-föderaler Regulierung und finanzieller mal in globaler Ausprägung, weshalb insbeson- Überdehnung bewegungsstarr gewordenen po- dere die Lage der SPD auch nicht nur ihr selbst litischen Apparat wenigstens noch die Illusion zuzuschreiben ist. normativer Kraft herauszukitzeln. Aber politi- Der Klimawandel, die weltweite Wirtschafts- sche Projekte, die den Namen verdienen? Gro- krise, die international erkennbare verstärkte ße politische Erzählungen, die positive Emotio- soziale Spaltung der Gesellschaften auch in den nen wecken könnten? Reale Veränderung über Industrieländern: Was konnte und was kann Nuancen hinaus? Politik dagegen bewegen, jenseits gut gemein- ter Rhetorik und feierlich inszenierter Absichts- 2 Der Anspruch der Politik erklärungen? Linke Parteien, die aus Protest heraus aufsteigen wie einst die Grünen und spä- Es wäre schon wichtig, vor den machttechni- ter die Linkspartei, neigen da zur offensiven schen Fragen nach einer Zäsur wie der vom 27. Verdrängung dieser Grenzen der Handlungsfä- September 2009 zunächst über den Anspruch higkeit – siehe: die internationale und speziell zu reden. Denn unabhängig davon, ob in Zu- europapolitische Programmatik der Linkspar- kunft nun zu Recht von einem ‚Lager‘ der rot- tei. rot-grünen Opposition gesprochen werden kann: Heruntergebrochen auf die nationalen Ebe- Die Alternative zur Regierungspolitik wird sie nen bedeutet das seit 2009 zudem: Der Versuch schon verkörpern müssen. Hoffentlich eine re- einer Abdämpfung der Wirtschaftskrise hat noch alistische Alternative. Eine, in der neue Ambiti- einmal derart viel Staatsgeld gekostet, dass die onen deutlich werden und die dennoch nicht öffentlichen Haushalte weitgehend bewegungs- sofort wieder zu Frust und Verweigerung ani- unfähig gemacht sind. So viele Steuererhöhun- miert, falls die Opposition von heute eines Ta- gen – und so viel Wachstum – sind gar nicht ges selbst regieren kann. Denkt man also denkbar, als dass damit die Schuldenberge ab- zunächst an die Inhalte, dann gibt es drei An- getragen und zugleich mit sozialem Anspruch knüpfungspunkte. gestaltet werden könnte. Politik als Verwaltung Erstens: Interessen. Schon der schwarz-gel- in gefühlter bzw. tatsächlicher Handlungsohn- be Start im Herbst 2009 ließ erkennen, dass macht: Dafür will eigentlich niemand gewählt Union und FDP nicht gerade vorbereitet waren werden. Gleichwohl ist Schwarz-Gelb, das mehr auf die Interessenkonflikte, die Regierungspo- nach dem Ausschlussprinzip zustande kam, jetzt litik in Zeiten der Überschuldung nach sich zieht. für diese Ohnmachtsverwaltung zuständig – Die moderierende Machtstrategie der Kanzlerin schnelle mediale Wuttsunamis jederzeit mög- wird darüber an ihr Ende kommen, eher früher lich. als später. Nach der großkoalitionären Über- Die öffentliche Debatte weicht diesem gangszeit, in der keiner der Regierungspartner Grundproblem weiter aus, das längst zur größ- an einer Offenlegung großer gesellschaftlicher ten Herausforderung der parlamentarischen Bruchlinien interessiert war, kann damit wieder Demokratie geworden ist. Es wird publizistisch- deutlicher über die realen Gegensätze gestritten populistisch so getan, als ginge es in der Politik werden. Über Einkommensverteilung, Migrati- immer nur um die optimale Idee im Interesse ons- und Integrationsproblematik, Aufstiegs- des jeweiligen Publikums – und ihre Durchset- und Abstiegsfragen. zung, sofort, jetzt und heute. Stattdessen geht Zweitens: Individualismus. In der Welt der es de facto immer öfter nur noch darum, aus politischen Institutionen wird noch weit stärker 26 Richard Meng

in großen Systemen und kollektiven Lösungen sich normalerweise Lager ohnehin – weil die gedacht als in der realen Gesellschaft. In den Logik der Macht schon dafür sorgt. Das schließt jüngeren Generationen ist das klassische Ge- aber nicht aus, dass es den Grünen als verträg- meinwohldenken, verbunden mit einem hohen licher erscheint, eine inhaltlich immer undefi- Maß an Staatsvertrauen, eher wenig verbreitet. nierbarer werdende Union an der Macht zu hal- Der Aufschwung von FDP und Grünen, die ten, als ohne klares inhaltliches Fundament das dazu weder neue Programmatik noch neue Per- Abenteuer eines polarisierenden Linksbündnis- sonen brauchten, ist zu einem großen Teil ses zu suchen. Kein Zweifel: Der Kampf um darüber zu erklären. Der gestärkte Individualis- die Sympathie der Grünen hat schon begonnen. mus im Zentrum der Gesellschaft geht in- Und es muss für deren Selbstklärung nicht un- zwischen oft sogar einher mit Abschätzigkeit bedingt anregend sein, derart heftig umworben gegenüber den alten, kollektiven Systemen. Aber zu werden. er ist zugleich bürgerschaftliche Stärke, bildet Bei den Landtagswahlen in der ersten Hälfte eine stabile Basis für eine freiheitliche und dabei der bundespolitischen Legislaturperiode wird nicht zwingend unsolidarische Gesellschaft. es zunächst darum gehen, welche Projektionen Drittens: Lebensgefühl. Was wird das nächs- das Wahlvolk zulässt. Hinsichtlich der Stärke te progressive Generationenprojekt sein – nach der Linkspartei im Westen, wenn die SPD nicht der schwarz-gelben Zeit? Modernität wird neu mehr in der Bundesregierung sitzt. Hinsichtlich zu definieren sein, wie nach jeder Epoche. Die der Stabilität des Grünen-Potenzials unter regi- Zeiten, in denen Rot-Grün im Westen und im onal schwarz-grünen Verhältnissen. Und hin- Bund stets die mehrheitsfähige Alternative zum sichtlich der konzeptionellen und personellen Konservativismus war, sind wegen der Erosi- Führungsfähigkeit der SPD – was in einem onsprozesse der SPD zunächst vorbei. Und der kulturellen Sinn die Mehrheits- und Vertrau- Weg der Grünen geht in der nächsten Genera- ensfähigkeit einer von ihr geführten politischen tion inzwischen so eindeutig – insbesondere: Konstellation erfordert. Wie wenig belastbar politisch-kulturell – in Richtung Etabliertheit, numerische rot-rot-grüne Zufallsmehrheiten dass in Zukunft ihre emotionale Distanz gegen- sind, hat sich in einigen Ländern erwiesen. über den Jüngeren bei Union und FDP allemal Das alles braucht Zeit. Zeit für politische nicht automatisch größer ist als gegenüber den Prozesse innerhalb der Parteien ist zwar etwas, Kadern der Linkspartei oder den abgehängten das in der demoskopiefixierten Mediengesell- Milieus. schaft öffentlich nirgendwo eingeräumt wird. Aber letztlich finden diese Prozesse unterhalb der Ebene tagesaktueller Aufgeregtheit dann ja 3 Koalitionsoptionen der Zukunft doch statt – oder sie werden verweigert, auch In solchen Fragen ist Strategiefähigkeit noch das ist dann aber eine Entwicklung. Beides kann weit entfernt, bei der Regierung wie bei der und wird weit reichende Folgen haben. Für das Opposition. Deshalb spricht vieles dafür, auf Parteiensystem, aber auch für das Zutrauen in die Umbrüche der Bundestagswahl 2009 nicht die Politik schlechthin. allein mit alten analytischen Reflexen zu reagie- ren, zu denen auch die Lagertheorien aller Art Dr. Richard Meng ist Staatssekretär und gehören. Wenn Wahlen näher rücken, ergeben Sprecher des Berliner Senats. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 27

Karl-Rudolf Korte

Wie bilden sich zukünftig Koalitionen? Antworten aus der politikwissenschaftlichen Theorie

Der zurückliegende Bundestagswahlkampf hatte scheidbarkeit der Angebote. Auch für Wahl- als zentrales übergreifendes Thema die Koaliti- kämpfer ist es einfacher, entlang eines Lagers onsfrage (vgl. Korte 2009; Korte 2010). Seit polarisierend zu mobilisieren. Doch die erwart- 2005 existiert bereits ein asymmetrisches, chan- bare machttaktische Koalitions-Lotterie, bei der gierendes Fünfparteiensystem mit neuer Quali- alles nach Schließung der Wahllokale politisch tät und mit weitreichenden Konsequenzen so- möglich sein wird, was arithmetisch zwingend wohl für die Regierungsbildung im Bund, als ist, verflüssigt die Lager-Sehnsucht. auch in den westdeutschen Ländern (vgl. Nie- Die Auszehrung und Selbstverzwergung dermayer 2007). Jenseits der Großen Koalition der Volksparteien durch ein Regieren in Gro- sind entlang der tradierten parteipolitischen La- ßen Koalitionen und einem wachsenden Koa- ger keine Bündnisse mehr kalkulierbar mehr- litionsmarkt (vgl. Korte 2008) machen für die heitsfähig. Vielparteien-Parlamente können zwar Bürger die Entscheidung an der Wahlurne zum noch zu Zweierkoalitionen führen, aber weni- Vabanquespiel. Der Stimmzettel wird zum Lot- ger verlässlich als zu früheren Zeiten. So- terieschein. Die Wähler wählten im September genannte Lager- oder Traditionskoalitionen 2009 erstmals im Bewusstsein dieses Koaliti- werden durch neue Varianten zur Regierungs- onsmarktes – und im Bewusstsein der bun- bildung ersetzt: neue lagerübergreifende Zu- desweit vermittelten Erfahrungen um Mehr- sammensetzungen (z.B. schwarz-grün), neue heiten in Hessen. Insofern ringen die Parteien Regierungs- bzw. Koalitionstypen (z.B. Große – wesentlich differenzierter als bisher – um Koalitionen, Dreier-Bündnisse), neue Regie- Koalitionsaussagen, die ihnen wiederum Spiel- rungsformate (z.B. Minderheitsregierungen) raum für Regierungsbildungen lassen. Wenn (vgl. Decker 2009). allerdings für den Wähler nicht klar ist, was Wer nicht nur rechnerische, sondern belast- aus der abgegebenen Stimme folgt, sinkt die bare politische Mehrheiten sucht, muss sich zu- Motivation, wählen zu gehen. Insofern sind künftig auf dem Koalitionsmarkt tummeln. Der vor allem die kleineren und mittleren Parteien Parteienwettbewerb hat somit hinsichtlich der gut beraten, wenn sie zumindest signalisieren, Fragmentierung, Segmentierung und Polarisie- was sie an multiplen Koalitionsvarianten aus- rung vergleichbare europäische Dimensionen schließen. angenommen (vgl. Mielke/Eith 2008). Die Par- Die strukturierte Vielfalt am Wählermarkt, teiendemokratie ist seit 2005 in Deutschland im den wiederum ein komplexer Wählermarkt mit Hinblick auf Koalitionsformate bunter, vielge- neuen Formeln zur Macht ergänzt, lässt bereits staltiger, entlagerter, mobiler und koalitionsof- lange vor der kommenden Bundestagswahl von fener geworden. Die Sprache der Spitzenakteu- 2013 Spekulationen über potenzielle Regie- re spiegelt das allerdings bislang nur rudimen- rungsbildungsprozesse zu. Aus den sozialwis- tär wider. In alter Rhetorik werden immer noch senschaftlichen Theorien lassen sich drei Strän- Lagerpolarisierungen beschworen. Wähler ha- ge herausarbeiten, die Kategorien und Kriterien ben eine erkennbare Sehnsucht nach Unter- einer möglichen Strategiebildung erlauben. 28 Karl-Rudolf Korte

1 Machtwechsel-Strategien die Quintessenz – gilt für die Opposition das Kalkül, durch eigene Attraktivität Mehrheitsfä- In der Regierungsforschung sind Mechanismen higkeit so herzustellen. Dies kann in der Regel herausgearbeitet, welche die Bedingungen für nur gelingen, wenn man sich auf einen Koaliti- Machterhalt und Machterosion, für Aufstieg und onskurs mit einer Partei des bestehenden Re- Fall von Regierungen offen legen (vgl. Korte/ gierungslagers vorbereitet. Fröhlich 2009). Sieht man sich die Zyklen des Regierens und die Typen des Machtwechsels 2 Lern-Strategien der Bundesregierung in den letzten 60 Jahren an, dann fällt auf, dass es sich in der Regel um Die lerntheoretischen Ansätze stellen nicht dosierte Machtwechsel handelte. Nur 1998 kam Macht und Interesse ins Zentrum, sondern es einmalig zu einem kompletten Machtwech- Deutungen und Ideen (vgl. Bandelow 2009; sel: dem Wechsel von zwei Oppositionspartei- Nullmeier 2003). Lernerfolge waren auch bei en (rot-grün) in die Bundesregierung. Ansonsten der zurückliegenden Bundestagswahl zu be- blieb in der Regel ein Koalitionspartner konti- obachten. Vielfältige Paradoxien begleiteten nuitätsverbürgend in der neuen Regierung er- die Wahl, scheinbare oder tatsächliche unauf- halten. Das gilt sowohl für Große Koalitionen lösbare Widersprüche, die mit dem Format als auch für klassische Traditionskoalitionen. der Großen Koalition zusammenhingen (vgl. Regierungswechsel kamen in Deutschland häu- Korte 2009; 2010). Wenn zum Beispiel das figer wählerunabhängig durch selbsterneuern- Hauptmotiv von Wählern häufig darin besteht, de Machtwechsel als durch Bundestagswahlen eine Regierung abzuwählen oder zumindest zustande. Insofern besteht angesichts dieser auf politische Macht neu zu verteilen, dann war Sicherheit, Stabilität und ‚no change‘ angeleg- dies in 2009 schwer realisierbar. Denn die ten politischen Kultur eine hohe Wahrschein- Große Koalition wollte gar nicht mehr antre- lichkeit, dass auch nach 2013 die Union oder ten und führte auch keinen Koalitionswahl- die FDP weiterhin mit zur Folge-Regierung kampf. Zahlreiche solcher Paradoxien hatten gehören wird. Strategisch besteht insofern die durchaus den Lerneffekt, dass viele Wähler Möglichkeit, wenn man die interessenorientier- diesmal zuhause blieben. Auch die Parteien ten Machtszenarien betrachtet, mehrheitsfähig haben durch den Koalitionsmarkt gelernt, sich zu werden durch Koalitionsbildung mit den angesichts von Koalitions-Lotterien vager Parteien der bestehenden Regierungsformation. auszudrücken. Eine Regierung, die nur durch Nach der Bundestagswahl 2009 sind einmal Wortbruch der Koalitionsaussage zustande mehr die sogenannten großen Volksparteien ge- gekommen wäre, galt als unwahrscheinlich. schwächt worden. Sie existieren derzeit nur Die Wähler lernten mithin, dass ihr Einfluss noch als Volkspartei-Ruinen. Mehrere mittel- auf die konkrete Regierungsbildung immer große Parteien konkurrieren heute auf dem geringer wird. Das gilt vor allem für die fast Wähler- und Koalitionsmarkt. Kleinere Partei- zeitgleich stattfindenden Landtagswahlen, die en können in der Regel die politischen Preise nach wochenlangen Verhandlungen zu über- für die Koalition bestimmen. Sie können sogar raschend bunten Koalitionen führten. Lern- starken Einfluss darauf nehmen, wer Regie- theoretisch besteht die Möglichkeit, dass po- rungschef wird. Es ist grundsätzlich auch nicht litische Präferenzen sich ändern und somit ausgeschlossen, dass zukünftig der kleinste Handlungsoptionen für aktive Veränderungen Koalitionspartner den Kanzler stellt. Machtstra- entstehen. Die Bedingung dafür lautet, dass tegisch – und das ist bei diesem Theorieansatz auch neue Deutungen und Ideen zur Verfü- Wie bilden sich zukünftig Koalitionen? 29

gung stehen. Komplexes Lernen setzt vor- 3 Verhandlungs-Strategien aus, dass entweder externe Ereignisse schock- artig die Veränderungen beschleunigen oder Die Verhandlungstheorien enthalten ein Set von aber, dass Policy Broker die neuen Deutun- Indikatoren, die für das Gelingen von Verhand- gen und Ideen kraftvoll strategisch einsetzen. lungen verantwortlich sind (vgl. Benz 2007; Solche Policy Broker können Grenzstellen- Grasselt/Korte 2007). Unter verhandlungsstra- Akteure zwischen verschiedenen Arenen oder tegischen Aspekten können die Instrumente und Machtmakler sein (vgl. Grunden 2009). Sie Techniken, Machtarrangements und Präferenz- sind die Begleiter des Wandels, sie kreieren systeme zum Erfolg führen. Ebenso wichtig ist neue Zielbilder, sie entwickeln übergeordne- jedoch der personale Faktor. Personen machen te neue Narrative. Ein ideenpolitischer Pers- auch unter verhandlungsstrategischen Gesichts- pektivwechsel kann unter diesen Bedingun- punkten einen Unterschied. Es ist dann weniger gen strategisch – und langfristig – zu einer die Logik von Lagern oder Problemen, die zu neuen Koalition führen. Welche übergeord- einer potenziellen Koalition führt, sondern das neten Ziele in welcher neuen Wortpolitik könn- personale Arrangement der Spitzenakteure. ten das sein? Meines Erachtens würde sich Dabei dreht es sich nicht um Grade von Sympa- das Beispiel von generationengerechtem, res- thiewogen. Vielmehr stehen die zentralen politi- sourcenschonendem Wachstum dazu eignen. schen Ressourcen im Zentrum: Vertrauen, Ver- 30 Karl-Rudolf Korte

lässlichkeit, Wertschätzung, Integrität, Respekt. Benz, Arthur 2007: Verhandlungen. In: Benz, Viele der Koalitionsbildungen der letzten Mo- Arthur/Lütz, Susanne/Schimank, Uwe/Simons, nate, vor allem auf Länderebene, sind ohne die- Georg (Hg.): Handbuch Governance. Wiesba- sen so zugespitzten verhandlungsstrategischen den, 106-118. Hintergrund nicht erklärbar. Die Namen Hubert Decker, Frank 2009: Koalitionsaussagen der Ulrich (Grüne), Oskar Lafontaine (Die Linke), Parteien vor Wahlen. Eine Forschungsskizze im (SPD) stehen dabei stell- Kontext des deutschen Regierungssystems. In: vertretend für Verhandlungsspielräume, die sich Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Jg. 49, erweiterten bzw. verengten, weil sie mit diesen Heft 2/2009, 431-453. Personen existenziell und individuell verknüpft Grasselt, Nico/Korte, Karl-Rudolf 2007: waren. Insofern gründet dieser strategische Führung in Politik und Wirtschaft. Wiesbaden. Koalitions-Kontext nicht primär auf gemeinsa- Grunden, Timo 2009: Politikberatung im men Interessen oder Ideen, sondern auf Perso- Innenhof der Macht. Zu Einfluss und Funktion nen, die sich trauen und deshalb eine gemeinsa- der persönlichen Berater deutscher Ministerprä- me politische Zukunft anstreben. sidenten. Wiesbaden. Korte, Karl-Rudolf 2010 (Hg.): Die Bun- Die Konturen des Neuen sind im Ergebnis destagswahl 2009. Wiesbaden (i.E.). der Bundestagswahl von 2009 bereits angelegt. Korte, Karl-Rudolf 2009: Neue Qualität Neue zukünftige Koalitionen auf dem Koaliti- des Parteienwettbewerbs im Superwahljahr. onsmarkt könnten sich entlang von Machtwech- In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 38/ sel-, Lern- und Verhandlungsstrategien entfal- 2009, 3-8. ten. Macht und Interesse, Deutungen und Ideen Korte, Karl-Rudolf 2008: Die Konsensma- sowie Personen und Vertrauen bleiben dabei schine stottert, in: Die Zeit, Nr.43/2008. die wichtigsten Kategorien. Korte, Karl-Rudolf/Fröhlich, Manuel 2009: Politik und Regieren in Deutschland. 3. Aufla- Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politik- ge. Paderborn. wissenschaft und Direktor der NRW School of Mielke, Gerd/Eith, Ulrich 2008: Im Ver- Governance an der Universität Duisburg-Es- suchslabor. Der Strukturwandel des deutschen sen. Parteiensystems. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2008, 94-103. Niedermayer, Oskar 2007: Die Entwicklung Literatur des bundesdeutschen Parteiensystems. In: De- Bandelow, Niels C. 2009: Politisches Ler- cker, Frank/Neu, Viola (Hg.): Handbuch der nen. In: Schubert, Klaus/Bandelow, Niels C. deutschen Parteien. Wiesbaden, 114-135. (Hg.): Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0. Nullmeier, Frank 2003: Mikro-Policy-Ana- München, 313-346. lyse. Frankfurt/Main. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 31

Richard Hilmer

Warum die SPD das Wahldebakel nicht abwenden konnte Sechs Thesen zur Bundestagswahl 2009

These 1 achten war. Ungewöhnlich ist allerdings die dra- Der Verlauf und das Ausmaß der SPD-Verluste matische Beschleunigung der Verluste: 2002 deuten darauf hin, dass die Gründe für die Nie- beliefen sie sich auf knapp 1,7 Millionen Stim- derlage der SPD bis weit in die erste Regie- men. 2005 kamen weitere knapp 2,3 Millionen rungsperiode von Rot-Grün zurückreichen. Die hinzu. Weitere vier Jahre später betrugen die Zustimmungsverluste der SPD erfolgten nicht Verluste über 6 Millionen – der höchste Stim- kontinuierlich, sondern sprunghaft und lassen menverlust, den eine Partei jemals bei einer Wahl sich an konkreten politischen Ereignissen bzw. in der Bundesrepublik zu verzeichnen hatte. Der an bestimmten Regierungsentscheidungen fest- Verlauf der Zustimmungswerte für die SPD seit machen. 1998 zeigt immer wieder deutliche Einbrüche innerhalb kurzer Zeit. Zeitlich gehen diese Ein- Die SPD verlor seit ihrem fulminanten Wahl- brüche in der Regel einher mit SPD-internen sieg 1998 kontinuierlich an Zustimmung, was politischen Ereignissen (Lafontaine-Rücktritt auch bei den Vorgängerregierungen zu beob- 1999 / Wahlen in Hessen 2008 und 2009) oder 32 Richard Hilmer

mit grundlegenden politischen Entscheidungen die Bindung wichtiger Wählergruppen an die mit hoher sozialer Tragweite (Agenda 2010 SPD. bzw. Hartz IV in 2003 bzw. 2004 sowie die Rente mit 67 in 2006). Anders als 2002 und These 3 2005 gelang es aber 2009 nicht, diese Einbrü- Eine wesentliche Ursache für den massiven che vor der Wahl wettzumachen (vgl. Grafik 1). Verlust an Zustimmung war eine kontinuierli- che Erosion des Markenkerns ‚soziale Gerech- These 2 tigkeit‘. Die häufigen Wechsel an der Parteispitze schwächten bei der SPD-Wählerschaft die Bin- Eine Reihe von Befunden belegen, dass einige dung an die Partei und verstärkten die Abwan- der von der SPD initiierten zentralen Maßnah- derungsbereitschaft. men auch und gerade in der eigenen Anhän- gerschaft keine Unterstützung fanden und dass Für den Erfolg der SPD, die von allen Parteien sie vielfach sogar als Widerspruch zu einem die heterogenste Wählerschaft aufweist, sind der Kernanliegen der Sozialdemokratie ange- das politische Spitzenpersonal und vor allem sehen wurden: für eine sozial gerechte Gesell- der Parteichef wichtiger als für andere Parteien. schaft einzutreten. Weder bei Hartz IV als auch Das bedeutet nicht, dass jeder Wechsel an der bei der Rente mit 67 gelang es zu vermitteln, Parteispitze eine Schwächung der Partei zur dass damit ein gerechterer und angesichts ver- Folge hat. Der Wechsel von Scharping zu La- änderter ökonomischer Bedingungen bzw. ge- fontaine führte sogar im Gegenteil zu einer Stär- nerativer Strukturen tragfähiger Interessen- kung spätestens zu dem Zeitpunkt, als Lafontai- sausgleich zwischen Leistungsträgern und ne mit dem eher der Mitte zugeneigten Schröder Leistungsempfängern gewährleistet werden ein starkes Spitzenduo bildete, in dem der eine sollte. In beiden Fällen scheiterte dies auch an für den programmatischen Anspruch nach mehr einem Mangel an sozialem Gespür bei der kon- sozialer Gerechtigkeit und der andere für prag- kreten Umsetzung der Maßnahmen: bei Hartz matisches, den wirtschaftlichen Zwängen ge- IV etwa an der Vernachlässigung der Lebens- genüber aufgeschlossenem Regierungshandeln arbeitsleistung, bei der Rente mit 67 an der als stand. Nach dem Ausscheiden Lafontaines wur- unzureichend erachteten Berücksichtigung von de diese Balance durch die Doppelspitze Schrö- Lebensarbeitszeit und Arbeitsbelastungen. Die der/Müntefering wieder weitgehend hergestellt. Zweifel an der sozialen Austarierung der be- Mit dem Ausfall der beiden Führungspersonen schlossenen Maßnahmen fanden ihren Aus- innerhalb kürzester Zeit und den folgenden ra- druck in einem deutlichen Verlust an Kompe- schen Wechseln an der Parteispitze wurde die- tenzzuschreibung in ‚sozialer Gerechtigkeit‘. ses Gleichgewicht und damit letztlich auch die Im Zuge der Einführung von Hartz IV fiel die Erkennbarkeit der SPD in der Regierung zu ei- SPD in ihrer Kernkompetenz sogar kurzzeitig nem Zeitpunkt in Frage gestellt, als sie es als hinter die Union zurück. Webfehler in der Hartz- Juniorpartner in der Großen Koalition nötiger IV-Gesetzgebung eröffnete der Union und denn je hatte. Ohne klares personelles Zentrum zuletzt sogar der FDP die Chance, die SPD war sie im großkoalitionären Wettbewerb ge- partiell ‚links zu überholen‘ (Berücksichtigung genüber der sich hinter der Kanzlerin scharen- der Lebensarbeitszeit / Verdreifachung des den Union deutlich unterlegen. Die Art, wie die- Schonvermögens) (vgl. Grafik 2). se Wechsel erfolgten, förderte zudem den Ein- Sowohl 2005 als auch 2009 gelang es der druck von tiefer Zerstrittenheit und untergrub SPD zwar jeweils vor der Wahl die Kompe- Warum die SPD das Wahldebakel nicht abwenden konnte 33

tenzführerschaft in diesem für sie so wichti- These 4 gen Feld zurückzuerobern, aber Zweifel blie- Zu den dramatischen SPD-Verlusten trug aber ben bis weit in die eigene Anhängerschaft, ob auch der kontinuierliche Kompetenzverlust bei, die SPD nicht das Gespür für die Belange der der sich zuletzt auf (fast) alle Politikbereiche ‚kleinen Leute‘ verloren habe. Es verstärkte erstreckte, wobei vor allem die deutlichen Ver- sich zudem der Eindruck, dass die Arbeitneh- luste in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit zu mer an dem sich 2006 abzeichnenden Auf- Abwanderung enttäuschter Wähler führte. schwung nicht partizipierten und dass unter der SPD-geführten bzw. mitgeführten Regie- 1998 gewann die SPD die Wahl nicht nur des- rung die Schere von Arm und Reich immer halb, weil man von ihr mehr soziale Gerechtig- weiter auseinander ginge1. Dies eröffnete vor keit erwartete, sondern auch deshalb, weil man allem der Linkspartei die Chance, sich als die ihr eher als der Union zutraute, neue Arbeits- linke Alternative zur SPD darzustellen. Und plätze zu schaffen, die Steuerbelastung zu redu- dies ließ auch die Warnungen vor einem dro- zieren und eine bessere Altersversorgung zu henden Sozialabbau im Falle einer schwarz- gewährleisten. Dies wog die traditionell den gelben Regierungsübernahme ins Leere lau- Unionsparteien zugeschriebene größere Wirt- fen, da sich die SPD von der Linken und von schaftskompetenz mehr als auf. Auch 2002 blie- Union und FDP selbst diesem Vorwurf ausge- ben diese unterschiedlichen Kompetenzprofile setzt sah. der beiden Volksparteien im Wesentlichen er- 34 Richard Hilmer

halten, einzig im Bereich Arbeitsmarktkompe- Der Kompetenzverlust auf verschiedenen tenz vermochte die Union unter Stoiber die SPD politischen Feldern schwächte die an eine knapp zu überflügeln. Erst bei der Wahl 2005 Volkspartei gerichtete Erwartung an politi- erfolgte ein fast durchgängiger Einbruch für die scher Gestaltungskompetenz3 und führte zu SPD, die nur noch im Bereich sozialer Gerech- Abwanderungen enttäuschter SPD-Wähler in tigkeit ihren Kompetenzvorsprung behaupten unterschiedlichste politische Richtungen: 2 konnte. Diesen flächendeckenden Kompetenz- Millionen gaben diesmal der Linken oder den verlust vermochte die SPD über die gesamte Grünen ihre Stimme, 1,4 Millionen wech- Dauer der Großen Koalition nicht mehr zu kor- selten zur Union bzw. zur FDP und 2 Milli- rigieren. In dem für die Bundestagswahl 2009 onen ehemaliger SPD Wähler blieben der entscheidenden Bereich, der Wirtschaftspolitik, Wahlurne gänzlich fern (vgl. Grafik 4). fiel sie sogar noch einmal deutlich zurück: Die Motive für den Wechsel waren sehr Schrieben 1998 der SPD noch 33 Prozent und unterschiedlicher Natur und spiegelten die 2002 sogar 37 Prozent die höchste Kompetenz verschiedenen Ausgangssituationen und In- auf diesem Feld zu, so sank dieser Anteil 2005 teressen der Betroffenen wider. Wer von der auf 29 Prozent2 und 2009 sogar auf nur noch 21 SPD in sozialer Hinsicht enttäuscht war, ent- Prozent, während Union und FDP zusammen schied sich für die Linke (vor allem ältere auf 61 Prozent kamen (vgl. Grafik 3). Männer, Arbeiter und Arbeitslose) oder blieb der Wahl fern (vor allem Frauen und Perso- Warum die SPD das Wahldebakel nicht abwenden konnte 35

nen mit formal niedriger Ausbildung), und Die vor allem im Kontext der Agenda 2010 sich wer von den SPD-Anhängern an ihrer Fä- nicht nur innerparteilich bzw. innerkoalitionär, higkeit zweifelte, die Wirtschaft und den Ar- sondern auch in der öffentlichen Kommunikati- beitsmarkt wieder in Schwung zu bringen, on von Schröder/Müntefering praktizierte ‚Bas- entschied sich 2009 für die Unionsparteien ta‘-Politik mag in ihren Anfängen hilfreich ge- (vor allem jüngere berufstätige Frauen) oder wesen sein, konnte Schröder sich damit gegen- für die FDP (vor allem jüngere berufstätige über der klassischen SPD-Klientel, den einfa- Männer und besser Verdienende). Bei der chen Arbeitern und Angestellten, als durchset- Entscheidung für die FDP spielte auch die zungsstarker Regierungschef in schwierigen Hoffung auf eine geringere steuerliche Be- Zeiten präsentieren. Bei den besser Gebildeten lastung eine Rolle – für die 1998 noch vor kam dieser Politikstil wohl zu keinem Zeitpunkt allen anderen Parteien die SPD stand (vgl. gut an, wurde aber während der rot-grünen Ko- Grafik 5). alition durch den diskussionsfreudigeren Poli- tikstil des Koalitionspartners kompensiert. Spe- These 5 ziell bei der Vermittlung der Agendapolitik er- Die Art der Politikvermittlung seitens der SPD wiesen sich der Mangel an öffentlicher Kom- war nicht mehr zeitgemäß und erschwerte die munikation und die weitgehende Verweigerung, Einbeziehung ihrer Mitglieder in den Wahl- die eigene Wählerschaft von harten aber als not- kampf. wendig erachteten Maßnahmen zu überzeugen, 36 Richard Hilmer

als fatal. Dadurch wurde noch der Eindruck glied und politisches Korrektiv immer weni- verstärkt, die SPD verstünde ihre Klientel nicht ger ausfüllen. In der Folge standen die Mit- mehr und kümmere sich nicht länger um die glieder im Wahlkampf 2009 als Ressource für Sorgen der ‚kleinen Leute‘. Das Problem der eine erfolgreiche Politikvermittlung in die Agenda dürfte weniger deren Inhalt gewesen Wählerschaft hinein nicht mehr wie früher zur sein, sondern der Mangel an überzeugender Verfügung. Begründung4. Eine gute Begründung für die Einschnitte wurden schon deshalb von der These 6 Schröder-Regierung erwartet, weil sie 2002 Neben den langfristigen Faktoren trugen zwei unter anderen Prämissen wieder gewählt wor- Aspekte zur Niederlage bei, die unmittelbar den den war. Wahlkampf betrafen: die fehlende bzw. wider- In der Diskussion um die Agendapolitik und sprüchliche Machtperspektive sowie die Sprach- die Rente mit 67 trat zudem ein gestörtes Ver- losigkeit gegenüber der großen Zahl unentschie- hältnis zwischen Parteispitze und Mitgliedern dener Wähler. offen zutage. In dem Maße als die Partei als ‚Störfaktor‘ in der Interaktion zwischen Re- Spätestens mit der auch vom Parteitag abgeseg- gierung und Wählerschaft angesehen wurde, neten Absage der FDP an eine Ampelkoalition konnte sie ihre wichtige Funktion als Binde- hatte die SPD keine glaubhafte Option mehr auf Warum die SPD das Wahldebakel nicht abwenden konnte 37

eine von ihr geführte Regierung. Das Festhal- ihnen war dies eher Grund, gar nicht wählen ten an der Ampelkoalition war aber auch schon zu gehen (vgl. Grafik 6). vorher wenig überzeugend, weil die FDP-Wäh- Die Hoffnung, wie 2002 und 2005, durch ler diese Variante dezidiert ablehnten und SPD- einen überzeugenden Wahlkampf das Blatt zu- Wähler dafür nicht recht zu begeistern waren. gunsten der SPD noch wenden zu können, trog. Blieben aus Sicht der SPD nur zwei Alter- Dafür fehlten 2009 die seinerzeit günstigen Vo- nativen: Rot-Rot-Grün – von der Parteifüh- raussetzungen. Auch mit dem besten Wahlkampf rung und von der Mehrheit der SPD-Wähler wäre die SPD bei dieser Ausgangslage wohl abgelehnt – sowie die große Koalition, die von kaum stärkste Partei geworden. Aufgrund der der Anhängerschaft den meisten Zuspruch er- erwartbar hohen Zahl von Überhangmandaten fuhr. Sich dafür aber offensiv einzusetzen hät- für die Union wäre auch eine schwarz-gelbe te bedeutet, auf den eigenen Führungsanspruch Mandatsmehrheit kaum zu vermeiden gewesen, zu verzichten, da die Union noch zu überflü- allenfalls die Verhinderung einer schwarz-gel- geln eher unwahrscheinlich erschien. Die SPD- ben Stimmenmehrheit. Dazu hätten allerdings Wähler mussten deshalb, anders als die Wäh- die vielen bis zuletzt zögernden SPD-Wähler ler anderer Parteien, ihre Wahlentscheidung mobilisiert werden müssen. Dies wurde ver- ohne klare Machtperspektive treffen, und ver- hindert durch banden damit höchst widersprüchliche Koali- a) das Ausbleiben eines pointierteren Wahl- tionspräferenzen. Für die Unsicheren unter kampfs nach Muster der Parteitagsrede – vie- le Wähler dürsteten geradezu nach Auskunft 38 Richard Hilmer

darüber, für welche Ziele Partei und Kanz- Schröder-Regierung gewesen sein, da da- lerkandidat stehen; durch das Austarieren von ökonomischen und b) missverständliche Wahlversprechen (Rettung sozialen Belangen eher gestört als gefördert von Opel und Arcandor - Deutschlandplan: wurde. 4 Mio. Arbeitsplätze); 3Bezeichnenderweise behauptete sich die c) mangelnde Thematisierung von kulturellen SPD zuletzt in den Bundesländern, in denen ihr Zielen im Bereich Familie und vor allem in auch in Sachen Wirtschaftspolitik eine größere der Bildung, die den vielen jungen und weib- Kompetenz zugeschrieben wird als anderen lichen Wählern besonders wichtig waren; Parteien: in Rheinland-Pfalz und in Branden- d) eine mangelnde Profilierung des Kandida- burg. Umgekehrt wurde die Union im Bund ten in diesen Bereichen, da er hier für viele erst wieder mehrheitsfähig, als sie neben ihrem unscharf blieb – ganz im Gegensatz zu Mer- Markenkern Wirtschaftskompetenz die soziale kel5. Komponente stärkte. 2005 verfehlte sie die Mehrheit nicht zuletzt deshalb, weil sie ihren Der Abschreckungswahlkampf gegen Schwarz- sozialen Flügel marginalisiert hatte und ihr die Gelb in der Schlussphase war eher kontrapro- Absicht zu einem Sozialabbau im großen Stil duktiv. Er vermochte die unentschlossenen SPD- unterstellt wurde. Wähler nicht zu mobilisieren, hat aber bei etli- 4Dafür spricht etwa der Ausgang der Land- chen zweifelnden SPD-Wählern die Neigung tagswahl in Brandenburg, die zeitlich mit dem wohl noch verstärkt, ihre Stimme zugunsten von Höhepunkt der Hartz-IV-Proteste zusammen- Union oder FDP abzugeben6. fiel. Anders als in den meisten vorausgegange- nen und folgenden Landtagswahlen konnte sich Richard Hilmer ist Geschäftsführer von In- dort die SPD unter Führung von Matthias Platz- fratest dimap. eck behaupten. Dies gelang, obwohl Platzeck politisch keinerlei Abstriche an der Agendapo- litik machte, und sich stattdessen mit seiner gan- Anmerkungen zen Autorität, aber auch mit seiner ganzen Über- 1Dieser in vielen Umfragen bestätigte sub- zeugungskraft dafür einsetzte. jektive Eindruck erhielt später durch Daten zur 5Dies dürfte nicht zuletzt dazu beigetragen realen Einkommens- und Vermögensverteilung haben, dass die SPD auch in der Gruppe, die eine objektive Bestätigung. sich in den letzten Jahren als eine der treuesten 2Den größten Einbruch in Sachen Wirt- Wählergruppen erwies, in Richtung CDU ver- schafts- und Arbeitsmarktkompetenz erlitt die lor: bei jungen berufstätigen Frauen. SPD im Übrigen Anfang 2003, als Wolfgang 6Laut Wahltagsbefragung von Infratest Clement das Ressort übernahm. Die Zusam- dimap war der Anteil der Kurzentschlossenen menlegung von Wirtschafts- und Arbeitsmi- bei den von SPD zu Union und FDP abgewan- nisterium dürfte einer der Kardinalfehler der derten Wählern am höchsten. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 39

Matthias Machnig

Der endgültige Abschied von der Macht oder Der Wahlkampf der Illusionen

Um es am Anfang gleich zu sagen: Diese Wahl- Wahlsituation agieren. Sie sind nicht abhängig auseinandersetzung des Jahres 2009 war für von Stimmungen und strategischen Kalkulatio- die SPD zu keinem Zeitpunkt gewinnbar. Die nen oder Prämissen. Sie müssen nicht unmittel- einzige Frage, um die es im Wahlkampf ging, bar agieren oder Themen generieren oder gar war, wie tief der Fall der deutschen Sozialde- auf die politische Konkurrenz reagieren. Des- mokratie sein, wie hoch die Verluste im Ver- wegen bergen Ex-post-Betrachtungen immer ein gleich zum Wahljahr 2005 und den erfolgrei- Risiko, sie können selbstgerecht wirken, sie kön- chen Wahlkämpfen 1998 und 2002 ausfallen nen als Abrechnung verstanden werden, sie würden. Denn ein erfolgreicher Wahlkampf hat können instrumentalisiert werden für den poli- Voraussetzungen, er braucht Ressourcen, er tischen innerparteilichen Positionskampf in der braucht Richtungsauseinandersetzung, er Nachwahlzeit und sie werden häufig als ten- braucht eine Dramaturgie und er braucht ein denziös eingeordnet, weil ihnen keine Analyse, Momentum, an dem sich die politische Debatte sondern eine politische Intention unterstellt wird. und der Diskurs einer Partei orientieren kön- Diese Vorbemerkungen sind deshalb wichtig, nen. All dies gab es nicht. Und genau deswegen weil es dem Beitrag nicht um Recht haben oder ist diese Wahlauseinandersetzung verloren ge- Recht bekommen geht oder um die Nutzung gangen. Das war nicht die eigentliche Überra- eines Wahlergebnisses für innerparteiliche Ge- schung. Die eigentliche Überraschung war, wie ländegewinne. Sondern es geht darum, den tief der Fall der Sozialdemokratie am 27. Sep- Wahlkampf nüchtern zu analysieren und daraus tember 2009 dann doch war. Dennoch bleibt Konsequenzen für die Neupositionierung der eine Gewissheit: Ein besseres Wahlergebnis und Sozialdemokratie zu ziehen. eine Fortsetzung der großen Koalition hätte für die Sozialdemokratie noch größere Probleme 1 Die halbierte SPD mit sich gebracht, der Erosionsprozess der Par- tei wäre unaufhaltsam gewesen. Denn der Spa- Das Wahlergebnis war eine tiefe Zensur für die gat, den die Partei über einige Jahre auszuhalten SPD und für das Parteiensystem in Deutsch- hatte, hätte fortgesetzt werden müssen, und ein land. Erstmals seit 1998 haben die so genannten Spagat kann zur Konsequenz haben, dass die bürgerlichen Parteien wieder eine Mehrheit so- Beine brechen. wohl bei den Erststimmen als auch bei der An- Eine Wahlanalyse darf nicht selbstgerecht zahl der direkt gewonnenen Mandate erzielt. sein, insbesondere dann, wenn es sich um eine Dabei zeigt sich im Übrigen ein interessantes Ex-post-Analyse handelt. Denn Ex-post-Ana- Phänomen. Diejenige Partei, die eine Mehrheit lysen kennen das Ergebnis, sie kennen die Em- der Erststimmen auf sich vereinigen kann, er- pirie von Wählerwanderungen, Wahlverhalten hält auch die Mehrheit der Zweitstimmen. Dies unterschiedlicher Wählermilieus und die The- war 1998 und 2002 so, als die SPD den Bun- menrankings, die für das Wahlverhalten verant- deskanzler stellte. 2005 gab es ein Patt sowohl wortlich sind. Ex-post-Analysen müssen zudem bei den Erst- wie bei den Zweitstimmen, und nicht selber handeln oder in einer konkreten 2009 hat sich das Verhältnis umgekehrt, 40 Matthias Machnig

Schwarz-Gelb hat sowohl eine Mehrheit bei den ten. Im Vergleich zu 1998 halbieren sich die Zweitstimmen wie bei den Erststimmen. Stimmanteile bei Arbeitern, Angestellten und Für die SPD sind die Zahlen alarmierend. Arbeitslosen und auch bei den gewerkschaftli- Sie verliert im Vergleich zu 1998 zehn Millio- chen Mitgliedern verliert die SPD über ein Drit- nen Stimmen und hat sich damit faktisch hal- tel der Wählerinnen und Wähler. Dies gilt in biert, im Vergleich zu 2002 sind es immerhin gleicher Weise für Ost wie West. noch acht Millionen, im Vergleich zu 2005 sechs Eine Partei, die wie die SPD in alle Richtun- Millionen Wählerinnen und Wähler weniger. gen verliert, hat Identitäts-, Profil- und Glaub- Und die SPD verliert in alle Richtungen: an die würdigkeitsprobleme. Das wird deutlich, wenn LINKE vor allen Dingen Männer zwischen 45 man in der Wahlstatistik nach den Gründen für und 59 Jahren, bei den Arbeitslosen vor allem die Abwanderung früherer SPD-Wähler zu an- in den neuen Bundesländern; an die GRÜNEN, deren Parteien fragt. Die von der SPD Richtung denn berufstätige Frauen mit hoher Bildung Links-Partei Abgewanderten (1,1 Mio. Stim- wandern von der SPD ab; an die CDU men) geben als Grund für die Abwanderung insbesondere bei jüngeren Frauen und an die vor allen Dingen das Thema soziale Gerechtig- FDP jüngere berufstätige Männer mit guter Bil- keit an, gleiches gilt für die Abwanderung Rich- dung und, dies ist der größte Block, an Nicht- tung GRÜNE (900.000 Stimmen). Bei den wähler, darunter zumeist aus den unteren Bil- Wählern der so genannten bürgerlichen Partei- dungsschichten, Frauen und Politikferne. Die en, also CDU und FDP (in diese Richtung ver- SPD verliert in allen Wählersegmenten und dabei liert die SPD 1,5 Mio. Stimmen), geben 46 bzw. überproportional, vor allen Dingen bei den 18- 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler an, bis 24-Jährigen und bei den 25- bis 34-Jähri- dass dies aus wirtschaftlichen Gründen, also gen, aber auch bei den Arbeitern und Angestell- aus Sorge um die weitere ökonomische Ent- wicklung in Deutsch- land geschieht. Und zum Schluss wird die- ses Identitäts-, Rich- tungs- und Glaubwür- digkeitsproblem ins- besondere daran deut- lich, dass es innerhalb der sozialdemokrati- schen Wählerschaft und des sozialdemokrati- schen Milieus sehr un- terschiedliche machtpo- litische Optionen gab. 26 Prozent der Wähler- schaft der SPD waren für eine rot-rot-grüne Koalition, 32 Prozent für eine Ampel und 33 Prozent für eine Große Koalition. Der endgültige Abschied von der Macht oder Der Wahlkampf der Illusionen 41

Gerade diese Zahlen belegen: Richtungsfra- für das Wahljahr 2009 einging. Dennoch hielt gen in der SPD und orientiert an der SPD wa- die SPD an Prämissen für die Wahlkampffüh- ren in diesem Wahlkampf völlig unklar. Die ein- rung im Jahre 2009 fest, die es so eigentlich gar zige machtpolitische Option, die die SPD real nicht gab. Dieses antifaktische Verhalten und besaß, war die Große Koalition. Aber ein Groß- Agieren der Parteiführung stellte ein zusätzli- teil der eigenen Wähler und der Wähler ins- ches Problem in der ohnehin schwierigen stra- gesamt wollte politische Klarheit. Sie wollte tegischen Ausgangskonstellation dar. Der Wahl- heraus aus dem strukturellen Unentschieden der kampf der SPD basierte auf falschen Prämis- Großen Koalition, der zentralen Machtmecha- sen, auf Illusionen. Er war der Versuch, die nik einer Großen Koalition, und hin zu einer Wahlkampflinie des Jahres 2005 zu wiederho- Mehrheit, die das politische Schisma der Gro- len, obwohl die strategischen Ausgangsprämis- ßen Koalition auflöste mit der Hoffnung, dass sen, die personellen Ressourcen, die machtpoli- es endlich wieder zu klaren politischen Entschei- tischen Optionen und die thematischen Bedin- dungen jenseits des kleinsten gemeinsamen gungen nicht wiederholbar waren. Und er Nenners kommt. versuchte in der Kanzlerkandidatenfrage eine Der Wahlkampf folgte jedoch der Funkti- Positionierung vorzunehmen, als gäbe es noch onslogik der Großen Koalition. Denn es war einen großen Kommunikator, wie es Gerhard ein Wahlkampf der Depolitisierung. Ein Ergeb- Schröder in den Wahlkämpfen 1998, 2002 und nis war die historisch niedrigste Wahlbeteili- 2005 ohne Zweifel war. gung der Nachkriegszeit von nur noch 70 Pro- Die Illusionen dieses Wahlkampfes hatten zent. Diese Depolitisierung war von Seiten der folgende Facetten: Union und insbesondere von Angela Merkel strategiegetrieben. Die Depolitisierungsstrate- 2.1 Die Kanzler-Illusion gie war eine gezielte Lagerstrategie, eine Geg- nerstrategie und eine Personalisierungsstrate- Die Prämisse der Parteiführung lautete, man sei gie (vgl. Joachim Raschke und Ralf Tils in ohne die Aufrechterhaltung des Anspruchs, den diesem Heft). Dieser Strategie der De- und Ent- Kanzler stellen zu können, in der politischen politisierung, das Ausklammern von Richtungs- Auseinandersetzung weder konkurrenz- noch fragen und -entwürfen für die Politik in der Krise, kommunikationsfähig. So wurde vom Kandi- hatte die SPD nichts entgegenzusetzen. Sie war daten der Parteispitze der Anspruch auf die strategielos, sie war hilflos, sie war manövrier- Kanzlerschaft wie ein Mantra im Wahlkampf unfähig, ähnlich wie die Kohl-CDU im Wahl- vor sich her getragen. Diese Kanzler-Illusion kampf 1998. war empirie- und stimmungsresistent und dies Der Wahlkampf der SPD war insofern ein war eine Belastung, je länger der Wahlkampf Wahlkampf der Illusionen, eine Wahlkampf der dauerte. Und sie war strategieresistent, denn sie Fehler und ein Wahlkampf des Strategiedefizits. wurde aufrechterhalten, obwohl weder Öffent- lichkeit noch die Partei oder die eigenen Wähler daran glaubten. Damit wurde die Kanzleroption 2 Der Wahlkampf der Illusionen ein Beleg dafür, dass die SPD die Zeichen der Frühzeitig, lange vor Beginn des eigentlichen Zeit, die eigentliche Situation der Partei und die Wahlkampfs, war erkennbar, wie Angela Mer- Stimmung innerhalb der Wählerschaft nicht er- kel, gegen nicht unerheblichem Widerstand aus kannt hatte. Somit führte die Kanzler-Illusion den eigenen Reihen, eine klare in sich konsis- nicht zu einer Mobilisierung durch personelle tente, aber durchaus Risiko beladene Strategie Zuspitzung, sondern zur Demobilisierung und 42 Matthias Machnig

Desillusionierung der eigenen Anhängerschaft. konnte weder glaubwürdig noch in der Sache Viele haben darauf gewartet, dass sich wie 1987, klar und deutlich geführt werden, wenn gleich- als die SPD trotz eindeutiger Meinungsumfra- zeitig an der Option einer Koalition mit der FDP gen an der Fiktion einer absoluten Mehrheit fest- festgehalten wurde. Die Ampel-Option war da- hielt, führende Sozialdemokraten zum politi- mit gerade ein Katalysator für die Abwanderung schen Realismus bekennen würden – wie zu LINKEN, GRÜNEN und Nichtwählern. Denn seinerzeit Willy Brandt, als er sagte, dass auch gerade diese wollten eines im keinen Falle: die „42 Prozent ein schönes Ergebnis“ seien. Fortsetzung einer Großen Koalition. Die Kanz- leroption und die damit verbundene Koalitions- Illusion waren die strategischen Grundfehler die- 2.2 Die Koalitions- oder Macht-Illusion ser Wahlkampfauseinandersetzung. Sie führten Mit der Kanzler-Illusion korrespondierte die in letzter Konsequenz zu den Strategie-, Profil- Koalitions-Illusion. Sie basierte auf wagen Kon- und Richtungsproblemen, durch die die Sozial- takten und Gesprächen und symbolischen Ge- demokratie in diesem Wahlkampf eigentlich nicht meinsamkeiten, wie z.B. einer Buchvorstellung mehr handlungsfähig war. der Biographie von Guido Westerwelle durch Frank-Walter Steinmeier. Dabei war erkennbar, 2.3 Die Mitte-Illusion dass sich die FPD mit der sehr frühzeitigen Fest- legung, eine Woche vor der Bundestagswahl Angela Merkel hatte aus dem Wahlergebnis auf einem Bundesparteitag eine klare Koaliti- 2005 im Unterschied zur SPD klare Konse- onsaussage zu treffen, sehr eindeutig für eine quenzen gezogen. Die Vorstellung des Wahl- ‚Bürgerliche Koalition‘ aussprechen würde. kampfes 2005, über einen politisch-ideologi- Denn für die FDP war klar, dass sie – aus den schen Gegenentwurf zur rot-grünen Politik Erfolgen in den Ländern, der Vielzahl von mehrheitsfähig zu werden, hatte sich als falsch schwarz-gelben Koalitionen, die Mehrheiten und erwiesen. Daraus zog die Bundeskanzlerin die Machterwerb organisierten, und aus der Weige- Konsequenz, in der Großen Koalition Rich- rung von 2005, Alternativen zu einer Großen tungsfragen auszuklammern und war bereit zu Koalition überhaupt zu erörtern – einen Glaub- akzeptieren, dass es in vielen Politikfeldern zu würdigkeitsvorteil ableitete, den aufzugeben sie einer zumindest formalen Sozialdemokratisie- nicht bereit sein würde. Das von der SPD immer rung der Politik der Großen Koalition kommen wieder bemühte Argument, Westerwelle müsse würde. Dies korrespondierte mit einem präsidi- nach 11 Jahren Opposition seine Partei in eine alen Führungsstil. Denn sie war nicht Kanzle- Regierung führen, verkannte die Situation einer rin, sie war Moderatorin, Präsidentin der Gro- selbstbewussten, durch die Wahlen in den Län- ßen Koalition und knüpfte damit stilistisch an dern gestärkten FDP und die unangefochtene die Kohljahre an. Kohl ließ streiten, Kohl ließ Position Guido Westerwelles als Parteivorsit- diskutieren und am Ende war immer eines klar, zendem vollständig. es entscheidet der Kanzler. Diese Machttechnik Die Ampel war daher nie eine echte Option. in modifizierter Form übernahm Angela Mer- Sie führte vielmehr, da sie bis in die letzten Wo- kel. Sie konnte zwar nicht entscheiden in der chen und Tage des Wahlkampfes von Seiten der Großen Koalition, aber sie konnte Themen so SPD aufrechterhalten wurde, zu einer Desorien- lange moderieren, bis sie politisch-ideologisch tierung der eigenen Anhänger und zur eigenen entschärft waren und somit unschädlich für ihre strategischen Desorientierung, denn eine Rich- Rolle und unschädlich im Hinblick auf poli- tungsauseinandersetzung mit Schwarz-Gelb tisch-ideologische Auseinandersetzungen inner- Der endgültige Abschied von der Macht oder Der Wahlkampf der Illusionen 43

halb von CDU und CSU. Damit wurden Rich- 2.5 Die Angst-Illusion tungsfragen verschoben, die Mitte verrückt. Die politische Mitte, die zu Beginn der Großen Ko- Die SPD hatte gehofft, ähnliche Reflexe mobili- alition noch eher auf Seiten der Sozialdemokra- sieren zu können wie im Wahljahr 2002 und tie lag, wurde nun eine personalisierte Mitte, 2005. Dort war es gelungen, nicht über das eige- die Mitte der Angela Merkel. Nicht die CDU ne Programm, über die eigene Zukunftsvorstel- war Mitte, nicht die CDU-FDP war Mitte. An- lung zu debattieren, sondern einen Wählerblock gela Merkel war Mitte. Sie war die Gewähr gegen Schwarz-Gelb zu formieren. Die neolibe- dafür, dass in schwierigen Zeiten eine Politik ralen Übertreibungen, die Mobilisierung des Stoi- ‚des Maßes und der Mitte‘ und nicht der politi- ber- oder Kirchhoff-Faktor waren für die Wahl- schen-ideologischen Exzesse dominierte. ergebnisse 2002 und 2005 erheblich. Es gab tief Die SPD hatte nicht verstanden, dass sie die sitzende Vorbehalte gegenüber einer schwarz- Mitte eigentlich verloren hatte. Sie beschwor eine gelben Konstellation. Edmund Stoiber war au- Mitte, die sie 1998, 2002 und 2005 noch besaß, ßerhalb Bayerns eigentlich nicht vermittelbar, die sie aber im Verlauf der Großen Koalition Angela Merkel galt 2005 als Novizin, und die immer mehr an die Kanzlerin verlor. So kämpfte FDP hatte immer noch das Stigma des Neolibe- die SPD auf einem Terrain, das die Kanzlerin ralismus, das Stigma der Partei der Besserver- schließlich für sich besetzt hatte. Es war das Spiel dienenden und der Partei der sozialen Kälte. All von Hase und Igel. Der Igel war immer schon dies konnte als Ressource für den Bundestags- da, so sehr sich der Hase auch mühte. wahlkampf 2009 nicht mehr mobilisiert werden. Inzwischen war Merkel zur souveränen Kanzle- rin geworden, die FDP wirkte neu und nicht mehr 2.4 Die Bilanz- oder Dankbarkeits- kalt, die Große Koalition hingegen als Konstel- Illusion lation des Stillstandes. Vor diesem Hintergrund Wahlkämpfe werden nie über Bilanz, über das waren schwarz-gelbe Ängste kaum mobilisier- Geleistete oder die Dankbarkeit dafür Schlim- bar. Hinzu kam, dass eine solche Strategie vor- meres verhindert zu haben, gewonnen. Ent- ausgesetzt hätte, sich eindeutig von der FDP zu scheidend ist vielmehr Zukunfts- und Erneue- distanzieren. Das FDP-Programm hätte zum Pro- rungskompetenz. Dies wurde aber der SPD nicht gramm der Angela Merkel umgedeutet werden mehr zugetraut, denn beim Thema Zukunfts- müssen. Aber gerade davor scheute die SPD- und Erneuerungskompetenz führte die CDU Wahlkampfführung zurück, denn eine Anti- eindeutig mit 42 Prozent gegenüber der SPD Schwarz-Gelb-Kampagne, die glaubwürdig ge- mit 21 Prozent. Die Vorstellung also, über Kon- wesen wäre, hätte bedeutet, sich von der Kanz- junkturprogramme, Kurzarbeitergeld, Deutsch- ler- und der Koalitions-Illusion, also der Ampel- landplan und ähnliche Instrumente eine positive Option, zu verabschieden. Bilanz oder Dankbarkeit beim Wähler auszulö- sen, verkennt die grundsätzliche Mechanik von 3 Strategiedefizite führen zu Wahlauseinandersetzungen. Sie werden eben Fehlern gerade daran nicht entschieden. Aber daran klam- merten sich sowohl die Partei wie die Regie- Ein Jahr vor der Bundestagswahl, im August rungsspitze und der Kandidat. Und gerade die- 2008, entschloss sich die SPD, die lange sub- ses Festhalten daran führte dazu, dass der SPD kutan schwelende Kanzlerkandidatenfrage zu immer weniger Zukunfts- und Erneuerungs- entscheiden. Kandidatenfestlegungen sind be- kompetenz zugetraut wurde. deutsam, denn sie verändern die politische Kar- 44 Matthias Machnig

tographie erheblich. Das Timing der Politik wird person in der SPD sei, der neugewählte Kanz- ein anderes. Personen stehen für Richtungen lerkandidat oder der reaktivierte alte neue Par- und die Mechanik verändert sich – gerade wenn teivorsitzende. man Regierungspartner in der Großen Koaliti- Dieser Dualismus konnte während der ge- on ist. Die Entscheidung vom August 2008 war samten 13-monatigen Phase der Doppelspitze allerdings keine strategische Entscheidung, die Müntefering und Steinmeier nie aufgelöst wer- im Hinblick auf die Kampagnenstrategie, einer den. Damit entwickelte sich das Problem, dass möglichen Dramaturgie für das Wahljahr ent- die SPD zwar ein formales Zentrum – die Dop- sprang, sondern erzwungenes Ergebnis der da- pelspitze – besaß, aber kein reales. Zwar galt maligen innerparteilichen Situation. das Paar Müntefering–Steinmeier als Idealbe- Mit der Ausrufung des Kanzlerkandidaten setzung für das Wahlkampfjahr – der Kandidat wurde de facto die Wahlauseinandersetzung er- und der Stratege. Aber daraus ergab sich eben öffnet, ohne allerdings eine Wahlkampfstrate- kein reales Zentrum: Weder war die Führungs- gie dafür zu besitzen. Wer in der Großen Koali- rolle, noch die Rollenteilung, noch die strategi- tion frühzeitig einen Kandidaten ausruft, muss sche Synchronisation zwischen Willy-Brandt- zwei strategische Fragen beantworten können: Haus und Auswärtigem Amt jemals geklärt. Die Kommunikation, die Themensetzung, die Atti- 1. Welche Konsequenzen hat dies auf das Agie- tüde der Kommunikation oder die Tonalität wa- ren in der Großen Koalition – weiterhin Kon- ren nicht aufeinander abgestimmt, sondern eher sens oder eine Strategie des begrenzten Kon- gegenläufig. Während Müntefering zum Teil fliktes? kontrafaktisch versuchte, offensiv zu agieren 2. Wann wird aus der Nominierung ein wirkli- („die Kanzlerin soll schon mal ihre Koffer pa- cher Wahlkampf? cken“), versuchte der Kandidat den Spagat zwi- schen konsensualem Regierungshandeln auf Beide Fragen blieben lange offen. Die SPD Grundlage der Vorschläge, die die SPD in die unterwarf sich der Setzung, dass angesichts der Entscheidungsprozesse der Regierung einbrach- größten Wirtschafts- und Finanzkrise Wahl- te, und eigenen Profilierungsgewinnen, ohne kampf, also zumindest eine Politik der kontrol- allerdings Konflikte dafür zu suchen. lierten Offensive in der Koalition, eigentlich nicht Dies alles wirkte nicht konsistent, weder nach möglich war. Daher wurde der Wahlkampfauf- innen noch nach außen. Nach außen stellte sich takt der SPD auch immer wieder verschoben. die Frage, welche Strategie die SPD eigentlich Hinzu kam, dass die frühzeitige Nominierung verfolge, nach innen wurde immer unklarer, wo des Kanzlerkandidaten weniger wahlkampfstra- denn eigentlich das Zentrum der sozialdemokra- tegisch induziert, als vielmehr der innerparteili- tischen Wahlkampfführung liege, im Auswärti- chen Entwicklung geschuldet war. Der massive gen Amt oder im Willy-Brandt-Haus und wie Autoritätsverfall des Parteivorsitzenden sollte beide miteinander synchronisiert werden könn- durch die Nominierung eines Kanzlerkandida- ten. Dies führte zu einer wahlkampfstrategischen ten überhaupt eine Autorität in der Partei er- Indifferenz im Regierungshandeln. Der Topos möglichen. Das Ergebnis war jedoch ein ande- hieß: Kein früher Wahlkampf, Handeln in der res. Der innerparteiliche Integrationskurs, den Regierung mit der Regierung, also Fortsetzung Kurt Beck begonnen hatte, endete mit dem Ab- der antagonistischen Kooperation. Das hieß, in treten von Kurt Beck. Und mit der Wiederberu- der Praxis trotz vieler sozialdemokratischer Vor- fung von Franz Müntefering kam zudem die stöße beim Thema Bankenrettungsschirm, beim Frage hinzu, wer denn die eigentliche Führungs- Thema Konjunkturprogramme letztlich doch Der endgültige Abschied von der Macht oder Der Wahlkampf der Illusionen 45

immer eine Politik und eine Strategie der Konf- tungssteuerung Münteferings hingegen (die liktvermeidung und der Konfliktreduktion. Das Negativbalken der CDU werden die Vasen un- hieß auch als Konsequenz, keine Thematisie- terhalb des Fernsehers treffen) zeigte, dass die rungsstrategie sozialdemokratischer Kernvorha- SPD von falschen Prämissen und von falschen ben jenseits des Regierungshandelns. Erwartungen im Hinblick auf die Europawahl Besonders deutlich wurde dies bei der Wirt- ausging. Das Ergebnis führte zu einer tiefen schafts- und Finanzkrise. Diese Krise wurde Schockstarre, zur Ungläubigkeit und zur Unfä- zunächst als Chance für die SPD gesehen, denn higkeit, sich aus dem Ergebnis strategisch zu mit der größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit lösen und anzuerkennen, dass nur eine Rich- Jahrzehnten stellten sich natürlich fundamentale tungskampagne mit Richtungsthemen und Rich- Fragen an eine liberale Wirtschafts- und Finanz- tungskontroversen ein Ausweg hätte bedeuten politik. Die Antworten, die im Kontext der Krise können. Aber genau dieses fand nicht statt. Es diskutiert wurden, waren alle potentiellen Ant- folgte vielmehr eine Kampagne der Indifferenz worten, die im sozialdemokratischen Portfolio zwischen Hoffnung, Bangen und Handeln auf- lagen. Die Krise wurde jedoch nicht jenseits des grund der Tagesaktualität. Dieser Eklektizismus Regierungshandelns, also jenseits von Konjunk- in der Wahlkampfführung führte dazu, dass turprogrammen und anderen Instrumenten zu ei- notwendige Symbole, eine notwendige Seman- ner gesellschaftspolitischen Diskussion gemacht. tik, notwendige thematische Akzentuierungen Vielmehr begnügte sich die SPD mit einer auf nicht stattfanden. Regierungshandeln ausgerichteten Instrumenten- Wahlkämpfe müssen zwei Fragen beantwor- debatte, in der Angela Merkel nachvollzog, was ten: die SPD vorschlug. Damit wurde eine wichtige Ressource für den Wahlkampf aufgegeben. Denn 1. Wofür – also für welche Werte, Themen, die grundsätzliche Thematisierung der Wirt- Machtperspektiven – wird ein Wahlkampf schafts- und Finanzkrise, das ‚Systemversagen geführt? des Kapitalismus‘, wurde nicht als eigene strate- 2. Wogegen – also gegen Angela Merkel CDU, gische Linie aufgerufen. Vielmehr wurde im Sin- FDP, gegen Steuersenkungen etc. – wird ein ne der Bilanz- und Dankbarkeits-Illusion daran Wahlkampf geführt? festgehalten, instrumentelle Regierungsprogram- me als sozialdemokratische Erfolge zu themati- Die SPD, so lautet die nüchterne Einschätzung, sieren. Dies waren aber niemals Erfolge der SPD konnte auf beide Fragen keine wirkliche Ant- allein, sie waren Erfolge der Koalition und am wort gegen. Damit fehlten der Wahlkampffüh- Ende der Kanzlerin. rung zentrale Elemente: ein Momentum, eine Die Europawahl bedeutete zudem einen tie- Dramaturgie und eine Richtung. Eine Partei, die fen Einschnitt und eine tiefe Verunsicherung in aber weder ein Momentum noch eine Drama- der Wahlkampf- und Phasenplanung der SPD. turgie oder eine Richtung verkörpert, ist schlicht Ein Wahlerfolg der SPD war bei den Wahl- hilflos und nicht mehr bewegungsfähig. kampfstrategen gesetzt, und die Erwartungssteu- erung setzte auf eine offensive Verkündung des 4 Die Strategie der Nicht-Strategie Wahlerfolgs. Man glaubte, das desaströse Wahl- ergebnis der SPD bei der zurückliegenden Eu- Die Strategieskepsis in der Sozialdemokratie ist ropawahl könne sich nur verbessern. Doch das tief ausgeprägt. Entscheidende Akteure glauben Ergebnis zeigte: selbst dieses Wahlergebnis nicht an die Strategiefähigkeit politischen Han- konnte noch unterschritten werden. Die Erwar- delns. Sie erleben in ihrem tagtäglichen Tun, 46 Matthias Machnig

der Vielzahl von Einzelterminen, von Einzelthe- wurde die SPD von der Wählerschaft schließlich men eigentlich nur eines: diese Addition unter- in die Opposition geschickt. schiedlichen Handelns ist eigentlich nicht stra- Rudolf Korte hat recht, wenn er schreibt: tegiezugänglich. Das führte und führt in der SPD Erst verliert man die Sprache, dann die Macht. zu der Strategie der Nicht-Strategie. Franz Die SPD hatte ihre Sprache, ihre Wertorientie- Müntefering hat dies wie folgt definiert: Strate- rung in der Regierung verloren und am Ende gie sei ‚Bewegungsfähigkeit in der Bewegung‘. einer solchen Entwicklung stand geradezu kon- Übersetzt könnte man sagen, ‚wir fahren auf sequenterweise der Machtverlust. Die französi- Sicht‘, ‚wir handeln tagesaktuell, aber wir ha- schen Sozialisten haben in einem Dokument ben keine strategische Grundausrichtung‘. Die- nach einer Wahlniederlage in den achtziger Jah- se Strategie der Nichtstrategie war nicht kon- ren Folgendes formuliert: „Wir sind angetreten, kurrenzfähig mit einer klaren Gegner-, Per- um die Gesellschaft zu verändern. Heute müs- sonalisierungs- und Lagerstrategie der Union. sen wir feststellen, die Gesellschaft hat uns ver- Insofern war der 27. September 2009 ein ehrli- ändert.“ Dies gilt auch für die SPD. ches Ergebnis. Nun muss ein Prozess der Neuorientierung Dafür war nicht nur die Strategie der Nicht- beginnen. Darauf gibt es keine schnellen Ant- strategie im Wahljahr 2009 verantwortlich. Über- worten. Dieser Prozess darf nicht taktisch, also geordnete Aspekte spielten eine ebenso gewich- an aktuellen und zukünftig möglichen Koalitio- tige Rolle. Elf Jahre Regierungsverantwortung nen, orientiert sein, sondern muss inhaltlich und produzieren Auflösungserscheinungen, Glaub- substantiell sein. Die SPD muss wieder ein La- würdigkeitsdefizite, Selbstzweifel. Und vor al- bor für Politik, Träger von Richtungsdebatten len Dingen hatte sich das Verhältnis von innen werden, sie muss darüber Deutungshoheit auf- und außen verkehrt. Die innerparteilichen und bauen, um von links die politische Mitte zu ver- in der Regierung getroffen Absprachen und ändern. Dazu ist eine Neuauflage der Mehrheits- Machtarchitekturen wurden wichtiger als das formel von Innovation und Gerechtigkeit die ent- Außen, also die Wahrnehmung von Verände- scheidende Voraussetzung. Das Alleinstellungs- rungsprozessen, Stimmungen und Glaubwür- merkmal der Sozialdemokratie – nämlich Öko- digkeitsproblemen. Die SPD stand nach elf Jah- nomie, Ökologie und sozialen Ausgleich als ren vor einem Wertedilemma, es wurde schlicht Grundorientierung moderner Gesellschaften zu nicht mehr geglaubt, dass sozialdemokratische begreifen – bleibt richtig. Daraus wieder ein mehr- Werte über Regierungshandeln von ihr umge- heitsfähiges Projekt zu machen, ist nun die Auf- setzt würden und vor einem Gestaltungsdilem- gabe. Die SPD muss zudem bereit sein, wieder ma, weil die Wahrnehmung vieler Wählerinnen Träger des Blochschen ‚Noch Nicht‘ zu werden. und Wähler auch angesichts der Wirtschafts- Eine politische Linke, die dies aufgibt, hat sich und Finanzkrise schlicht und ergreifend davon aufgegeben. Deutschland braucht jedoch eine geprägt waren, dass Politik an solchen Fragen starke Sozialdemokratie, und eine starke Sozial- ohnehin nichts ändern könne. Und dass diejeni- demokratie muss wieder in der Lage sein, das gen, die elf Jahre Zeit zum Regieren hatten, auch ‚Noch Nicht‘ mit sich zu verbinden. in vier weiteren Jahren nichts schaffen werden. Die SPD, das haben viele nicht verstanden, Matthias Machnig ist Thüringer Minister für war eigentlich bereits 2005 abgelöst worden. Wirtschaft, Arbeit und Technologie. Die SPD- Insofern war der Wahlkampf 2009 der zweite Wahlkämpfe 1998 und 2002 hat er u.a. als Bun- Schritt zum Machtverlust. 2005 wurde die Füh- desgeschäftsführer der Partei maßgeblich mit- rung, also die Kanzlermehrheit, verloren. 2009 gestaltet. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 47

Thomas Steg

Das Wahljahr als Rutschbahn

Die Kampagne der SPD zur Bundestagswahl der sozialen Gerechtigkeit inhaltlich auszufül- 2009 war offensichtlich als Etappen- oder Trep- len und als unverbrüchlichen Wert in der Wirt- penwahlkampf angelegt. Nach den Ereignissen schafts- und Finanzkrise offensiv zu besetzen. am Schwielowsee sollte es stufenweise voran- Die Partei verfügt bereits seit Jahren nicht gehen. Die Führungsfrage war geklärt, die Auf- mehr über eine sozialdemokratische Erzählung, gaben verteilt, die Europawahl würde die Wen- sie kann nicht überzeugend, verständlich und de bringen, die Landtagswahlen am 30. August begeisternd darlegen, wie eine gerechte und so- erschienen als Präludium für den Endspurt zur lidarische Erneuerung des Sozialstaates ausse- Bundestagswahl. hen und erfolgen kann. Sachzwang-Logik und Es ist anders gekommen. Es ging weder technokratische Verweise auf demografische bergauf noch voran. Seit dem Schwielowsee Trends ersetzen auf Dauer eben keinen gesell- befand sich die SPD auf einer Rutschbahn. Und schaftlichen Dialog. die Talfahrt beschleunigte sich nachgerade un- Die Politik und die Sprache der SPD schei- kontrolliert über das Ypsilanti-Desaster bei der nen vielen Wählern entrückt. Ihren Lebensall- Hessen-Wahl im Januar, die dramatisch geschei- tag, ihre Sorgen, aber auch ihre Hoffnungen terte Kandidatur von Gesine Schwan bei der sehen sie darin nicht mehr aufgehoben. Sie wen- Bundespräsidentenwahl im Mai, das Fanal der den sich enttäuscht ab, wählen gar nicht mehr Europawahl im Juni bis hin zu den Sieg-Nie- oder kunterbunt. derlagen im Saarland und in Thüringen im Au- Deswegen ist es auch ein gravierendes Miss- gust. verständnis zu glauben, der erbitterte Streit um Für die SPD hat sich mit der Bundestags- ‚Hartz IV‘ und ‚Rente mit 67‘ sei auf der Sa- wahl die Krise der politischen Repräsentation chebene zu gewinnen. Diese Themen sind des- noch einmal erheblich verschärft. Der Verlust wegen so aufgeladen, weil sie speziell für SPD- von gut zehn Millionen Wählern seit Regierungs- nahe Wählerschichten mit der Wahrnehmung antritt 1998 ist beispiellos. Monokausal lässt eigener Würde zu tun haben. In diesen Begrif- sich ein derartiger Niedergang nicht erklären. fen kulminiert das Gefühl einer symbolischen Strukturelle Fehlentwicklungen seit den 1980er Entwertung und Missachtung von Lebensläu- Jahren spielen ebenso eine Rolle wie aktuelle fen und Lebensleistungen. Oder wie die schwe- Fehlentscheidungen im Kampagnenjahr. dischen Sozialdemokraten nach ihrer Niederla- Was für die deutsche Politik insgesamt zu ge selbstkritisch feststellten: „We talked about konstatieren ist, nämlich eine besorgniserregende Sweden, not about Swedes.“ normative Unterdeckung von Politik, trifft die In diesem Zusammenhang scheint mir ein SPD allerdings mit besonderer Wucht. Es ist üblicherweise eher am Rande erwähnter Aspekt bezeichnender Ausdruck der sozialdemokrati- von erheblicher Relevanz zu sein. Die SPD be- schen Identitäts- und Orientierungskrise, dass nötigt einen neuen sozialen Gestus, der stim- die Partei nicht in der Lage war, den für das mig, wahrhaftig und glaubwürdig ist. Wie be- eigene Selbstverständnis und für die Mobilisie- deutsam der soziale Gestus ist, hat Deutsche rung der eigenen Klientel so zentralen Begriff Bank-Chef Ackermann nach seinem Victory- 48 Thomas Steg

Zeichen im Gerichtssaal ebenso schmerzhaft Gerhard Schröder während seiner gesamten erfahren wie sein Vorgänger Kopper nach der Kanzlerschaft verfolgt und geschadet. Und na- unseligen ‚Peanuts‘-Äußerung. türlich dürfen und sollen Minister Dienstwagen Gewiss gelten für Sozialdemokraten andere benutzen. Unter bestimmten Voraussetzungen Kriterien, aber das ändert an der Sache nichts auch im Urlaub. Dazu steht alles in einer Richt- und ist in den Konsequenzen vielleicht noch linie. Aber eine unbedacht-trotzige Aussage wie gravierender. „Das steht mir doch zu“ stößt bei den Men- Der soziale Gestus zeigt sich im öffentli- schen bitter auf und schadet der sozialdemokra- chen Auftritt, in der Art der Präsentation und tischen Person und der Partei. Denn Vertrauen Inszenierung, in der Sprache, ja auch und ge- und Glaubwürdigkeit begründet eine Partei nun rade im Privatleben, wenn es durch ‚Homesto- einmal über ihre Repräsentanten und ganz ries‘ öffentlich gemacht wird. Um es zu illus- besonders über ihr Führungspersonal. trieren: natürlich sollen und müssen Bundes- kanzler gut gekleidet sein, wird von ihnen nicht Dr. Thomas Steg ist Journalist und ehemali- erwartet, dass sie bei C&A ‚von der Stange‘ ger stellvertretender Sprecher der Bundesregie- kaufen. Aber die Fotos im Brioni-Mantel haben rung. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 49

Olaf Scholz

Politik statt Schach

Wir werden über eine längere Zeit mit einem zusammenfinden. Das passiert allerdings nicht Parteiensystem konfrontiert sein, in dem fünf quasi natürlich, sondern bestenfalls auf der Ba- Parteien eine Rolle spielen. Damit muss sich sis übereinstimmender inhaltlicher Positionen. jeder auseinandersetzen, der sich der Frage nä- Eine politische Strategie, die die (künstliche) hert, ob es sinnvoll ist, ein Lager zu bilden oder Geschlossenheit des politischen Lagers zur Vo- lagerübergreifend Mehrheiten zu suchen. raussetzung hat, ist ohnehin zum Scheitern ver- Es gibt keine generell richtige Antwort auf urteilt. Ein Lager ‚an sich‘ ist noch lange kein die Frage ‚Linkes Lager oder lagerübergreifen- Lager ‚für sich‘. de Strategie?‘ Und es wäre höchst unpolitisch, Übereinstimmende Positionen können nur wenn in allen Tageszeitungen, in allen wissen- entstehen, wenn man die Koalitions- und Kon- schaftlichen Publikationen, in allen Äußerun- stellationsfrage in den Hintergrund drängt und gen die Debatte über Koalitionskonstellationen die Frage ‚Was wollen wir eigentlich?‘ in den an die Stelle der Debatte über Inhalte träte. Das Vordergrund stellt. Darüber beantwortet sich ähnelte mehr einem Schachspiel als der Politik. letztlich ganz praktisch die Frage, ob in der Es ist auch nicht ratsam, die Fiktion eines Kommune, ob im Land, oder auch im Bund sogenannten ‚bürgerlichen Lagers‘ stillschwei- eine Koalition mit der Partei Die Linke möglich gend in die eigene Strategie zu übernehmen. ist. Wenn diese Partei Ziele verfolgt, auf die Denn damit akzeptierte man auch die grund- man sich nicht verständigen kann, hilft eine ab- sätzlich falsche Annahme, dass die einen das strakte Koalitionsdebatte ohnehin nicht weiter. Bürgertum sind und die anderen nicht. Und man Dann ist eine Zusammenarbeit nicht möglich. übersähe, dass die Parteien dieses Lagers zwar Wählerinnen und Wähler müssen heute ein- gerne zusammenarbeiten, beide aber im Zwei- kalkulieren, dass es nach der Wahl zu Regie- felsfall auch Koalitionen mit der SPD oder den rungsbildungen kommt, mit denen sie nicht ge- Grünen eingehen würden und werden. rechnet haben. Das geht in einem System mit Und es macht keinen Sinn, dass die fünf fünf Parteien oft gar nicht anders. Deshalb wird Parteien Beschlüsse darüber fassen, mit wel- es immer wichtiger, dass es auf die Frage ‚Was cher der anderen vier man keine Regierung zu wollen die Parteien und worauf kann ich mich bilden bereit ist. Zumal fast alle Koalitionen, die bei ihnen verlassen?‘ eine klare Antwort gibt. da gelegentlich ausgeschlossen werden sollen, Wenn ein Koalitionsvertrag geschlossen wird, irgendwo in Deutschland schon heute existie- dann müssen die unvermeidbaren Kompromis- ren oder schon mal existiert haben: große Koa- se, die dabei gemacht werden, vor dem Hinter- litionen, sozial-liberale Koalitionen, rot-rote grund des im Wahlkampf Gesagten nachvoll- Koalitionen, schwarz-gelbe Koalition, Jamai- ziehbar sein. ka-Koalitionen Es darf nicht zu Volten kommen, die nur Natürlich ist es möglich, dass Parteien der dadurch erklärbar wären, dass es den beteilig- politischen Linken – die SPD, die Grünen, die ten Politikern völlig egal ist, wofür sie politisch Partei Die Linke – sich sowohl politisch inhalt- antreten. Eine solche Entwicklung könnte zu lich als auch nach Mandaten zu einer Mehrheit einer großen Legitimationskrise der deutschen 50 Olaf Scholz

Demokratie führen. Deshalb müssen sich die sichten. Gelassenheit im Umgang mit Koaliti- Bürger auf das inhaltliche Anliegen der Partei- onsfragen ist die Voraussetzung dafür, dass man en besser verlassen können als in der Vergan- politisch inhaltlich in den Fragestellungen vor- genheit. ankommt, die eine Alternative zum schwarz- In dem Fünf-Parteien-System müssen die gelben Regieren ermöglichen. Parteien politische Vorstellungen entwickeln, die Eine linke Mehrheit bei der Regierungsbil- sie hinterher auch nachhaltig, erkennbar und dung setzt in jedem Falle voraus, dass es eine nachvollziehbar verfolgen. Erst auf dieser Ba- starke SPD gibt. Damit ist eine große Aufgabe sis kann man verstehen, warum welche Kom- für die SPD verbunden. Die Sozialdemokrati- promisse geschlossen werden, wenn Koali- sche Partei wird sich mit ihren elf Regierungs- tionen gebildet werden. Die inhaltlichen, strate- jahren auseinandersetzen müssen. Deutschland gischen und politischen Orientierungen der ist moderner, sozialer und liberaler geworden. Parteien und ihre Unterschiede müssen eine grö- Aber wer so ein Wahlergebnis bekommt, kann ßere Bedeutung bekommen als die Diskussio- nicht behaupten, alles richtig gemacht zu haben. nen über Koalitionsarithmetik und Koalitions- Das wird einer sehr sorgfältigen Analyse be- technik. dürfen. Einige grundsätzliche Überlegungen Es geht darum, über Politik zu reden und dazu: nicht so sehr darüber, wie man mit taktischen Die SPD ist die älteste demokratische Partei Erwägungen durchkommt. Letzteres sorgt nur des Landes und hat deshalb Anknüpfungspunkte für Verdruss. Auslösen lässt sich eine echte ge- zu allen anderen liberalen Parteien. Das sind sellschaftliche Debatte nur über politische Ab- neben der SPD sicher die Grünen und die FDP. Politik statt Schach 51

Die SPD ist mit der Entwicklung der heutigen, reagieren, dass der Sozialstaat in Deutschland kapitalistischen Wirtschaftsverfassung als Par- wieder funktioniert und in der Krise handlungs- tei der Arbeitnehmer entstanden. Sie wird schon fähig gewesen ist. Aber wir konnten nicht immer deshalb immer eine Partei sein, die für das Funk- auch sicherstellen, dass jeder Einzelne für sich tionieren von Wirtschaft sensibel ist, weil das und seinesgleichen die Antwort geben kann: für die Überlebens- und Existenzbedingungen ‚Für mich selber geht das, wenn ich mir Mühe der von ihr vertretenen Bevölkerungsgruppe gebe, auch gut.‘ eine wesentliche Rolle spielt. Das hat zur Fol- Mit dem Mindestlohn hat die SPD ein sol- ge, dass die SPD auch immer Anknüpfungs- ches Thema aufgegriffen, entwickelt und mehr- punkte zu den pragmatischen Teilen der politi- heitsfähig gemacht, das auf diese Frage eine schen Mitte-Rechts-Konstellation in Deutsch- Antwort geben kann: Sozialdemokraten setzen land hat und mit ihnen regieren kann, wenn ge- sich damit dafür ein, dass jeder, der arbeiten meinsame Erkenntnisse und Einsichten darüber geht und sich anstrengt, davon auch seinen Le- existieren, wie der Wohlstand in unserem Land bensunterhalt bestreiten kann. Das ist ein zutiefst für alle verteidigt und gemehrt werden kann. sozialdemokratisches Thema. Aber das war nicht Die SPD ist eine soziale Partei, von Anfang genug. an eine Partei der Emanzipation und der Bil- Wir müssen die konkreten Alltagsfragen mit dung. Darüber hat sie Anknüpfungspunkte den Sozialstaatsreformen zusammenbringen, die selbstverständlich zu den Grünen und in be- wir auf den Weg gebracht haben. Es geht dar- stimmten Fragestellungen auch zur Partei Die um, im sozialdemokratischen Sinne den Satz zu Linke. Daneben sind weitere Fragestellungen sprechen: ‚Leistung muss sich lohnen.‘ Aber wichtig: Umwelt, Freiheit oder das Zusammen- nicht übersetzt als Absenkung des Spitzensteu- leben von Menschen. Diese sind keine Allein- ersatzes, sondern als eine reale Beantwortung stellungsmerkmale der SPD. Aber sie gehören von Fragestellungen des normalen Lebens. An- zu den Traditionslinien der Sozialdemokrati- strengung muss sich auszahlen. Das ist die zen- schen Partei und machen sie verknüpfungsfä- trale Herausforderung, der wir uns stellen müs- hig mit anderen. sen. Die SPD wird bestimmen müssen, was das Das unterscheidet die SPD von anderen Par- ihr Eigene ist. Dazu muss sie vor allem eine teien. Die Partei Die Linke beispielsweise hat in Antwort auf Fragen geben ‚Wie komme ich diesem Themenfeld sicherlich viele Überschnei- zurecht im Leben?‘ ‚Kann ich mein Leben ver- dungen mit der SPD. Im Kern aber ist ihre po- bessern, wenn ich mir Mühe gebe und mich litische Perspektive eher darauf ausgerichtet, wie anstrenge?‘ Diejenigen, die sich an der SPD man auch ohne die Anstrengung, die mit Arbeit orientieren, erwarten eine Antwort darauf, wie verbunden ist, zurechtkommen kann. Union und das in ihrem Leben funktionieren kann. Das FDP wiederum sehen es in Teilen gar nicht als beginnt bei der Bildung und geht über das Ar- politische Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass es beitsleben bis hin zu einer auskömmlichen Ren- immer für jeden auch gut ausgeht, wenn einer te. sich Mühe gibt. Bei den fehlenden Antworten auf diese Fra- Die Werte und Gerechtigkeitsstellungen, die gen sind wahrscheinlich die Ursachen für den sich aus der Arbeit ergeben, sind das Eigene der großen Vertrauensverlust der SPD in den letz- SPD. ten elf Jahren zu suchen: Es ist uns gelungen, auf die systemischen Schocks von Globalisie- Olaf Scholz ist Stellvertretender Vorsitzen- rung und demographischer Entwicklung so zu der der SPD-Bundestagsfraktion. 52 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Michael H. Spreng

Der Wahlkampfvermeidungswahlkampf Eine Analyse der CDU-Wahlstrategie 2009

Noch nie habe ich mich so schwer getan, den nen, und schloss jeden Konfrontationsansatz Wahlkampf der CDU/CSU zu analysieren wie aus (Stichworte: Kündigungsschutz nicht an- 2009. Schon das Wort Kampf zu verwenden tasten, schon beschlossene Mindestlöhne um- fällt mir schwer. Die Gründe: (1) Die CDU führ- setzen, betriebliche Mitbestimmung nicht in Fra- te keinen Wahlkampf im klassischen Sinne. Es ge stellen). Deshalb ‚räumte‘ sie auch das The- war ein Wahlkampfvermeidungswahlkampf. ma Opel ab. Ebenso rückte sie von keinem ein- Weder wurde der politische Gegner (die SPD) zigen ‚sozialdemokratischen‘ Beschluss der angegriffen, noch wurden eigene Ziele offensiv Großen Koalition ab. Selbst einen späten und herausgestellt. (2) Das einzige Wahlversprechen, halbherzigen Vorstoß ihres Herausforderers Steuersenkungen (Stichwort: kalte Progressi- Frank-Walter Steinmeier in Sachen Afghanis- on), wurde defensiv vorgetragen (weder wur- tan-Rückzug (lange Zeit ein Angstthema der den Termine noch Steuersätze genannt und alles Union wegen der Erfahrungen mit dem Irak- wurde unter haushaltspolitischem Vorbehalt ge- Wahlkampf Gerhard Schröders 2002) neutrali- stellt). Ursprünglich wollte Angela Merkel das sierte sie sofort, indem auch sie die Entwick- Thema Steuersenkung gar nicht aufgreifen. Es lung eines Ausstiegsszenarios forderte. Oder wurde dann der einzige Punkt, bei dem sie ge- sie beantwortete Steinmeiers Deutschlandplan genüber der CSU und auch dem Partei eigenen sofort mit dem Hinweis, auch sie wolle Vollbe- Wirtschaftsflügel Konzessionen machen muss- schäftigung. te. Jeder Versuch der SPD, sie in die Konfron- Merkels Ziele im Wahlkampf waren: tation zu zwingen oder die Agenda zu bestim- men, perlte an ihrer stoischen Ruhe und Ner- • keine Polarisierung venstärke ab. Sie ließ sich auch durch den ag- • keine Konfrontation gressiven Europa-Wahlkampf der SPD nicht aus • Demobilisierung der SPD-Anhänger der Ruhe bringen. Es war ein Hase- und Igel- Wahlkampf: Igel Merkel war immer schon am Bundeskanzlerin Merkel ging davon aus, dass Ziel. die Wähler in der größten Finanz- und Wirt- Angela Merkel lehnte es ebenfalls ab, einen schaftskrise der Nachkriegszeit keinen Partei- Lager-Wahlkampf zu führen. Ihre Befürwor- enstreit, seriöses Weiteregieren der großen Ko- tung von Schwarz-Gelb war immer verhalten, alition bis zum Wahltag (Stichwort: Pflicht tun) ohne Begeisterung formuliert – und ohne diese und Kooperation statt Konfrontation wollten. Konstellation als Projekt oder Zeitenwende zu überhöhen. Immer blieb die Hintertür zur gro- ßen Koalition offen. Sie nahm der SPD nicht 1 Hase- und Igel-Wahlkampf nur die Themen weg, sondern Außenminister Angela Merkel verweigerte mit bemerkenswer- Steinmeier zunehmend auch die außenpolitische ter Konsequenz Kritik am Koalitionspartner und Bühne (G 8-Gipfel, G 20-Gipfel, Barack Oba- seinen Führungsfiguren, eigene Wahlkampfthe- mas Besuch in Dresden) – aber immer freund- men, die zur Polarisierung hätten führen kön- lich im Umgang. Stattdessen pflegte sie osten- Der Wahlkampfvermeidungswahlkampf 53

tativ ihre Beziehung zu Finanzminister Peer • TV-Spot: Die Kanzlerin schaut von ihrem Steinbrück und demonstrierte mit ihm die Hand- Arbeitsplatz aus nachdenklich auf ihr Land, lungsfähigkeit der Großen Koalition. Dies war so die einzige Botschaft. ungefährlich, denn Steinbrück stand nicht zur • Im TV-Duell agierte Merkel ganz zurückge- Wahl und war in der SPD zunehmend isoliert. nommen, freundlich, die gemeinsame Arbeit Dies führte zwar zu Murren in der CDU, in der großen Koalition lobend. Sie hielt die- zu mehr aber auch nicht. Noch im Mai zog se Strategie konsequent durch – auch nach Ronald Pofalla durch die CDU-Regionalkon- dem Duell, als Steinmeier von den Medien ferenzen ohne konkrete Wahlstrategie, ohne zum Punktsieger ausgerufen wurde. konkrete Themen, nur mit einem ohne Inhalt gefüllten Terminplan. Die CDU-Leute zogen In den letzten 14 Tagen bestimmte nur noch zwar ratlos von dannen, hofften aber irgend- Angela Merkel das öffentliche Erscheinungs- wie, die Kanzlerin wisse schon, was sie tue. bild. Die Plakate: ‚Für ein neues Miteinander‘ Gelegentliche kritische Wortmeldungen igno- und ‚Klug aus der Krise‘ und völlig inhaltsent- rierte sie. Lediglich auf die CSU-Kampagne leert ‚Kanzlerin‘. Plakate mit anderen Kabinetts- für zeitlich festgelegte Steuersenkungen rea- mitgliedern zuvor waren eine reine Pflichtübung gierte sie halbherzig, aber ohne Termin. Sie für die Partei. Die Schlussphase des Wahlkamp- wusste, angeschlagene Politiker wie Horst fes war eine Abwandlung von ‚Auf den Kanz- Seehofer können gefährlich werden, also muss ler kommt es an‘. Kurz gesagt: totale Personali- man sie ruhigstellen. sierung, keine CDU-Mitspieler wurden neben Merkel herausgestellt, es gab keinen Mann fürs Grobe (keinen Polarisierer). 2 Auf Samtpfoten an die Macht Nur Karl Theodor zu Guttenberg spielte Dieser Wahlkampfvermeidungswahlkampf – beim Plakatieren und bei Kundgebungen noch schon 2002 gab Merkel Edmund Stoiber den eine Rolle (bei ihm gab es echte Begeisterung, Rat „auf Samtpfoten an die Macht“ zu gelan- zum Teil mit bis mit zu 2500 Besuchern auf gen, außerdem zog sie ihre Lehren aus dem Nachmittagsveranstaltungen), aber er hatte kei- beinahe gescheiterten, eher konfrontativen, neo- ne Bedeutung für das Gesamtergebnis. Die liberalen Wahlkampf 2005 – schlug sich konse- Wähler glaubten nicht, dass er Einfluss auf den quent in Claims, Plakaten, im TV-Spot nieder. Kurs der Kanzlerin hat; etwa durch seine andere Alles blieb niedrigschwellig, zurückhaltend, Position bei der Lösung der Opel-Krise. Des- nicht polarisierend: halb konnte auch zu Guttenberg nicht die von • ‚Wir haben die Kraft‘ (ein bisschen nationa- Merkel billigend in Kauf genommene größte Blut- le Farbe als Unterton von ‚Wir‘ gehörte spende-Aktion in der Geschichte der CDU zu- dazu). Als einzige Partei plakatierte die CDU gunsten der FDP stoppen (wirtschaftsorientierte konsequent denselben Claim bei der Euro- Wähler, Mittelstand, Gegner der großen Koaliti- pa- und der Bundestagswahl. (Die einzige on). Wirtschaftsorientierte Wähler mögen zu Panne: Das Plakat mit dem Slogan ‚Für eine Guttenberg zwar, hielten ihn aber offenbar nicht soziale Marktwirtschaft, die menschlich ist‘ für relevant für den Kurs der Kanzlerin. – ein klassischer weißer Schimmel). Angela Merkel wusste: besser mit einem • Es gab keinen Wahlparteitag. Das hätte die schlechten CDU-Ergebnis in eine schwarz-gel- Strategie nur gestört, erwarten doch die De- be als mit einem besseren wieder in die große legierten auf einem Wahlparteitag Kampf und Koalition. So gab es mehr Beifall am Wahl- Polarisierung. abend im Konrad-Adenauer-Haus für das FDP- 54 Michael H. Spreng

als für das CDU-Ergebnis. Die Partei erwartete Kohl: sie hat keine Orientierung, keine Vision, von ihr Schwarz-Gelb, alles andere wäre als es gibt keinen intellektuellen Diskurs. Kurzum: Wahlniederlage gewertet worden. Hätte dies Die CDU ist wieder ein reiner Kanzlerwahl- nicht geklappt, wäre ihr Parteivorsitz massiv verein. infrage gestellt worden. Die Frage nach einer An den Personalentscheidungen ist die Er- Ämtertrennung von Kanzlerin und CDU-Vor- starrung ablesbar: wurde wieder sitz wäre laut diskutiert worden. Christian Wulff Fraktionschef (statt des unabhängigeren Kop- hatte sich für diese Situation schon durch die fes Norbert Röttgen, der es gerne geworden Ämtertrennung in Niedersachsen positioniert. wäre und für den sich etwa Jürgen Rüttgers Und so siegte Merkel – mit dem schlechtes- eingesetzt hatte). Mit Ronald Pofalla als Kanz- ten CDU-Ergebnis seit 1949 und mit 4,7 Punk- leramtschef und einem erneut pflegeleichten ten weniger als Stoiber 2002. Generalsekretär erreicht das System Merkel eine neue Entwicklungsspirale. Sie will keine star- ken Mitspieler installieren, die ihr einmal ge- 3 Kanzlerwahlverein fährlich werden könnten. Angela Merkel ist jetzt Unterhalb der wahrnehmbaren Schwelle wird allein zu Haus – aber sie hat ja auch allein die über das schlechte Wahlergebnis der Union in Wahl gewonnen. der Partei durchaus heftig diskutiert, aber erst Bundeskanzlerin Merkel hat viel von Hel- einmal zählte nur der Sieg des sogenannten ‚bür- mut Kohl gelernt, aber leider die Phase des frü- gerlichen Lagers‘. Ob die Kritik offen ausbricht, hen, souveränen Kohl, der sich mit kritischen darüber entscheiden die Ergebnisse künftiger Geistern und Vordenkern wie Kurt Biedenkopf, Landtagswahlen, vor allem in Nordrhein-West- Heiner Geißler, Roman Herzog, Bernhard Vo- falen im Frühjahr 2010. gel, Richard von Weizsäcker umgab, übersprun- Angela Merkel hat wenig mächtige inner- gen. Merkel sieht das ganz mechanistisch: erst parteiliche Gegner: Roland Koch ist kaum noch hat sie die SPD kleingekriegt (was aber auch halb so bedeutend wie früher, Jürgen Rüttgers nur mit massiver Mithilfe der SPD gelang), jetzt muss erst einmal seine Wahl in NRW gewin- ist die FDP dran. Die Entzauberung der FDP nen, Christian Wulff steht mittelfristig vor der hat schon begonnen. Aber warum sollen die Abwanderung in die Wirtschaft, weil seine à- von der FDP enttäuschten Wähler wieder zur la-baisse-Spekulation bei der Bundestagswahl CDU zurückspringen? Das könnte auch die gescheitert ist). Die CSU unter Horst Seehofer Stunde der Grünen werden – oder auch einer ist de facto nur noch ein Landesverband der erneuerten, offeneren SPD. CDU. Man mag die Merkel-Strategie für genial Die Folgen der Merkel-Politik der vergan- halten, das ist sie aber nur mit Blick auf den genen vier Jahre und des Wahlkampfes sind für Wahlabend 2009. In der CDU hält sich hartnä- die CDU als Partei allerdings fatal: So ging die ckig das Gerücht, sie habe ihre Kanzlerschaft CDU in die Koalitionsverhandlungen ohne ei- nur auf zwei Legislaturperioden angelegt. Wenn genes Projekt, ohne eigene Idee, nur als Verhin- es so wäre: Sie wird wissen, warum. derer von FDP-Forderungen. Die Schubladen der CDU waren inhaltsleer. Michael H. Spreng ist Medien- und Kom- Innerparteilich ist die CDU nach vier Jah- munikationsberater und war 2002 Wahlkampf- ren Merkel schon erstarrt wie nach 16 Jahren manager von Edmund Stoiber. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 55

Dietmar Bartsch

DIE LINKE im Fünfparteiensystem

Mit der Bundestagswahl am 27. September dung an Union und LINKEN fest. DIE LINKE 2009 ist eine vierjährige Umbruchphase im bun- steht damit im Osten Deutschlands erstmals vor desdeutschen Parteiensystem zu Ende gegan- der Aufgabe, einen Politik- und Richtungswech- gen. Die Wählerinnen und Wähler bestätigten sel herbeiführen zu müssen. Wie unübersicht- den Übergang vom Vier- zum Fünfparteiensys- lich dieses politische Neuland für alle beteilig- tem in der Bundespolitik. ten Parteien ist, zeigen die Ereignisse um die DIE LINKE ist im zurückliegenden Wahl- gescheiterte rot-rot-grüne Mehrheitsbildung im zyklus 2007-2009 zu einer festen Größe auch Thüringer Landtag. im westdeutschen parlamentarischen System Die neue Sozialdemokratie hat in den ver- geworden. Bei der Bundestagswahl erreichte gangenen vier Jahren totalen Schiffbruch erlit- sie in den westdeutschen Bundesländern von ten. Von Schröder, Steinmeier und Müntefe- 6,5 Prozent in Bayern über 8,4 Prozent in Nord- ring auf angeblichen Modernisierungskurs rhein-Westfalen bis zu 21,2 Prozent im Saar- gegen große Teile der eigenen Wählerschaft, land. Mit Ausnahme Bayerns schaffte sie bei ihre sozialen Interessen und ihre gesellschafts- jeder Landtagswahl seit 2007 den Sprung in politischen Einstellungen getrimmt, erwies sich den Landtag, zuletzt mit 6,0 Prozent in Schles- der Tanker als weitgehend manövrierunfähig. wig-Holstein. Bei der Bundestagswahl 2005 Erreichte die Partei zwischen dem Hamburger erhielt die Linkspartei.PDS von 4,1 Millionen Parteitag 2007 und den Hessen-Wahlen im Ja- Wählerinnen und Wählern einen hohen politi- nuar 2008 ansatzweise und kurzfristig wieder schen Kredit auf die Ankündigung, zusammen Kampagnen- und Mobilisierungsfähigkeit, so mit der WASG, zusammen mit Oskar Lafontai- ging diese in den fehlenden Machtoptionen und ne und eine neue Partei links von der Absetzung Becks schnell wieder verloren. der ‚neuen Sozialdemokratie‘ Gerhard Schrö- Bei der Bundestagswahl fehlte es der SPD an ders und Franz Münteferings zu gründen. Vier jeglicher machtpolitischen Perspektive für eine Jahre später betrachteten nunmehr deutlich über Kanzlerschaft Steinmeiers. Der Kampf mit 5,1 Millionen Wählerinnen und Wähler dieses Guido Westerwelle um den Platz an der Seite Versprechen als eingelöst und erklärten diese von Angela Merkel war für Millionen sozial- linke Kraft im Deutschen Bundestag für unver- demokratischer Anhänger kein Grund, wählen zichtbar. Die über eine Million zusätzlichen Stim- zu gehen. Erreichte die SPD 1949 die Stim- men kamen sämtlich aus den westdeutschen men von 22,2 Prozent aller Wahlberechtigten, Ländern. so waren es 2009 nur noch 16,1 Prozent. Un- In Ostdeutschland eroberte DIE LINKE term Strich verlor die Partei 2,1 Millionen Stim- erstmals außerhalb Berlins Direktmandate und men an Nichtwähler, 1,4 Millionen an Union lieferte sich vielerorts ein Kopf-an-Kopf-Ren- und FDP, 1,1 Millionen an DIE LINKE und nen mit der CDU. Mit Ausnahme knapp 0,9 Millionen an die Grünen – sie hat in landete die SPD teilweise überdeutlich hinter alle Richtungen verloren, das stärkste Signal der LINKEN. Offensichtlich machten die Wäh- geht dabei von den Verlusten an die Nichtwäh- lerinnen und Wähler eine Richtungsentschei- ler aus. 56 Dietmar Bartsch

Die um rund sieben Prozentpunkte deutlich schwarzgelbe Mehrheit im Bundestag. Doch gesunkene Wahlbeteiligung trägt einen erkenn- noch nie gab es in der Bundesrepublik eine Re- bar klassenspezifischen Charakter. Insbeson- gierung auf so schwachen Füßen in der Gesell- dere Arbeiter, Arbeitslose und Personen mit nied- schaft. Die Stimmenanteile für die rot-rot-grü- rigem formalen Bildungsgrad machen den Zu- nen Parteien sanken zwar von 51,4 Prozent in wachs bei den Nichtwählern aus. Vor allem in 2005 auf 45,6 Prozent, doch Union und FDP Regionen und Vierteln mit hohen Arbeitslosen- blieben mit 48,4 Prozent unter der 50-Prozent- quoten und hohen SGBII-Transferquoten, also Linie. Dass Zweifel an der Stärke der schwarz- Armuts- und Prekariats-Zonen, wächst die gelben Regierung berechtigt sind, zeigt eine an- Nichtwählerschaft überdurchschnittlich. Damit dere Zahl noch einprägsamer: Lediglich ein Drit- bleiben gerade diejenigen sozialen Gruppen und tel der Wahlberechtigten steht mit seiner Stim- Schichten, die für eine soziale Reformpolitik me hinter dieser Regierung. Sie verdankt ihre unverzichtbar sind, über die Maßen dem demo- Stärke nicht eigener politischer Substanz, son- kratischen Beteiligungsprozess fern. Hier liegt dern der Schwäche ihrer Gegner, namentlich die zentrale strategische Herausforderung in den der SPD. Der Koalitionsvertrag wird nicht von kommenden Jahren. einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung Die Phase des parteipolitischen Umbruchs getragen. endete nicht mit einer neuen Phase der Über- Die schwarzgelben Koalitionsparteien wer- sichtlichkeit und Stabilität. Zweifellos, die seit den in den kommenden vier Jahren um ihre 1998 manifeste ‚linke Mehrheit‘ in der Bundes- strukturelle Mehrheitsfähigkeit ringen. Ob der politik existiert nicht mehr. Wenn sie zuletzt auch Republik eine Dekade stabiler schwarzgelber nicht mehr als politisch, sondern nur noch als Mehrheiten bevorsteht, entscheiden vermutlich rechnerische Mehrheit von SPD, LINKEN und die neuen Nichtwähler des Jahres 2009: Sind Grünen existierte, so ist in den kommenden vier sie in den kommenden vier Jahren wieder für Jahren nicht einmal mehr eine andere Mehrheit den politisch-repräsentativen Beteiligungspro- denk- und androhbar. Zu deutlich ist die zess zu gewinnen oder verfestigt sich die Ten- DIE LINKE im Fünfparteiensystem 57

denz, dass eher höher gebildete und besser inte- winden. Ob diese Neuaufstellung rechtzeitig vor grierte Schichten die politischen Mehrheiten dem Wahljahr 2013 gelingt, dürfte mehr von ‚unter sich‘ ausmachen? glücklichen Umständen als vom Geschick der Die nun in der Opposition vereinten rot-rot- sozialdemokratischen Führung abhängen. Nach grünen Parteien bilden nicht per se ein der Re- dem Regierungsverlust 1982 dauerte es immer- gierung gegenüberstehendes Lager, welches um hin mehr als eine Legislaturperiode, bis die SPD die Mehrheit 2013 ringt. Die Fragen, wie Stim- wieder ernsthaft gegen den Unionskanzler an- men zu mehren, Einfluss zu vergrößern, Macht treten konnte. Einerseits ist der sozialdemokra- zu erobern und zu behaupten sind, entscheiden tische Zustand heute wesentlich desolater, sich nicht mehr in den Kategorien politischer andererseits die schwarzgelbe Regierung Lagerbildung. Die Stärke der Union liegt darin, schwächer verankert. dass sie sowohl mit der FDP als auch mit der DIE LINKE sieht sich durch das Wahler- SPD oder den Grünen Mehrheiten bilden kann. gebnis bundespolitisch vor neue Aufgaben ge- Merkels Kanzlerschaft ist mit wechselnden Part- stellt. Die neuen parlamentarischen Mehrheiten nern möglich und allein aus der Union selbst verringern die Aussichten, erfolgreich politi- heraus bedroht. Daher unterscheidet sich Mer- schen Druck auszuüben. Gleichzeitig wachsen kels Politikstil, der darauf bedacht ist, jegliche aber die Aussichten, auf bestimmten politischen Gefahr der Gegenmobilisierung klein zu halten, Feldern, etwa der Verteilungsgerechtigkeit und so sehr von den politischen Zuspitzungen der der Friedenspolitik, die politische Meinungs- FDP. Ihr politisches Geschäft ist die Lagerbil- führerschaft in der Opposition zu behaupten. dung, denn allein die überwölbende prägende Denn die Erwartungen der Mehrheit der Bevöl- Kraft des Bildes von einem ‚bürgerlichen‘ La- kerung haben sich am Wahltag nicht geändert, ger verschafft ihr die besten Aussichten, der Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Sozial- bevorzugte Partner der Union zu bleiben. Um- staats, der Verteilungspolitik und der Friedens- gekehrt haben sich die Grünen aus der strategi- politik stehen weiterhin ganz oben. Gerade auf schen Gefangenschaft einer schwächelnden diesen Feldern wird die SPD noch längere Zeit SPD mit den Regierungsbildungen in Hamburg die Frage beantworten müssen, warum sie das, und im Saarland befreit. Ihre Zukunft könnte was sie nun fordert, nicht während ihrer elfjäh- nicht die Einbindung in ein politisches Lager, rigen Regierungstätigkeit umgesetzt hat. Al- sondern das Handeln mit verschiedenen Part- lerdings ändern diese Aussichten nichts an der nern um den größtmöglichen Ertrag sein. strategischen machtpolitischen Schwäche der Will die SPD jemals wieder stärkste Partei, LINKEN: Wer auf nur einen (oder zwei) Part- also Kanzlerpartei werden – und ohne diesen ner angewiesen ist, um eigene Positionen um- Anspruch wird man auch als zweitstärkste Par- zusetzen, der hat schwächere Verhandlungspo- tei keine Mehrheit führen –, muss sie sich in sitionen als derjenige, der zwischen verschie- Konkurrenz mit der Union in den Kampf um denen Optionen wählen kann. Vielleicht ist es die politische Mitte begeben, wobei ‚politische möglich, dass DIE LINKE noch einmal ein paar Mitte‘ nicht als soziologische Größe verstan- Prozente zulegt, doch bleibt es bei der parado- den werden darf, sondern als mehrheitsfähiger xen Situation, dass sie für eine Mehrheitsbil- Blick auf die Gesellschaft, ihren Zustand und dung auf eine wieder erstarkende Sozialdemo- ihre Entwicklungsrichtung. Gleichzeitig wird sie kratie angewiesen zu sein scheint. Wenn es ein mit der LINKEN auch im Westen politische linkes Regierungsbündnis in Deutschland ge- Mehrheiten bilden müssen, um ihre machtpoli- ben soll, dann wird es nur möglich sein, wenn tische Schwäche des Wahljahres 2009 zu über- die SPD ihre neue Wählerschaft von 1998, die 58 Dietmar Bartsch

zwischen den ‚Lagern‘ wandert, zurückholt und Agenda zurückgeholt, um gesellschaftspoliti- an sich bindet. Koalitionspolitisch ähnelt die sche Richtungsentscheidungen einfordern zu Situation der LINKEN derjenigen der FDP. DIE können. LINKE muss sich als entschiedene Protagonis- Chancengerechtigkeit und Verteilungsge- tin eines fortschrittlichen sozialen Reforman- rechtigkeit wieder zusammenzubringen könn- spruchs behaupten. Auf der Politikachse von te ein Grundanliegen des Kampfes um eine Markt und Staat ist sie die Gegenspielerin der linke Reformmehrheit sein, deren Parteien sich FDP. Den Regulationsprinzipien Leistung, nicht gegenseitig um Wählerstimmen kanniba- Markt, Eigenverantwortung stellt sie Gleich- lisieren. Gleichheit, Teilhabe, Reichweite der heit, Demokratie gesellschaftliche Verantwor- Demokratie könnten zentrale Bezugspunkte tung entgegen. fortschrittlicher Reformen sein: die Anerken- Um die schwarzgelbe Regierung durch eine nung der gleichen Rechte, der nicht nur sozia- linke Reformregierung abzulösen – also nicht len Teilhabe aller, der sozialen Durchlässigkeit bloß durch eine andere machtpolitische Kon- der Gesellschaft und die Durchsetzungskraft stellation zu ersetzen, was nicht die Sache der demokratischer Entscheidungen gegenüber LINKEN sein kann – braucht es gesellschafts- wirtschaftlicher Macht. Im Mittelpunkt wird politische Reformprojekte, die nur in dieser die ‚Rückgewinnung des Öffentlichen‘ stehen, Konstellation vorstell- und durchsetzbar sind. die Befreiung der zentralen Bereiche der öf- Koalitionspolitisch geht es dabei nicht um fentlichen Angelegenheiten, des Allgemein- die größte Schnittmenge zwischen den zwei wohls, der Aufgaben öffentlicher Daseinsvor- bzw. drei Parteien. Die Logik der Schnittmen- sorge von der Dominanz des Profitprinzips. gen führt zu einem parteipolitischen Ähnlich- Ob Rekommunalisierung, Verstaatlichung oder keitsdenken mit anschließendem Wettbewerb um Vergesellschaftung – im Kern geht es immer Unterscheidbarkeit, der in der Regel nicht zu um die Neubestimmung der Grenzen von pri- der für Mehrheiten notwendigen Ausweitung vat und öffentlich, von Demokratie und Wirt- der gesellschaftlichen Stimmenbasis beiträgt. schaft als Hort privater Verfügungsgewalt. Es Linke Koalitionen werden zukünftig stärker als mutet dabei wie eine Ironie der Geschichte an, Win-Win-Situationen für alle Beteiligten geplant dass es schon wieder eine schwarzgelbe Re- und jenseits der ‚Koch-Kellner‘-Frage geführt gierung ist, die mit ihrer Steuerpolitik auf Pump werden müssen. die Staatsverschuldung weiter hochtreibt und Die Politik (nicht nur) in Deutschland steht mit ihrem finanzpolitischen Crash-Kurs eine vor einigen Grundfragen: Energiewende, Kli- ‚Staatskrise‘ riskiert, die die Spielräume für mapolitik, globale Not (Hunger, Wasser, Ener- gesellschaftspolitische Reformen dramatisch gie, Bildung, Gesundheit), Kontrolle der Finanz- einengen würde. Länder und Kommunen wer- ströme – da muss sich etwas ändern, wenn es den daher zu den bevorzugten Ebenen von wieder eine längere wirtschaftliche Prosperitäts- Politik, auf denen sich politische Bündnisse phase und allgemeinen sozialen Fortschritt ge- gegen die schwarzgelbe Regierungspolitik he- ben soll. Jede Regierung wird sich diesen Auf- rausbilden und Resonanzböden für fortschritt- gaben stellen und zumindest dem bereits vor- liche gesellschaftliche Reformprojekte wach- handenen Neuen etwa in der Technologie- und sen können. Innovationspolitik zum Durchbruch verhelfen müssen, oder sie wird über kurz oder lang schei- Dr. Dietmar Bartsch ist stellvertretender tern. Die FDP hat das erkannt und mit der Ge- Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Partei sundheitspolitik ein anderes Themenfeld auf die DIE LINKE. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 59

Hubert Kleinert

Bundestagswahl 2009 – Volksparteien im Abstieg?

Der Absturz der Sozialdemokraten am 27. Sep- on und SPD mit zusammen etwa 60 Prozent der tember bei einem gleichzeitig nur bescheidenen abgegebenen gültigen Stimmen bei der ersten Wahlergebnis der Union hat der Debatte um die Bundestagswahl vom 14. August 1949 einen Zukunft der Volksparteien in Deutschland neue eher bescheidenen Wert, der nur knapp über Brisanz und Aktualität verliehen. Ob die SPD dem vom 27. September lag. Erst im Laufe der angesichts ihres dramatisch abgeschmolzenen 1950er Jahre hat sich dann jener Konzentrati- Elektorats überhaupt noch als Volkspartei anzu- onsprozess abgespielt, der die Union zu einer sehen sei, scheint inzwischen fraglich. Zugleich Partei werden ließ, für die bis in die 1990er hat auch die Union mit gerade einmal 33,8 Pro- Jahre Wahlergebnisse von 40, 45 und mehr Pro- zent ihr schwächstes Stimmenergebnis seit 1949 zent selbstverständlich schienen. Dabei hat die eingefahren. Zusammen haben beide Großpar- Union von einem Staubsaugereffekt profitiert, teien gerade einmal 57 Prozent der abgegebe- der durch ihre Regierungsrolle und die mehrfa- nen gültigen Stimmen erreicht. Nur noch vier che Verschärfung der Wahlrechts-Sperrklausel von zehn Wahlberechtigten haben sich zur Wahl erleichtert wurde. So gelang es ihr, mit Ausnah- von CDU/CSU oder SPD entschließen kön- me der FDP alle relevanten ‚bürgerlichen‘ Klein- nen. 1976 waren das in der alten Bundesrepub- und Regionalparteien aufzusaugen. Das galt in lik noch acht von zehn gewesen. Aus diesem Sonderheit für die regional zunächst bedeutsa- Blickwinkel erscheint die Entwicklung als fast me Deutsche Partei (DP) und den ‚Bund der schon dramatischer Abstiegsprozess. Heimatvertriebenen und Entrechteten‘ (BHE), Nachfolgend soll diese Entwicklung zu- die zeitweise im Bundestag vertreten waren und nächst im Kontext der Geschichte des Parteien- CDU/CSU als Koalitionspartner gedient hat- systems seit 1945 betrachtet werden. Dann wird ten. Die oppositionellen Sozialdemokraten auf es um die Ursachen für die Bindungsschwäche der anderen Seite des politischen Spektrums beider Großparteien gehen. Schließlich soll ein profitierten von der Diskreditierung der kom- Ausblick versucht werden, der die wahrschein- munistischen Konkurrenz im Kalten Krieg und lichen Entwicklungstendenzen in den Kontext der seit Ende der fünfziger Jahre betriebenen kritischer Entwicklungen der Parteiendemokra- Öffnungspolitik zur gesellschaftlichen Mitte. tie insgesamt rückt. Mit dem Ausscheiden des BHE als eigen- ständiger politischer Kraft und dem Aufgehen der bundespolitischen Führung in der CDU – 1 Die Volksparteien und die Entwick- eine Sonderentwicklung zur SPD fand in Hes- lung des Parteiensystems seit 1945 sen statt – war dieser Konzentrationsprozess zu In der Formierungsphase des Parteiensystems Beginn der 1960er Jahre im Wesentlichen abge- in den ersten Nachkriegsjahren hatten Union schlossen. Mit dem jetzt etablierten Dreipartei- und SPD noch längst nicht jene Stärke erreicht, ensystem war eine Stimmenkonzentration auf die den Nachgeborenen später lange selbstver- die beiden Großparteien auf zunächst etwa 85 ständlich erschien. Trotz relativer Stabilität von Prozent, schließlich sogar auf über 90 Prozent katholischem wie Arbeitermilieu erzielten Uni- verbunden. Zwischen 1969 und 1980 erreich- 60 Hubert Kleinert

ten die beiden Großparteien stets knapp unter behaupten konnte. Die folgende rot-grüne Koa- oder knapp über 90 Prozent der abgegebenen lition brachte 2002 bei rückläufiger Wahlbetei- gültigen Stimmen – bei hohen Wahlbeteili- ligung eine gewisse Stabilisierung des Stim- gungsraten von z.T. über 90 Prozent. In dieser menanteils der Volksparteien bei 76 Prozent. Zeit haben acht von zehn Wahlberechtigten ei- Doch schon die folgende Wahl 2005 zeigt einen ner dieser beiden Parteien ihre Stimme gege- regelrechten Absturz auf nur noch 69 Prozent ben. der Stimmen und gerade 55 Prozent der Wahl- Das Ende des Dreiparteiensystems durch berechtigten. Die Zahlen von 2009 signalisie- Auftauchen der Grünen zu Beginn der achtzi- ren dann eine dramatische Verschärfung dieses ger Jahre war zugleich der Beginn des Abbrö- Trends. Nimmt man sie als Indiz, dann hätte ckelns bei den Großparteien. Dies schien sich die Verankerung der beiden Großparteien zunächst nur die SPD zu betreffen, während die in der Wählerschaft seit 1976 ungefähr halbiert. Union bei der Bundestagswahl 1983 mit 48,8 Selbst wenn man dabei die andersartige Ent- Prozent noch das zweitbeste Ergebnis ihrer wicklung in Ostdeutschland herausrechnet, zeigt Geschichte hatte erreichen können. Hätte Kohl sich kein wesentlich anderer Befund. Natürlich das seinerzeit gewollt und nicht der FDP Hilfe sind bei den jüngsten Wahlergebnissen die be- versprochen – die Union hätte sogar eine abso- sonderen Bedingungen der Großen Koalition lute Mehrheit erreichen können. Schon die Ver- zu berücksichtigen. Der langfristige Trend luste von CDU und CSU 1987 – immerhin 4,5 freilich macht deutlich, dass es sich hier um Prozent – aber zeigten an, dass auch ihre Bin- einen problemverschärfenden Faktor gehandelt dungskraft zu leiden begann. Erst recht zeigte haben mag, keineswegs aber um die einzige und sich das im Wahljahr 1990. Angesichts der Rol- entscheidende Ursache für den schon länger le von Kanzler Kohl bei der Deutschen Einheit wirksamen Abwärtstrend. und den ganz außergewöhnlichen Bedingun- Diese Abwärtsbewegung wird derzeit ganz gen wenige Wochen nach dem Vollzug der staat- überwiegend als Problem der Sozialdemokratie lichen Einheit fiel das Unionsergebnis mit 43,8 diskutiert. Tatsächlich ist kaum zu übersehen, Prozent eher bescheiden aus. Am 2. Dezember dass die Verankerung der Union in den unter- blieben Union und SPD zusammen erstmals schiedlichen Segmenten der Gesellschaft seit 1953 unter 80 Prozent. 1994 war dann der inzwischen höher ist als die Verankerung der Stimmenanteil von CDU und CSU auf 41 Pro- traditionellen Mitgliederpartei SPD. Erstmals in zent abgesunken. Zusammen erreichten die der Geschichte der Bundesrepublik hat die CDU Volksparteien knapp 78 Prozent. Sechs von zehn im Jahre 2008 die SPD in der Mitgliederzahl Wahlberechtigten gaben damals einer der bei- überholt. Freilich muss hier auch berücksich- den Parteien ihre Stimme. tigt werden, dass die Union auf Bundesebene Der Wahlsieg Schröders brachte die SPD bislang nicht mit dem Problem dauerhafter Ab- 1998 zwar letztmals über 40 Prozent, aber auch spaltungen und/oder einer neuen parteipoliti- dieser sozialdemokratische Erfolg konnte die schen Konkurrenz konfrontiert war, wie es der rückläufige Bindungskraft der Volksparteien SPD zunächst mit den Grünen und dann mit der nicht kompensieren. Die hohen Verluste der Linkspartei gleich zweimal widerfahren ist. Union sorgten für ein weiteres Absinken der Unter Berücksichtigung dieser Unterschiede Stimmen für die Volksparteien auf 75 Prozent. stellt sich auch die Situation der Union kei- Hierbei muss natürlich der relative Erfolg der neswegs rosig dar. Auch ihre Bindungskraft in PDS berücksichtigt werden, die sich im Osten die Gesellschaft hat deutlich nachgelassen, wie entgegen vieler Prognosen auch längerfristig sich an den absoluten Zahlen der Parteimitglie- Bundestagswahl 2009 – Volksparteien im Abstieg? 61

der und der ungünstigen Altersstruktur – hohes Beck schon 1993 geschrieben (vgl. Beck 1993). Durchschnittsalter und wenig Nachwuchs – der „Mit dem Zerfall der alten sozialen Großmilieus verbliebenen Mitgliedschaft deutlich zeigen und dem Verschwinden einer Betreuung von lässt. Auch die Union wird demnach neue Wege der Wiege bis zur Bahre, im Dunstkreis weltan- der Mobilisierung von Mitgliedern und Wäh- schaulich homogener oder religiöser Einrich- lern gehen müssen, wenn sie nicht weiter per- tungen, ist die Sozialisierungsfunktion der Par- sonell ausdünnen und der Gefahr weiterer poli- teien gering. Die Heranführung unpolitischer tischer Schwächung ausgesetzt sein will. In ih- Wählermassen an die Politik wird eher von den rem Ergebnis spiegelt sich mehr als nur die Medien wahrgenommen“ (von Beyme 2002: Abwanderung wirtschaftsliberaler Kräfte zur 335). Diese Entwicklung habe aus den Volks- FDP. parteien inzwischen „Kartellparteien, Medien- parteien, professionelle[n] Rahmenparteien oder Minimalparteien (...)“ (325) werden lassen, die 2 Die Volksparteien – Opfer des immer stärker von Berufspolitikern dominiert gesellschaftlichen Strukturwandels? würden und dabei zunehmend selbstreferentiell Viele Soziologen und Parteienforscher sehen agierten. Darüber hätten sich die Verbindungen im Abstieg der Volksparteien vor allem eine zwischen Wählern und Parteien gelockert, er- Folge des gesellschaftlichen Strukturwandels. füllten gerade die Volksparteien ihre angestammte Mit der Erosion sozialmoralischer Milieubin- Funktion der gesellschaftlichen Interessenag- dungen, die dem Einzelnen früher jeweils spe- gregation und der Repräsentanz immer weni- zifische, dabei gemeinschaftsstiftende Formen ger. der kulturellen Verarbeitung ökonomischer, po- Im Ernst wird nicht bestritten werden kön- litischer und sozialer Konflikterfahrungen und nen, dass die skizzierten und oft beschriebenen darüber die Voraussetzungen für stabile Grup- gesellschaftlichen Veränderungsprozesse für die penzugehörigkeiten und Bindungen ermöglicht Analyse der Schwächezeichen der Volkspartei- hätten, sei die zentrale Erfolgsbedingung für en von erheblichem Gewicht sind. Zumal alle Stabilität und politischen Erfolg von Union wie Analysen über Entwicklungstrends von gesell- SPD zunehmend in Frage gestellt.1 Mit der schaftlichem Engagement die rückläufige Rolle Auflösung des klassischen Arbeitnehmermili- langfristig angelegten, verbindlichen Engage- eus als ursprünglicher Rekrutierungsbasis der ments zugunsten von situativen und unverbind- Sozialdemokratie wie mit der Schrumpfung des licheren, stärker mit Selbstverwirklichungsmo- katholisch-konfessionellen Milieus als sicherem tiven angereicherten Formen des Engagements Grund für den Erfolg der Union sei ein allmäh- ausweisen, was nahezu sämtliche Großorgani- liches Abschmelzen von Stammwählerschaften sationen seit Jahren vor wachsende Probleme verbunden. Höherer Bildungsstand der Wäh- stellt. Die Krise der Volksparteien wäre dem- lerschaft, Individualisierung und die modernen nach nur eine, freilich besonders folgenreiche Medien hätten den Typus des fluiden Wählers Ausdrucksform solcher Entwicklungstrends der hervorgebracht, der mal hierhin und mal dahin modernen Gesellschaft. tendiere, vor allem aber unzufrieden reagiere Letztlich sind gegen allzu pauschalierende und immer weniger als fester Unterstützer be- Deutungen dieser Art auch Einwände zu erhe- stimmter politischer Richtungen einkalkuliert ben: Erstens vermögen sie die durchaus unter- werden könne. Parteienbindung sei irreversibel schiedliche Entwicklung in verschiedenen west- enttraditionalisiert und entsprechend immer mehr europäischen Parteiensystemen nicht zureichend kontext- und konstellationsabhängig, hat Ulrich zu erklären. Während sich z.B. in Großbritan- 62 Hubert Kleinert

nien und Frankreich – unter Bedingungen kators findet, mit Glaubwürdigkeit verwechseln. unterschiedlichen Wahlrechts – eine Reihe von Die Bindungsschwäche der Volksparteien muss Parallelentwicklungen finden lassen, sind die deshalb auch als Problem der Parteiendemokra- politischen Systeme z.B. in Spanien und Grie- tie insgesamt gesehen werden, das sich in den chenland weiterhin von der überragenden Rolle Volksparteien nur am stärksten ausdrückt. zweier Großparteien und stark ideologisch auf- geladener Lagerbildung gekennzeichnet. 3 Ausblick: Zweitens differenzieren pauschalierende Deu- Die Zukunft der Volksparteien tungen, die den Bindungsverlust der Volkspar- teien als Resultat säkularer Entwicklungstrends Dass Parteipräferenzen und Wahlentscheidun- von Gesellschaft analysieren, nicht genauer die gen immer weniger in Milieuzugehörigkeiten, Problempotentiale der modernen Politik und Weltanschauungen und ethischen Grundprinzi- sehen in Parteien und politischen Akteuren nur pien wurzeln, erscheint irreversibel. Insoweit Objekte von gesellschaftlichen Modernisie- werden alle Parteien mit dem Rückgang stabiler rungsprozessen, gegen deren Wirkungen kaum Parteiidentifikationen leben und zurechtkommen etwas auszurichten ist. So erscheint der Bin- müssen. Themen, Kontextbedingungen, medi- dungsverlust der Volksparteien in der Gesell- ale Meinungs- und Aufregungskonjunkturen schaft als historisch irreversibler Prozess. sowie Personen werden gegenüber langfristi- Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass der gen Parteibindungen an Bedeutung weiter zu- Abstieg der Volksparteien mit Krisenerschei- nehmen. Dass dies die Volksparteien, die nungen und Transformationsprozessen der Par- schwierige programmatische Interessensausglei- teiendemokratie insgesamt zusammenfällt. Seit che in ihrem eigenen Binnenleben schaffen Längerem schon sind die Beziehungen zwischen müssen, aufgrund ihres heterogeneren Charak- Parteien, Politikern und Bürgern nachhaltig ge- ters schwerer trifft als die anderen, liegt auf der stört. Das Ansehen der Politiker hat einen his- Hand. Eine besondere Bedeutung wird dabei torischen Tiefstand erreicht, die Zahl der Bür- der Ressource ‚Vertrauen‘ zukommen – freilich ger, die aller Politik nichts Wesentliches mehr in unmittelbarer Verknüpfung mit ‚Issueorien- zutrauen, ist in den letzten Jahren deutlich ange- tierung‘ und der Fähigkeit von Parteien und wachsen. Wähler beklagen immer häufiger pro- Politikern, plausible Entwürfe von Zukunft und grammatische Orientierungsprobleme, alle Par- glaubwürdiges Personal in einen Zusammen- teien scheinen immer mehr zu bloßen Karriere- hang zu bringen. erwerbsgemeinschaften geworden, fixiert auf Gleichwohl erscheint eine weitere Zersplit- Wahlerfolg und Karriereperspektiven, deren terung der Parteienlandschaft deshalb noch gesellschaftlicher Zweck sich dem breiten Wäh- keineswegs zwingend. Es ist gut möglich, dass lervolk immer weniger erschließt. Die Parteien die neue politische Konstellation in Berlin auch reagieren ihrerseits auf den Einflussverlust durch zu neuen Konzentrationsprozessen im Partei- Werbe- und Öffentlichkeitsstrategien, die auf ensystem führen wird. Für die Sozialdemokra- Imagewerbung und Markenproduktion setzen ten etwa kann mit der Oppositionsrolle auch die und sich im Kampf um ‚Wählermärkte‘ an den Chance verbunden sein, zu einer neuen Identi- Strategien der privaten Werbewirtschaft orien- täts- und Ortsbestimmung zu finden. Und die tieren. Im Ergebnis verschärfen sie damit freilich Union kann als stabile Kraft in der politischen nur die Probleme, weil sie zwar Aufmerksam- Mitte auch ein Garant für eine sozial stärker keit schaffen, dabei aber die Beachtung, die der ausgewogene Politik sein, die dem Aufstieg der Typus des modernen medialen Politkommuni- FDP Grenzen setzt. Es ist es nicht unwahr- Bundestagswahl 2009 – Volksparteien im Abstieg? 63

scheinlich, dass das Ergebnis der beiden Groß- aber wird man ihr trotz aller modernen ‚Volati- parteien beim nächsten Mal über dem vom 27. lität‘ der Wählerschaft die gegenüber den So- September 2009 liegen wird. zialdemokraten deutlich besseren Chancen ein- Der Abstieg ist kein linearer Prozess. Aller- räumen müssen. Dies ergibt sich nicht nur aus dings werden beide in absehbarer Zeit nicht mehr ihrer deutlich größeren numerischen Stärke. zu ihrer früheren Stärke zurückfinden. Schon Die Wahrscheinlichkeit einer Disziplinierung die Ausdünnung der Mitgliedschaft, der Ein- wirtschaftsliberaler und marktradikaler Kräfte flussverlust früherer ‚Vorfeldorganisationen‘ in der FDP mit der Folge eines breiten Anse- und die ausgesprochen ungünstige Verteilung hensgewinns bis hin in die linke Mitte der der Altersstruktur müssen beiden Großparteien Gesellschaft ist jedenfalls aus heutiger Pers- auf Sicht wachsende Probleme bereiten. Und pektive größer als die Chancen zur Formie- die Konkurrenz der Linkspartei wird den Sozi- rung eines neuen Linksbündnisses, dem auf aldemokraten auf viele Jahre hinaus erhalten mittlere Sicht die starke Führung durch eine bleiben – mit all den Konsequenzen, die damit Sozialdemokratie mit neuer gesellschaftlicher für sie verbunden sind –, zumal die Linken im Ausstrahlung nach verschiedenen Seiten hin Osten den stabileren Unterbau vorweisen kön- fehlen wird. nen. Eine Strategie der vorsichtigen Öffnung gegenüber der Linkspartei mag für die SPD Hubert Kleinert ist Professor für Politikwis- unausweichlich sein. Der Gefühlshaushalt der senschaft an der Fachhochschule für Verwal- Mehrheit an der Parteibasis scheint anderes auch tung des Landes Hessen in Wiesbaden. gar nicht zuzulassen. Ob damit freilich eine re- alistische Chance für die neue Parteiführung Literatur werden kann, Kristallisationspunkt und Hoff- nungsträger einer neuen Opposition mit breiter Beck, Ulrich 1993: Die Erfindung des Poli- gesellschaftlicher Ausstrahlung werden zu kön- tischen, Frankfurt/M. nen, ist höchst fraglich. Wenn ein solcher Kurs Lau, Mariam 2009: Die letzte Volkspartei. nicht bloß zu weiteren Verlusten der Partei in Angela Merkel und die Modernisierung der der gesellschaftlichen Mitte führen soll, setzt er CDU, Berlin. eine sozialdemokratische Stärke und Strahlkraft von Beyme, Klaus 2002: Funktionswandel in die Gesellschaft voraus, von der sich der Parteien in der Entwicklung von der Mas- jedenfalls Ende 2009 nicht sagen lässt, woher senmitgliederpartei zur Partei der Berufspoliti- sie eigentlich kommen sollen. ker. In: Gabriel, Oskar W./Niedermayer, Oskar/ Über die Zukunft der Union wird vor allem Stöss, Richard (Hg.): Parteiendemokratie in ihre Fähigkeit entscheiden, die derzeit viel be- Deutschland. 2. Auflage. Wiesbaden, 315-339. schworene Verbindung von wirtschaftlicher Walter, Franz 2009: Im Herbst der Volks- Kompetenz mit der neu entdeckten Sorge um parteien? Bielefeld. sozialen Ausgleich und der Begrenzung der zerstörerischen Kräfte des ‚Turbokapitalismus‘ Anmerkung dauerhaft zu verkörpern und dabei eine breite gesellschaftliche Verankerung zu erhalten. Ob 1Vgl. z.B. die vielen Schriften von Franz sie wirklich die „letzte Volkspartei“ (Lau 2009) Walter dazu, zuletzt: Im Herbst der Volkspartei- ist, mag dabei dahinstehen. Auf mittlere Sicht en? (Walter 2009). 64 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Warnfried Dettling

Wachstumsperspektiven für eine Volkspartei

„Das Denken überlassen sie dort den Mei- Diese äußere Veränderung der Parteienland- nungsforschern, die haben das Ohr an den schaft ist inzwischen, auch in diesem Heft des Massen.“ Forschungsjournals, ausführlich beschrieben. Armin Thurnher, Für die mittlere und ältere Generation, die mit Der Übergänger (Roman 2009) dem Zweieinhalb-Parteiensystem aufgewachsen sind, ist dies eine neue Erfahrung, aber es ist Die Parteienlandschaft verändert sich. Die Klei- aus der Perspektive der Demokratie kein dra- nen werden größer und die Großen werden klei- matischer Vorgang: Demokratie kennt schließ- ner. Als Volkspartei verabschiedet hat sich fürs lich viele Formen und Farben. Erste die SPD. Doch die CDU hat ganz ähnli- Dramatischer und folgenschwerer, für die che Probleme, wenn auch auf einem höheren Demokratie wie für die politischen Parteien Niveau. Wenn es so weiter geht und sich der selbst, ist ein anderer Vorgang: die Veränderung Trend fortsetzt, wird auch sie in absehbarer Zeit der Parteienlandschaft von innen her, das lang- die Dreißig-Prozent-Grenze von unten betrach- same Verschwinden der Politik aus ihrer Mitte, ten. Doch noch sind CDU und CSU die einzi- eine Art Entpolitisierung der Politik, die von gen Volksparteien, die übrig geblieben sind, vor den Parteien selbst voran getrieben wird in der allem in den großen Flächenländern. Hoffnung, dadurch für sich im politischen Wett- bewerb Vorteile zu erzielen. Es ist kein ganz neuer, aber in der Konsequenz des Wahlkam- 1 Die äußere und die innere Verän- pfes 2009 doch bemerkenswerter Sachverhalt: derung der politischen Landschaft Die politischen Parteien sehen in der politischen Die Parteienlandschaft verändert sich, aber das Auseinandersetzung, die diesen Namen ver- ist kein Grund zur Dramatisierung. Die Koali- dient, eher einen Nachteil als einen Vorteil im tionen werden bunter und unberechenbarer – Wettbewerb um möglichst viele Stimmen. So mit allen Folgen für und Rückwirkungen auf waren die CDU und ihre Spitzenkandidatin recht die Mitglieder, Parteien und deren Beziehun- zufrieden damit und auch noch in gewisser gen untereinander. Auch dort, wo – wie bei der Weise stolz darauf, dass sie in einem Wahlkampf aktuellen Regierung – die äußeren Koalitions- ohne Inhalte am Ende deutlich vorne lagen; das formen noch vertraut erscheinen wie in der magere Ergebnis (33 Prozent, und das nach vier scheinbar guten alten Zeit, ist nichts mehr so Jahren Kanzlerschaft und bei einer desolaten wie früher. Die Beteiligten wissen: Das Bünd- SPD) schien sie nicht weiter gestört zu haben. nis von Union und FDP ist eine, nicht die ein- Die CDU wollte nicht, und die SPD konnte zige Möglichkeit. Das schwarzgelbe Bündnis nicht, und so haben beide auf ihre Weise zu verliert erst seine Selbstverständlichkeit und einem inhaltsleeren Wahlkampf beigetragen. bald auch seine strukturelle Mehrheitsfähig- Die Folgen dieser Entwicklung für eine le- keit. Die Methode Merkel passt zu ganz unter- bendige Demokratie sind das eine, die Folgen schiedlichen Koalitionen, solange sie nur um für die Vitalität und Attraktivität der politischen die CDU kreisen. Parteien sind das andere, und beides hängt eng Wachstumsperspektiven für eine Volkspartei 65

zusammen. Es könnte ja sein, dass diese Art der wird es oder schrumpft zu einer Mammutsekte. Entpolitisierung der Politik zum weiteren Nie- Volkspartei ist – wie die politische Mitte – kein dergang der einstigen Volksparteien beiträgt. Zustand, sondern eine Aufgabe, an der man Und dass eine Trendwende zu neuem Wachs- scheitern, aber auch wachsen kann. tum der Parteien nur durch etwas mehr Mut zur Vielleicht lohnt es sich deshalb, für die Ana- Politik möglich wird. Nur politische Parteien, lyse wie für die praktische Politik, die Debatte das wäre die These, die einen anspruchsvollen um die Zukunft der (Volks)Parteien einmal und ehrgeizigen Begriff von Politik und sich sel- anders aufzuziehen: nicht von den Zahlen und ber haben, werden erfolgreich sein. Es ist wie der schieren Größe, auch nicht von der reprä- bei Athleten: Parteien können ihre Fähigkeit, sentativen Sozialstruktur der Mitglieder einer erfolgreich zu sein, trainieren oder verlieren – Partei her, sondern von ihrem Anspruch und ‚use it or loose it‘. Sportler und Vereine, die Selbstverständnis her, ihrem Ehrgeiz und ihrem nicht richtig trainieren oder nur darauf hoffen, politischen Willen. Den Unterschied zwischen dass der Gegner noch schlechter ist, bringen Parteien macht dann nicht der bloße Umfang, bald keine Spitzenleistungen mehr. So könnte ob sie noch größer oder kleiner sind. Eine Par- eine – anfangs unmerkliche – politische Atro- tei zwischen 15 und 20 Prozent kann dann ten- phie, eine Art Muskelschwund durch mangeln- denziell eine ‚Volkspartei‘ sein oder auf dem den Gebrauch, und das über Jahre und Jahr- Weg dorthin, wenn sie sich für das Ganze ver- zehnte hinweg, eine der Ursachen sein für den antwortlich fühlt und entsprechend denkt und Niedergang der ehemals großen Parteien. handelt, oder sie kann eine Klientelpartei oder auch eine populistische Partei sein, die vor al- lem die Interessen oder die Ressentiments einer 2 Volkspartei als politischer Begriff Minderheit bedient. Auf der anderen Seite kann Um Missverständnisse auszuschließen: Natür- eine Partei jenseits der 20 oder gar 30 Prozent lich haben großflächige gesellschaftliche und den Anspruch einer Volkspartei schon verraten internationale Veränderungen massive Folgen haben, wenn sie es sich nicht mehr zutraut, Po- für die Parteien. Keine noch so intelligente Stra- litik für alle zu denken und zu machen, weil sie tegie wird je die Volkspartei CDU wiederher- bereits bestimmte soziale Gruppen oder politi- stellen können, wie sie zu Zeiten Adenauers oder sche Dimensionen ausgeblendet hat. Kohls einmal war. Das Bündnis zwischen Ar- Interessenparteien, Klientelparteien und po- beiterbewegung und technischer Intelligenz, das pulistische Parteien wird es zu allen Zeiten ge- die SPD zu Lebzeiten Willy Brandts für einen ben. Damit kann eine vitale Demokratie leben. kurzen historischen Moment geschaffen hatte, Nur schlecht leben kann sie ohne ‚Volkspartei- wird so nie mehr wieder kommen. Neue For- en‘ im eben beschriebenen Sinne. Und beide men der Organisation und der Kommunikation, Kategorien von Parteien stehen in einer engen der Wahlkämpfe und der Öffentlichkeitsarbeit Beziehung. Je mehr die Volksparteien ihren An- sind ohne jeden Zweifel notwendig, aber sie spruch preisgeben oder verfehlen, für die ganze sind nicht hinreichend. Die Parteien verwenden Gesellschaft zu denken und zu handeln, umso viel Zeit, Geld und Personal auf die Darstellung besser sind die Chancen der anderen Sorte von der Politik und wenig Ressourcen auf die Her- Parteien. Die Volksparteien haben nur dann eine stellung der Politik für eine veränderte Zeit. Ohne Chance, den Trend zu wenden, wenn sie im zeitgemäße politische Botschaft kann es jedoch eigentlichen Sinn des Wortes wieder zu politi- auf Dauer keinen politischen Erfolg geben. schen Parteien werden. Parteien kann man dar- Volkspartei ist man nicht, man bleibt es oder an erkennen und danach unterscheiden, wie weit 66 Warnfried Dettling

entfernt vom oder wie nahe dran sie sind am oft mitten durch die einzelne Person gehen. Die politischen Begriff einer Volkspartei. gesellschaftliche Reichweite einer Partei ver- schwimmt, wenn sich die Gesellschaft in immer mehr Lebensstile und Lebensformen ausdiffe- 3 Woran man eine Volkspartei renziert: Was soll aus einer Volkspartei werden, erkennt wenn es ‚das‘ Volk gar nicht mehr gibt? Und Politisch überwindet das Konzept der Volkspar- was das Ideenmanagement einer Partei betrifft, tei partikulare Beschränkungen und hält empha- so waren die einfachen Alternativen Staat oder tisch an alten Ideen wie Gemeinwohl fest. Ge- Markt, Freiheit oder Gleichheit, privat oder öf- sellschaftlich grenzt die Idee der Volkspartei fentlich politisch leichter zu bedienen als eine keine Gruppe aus noch sieht sie tatenlos zu, differenzierte Theorie und Praxis, die jeweils wenn ganze Schichten oben oder unten aus der die Stärken, aber auch die Grenzen des Staates, Gesellschaft gleichsam auswandern. Konzepti- des Marktes und der Bürgergesellschaft im po- onell bewegt sich eine Volkspartei nicht in ei- litischen Auge behalten, um zu optimalen Lö- nem eindimensionalen, sondern in einem offe- sungen zu kommen. nen Ideenhorizont, in dem je nach Zeit und Pro- blemlagen konservative, liberale und soziale 4 Resignation oder Renaissance der Ideen in den Vordergrund treten oder auf neue Politik? Weise kombiniert werden. Unverzichtbar ist eine politische Anthropologie, derzufolge eine Volks- Mit der Bundestagswahl 2009 hat sich der Nie- partei den Wähler nicht nur als Bündel egoisti- dergang der beiden einstmals großen Volkspar- scher Interessen und materieller Bedürfnisse, teien fortgesetzt. Inzwischen kann man für die als Steuerzahler etwa oder als Hartz-IV-Emp- Vergangenheit bilanzieren und für die Zukunft fänger, sondern als Bürger wahrnimmt und ent- vorhersagen: Abwärts geht es von alleine. Eine sprechend anredet. Kulturell kann man nur dann Trendwende erfordert konzeptionelle und poli- von einer Volkspartei sprechen, wenn sie den tische Anstrengungen. Eine mögliche Richtung, kulturellen und ethnischen Pluralismus unserer eine Wachstumsperspektive nicht nur für die Zeit nach innen und außen widerspiegelt. Unionsparteien, weist ein anspruchsvolles Kon- Lässt man diese Kriterien einer Volkspartei zept der Volkspartei. Doch es könnte sein, dass Revue passieren, dann wird rasch deutlich, dass es dafür schon zu spät ist, dass die Parteien ihre und warum es gegenwärtig schwieriger ist, Zukunft in einer weiteren Entpolitisierung su- Volkspartei zu sein oder zu bleiben. Der politi- chen. Die Folgen freilich hätten dann nicht nur sche Anspruch, auf das Ganze der Gesellschaft die Parteien zu tragen, sondern die Demokratie zu zielen, ist heute schwieriger zu realisieren, insgesamt. weil die Gesellschaft komplexer geworden ist, Menschen und Milieus sich nicht mehr so trenn- Warnfried Dettling lebt als freier Autor in scharf zuordnen lassen und die Widersprüche Berlin. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 67

Herfried Münkler

Ist die SPD politisch überflüssig geworden?

Vermutlich hat die deutsche Sozialdemokratie Parteien, insbesondere auf den unteren Ebenen, den Tiefpunkt ihres Macht- und Einflussver- nicht erschöpfend beschrieben. Hier wirken sie lusts noch nicht erreicht. Dafür spricht nicht immer noch als Generatoren und Moderatoren bloß das schnelle Abebben der gerade erst be- politischen Engagements, und in dieser Funkti- gonnenen Debatte über die Ursachen der schwe- on sind sie trotz des Aufstiegs von NGOs uner- ren Wahlniederlage vom 27. September, son- setzlich. Aber an der Spitze ist das anders: Hier dern auch die vorherrschende Vorstellung, durch ist die Partei eine Ressource ihrer Karrieristen eine begrenzte Linksverschiebung der Partei- und Beschäftigten, und die wollen sie sich nicht programmatik sowie einigen personellen Neu- aus der Hand nehmen lassen. Das ist verständ- besetzungen lasse sich ein Ausweg aus der Kri- lich. Über Jahre und Jahrzehnte hat das auch se finden. Was Robert Michels zu Beginn des durchaus gut funktioniert. Dass das jetzt nicht 20. Jahrhunderts in seiner Soziologie des Par- mehr funktioniert, hat also Gründe, die mit der teiwesens als notorische Tendenz politischer üblichen Reaktionsweise der Parteioligarchie Großorganisationen zur Oligarchisierung her- nicht aufzuspüren, geschweige denn zu bear- ausgearbeitet hat, zeigt sich nun als institutio- beiten sind. nell verhärtete Lernunfähigkeit. Oligarchiebil- Das also ist das eigentliche Problem oder dung und Lernverweigerung sind zwei Seiten die wirkliche Krise der SPD: dass ihre instituti- ein und derselben Medaille: Was in der Auf- onellen Mechanismen nicht ausreichen, die Kri- stiegsphase die Entstehung einer Funktionärs- senursachen zu erfassen und aufzuarbeiten. Die schicht war, deren persönliche Karriere sich SPD muss sich regelrecht neu erfinden, um aus schon bald untrennbar mit dem über Wahlerfol- dieser Krise herauszukommen. Aber mit dieser ge vermittelten Zugriff auf politische Ämter ver- Neuerfindung würden viele Investitionen ihres band, ist in der Niedergangsphase das Interesse Personals in eine parteigestützte Karriere ent- ebendieser Gruppe, die Parteiorganisation als wertet werden, und deswegen gibt es unver- Vehikel ihrer Alimentierung mit Stellen und Ein- kennbare Sperren gegen eine Neuerfindung. Das kommen zu erhalten. Programmatische Debat- ist im Übrigen der Unterschied zu den Tagen ten werden nicht im Hinblick auf gesellschaftli- von Godesberg, als sich die SPD ebenfalls neu che Herausforderungen und deren politische erfunden hat. Aber damals ging es um eine Be- Bewältigung geführt, sondern sind Neuorien- schleunigung des Wegs nach oben. Jetzt dage- tierungen zwecks Einbindung von Klientel- gen geht es erst einmal darum, den freien Fall schaften, die über ihr Stimmverhalten bei Wah- der Partei zu bremsen, um die Stabilisierung len dafür sorgen sollen, dass das politische Per- auf niedrigem Niveau. Deswegen wollen die sonal seine Alimentierung nicht verliert. Parteioligarchen weder Grundsatzdebatte noch Das ist zunächst nur eine unterkühlte Be- Generalinventur, sondern sie erwecken über schreibung der Rolle von Parteien in der reprä- aufgesetzte Bußrituale den Eindruck, sie hätten sentativen Demokratie im Allgemeinen und des verstanden und könnten das Ruder für den Weg bundesrepublikanischen Parteienstaates im Be- aus der Krise umlegen. Damit das möglich sei, sonderen. Damit ist freilich die Funktion von müssten freilich, so die Behauptung, vom Ka- 68 Herfried Münkler

pitän und Steuermann bis zum Navigator und munistischen Partei. Deren Politikprojekt ist Rudergänger alle Positionen ganz schnell wieder spätestens 1989/90 gescheitert. Die SPD dage- besetzt werden. Eine solche Abwehr- und Ver- gen hat sich 1959 in Bad Godesberg neu erfun- drängungsstrategie ist verständlich, aber fatal. den, als sie sich von einer Klassenpartei in eine Diese Vorbemerkung ist wichtig, um sich Volkspartei verwandelte. Damit hat sie sich end- Klarheit darüber zu verschaffen, warum sämtli- gültig von der Vorstellung einer Geschichtsmäch- che wo und wann auch immer geführten Debat- tigkeit des Proletariats verabschiedet. ten über Zustand und Zukunft der SPD folgen- Godesberg war freilich nur der Schlusspunkt los bleiben und in deren politische Neuorientie- eines Transformationsprozesses, der schon in rung vorerst keinen Eingang finden werden, der Spätzeit des Kaiserreichs begonnen hatte sofern sie nicht zu dem Ergebnis kommen, dass und durch das westdeutsche Wirtschaftswun- eine Linksverschiebung und ein paar neue Köpfe der stark beschleunigt worden war: der Verbür- die Lösung des Problems und der Weg aus der gerlichung des Industrieproletariats, das zuneh- Krise seien. Alles andere dürfte für einige Zeit mend weniger an kollektiver Emanzipation als bloß folgenloses Hintergrundrauschen bleiben. vielmehr an individuellem Aufstieg auf der Ändern wird sich das erst nach den nächsten Grundlage eigener Leistung orientiert war. Die- Niederlagen, durch die klar werden wird, wie sen individuellen Aufstieg durch das Beiseite- tief die Krise der Sozialdemokratie ist. Diejeni- räumen politischer Blockaden und die Verfüg- gen, die sich in diesen Debatten engagieren, tun barmachung sozialer Unterstützungsmittel zu dies aus Sorge um die Stabilität des deutschen erleichtern, wurde zum Kern des sozialdemo- Parteiensystems. Zur Zeit ist nämlich durchaus kratischen Projekts. Die SPD erhielt demgemäß damit zu rechnen, dass die Sozialdemokratie eine eine umso stärkere Unterstützung, je größer die- marginale Größe wird, wie das in einigen Nach- ser Aufstiegswunsch und die Aussicht auf sei- barländern Deutschlands bereits der Fall ist. Es ne Verwirklichung waren. Solange sich die CDU kann nicht ausgeschlossen werden, dass die SPD als Hüterin einer konservativen Gesellschafts- politisch überflüssig geworden ist und andere ordnung positionierte, war die SPD gegen eine Parteien ihre Funktion übernommen haben. Nur Erosion ihrer Anhängerschaft geschützt. Zuletzt wenn man sich diese Frage stellt, hat man die war es ihr moderneres Frauenbild und das ver- Dramatik der Krise begriffen. Und nur wer sie stärkte Interesse von Frauen, in gleichwertige nach gründlicher Analyse verneinen kann, ist in Berufskarrieren wie die Männer einzusteigen, der Lage, einen tauglichen Beitrag zur Zukunfts- die der Sozialdemokratie politischen Zulauf ver- debatte der SPD zu leisten. schaffte. Die alte Sozialdemokratie, von Lassalle ge- Der war freilich auch nötig, denn keineswegs gründet und von Bebel weiterentwickelt, stützte gaben alle, die im Gefolge der sozialdemokrati- sich auf die historische Mission des Proletari- schen Reformen einen gewissen Aufstieg ge- ats. Die aufstrebende Klasse der Industriear- schafft hatten, bei Wahlen weiterhin der SPD beiterschaft, die längst die Zentren der materiel- ihre Stimme. Zunehmend nämlich musste die len Reproduktion der Gesellschaft übernommen Chance des Aufstiegs durch soziale Unterstüt- hatte, sollte auch die politische Macht überneh- zungsmaßnahmen für diejenigen beglichen wer- men, die Strukturen der Ausbeutung beenden den, die den Aufstieg nicht geschafft oder sich und eine auf rationaler Planung beruhende Ge- um ihn nicht bemüht hatten. Das soziale Netz sellschaftsordnung errichten. Über der Frage, kostete immer mehr Geld, das in Form von Steu- wie dieses Ziel zu erreichen sei, kam es zum ern nicht zuletzt von denen abgeschöpft wurde, Streit und schließlich zur Abspaltung der Kom- die sich unter großen Anstrengungen nach oben Ist die SPD politisch überflüssig geworden? 69

gearbeitet hatten. Eine wachsende Zahl von die- mentierung, engagiert sich aber politisch kaum, sen wiederum sah nicht ein, dass der (materiel- um diese auch sicherzustellen. Für die SPD hat le) Lohn ihrer Mühen nun weggesteuert wer- es sich als kaum mobilisierbar erwiesen. Auch den sollte und wandte sich Parteien zu, die eine die Linkspartei wird sich an der politischen geringere Staatsquote und damit auch niedrige- Apathie des Prekariats noch die Zähne ausbei- re Steuern versprachen. Die SPD konnte das so ßen. Das Prekariat ist ein politisch unzuverläs- lange verschmerzen, wie ‚von unten‘ immer siger Zeitgenosse, weil es jederzeit nach rechts neue soziale Gruppen nachkamen, die ebenfalls ausbüchsen kann. Wem Marx’ Bemerkungen einen sozialen Aufstieg anstrebten und dabei über das Lumpenproletariat als Unterstützer auf die SPD als Aufstiegsunterstützerin setz- Napoleons III. nicht genügen, sollte sich die ten. soziale Rekrutierung der SA in der Schlusspha- Der seit einiger Zeit in Umlauf befindliche se der Weimarer Republik ansehen. Der Staat Begriff des Prekariats steht – neben anderem – hat vom Proletariat gelebt; das Prekariat dage- auch dafür, dass sich das inzwischen geändert gen lebt vom Staat. Das ist für das Selbstbe- hat. Das Prekariat unterscheidet sich vom klas- wusstsein der politischen Linken nicht ohne sischen Proletariat dadurch, dass es keine kol- Folgen geblieben: Wo sie früher von der politi- lektive Selbstbefreiung anstrebt, sondern poli- schen Macht gesprochen hat, redet sie heute nur tisch desinteressiert, wenn nicht apathisch ist, noch von sozialer Gerechtigkeit. und es unterscheidet sich von den Gruppen der Innerhalb der SPD begann ein Streit, auf sozialen Aufsteiger dadurch, dass es sich in sei- welche Klientel man setzen solle: die zahlenmä- ner Lage eingerichtet hat. Es setzt auf Staatsali- ßig sehr viel kleiner gewordene Gruppe derer, 70 Herfried Münkler

die nach wie vor am sozialen Aufstieg orien- hätte, ist inzwischen eine müßige Frage. Alles tiert, aber nach dessen Erfolg nur in begrenztem andere als müßig ist freilich die Feststellung, Maße bereit sind, für die zu zahlen, die diesen dass die SPD ein Projekt braucht, mit dem sie Aufstieg nicht geschafft hatten, oder aber die einen plausiblen Anspruch auf die politische immer größer werdende Gruppe derer, die das Vertretung der ‚unteren Mitte‘ der Gesellschaft untere Viertel der Gesellschaft bildet und denen geltend macht, will sie ihrer politischen Margi- gegenüber man sich als sozialpaternalistische nalisierung entgehen. Nach links zu rücken Partei versteht – selbstverständlich in der Er- heißt, zur Klientelpartei des Prekariats zu wer- wartung, dass dies durch das politische Stimm- den. Dieses aber ist politisch unzuverlässig, verhalten gedankt werde. Erstere Gruppe stand desinteressiert bis apathisch und wird kaum gro- im Zentrum dessen, was in der Schröder-Zeit ße politische Unterstützung bieten. Obendrein als ‚neue Mitte‘ bezeichnet wurde, letztere war ist auf diesem Feld schon der westdeutsche die Zielgruppe des zeitweilig an den Rand ge- Ableger der Linkspartei aktiv. Doch allein auf drängten linken Flügels mit Oskar Lafontaine die geschrumpfte Gruppe der sozial Aufstiegs- als Galionsfigur. Aber eine zu politischen Ge- willigen zu setzen, dürfte ebenso zu einem Stim- staltungschancen hinreichende Wahlunterstüt- menanteil unter 25 Prozent hinführen. zung hat die SPD nur, wenn sie beide Flügel zu Die historische Aufgabe der SPD besteht einem Politikprojekt miteinander verbindet. Das darin, diese beiden Gruppen politisch wieder zu ist ihr zuletzt nicht mehr gelungen. verknüpfen. Wenn ihr das gelingt, ist sie nicht Die Ironie des Wahldesasters vom 27. Sep- überflüssig geworden, sondern hat eine Aufga- tember liegt darin, dass die Agendapolitik so- be, die von keiner anderen Partei übernommen wie die Hartz-Reformen im Prinzip der Versuch werden kann. Aber diese Aufgabe ist unendlich waren, das Prekariat durch entsprechende ma- schwer in einer Zeit, da die wirtschaftlichen terielle Anreize, aber auch durch Sanktionen Zuwächse ausbleiben, der demographische wieder auf die Bahn individueller Aufstiegsbe- Wandel auf den Staatsetats lastet und beachtli- mühungen, zumindest einer verstärkten Selbst- che Teile der Migrationsmilieus politisch für die sorge zu bringen, auch um so die politische SPD nicht mobilisierbar sind. Man braucht eine Akzeptanz der Steuerlast bei denen zu errei- griffige politische Programmatik, um eine Pers- chen, die den sozialen Aufstieg geschafft hatten pektive zu eröffnen, die mehr als die Erhöhung und zu einer – freilich limitierten – Solidarität von Transfers ist. Und man braucht politisches mit den Zurückgebliebenen bereit waren. Ob Personal, das beide Flügel einbinden und auf dieses Projekt eine bessere Chance gehabt hät- Loyalität einschwören kann. Beides ist vorerst te, wenn es klüger kommuniziert worden wäre, nicht in Sicht. wenn Müntefering und Schröder nicht nach den NRW-Wahlen 2005 die Nerven verloren und Herfried Münkler ist Politikwissenschaftler auf Neuwahlen gesetzt und Lafontaine nicht die und Professor für Theorie der Politik an der Spaltung der politischen Linken vorangetrieben Humboldt-Universität Berlin. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 71

Wolfgang Schroeder

Mitte vs. Mitte Die SPD zwischen Gemeinwohl und Parteiwohl auf der Suche nach sich selbst

1 Die Zäsur am 27. September 2009 ternden Wahlschlappe ist Ergebnis kumulierter Ereignisse. Die Bundestagswahlen 2009 endeten für die SPD mit einer historischen Niederlage. Trotz 2 Die Bilanz aus 11 Jahren eines vermeintlich sozialdemokratischen Zeit- Regierungsbeteiligung geistes ist die SPD dramatisch eingebrochen und befindet sich seitdem sowohl in der Oppo- Die Regierungszeit hat die SPD faktisch ge- sition als auch in einer tiefen Krise. spalten: Die hegelianische Staatspartei, verkör- Einige Ursachen für die Wahlniederlage er- pert durch Schröder und Müntefering, hatte sich scheinen in der Retrospektive fast als zwangs- der Vernunft verschrieben und in ihrer ultra- läufig. Freilich ist jede Regierungspartei nach pragmatischen Staatsräson immer weiter von über einem Jahrzehnt an der Macht aufgezehrt der traditionsreichen, empathischen Programm- und abgenutzt. Aus historischer Perspektive partei entfernt. Der Graben zwischen gemach- kein Einzelschicksal: Auch Helmut Kohls CDU ter und gefühlter Politik wurde immer tiefer. wirkte 1998 nach 16 Jahren Regierung inhalt- Diese Verwerfung geht weit über eine kommu- lich und personell ausgelaugt und in ihrer poli- nikative Fehlleistung hinaus. Wie fast alle sozi- tischen Substanz weitgehend verbraucht. aldemokratischen Parteien Europas war die SPD Ebenso fiel es 2009 der SPD schwer, nach elf dem Dilemma ausgesetzt, Reformen durchzu- Jahren Regierungsbeteiligung attraktive und setzen, die im Spannungsverhältnis zum Selbst- überzeugende Zukunftskonzepte zu vermitteln. verständnis ihrer Stammklientel und ihrer Pro- Hinzu kam ein vergleichsweise uninspirierter grammatik standen. Es galt einerseits die An- Wahlkampf mit offensichtlichen strategischen passung gesellschaftlicher Institutionen an neue Defiziten. Der Mythos überlegener Kampag- Bedingungen in einer veränderten Wirtschaft nenfähigkeit der Sozialdemokratie mit furiosen und Gesellschaft voranzutreiben. Andererseits SPD-Aufholjagden in den ‚heißen Phasen‘ der zeigte die Sozialdemokratie große Schwierig- Wahlkämpfe hat nachhaltig gelitten. keiten darin, Antworten auf die Schutzbedürf- Jedoch: Die SPD hat nicht bloß eine einzel- nisse der unteren Schichten vor den Härten des ne Bundestagswahl verloren. Sie hat während Marktes finden. der letzten Jahre reihenweise Wahlen auf allen Die Rente mit 67 ist dafür ein Beispiel: Die Ebenen verloren und nur sehr wenige gewon- Realitäten des demographischen Wandels ge- nen. Und nicht nur hierzulande, auch europa- hören einerseits längst zum gesellschaftlichen weit sind sozialdemokratische Parteien in die common sense. Die technokratische Reform je- Defensive geraten. Labour in Großbritannien doch, die diese Erkenntnis in konkrete Politik droht bei den kommenden Unterhauswahlen umzusetzen suchte, ist nie bei der Parteibasis zum nächsten Beispiel zu werden. Die Ursa- oder dem Stammklientel der SPD als sozialde- che für diesen Abstieg ist nicht monokausal mokratische Politik angenommen worden; zu durch die Wirkung einzelner Beschlüsse oder wenig schienen individuelle Lebensleistungen Akteure zu erklären. Die Dramatik der erschüt- anerkannt zu werden. Das Resultat war eine 72 Wolfgang Schroeder

schmerzhafte Kollision von Gemeinwohl und gung der Mittelschicht und einer Abkopplung Parteiwohl. In diesem Prozess haben sich die der Oberschicht spitzte sich ausgerechnet wäh- Bindungen der SPD an zentrale Vorfeldorgani- rend eines sozialdemokratischen Regierungs- sationen, vor allem an die Gewerkschaften, z.T. jahrzehnts zu. Deutschland hat seit den 1990er dramatisch gelockert. Hatte die organisierte Ar- Jahren die geringsten Nettolohnzuwächse fast beitnehmerschaft 1998 noch einen offensiven aller OECD-Staaten zu verzeichnen, zudem ab- Wahlkampf für die SPD geführt, wurde 2009 nehmende Aufstiegschancen und ein Mehr an eine eindeutige politische Unterstützung fast Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Vor allem gänzlich verweigert. in den Randbereichen des Arbeitsmarktes ist es Die Dominanz der hegelianischen Staatspar- unbequemer geworden. tei und die Dissonanzen im Zusammenspiel mit Dieser Trend setzte lange vor der Agenda, der Basis ließen Vertrauen und Glaubwürdig- sogar schon vor 1998 ein. Die Reformpolitik keit in die SPD schwinden. Zu einem Ausgleich ist also Folge, nicht Ursache der zunehmen- gibt es aber keine Alternative, wenn die SPD den sozialen Unterschiede. Die Sozialdemo- handlungs- und mehrheitsfähig sein möchte. kraten haben dies zunächst nicht ausreichend Sozialdemokratie muss einerseits pragmatisch erkannt und teilweise sogar beschleunigt. Die sein, muss aber auch Leidenschaft und Empa- Wahrnehmung des Problems und die Gegen- thie zulassen. Sie muss zupackend sein und rezepte (Mindestlohn, vorsorgender Sozial- Vernunft ausstrahlen, aber gleichzeitig mitfüh- staat, etc.) kamen spät und sehr zögerlich. Die lend und inklusiv sein. zentrale Herausforderung der SPD der nächs- Daher ist die Kritik, die der SPD vorwirft, ten Jahre wird es sein, Vertrauen zurückzuge- sie sei einem falschen Mythos Mitte aufgeses- winnen, indem sie für Konzepte eintritt, die sen, verfehlt. Denn die Mitte aufzugeben hieße, die Dreidrittel-Gesellschaft wieder zusammen- die mehrheitsfähige Volkspartei SPD aufzuge- führt, indem sie Lebenschancen fördert. Sie ben. Vielmehr ist es die Aufgabe der SPD wie kann gerade in der Opposition neue Freiräume 1969 und 1998 die Mitte sozialdemokratisch zu nutzen, um eine offene Debatte zu führen, ihre deuten und zu besetzen. Das heißt auch, wieder Rolle zu reflektieren und sich konzentriert zum empathiefähig und parteilich zu sein; vor allem Neustart zu sammeln. eine offensivere Politik der Inklusion, der Ver- teilungspolitik und der sozialen Gerechtigkeit 3 Die anderen zu betreiben. Einen wesentlichen Mangel an Empathiefä- Bekanntermaßen hat die SPD in alle Richtun- higkeit hat die SPD in einem zentralen Feld of- gen verloren: Die Union konnte sich auf die fenbart, das eigentlich ein Heimspiel für sie ist: eigenen Mobilisierungskräfte, die Schwäche des Sie hat das Vertrauen verloren, die Partei des Gegners und die Popularität ihrer Kanzlerin sozialen Aufstiegs und der sozialen Gerechtig- verlassen. Der Union gelang es aber auch die keit zu sein. Zur Erklärung reichen Chiffren wie Große Koalition zur weitgehenden Beseitigung Hartz IV nicht aus. Denn die tiefer liegende ihrer Modernisierungsdefizite zu nutzen. Sie Ursache für das verlorene Vertrauen ist, dass hatte einen stimmigeren Gesamtauftritt und ist die SPD erst viel zu spät bemerkte, wie drama- in zentralen Feldern fortschrittlicher geworden. tisch und in welchem Tempo die Lebenschan- So schaffte sie eine programmatische und per- cen in Deutschland seit Jahren auseinander drif- sonelle Erneuerung in den Feldern ökologische ten. Die Dreidrittel-Gesellschaft mit einer Prä- Vernunft, Frauen und Familie sowie Integrati- karisierung der Unterschicht, einer Verängsti- on und Zuwanderung. Hinzu kam eine pragma- Mitte vs. Mitte 73

tische Annäherung an die Gewerkschaften. Die ches Potenzial im Osten weiter konsolidieren. CDU hat ihr Programm unauffällig und unauf- Auch wenn die ungeklärten programmatischen geregt von ihren Leipziger Beschlüssen zu ei- Fragen innerhalb der Linkspartei, die Friktio- nem mitfühlenden Konservatismus gewandelt. nen zwischen ostdeutschen Pragmatikern und Bei genauerer Betrachtung verliert aber auch westdeutschen Hardlinern sowie eine zuneh- die Union dauerhaft an Wählersubstanz und ist mend offene Führungsfrage die Zukunft der auch nur noch eine geschwächte Volkspartei mit Partei überschatten – das Fünf-Parteien-Sys- ungewisser Zukunft. Da sie mit der FDP auf tem in Deutschland hat sich etabliert. Immerhin: dem rechten Flügel nur eine halbe Konkurrenz Die Deutlichkeit des Wahlergebnisses hat die hat, ist der Verlust für sie strategisch weniger im Wahlkampf so dominante Diskussion über- dramatisch als bei der SPD, die sich mit der flüssig gemacht. Für die Zukunft kann das Spiel, Linkspartei mit einer Dreiviertel-Konkurrenz Koalitionen auszuschließen, wohl als beendet auseinandersetzen muss. Von ihren früher als betrachtet werden. Mindestziel erwarteten 40 Prozent plus X ist die Union gleichwohl meilenweit entfernt. 4 Was tun? Die dramatische Niederlage der SPD ist auch ein Ergebnis der Fragmentierung der politischen Wie jede Krise bietet auch diese eine Chance: Linken. Die Linkspopulisten konnten ehemali- Opposition ist zwar ‚Mist‘, aber auch der Ort, ges Stammklientel der Sozialdemokraten im an dem die Reihen geschlossen sowie neue Kon- Westen für sich gewinnen und ihr beträchtli- zepte und Strukturen aufgebaut werden kön- 74 Wolfgang Schroeder

nen. Die SPD hat nun wieder die Möglichkeit, kerung abhanden gekommen ist: die Mehrheit ihre Position zwischen Gemeinwohl, Parteiwohl sieht in Staatshilfen in der Krise Notlösungen und dem Anliegen der schwachen Interessen und durchaus nicht einen grundlegenden Para- neu auszutarieren. digmenwechsel. Die Annahme, dass die Wäh- Die SPD-Regierungszeit ist Teil ihrer Ge- ler die SPD-Politik für den Erhalt von Opel und schichte. Diese zu verleugnen wäre unklug. milliardenschwere Konjunkturpakete mit Stim- Aber Stil und Inhalte müssen konstruktiv hin- men honorieren würden, hat sich als fundamen- terfragt werden. Die Debatte sollte bei den Grün- tales Missverständnis erwiesen. Dennoch muss den für die Reformpolitik beginnen. Warum hat sich das Staatsverständnis jenseits von Aushöh- man getan, was man getan hat? Warum hat man lung oder Heilserwartung erneuern: Gefragt ist die selbstgesteckten Ziele nicht erreicht? der regulative Staat, der nicht allmächtig han- Es bedarf aber nicht nur einer Debatte über delt, aber klug lenkt. Die Entscheidungen zum das, was man getan hat, sondern auch, wie man Gewährsleistungsstaat sind irreversibel und regiert hat. Die SPD sollte nicht nur ihre Regie- waren in vielen Feldern richtig. Steuern statt rungspolitik diskutieren, sondern auch ihren rudern muss das Leitbild eines modernen Staats- Politikstil. Sie hatte zunehmend Schwierigkei- verständnis sein. ten, die eigenen Projekte in der eigenen Mit- Entscheidend ist: die SPD muss das Kon- gliedschaft zu verankern. Die 1998 gewählte zept der Mitte wieder sozialdemokratisch deu- Bundesregierung litt trotz langer Opposition ten und nicht als blutleere Staatsräson von ech- unter einem eklatanten Konzeptmangel: Zentra- ten und vermeintlichen Sachzwängen ableiten. le Regierungsprojekte wurden nach 1998 in Entscheidend wird sein, inwieweit es die Partei Expertenkommissionen und in der Ministerial- vermag, aus ihrer neuen Führung auch ein neues bürokratie vorbereitet. Das Potenzial einer Mit- Zentrum zu machen, das die konkurrierenden gliederpartei wurde hingegen nicht genutzt. Die Logiken von Staatspartei einerseits und Pro- SPD sollte daher wieder stärker das Potenzial grammpartei andererseits konstruktiv auflöst. ihrer Mitglieder entdecken, um nicht abhängig vom notorischen ‚externen Sachverstand‘ zu Wolfgang Schroeder ist Professor für Poli- sein. tikwissenschaften an der Universität Kassel und Die Etatismus-Sehnsucht der SPD ist ein Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Sozi- Beispiel dafür, dass die Partei den Zeitgeist fehl- ales, Frauen und Familie des Landes Branden- interpretiert hat und ihr der Draht in die Bevöl- burg. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 75

Albrecht von Lucke

Volkspartei neuen Typs: Die Merkel-Union

Was ist er nicht all die vergangenen Jahre be- wiederholte, sahen viele auf Dauer schwarz für schrieen worden: der Niedergang, ja das Ende die Union. der Volksparteien. Die jüngste Bundestagswahl Tatsächlich stürzte der noch kurz zuvor als beweist jedoch das Gegenteil: Das Modell ‚Kanzler der Einheit‘ gewürdigte Kohl seine Volkspartei lebt, wenn auch mit Einschränkung, Partei in die wohl schwerste Krise ihrer Ge- nämlich nur als amputiertes Modell – und zwar schichte. Viele sahen in ihm bereits den Andre- nur in der CDU/CSU. otti der CDU und prognostizierten, dass die Die Union ist aus der Wahl vom 27. Sep- Partei den Weg der italienischen Christdemo- tember 2009 zwar nicht prozentual gestärkt kraten gehen, sprich: zerfallen werde. hervorgegangen, was bei einer großen Koali- Doch das Gegenteil war der Fall: Die Spen- tion auch kaum möglich ist, aber doch poli- denaffäre geriet zu einem reinigenden Fegefeu- tisch gestärkt. So sehr gestärkt jedenfalls, dass er, aus dem die Union mit einer verjüngten Vor- Angela Merkel das möglich geworden ist, was sitzenden und als heute einzige verbliebene viele Beobachter im neuen Fünf-Parteien-Sys- Volkspartei hervorging. Die Ironie der Ge- tem bereits für ausgeschlossen hielten: die Bil- schichte: Das Erbe Helmut Kohls ist heute gesi- dung einer Zweier-Koalition aus einer großen cherter denn je. Mit elf Prozent Vorsprung vor und einer kleinen Partei. Diese Fähigkeit aber der SPD ist die Union in relativen Zahlen so zeichnete die Volksparteien der alten Bonner stark wie niemals zuvor. Bundesrepublik in funktioneller Weise gerade Die Folgen dieser Entwicklung liegen auf aus. der Hand: Dem Land droht eine Einparteiendo- Das Neue der Situation besteht darin, dass minanz, wie es sie zuletzt in der Adenauer-Ära der SPD dies auf unabsehbare Zeit nicht mehr gegeben hat. Und Angela Merkel stellt sich als möglich sein wird. Wir haben es definitiv nicht potentielle ‚ewige Kanzlerin‘ ganz in die Tradi- länger mit zwei Volksparteien zu tun, nämlich tion ihrer Vorgänger: ohne besonderes Charis- einer von rechter und einer von linker Proveni- ma oder gar rhetorisches Talent, aber mit er- enz. Das aber ändert das ganze Parteiensystem staunlicher politischer Klugheit ausgestattet, in so fundamentaler Weise, wie es vor zehn Jah- versucht sie noch stärker als bisher an die ‚Grün- ren niemand für möglich erachtet hätte. derzeit‘ der Bundesrepublik anzuschließen, um Erinnern wir uns: Mit der Niederlage der über Adenauer (1949) und Kohl (1989) die Tra- Union bei den Bundestagswahlen 1998 gingen ditionslinie als „Kanzlerin aller Deutschen“ die meisten politischen Beobachter von einem (2009) zu ziehen und die ganze bundesrepubli- gesicherten Vorsprung der Linken für die kom- kanische Geschichte für die Union als die ‚bür- menden Jahre aus. Schröder, Lafontaine und gerliche Partei der Mitte‘ zu reklamieren. Fischer sonnten sich im Vollgefühl ihres Erfol- Angela Merkel ist damit im Begriff, eine ganz ges. Und als am 30. November 1999 Helmut neue Form der Kanzler(innen)demokratie zu Kohl sein sensationelles Spendengeständnis entwickeln. Ihre Methode ist die der alles Um- ablegte, welches er am 16. Dezember 1999 in armenden, der alles Einnehmenden. Die Art und einem heute schon legendären Fernsehinterview Weise, wie die Kanzlerin im Gefolge des 60. 76 Albrecht von Lucke

Geburtstages des DGB offensiv die Gewerk- Unter dem omnipräsenten Signet der bürgerli- schaften umwarb, vermittelt davon bereits ei- chen ‚Mitte‘ verspricht sie vor allem Stabilität nen Vorgeschmack. und Kontinuität und gibt sich gleichzeitig an- Machtvergrößernd kommt eine einmalige schlussfähig und -willig in alle Richtungen. Dominanz in den Bundesländern hinzu. Kurz- Und tatsächlich dürfte sie in absehbarer Zeit um: Die ganze Bundesrepublik strahlt heute diese Anschlussfähigkeit auch im Bund erfolg- schier als christdemokratisches Gesamtkunst- reich unter Beweis stellen. Da bisher gar nicht werk. Um das Erbe Willy Brandts, der neben absehbar ist, wie sich die Sozialdemokratie aus Konrad Adenauer und Helmut Kohl dritten prä- ihrem Trilemma befreien kann – nämlich genden Kanzlergestalt der Bundesrepublik, sieht weiterhin im Schraubstock zwischen Union, es dagegen verheerend aus: keine Idee, keine Grünen und Linkspartei eingespannt zu sein –, Machtposition und keine Urenkelgeneration in werden vor allem die Grünen ihren ‚Kurs der der SPD in Sicht, die als taugliche Führungsre- Eigenständigkeit‘ gegenüber der SPD stärken serve hinter dem unangefochtenen neuen Vor- und sich statt dessen immer mehr der Union sitzenden in der Lage wäre, die Kartoffeln aus zuwenden. dem Feuer zu holen. Die Entscheidung der Grünen im Saarland Bei der Merkel-Union dagegen handelt es zeigt, wie schnell die Verlockung der Macht sich heute um eine Volkspartei neuen, gesamt- wirkt, über die heute auch im Bund nur noch die deutschen Typs. Das belegen bereits die unmit- Union verfügt. Selbst klare Wahlverlierer wie telbaren Auftritte der Kanzlerin nach der Wahl: Peter Müller oder die CDU in Thüringen kön- Volkspartei neuen Typs: Die Merkel-Union 77

nen sich darauf verlassen, willige Koalitions- Parteien, um sich den jeweiligen Koalitionspart- partner zu finden. ‚Jamaika‘ ist zugleich der ner je nach Lage auszusuchen. endgültige Bruch mit der alten Lagerlogik: An- Auf der anderen Seite wird sie weiter dar- stelle der klassischen Konstellation aus einem auf abzielen, ihre Konkurrenten auf der Lin- linken und einem rechten Lager werden in Zu- ken zu marginalisieren, wobei sie sich vor al- kunft zwei angeblich ‚bürgerliche Parteien‘, FDP lem auf die Mithilfe der Linkspartei verlassen und Grüne, um die Gunst der Union buhlen. Je kann. Solange diese ihren Konfrontationskurs nach Belieben kann die Union als letzte und gegenüber der SPD fortsetzt, ohne selbst Re- einzige Volkspartei Verbindungen mit den klei- gierungsbereitschaft zu signalisieren, bleibt neren Partnern eingehen, ob in der Zweier- oder eine Koalition aus SPD und Linken weit von in der Dreierkonstellation. Ihre Herrschaft dürfte den erforderlichen Prozentzahlen entfernt. Die bis auf weiteres niemand in Frage stellen kön- SPD würde damit auf unabsehbare Zeit regie- nen. rungsunfähig. Damit steht Merkel keineswegs allein in Echte Probleme können der Kanzlerin heu- Europa. Ihre Vorbilder sind in Frankreich und te allein aus ihren eigenen Reihen erwachsen. Italien. Sowohl Nicolas Sarkozy als auch Silvio Das Einzige, was der Kanzlerin derzeit gefähr- Berlusconi sehen sich infolge ihrer populisti- lich werden könnte, sind die maßlosen Forde- schen Politik keiner echten Konkurrenz von rungen des kleineren Koalitionspartners und links mehr ausgesetzt. Und sie wirken selbst die daraus resultierende Unzufriedenheit der maßgeblich in diese Richtung, indem sie wie eigenen Leute, speziell der christdemokrati- etwa Sarkozy ganz gezielt linke Persönlichkei- schen Landesfürsten. In den verbliebenen ka- ten wie den jetzigen Außenminister und frühe- tholischen Teilen der Union ist zudem bereits ren Chef von Ärzte ohne Grenzen, Bernard von zunehmenden Absetzbewegungen die Kouchner, in ihr Kabinett aufnehmen. Rede; von einer möglichen neuen konservati- Gewiss, noch erscheint fraglich, ob die ge- ven Parteigründung wird immer wieder ge- samte CDU/CSU zu einer vergleichbaren Um- munkelt. armungspolitik bereit wäre. Doch offenbar konn- Die Ironie der Angelegenheit: Auch das te sich die in weiten Teilen längst nicht mehr müsste der Kanzlerin nicht notwendig zum sonderlich konservative Union bereits spielend Nachteil gereichen. Faktisch könnte es durchaus an den ersten schwulen Außenminister gewöh- von Vorteil sein, wenn auf diese Weise eine klei- nen. Wer wollte da daran zweifeln, dass sich ne wirklich konservative Partei jene Wähler nicht eines Tages auch Jürgen Trittin und Rena- mitnähme, die bei der mittig-liberal sich gerie- te Künast mit Angela Merkel an einem Regie- renden Kanzlerin notwendigerweise auf der rungstisch wieder finden könnten? Streck bleiben. Denn anders als der SPD mit Unlängst signalisierte bereits der ‚Shooting- der nicht regierungsfähigen Linkspartei erwüch- star‘ der CSU, Verteidigungsminister Karl-The- se der Union umgehend ein weiterer potentiel- odor zu Guttenberg, sein Interesse an einer Aus- ler Koalitionspartner. Und was könnte mehr in weitung der Koalitionsoptionen in Richtung Angela Merkels Sinne sein – als echter Meiste- Grüne. Man müsse da „viel beweglicher wer- rin in der Physik der Macht. den“. Die Kanzlerin wird es mit Freuden ver- nommen haben. Denn letztlich muss Äquidis- Albrecht von Lucke ist Publizist und Redak- tanz das Idealbild der Volkspartei neuen Typs teur bei den Blättern für deutsche und internati- sein, sprich: gleicher Abstand zu allen kleinen onale Politik. 78 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Gerd Langguth

Erreicht Angela Merkel Kohls Amtszeit von 16 Jahren?

Angela Merkel hat alle Chancen, die Amtszeit grandiosen Wahlsieg Gerhard Schröders im Jah- Helmut Kohls von 16 Jahren zu erreichen; sie re 1998. Seinerzeit war nicht nur in Deutsch- sitzt innerparteilich sicherer im Sattel als ihr land die Sozialdemokratie gestärkt. Von den Entdecker Kohl in seinen besten Zeiten. Und in damals 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen einer Zeit dramatischer Veränderungen des deut- Union wurden elf von den Sozialdemokraten/ schen Parteiensystems ist – so paradox dies klin- Sozialisten regiert. Nur in Belgien, Luxemburg, gen mag – Merkel der ‚ruhende Pol‘, der ei- Irland und Spanien gab es noch christdemokra- gentliche kontinuierliche Faktor bundesdeut- tische bzw. konservative Regierungschefs. Der scher Politik. Beide Thesen sollen hier auf ihre Wahlsieg Tony Blairs in Großbritannien hatte Plausibilität hin überprüft werden. auch den deutschen Sozialdemokraten enormen Auftrieb gegeben. Doch gegenwärtig ist auch These 1 europaweit die Sozialdemokratie in der Defen- Merkels Kanzlerzeit wird länger anhalten, was sive, insbesondere in Frankreich oder Italien, auch vom politischen Zustand der Konkurrenz, wo es verschiedene linke Parteien gibt, die sich hier vor allem der SPD, abhängt. bekämpfen. Mit der Abspaltung der „Wahlalter- native Arbeit und Soziale Gerechtigkeit Herbert Wehner, einstiger und legendärer Frak- (WASG)“ von der SPD zeigte sich der Spalt- tionsvorsitzender der SPD, hat beim Bruch der pilz erneut auch in der deutschen Linken, zumal sozial-liberalen Koalition 1982 für die SPD eine sich die Partei Die Linke nach der Fusion mit lange Oppositionszeit vorhergesagt. Da er bei der WASG faktisch zu einer gesamtdeutschen seiner Aussage nuschelte, ist nicht genau über- Partei entwickelt hat. Die Schwäche der SPD, liefert, ob er 12, gar 16 Jahre oder einen Zeit- die bei den letzten Bundestagswahlen gerade raum dazwischen gemeint hat. Unstrittig ist aber, noch 23 Prozent erhalten hat, macht es auf lan- dass er von einem langen Oppositionszeitraum ge Dauer ziemlich unwahrscheinlich, dass sie ausging. Das war in einer Zeit, als die SPD bei den Bundeskanzler stellt, zumal dies dann nur Bundestagswahlen immerhin um die vierzig in einer Koalition mit der Linkspartei und den Prozent erzielen konnte, nämlich 1980 42,9 Pro- Grünen möglich wäre. zent und dann 1983 bei den vorgezogenen Wah- len 38,2 Prozent. In jener Zeit des Drei-Frakti- These 2 onen-Systems war die FDP der jeweilige Mehr- Merkel sitzt fester im Sattel als Helmut Kohl in heitsbeschaffer. Die SPD, die auch infolge des seinen besten Zeiten. Godesberger Programmes von 1959 in der Mitte der Gesellschaft angekommen war, befand sich Die beschriebenen politischen Umstände – die damals alles in allem in guter Verfassung. Dah- fehlende Machtperspektive der SPD, die es rendorf hatte andererseits schon bereits 1987 zudem im Kampf um das gleiche Wählerpoten- das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhun- tial mit der Linkspartei schwer hat, sich poli- derts“ beschworen, aber so schnell schien es tisch zu stabilisieren – festigen aber zugleich nicht einzutreten – vor allem nicht nach dem die Macht Angela Merkels. Damit soll keines- Erreicht Angela Merkel Kohls Amtszeit von 16 Jahren? 79

falls verkannt werden, dass ihre Partei – sieht positionscharakter, da die meisten Mitglieder man von dem Ergebnis der ersten Bundestags- dieses Reiseclubs untereinander zu Konkurren- wahlen 1949 ab – mit 33,8 Prozent das schlech- ten geworden sind. Von den jetzigen Minister- teste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren hat; präsidenten hätte einzig der Niedersachse Chris- aber immerhin beträgt der derzeitige Abstand tian Wulff die Fähigkeit, breite Zustimmung in zur SPD fast 11 Prozent. Innerparteilich gibt es der Partei zu erfahren, aber nach eigenem öf- in den Unionsparteien große Unzufriedenheit fentlichen Bekunden traue er sich selber die Kanz- mit diesem Wahlergebnis. Doch Merkel hat der lerschaft nicht zu, da es ihm angeblich an einem Umstand gerettet, dass es zur ‚Wunschkoaliti- entsprechenden Machtwillen mangele. Von dem on‘ mit der FDP kam, zumal viele Auguren in hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch den Medien bereits vorhergesagt hatten, dass erwarten die wenigsten, dass er bundesweit künftig zwei Fraktionen im Bundestag für eine Wahlen gewinnen könne. Oettinger, der mit Regierungsbildung nicht mehr ausreichen. Hin- Merkel in wirtschaftspolitischen Fragen im zu kommt, dass ein überwältigender Teil der Clinch lag, wurde nach Brüssel expediert, sein Wahlkreise in Unionshänden ist – gäbe es in Nachfolger Mappus dürfte es schwer haben, Deutschland ein Mehrheitswahlrecht nach bri- wirklich schnell bundespolitisches Gewicht zu tischem Vorbild, hätte die Union eine Drei-Vier- erhalten, trotz der starken wirtschaftlichen Rol- tel-Mehrheit. le Baden-Württembergs. Der saarländische Mi- In der CDU wird es so lange um Merkels nisterpräsident Müller, der noch vor den Bun- Machtverhältnisse gut stehen, solange insbe- destagswahlen von Merkel „CDU pur“ gefor- sondere auf Bundesebene vernünftige Wahler- dert hatte, kann froh sein, in einer ‚Jamaica- gebnisse eingefahren werden. Innerparteilich Koalition‘ zu überleben. Weder von dem schles- wird heftig diskutiert, warum es Merkel so we- wig-holsteinischen Ministerpräsidenten Harry nig gelingt, ihr hohes Ansehen als Kanzlerin Carstensen, noch von seinen ostdeutschen Kol- auf die Unionsparteien zu transportieren. legInnen Christine Lieberknecht (Thüringen) Andererseits wird argumentiert, dass gerade die und Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) – bei- Tatsache ihrer Kanzlerschaft für die Union ei- de stehen einer Großen Koalition vor – ist eine nen vergleichbaren Sturz wie den der SPD ver- Fundamentalopposition zu erwarten, am ehes- hindert hat. Doch spricht im Moment nichts ten noch von Stanislav Tillich aus Sachsen, der dafür, dass die innerparteiliche Kritik Merkel in einer kleinen Koalition mit der FDP sehr viel gefährlich werden könnte. Ein wesentlicher Fak- mehr politische Bewegungsfreiheit hat. In ge- tor ist das Fehlen einer organisierbaren Oppo- wissem Sinne am gefährlichsten für Merkel ist sition. Eine solche könnte nur aus den Bundes- der Ministerpräsident des größten Landes, der ländern heraus gestartet werden. Doch letztlich Nordrhein-Westfale Jürgen Rüttgers – aber brauchen die Ministerpräsidenten, die zumeist zunächst braucht er die Kanzlerin, wenn er die auch Landesvorsitzende ihrer Partei sind, die Landtagswahlen im Mai 2010 gewinnen will. Kooperation mit der Bundeskanzlerin, so sehr Mit anderen Worten: Wirkliche Opposition sie gelegentlich Giftpfeile in Richtung Berlin ist gegenwärtig nicht in Sicht; auf absehbare senden mögen. Hinzu kommt, dass die Minis- Zeit gibt es keine Persönlichkeit, die bereit und terpräsidenten sich untereinander selber nicht in der Lage wäre, einen Putsch anzuführen. So grün sind – auch der in den Medien vielbe- etwas käme in der CDU sowieso nur in Frage, schworene ‚Anden-Pakt‘ aufstrebender und wenn es ein Klima einer allgemeinen Hoffnungs- inzwischen arrivierter einstiger Jung-Unioni- losigkeit gäbe, wie das 1989 der Fall war, als sten hat längst nicht den ihm unterstellten Op- immerhin namhafte Persönlichkeiten wie Hei- 80 Gerd Langguth

ner Geißler, Kurt Biedenkopf, Lothar Späth und Gerade eine kleine Koalition mit der FDP Rita Süßmuth von Kohl als ‚Putschisten‘ auf gibt Merkel zudem die Möglichkeit, viele Frak- dem Bremer Parteitag der CDU aus dem Felde tionsangehörige die begehrte Funktion eines geschlagen wurden, obwohl die CDU eine Land- Parlamentarischen Staatssekretärs zu übertra- tagswahl nach der anderen verloren hatte. Es gen – ein beliebtes Instrument nicht nur zur war die dann später hereinbrechende deutsche ‚Kontrolle‘ des jeweiligen Bundesministers. Einheit, die Kohl noch einmal das politische Es sind die ‚Parlamentarischen‘, die es der Leben rettete. Kanzlerin ermöglichen, getreue Gefolgsleute Hinzu kommt, dass es Merkel gelernt hat, in in ihr gutbezahltes Amt zu hieven, die schön die wichtigen Schaltstellen von Partei und Frak- das ganze Bundesgebiet und damit alle Lan- tion ihr gegenüber unbedingt Loyale hinzuset- desparteien abdecken. Während in der Großen zen. Sie hat seit April 2000, als sie in Essen Koalition acht der 15 Minister von der SPD Parteivorsitzende wurde, immerhin ihren fünf- gestellt wurden und zwei von der CSU, so ten Generalsekretär (Ruprecht Polenz, Laurenz dass nur fünf von der CDU kamen – und nur Meyer, Volker Kauder, Ronald Pofalla und jetzt auf deren Auswahl hatte Merkel wirklichen Hermann Gröhe). Sie weiß um die satzungs- Einfluss –, stellt die CDU jetzt sieben Bundes- rechtlich starken Möglichkeiten eines General- minister und die CSU drei, wodurch zwei- sekretärs, dessen Stellung allein dadurch her- felsohne Merkel ihren Einfluss im Kabinett vorgehoben ist, dass er sich im Gegensatz zu wesentlich verbreitern konnte, zumal nun das Merkel und allen anderen Vorstandsmitgliedern Finanzministerium die politische Farbe der lediglich alle vier Jahre einer Wiederwahl zu Kanzlerin hat. Da fast alle politischen Entschei- stellen hat. Merkel hat sich die Generalsekretä- dungen finanzpolitische Auswirkungen haben re so ausgesucht, dass sie sich ihrer unbeding- und das Bundesfinanzministerium so etwas wie ten Loyalität und Unterordnung sicher sein konn- ein Vetorecht hat, war die Nominierung Wolf- te. Allerdings sind die parteiinternen Stimmen gang Schäubles ein besonders gelungener keinesfalls leiser geworden, die eine Vernach- Schachzug zur Stärkung Merkels im Kabinett, lässigung der Parteiarbeit durch Merkel kriti- auch wenn beider Verhältnis nicht immer kon- sieren. fliktfrei war. Mit Volker Kauder hat Merkel ebenso ei- Merkel hat viel von Kohl und seiner Macht- nen loyalen wie handzahmen Fraktionsvorsit- ausübung gelernt, doch ist ihre machtpolitische zenden, der sich keineswegs über die öffentli- Stellung derzeit auch aufgrund der gesamtpoli- che wie fraktionsinterne Kritik freut, dass die tischen Wetterlage stärker. Zwar lassen sich heute Fraktion als solche eine zu geringe Gegenmacht viel schwerer Wahlprognosen machen, doch legt gegenüber der Kanzlerin darstelle. Nun zeigt die neue Buntheit des deutschen Parteiensys- die Fraktionsgeschichte, dass es alle Kanzler tems und die vermutlich langanhaltende Schwä- geschafft haben, ihnen loyale Fraktionsvorsit- che der SPD nahe, dass das machtpolitische zende zu installieren – mit Ausnahme Ludwig Geschick der Kanzlerin voll zum Tragen kom- Erhards, der mit Rainer Barzel zurechtkom- men kann. men musste, welcher selbst Ambitionen auf den Kanzlerstuhl hatte. Auch deshalb ist Er- Dr. Gerd Langguth ist Professor für Poli- hard gescheitert. tikwissenschaft an der Universität Bonn. Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010 81

ANALYSE betreffenden Konfliktes sowie über Ziele, Mit- ...... tel und nicht zuletzt auch die Zukunft des deut- schen Einsatzes durch die politischen Entschei- Der Bundeswehreinsatz in dungsträger – ist sicherlich eines der bemer- Afghanistan im Bundestags- kenswertesten Erkenntnisse aus dem jüngsten wahlkampf 2009: Ein Nachwort Bundestagswahlkampf. Wie war es möglich, dass der Afghanistan-Einsatz als „Musterfall Die Ereignisse des 4. September 2009 stellten strukturellen Politikversagens“ (Naumann 2008: den Alptraum für die Wahlkampfstrategen jener 8) mitsamt der seit Jahren zu beobachtenden Parteien dar, die seit 2001 das Mandat für den mangelnden strategischen Kompetenz der poli- Einsatz deutscher Streitkräfte in Afghanistan be- tischen und auch militärischen Führung (vgl. fürwortet und immer wieder verlängert hatten. ebd.: 14) und angesichts der zu schulternden In den Morgenstunden dieses Tages hatte ein finanziellen und materiellen Lasten sowie des deutscher Offizier amerikanischen Piloten den Risikos für Leib und Leben deutscher Soldaten Angriffbefehl auf zwei von Aufständischen in nicht zu einem der beherrschenden Wahlkampf- der nordafghanischen Provinz Kunduz geka- themen wurde? perte Tanklastwagen gegeben. Als Ergebnis des „folgenschwerste[n] von deutschen Soldaten 1 Was die Wahlprogramme sagen – angeordneten Angriff[s] seit dem Zweiten Welt- und was nicht krieg“ (Dämmer et al. 2009: 23) kamen nicht Ein geeigneter Ausgangspunkt zur Beantwor- nur bis zu 142 Menschen um, darunter eine tung dieser Frage besteht darin, die Wahlpro- große Anzahl von Zivilisten. Vielmehr hatte sich gramme der Parteien in Augenschein zu neh- das Thema Afghanistan damit trotz der entge- men. Enthalten diese bereits derart erschöpfen- gengesetzten Intention und des unausgespro- de Informationen, dass sich eine Thematisie- chen zwischen den Regierungsparteien sowie rung im öffentlichen Diskurs angesichts drän- Grünen und FDP bestehenden Konsenses (vgl. gender und kontrovers diskutierter Themen wie Gießmann/Wagner 2009: 7) von selbst als Wahl- Bildungs- und Gesundheitsreform, Steuerge- kampfthema eingebracht. Die Bomben trafen setzgebung und globaler Finanzkrise erübrigt? somit nicht nur einen in einem Flussbett ste- Bereits ein kursorischer Blick zeigt, dass dies cken gebliebenen Konvoi, sondern entflamm- mitnichten der Fall ist. Als einer von zahlrei- ten ebenso die seit Jahren auf der Stelle tretende chen außen- und sicherheitspolitischen Themen- politische Diskussion in Deutschland, die sich komplexen werden Afghanistan und der dazu einer offenen Auseinandersetzung mit der Fra- gehörige Bundeswehreinsatz en passant abge- ge nach Ziel und Mitteln des deutschen Engage- handelt. Zugegeben, Wahlprogramme müssen ments am Hindukusch beharrlich verweigert. über das gesamte Spektrum der politischen Ar- Allein, auch die Bilder vom Angriffsort und beit von Parteien informieren, Rechenschaft über die frühzeitig einsetzende Kritik am Vorgehen bereits Geleistetes ebenso ablegen wie einen des deutschen Kommandeurs haben es nicht Ausblick geben, welches Programm, welche vermocht, den Bundeswehreinsatz in Afghanis- Initiativen in der kommenden Legislaturperiode tan zu einem der zentralen Themen des Bundes- verfolgt werden sollen. tagswahlkampfes in den verbleibenden Wochen Gerade die daraus resultierende Anforderung, bis zum Urnengang zu machen. Dieser Befund die Wählerinnen und Wähler durch knappe For- – die ‚erfolgreiche‘ Verweigerung der überfälli- mulierungen möglichst umfassend zu informie- gen Diskussion in Bezug auf die Gestalt des ren, wurde jedoch zumindest mit Blick auf den 82 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Afghanistankonflikt nicht erfüllt. Über das ge- DIE LINKE 2009: 54), bleibt viele Antworten samte Parteienspektrum hinweg wurden schuldig. Insbesondere die Frage nach dem lediglich Schlagworte aneinandergereiht, die Schicksal der nach einem Abzug der militäri- keinen Aufschluss über grundsätzliche Fragen schen Kräfte verbleibenden zivilen Aufbauhel- wie die Dauer des Bundeswehreinsatzes oder fer wird nicht beantwortet. Besonders interes- mögliche Kriterien zur Beurteilung von Erfolg sant für die Halbwertszeit und Verbindlichkeit oder Misserfolg geben. So heißt es beispiels- von Wahlkampfaussagen ist der Umstand, dass weise im Papier der CDU/CSU: „Die Schaf- die Forderung nach dem ‚sofortigen Abzug‘ fung tragfähiger Strukturen ist die Vorausset- zeitnah zur Veröffentlichung des Wahlpro- zung für eine spätere Reduzierung und schließ- gramms durch eine parteiinterne Diskussion lich zur Beendigung unseres militärischen En- überschattet wurde, was denn eigentlich mit gagements“ (CDU/CSU 2009: 87). Derartige sofort gemeint und welcher Zeitplan hier realis- Formulierungen werfen mehr Fragen auf als sie tisch sei. Auch im Falle von FDP und Grünen beantworten: Wie sollen derart ‚tragfähige ist zwar unverkennbar die Forderung nach ei- Strukturen‘ aussehen? Geht es um quantitative ner Veränderung des bisher praktizierten Vorge- oder qualitative Indikatoren, Kopfstärke des af- hens zu erkennen; gleichzeitig sucht der Leser ghanischen Sicherheitsapparates oder dem Aus- auch hier vergeblich nach ganzheitlichen kon- bildungsstand seiner Angehörigen? Bedeuten zeptionellen Ansätzen, die der Komplexität des ausbleibende Fortschritte in Bezug auf die Schaf- Konflikts gerecht werden (vgl. FDP 2009; Bünd- fung ‚tragfähiger Strukturen‘, die als Vorbedin- nis 90/DIE GRÜNEN 2009). gung für den Abzug der deutschen Kräfte be- Der Blick auf die Wahlprogramme ist nicht zeichnet werden, dass die Bundeswehr und die nur hilfreich, weil er zeigt, dass diese keinesfalls zivilen MitarbeiterInnen des Bundesministeri- aussagekräftige Antworten auf die Frage nach ums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Gestalt, Mittel und Dauer des deutschen Enga- Entwicklung auf unabsehbare Zeit in Afghanis- gements geben. Darüber hinaus wird einer der tan verbleiben müssen? zentralen Gründe sichtbar, warum auch nach Die SPD befürwortet einen „zivilgesell- dem Luftangriff von Kunduz keine politische schaftlichen und entwicklungspolitischen An- Diskussion um den Afghanistaneinsatz ent- satz“, wirbt gleichzeitig allerdings für einen „zi- brannte. Zwar trifft es unzweifelhaft zu, dass vil-militärischen Ansatz“ (SPD 2009: 91). Of- die Art und Weise, in der die nachfolgende De- fen bleibt hier, in welchem Maße zivile bzw. batte geführt wurde, hierzu selbst einen wesent- militärische Mittel zum Einsatz kommen sollen lichen Beitrag geleistet hat. Indem sich letztere und wie die in den vergangenen Jahren zur Ge- stärker auf den Vorfall selbst denn auf die grund- nüge bekannt gewordenen wechselseitigen Ani- sätzlichen Zusammenhänge und Rahmenbedin- mositäten und Kooperationswiderstände über- gungen des Einsatzes konzentrierte (vgl. Gieß- wunden werden sollen (vgl. Noetzel/Rid 2009: mannn/Wagner 2009: 3), wurde eine sich bie- 73). Da trifft es sich gut, dass man direkt auf tende Möglichkeit leichtfertig vertan. Von ent- das von der Bundesregierung überarbeitete Af- scheidender Bedeutung ist jedoch das Vorhan- ghanistan-Konzept (vgl. Die Bundesregierung densein eines Grundkonsenses zwischen allen 2008) verweisen kann, als ob dadurch alle un- im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnah- geklärten Fragen beantwortet würden. me der Partei DIE LINKE. Trotz Differenzen Auch DIE LINKE als einzige der im Bun- im Detail soll – so ließe sich diese Übereinkunft destag vertretenen Parteien, die sich für einen zusammenfassen – der Afghanistan-Einsatz bis sofortigen Abzug aus Afghanistan einsetzt (vgl. auf Weiteres fortgesetzt werden. Folglich haben Pulsschlag 83

CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne als jene Par- Schröder vor allem durch sein entschlossenes teien, die bereits die ursprüngliche Entschei- Nein zum sich abzeichnenden Irakkrieg gelang, dung zur Entsendung deutscher Soldaten nach die Wahl zu entscheiden. Folglich war es ent- Afghanistan im Jahr 2001 mitgetragen und de- sprechend dieser Erfahrung nur konsequent, den ren Mandat sie in der Folge immer wieder ver- durch Außenminister Steinmeier gemachten längert haben, keinen Anlass, eine Debatte an- Versuch, eine Debatte über mögliche Exit-Stra- zustoßen, die ihrer eigenen Zielsetzung diamet- tegien zu entfesseln, ins Leere laufen zu lassen ral entgegengesetzt ist. Dies gilt zumal vor dem und sich nicht auf eine Debatte mit ungewissem Hintergrund der bereits zum damaligen Zeit- Ausgang einzulassen. Vorsprung verwalten statt punkt bestehenden kritischen Haltung weiter Inhalt entfalten, so ließe sich dieses Verhaltens- Bevölkerungsteile gegenüber dem deutschen muster zusammenfassen. Engagement am Hindukusch. In einem Wahl- kampf, in dem es weniger um Inhalte als um die 2 Strategisches Handeln als Fertigkeit der Parteien bzw. Kandidaten ging, Legitimationsressource die WählerInnen von ihrer Regierungsfähigkeit Die aktuelle Lage in Afghanistan unterscheidet zu überzeugen, barg das Thema Afghanistan sich fundamental von jener aus der Anfangszeit für alle Beteiligten unkalkulierbare Risiken bei des internationalen Engagements. Die Gefähr- gleichzeitig geringen Gewinnmöglichkeiten. dungslage für die ausländischen Truppen ist Gerade auf Seiten der CDU/CSU dürfte die exponentiell gestiegen, nicht zuletzt, weil die Erinnerung an den Bundestagswahlkampf von Aufständischen an Erfahrung gewonnen haben, 2002 noch frisch gewesen sein, als es Gerhard innovative taktische Vorgehensweisen prakti- 84 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

zieren und über Rückzugsgebiete in und Nach- Die hier vorgenommene Differenzierung schubwege aus Pakistan verfügen (vgl. Kilcul- zwischen Willen und Befähigung ist in diesem len 2009). Von all diesen Entwicklungen hat Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Denn man im Wahlkampf nichts gehört und auch die die Inhaltsleere der Wahlprogramme lässt sich begleitende mediale Berichterstattung hat we- nicht allein damit erklären, dass ein Grundkon- nig dazu beigetragen, die Wählerinnen und sens vorhanden ist, der eine Bereitschaft zum Wähler über diese Entwicklungen ins Bild zu weiteren Engagement in Afghanistan umfasst. setzen. Zwar eignen sich außen- und sicher- Die fehlenden Konturen überzeugender Kon- heitspolitische Themen aufgrund der geringen zepte quer durch das Parteienspektrum hinweg Berührungspunkte weiter Bevölkerungsteile mit unterstreichen vielmehr die vielfach geäußerte diesen Politikbereichen in der Regel nicht als Kritik an der mangelhaften Qualität des strate- zentrale Wahlkampfthemen. Allerdings sollte gischen Denkens in Deutschland (Naumann bedacht werden, dass bereits 2005 der 200.000. 2008 und 2009; Schwarz 2009; Krause 2005; Bundeswehrsoldat in den Auslandseinsatz ent- Jäger 2004). Dieses ist jedoch erforderlich, um sendet wurde; rechnet man neben den unmittel- eines der zentralen Spannungsfelder der gegen- bar Betroffenen auch Verwandte und Freunde wärtigen Außen- und Sicherheitspolitik hinzu, darf mit einiger Berechtigung davon ge- Deutschlands zu überwinden: Während die deut- sprochen werden, dass durch Einsätze im inter- sche Bevölkerung das Diktum Peter Strucks, nationalen Rahmen ein nicht unerheblicher Teil dem zu Folge Deutschland am Hindukusch ver- der Bevölkerung betroffen ist. Folglich bedarf teidigt werde, nie in seiner ganzen Tragweite es noch nicht einmal des Bemühens altruisti- nachvollzogen und sich schon gar nicht mit ihm scher Erklärungsansätze, um eine endlich zu den identifiziert hat, erwarten die Verbündeten, al- grundlegenden Aspekten des Streitkräfteeinsat- len voran die USA, einen zählbaren Beitrag zes vordringende Diskussion zu fordern. Nicht Deutschlands bei der Bewältigung gegenwärti- von ungefähr hat Bundespräsident Köhler hat ger außen- und sicherheitspolitischer Heraus- in seiner Rede zum Volkstrauertag jüngst zum forderungen. Diesem Dilemma wird die deut- wiederholten Male darauf verwiesen, dass es sche Politik nur erfolgreich begegnen können, wichtig sei, sich „Klarheit darüber [zu] verschaf- wenn sie es vermag, nach Innen wie nach Außen fen, was die Ziele des Einsatzes sind, was auf plausibel zu begründen, unter welchen Rahmen- dem Spiel steht und mit welchem Beitrag wir bedingungen, zu welchem Zweck und mit wel- den anderen Nationen und den Menschen in chen Mitteln sie bereit ist, sich international zu Not zur Seite stehen wollen“ (Köhler 2009). engagieren (vgl. Perthes 2007). Anders ausge- Der vergangene Bundestagswahlkampf hat die- drückt: Die deutsche Politik muss endlich ein ses Gebot nicht beachtet, keine der Parteien hat strategisches Fundament für ihr außenpoliti- es vermocht und war willens, den politisch ris- sches Agieren entwickeln, das eine klare und kanten Weg zu gehen, ein strategisches Kon- nachvollziehbare Positionsbestimmung erlaubt. zept für das zukünftige deutsche Engagement in In diesem Fall käme Wahlen die wichtige Funk- Afghanistan und in internationalen Einsätzen tion zu, die strategische Ausrichtung zu über- insgesamt vorzulegen. Die weitestgehende Aus- prüfen und der Politik den Auftrag zu erteilen, klammerung des Konflikts am Hindukusch ist diese gegebenenfalls neu auszutarieren. Über- dabei sowohl das Ergebnis wahlkampftaktischer einstimmung mit und nicht Ausschluss des Sou- Überlegungen als auch der Ausdruck einer veräns für den Fall der Verweigerung gegenü- insgesamt astrategischen Haltung in der deut- ber dem politisch erzielten Konsens sollte das schen Außen- und Sicherheitspolitik. Ziel sein. Denn bekanntermaßen hängen Durch- Pulsschlag 85

haltefähigkeit und Erfolgsaussichten der NATO- heit und Freiheit. Außenpolitische, innenpoliti- Staaten in den gegenwärtigen Konflikten nicht sche und ideengeschichtliche Perspektiven. Fest- in erster Linie von ihren überlegenen technolo- schrift für Wilfried von Bredow. Baden-Baden: gischen Fähigkeiten ab, sondern vielmehr von Nomos, 150-171. der Bereitschaft ihrer Bevölkerung, die auftre- Kilcullen, David (2009): The Accidential tenden Lasten mitzutragen, bis die Ziele erreicht Guerilla. Fighting Small Wars in the Midst of a sind. Um diese Zustimmung zu erreichen, müs- Big One. Oxford und New York: Oxford Uni- sen die Ziele allerdings erst einmal definieren. versity Press. Köhler, Horst (2009): „Den Frieden gewin- Christoph Schwarz ist wissenschaftlicher nen“ - Rede von Bundespräsident Horst Köhler Mitarbeiter im Teilbereich Internationale Bezie- bei der Gedenkveranstaltung des Volksbundes hungen und Politische Ökonomie am Institut Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. aus Anlass für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. des Volkstrauertages am 15. November 2009 in Kontakt: [email protected] Berlin. Online im Internet: www. aachen.de. bundespraesident.de/Anlage/original_659504/ Rede-von-Bundespraesident-Horst-Koehler- Literatur aus-Anlass-des-Volkstrauertages.pdf Bündnis 90/DIE GRÜNEN (2009): DER [30.12.09]. GRÜNE NEUE GESELLSCHAFTSVER- Krause, Joachim (2005): Auf der Suche nach TRAG. KLIMA ARBEIT GERECHTIGKEIT einer Grand Strategy. Die deutsche Sicherheits- FREIHEIT. Berlin. politik nach der Wiedervereinigung. In: Inter- CDU/CSU (2009): WIR HABEN DIE nationale Politik, Jg. 60, Heft 8, 16-25. KRAFT. GEMEINSAM FÜR UNSER Naumann, Klaus (2008): Einsatz ohne Ziel? LAND. Regierungsprogramm 2009-2013. Ber- Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Ham- lin. burg: Hamburger Edition. Dämmer, Ulrike et al. (2009) Die Schwei- Naumann, Klaus (2009): Wie strategiefähig gespirale. In: Der Spiegel. Heft 49, 22-27. ist die deutsche Sicherheitspolitik? In: Aus Po- Die Bundesregierung (2008): Das Afgha- litik und Zeitgeschichte, Heft 48, 10-17. nistan-Konzept der Bundesregierung. Berlin. Noetzel, Timo/ Rid, Thomas (2009): DIE LINKE (2009): Konsequent sozial. Für Germany’s Options in Afghanistan. In: Survi- Demokratie und Frieden. Bundestagswahlpro- val. The IISS Quarterly, Jg. 51, Heft 5, 71-90. gramm 2009. Berlin. Perthes, Volker (2007): Wie? Wann? Wo? FDP (2009): Die Mitte stärken. Deutsch- Wie oft? In: Internationale Politik, Jg. 62, Heft landprogramm 2009. Programm der Freien 5, 16-21. Demokratischen Partei zur Bundestagswahl Schwarz, Christoph (2009): Die Frage ei- 2009. Hannover. ner Nationalen Sicherheitsstrategie für Deutsch- Gießmann, Hans J./Wagner, Armin (2009): land als Gegenstand des außenpolitischen Dis- Auslandseinsätze der Bundeswehr. In: Aus Po- kurses. In: Rohwerder, Jan/ Volk, Christian litik und Zeitgeschichte. Heft 48, 3-9. (Hg.): Junge politikwissenschaftliche Perspek- Jäger, Thomas (2004): Das Ende der Phan- tiven. Dokumentation der Aachener Herbstge- tomdebatten. Die amerikanische Weltordnungs- spräche, Hamburg: Dr. Kovac, 171-194. politik zwingt Deutschland zu einer Grand Stra- SPD (2009): Sozial und Demokratisch. An- tegy. In: Jäger, Thomas/Kümmel, Gerhard/ packen. Für Deutschland. Das Regierungspro- Lerch, Marika/Noetzel, Thomas (Hg.): Sicher- gramm der SPD. Berlin. 86 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

TAGUNGSBERICHT gemeinsamen Konferenz der drei Institute wur- ...... de offenbar schon längere Zeit geschmiedet. Insofern war wohl auch ein Stück Zufall dabei, Rückkehr der Gesellschaftstheorie dass das Ziel einer kritischen Gesellschaftsana- Zur Eröffnung der Werkschau ‚Die Lava des lyse nicht nur von Seiten streikender Studen- Gedankens im Fluss‘ anlässlich seines 80. Ge- ten, sondern auch durch eine in einer globalen burtstages hat Jürgen Habermas der Stadt Frank- Wirtschaftskrise befindliche Realität mit zusätz- furt kürzlich eine freundliche Hommage gewid- licher Plausibilität ausgestattet wurde. Während met. In seiner ‚Reminiszenz an Frankfurt‘ mit die ‚alte‘ Kritische Theorie nämlich noch buch- Seitenblicken nicht nur auf Universität und Ins- stäblich aus dem Exil zurückgekehrt war, konn- titut für Sozialforschung hob Habermas hervor, ten die Eingangsredner nicht restlos überzeu- dass die Stadt ihr Profil auch „einer unverschlei- gend erklären, wo die Gesellschaftstheorie denn erten Intellektualität [verdanke], die sich den diesmal abgeblieben war, um die Rede von ih- Attraktionen und den Dissonanzen einer span- rer ‚Rückkehr‘ zu begründen. nungsreichen Moderne öffnet“. Eine zentrale Herausforderung der Veran- Nicht der Reminiszenz, sondern gleich der stalter bestand dann auch darin, die ohnehin lau- ‚Rückkehr der Gesellschaftstheorie‘ widmete fenden Forschungsprogramme ihrer Institute sich vom 3.-5. Dezember 2009 eine in Frank- soweit zu verschränken, dass das angestrebte furt gemeinsam vom Institut für Sozialfor- „experimentelle Austesten konkurrierender In- schung, dem Hamburger Institut für Sozialfor- terpretationen“ eine gemeinsame inhaltliche Ebe- schung und dem Münchner Sonderforschungs- ne gewinnen konnte. Die Institute haben diese bereich ‚Reflexive Modernisierung‘ veranstal- Aufgabe dahingehend gelöst, dass von allen tete Konferenz zu ‚Kritischer Sozialforschung Instituten bearbeitete Themenkomplexe und Fra- im Widerstreit‘.1 Obschon in den Hörsälen, in gestellungen abgestimmt wurden, die zugleich denen die Konferenz ausgerichtet wurde, schon soweit gefasst waren, dass sowohl empirische Adorno gesprochen hat, sollte es – wie Axel Forschungen wie auch gesellschaftstheoretische Honneth als einer der Gastgeber betonte – kei- Ansprüche Raum finden konnten. Die vor al- nesfalls um einen „Streit von Nachlassverwal- lem der theoretischen Diskussion gewidmeten tern“ gehen. Panelveranstaltungen beschäftigten sich vor die- sem Hintergrund mit ‚Schlüsselbegriffen kriti- Zeit in Begriffe gefasst scher Gesellschaftstheorie‘, ‚Transnationalisie- Auf der Tagesordnung stand vielmehr die kriti- rung: Demokratie und Öffentlichkeit‘, ‚Subjek- sche Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse tivierung: Kultur und Privatheit‘ sowie ‚Polari- und damit die Erneuerung des Anspruchs, die sierung: Ökonomie und Gesellschaft‘. ‚Zeit in Begriffe zu fassen‘. Dass die Einlösung Bei den auf dem Eröffnungspodium disku- dieses Programms nicht zuletzt an der Zukunft tierten ‚Schlüsselbegriffen kritischer Gesell- unserer Bildungs- und Forschungsanstalten schaftstheorie‘ handelte es sich weniger um hängt, daran erinnerte vorweg ein Vertreter der Begriffe einer integralen Kritischen Theorie oder im ‚Bildungsstreik‘ befindlichen Studenten- Sozialforschung im Singular, als vielmehr um schaft. Während das besetzte Universitätscasi- Grundbegriffe sich als kritisch verstehender no allerdings von der Polizei geräumt worden Theorien im Plural. Obwohl diese Begriffe noch war, hatten sich Gerüchte, dass auch die Konfe- eher nebeneinander standen, als dass sie sich renz streikbedingt ausfallen oder umziehen müss- ‚im Widerstreit‘ aneinander gestoßen oder ab- te, kurz zuvor bereits verzogen. Der Plan einer gearbeitet hätten, kamen, wo Ulrich Beck über Pulsschlag 87

‚Risiko‘, Axel Honneth über ‚Anerkennung‘ durch Differenzerfahrungen vereinheitlichenden und Jan Philipp Reemtsma über ‚Gewalt‘ refe- weltöffentlichen Diskurses zeigen, sieht er die rierten, Selbstverständnisse der jeweiligen For- Suche von Soziologie und Politikwissenschaf- schungsprogramme zur Sprache. ten nach einem neuen historischen Projekt mit drei – optimistischen, realistischen und pessi- München: Ulrich Becks Risiko mistischen – Zukunftsszenarien konfrontiert. Ulrich Beck forderte leitmotivisch eine „Depro- Das weit fortgeschrittene pessimistische Sze- vinzialisierung der Gesellschaftstheorie“ und nario sei von fundamentalistischen Gegenbe- deren kosmopolitische Wendung. Diese Forde- wegungen, Klimawandel und Migrationsbewe- rung war dabei nicht zuletzt an die von ihm gungen gekennzeichnet. Im realistischen Sze- selbst entwickelte und protegierte Theorie der nario würden die „Agnostiker des Klimawan- reflexiven Modernisierung gerichtet. Deprovin- dels“ die Oberhand behalten und die überkom- zialisierung – so sein Argument – sei nicht nur mene Modernisierung im Rahmen eines ange- durch eine Ausweitung des theoretischen Hori- grünten Kapitalismus fortgesetzt. Auch wenn zonts auf außereuropäische und nicht-westliche Europa in den Worten Becks ein „Weltunter- Gesellschaften zu haben, sondern sie berühre in gangsmodell“ entwickelt habe, würden sich Ele- einer reflexiven Bewegung eben auch die Grund- mente für das positive Szenario der Entstehung kategorien, mit denen die Soziologie den eige- transnationaler „imagined cosmopolitan com- nen, europäischen Gesellschaften zu Leibe rückt. munities“ gerade im Rahmen der EU abzeich- Individualisierung verlaufe bspw. in China nen. Die Deprovinzialisierung der Gesellschafts- in anderen Bahnen, als sie aus dem Erfahrungs- theorie mündet auf diesen Bahnen insofern in raum der europäischen Wohlfahrtsstaaten als eine „reflexive Reprovinzialisierung“, in einen selbstverständlich unterstellt worden sei. Und neuen Anlauf, die EU als politisches Projekt zu die Annahme, dass Risikogesellschaften durch konstituieren und in der globalen Arena als Ak- die Konfrontation mit selbstproduzierten Risi- teur einer transnational-kosmopolitischen Ver- ken gekennzeichnet sind, reiche etwa im Blick gesellschaftung zu rehabilitieren. auf postkoloniale Gesellschaften des Südens nicht hin. Wenn bspw. schwach entwickelte pa- Frankfurt: Axel Honneths zifische Inselstaaten im Zuge des Klimawan- Anerkennung dels vom Tod durch Ertrinken bedroht seien, Wo Ulrich Beck die Diagnose unserer Zeit un- dann handele es sich hier nicht um selbstge- ter dem Vorzeichen des Risikobegriffs durch machte, sondern um externalisierte Risiken des eine kosmopolitische Reformulierung der The- Westens. Eine kosmopolitisch ausgerichtete orie der reflexiven Moderne erwartet, stellte Axel Theorie komme ohne einen Begriff von Fremd- Honneth die empirische Forschung unter dem gefährdungen insofern nicht aus. Vorzeichen des Anerkennungsbegriffs auf eine Gerade im Rahmen einer derartigen kosmo- gesellschaftstheoretische Grundlage. Eine politischen Wende werde auch deutlich, wie tief gleichsam inoffizielle Leseart von Talcott Par- bisher die Akteursperspektive des Nationalstaats sons fungierte als begriffliche Referenzfolie, die in die Beobachtungsperspektve der Sozialwis- zur Diagnose einer „Verwilderung des sozialen senschaft eingelassen und damit auch Wertfrei- Konflikts“ in der gegenwärtigen Gesellschaft heitspostulate ad absurdum geführt seien. Selbst führt. Ausgehend von der Frage nach den moti- wenn sich nach Becks Auffassung verschiede- vationalen Antrieben zur Übernahme gesell- ne Anzeichen für die Entstehung von „imagined schaftlicher Pflichten durch die Subjekte zeigte communities“ globaler Risiken und eines sich Honneth, dass gesellschaftliche Teilbereiche als 88 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

durch Normen reziproker Achtung strukturierte dieser Ausgleichs- und Pazifierungsmuster in „Subsysteme wechselseitiger Anerkennung“ der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Chan- verstanden werden können. Auch angesichts cen auf Anerkennung seien zunehmend unklar gewisser harmonistischer Züge bei Parsons bil- geworden und in dem Umstand, dass die sozia- den soziale Konflikte einen Bestandteil jeder len Systeme die Anerkennungsansprüche nicht normativ strukturierten Handlungssphäre und geregelt befriedigen könnten, begründe sich eine der von „Gefühlen moralischer Empörung“ ge- endemische Verwilderung des sozialen Konf- tragene Streit gehe jeweils um eine bessere, ge- likts. In Hinsicht auf das Recht erstrecke sich rechtere Interpretation der bereichsspezifischen das Gleichheitsprinzip nicht auf Migranten und Handlungsnormen. Einwanderer. Im Wirtschaftssystem habe man Honneth hat hier drei Sphären vor Augen: es mit Dauerarbeitslosigkeit und einer ideologi- das Recht, die Wirtschaft und die Familie. Auf schen Überformung und Usurpation des Leis- Parsons Spuren erweise sich das Recht mit dem tungsprinzips durch das Erfolgsprinzip zu tun. institutionalisierten Prinzip der Rechtsgleichheit Und Veränderungen in den Geschlechterverhält- als relativ unumstritten und ohne größere Asym- nissen und im Verständnis von Ehe und Familie metrien. In der Wirtschaft bilde demgegenüber hätten auch die kompensatorische Rolle des das Leistungsprinzip das entscheidende norma- Vatersymbols weitgehend zerfallen lassen. tive Muster und „Anerkennungsmedium“, das Insgesamt müsse für Honneth damit eine wach- dann auch zu sozialer Schichtung und einer dif- sende Exklusion aus den Anerkennungssyste- ferenzierten Statusordnung führe. Eine ange- men bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust ihrer messene Anwendung des Leistungsprinzips tragenden Prinzipien verzeichnet werden. Die müsste mit Parsons aber an die fragliche Vor- Folge sei aber nicht eine massenhafte Empö- aussetzung gleicher Start- und Bildungschan- rung, sondern eher eine anomische Situation cen gebunden sein und induziere daher syste- und möglicherweise eine Verlagerung des er- matisch Konflikte. Die Familie verhält sich hier starrten Anerkennungskampfes in das Innere insofern komplementär, als sie die durch das der Subjekte. Statt mit normativ eingehegten Wirtschaftssystem erzeugten Achtungsverlet- Konflikten hätten wir es mit verwilderten For- zungen kompensiert. Das Gebot gleicher Ach- men einer hilflosen Selbstbehauptung von Ge- tung gehe allerdings bei Parsons mit erhebli- sellschaftsmitgliedern zu tun, die sich etwa in chen innerfamilialen Unterschieden einher. Hon- dem Streben nach öffentlicher Sichtbarkeit neth unterstrich hier insbesondere den von Par- durch eine obszöne Präsenz in den Massenme- sons sehr hoch angesetzten und ihn darin an dien, in abgekoppelten Subkulturen oder in flot- Lacan erinnernden Stellenwert der Vaterrolle. tierenden Gewaltphänomenen manifestiere. Sie repräsentiere die integrierenden Normen des Familiensystems und sei darin zugleich an die Hamburg: Anerkennung durch die anderen Familienmit- Jan Philipp Reemtsmas Gewalt glieder gebunden. Mit der erfolgreichen Insti- Gewalt gilt nun Jan Philipp Reemtsma nicht nur tutionalisierung des Vatersymbols gehe – für als zentraler Schlüsselbegriff einer kritischen den Vater – auch eine Entschädigung für aus Gesellschaftstheorie, sondern auch als Stiefkind dem wirtschaftlichen Anerkennungswettbewerb der allgemeinen soziologischen Theorie. Bis auf resultierende Verletzungen einher. wenige Ausnahmen kranke die soziologische Von Parsons, der normativ geordnete Aner- Beschäftigung mit Phänomenen der Gewalt nicht kennungskonflikte vor Augen gehabt habe, tren- zuletzt an dem Kurzschluss, die Analyse von ne uns jedoch die Erfahrung einer Auszehrung Gewaltursachen schon für die Analyse von Pulsschlag 89

Gewalt selbst zu halten. Reemtsma zielt dem- es sich hier um eine „Rhetorik der eschatologi- gegenüber auf eine Art „transhistorische Phä- schen Säuberung“, die sich gegen die „Starken“ nomenologie der Gewalt“, die wiederum auf richte und im Gewalttabu einen Schwindel zur die Analyse der besonderen Formen des Ge- Aufrechterhaltung von deren Macht über die waltgebrauchs in der Moderne hinführt. Sie „Schwachen“ erblickt. Auf der anderen Seite verspricht damit auch einen Beitrag zur Frage ließe sich eine „Rhetorik des Zivilisationsaus- zu leisten, was Vertrauen in die Moderne heißen stiegs“ ausmachen, die umgekehrt Gewaltbe- kann, wenn diese ungeachtet ihres Programms grenzungen als eine Art Fesselung der Entfal- der Einschränkung und Begrenzung von Ge- tung der „Starken“ durch die „Schwachen“ dar- walt doch von Gewaltexzessen begleitet ist. stelle. Neben den begrifflichen Weichenstellungen und Soll Gewalt damit im Sinne eines phänome- thematischen Schwerpunktsetzungen ist damit nologischen Zugangs als Teil der Moderne ernst zugleich ein spezifischer Theoriestil verbunden, genommen werden, dann lassen sich drei For- der sich Erhellung weniger von der Auffaltung men der Gewalt über grundlegende Modi ihres ‚großer Theorie‘ als von einem eher essayisti- Bezugs auf den menschlichen Körper unterschei- schen und durch zahlreiche Exkurse in Ge- den: die lozierende, die raptive und die autoteli- schichte und Literatur angereicherten Verfahren sche Gewalt. Die lozierende Gewalt richtet sich erwartet. auf das Weg- oder Hinhaben des Körpers, die Entgegen einem alltäglichen Verständnis ist raptive Gewalt auf das Haben und Inbesitzneh- Gewalt Reemtsma folgend eben doch oft „eine men des Körpers und die autotelische Gewalt Lösung“, insofern sie bestimmte Handlungs- schließlich auf die Zerstörung des Körpers. ketten unterbricht und andere beginnen lässt. Reemtsma hätte zu Phänomenen der Gewalt mit Gewalt ist auch ein kommunikatives Phänomen, Sicherheit weit mehr zu sagen gehabt, als dass das „etwas sagt“ und dies nicht nur zu dem im Rahmen seines Vortrags möglich war. Und unmittelbaren Opfer von Gewalt, sondern in er würde dieses Weiterreden zugleich als Anti- triadischen Konstellation immer auch zu Drit- dot zu einem enthemmten Gewaltgebrauch ver- ten als Zeugen von Gewalt. Gewalt sei auch stehen, das – etwa in der Auflösung des Folter- insofern mit Vertrauen verbunden, als ihre Aus- tabus – sich auch im Inneren der Moderne immer übung die Bereitschaft zur Kooperation bein- wieder anmeldet. So mündete denn auch seine halte – etwa in Banden. Jede Kultur unterschei- Entbergung der modernen Gewaltgeschichte im de dabei zwischen erlaubter, gebotener und ver- Festhalten am „Wie einer Lebensweise“, deren botener Gewalt. Die Moderne zeichne sich je- Kern er in der Tabuisierung von Gewalt veror- doch durch einen veränderten Gebrauch dieses tet. „Keine Gewalt“ wird so zum kleinsten Nen- Unterscheidungsschemas aus und eine spezifi- ner des Projekts Moderne. sche Art, sich auf es beziehen. Sie grenze die Zone der erlaubten Gewalt deutlich ein und baue Und wo bleibt der Widerstreit? einen besonderen Legitimationsdruck für Ge- Drei Grundbegriffe also, deren Spannungen walt auf. Gewaltgebrauch sei damit letztlich nur zunächst nur ansatzweise ausgelotet wurden. noch zur Verhinderung von Gewalt legitim und Reicht das Gewalttabu als Richtschnur schon hierin gründet eine „Rhetorik des Zivilisations- aus, um Herausforderungen einer globalen Ri- auftriebs“. sikogesellschaft zu beantworten? Lassen sich Reemtsma unterscheidet nun zugleich zwei vermeintliche Verwilderungen gegenüber der Formen der „Gegenrhetorik“ in der modernen trügerischen Stabilität vergangener Zustände Gewaltgeschichte. Auf der einen Seite handele nicht in weiten Teilen auch normativ betrachtet 90 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

begrüßen? Inwieweit bildet Vertrauen einen Subjektivierung und der Personenbezogenheit überzeugenden Gegenbegriff zu Gewalt und ist von Arbeit sowie die Auflösung vertrauter Si- der Bruch mit einem methodologischen Natio- cherheiten markieren „Veränderungen der Ar- nalismus tatsächlich der unbeschrittene Königs- beitswelt“. Die thematisierten ‚Paradigmen der weg als der er sich präsentiert? Drei Grundbe- Politik‘ erstreckten sich von neuen Beteiligungs- griffe zugleich, die ihren gemeinsamen Nenner formen über die Militär- bis hin zu Biopolitik in einem Sinn für die Paradoxien der Moderne und Medikalisierungsprozessen. und in der Diagnose einer Zeit finden, die von der Auflösung alter Muster und Selbstverständ- Die Lava des Gedankens im Fluss lichkeiten gekennzeichnet sei. In der Auftakt- Auch dieses breite Spektrum von theoretisch veranstaltung kündigte sich damit an, dass die relevanten Gegenständen wurde mittels des Ver- Theoretiker nicht untätig geblieben sind und das fahrens verhandelt, das bereits in eröffnenden „Schweißtuch der Theorie“ (Enzensberger) in Plenarveranstaltungen erprobt wurde. Jeweils Frankfurt und andernorts durchaus mit Gewinn ein Vertreter oder eine Vertreterin der jeweiligen ausfalten können. Die Erwartung aber, dass die Institute präsentierte Ergebnisse aus der laufen- Rückkehr der Gesellschaftstheorie die Begriffe den Forschungsarbeit. Auch wenn jede Ein- nun zu einer Konstellation im Widerstreit zu- schätzung aufgrund zeitlicher Parallelitäten der sammenschießen lassen würde, die veränderte einzelnen Foren zwangsläufig selektiv bleiben Konstellation blitzartig beleuchtet, diese Erwar- muss, schien sich auch hier der Eindruck zu tung erforderte noch Geduld. bestätigen, dass zwar mehr oder minder munter Dass die Grundbegriffe der jeweiligen The- geforscht und theoretisiert wird, dass aber die orieprogramme weniger Fundament eines mo- Begegnung der Institute nur eingeschränkt ein nolithischen Selbstverständnisses, sondern Ori- zu einem gemeinsamen Fokus zusammenschie- entierungsmarken eines allerdings auch insti- ßendes Diskussions- und Streitbedürfnis sicht- tutsintern nur mäßig eingehegten Pluralismus bar werden ließ. Dass hier weitreichende Alter- bilden, wurde in den Forumsveranstaltungen nativen zu einer vorangeschrittenen Ausdiffe- deutlich, die der Vorstellung von aktuellen For- renzierung, Spezialisierung und Partikularisie- schungsprojekten gewidmet waren. Thematisch rung von Wissen entwickelt würden, erklärte hatten die Veranstalter für diesen reichhaltigen sich jedenfalls nicht durchgehend von selbst. Fundus des Wissens wiederum einige Oberbe- Pluralisierung ist Trumpf und Durchblicke auf griffe als thematische Klammern vorgesehen: ein Ganzes der Gesellschaft wären aus den ‚Dynamiken des Ressentiments‘ wurde in Hin- Mosaikstücken erst noch herzustellen. blick auf Phänomene des Antisemitismus und Bei allen im Einzelnen spannenden und auf- der ethnischen Ungleichheit nachgegangen. schlussreichen Beiträgen, die die ‚kritische ‚Metamorphosen der Staatlichkeit‘ konnten Masse‘ für eine dynamische Theorienentwick- insbesondere in Hinblick auf Transnationalisie- lung bilden könnten, zeichnete es sich insofern rungs- und Europäisierungsprozesse ausge- ab, dass die ‚Rückkehr der Gesellschaftstheo- macht werden. Als ‚Strukturwandel der Privat- rie‘ Formate benötigt, die Raum für expliziten heit‘ galten Veränderungen der Muster von Paar- Widerstreit und die Artikulation von Dissonan- bildungen und des Stellenwerts von Freund- zen schaffen. Wo Gesellschaftstheorie und kri- schaft als Sozialform. Ein ‚Formwandel von tische Sozialforschung Orientierungen und Ana- Herrschaft und Gewalt‘ wurde nicht zuletzt in lysen zu einer als ambivalent erfahrenen Wirk- Fragen der internationalen Politik und der lichkeit anbieten wollen, benötigen sie Formen Kriegsführung ausgemacht. Neue Formen der und „Gefäße“ (Alexander Kluge), die einer Zer- Pulsschlag 91

streuung von Aufmerksamkeiten entgegenwir- Antwort auf das „wie dahin“ bleibe aber die ken. Intelligenter Streit und moderierte Kontro- Gleichheit. Wenn irgendwo, dann lagen hier auf verse könnten angesichts konkurrierender In- den letzten Metern der Tagung, wo Dissonan- terpretationen und als paradox erfahrener Kon- zen und Spannungen verwandter Institute hör- stellationen wertvolle Güter sein, um die be- bar wurden, nicht nur ‚Reminiszenzen‘, son- deutungsvolle Differenz zwischen wissen- dern tatsächlich die ‚Rückkehr‘ einer die Mühe schaftlicher Leistungsschau und einer Werkstatt der Kontroverse lohnenden Gesellschaftstheo- des Begriffs zu markieren. rie in der Luft. Die Lava des Gedankens befand Wie das aussehen kann, zeigte sich auf dem sich im Fluss. Abschlussplenum zu ‚Polarisierungen: Ökono- mie und Gesellschaft‘. Sighard Neckel spann Albrecht Lüter, Berlin/Frankfurt am Main mit den Transformationen des Wirtschaftslebens einen Faden weiter, den bereits Honneth aufge- Anmerkung nommen hatte. Mit Sinn auch für die polemi- 1Eine detaillierte Programmübersicht ein- sche Intervention ließ sich seine Analyse der schließlich von Vortragsabstracts findet sich im Paradoxien kapitalistischer Modernisierung in Netz unter http://www.rueckkehr-der- Form der Ersetzung des Leistungs- durch das gesellschaftstheorie.de/ Erfolgsprinzip auch als Beitrag zur Debatte über eine ‚neue Bürgerlichkeit‘ verstehen. Kapitalis- mus und Bürgerlichkeit seien im Zeichen einer STELLUNGNAHME Refeudalisierung des Wirtschaftslebens faktisch ...... zu Gegensätzen geworden. Eine ständisch pri- vilegierte und sich in Parallelgesellschaften ab- Folgenreiche Realitätsverleugnung: schottende und letztlich selbstgewährte Renten Das neue Extremismus- beziehende Managerklasse kultiviere einen gänz- bekämpfungsprogramm der lich unbürgerlichen Habitus und gleiche sich Bundesregierung einem aus der Unterhaltungsbranche bekannten Starsystem an, während sich im Zeichen einer Seit den 1990er Jahren gab und gibt es bis heu- Subjektivierung qua Erfolg die bürgerliche Mitte te von Seiten des Bundes zahlreiche Program- zunehmend auflöse. Heinz Bude packte den me zur Bekämpfung des bzw. Auseinanderset- Stier der Kapitalismuskritik bei den Hörnern. zung mit dem Rechtsextremismus. Das erste Er stellte das Versprechen einer „Korrigierbar- Programm war das ‚Aktionsprogramm gegen keit der gesellschaftlichen Verhältnisse“ als Kern Gewalt und Aggression‘ (AgAG) für die östli- eines möglichen marxschen Erbe vor. Und es chen Bundesländer in den Jahren 1992 bis 1996. schien fast, als wolle er im Zeichen der Wirt- Dann folgten von 2001 bis 2006 unter dem Dach schaftskrise mit einem als Theoretiker der Frei- des Bundesprogramms ‚Jugend für Toleranz heit gelesenen Marx die – mit Derrida formu- und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, liert – gespenstische Wiederkehr eines jakobi- Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus‘ die nisch-egalitaristischen Marx bannen. Budes vir- drei Teilprogramme ‚Entimon‘, ‚Civitas‘ und tuos vorgetragenes Angebot lehnte der Frank- ‚Xenos‘; unter der großen Koalition waren es furter Gastgeber Axel Honneth jedoch postwen- seit 2007 und sind es bis heute die noch laufen- dend ab. An einer G-W-G¦-Rabulistik bestehe den beiden Bundesprogramme ‚Vielfalt tut gut‘ zwar in Frankfurt kein dringender Bedarf. Doch und ‚kompetent. für Demokratie‘. Die Program- sicherlich gehe es um das Prinzip Freiheit, die me sind mit ihren vielfältigen Projekten, Initia- 92 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

tiven und Praxiserfahrungen gut dokumentiert einandersetzen, sondern in ein ‚Extremismus- und ausgewertet; sie wurden wissenschaftlich bekämpfungsprogramm‘ umgewandelt werden; begleitet und es liegen zahlreiche Berichte und sie sollen sich gleichermaßen gegen linken und Ergebnisse vor. Auch wenn sie in ihrer Anlage, rechten Extremismus sowie gegen Islamismus Reichweite und ihren Wirkungen kontrovers richten. Das soll auch für die Arbeit des ‚Bünd- diskutiert wurden, so war und ist ein zentrales nisses für Demokratie und Toleranz‘, die bis- Ergebnis aller Programme: Sie haben eine bun- herigen Aussteigerprogramme und den Fond te und gehaltvolle Praxis im Bereich der außer- für Opfer rechtsextremer Gewalt gelten. In der schulischen Jugendarbeit und Bildung, der Be- Koalitionsvereinbarung heißt es u. a.: „Die Ent- ratung, von Ausstiegshilfen, der Netzwerk- und wicklung und Stärkung von Toleranz und De- Infrastrukturentwicklung, der Entwicklung von mokratie ist ein zentrales Ziel der Kinder- und Aktions- und Handlungsplänen, der Unterstüt- Jugendpolitik. Durch ein umfassendes Unter- zung und Förderung demokratischer Jugend- stützungsprogramm, das stets evaluiert wird, strukturen sowie Hilfen für Opfer initiiert. Er- wollen wir Kinder und Jugendliche und alle möglicht wurde die Entwicklung und Realisie- anderen Akteure vor Ort in ihrem Engage- rung einer pädagogischen Praxis, die sich in ment für Vielfalt, Toleranz und Demokratie, vielfältiger Weise gegen fremdenfeindliche, ras- Menschenwürde und Gewaltfreiheit gegen sistische und antidemokratische Tendenzen un- Rechts- und Linksextremismus, Fremdenfeind- ter Jugendlichen richtet – dies trotz der erhebli- lichkeit und Antisemitismus motivieren und un- chen Schwierigkeiten, die aus der zeitlichen terstützen“. Weiter heißt es: „Gewalttätige und Befristung der Programme und den Förderricht- extremistische Formen der politischen Ausei- linien resultieren. nandersetzung nehmen wir nicht hin. Extrem- Bei allen politischen und wissenschaftlichen ismen jeder Art, seien es Links- oder Rechts- Kontroversen über die Anlagen, Strukturen und extremismus, Antisemitismus oder Islamismus, Förderpraxis der verschiedenen Programme war treten wir entschlossen entgegen. (..) Die Ur- es weitgehend Konsens, dass diese sich zentral sachen von Extremismus wollen wir mit einem gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Anti- langfristigen Engagement und einer nachhal- semitismus und Rechtsextremismus wenden tigen Prävention bekämpfen. Aussteigerpro- sollen. Denn die Herausforderung, die seit An- gramme gegen Extremismus werden wir wei- fang der 1990er Jahre unübersehbar wurde, lag terentwickeln, ihre Finanzierung sicherstellen in der wachsenden Resonanz rechtsextremer und und dabei Schwerpunkte in gefährdeten Regi- rechtspopulistischer Tendenzen unter Jugendli- onen setzen. Die Aufgabenfelder des Fonds chen, einschließlich der Entstehung neuer Or- für Opfer rechtsextremistischer Gewalt sowie ganisationsformen, wachsender Militanz und des Bündnisses für Demokratie und Toleranz Gewaltbereitschaft. Es gehörte weitgehend zum sollen auf jede Form extremistischer Gewalt politisch-gesellschaftlichen Konsens seit Beginn ausgeweitet werden.“ Und weiter geht es um der neunziger Jahre, solche Entwicklungen zu „[d]ie Fortführung der vom Bund geförderten bekämpfen, die Ausbreitung von Rechtsextre- Programme gegen Rechtsextremismus als ‚Ex- mismus zu verhindern und Demokratie zu stär- tremismusbekämpfungsprogramme‘ unter ken. Berücksichtigung der Bekämpfung linksextre- Nach der Koalitionsvereinbarung der neuen mistischer und islamistischer Bestrebungen Bundesregierung sollen sich die Programme sowie die Erstellung eines Jahresberichts der künftig nicht mehr nur mit Fremdenfeindlich- Bundesregierung zur Aufarbeitung der SED- keit, Rassismus und Rechtsextremismus aus- Diktatur.“ Pulsschlag 93

Dies ist aus vielerlei Gründen problematisch • Die extreme Rechte findet wiederholt wahl- und zu kritisieren. politisch Zuspruch, sie ist in Landes- und kommunalen Parlamenten vertreten und sie 1. wird überdurchschnittlich von (männlichen) Eine Reduzierung der Förderung von Projekten Jung- und Erstwählern gewählt. In Ost- und Programmen gegen Fremdenfeindlichkeit, deutschland verfügt sie über mehr als 300 Rassismus und Rechtsextremismus in Folge Mandate in kommunalen Parlamenten; und einer Aufteilung der Mittel ist nicht akzeptabel. die NPD hat in Sachsen und Mecklenburg- Die durch wissenschaftliche Forschung, die Ar- Vorpommern eine Stammwählerschaft. beit von zahlreichen Projektträgern und journa- • Mit der Herausbildung von Kameradschaf- listische Recherchen dokumentierten Entwick- ten/Autonomen Nationalisten, der rechten lungen weisen vielmehr darauf hin, dass die Cliquenszene und Jugendkultur zeigen sich diesbezüglichen Anstrengungen fortgesetzt und die Verjüngung der Szene, neue Organisati- ausgeweitet werden müssen. ons- und Gesellungsformen vor allem unter (männlichen, aber auch weiblichen) Jugend- 2. lichen und jungen Erwachsenen – ein neuer Mit den von der Koalition vereinbarten ‚Ex- ‚rechter Alltag‘ in vielen Kommunen und tremismusbekämpfungsprogrammen‘ wird eine Regionen der Republik. neue ‚Gefahrendiagnose‘ angeboten und imp- • Empirische Studien haben wiederholt das lizit unterstellt, dass alle drei Extremismen ak- Ausmaß von fremdenfeindlichen, rassisti- tuell von gleichem Ausmaß, gleicher Bedeu- schen und antisemitischen Orientierungen in tung und Brisanz wären. Die Realität der Re- der jungen (und älteren) Generation nachge- publik zeigt jedoch keine empirisch nachweis- wiesen. Dieses Einstellungspotential reicht baren Strömungen in der jungen Generation, von geschlossenen rechtsextremen Weltbil- die eine solche Veränderung der bisherigen dern bei einem kleineren Teil der jungen Programme begründen könnten. So ist in der Generation bis hin zu Zustimmungen zu ein- jungen Generation z. B. nicht erkennbar, dass zelnen fremdenfeindlichen, rassistischen sich ein gewaltförmiger Linksextremismus oder antisemitischen Items von bis zu 40 ausbreitet und etabliert, der demokratische und Prozent. menschenrechtliche Grundsätze ablehnt. Vor- • Die neuen Medien (und hier vor allem das liegende Studien weisen nach, dass antidemo- Internet) sind für die extreme Rechte zu ei- kratische Tendenzen nur unter einer kleinen nem bedeutsamen Informations-, Kommu- Minderheit muslimischer Jugendlicher verbrei- nikations- und Werbeinstrument geworden. tet sind. Wie immer man Entwicklungen, Ge- Damit kommuniziert sie intern, sie erreicht fahren- und Gefährdungslagen einschätzen aber auch viele Jugendliche und macht die- mag, es gibt keinen Grund an den beiden Pro- se mit ihren Ideologemen und Themen ver- grammen gegen Rechtsextremismus zu sparen traut. oder Aktivitäten von Trägern und finanzielle • Mit ihrer nationalen und vor allem regiona- Mittel in andere Extremismusbereiche zu trans- len Vernetzung sowie Infrastrukturbildung ferieren. Die Gründe für die Programme ge- entwickelt, koordiniert und stabilisiert die ex- gen Rechtsextremismus und für Demokratie treme Rechte – bei aller internen Konkur- waren und sind für die Situation in der Bun- renz – ihre Präsenz, ihre Aktivitäten und ‚Nor- desrepublik seit Jahren u. a. mit sechs Ent- malisierung‘. Netzwerkstrukturen haben vor wicklungen verbunden: allem zur lokalen und regionalen Bedeutung 94 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

der extremen Rechten in (ländlichen) Teilen und des SED-Regimes eine andere Sache; und der Republik beigetragen. die Arbeit mit muslimischen Jugendlichen, die • Die Berichte und Daten der Behörden, aus zum Islamismus neigen, wäre wieder eine ganz der Wissenschaft, von Trägern der Jugend- andere Sache. Die Abkehr der beiden Bundes- arbeit und von Medien zeigen wiederholt, programme von ihrem Zentrum ‚Rechtsextre- mit welchen Ausmaßen von Gewalt und Ra- mismus‘ ist ein Zeichen für die politische Igno- dikalisierung wir es in der rechtsextremen ranz gegenüber einem handfesten Problem der Szene zu tun haben, und dass rechtsextrem, Republik; sie ist weiter ein Zeichen für die Ko- fremdenfeindlich und antisemitisch motivier- ordinatenverschiebung in der Wahrnehmung und te Straf- und Gewalttaten seit Jahren ein ho- Deutung von gesellschaftlicher Realität. Es droht hes Niveau haben. Seit 1993 sind über 140 eine vordergründig politisch motivierte ‚Rück- Menschen durch Gewalt von rechts ums kehr‘ in die Denkschablonen des Kalten Krie- Leben gekommen. ges. Diese Hinweise zeigen seit den 1990er Jahren eine politisch-kulturelle Entwicklung und Men- 4. talitätsbestände in der Bundesrepublik, die men- Auch wenn zunächst noch unklar ist, was die schen- und gruppenfeindlich sowie Demokra- neuen ‚Extremismusbekämpfungsprogram- tie gefährdend sind. Solche Entwicklungen und me‘ praktisch bedeuten, werden sich die Mit- Daten waren und sind jenseits von Verharmlo- tel der bisherigen Bundesprogramme – bisher sung und Alarmismus die ‚guten‘ und empi- 24 Millionen Euro für die beiden Bundespro- risch fundierten Gründe für die bisherigen Pro- gramme, ca. 1 Million Euro für das Bündnis gramme. für Demokratie und Toleranz und ca. 300.000 Euro im Fond ‚Härteleistungen für Opfer 3. rechtsextremistischer Übergriffe‘ – neu ver- In der bundesdeutschen Geschichte gibt es eine teilen und die Mittel für die Auseinanderset- politische Denktradition des ‚Kalten Krieges‘, zung mit Rechtsextremismus erheblich redu- mit der Rechts- und Linksextremismus gleich- zieren (ggf. halbieren). Auch wenn die neuen gesetzt wird. Demgegenüber haben historische Programme noch nicht ausformuliert sind, und ideengeschichtliche Analysen und Diffe- sollen wohl ähnliche Instrumente (Beratung, renzierungsangebote immer wieder darauf hin- Bildung, Projekte etc.) auf Linksextremismus gewiesen, dass es – bei durchaus ähnlichen und Islamismus angewandt werden, obwohl Phänomenen (Gewalt von rechts, Militanz von zu diesen keine erprobten Präventions- und links) und Kritiken (an der parlamentarischen Interventionskonzepte vorliegen. Die Folge Demokratie) – vielschichtige Trennlinien und wird sein, dass damit bisherige, über einen Unterschiede gibt, die es jenseits von politi- langen Zeitraum entwickelte Strukturen und scher Kampfrhetorik zu beachten gilt. Die Ex- Projekte, Ansätze und Initiativen aufgelöst tremismen dürfen weder ‚in einen Topf gewor- und reduziert werden, Anlaufstellen ihre Ar- fen werden‘ noch zur Instrumentalisierung und beit beenden müssen, Hilfen eingestellt wer- Verharmlosung beitragen; sie dürfen nicht auf- den und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre gerechnet, missbraucht und gegeneinander aus- Arbeit verlieren. Dazu gehören vielfältige Ak- gespielt werden. So ist z. B. die Auseinander- tivitäten wie: Ausstiege aus der rechtsextre- setzung mit dem aktuellen Rechtsextremismus men Szene ermöglichen; zivilgesellschaftli- in der Bundesrepublik (u. a. in der jungen Ge- che Ansätze der Auseinandersetzung initiie- neration) eine Sache, die Aufarbeitung der DDR ren und stabilisieren; mit Aufklärung, Bildung Pulsschlag 95

und Beratung sensibilisieren und helfen; Öf- gespannt sein, wie die Vorgaben/Richtlinien fentlichkeit herstellen und runde Tische be- aussehen und welche Träger aus welchem po- gleiten und beraten; Anlaufstellen für profes- litischen Spektrum hier Anträge stellen; wie sionelle Hilfen, Beratung und Informationen; Zielgruppen und Probleme definiert werden mit Bildungsarbeit vor allem Träger der Ju- und welche Zugänge zum ‚Feld‘ angeboten gendarbeit qualifizieren; die Arbeit dokumen- werden. So ist mit Blick auf die junge Genera- tieren und mit Hinweisen, Tipps und best tion – um auf ein Beispiel hinzuweisen – frag- practice-Beispielen Mut machen; beizutragen, lich, ob und wo es im Osten der Republik denn dass das Thema in der Diskussion bleibt. Wenn Projekte gegen Islamismus geben könnte und die Förderung wegbricht bzw. reduziert wird, wer die Träger sein sollten. Zu befürchten ist, dann sind viele dieser Aktivitäten gefährdet dass nun jene Gruppen, die sich entschieden und/oder müssen voraussichtlich aufgelöst gegen rechtsextreme Landnahmen wenden und werden und es ist fraglich, ob Länder und oft mit dem Etikett ‚Antifa‘ belegt werden, Kommunen bei anhaltend schwieriger Haus- selbst zum Objekt von Extremismusprogram- haltslage in der Lage sein werden, in Eigenre- men gemacht werden. gie oder teilweise die vorhandenen Projekte zu finanzieren. Dabei ist gleichzeitig zu be- 6. fürchten, dass es auch Kommunen und Regi- Ein Blick auf die Folgen der verabschiedeten onen geben wird, denen in der Auseinander- und beabsichtigten Programmveränderungen setzung mit der extremen Rechten ein wichti- muss auch der rechtsextremen Szene gelten. ger Akteur verloren geht. Bei ‚dünner‘ De- Dabei kann die Neuorientierung der Program- mokratie bewusster Basis in Kommunen und me auch als ein ungewolltes bzw. fahrlässiges bei fehlender engagierter zivilgesellschaftli- Signal an die extreme Rechte gelesen werden, cher Kultur ist dies ein entmutigendes bun- dass sie wohl doch keine so große Gefahr für despolitisches Signal für die Akteure; das die Demokratie und Beeinflussung der jungen kann als Hinweis für lokale Politik gelesen Generation sei. Man kann davon ausgehen, dass werden, dass solche Programme, Projekte und sie solche Veränderungen geradezu als Mut Initiativen wohl nicht so wichtig sind. Mit machende Geste begrüßt. Mit der Ausdünnung dem Rückzug von Förderungspolitik des Bun- und wohl auch Auflösung von lokalen Projek- des sind immer auch Signale an die ‚unteren ten und Initiativen wird sie ihre ‚Arbeit‘ in Ebenen‘ verbunden, ob und wie ernst und Zukunft ‚erleichtert‘ und ‚unbehelligter‘ fort- bedeutsam Probleme und Entwicklungen setzen können. Verharmlosung und Relativie- wahrgenommen und kommuniziert werden. rung des Rechtsextremismus haben lange Zeit dominiert und sind immer noch bekannte poli- 5. tisch-gesellschaftliche Muster des Umgangs, Ohne politische Vorklärungen und Gespräche, die in den letzten Jahren aber von einer breite- ohne Vergewisserung empirischer Befunde ist ren Ernsthaftigkeit und Auseinandersetzungs- ein ‚Bekämpfungsprogramm‘ beschlossen bereitschaft vor allem in Kommunen und von worden, das vor allem parteipolitischen Inter- zivilgesellschaftlichen Gruppen – unterstützt essen und spezifischen Weltsichten folgt, aber durch öffentliche Programme – abgelöst wor- wenig mit der bzw. den empirischen Jugend- den sind. Nun ist ein ‚Rückfall‘ in Zeiten zu realität(en) zu tun hat. So darf man auf die befürchten, die vorüber schienen. Es droht das weitere Ausformulierung und Konkretisierung Ende der staatlichen Ermutigung und finanzi- des neuen Programms gespannt sein; man darf ellen Unterstützung, sich mit der extremen 96 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Rechten öffentlich und offensiv auseinander Wer und was kommt zur Sprache, was bleibt im zu setzen. Dunkeln? Welche Möglichkeiten zum Eingrei- Prof. Dr. Benno Hafeneger (Marburg), Prof. fen haben wir? Und wie sollte eine politische Dr. Albert Scherr (Freiburg), Dr. Reiner Be- Öffentlichkeit aussehen, die demokratische Teil- cker (Marburg), Dr. Renate Bitzan (Frankfurt/ habe ermöglicht? Um solche Fragen geht es auf M.), Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Köln), dem Kongress „Öffentlichkeit und Demokra- Prof. Dr. Franz Hamburger (Mainz), Prof. Dr. tie“ im Herbst 2010 in Berlin. Rudolf Leiprecht (Oldenburg), Prof. Dr. Ro- Der Zustand der politischen Öffentlichkeit land Roth (Magdeburg), Prof. Dr. Wilfried Schu- löst ein Unbehagen aus, das Oskar Negts The- barth (Potsdam), Dr. Fabian Virchow (Köln/ se der „unterschlagenen Wirklichkeit“ gut be- Marburg) schreibt. Dieser ist in einer Weise fortge- schritten, die man zu Zeiten der „Enteignet Springer!“-Kampagne im Jahr 1968 kaum

TAGUNGSANKÜNDIGUNG vorhersehen konnte. Die veröffentlichte Mei- ...... nung wird nach wie vor von großen Parteien und Verbänden beherrscht. Dass diese Domi- Schafft die demokratische nanz nicht in Frage gestellt wird, liegt auch Öffentlichkeit! an der Krise der Massenmedien als ‚vierte Gewalt‘ und an der Krise des kritischen Jour- Unter welchen Bedingungen wird in der Bun- nalismus. Der Konzentrationsprozess der desrepublik öffentlich über Politik verhandelt? Medien ist so weit vorangeschritten, dass in Pulsschlag 97

vielen Regionen Pressemonopole bestehen. Auf dem Kongress sollen die vielfältigen Der Druck von Anzeigenkunden auf die Re- Gegenbewegungen zu den geschilderten Ent- daktionen steigt. Teilweise schränken Spar- wicklungen analysiert, Möglichkeiten und Gren- maßnahmen und repressiver gewordene Pro- zen ausgelotet werden. Wie kann man dem Un- duktionsbedingungen die innere Pressefrei- behagen, der Gegenrede, eine Stimme geben? – heit ein. Die etablierte Öffentlichkeit und JournalistInnen, MedienaktivistInnen und Blog- insbesondere die kommerziell ausgerichteten gerInnen können ein wichtiges Korrektiv sein. Massenmedien tragen eher zur Apathie als zur Bürgerinitiativen bringen Themen auf, die zuvor Aktivierung bei. Öffentlich-rechtliche Medi- beschwiegen wurden. Neue Formen von Öf- en passen sich der privaten Konkurrenz an. fentlichkeit können Meinungsmonopole unter- Den Beschränkungen der ‚vierten Macht‘ laufen oder bloßstellen. steht das subtile oder auch offene Wirken von Welche Trends werden sich durchsetzen? Die Spin doctors und PR-StrategInnen gegenü- Demokratisierung von Öffentlichkeit und da- ber, die sich rühmen, beliebige politische In- mit die Herstellung von politischer Urteilskraft halte in den Massenmedien unterbringen zu hängen auch vom Engagement kritischer Ein- können. zelpersonen, Initiativen und Bewegungen ab. Die demokratische Öffentlichkeit ist aber Der diesem Anliegen gewidmete Kongress soll auch an anderer Stelle in Gefahr. Trotz infor- dafür einen Impuls geben. Aber nur ein länge- mationellen Selbstbestimmungsrechts und In- rer, vielgestaltiger, in vielen Foren stattfinden- formationsfreiheitsgesetzen werden Geheim- der und von vielen Akteuren getragener Pro- bereiche ausgeweitet, während die BürgerIn- zess wird die Dinge zum Besseren wenden kön- nen der Datensammelwut von Unternehmen nen. und staatlichen Organen ausgeliefert sind. Alle Interessierten – AktivistInnen und Ini- Gerade an der damit verbundenen Praxis ließe tiativen, politische Organisationen, Gewerk- sich eine Verlustgeschichte an Publizität bei schaften und Fachverbände, Bildungseinrich- einer zugleich wachsenden Informationsflut tungen und Stiftungen, Medienschaffende und aufzeigen. Auf lokaler Ebene kämpfen kriti- MedienwissenschaftlerInnen – sind daher auf- sche Initiativen häufig mit Ignoranz. Sie haben gerufen, sich an der Vorbereitung und Durch- Probleme, öffentliche Diskussionen und die führung des Kongresses „Öffentlichkeit und Selbstermächtigung der BürgerInnen anzusto- Demokratie“ und der ihn begleitenden Aktivitä- ßen. In einigen Kommunen haben gar Rechts- ten zu beteiligen. radikale die Meinungsführerschaft übernom- Informationen zur Vorbereitung des Kongres- men und offen menschenfeindliche Positionen ses und ein ausführlicher Aufruf finden sich bleiben unwidersprochen. unter www.oeffentlichkeit-und-demokratie.de. 98 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Die Bundestagswahl, nicht nur aus worfen – der Frauenanteil war hier mit etwa 31 Gender-Perspektive Prozent unterdurchschnittlich. Beeinflusst das Geschlecht tatsächlich die Par- Eine umfangreiche Sammlung aus Fakten und teipräferenzen? Die von Anika Westermann vom Hintergründen zur Wahl hat die Bundeszentrale Verlag Dashöfer GmbH zusammengestellten für politische Bildung zusammengestellt. Das Daten zur Bundestagswahl 2009 zeugen eher Online-Angebot bietet neben grundlegenden Er- von Einigkeit zwischen Wählerinnen und Wäh- läuterungen und ausführlichem Zahlenmaterial lern. Lediglich bei CDU/CSU findet sich ins- zum Wahlverhalten auch Analysen des Wahler- gesamt ein signifikant höherer Anteil von Frau- gebnisses. Weitere Informationen finden sich en in der Wählerschaft, wahrscheinlich hervor- unter adabas.dashoefer.de > Online-Angebote gerufen – so Westermann – durch die starke > News & More sowie auf den Seiten der Bun- Präsenz von und die mit deszentrale für politische Bildung unter ihr verknüpfte Thematisierung der Familienpo- wahlen.bpb.de. litik. Hier schlage vermutlich die in Deutsch- land oft noch unterschiedliche Lebenswelt von Entwicklung der Grünen in Europa Frauen und Männern zu Buche. Mit Rückgriff In ihrer Studie „Entwicklung und Perspektiven auf Daten von Infratest dimap und ARD grüner Parteien in Europa. Anschlussfähige po- DeutschlandTREND wurde neben der Frage, litische Kraft in sich wandelnden Systemen“ wer wen wählt, auch ein Blick auf die Ge- setzt sich Saskia Richter mit den Grünen im schlechterverteilung bei den KandidatInnen ge- europäischen Raum angefangen bei ihrer Ent- Treibgut 99

stehung ab Mitte der 1970er Jahre auseinander. digt. Wer die Protestaktivitäten rund um den Die promovierte Politologin zeichnet die pro- Bildungsstreik verfolgen möchte, kann sich auf grammatische Veränderung der grünen Parteien www.bildungsstreik.net umfassend informieren. und deren erfolgreiche Etablierung als eigen- Die Internetseite bietet aktuelle Informationen ständige politische Kraft nach und analysiert (so etwa einen Überblick über die derzeitig be- die damit einhergehende Änderung ihrer Rolle setzten Universitäten), Berichte zu bisherigen in den politischen Systemen. So kommt Richter oder geplanten Aktivitäten auf regionaler wie etwa zu dem Schluss, dass die Soziademokra- bundesweiter Ebene, sowie weiterführende ten die Grünen nicht länger lediglich als poten- Links zu den lokalen Protestorganisationen. ziellen Bündnispartner aus dem eigenen ‚La- ger‘, sondern auch als Konkurrenz ansehen Nachhaltiger Konsum müssen. Die 14-seitige Studie ist online zugäng- durch Carrotmobs lich unter library.fes.de/pdf-files/id/ipa/ Eine neue Idee, Konsumenten und Unterneh- 06879.pdf. men zu Nachhaltigkeit anzustiften, sind die seit 2008 in vielen Teilen der Welt stattfindenden Bildungsstreik 2009 / Bildungsstreik Carrotmobs. Angelehnt an das Bild des (störri- 2010? schen) Esels, der durch eine Karotte statt durch Zunächst verhalten bis abwehrend reagierten Schläge motiviert wird, sich zu bewegen, mobi- Bundes- und LandespolitikerInnen auf den im lisieren die sogenannten Carrotmobber möglichst Juni 2009 begonnenen Bildungsstreik, in des- große Gruppen dazu, in einem festgelegten Ge- sen Verlauf zigtausende Protestierende in regi- schäft einkaufen zu gehen. Die ausgewählten onalen und bundesweiten Demos auf die Stra- Geschäfte, die sich zuvor über Ausschreibung ßen gingen – allein 270.000 bei bundesweiten bewerben, verpflichten sich, einen bestimmten Demonstrationen am 17. Juni –, über 60 Hörsä- Teil der Mehreinnahmen in Energiesparmaßnah- le besetzten und eine Vielzahl von regionalen men zu investieren. Inzwischen haben die Car- Projekten und Aktionen initiierten. Inzwischen rotmobs auch Deutschland erreicht; die erste ist die bildungs- und hochschulpolitische De- Aktion fand in Berlin statt, lockte innerhalb batte ins Rollen gekommen; Bundesbildungs- weniger Stunden 400 Menschen in das ausge- ministerin Schavan, die die Proteste zunächst wählte Geschäft und brachte so 700 Euro für als ‚gestrig‘ deklassifiziert hatte, stellt Bafög- ökologische Sanierungsmaßnahmen ein. Infor- Erhöhungen und freien Zugang zu Master-Stu- mationen zum Projekt und Termine aktueller diengängen (statt exzellenz-orientierter Auswahl) Carrotmobs unter www.carrotmob.de. in Aussicht, Bundespräsident Köhler kritisiert das Hochschulwesen in Deutschland als ‚chro- Konsultation zur nisch unterfinanziert‘, und die Hochschulrekto- Europäischen Bürgerinitiative renkonferenz fordert eine generelle Überarbei- Ein neues Instrument der direkten Demokratie tung der mit dem Bologna-Prozess eingeführ- in der Europäischen Union ist mit der Europäi- ten Bachelor- und Masterstudiengängen. schen Bürgerinitiative im Lissabon-Vertrag an- Währenddessen ließen die Hochschulleitungen gelegt: Ab einer Million Unterschriften können – teils recht rabiat – vielerorts kurz vor Weih- Bürgerinnen und Bürger die Europäische Kom- nachten noch die besetzten Hörsäle räumen. Eine mission künftig dazu auffordern, sich mit ei- Fortsetzung der Bildungsproteste zeichnet sich nem bestimmten Thema auseinanderzusetzen. an den meisten Standorten dennoch ab, weitere Die grundlegenden Bestimmungen und Verfah- bundesweite Demos wurden bereits angekün- ren dieser Initiative hat die EU-Kommission im 100 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

„Grünbuch der Kommission zur Europäischen willigentätigkeit“ ausgerufen. Millionen von Bürgerinitiative“ veröffentlicht, zu dem alle in- EU-BürgerInnen widmen sich in ihrer Freizeit teressierten Personen bis zum 31. Januar 2010 ehrenamtlichen Tätigkeiten in verschiedensten Stellung nehmen konnten. Durch die Konsulta- Organisationen der Zivilgesellschaft und leis- tion sollen die Aspekte insbesondere der prakti- ten so einen wichtigen Beitrag zu Bereichen sche Umsetzung der Bürgerinitiative themati- wie Jugend, Bildung, Sport, Sozialwesen oder siert werden, die im Vertrag von Lissabon nicht Entwicklungspolitik. Mit dem Europäischen festgelegt wurden. Hierbei geht es etwa um Jahr 2011 soll die Freiwilligentätigkeit in Eur- Bestimmungen zu Transparenz und Finanzie- opa gefördert werden, indem die Mitgliedstaa- rungen oder die nötige Mindestanzahl der Län- ten, lokale und regionale Behörden und die der, aus denen die Unterzeichner stammen. Das Zivilgesellschaft unterstützt werden, günstigere Grünbuch (KOM (2009) 622/3) ist als Pdf- Rahmenbedingungen für ehrenamtliche Tätig- Datei zugänglich unter http://europa.eu/docu- keiten in der EU zu schaffen und Freiwilligen- mentation/ > Amtliche Dokumente > Grünbü- organisationen zu stärken. Geplant sind u.a. cher. Konferenzen und Seminare zum Erfahrungs- austausch zwischen Engagierten, den entspre- 2011 wird Europäisches Jahr der chenden Organisationen und staatlichen Ak- Freiwilligentätigkeit teuren sowie Förderungen von Projekten mit Der Rat der Europäischen Union hat das Jahr Bezug zur Freiwilligentätigkeit. Insgesamt 2011 offiziell zum „Europäischen Jahr der Frei- werden Mittel in Höhe von 11 Millionen Euro Treibgut 101

zur Verfügung gestellt. Weitere Informationen Woche des bürgerschaftlichen sind auf den Internetseiten der EU zugänglich: Engagements http://europa.eu/. Erfreulich großen Zulauf hatte die Woche des bürgerschaftlichen Engagements 2009, die vom Robert-Jungk-Preis 2009 2. bis 11. Oktober mit mehr als 1000 Veranstal- für Bürgerengagement tungen und Aktionen in ganz Deutschland statt- Aus annähernd 300 Projekten wurden im De- fand. Die vom Bundesnetzwerk Bürgerschaft- zember die Gewinner des Robert-Jungk-Prei- liches Engagement (BBE) organisierte Aktion ses 2009 ausgewählt und bekanntgegeben. unter dem Motto „Engagement macht stark!“ Sechs Projekte wurden mit Hauptpreisen aus- rückt die zahlreichen Aktivitäten freiwillig En- gezeichnet, weitere 23 Bewerber mit einem Zu- gagierter und Ehrenamtlicher in den Blick der kunftspreis bedacht. Der mit 6.000 Euro dotier- Öffentlichkeit. Das BBE möchte damit nicht nur te erste Preis ging an den Arbeitskreis Milte, die Arbeit der ehrenamtlich Tätigen würdigen der sich in unterschiedlichen Projekten mit Blick und fördern, sondern auch die Politik auf die auf demografischen Wandel für die Zukunft ih- Notwendigkeit zur Gestaltung entsprechender res Dorfes einsetzen. Der Preis, der unter dem Rahmenbedingungen aufmerksam machen. Die Motto „Wie wollen wir leben?“ NRW-weit ver- nächste Woche der sich nun zum sechsten Mal liehen wird, fördert öffentliche Projekte in Stadt- jährenden größten Freiwilligen-Offensive in teilen und Quartieren und möchte so bürger- Deutschland wird vom 17. bis 26. September schaftliches Engagement als Impulsgeber für stattfinden. Weiteres unter www.engagement- soziale Innovation stärken. Weitere Informatio- macht-stark.de. nen unter www.robertjungkpreis.nrw.de. Milieu statt Ethnie: Tagung zu Migranten in Deutschland Rechtsextremismus in Comics Eine Grundlagenstudie zur Situation von Mi- Vom 29. bis 31. März findet in der Evangeli- grantInnen in Deutschland hat der vhw-Bun- schen Akademie Bad Boll die internationale desverband für Wohnen und Stadtentwicklung Fachtagung „Rechtsextremismus, Rassismus e.V. in Kooperation mit dem Heidelberger Po- und Antisemitismus in Comics“ statt. Die vom litik- und Marktforschungsinstitut Sinus So- Archiv der Jugendkulturen organisierte Veran- ciovision herausgegeben. Gerade das Leben staltung konnte 20 einschlägige ExpertInnen und der Alltag in den Städten ist von Zuwan- gewinnen, die einen Überblick über die Comic- derung und ethnischer Vielfalt geprägt. Eine szene geben und den Einsatz von Comics zur Integration in die Mehrheitskultur findet rechtsextremen Propaganda analysieren werden. zumeist nicht statt; die Lebenswelten der Zu- Zudem sollen Ideen zur Bearbeitung des The- wanderer sind jedoch – so der zentrale Befund mas in politischer Bildung und Schule entwi- der Studie – nicht über die Zugehörigkeit zu ckelt und hierzu auch Wirkungs- und Einsatz- einer ethnischen Herkunftskultur strukturiert, möglichkeiten von „Comics gegen Rechts“ dis- sondern nach Milieus. Über die Kriterien ‚so- kutiert werden. Die Tagung richtet sich u.a. an ziale Lage‘ und ‚Grundorientierung‘ (Traditi- MultiplikatorInnen aus Schule, Aus- und Wei- on, Modernisierung, Neuidentifikation) macht terbildung sowie an WissenschaftlerInnen und die Studie acht unterschiedliche Lebensstilkon- Studierende. Das Programm und Anmeldemög- zepte bei den MigrantInnen aus. Die Ergebnis- lichkeiten unter www.jugendkulturen.de. se der Studie sollen zu einem verbesserten Ver- ständnis der Lebenssituation von MigrantIn- 102 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

nen beitragen und so die Grundlage für einen kostenfrei über das Internet u.a. in englischer, Perspektivwechseln in der Integrationsdebatte spanischer und türkischer Sprache gelesen wer- schaffen; weg vom Denken in Defiziten, hin den (www.interfacejournal.net). Die kommen- zum Denken in Potenzialen. Die zentralen Aus- de dritte Ausgabe wird sich mit dem Thema sagen der Studie sind auf der Internetseite der „Crises, social movements and revolutionary vhw frei zugänglich, die vollständige Studie transformations“ auseinandersetzen. kann für 25 Euro (15 Euro für Mitglieder) im Referat Öffentlichkeitsarbeit erworben werden Verhaltenskodex zur Bürgerbeteiligung (www.vhw.de > Publikationen). Das Ministerkomitee des Europarates hat im vhw-Bundesverband für Wohnen und Stadt- Oktober 2009 den ‚Verhaltenskodex zur Bür- entwicklung: Migranten-Milieus. Ein Kompass gerbeteiligung‘ (Code of Good Practise for Ci- für die Stadtgesellschaft, 2009, 88 S. vil Participation in the Decision-Making Pro- cess) als Referenzdokument des Europarates Stipendien im Doktorandenkolleg aufgenommen. Somit sind die politischen Ent- „Bürgerschaftliches Engagement“ scheidungsträger der Mitgliedsstaaten dazu auf- Zum dritten Mal schreiben das Centrum für so- gefordert, den Verhaltenskodex bei Beteiligung ziale Investition und Innovation (CSI) der Uni- zivilgesellschaftlicher Akteure in Entschei- versität Heidelberg und der Generali Zukunfts- dungsprozessen auf nationaler, regionaler und fond Promotionsstipendien im Doktorandenkol- lokaler Ebene einzubeziehen und zu berücksich- leg „Bürgeschaftliches Engagement“ aus. Das tigen. Der Verhaltenskodex ist in englischer Kolleg verfolgt eine sozialwissenschaftliche Sprache abrufbar unter www.coe.int/t/ngo/Sour- Erforschung des Themenfeldes Engagement und ce/Code_good_practise_en.pdf. Alter. Bewerbungsschluss für die maximal drei- jährige Förderung ist der 31. März 2010 (für Neue Fachzeitschrift für Dritter- Stipendienbeginn am 1. Juli 2010) bzw. der 30. Sektor-Forschung September 2010 (Stipendienbeginn 1. Januar Das Voluntary Sector Studies Network (vssn) 2011). Bewerbungsformalitäten und Informati- gibt seit diesem Jahr in Zusammenarbeit mit onen zu den bisherigen Forschungsvorhaben The Policy Press eine neue internationale Peer- bietet die Internetseite des Doktorandenkollegs: Review-Zeitschrift zu Forschung, Politik und www.csi.uni-heidelberg.de/kolleg_be. Praxis im dritten Sektor heraus. Die Voluntary Sector Review, die in diesem Jahr in drei Ausga- Zivilgesellschaft vs. Soziale Bewegun- ben erscheinen wird, plant eine umfassende gen? Neue Ausgabe von Interface Berücksichtigung der relevanten Themen des Mit dem Spannungsverhältnis von Zivilgesell- Dritten Sektors von theoretischen Auseinander- schaft – insbesondere bezogen auf NGOs – und setzungen bis hin zu gesetzlichen Grundlagen. Sozialen Bewegungen (‚civil society‘ versus Neben wissenschaftlichen Forschungsartikeln social movements) beschäftigt sich die Online- und Berichten aus der Praxis werden auch Poli- Zeitschrift „Interface: a journal for and about cy-Reviews Berücksichtigung finden, die Ver- social movements“ in ihrer Ausgabe von No- änderungen rechtlicher und politischer Rahmen- vember 2009. Das im letzten Jahr von Bewe- bedingungen thematisieren. Die erste Ausgabe gungsaktivistInnen und engagierten Bewe- gungsforscherInnen gegründete Peer-Review- Journal ist international organisiert und kann Treibgut 103

wird im März 2010 erscheinen, für Institutio- Europäisches Wissenschaftsparlament nen werden sämtliche Ausgaben des Jahres on- 2010 line frei zugänglich sein. Weitere Informatio- Am 24. und 25. März 2010 findet unter dem nen, call for papers und Bezugsmöglichkeiten Motto „H2O – More than just a drop...“ die auf der Homepage des vssn: www.vssn.org.uk/ zweite Tagung des Europäischen Wissenschafts- journal/index.htm. parlamentes (EWP) statt. Die Internet-Plattform des EWP bietet ein fortlaufendes offenes Fo- Indien im Armutskrieg rum, in dem SchülerInnen, Studierenden und Im Kurzbericht „Indien im ‚Armutskrieg‘ – ExpertInnen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Warum die Regierung die militärische Offensi- Themen aus Wissenschaft und Forschung dis- ve gegen die Maoisten nicht gewinnen kann“ kutieren. Das Thema „Wasser“ steht seit Som- stellt Anja Minaert, bis November 2009 Projek- mer 2009 zur Debatte. Aus den engagiertesten tassistentin im Büro der Friedrich-Ebert-Stif- TeilnehmerInnen dieser Diskussionen wurden tung in Neu Delhi, Hintergründe zur maoisti- im Januar 15 SchülerInnengruppen aus 13 Län- schen Guerilla-Bewegung in Indien sowie zur dern zur diesjährigen Konferenz eingeladen. Im militärischen Offensive der indischen Regierung Verlauf der Konferenz werden sie zusammen dar. Die Maoisten konnten ihren bewaffneten mit ExpertInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Widerstand in den letzten Jahren beträchtlich NGOs und Politik in Arbeitsgruppen und Ple- ausdehnen, und sind nun in fast einem Drittel narsitzungen unterschiedliche Aspekte des The- des Staatsgebietes vertreten. Vor allem im länd- mas beleuchten. Ziel der Konferenz ist die Er- lichen Raum konnte sich die Bewegung auf- stellung einer gemeinsamen Erklärung, die den grund der dort herrschenden großen Armut und Institutionen der Europäischen Union als wis- des Fehlens jeglicher öffentlicher Dienstleistun- senschaftlich-politisches Statement übergeben gen etablieren. Die von der indischen Regie- werden soll. Weitere Informationen, u.a. zu Teil- rung für die kommenden fünf Jahre geplante, nahmemöglichkeiten, sowie das Diskussions- groß angelegte militärische Operation „Green forum unter www.wissenschaftsparlament.eu. Hunt“ startete bereits im September 2009 mit einer Kampagne ‚psychologischer Kriegsfüh- Jugendpolitik in Europa rung‘. Die Offensive wird zahlreiche Opfer for- Am 27. November 2009 haben die für Jugend- dern, den Konflikt aber, so die Autorin, nicht politik zuständigen MinisterInnen der EU-Mit- beilegen können. Erst wenn die Regierung die gliedsstaaten einen neuen Rahmen für die Zu- wirtschaftlichen und sozialen Missstände be- sammenarbeit im Bereich Jugend für die Zeit hebt, wird der Einfluss der Guerilla-Bewegung von 2010 bis 2018 beschlossen. Darin werden schwinden. Der Kurzbericht ist auf den Seiten u.a. allgemeine Ziele beschrieben, so etwa die der FES abrufbar: www.fes.de/asien > Publi- Schaffung größerer Chancengleichheit in Bil- kationen. dung und auf dem Arbeitsmarkt und die Förde- rung sozialer Eingliederung. Dem Beschluss ging eine umfassende Konsultation mit Jugend- lichen und Jugendorganisationen voran. Weite- re Informationen hierzu sind zugänglich auf dem Europäischen Jugendportal (http://europa.eu/ youth/) oder unter http://europa.eu/media-cen- tre/index_de.htm. 104 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

REZENSIONEN jede mehrheitsfähige Lagerbildung auf der Lin- ...... ken unmöglich macht – die Linke. Diesem Zustand der deutschen Parteienland- Und der Zukunft abgewandt ... schaft nähern sich aktuelle Buchpublikationen Neue Literatur über politische aus verschiedenen Perspektiven. Während Be- Parteien atrice von Weizsäcker den Weg der pauschalen Parteiverdammung wählt, zieht Franz Walter aus Wilhelm Hennis schrieb einst, „kraftvolle Par- historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive teien [seien] das Ergebnis kraftvoller Anstöße, den langen Bogen vom Aufstieg bis zum Herbst die sich aus historischen Lagen ergeben“. Wenn der Volksparteien. Thomas Leif dringt tief in die dieses Diktum zutrifft, müssten wir es eigent- (verrottete) Binnen-Anatomie der Parteiorgani- lich im Moment mit Parteien zu tun haben, die sationen ein. Und Joachim Raschke und Matt- vor Kraft nur so strotzen. Denn inmitten der hias Machnig leuchten die strategischen Rah- schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit menbedingungen aus, die das Handeln der Par- dem Zweiten Weltkrieg und am Ende einer zwei teien zugleich ermöglichen und limitieren. Jahrzehnte währenden Dominanz des Marktra- dikalismus befinden wir uns an einer politisch- Am einfachsten macht es sich Beatrice von ideologischen Wendemarke. Geöffnet hat sich Weizsäcker. Sie holt in ihrem Buch ‚Warum ich ein historisches Zeitfenster, das politische Ge- mich nicht für Politik interessiere‘ zu einem staltung nicht nur ermöglicht, sondern nachge- Generalangriff auf die politischen Parteien aus, rade verlangt. Nimmt man allerdings die deut- die sich – all diese Argumente sind hinlänglich schen Parteien in den Blick, ist von einem Be- bekannt – den Staat genauso zur Beute gemacht wusstsein dafür wenig zu spüren. Denn auf der haben wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk politischen Bühne agieren: und überhaupt die Deutung über das Politische. Eine linke Volkspartei in der schwersten „Dass aus der repräsentativen Demokratie eine Orientierungskrise ihrer Geschichte, die seit Parteiendemokratie geworden ist, liegt auch an Jahren öffentliche Selbstfindungskurse absol- der Verfassung. Dass sie aber zur Parteiende- viert – die SPD. mokratie verkommen ist, liegt an den Parteien Eine Flügelpartei, die, kaum an die Macht selbst, ihrem überzogenen Machtanspruch und zurückgekehrt, konzeptlos Klientelpolitik wi- der Art und Weise, wie sie ihn durchzusetzen der die eigenen Grundsätze betreibt – die FDP. versuchen.“ (57). Daraus folgt für von Weizsä- Eine christliche Volkspartei, der unter dem cker: „Sechzig Jahre Grundgesetz, sechzig Jah- pragmatischen Modernisierungskurs ihrer Vor- re Bundesrepublik Deutschland, sechzig Jahre sitzenden die Grundwerte abhanden gekommen Demokratie, und die Menschen sind der Partei- sind – die CDU. en und ihrer Volksvertreter müde, ja überdrüs- Eine ehemalige Protestpartei, welche die sig geworden. Eine solche Politik interessiert Verbindung von Mittelklasse-Hedonismus und die Menschen nicht, sie kann sie nicht interes- Öko-Strom mit einem umfassenden Politikkon- sieren.“ (92). All das ist nicht neu, in der Analy- zept verwechselt – Bündnis 90/Die Grünen. se doch etwas unterkomplex und eigentlich nur Eine rechte sozial-populistische Partei, die erstaunlich, weil hier die Tochter eines CDU- so ziemlich gegen jeden Vorschlag der Regie- Spitzenpolitikers schreibt. Aber auch der hatte rung ist, aber leider mit regiert – die CSU. ja als Bundespräsident die Machtvergessen- und Und eine linke Protestpartei, die sich durch -versessenheit der politischen Parteien beklagt. Realitätsverweigerung selbst ghettoisiert und so Als Radikalkur gegen die von ihr so empfundene Literatur 105

Erosion der Demokratie empfiehlt von Weizsä- Die Ursachen für den Niedergang von SPD cker das unmittelbare Engagement der Bürger: und CDU als Volksparteien gleichen sich „Je abstoßender die Politik wirkt, desto aktiver übrigens in Walters Analyse. In beiden Fällen erscheint das Volk. Von der miesen Stimmung haben sich diese historischen Formationen als lässt es sich nicht anstecken und schon gar nicht so erfolgreich erwiesen, dass sie quasi von sich davon abhalten, selbst etwas zu tun.“ (93) Es selbst überholt wurden. Im Falle der SPD ist es folgt dann ein langer Katalog guter Beispiele, die „gelungene Teilemanzipation ihrer Kern- von den Montagsdemonstrationen 1989 über gruppe aus der früheren Facharbeiteraristokra- die Lichterketten gegen Fremdenfeindlichkeit tie, die den Sozialdemokratien ihre Aura und 1992 bis zur Einführung von Online-Petitionen ihren Antrieb genommen hat“ (97). Und über an den Deutschen Bundestag. Am Ende lässt die Union urteilt Walter, dass die „über Jahr- von Weizsäcker den Leser aber doch ziemlich zehnte massiv betriebene Modernisierung des ratlos zurück, denn eine Alternative zur Partei- Landes zu guter Letzt ihre eigenen Mütter und endemokratie formuliert sie nicht. Es bleibt bei Väter vertilgt“ hat (51). der Bitte an die Berufspolitiker, die Bürger doch Dabei attestiert Walter den Parteiorganisati- ein bisschen ernster zu nehmen. onen eine nicht unerhebliche Stabilität, die ne- ben Ignoranz vor allem auf privilegierten insti- Der deutlich positivere Blick von Franz tutionellen Machtzugängen beruht und auch von Walter auf die Volksparteien wird dagegen schon Wähler- und Mitgliederverlusten nicht ernsthaft im Untertitel seines 115seitigen Essays ‚Im tangiert wird: „Im Grunde kommt es nicht dar- Herbst der Volksparteien‘ deutlich. Denn Wal- auf an, ob die Parteien Mitglieder einbüßen, ob ter schreibt über den ‚Aufstieg und Rückgang Wähler nicht zur Wahl gehen. Der Einfluss der politischer Massenintegration‘. Das ist präzise Parteien bleibt stets gleich. Sie regieren; sie schi- formuliert, denn Walter stellt all das in den Mit- cken ihre Leute weiter in Rundfunk- und Fern- telpunkt, was von Weizsäcker in ihrer Kampf- sehräte, in Sparkassenvorstände.“ (11) Darüber schrift gegen die Parteien übersieht: dass diese sei ihnen allerdings ihr Kern, das Politisch-Dis- seit über hundert Jahren die wesentliche Ver- kursive, abhanden gekommen und einem rei- mittlungsinstanz zwischen Staat und Gesell- nen Macht-Management gewichen, dem jeder schaft sind und ihre Bündelungs- und Fokus- inhaltliche Gestaltungsanspruch fehle. Das ma- sierungsfunktion von Interessen und Anliegen che die Parteien zum Tummelbecken für Karri- im Großen und Ganzen gut erfüllt haben. Mit eristen und Leute, die sonst nichts zu tun haben. umso mehr Bedauern und nicht frei von Nostal- Am Ende steht deswegen für Walter die Frage: gie beschreibt Walter „die Entbindung der poli- „Machen nur noch Spinner mit?“ (99) tischen Repräsentanzen von den sie ursprüng- lich konstituierenden, dann lange tragenden so- Antworten darauf finden sich in Thomas zialmoralischen Milieus“ (7). Doch er zeichnet Leifs thesenstarkem Buch ‚Angepasst & Aus- auch klar die dysfunktionalen Folgen, die diese gebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle.‘ Entkoppelung hatte: Walter zufolge beschrän- Denn den Mangel an qualifiziertem Personal ken sich moderne Parteien „nach dem Auslau- hat Leif als größte Gefahr für die Volksparteien fen ihrer gesellschaftlichen Vermittlungsrolle“ ausgemacht. Durch die Überalterung, innere auf die Auswahl des politischen Personals – Schließung und ritualisierte Kommunikation der dies nun freilich ohne die Legitimation der brei- Parteien würden Nachwuchstalente und Quer- ten gesellschaftlichen Einbettung früherer Zei- einsteiger systematisch abgeschreckt. Die tra- ten (10). ditionelle Ochsentour als Rekrutierungsweg für 106 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Berufspolitiker führt Leif zufolge dazu, dass lysen, an nachdenklichen Einschätzungen lang vor allem Menschen von Parteien angezogen gedienter Parteifunktionäre und an Beispielen würden, die darin einen „Karriere-Ausweg“ des Scheiterns von Aktivisten, die es anders sähen (59f.), vulgo: nichts anderes können. Die machen wollten. Was nach der Lektüre bleibt, Folge: das politische Personal hat immer mehr ist vor allem der Eindruck der Hilflosigkeit. B-Qualität, was die Legitimation der Demokra- Politiker und Parteimanager spüren die eigene tie untergräbt. Denn in dem Maße, in dem es Unfähigkeit, ihre Tanker auf einen anderen Kurs den Parteien nicht mehr gelingt, alle Positionen zu setzen. Steuern die Tanker jedoch so weiter, abzubilden, den Meinungsfindungsprozess zu auch das wissen sie, schrumpfen sie unweiger- zentralen Fragen zu organisieren und schließlich lich auf das Format von Hafen-Barkassen. durch das Abwägen von für und wider in Rich- tungsentscheidungen zu übersetzen, sägen sie Auch Matthias Machnig und Joachim Rasch- auch an ihren eigenen verfassungsrechtlichen ke treibt die Frage nach der Zukunft der Volks- Privilegien. Doch nicht nur das: die in den Par- parteien um. Ihr Fokus ist jedoch ein anderer. In teispitzen kultivierte Wagenburgmentalität führt, Einleitung und Schlussteil des von ihnen her- wie Leif aufzeigt, unweigerlich zu Realitätsver- ausgegebenen Sammelbands ‚Wohin steuert lust. Die Lücke zwischen der Weltwahrnehmung Deutschland?‘, der noch vor der Bundestags- der Bürger und jener der politischen Klasse wird wahl erschien und eine ganze Reihe höchst le- so immer größer (32). senswerter Aufsätze vereint, fragen die Heraus- Mehr als skeptisch sieht Leif auch die Ver- geber vor allem nach den zukünftigen Arrange- suche der Parteien, sich selbst am Schopf aus ments des Parteiensystems. Ausgehend von der dem Sumpf zu ziehen. Ihre Jugendorganisatio- Prämisse, dass Parteien „mit einem Wahlanteil nen sind ihm zufolge ähnlich ausgezehrt wie die von 35 Prozent oder weniger, bei einem Nicht- Mutterorganisationen (97ff.), alle Versuche zu wähleranteil von 22 Prozent (2005)“ sich „kaum Parteireformen sind in der Bundesrepublik noch als Volksparteien bezeichnen“ lassen (14), bislang als technokratisch-managerial getriebe- konstatieren Machnig und Raschke vor allem ne „Revolutionen von oben“ gescheitert (209f.). einen Verlust der Strategiefähigkeit der politi- Entsprechend dominiert heute in der professio- schen Parteien, dem empirisch ein deutlich er- nellen Politik der Typus des angepassten Au- höhter Strategiebedarf gegenübersteht. Resultat ßenseiters, der sich stur nach der von der jewei- dieses Strategiedefizits ist die Unfähigkeit zur ligen Parteiführung vorgegebenen Linie verhält. intelligenten Lagerbildung, zur Schmiedung von Zu viel „Politik als Job“ jedoch, so Leif, redu- Reformallianzen in die eine oder andere Rich- ziert den politischen Kommunikations-, Beteili- tung. An die Stelle klarer Orientierungen treten gungs- und Entscheidungsprozess auf reine „Parteien, die nicht nur nicht mehr können, was Akklamations-Erzeugungs-Riten. Ohne Ideale, sie wollen, sondern auch immer weniger wis- Ideen und der notwendigen Konflikt- und Ein- sen, was sie wollen“ (16). Das mache das Par- satzbereitschaft für das als richtig Erachtete feh- teienspektrum ein Stück weit beliebig und sen- len dem Politischen die zentralen Antriebskräf- ke damit die Zutrittsbarrieren für neue Formati- te. onen wie Die Linke – die dann wiederum die Die Stärke von Leifs Buch besteht darin, Komplexität erhöhe und die Lagerbildung, in dass er seine Thesen aus detaillierten Innenan- diesem Falle links der Mitte, erheblich erschwe- sichten des bundesdeutschen Parteibetriebs ab- re, wenn nicht unmöglich mache. Machnig und leitet. Sein Buch versammelt eine wahre Fund- Raschke legen kenntnisreich dar, welche Hin- grube von internen Strategiepapieren und Ana- dernisse in beiden Lagern einer überwölbenden Literatur 107

Strategiebildung entgegenstehen – und machen wahl 2009. Ein Blick hinter die Kulissen, Ham- doch gleichzeitig deutlich, dass diese für das burg: Hoffmann und Campe. Überleben der jeweiligen politischen Formatio- von Weizsäcker, Beatrice 2009: Warum ich nen unabdingbar ist. Resümiert man die ersten mich nicht für Politik interessiere, Bergisch Monate der schwarz-gelben Kakophonie, be- Gladbach: Gustav Lübbe Verlag. greift man, wie Recht die beiden damit haben. Walter, Franz 2009: Im Herbst der Volks- parteien? Eine kleine Geschichte vom Aufstieg Am Ende dieser tour d’horizon durch neue- und Rückgang politischer Massenintegration, re Bücher zur Parteienlandschaft stehen in ers- Bielefeld: transcript Verlag. ter Linie Fragezeichen. Klar ist, dass gesell- schaftliche Modernisierung und politische Aus-  differenzierung – auch wenn der Erfolg der Linkspartei ein ‚hausgemachtes‘ Phänomen der Die Regierung des Sozialen: SPD ist – tatsächlich einen ‚Herbst der Volks- Kontrolle durch Aktivierung parteien‘ einleiten, wie Franz Walter ihn beob- achtet. Die von Thomas Leif konstatierte innere ‚Opposition ist Mist‘ lautete ein unvergessener Morschheit der Parteien beschleunigt diesen Sinnspruch, der die Sozialdemokratische Partei Prozess nur noch. Klar ist aber auch, dass die auf ihre Regierungsverantwortung einschwö- Parteien weiter gebraucht werden – denn in ih- ren sollte. Der Jenenser Soziologe Stephan Les- rer undifferenzierten Ablehnung der Parteien irrt senich hat sich nun mit einem Deutungsvor- sich Beatrice von Weizsäcker gründlich. Mit schlag zu Wort gemeldet, der die Diskussion Machnig und Raschke kann es nur darum ge- zur Zukunft des Sozialstaats mit Überlegungen hen, die Chancen neuer Politikentwürfe und anreichern will, die man mit einem Ausspruch daraus abgeleiteter Bündnisse möglichst um- Michel Foucaults überschreiben könnte: „auf sichtig auszuloten. Denn an der Grundfeststel- diese Weise und um diesen Preis regiert zu wer- lung, dass die Parteien in der repräsentativen den“ (Lessenich 2008: 141) ist Mist. Demokratie eine wichtige Scharnierfunktion ein- nehmen und nach wie vor die effizientesten Pro- Neosozial, nicht neoliberal!? blemlöser sind, wird sich auf absehbare Zeit Zu kurz greift für Lessenich allerdings die ver- nichts ändern. An der weit verbreiteten Partei- breitete Rede von einem neoliberalen Sozial- enverachtung allerdings auch nicht. „Zuletzt, bei staatsabbau. Der Sozialstaat bleibe auch ange- allen Teufelsfesten, wirkt der Parteihass doch sichts von partiellen Umbauten und zum Teil zum Besten“, ließ schon Goethe seinen Me- einschneidender Kürzungen ein aus den zeitge- phistopheles im Faust sagen. nössischen Gesellschaften nicht wegzudenken- des institutionelles Arrangement. Was sich Thymian Bussemer, Berlin allerdings tiefgreifend verändere, sei die Art der Regierung des Sozialen. Neosozial, nicht neoli- Besprochene Literatur beral sei die Signatur der neuen Ära. ‚Das Sozi- Leif, Thomas 2009: Angepasst & Ausge- ale‘ stellt dabei weder ein selbstverständlich brannt? Die Parteien in der Nachwuchsfalle. vorauszusetzendes, noch ein per se normativ Warum Deutschland der Stillstand droht, Mün- ausgezeichnetes Objekt dar. „Sozialpolitik tut, chen: C. Bertelsmann Verlag. entgegen einem hartnäckigen Vorurteil, (...) nicht Machnig, Matthias/Raschke, Joachim (Hg.) nur ‚Gutes‘. Sie ist keineswegs allein eine öf- 2009: Wohin steuert Deutschland? Bundestags- fentlich-säkularisierte Variante der christlichen 108 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Caritas, nicht nur ein Ort der Hilfe, Solidarität Dennoch steht für den Autor außer Frage, dass und Wohltätigkeit, sondern eben (immer) auch in den von Esping-Andersen unterschiedenen ein Instrument sozialer Steuerung, Kontrolle liberalen, konservativen und sozialdemokrati- und Disziplinierung.“ (10) schen ‚Welten des Wohlfahrtsstaats‘ keine ernst- zunehmende Alternative zur Politik einer Be- Sozialstaat – förderung des Sozialen vorliegt. „Die ‚eigentli- kein moderner Robin Hood che‘ (...) Frage ist eine andere (...): Wohin, in Bevor der Autor sich der Neuerfindung des welche Richtung, treibt die Beförderung des Sozialen zuwendet, führt er überblicksartig in Sozialen?“ (72) Grundlagen der Sozialpolitik und des Sozial- staats ein. Der Sozialstaat gilt ihm generell nicht Sozialstaat Marke Eigenbau nur als Effekt und ‚abhängige Variable‘ gesell- Die im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen- schaftlicher Entwicklungen, sondern mit Esping- de Neuausrichtung des Sozialstaats dechiffriert Andersen als ‚unabhängige Variable‘, als eigen- Lessenich nicht zuletzt durch die Brille der Fou- ständiger Akteur, Rahmensetzer und Taktgeber caultschen Governementality-Studies und er der Gesellschaftsentwicklung (24). Die Unter- spitzt seine Analysen weiterführend zur Zeitdi- scheidung verschiedener Interventionstypen agnose der „Aktivgesellschaft“ (Lessenich 2009) (Modernisierung, Normalisierung, Umvertei- zu. Wenn sich der Sozialstaat mit Claus Offe lung, Ver-Sicherung, Integration) verdeutlicht also generell als zentraler Mechanismus adapti- zugleich, dass der Sozialstaat eine Synthese he- ver Selbsttransformation beschreiben lässt, terogener Anforderungen und Leistungen dar- dann stellt die Umstellung auf Subjektivierung stellt. Er verwendet Zuckerbrot und Peitsche, und Aktivierung in Anlehnung an Foucault die ist „ein Instrument sozialer Inklusion und Ex- spezifische Blaupause für die Transformation klusion gleichermaßen.“ (34) In der Beschrei- des keynesianischen Wohlfahrtsstaats dar. bung des Sozialstaats als „Relationierungsmo- Was der Sozialstaat nicht mehr leisten kann dus“ (35) findet der Autor dennoch eine inte- oder will, das sollen nun die Subjekte selbst grierende Perspektive. Die durch den Sozial- übernehmen. Die neosoziale Aktivierungspro- staat ebenso gestifteten wie aufgelösten Relati- grammatik verlagere die Widersprüche des onen beziehen die Akteure dabei auf die soziale Wohlfahrtstaats in die Subjekte. Sie gelten so Ordnung insgesamt, auf andere Akteure und weniger als Inhaber von politisch verbürgten nicht zuletzt auch auf sich selbst. Rechten, denn als (sub-)„unternehmerisches Lessenich diskutiert weitergehend funktio- Selbst“ (Bröckling) und eigenverantwortliche nalistische, interessentheoretische, institutiona- Produzenten von Wohlfahrt. Das damit verbun- listische und ideenpolitische Erklärungsvor- dene Freiheitsangebot ist als ‚Regierung der schläge zur Frage der Entstehung des Sozial- Freiheit‘ real und zugleich eine besonders intri- staats, die er mit einer krisentheoretischen Wen- kate Form der Diszplinierung. Wo die Subjekte dung verklammert. „In diesem Interpretations- sich dem ‚Mach es selbst und sei aktiv‘–Impe- rahmen kann der Sozialstaat als ein wesentli- rativ allerdings nicht fügen, kann der aktivie- ches – und vielleicht das zentrale – Moment im rende Teilhabestaat zudem, so betont Lessenich modernen Prozess gesellschaftlicher Krisenin- in immer neuen Varianten, auch handgreiflich stitutionalisierung gelten.“ (55) Die keynesia- werden. Er entpuppt sich dann als eine perfide nische Variante des Sozialstaats mag zwar mit Form des strafenden und disziplinierenden dem Auslaufen der Prosperitätskonstellation der Staats, der seinen Bürgern nicht nur Leistungen Nachkriegszeit an ihre Grenze gekommen sein. kürzt, sondern sie darüber hinaus moralisch als Literatur 109

gemeinschaftsschädliche, verworfene und un- rung und Aktivierung unausgeschöpfter Poten- verantwortliche Subjekte diskreditiert. Die schö- tiale anstelle der nachträglichen Versorgung von ne neue Hochglanzwelt der ubiquitären Vorsor- bereits in den Brunnen gefallenen Sorgenkin- ge, Aktivität und Flexibilität werde insofern nicht dern. Wie als Beleg für die eingangs behauptete zufällig von Missbrauchs- und Sozialschma- Relevanz ideenpolitischer Ansätze in der Sozi- rotzerdiskursen flankiert, die Armut, Krankheit alstaatsanalyse hebt Lessenich insbesondere die oder Bildungsschwäche weniger als soziale Tat- Rolle des Soziologen Esping-Andersen als in- sachen, denn als individuelles Vergehen dar- tellektuellem Vorkämpfer der investiven Sozial- stellen. politik hervor, der als sozialpolitischer „Magier, Dieser aktivgesellschaftlichen Verschiebung (...) aus Anspruchsreduktionsstroh Sozialinves- vom individuellen zum sozialen Gesichtspunkt titionsgold zu machen versprach“ (98). Wie die kommt Lessenich auch mit Georg Simmel („Der im Zuge des vielbeschworen demographischen Arme“) auf die Spur, der vier verschiedene For- Wandels verkündete Absage an den ‚wohlver- men der sozialen Unterstützungsbeziehung un- dienten Ruhestand‘ des versorgenden Sozial- terschieden hat (individuelles Recht, sittliche staats zugunsten einer gesellschaftsdienlichen Pflicht, soziales Recht, soziale Pflicht (Lesse- Mobilisierung bis ins hohe Alter hinein steht nich 2008: 92)): „Wo öffentlicher Schutz des auch die Mobilisierung weiblichen Arbeitsver- Individuums gegenüber sozialen Risiken war mögens und die schon im Vorschulalter begin- (oder aktivierungssprachlich: wo Menschen ‚zu nende aktivgesellschaftliche Indienstnahme der unmündigen Empfängern von staatlichen Ali- Kindheit für Lessenich jedoch nur sehr bedingt mentationen‘ (...) wurden), soll nun individuel- im Zeichen einer Steigerung von Autonomie- le Risikovorsorge im gesellschaftlichen Inter- und Mitsprachespielräumen. Die Anzapfung esse werden.“(95) unerschlossener Aktivressourcen folge vielmehr einem fragwürdigen Produktivismus und habe ‚Der bewegte Mensch‘ in der unter tätiger Mitwirkung der Subjekte weniger ‚Gesellschaft der Bewegung‘ deren Wohl als das eines vermeintlich von Er- Diese aktivgesellschaftliche Transformation schlaffung und Verfettung bedrohten Gemein- weist für Lessenich weit über die Rekommodi- wesens im Visier. Was heute für einige als neu- fizierung der Arbeitskraft durch arbeitsmarkt- gewonnener Freiheitsspielraum erscheinen mag, bezogene Reformen und die Semantik des ‚For- kann insofern schon morgen zur autoritativen derns und Förderns‘ hinaus. Er demonstriert Anforderung an alle werden. die Beweislastenumkehrung gegenüber den ‚al- Dass Aktivierungs- und Mobilisierungsdis- ten‘ sozialstaatlichen Arrangements entspre- kurse nicht nur metaphorisch zu verstehen sind, chend an Programmen und Politiken zur Frau- sondern sich ganz buchstäblich auch auf die enerwerbstätigkeit und zur (früh-)kindlichen biopolitischen Grundlagen des Sozialen bezie- Förderung, zum ‚aktiven Alter‘ und zur Bio- hen, skizziert der Autor abschließend am Bei- und Gesundheitspolitik. Dabei zeigen sich spiel eines bundesweiten Programms zur Ge- durchgehende Merkmale und Analogien als auch sundheitspolitik, dem Nationalen Aktionsplan bemerkenswerte Varianten. ‚Fit statt Fett‘. Gerade körper- und gesundheits- Die Förderung von Kindern und Frauen bezogene Praktiken von der schlechten Ernäh- unter dem Titel der ‚investiven‘ Sozialpolitik rung bis zur mangelnden Bewegung bilden nicht stellt für Lessenich „das Premiumsegment akti- nur ein Zentrum der Verurteilung der Lebenssti- vierender Sozialpolitik“ (98) dar. Auch hier geht le so genannter ‚Unterschichten‘. Das Regime es in der Außendarstellung um die Mobilisie- der Aktivierung wird vielmehr – so ein basso 110 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

continuo der Darstellung – nicht nur von außen Bewegungsforscher dürften hier hinter einige an die Subjekte herangetragen, sondern schafft begriffliche Wendungen – etwa die Konnotati- sich den ihm entsprechenden Menschentyp. on einer „Gesellschaft der Bewegung“ (Lesse- ‚Wir alle‘ sind mitten drin und voll dabei. „Die nich 2006: 341) mit einer aktivgesellschaftli- neosoziale Regierung arbeitet nicht – oder chen Dauermobilisierung – ein Fragezeichen jedenfalls nicht in erster Linie – mit dem klas- setzen und die unausgeschöpften demokratie- sischen staatlichen Instrumentarium von politischen Potentiale stärker betonen. Zwang, Gesetz und Kontrolle, sondern eben Womöglich ist aber die Aufmerksamkeit für mit ‚weichen‘ Medien der Freiheit, Überzeu- die nicht so leicht aufzulösenden Paradoxien gung und Selbststeuerung. (...) Aktivität kommt wohlmeinend auftretender Konzepte einer vor- hier nicht nur ‚von oben‘ zustande, sondern schnellen Eindeutigkeit fürs Erste vorzuziehen als aktivgesellschaftliche Koproduktion, als – und der Schärfung des analytischen Bestecks wie gesehen – öffentlich-private Bewegungs- durchaus zuträglich. Insgesamt bietet Lessenich partnerschaft. Hier wird niemand wirklich zur jedenfalls eine ebenso kompakte wie differen- Bewegung ‚gezwungen‘ – aber wer möchte zierte Darstellung der aktuellen Kontroversen schon fett (oder alt, krank, arbeitslos usw.) zum Sozialstaat und zur Sozialpolitik, die fach- sein, wenn er oder sie anders (sein) könnte.“ wissenschaftliche Analyse und Zeitdiagnose (124) Die Kehrseite der Do-it-yourself-Ver- verbindet und insofern auch für einen breiteren antwortungsübergabe an die Subjekte bildet Leserkreis von Interesse sein dürfte. dabei jedoch die Schuldzuweisung an die glei- che Adresse. Auf der Strecke zu bleiben drohe Albrecht Lüter, Berlin/Frankfurt am Main das „Ideal der Autonomie“, das moderne Ver- sprechen, ein selbstbestimmtes Leben führen Besprochene Literatur zu können. Die Bilanz des Soziologen fällt dann Lessenich, Stephan 2008: Die Neuerfindung auch unmissverständlich aus: „Die neue, akti- des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Ka- vische Regierung des Sozialen ist ein gesell- pitalismus, Bielefeld: transcript. schaftliches Verlustgeschäft.“ (138) Womöglich hat es auch mit der ausgespro- Zitierte Literatur chen tief, an der ‚sozialen Subjektivität‘ anset- Lessenich, Stephan 2009: Mobilität und zenden Perspektive zu tun, dass die vom Au- Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft. tor angebotenen Auswege aus der diagnosti- In: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hart- zierten Misere eher blass bleiben: Bei aller ge- mut (Hg.): Soziologie – Kapitalismus – Kritik, botenen Aktivität sollte man auch mal Innehal- Eine Debatte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, ten, Fünfe grade sein und Flexibilität nicht zum 126-177. Fetisch werden lassen. Schon recht, aber ist Lessenich, Stephan 2006. Stichwort: Beweg- das schon eine politische „Kollektivkunst“ lich – Unbeweglich. In Lessenich, Stephan/ (141)? Die analytischen Gewinne und reizvol- Nullmeier, Frank (Hg.): Deutschland – eine len Perspektiven, die sich aus der Verfolgung gespaltene Gesellschaft, Frankfurt am Main/New sozialpolitischer Arrangements bis hinein in York: Campus, 336-352. die Mikropolitik der Selbstverhältnisse der Subjekte ergeben, lassen so gelegentlich den  Anschein entstehen, dass es mit den leitmoti- visch eingeführten Widersprüchen des Sozial- staats soweit dann doch nicht her ist. Nicht nur Literatur 111

Neue Perspektiven auf Jürgen Wie bei Metzler-Handbüchern üblich, glie- Habermas dert sich der Band in drei Teile. Nach dem Vor- wort und einem kurzen biographischen Ab- Seit jeher fanden verschiedene Konzepte und schnitt werden im ersten Teil zunächst die ,Kon- Ansätze von Jürgen Habermas eine rege Re- texte‘ von Habermas’ Schaffensphasen abge- zeption in der Forschung zu sozialen Bewegun- handelt, d.h. es werden die jeweiligen wissen- gen im Allgemeinen und dieser Zeitschrift im schaftlichen Disziplinen bzw. theoretischen Besonderen. Ohne Anspruch auf Vollständig- Schulen vorgestellt, mit denen sich der Autor keit zu erheben, sind in dieser Hinsicht seine auseinandergesetzt hat. Die Ausführlichkeit die- Theorie der Öffentlichkeit, die Ausführungen ses Teils erlaubt hierbei eine Darstellung der über die neuen sozialen Bewegungen, das Kon- vielfältigen akademischen Wurzeln seiner Ar- zept der Zivilgesellschaft, schließlich die Bei- beiten. Hierdurch wird auch die sonst übliche träge zur Debatte um deliberative Demokratie Reduzierung auf die Auseinandersetzung mit zu nennen. der Frankfurter Schule der ersten Generation Hierzulande drohen gleichwohl seine neue- vermieden. Vielmehr wird deutlich, wie einfluss- ren Arbeiten nicht aus dem Schatten dieser reich die philosophische Anthropologie, der mittlerweile klassischen Konzepte treten zu kön- Marxismus, die Weimarer Staatsrechtslehre und nen. Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit später der amerikanische Pragmatismus für sei- zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2009 scheint ne Arbeiten gewesen sind. diese Problematik eher noch verstärkt als beho- Im darauf folgenden zweiten Teil, der mit ben zu haben. Habermas droht als deutscher ,Texte‘ übertitelt ist, werden von den Herausge- Klassiker abgeheftet zu werden, der von den bern als wesentlich erachtete Veröffentlichun- einen genüsslich verrissen – hier ist z.B. Sybil- gen besprochen. Die von den jeweiligen Auto- le Tönnies Rede von des Kaisers neuen Klei- ren geschriebenen Abschnitte behandeln dabei dern zu nennen1 – und von den anderen durch nicht, wie der jeweilige Untertitel suggeriert, Lobhymnen geehrt wird, die sich schon fast jeweils ein einzelnes Werk Habermas’. Vielmehr wie Nachrufe lesen2. wird jeweils mit einer Kurzzusammenfassung Abhilfe in dieser Situation verspricht dem- einer Arbeit begonnen, um anschließend weite- gegenüber das von Hauke Brunkhorst, Regina re daran anknüpfende Veröffentlichungen, aber Kreide und Cristina Lafont bei Metzler heraus- auch kritische Einwände vorzustellen. gegebene Habermas-Handbuch. Das Ziel der Insgesamt folgt die Darstellung der ,Texte‘ Herausgeber ist es explizit nicht, ein geschlos- nicht schematisch den großen Monographien, senes, gar abgeschlossenes Werk in Andenken sondern setzt selbst Akzente, lässt beispiels- zu halten, sondern die ganze Breite der heute weise Theorie und Praxis aus, stellt dafür aber weltweit laufenden und äußerst lebendigen Re- sowohl die bislang kaum beachtete Dissertation zeption zu Wort kommen zu lassen. Zwar zeich- zu Schelling als auch die häufig übersehene net sich das über fünfzig Autoren aus unter- Anfangskonzeption der Diskurstheorie in dem schiedlichsten Disziplinen versammelnde Werk mit Luhmann veröffentlichen Band Gesell- nicht gerade durch eine allgemeinverständliche schaftstheorie oder Sozialtechnologie in den Sprache aus. Dafür wird der hier versammelte Vordergrund. Erkenntnisstand ganz sicher für all jene unum- Nachdem die LeserInnensomit in die Lage gänglich werden, die behaupten wollen, in der versetzt wurden, die Habermassche Textproduk- Habermas-Rezeption auf der Höhe der Zeit zu tion aus ihren jeweiligen akademischen Kon- argumentieren. texten heraus zu verstehen, widmet sich der dritte 112 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Teil des Bandes einzelnen Begriffen. Auch hier gegenüber den Möglichkeiten der Gentechnik ist den Herausgebern eine ausgewogene Aus- nicht in einen rückwärtsgewandten Naturalis- wahl zwischen kritischen Interventionen Ha- mus zurückzufallen. Hier auf der Höhe der ak- bermas’ in die öffentlich-politische Debatte, z.B. tuellen philosophischen Argumente zu sein, über die Rolle des Intellektuellen oder die Not- kann sicherlich auch für die empirische For- wendigkeit eines Verfassungspatriotismus’, und schung nützlich sein, um die ideologischen Po- eher theoretischen Grundbegriffen (z.B. Dis- sitionen der in diesem Feld aktiven sozialen kurs, kommunikatives Handeln, System und Bewegungen besser einordnen zu können. Lebenswelt) gelungen. Während die Auswahl Schließlich sind aber insbesondere all jene von Begriffen wie ,Deliberation‘ oder ,kontra- Beiträge in diesem Band für die Forschung zu faktische Voraussetzungen‘ weniger überrascht, sozialen Bewegungen von Nutzen, die be- eröffnet Kenneth Baynes kurzer Beitrag zu ei- sprechen, wie die Konzepte Öffentlichkeit und nem dem Habermasschen Denken letztlich nur Demokratie von ihrem angestammten national- impliziten Begriff der Gleichheit, welcher sich staatlichen Kontext auf die Bedingungen der in fundamentale, moralische und politische Globalisierung angepasst werden können. Die Gleichheit untergliedern lässt, eine originelle entsprechenden Entwürfe zu einer an Kant an- Perspektive auf das Werk. schließenden Vorstellung kosmopolitischer De- In Hinsicht auf mögliche neue Impulse für mokratie, Weltbürgergesellschaft und Weltin- die Forschung über soziale Bewegungen kann nenpolitik zeigen, welche Herausforderungen das Handbuch insgesamt in drei Themenhori- hier noch für eine genauere Einordnung trans- zonten von Nutzen sein. Zum einen lohnt ein nationaler sozialer Bewegungen als Akteure ei- Blick auf die Weiterführung und Kritik von ner globalen Zivilgesellschaft jenseits des her- Habermas’ Spätkapitalismusanalyse und Kolo- kömmlichen Nationalstaats bestehen. nialisierungsthese. Zwar wird seine damalige Insgesamt wartet der Band damit sicher nicht Gegenwartsdiagnose, dass Staat und Wirtschaft mit einfachen Rezepten für die Forschung zu in angestammte Alltagswelten eindringen und sozialen Bewegungen auf. Gleichwohl verstärkt dadurch Legitimationsprobleme erzeugen, in die Lektüre den Eindruck, dass es sich lohnen dieser Form heute kaum noch vertreten. Aller- würde, die vor allem in der Vergangenheit rege dings verliert sie damit keineswegs an Aktuali- vorgenommene Rezeption auch in Zukunft fort- tät, sondern fordert zu neuen Forschungen zuführen. heraus. So konstatiert Frank Nullmeier, dass eine Weiterentwicklung der Spätkapitalismus- Mundo Yang, Berlin theorie angesichts neuer Diagnosen eines Fi- nanzmarktkapitalismus wünschenswert wäre. Besprochene Literatur Gerade die jüngste Weltfinanzmarktkrise ver- Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/Lafont, deutliche, wie aktuell die Frage nach den Legiti- Cristina (Hg.) 2009: Habermas-Handbuch. mationsproblemen der kapitalistischen Wirt- Stuttgart/Weimar: Metzler. schaftsordnung ist. Zum anderen lohnt ein Blick auf die philo- Anmerkungen sophischen Argumentationen, mit denen die 1Online im Internet unter www.dradio.de/ Ablehnung einer neuen Eugenik bzw. eines hu- dlf/sendungen/essayunddiskurs/977693/. man enhancement begründet wird. Den Auto- 2Online im Internet unter www.zeit.de/2009/ ren zufolge sucht Habermas nach einer posttra- 25/Habermas. ditionalen Begründung für seine Ablehnung, um Literatur 113

ANNOTATIONEN SERGE EMBACHER ...... Demokratie? Nein Danke! Demokratieverdruss in Deutschland. FRIEDBERT W. RÜB, KAREN A LNOR, Bonn: Dietz 2009. FLORIAN SPOHR Die Kunst des Reformierens Mit einem lange bekannten Phänomen – dem Konzeptionelle Überlegungen zu einer Politikverdruss – beschäftigt sich Serge Emba- erfolgreichen Regierungsstrategie. cher in einem schmalen Band von knapp 130 Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2009. Seiten. Im ersten der drei Kapitel stellt er zunächst die Ergebnisse einer Studie der Friedrich-Ebert- Im neusten Band der von der Bertelmann-Stif- Stiftung dar, in der deutlich wird, dass zahlrei- tung herausgegebenen Reihe Zukunft Regieren che Bürger mit der Demokratie in Deutschland – Beiträge für eine gestaltungsfähige Politik nicht zufrieden sind, nicht zuletzt weil diese nicht gehen die Autoren der Frage nach, welche poli- mehr für soziale Gerechtigkeit sorge. Im zwei- tischen und institutionellen Faktoren für die ten Kapitel werden Symptome und Facetten des Reformbereitschaft und -fähigkeit von Ländern Politikverdrusses analysiert und die politischen ausschlaggebend sind. Zu diesem Zweck unter- Entwicklungen aufgezeigt, die dorthin geführt suchen sie die Gesundheits- und Rentenrefor- haben. Dabei widmet sich der Autor den All- men in Frankreich, Österreich und Großbritan- tagswahrnehmungen der Bürger, dem Phäno- nien sowie die Rentenreform in Schweden auf men der Postdemokratie (Crouch), dem Ver- Erfolgs- bzw. Misserfolgsfaktoren. Dabei kon- trauensverlust sowie der besonderen Situation zentrieren sie sich neben der Untersuchung der in Ostdeutschland. Abschließend zeichnet er die strukturellen und institutionellen Rahmenbedin- bestehenden Herausforderungen nach, die zur gungen vor allem auf die strategischen Manage- Überwindung des Problems gemeistert werden mentleistungen von Regierungen. Als Schlüs- müssen, und erläutert, wie ein deliberatives sel zum Erfolg von Reformen identifizieren sie Modell der Demokratie, in dem die Bürger eine angemessene Kombination der von ihnen wieder stärker am politischen Prozess beteiligt konzeptionell zugrunde gelegten Regierungs- werden, dazu beitragen kann. Hier sind – wie stile Verantwortungs-, Kommunikations-, Wis- der Autor auch an anderen Stellen betont – die sens- und Partizipationsstil in den jeweiligen politisch Verantwortlichen in die Pflicht zu neh- Phasen des policy-Prozesses (Agenda-Setting, men. Insoweit ist der Band ein gelungener Ap- Entscheidungsphase, Implementation, Monito- pell an die politische Klasse zur Reflektion über ring). In diesem Zusammenhang kommen die das eigene Handeln. Autoren zu dem Schluss, dass die Bedeutung der Kernexekutiven und Regierungszentralen Tobias Quednau, Berlin als (potentielle) strategische Zentren für gute Reformpolitik zunehme und deren Reorganisa- tion daher dringend notwendig sei.

Tobias Quednau, Berlin

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Tissy Bruns: Alles nur Wahlkampf! FJ NSB 1/2010, S. 6-10. In ihrer aktuellen Analyse zeigt Tissy Bruns, bezogen auf das Wahljahr 2009, das Wechselspiel von Medien und Politik und kommt zu dem Ergebnis, dass beide Instanzen ihre je eigene mit dem Wahlkampf verbundene Aufgabe nicht erfüllt haben. Während die Politiker ihre Kampagnen nahezu inhaltsleer gestalteten und somit die Wähler ihrer Möglichkeit einer substanziellen Mitgestaltung von Politik beraubten, beließen es die Medien bei einer Kritik der allein auf Machtgewinn ausge- richteten Politik und setzten erneut auf Darstellung und Diskussion von Umfragewerte. Ihrer Aufgabe zur Information, Aufklärung und damit Teilhabe an öffentlicher Meinungsbildung kamen sie nicht nach. Das fatale Ergebnis ist eine ermattete Demokratie, in der sich der Bürger nicht länger als politisches Subjekt, sondern lediglich als Objekt des Stimmenfangs angesprochen fühlt.

Tissy Bruns: It’s only an election campaign! FJ NSB 1/2010, pp. 6-10. Drawing on the 2009 Bundestag election Tissy Bruns analyzes the interplay between politics and the media. She concludes that neither has fulfilled its respective assignment. While the politicians nearly never referred to actual policies during the whole election campaign and thus robbed voters of their chance to substantially take part in the shaping of politics, the media only criticized the power strategy of politicians and furthermore only displayed and debated election polls. They did not meet their demand of informing and educating the public. This results in an exhausted democra- cy in which citizens are no longer seen as political subjects but rather as the objects of vote- catching.

Joachim Raschke/Ralf Tils: Die Qual der Wahl: Das Debakel der SPD und strategische Optionen in der Lagerstruktur des deutschen Parteiensystems, FJ NSB 1/2010, S. 11-16. In ihrer Analyse des Bundeswahlkampfs 2009 stellen Joachim Raschke und Ralf Tils dem erfolg- reichen Vorgehen der CDU die defizitäre Kampagne der SPD gegenüber. Merkels Lager-Strategie (Machtgewinn durch Mitteverschiebung) und ihre Gegner-Strategie (Demobilisierung der SPD) konnten gleichermaßen durch die Besetzung sozialdemokratischer Themen umgesetzt werden – ebenso ihre lagerübergreifende Personalisierungs-Strategie als Kanzlerin aller Deutschen. Die SPD blockierte sich hingegen selbst durch die Koalitionsfrage, verpasste es, soziale Gerechtigkeit als Mobilisierungsthema aufzugreifen und konnte mit Frank-Walter Steinmeier nicht den notwen- digen Richtungskandidaten aufbauen. Im Anschluss an die Wahl ergeben sich vor dem Hinter- grund der Lagerstruktur drei Optionen: eine Links-Strategie, bei der SPD, Bündnis90/Die Grünen und Linke offensiv den Willen zur Regierungsbildung erklären – diese Option wird bislang bestenfalls von der Links-Partei vertreten –, eine lagerübergreifende Strategie, die den Parteien des linken Spektrums allerdings keine glaubhafte Oppositionsarbeit ermöglicht, sowie eine Strategie des Offenlassens, die für SPD und Grüne interessant sein kann, da diese mit verschiedenen Partnern koalieren können. Einen zentralen Stellenwert wird der politische Diskurs zur Mitte haben; zumindest SPD und Grüne werden sich dazu positionieren müssen, wenn sie gewählt werden wollen.

Joachim Raschke/Ralf Tils: L’Embarras de Richesses: The debacle of the SPD and strategic options in the structure of political camps in the German party system, FJ NSB 1/2010, pp. 11-16. Abstracts 115

In their analysis of the 2009 Bundestag election Joachim Raschke and Ralf Tils contrast the successful strategies of the CDU with the SPD’s deficient campaign. Merkel’s strategy concerning the political camps (the gaining of power through a dislocation of the ,center of society‘) and her strategy concerning political opponents (demobilization of the SPD) could both be accomplished by the occupation of social democratic topics – also, this way her strategy of personalization as Chancellor of all Germans, collecting both political camps, was successful. The SPD, however, blocked itself by focussing on the question of possible coalitions. The party failed to grasp social justice as a topic to mobilize voters and could not make Frank-Walter Steinmeier a realistic conten- der. Following the election there remain three options facing the structure of political camps: a ,left‘ strategy, in which SPD, Bündnis90/Die Grünen and DIE LINKE clearly show their will to form a government – which at the moment is considered only by DIE LINKE; a strategy of enclosing all political camps, which will make work as a constructive opposition almost impossible for parties of political camp; and a strategy of non-decision, which could be interesting for SPD and Bündnis90/Die Grünen since both can form coalitions with multiple partners. Of foremost impor- tance will be the discourse on the political ,center‘; at least SPD and Bündnis90/Die Grünen will have to reposition themselves to this ,middle‘ if they want to be elected.

Herbert Hönigsberger/Andreas Kolbe/Sven Osterberg: Lager denken. Nicht links, nicht rechts – sondern demokratisch, FJ NSB 1/2010, S. 17-20. Der Wahlerfolg des liberal-konservativen Parteienbündnisses bei der Bundestagswahl 2009 ist darauf zurückzuführen, dass es, insbesondere über das Steuerthema und der damit verbundenen Ideologie, politische Lagerbildung betrieben hat und darüber Wähler mit primär ökonomischen Interessen an sich binden konnte. Ein vergleichbares politisches Lager existiert in der Opposition nicht, wird sich jedoch zumindest um zentrale Schlüsselthemen formieren müssen, um konkur- renzfähig sein zu können. Die Chance für ein entsprechendes dauerhaftes Bündnis der Oppositi- onsparteien sehen die Autoren in einem neuen, kapitalismusskeptischen Freiheits- und Marktwirt- schaftsdiskurs sowie einer Orientierung an partizipatorischer Demokratie.

Herbert Hönigsberger/Andreas Kolbe/Sven Osterberg: Political camps rethought. Not left, not right – but democratic, FJ NSB 1/2010, pp. 17-20. The success of the liberal-conservative coalition in the 2009 Bundestag election can be attributed to the fact that with focusing on tax policy CDU/CSU and FDP managed to form and appeal to a political camp. With this, they locked in voters with primarily economic interests. A comparable political camp does not exist between opposition parties. For these parties to be competitive, however, the formation of a camp around core topics is mandatory. The chance for a respective durable alliance, thus the opinion of the authors, lies in the promotion of a discourse on freedom and market economy which is skeptic of capitalism.

Peter Lösche: Sozialmoralische Milieus und politische Lager, FJ NSB 1/2010, S. 21-23. Bis in die 1980er Jahre hinein waren SPD und CDU durch sozialmoralische Milieus in der Gesellschaft verwurzelt. Der Niedergang der Volksparteien ist nicht zuletzt bedingt durch die Erosion dieser Milieus, hat demnach gesellschaftliche und wirtschaftliche, letztlich strukturelle 116 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

Ursachen. Auch die politischen Lager, die sich bislang über Verkopplung der Milieus mit den Parteien gebildet haben, sind entsprechend brüchig geworden. Künftige Bündnisse werden dem- nach nicht länger durch die Logik des Lagers bestimmt, da diese gesellschaftlich und parteipolitisch nicht mehr relevant sind.

Peter Lösche: Sociomoral milieus and political camps, FJ NSB 1/2010, pp. 21-23. Until the 1980ies both the SPD and the CDU were deeply rooted in certain sociomoral milieus. The erosion of catch-all parties is amplified by the erosion of said milieus, is thus caused by societal and economical, hence structural developments. The political camps, which until now were constituted by the linking of milieus with certain political parties, have become frail. In the future, coalitions will not be determined by the logic of political camps, since these camps have lost their societal and political relevance.

Richard Meng: Machttechnik reicht nicht. Koalitionsoptionen der Zukunft und der Anspruch der Politik, FJ NSB 1/2010, S. 24-26. Welche strategischen Konsequenzen können die Parteien aus der Bundestagswahl 2009 ziehen? Machtstrategische Überlegungen, so Meng, werden nicht ausreichen, vielmehr müssen die Partei- en ihre programmatische Entwicklung vorantreiben. Nicht nur angesichts der Wirtschaftskrise stellt sich jedoch die Frage, wie groß die politische Handlungsfähigkeit der Parteien noch ist. Vor allem die Oppositionsparteien müssen klären, welchen politischen Anspruch sie vertreten wollen und können. Erst dann werden sich Bündnisfragen entscheiden und künftige Koalitionsoptionen abzeichnen.

Richard Meng: Power strategies are not enough. Future coalition possibilities and the ambition of politics, FJ NSB 1/2010, pp. 24-26. Which strategic implications can the political parties deduce from the 2009 election? Meng suspects that consequences referring to power strategies only will not suffice; rather, the political parties will have to advance their programmatic development. Not only because of the current economic crisis the question arises, however, of how capable of acting and deciding political parties still are. Especially parties in opposition have to find out what their political ambitions are. Only then questions of alliances will be decided and options for coalitions will show.

Karl-Rudolf Korte: Wie bilden sich zukünftig Koalitionen? Antworten aus der politikwissen- schaftlichen Theorie, FJ NSB 1/2010, S. 27-30. Angesichts des Fünfparteiensystems werden Lagerkoalitionen durch neue, auch für die Bürger nicht vorhersehbare Varianten der Regierungsbildung abgelöst. Karl-Rudolf Korte nähert sich der Frage zukünftiger Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl 2009 unter Bezug auf drei Ansätze zur Strategie(bildung): Macht-Strategien, Lern-Strategien, die Deutungen und Ideen in den Vorder- grund stellen, sowie Verhandlungs-Strategien, deren zentrale Faktoren neben politischen Werten Abstracts 117

wie Vertrauen die politischen Spitzenakteure und die von ihnen erarbeiteten Verhandlungsspiel- räume sind.

Karl-Rudolf Korte: How will coalitions be formed in the future? Answers from political theory, FJ NSB 1/2010, pp. 27-30. In the light of a five-party-system coalitions emerging from political camps will make way for new alternatives of forming majorities not always foreseeable for voters. Korte tries to answer the question of future coalition building by referring to three dimensions of strategy: power strategies, learning strategies which refer to ideas and analyses, and negotiation strategies which factor in political values like trust and top level personnel and the negotiating leverages which they can acquire.

Richard Hilmer: Warum die SPD das Wahldebakel nicht abwenden konnte. Sechs Thesen zur Bundestagswahl 2009, FJ NSB 1/2010, S. 31-38. Unter Bezug auf Datenmaterial von Infratest dimap erläutert Richard Hilmer, wie der dramatische Einbruch der SPD zustande kam. So waren die Stimmenverluste sprunghaft und lassen sich auf teils länger zurückliegende konkrete politische Ereignisse, so etwa die Entscheidung zu Hartz IV oder den Rücktritt Oskar Lafontaines 1999 vom Parteivorsitz, zurückzuführen. Auch lässt sich belegen, dass die häufigen Wechsel an der Parteispitze die SPD schwächten. Frappierend waren aber ebenso die Verluste der ihr zugesprochenen Kompetenz in fast allen Bereichen der Politik, insbesondere in Fragen von Wirtschaft und Arbeit. Direkt den Wahlkampf betreffend machte sich überdies die fehlende Machtperspektive bemerkbar.

Richard Hilmer: Why the SPD could not have avoided the election debacle. Six theses concerning the 2009 Bundestag election, FJ NSB 1/2010, pp. 31-38. Analyzing data collected by Infratest dimap Richard Hilmer explains the dramatic slump of the SPD. The massive loss of votes can be led back in part to decisions made years ago, for example the Hartz VI legislation or the drawback of Oskar Lafontaine in 1999. It can also be concluded that the numerous changes in leadership weakened the SPD. Also, the lack of confidence voters had in the competence of the SPD regarding almost all policy fields, especially regarding economic and labor issues, is noticeable. Regarding the election campaign itself, one more reason was the lack of a power strategy.

Matthias Machnig: Der endgültige Abschied von der Macht oder Der Wahlkampf der Illusionen, FJ NSB 1/2010, S. 39-46. Matthias Machnig identifiziert zwei Aspekte des SPD-Wahlkampfes als ausschlaggebend für den unerwartet hohen Stimmverlust der Partei bei der Bundestagswahl 2009: zum einen die Ausrich- tung an völlig falschen Prämissen, zum anderen massive Strategiedefizite. So beharrte die SPD entgegen aller machtpolitischer Realität auf einen Kanzlerkandidaten und ebenso auf die Möglich- keit einer Ampel-Koalition, der die FDP bereits eine Absage erteilt hatte. Auch realisierte die SPD nicht, dass der Kampf um die Mitte zugunsten der CDU bereits verloren war. Strategisch defizitär war insbesondere, das Aufrufen eines Kanzlerkandidaten ohne zeitgleich eine Kampagnenstrategie 118 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

und die Frage des weiteren Agierens in der Großen Koalition – Konsens oder begrenzter Konflikt – zu klären. Ungeklärt war ebenso die Rollenverteilung zwischen Franz Müntefering und Frank- Walter Steinmeier. Zudem wurde versäumt, die Wirtschaftskrise in einer eigenen strategischen Linie zu thematisieren. Für eine erfolgreiche Wahlkampagne muss festgelegt sein, für welche Themen und Machtperspektiven und gegen welche Parteien oder Themen der Wahlkampf geführt wird; beides vermochte die SPD nicht.

Matthias Machnig: The definite farewell to power or the election campaign of illusions, FJ NSB 1/2010, pp. 39-46. Matthias Machnig identifies two aspects in the SPD election campaign which are responsible for the massive loss of votes in the 2009 Bundestag election: the dependency on wrong assumptions on one hand, strong strategy deficits on the other. In spite of its being non-realistic, the SPD insisted on both having a candidate for the office of chancellor and on the possibility of a three-way red-yellow-green coalition, which had already been denied by the FDP. Also, the SPD did not realize the fight for the ,center of society‘ had already been won by the CDU. The greatest strategic deficit was the nomination of a candidate to run for chancellor without designing a campaign strategy and resolving the way of further acting in the ,grand coalition‘ – consensus or conflict – at the same time. The exact role allocation between Franz Müntefering and Frank-Walter Steinmeier was left open: Also, the SPD failed to tackle the topic of the economical crisis with own strategic ideas. To run a successful political campaign, one needs to determine for which topics and persons or against which parties and policies one fights; the SPD failed to do both.

Thomas Steg: Das Wahljahr als Rutschbahn, FJ NSB 1/2010, S. 47-48. Die massiven Stimmenverluste der SPD bei der Bundestagswahl 2009 sind nicht monokausal zu erklären, sondern das Ergebnis aktueller Fehlentscheidungen im Wahljahr als auch struktureller Fehlentwicklungen seit den 1980er Jahren. Insbesondere jedoch konnten die Sozialdemokraten nicht überzeugend darlegen, wie der Sozialstaat gerecht und solidarisch gestaltet werden könnte. Sie vermochten nicht, den für die eigene Wählerschaft zentralen Begriff der sozialen Gerechtigkeit inhaltlich auszufüllen. Die SPD benötigt nun einen neuen sozialen Gestus, der stimmig und glaub- würdig ist.

Thomas Steg: Sliding in the election year, FJ NSB 1/2010, pp. 47-48. The massive loss of votes for the SPD in the 2009 Bundestag election must be accounted for with multiple causes. It is the result of current decisions and also structural aberrations since the 1980ies. One of the main reasons, however, is that the social democrats have failed to explain their idea of a just welfare state. They were not able to give meaning to the concept of social justice which is pivotal for their constituency. Social democracy in Germany needs a new social bearing which is coherent and authentic.

Olaf Scholz: Politik statt Schach, FJ NSB 1/2010, S. 49-51. Die zukünftige Politik nicht nur der SPD sollte sich nicht über Koalitionsfragen, sondern über politische Inhalte entscheiden und darüber Anknüpfungspunkte zu anderen Parteien suchen. Als Abstracts 119

liberale Partei ist die SPD etwa anschlussfähig an Positionen der Grünen und der FPD, wie sie aufgrund ihrer arbeitnehmerorientierten Politik an Wohlstandsmehrung interessiert ist und damit an pragmatische Teile der Mitte-Rechts-Konstellation anknüpfen kann. Schließlich kann sie sich als soziale Partei an einige programmatische Aspekte der Grünen und teils auch der Linken anschlie- ßen. Vor allem aber wird die SPD herausstellen müssen, was das ihr Eigene ist.

Olaf Scholz: Politics instead of chess, FJ NSB 1/2010, pp. 49-51. Future politics not only of the SPD should not be shaped because of coalition options but because of policy matters and resulting links to other parties. As a liberal party, for instance, the SPD carries connections to positions of Bündnis90/Die Grünen and the FDP, as can be found in its labor and economic oriented policies. This enables connections to the pragmatic fractions inside the conser- vative coalition. As a social party the SPD is able to affiliate with certain programmatic aspects of DIE LINKE and again to Bündnis 90/Die Grünen. Foremost, however, the SPD will need to redefine what its own positions are.

Michael H. Spreng: Der Wahlkampfvermeidungswahlkampf. Eine Analyse der CDU-Wahlstrate- gie 2009, FJ NSB 1/2010, S. 52-54. Was die CDU-Wahlstrategie 2009 in erster Linie kennzeichnet, ist die Vermeidung eines Wahl- kampfes im klassischen Sinne. Angela Merkel vermied jegliche Kritik am politischen Gegner ebenso wie eine offensive Darstellung eigener Wahlkampfthemen. Jedem Konfrontationsversuch von Seiten der SPD nahm sie durch Zustimmung die Schärfe, besetzte die entsprechenden Themen selbst und demobilisierte so die SPD-Anhängerschaft. Zwar hatte die CDU mit dieser Strategie Erfolg, der Preis allerdings ist eine völlige Erstarrung der CDU, die nun weder mit eigenen politischen Projekten noch mit starken politischen Persönlichkeiten in die Regierungszeit eintritt; so zeigt sich die CDU als reiner ‚Kanzlerwahlverein‘.

Michael H. Spreng: The election campaign to avoid an election campaign. Analyzing the strategy of CDU’s election campaign, FJ NSB 1/2010, pp. 52-54. The main aspect of the CDU’s campaigning strategy in 2009 was to avoid a conventional election campaign. Angela Merkel avoided criticizing the political opponent and did not aggressively em- phasize on any policy matters. She defused all the SPD’s attacks by agreeing and seizing the topics, thus demobilizing SPD followers. It was a successful strategy for the CDU, although with the result of a total solidification of the party. Thus, the CDU remains a simple chancellor electorate.

Dietmar Bartsch: DIE LINKE im Fünfparteiensystem, FJ NSB 1/2010, S. 55-58. Mit Etablierung der LINKEN im parlamentarischen System stellt sich die Frage nach ihren mögli- chen Bündnispartnern. Während Union und Bündnis90/Die Grünen mit wechselnden Partnern koalieren können, ist DIE LINKE machtpolitisch letztlich von einem Erstarken der SPD abhängig. Ablösen könnte die schwarz-gelbe Koalition eine linke Reformregierung, die gesellschaftspoliti- sche Projekte mit Schwerpunkt auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Durchsetzung der Politik gegenüber ökonomischer Macht in Angriff nimmt. Machtpolitisch wie unter demokrati- 120 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

schen Gesichtspunkten bedeutsam ist hierbei die Mobilisierung der überproportional aus sozial schwachen Schichten stammenden Nichtwählerschaft.

Dietmar Bartsch: DIE LINKE in the five-party system, FJ NSB 1/2010, pp. 55-58. In the context of the establishment of DIE LINKE in the German parliamentary system the question of possible coalition partners arises. Whereas CDU and Bündnis90/Die Grünen are able to form coalitions with different partners, DIE LINKE is strategically bound to a consolidation of the SPD. The liberal-conservative coalition could be superseded by a left wing reform government which tackles sociopolitical problems with an emphasis on questions of social justice and containing economic power. Mobilizing non-voters which mainly are found in underclass milieus is important both in respect to power strategies and democratic aspects.

Hubert Kleinert: Bundestagswahl 2009 – Volksparteien im Abstieg? FJ NSB 1/2010, S. 59-63. Mit Rückblick auf die Entwicklung des Parteiensystems seit 1945 zeichnet Hubert Kleinert Auf- stieg und Fall der Volksparteien von anfänglichen Konzentrationsprozessen bis zu merklich sin- kender Parteiidentifikationen seit den 1990er Jahren nach. Die Erosion sozialmoralischer Milieus erschweren es, Parteibindungen zu erzeugen – ein zentraler Grund für diesen Trend. Daneben treten aber ebenso der am Wahlerfolg ausgerichtete Politikstil der Parteien und ihre programmati- sche Unschärfe. Die gesellschaftlichen Veränderungen sind irreversibel, die Parteien werden ent- sprechend reagieren müssen. Issueorientierung und plausible Zukunftsentwürfe, die durch glaub- würdige Politiker vertreten werden, werden hierbei entscheidend sein.

Hubert Kleinert: The 2009 Bundestag election – Downfall of catch-all parties? FJ NSB 1/2010, pp. 59-63. By looking back at the development of the German party system since 1945 Hubert Kleinert traces the rise and fall of the catch-all parties from early merging to the decline of party identification in the 1990ies. The erosion of socio-moral milieus manifests itself in the growing difficulty to create party loyalty which is one of the foremost reasons for this decline. Additionally, the parties’ concentration on election success and their programmatic vagueness amplify this development. The political parties will have to adapt to these irreversible societal changes. Orientation towards issues and plausible models for future trends which will have to be represented by credible politicians will be decisive.

Warnfried Dettling: Wachstumsperspektiven für eine Volkspartei, FJ NSB 1/2010, S. 64-66. Der nicht nur während des Wahlkampfes geübte Verzicht der politischen Parteien auf inhaltliche Auseinandersetzung und die so vorangetriebene Entpolitisierung der Politik ist für die Demokratie problematisch. Dettling schlägt vor, den Begriff der Volkspartei politisch zu fassen und Parteien an ihrem Selbstverständnis und politischen Willen statt lediglich an ihrer Größe zu bemessen: In einem anspruchsvollen parteipolitischen Konzept, das gesamtgesellschaftlich und, soweit möglich, gemeinwohlorientiert ausgerichtet ist, statt Partikularinteressen in den Blick zu nehmen, sieht Dettling eine mögliche Wachstumsperspektive für die Volksparteien. Abstracts 121

Warnfried Dettling: Growth prospects for a catch-all party, FJ NSB 1/2010, pp. 64-66. The missing debate about policies during the election campaign and the resulting de-politicization of politics is problematic for democracy. Dettling proposes to define the term ,catch-all party‘ politically and to assess parties by judging their self-conception and political will instead of just their size: He believes that a political concept which takes into account all of society and the common good instead of particular interests may be a growth prospect for a catch-all party.

Herfried Münkler: Ist die SPD politisch überflüssig geworden? FJ NSB 1/2010, S. 67-70. In einem historischen Rückblick identifiziert Münkler die politische Ermöglichung (individuellen) sozialen Aufstiegs als zentrales politisches Projekt der Sozialdemokratie. Nicht zwingend sind jedoch die am sozialen Aufstieg Orientierten nach dessen Erfolg bereit, die immer größer werdende Gruppe des Prekariats zu finanzieren, das den Aufstieg nicht geschafft hat. Eine ausreichende Wählerschaft wird die SPD aber nur dann gewinnen, wenn sie vermag, beide Gruppen in ihre politischen Projekte einzubinden. Nur wenn ihr diese politische Neuorientierung gelingt, hat sie eine Funktion, die von keiner anderen Partei übernommen werden kann.

Herfried Münkler: Has the SPD become politically obsolete? FJ NSB 1/2010, pp. 67-70. In his historical overview Münkler identifies the politically facilitated enabling of (individual) social promotion as the core project of social democracy. Not necessarily, however, are people who have achieved social promotion inclined to support the ever-growing group of underclass popula- tion which has not achieved social advancement. The SPD will win an ample constituency only if the party manages to win both groups for their political projects. Only if the SPD succeeds in this adjustment it will play a role which cannot be adopted by any other party.

Wolfgang Schröder: Mitte vs. Mitte. Die SPD zwischen Gemeinwohl und Parteiwohl auf der Suche nach sich selbst, FJ NSB 1/2010, S. 71-74. Die Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 ist nicht nur auf ihren mit strategischen Mängeln behafteten Wahlkampf zurückzuführen. Ihr ultrapragmatisches Regierungshandeln hat insbesondere eine (rechtzeitige) Berücksichtigung der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse – dem Auseinanderdriften der Lebenschancen und der Prekarisierung der Unterschicht – vermis- sen lassen. Eine Politik der Inklusion und sozialen Gerechtigkeit, eine sozialdemokratische Deu- tung der Mitte sowie eine verbesserte Vermittlung ihrer Politik und ein veränderter Politikstil werden nötig sein, um das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen.

Wolfgang Schröder: Center vs. Center. The SPD searching for itself between common good and party good, FJ NSB 1/2010, pp. 71-74. The loss of voters for the SPD in the 2009 Bundestag election cannot only be ascribed to strategic mishaps during the election campaign. Its ultrapragmatic way of governing has ignored changes in societal conditions – especially the rising gap in opportunities and the worsening situation of the underclass. Politics of inclusion and social justice and a social democratic redefinition of the ,center 122 Forschungsjournal NSB, Jg. 23, 1/2010

of society‘ as well as a better intermediation of its politics and a different style of politics are needed to regain voters’ confidence.

Albrecht von Lucke: Volkspartei neuen Typs: Die Merkel-Union, FJ NSB 1/2010. S. 75-77. Mit der Bundestagswahl 2009 hat sich die parlamentarische Situation in Deutschland gravierend verändert. Die SPD ist als Volkspartei abgetreten, es droht eine Einparteiendominanz durch die CDU mit Merkel als ‚ewige Kanzlerin‘. Die ‚Merkel-Union‘ kann als Volkspartei neuen Typs gelten. Sie zeigt sich anschlussfähig in alle Richtungen und ist als einzige Partei in der Lage, in einer Zweierkoalition die Kanzlerin zu stellen. Gleichzeitig marginalisiert Merkel ihre Konkurrenz im linken Spektrum. Problematisch werden könnte für Merkel allein eine zu fordernd auftretende FDP.

Albrecht von Lucke: Catch-all party of a new type: the Merkel union, FJ NSB 1/2010, pp. 75-77. The parliamentary situation in Germany has dramatically changed since the 2009 Bundestag elec- tion. The SPD can no longer be seen as a catch-all party; a one-party dominance by the CDU with Merkel as ,eternal chancellor‘ is impending. The ,Merkel union‘ can be seen as a catch-all party of a new type. It can be connected to all political sides and is the only party able to put a chancellor into office in a two-party-coalition. At the same time, Merkel marginalizes competition from the left. The only problem Merkel could have is a too demanding FDP.

Gerd Langguth: Erreicht Angela Merkel Kohls Amtszeit von 16 Jahren? FJ NSB 1/2010, S. 78- 80. Dass Angela Merkel auf lange Dauer Bundeskanzlerin bleiben wird, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen droht ihr von Seiten der SPD in nächster Zeit kaum Konkurrenz. Die Sozial- demokratie ist europaweit in die Defensive geraten, die SPD durch Abspaltung der Linken ge- schwächt. Den Bundeskanzler stellen könnte die SPD zudem nur in einer Koalition mit Linkspartei und Bündnis90/Die Grünen. Zum anderen wird Merkel innerparteiliche Kritik nicht gefährlich werden: Kaum einer der aktuellen Landeschefs ist gefestigt genug, um klare Opposition zu Merkel zu beziehen. Machtpolitisch geschickt hat Merkel überdies zentrale Parteiposten mit ihr gegenüber unbeschränkt Loyalen besetzt.

Gerd Langguth: Will Angela Merkel reach Kohl’s tenure of 16 years? FJ NSB 1/2010, pp. 78-80. There are two reasons why Angela Merkel will stay chancellor for a long time: Firstly, she currently does not have to fear the competition of the SPD. Social democracy is in retreat all over Europe, the SPD weakened by the secession of DIE LINKE. On top of that, the SPD could only put a chancellor into office in a coalition with DIE LINKE and Bündnis 90/Die Grünen. Secondly, inner- party criticism will not become dangerous for Merkel: No leading CDU politician is powerful enough to clearly confront her. Furthermore, strategically adept Merkel has appointed core party positions with persons loyal to her. Impressum 123

Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen Gegründet 1988, Jg. 23, Heft 1, Februar 2010 Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m.b.H. • Gerokstraße 51 • 70184 Stuttgart Fax 0711/242088 • e-mail: [email protected] • www.luciusverlag.com Für die Forschungsgruppe NSB herausgegeben von PD Dr. Ansgar Klein; Jupp Legrand; Prof. Dr. Thomas Leif; Jan Rohwerder Redaktion: Vera Faust, Aachen; Alexander Flohé, Kiel; PD Dr. Ansgar Klein, Berlin; Dr. Ludger Klein, St. Augustin/Frankfurt M.; Peter Kuleßa, Berlin; Jupp Legrand, Wiesbaden; Prof. Dr. Thomas Leif, Wiesbaden; Dr. Albrecht Lüter, Berlin; Tobias Quednau, Berlin; Dr. Markus Rohde, Bonn; Jan Rohwerder, Aachen; Prof. Dr. Jochen Roose, Berlin; Gabriele Schmidt, Berlin; Dr. Lars Schmitt, Marburg; Stephanie Schmoliner, Hamburg; PD Dr. Rudolf Speth, Berlin; Dr. Karin Urich, Mannheim Verantwortlich für den Themenschwerpunkt: Vera Faust (v.i.S.d.P.), Peter Kuleßa, Thomas Leif; verantwortlich für Pulsschlag: Alexander Flohé, Schönberger Str. 2, 24148 Kiel, e-mail: [email protected]; für Treibgut: Vera Faust, Hubertusplatz 8, 52064 Aachen, e-mail: [email protected]; für Literatur: Tobias Quednau, Sonnenallee 26,12047 Berlin, e-mail: [email protected] Beratung und wissenschaftlicher Beirat: Dr. Karin Benz-Overhage, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Andreas Buro, Grävenwiesbach; Volkmar Deile, Berlin; Dr. Warnfried Dettling, Berlin; Prof. Dr. Ute Gerhard-Teuscher, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Robert Jungk (†); Ulrike Poppe, Berlin; Prof. Dr. Joachim Raschke, Hamburg; Prof. Dr. Roland Roth, Berlin; Prof. Dr. Dieter Rucht, Berlin; Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Berlin; Dr. Antje Vollmer, Berlin; Heidemarie Wieczorek-Zeul, Berlin Redaktionsanschrift: Forschungsgruppe NSB, c/o Jan Rohwerder, Hubertusplatz 8, 52064 Aachen, e-mail: [email protected] Homepage: www.fjnsb.de Förderverein: Soziale Bewegungen e.V., c/o Dr. Ludger Klein, Im Erlengrund 1, 53757 St. Augustin, e-mail: lepus.lk@t- online.de: Spendenkonto: Sparkasse KölnBonn, BLZ: 370 501 98, Konto-Nr: 751 460 7

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