Plenarprotokoll 18/134

Deutscher

Stenografischer Bericht

134. Sitzung

Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 26: Zusatztagesordnungspunkt 2: – Zweite und dritte Beratung des von den Antrag der Abgeordneten , Dr. ­Sabine Abgeordneten Michael Brand, Kerstin Sütterlin-Waack, , Matthias W. Griese, , Dr. Harald Terpe Birkwald und weiterer Abgeordneter: Keine und weiteren Abgeordneten eingebrachten neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit Drucksache 18/6546...... 13065 C der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung Michael Brand (CDU/CSU)...... 13070 B Drucksachen 18/5373, 18/6573. . . . . 13065 B (SPD) ...... 13071 C

– Zweite und dritte Beratung des von den (CDU/CSU)...... 13072 D Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. , Burkhard Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Lischka und weiteren Abgeordneten einge- DIE GRÜNEN)...... 13073 D brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- gelung der ärztlich begleiteten Lebens- Dr. (CDU/CSU) . . . . . 13075 A beendigung (Suizidhilfegesetz) Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/5374, 18/6573. . . . . 13065 B DIE GRÜNEN)...... 13075 D

– Zweite und dritte Beratung des von den Hermann Gröhe (CDU/CSU)...... 13077 A Abgeordneten Renate Künast, Dr. , , und Dr. Carola Reimann (SPD)...... 13077 D weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Straffrei- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE)...... 13078 D heit der Hilfe zur Selbsttötung (CDU/CSU)...... 13080 A Drucksachen 18/5375, 18/6573. . . . . 13065 B Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU). . . 13081 B – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Dr. Patrick Sensburg, ­Thomas Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Dörflinger, , Hubert Hüppe und DIE GRÜNEN)...... 13082 A weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Strafbar- Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU)...... 13083 A keit der Teilnahme an der Selbsttötung Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). 13084 A Drucksachen 18/5376, 18/6573. . . . . 13065 B Bettina Hornhues (CDU/CSU)...... 13085 A in Verbindung mit Brigitte Zypries (SPD) ...... 13086 B II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Volker Kauder (CDU/CSU) ...... 13087 B Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung Dr. Karl Lauterbach (SPD)...... 13088 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Kraft-Wärme-Kopplungs- Susanna Karawanskij (DIE LINKE). . . . . 13089 B gesetzes Drucksache 18/6419...... 13117 A (SPD)...... 13090 A (SPD) ...... 13117 B (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). . 13090 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE). . . . . 13118 C Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13091 D (CDU/CSU)...... 13119 C

Michael Frieser (CDU/CSU) ...... 13092 D Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13121 B (SPD)...... 13093 D

Dr. Eva Högl (SPD) ...... 13094 C Tagesordnungspunkt 29:

Dr. (SPD) ...... 13095 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- Dr. (CDU/CSU) . . . . . 13096 C zes zur Änderung des Gesetzes über Bau- sparkassen (DIE LINKE)...... 13097 C Drucksache 18/6418...... 13122 B

Rudolf Henke (CDU/CSU)...... 13098 D Dr. , Parl. Staatssekretär BMF ...... 13122 B

Namentliche Abstimmungen. . . . 13066 C, 13100 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE). . . . . 13123 B

Manfred Zöllmer (SPD)...... 13124 A Ergebnisse...... 13067 C, 13101 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13125 C Tagesordnungspunkt 27: (CDU/CSU)...... 13126 B Antrag der Abgeordneten Beate Müller-­ Gemmeke, , Dr. , weiterer Abgeordneter und der Frak- Tagesordnungspunkt 30: tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frauen verdienen gleichen Lohn für gleiche und Antrag der Abgeordneten , gleichwertige Arbeit Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Drucksache 18/6550...... 13104 B Fraktion DIE LINKE: Gerechte Kranken- versicherungsbeiträge für Direktversiche- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ rungen und Versorgungsbezüge – Doppel- DIE GRÜNEN)...... 13104 C verbeitragung vermeiden Drucksache 18/6364...... 13127 B Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU). . . . 13105 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE). . . . 13127 C Cornelia Möhring (DIE LINKE) ...... 13107 C (CDU/CSU) ...... 13128 C Elke Ferner (SPD)...... 13109 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 13110 C DIE GRÜNEN)...... 13129 C

Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ (SPD)...... 13130 B DIE GRÜNEN)...... 13112 B (CDU/CSU)...... 13131 B Birgit Kömpel (SPD) ...... 13113 B (SPD)...... 13132 B (CDU/CSU)...... 13114 A

Ursula Schulte (SPD)...... 13115 D Nächste Sitzung ...... 13133 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 III

Berichtigung...... 13133 B – den von den Abgeordneten Dr. Patrick Sensburg, Thomas Dörflinger, Peter Beyer, Hubert Hüppe und weiteren Abgeordne- Anlage 1 ten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Teilnahme an der Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . 13135 C Selbsttötung (Tagesordnungspunkt 26)...... 13151 A

Anlage 2 (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... Endgültiges Ergebnis der namentlichen Ab- 13151 A stimmung im Stimmzettelverfahren über (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE – den von den Abgeordneten Michael Brand, GRÜNEN)...... 13151 D Kerstin Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe und weiteren Abgeordneten einge- (DIE LINKE)...... 13152 A brachten Entwurf eines Gesetzes zur Straf- barkeit der geschäftsmäßigen Förderung Petra Crone (SPD)...... 13152 B der Selbsttötung Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 13152 B – den von den Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach, Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 13153 B Burkhard Lischka und weiteren Abgeord- neten eingebrachten Entwurf eines Geset- Micheal Groß (SPD)...... 13153 C zes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz) Dr . (CDU/CSU). . . . . 13154 A – den von den Abgeordneten Renate Künast, Dr. Petra Sitte, Kai Gehring, Luise (CDU/CSU)...... 13154 C Amtsberg und weiteren Abgeordneten ein- Mechthild Rawert (SPD)...... gebrachten Entwurf eines Gesetzes über 13154 D die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ – den von den Abgeordneten Dr. Patrick DIE GRÜNEN)...... 13156 A Sensburg, Thomas Dörflinger, Peter Beyer, Hubert Hüppe und weiteren Abgeordne- ten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes Anlage 4 über die Strafbarkeit der Teilnahme an der Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Selbsttötung – des von den Abgeordneten Michael Brand, (Tagesordnungspunkt 26)...... 13136 A Kerstin Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe und weiteren Abgeordneten ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage 3 Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förde- rung der Selbsttötung Erklärungen nach § 31 GO zu den namentli- chen Abstimmungen über – des von den Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach, – den von den Abgeordneten Michael Brand, Burkhard Lischka und weiteren Abgeord- Kerstin Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald neten eingebrachten Entwurfs eines Geset- Terpe und weiteren Abgeordneten einge- zes zur Regelung der ärztlich begleiteten brachten Entwurf eines Gesetzes zur Straf- Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz) barkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – des von den Abgeordneten Renate Künast, Dr. Petra Sitte, Kai Gehring, Luise – den von den Abgeordneten Peter Hintze, ­Amtsberg und weiteren Abgeordneten ein- Dr. Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Burkhard Lischka und weiteren Abgeord- die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung neten eingebrachten Entwurf eines Geset- – des von den Abgeordneten Dr. Patrick zes zur Regelung der ärztlich begleiteten Sensburg, Thomas Dörflinger, Peter Beyer, Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz) Hubert Hüppe und weiteren Abgeordneten – den von den Abgeordneten Renate Künast, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dr. Petra Sitte, Kai Gehring, Luise über die Strafbarkeit der Teilnahme an der ­Amtsberg und weiteren Abgeordneten ein- Selbsttötung gebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung (Tagesordnungspunkt 26)...... 13156 C IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Heike Brehmer (CDU/CSU)...... 13156 C Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU). . . 13164 A

Hubert Hüppe (CDU/CSU)...... 13157 D Dr . Dorothee Schlegel (SPD)...... 13164 D

Dr . Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU). . . 13159 D Dr . Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 13165 C (CDU/CSU)...... 13161 A Christian Schmidt, Bundesminister BMEL. . . . 13166 B (CDU/CSU)...... 13161 B

Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU)...... 13162 D Anlage 5

Marian Wendt (CDU/CSU)...... 13163 B Amtliche Mitteilungen 13167 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13065

(A) (C)

134. Sitzung

Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten ­Katja Nehmen Sie bitte Platz. Sie Sitzung ist eröffnet. Keul, Dr. Sabine Sütterlin-Waack, Brigitte Zypries, Matthias W. Birkwald und weiterer Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Abgeordneter begrüße Sie herzlich zu unserer 134. Plenarsitzung und rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie den Zusatz- Keine neuen Straftatbestände bei Sterbe- punkt 2 auf: hilfe 26. – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- Drucksache 18/6546 geordneten Michael Brand, Kerstin Griese, Wir schließen, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe und weiteren der heutigen Debatte eine längere, gründliche, sorgfältige Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines parlamentarische Beratung zum Thema „rechtliche Rah- Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmä- menbedingungen für Sterbebegleitung bzw. Sterbehilfe“ ßigen Förderung der Selbsttötung (B) vorläufig ab. Viele werden die Vermutung teilen, dass die (D) Drucksache 18/5373 öffentliche Debatte damit sicher nicht zu Ende sein wird. – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- Ich will aber, weil dies ja auch für die nicht ganz einfa- geordneten Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, chen Verfahrensfragen von Bedeutung ist, daran erinnern, Dr. Karl Lauterbach, Burkhard Lischka und dass wir die parlamentarische Befassung mit dem Thema weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- nicht mit der Einbringung von Gesetzentwürfen begonnen wurfs eines Gesetzes zur Regelung der ärzt- haben, sondern mit einer Orientierungsdebatte, die uns lich begleiteten Lebensbeendigung (Suizid- wechselseitig über die vielfältigen Aspekte dieses Themas hilfegesetz) aufklären und für die denkbaren Lösungsalternativen sen- Drucksache 18/5374 sibilisieren sollte, mit dem Ergebnis, dass aus dieser Be- fassung des Plenums vier Gesetzentwürfe entstanden sind, – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- die sich auch als konkurrierende Lösungen verstehen. Es geordneten Renate Künast, Dr. Petra Sitte, hätten prinzipiell auch mehr oder weniger Gesetzentwürfe Kai Gehring, Luise Amtsberg und weiteren sein können als die vier, die dann nach intensiver Befas- Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines sung verschiedener, besonders engagierter Kolleginnen Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur und Kollegen am Ende tatsächlich entstanden sind. Selbsttötung Diese vier konkurrierenden Gesetzentwürfe zur Ster- Drucksache 18/5375 bebegleitung liegen heute in zweiter und dritter Lesung – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- zur Beratung und Entscheidung vor. Sie sind jeweils von geordneten Dr. Patrick Sensburg, Thomas fraktionsübergreifenden Gruppen eingebracht worden. ­Dörflinger, Peter Beyer, Hubert Hüppe und Der Bundestag muss sich also für einen dieser Gesetz- weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- entwürfe entscheiden, oder er kann gegebenenfalls alle wurfs eines Gesetzes über die Strafbarkeit vier Gesetzentwürfe ablehnen. Weiterhin liegt ein Antrag der Teilnahme an der Selbsttötung vor, der eine gesetzliche Regelung ausdrücklich nicht für erforderlich hält. Drucksache 18/5376 Nach intensiven Beratungen der Gruppen untereinan- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- der ist eine Einigung über die Abstimmungsreihenfolge ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- dieser Gesetzentwürfe nicht zustande gekommen. Es gibt schuss) aber ein Einvernehmen aller Initiatoren, auch in Verbin- Drucksache 18/6573 dung mit den Parlamentarischen Geschäftsführern aller 13066 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Fraktionen, auf dem Wege eines Stimmzettelverfahrens die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, wäre er (C) die notwendigen Abstimmungen über diese Gesetzent- damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfiele nach würfe durchzuführen. Dieses Verfahren haben wir in der unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung. Vergangenheit bei ähnlichen Fragen bereits angewendet. Wird einer dieser Gesetzentwürfe in zweiter Bera- Der Ältestenrat hat sich gestern noch einmal sehr in- tung angenommen, folgt unmittelbar die dritte Beratung, tensiv mit den damit verbundenen Verfahrensfragen, den in der ebenfalls namentlich abgestimmt wird. Über die damit auch verbundenen Implikationen befasst und ist in zweiter Beratung ausgeschiedenen Gesetzentwürfe übereingekommen, dem Bundestag – dem Verfahrens- wird nach der Logik dieses Verfahrens nicht weiter ab- vorschlag der Initiatoren, also der Gruppen, folgend – die gestimmt. Durchführung eines Stimmzettelverfahrens zur Entschei- Der Antrag, den die Kollegin Keul zusammen mit dung vorzulegen. anderen Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Wir weichen damit von dem im Gesetzgebungsverfah- Fraktionen eingebracht hat, wird nur abgestimmt, wenn ren sonst üblichen Verfahren ab, nämlich die Vorlagen keiner dieser vier Gesetzentwürfe eine Mehrheit erhalten der Reihenfolge nach abzustimmen und über jeden ein- hat. Im anderen Fall hat er sich einvernehmlich erledigt. zelnen Gesetzentwurf gesondert zu befinden. Für diese Wir kommen nun zur Abstimmung über den Vorschlag Abweichung von der Geschäftsordnung ist gemäß § 126 aller vier Gruppen, auch mit der Empfehlung des Ältes- unserer Geschäftsordnung eine Zustimmung von zwei tenrates, über die vier Gesetzentwürfe abweichend von Dritteln der anwesenden Mitglieder des Bundestages er- unserer Geschäftsordnung in einem Stimmzettelverfah- forderlich. ren Beschluss zu fassen. Es ist vereinbart, dass wir das Sollte dieser Verfahrensvorschlag nicht die notwendi- in einer namentlichen Abstimmung tun. Dafür brauchen ge Zweidrittelmehrheit finden, werde ich – wie gestern wir, wie bereits erläutert, eine Zweidrittelmehrheit der im Ältestenrat vereinbart und von allen Beteiligten ak- anwesenden Mitglieder. zeptiert – einen Vorschlag für eine Abstimmungsreihen- Achten Sie bitte darauf, wenn Sie Ihre Stimmkarten folge dieser Gesetzentwürfe vorlegen, über den wir dann holen, dass Sie eine Stimmkarte in der Hand halten, die auch abstimmen würden, weil es beinahe absehbar ist, Ihren Namen trägt. dass auch das nicht jedem einleuchtet und andere Präfe- renzen vorhanden sein könnten, um sicherzustellen, dass Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer wir auf dem einen oder anderen der beiden denkbaren bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Verfahrenswege heute jedenfalls zu einem Abschluss Urnen besetzt? – Das ist offenkundig der Fall. Dann er- dieses Gesetzgebungsverfahrens kommen können. öffne ich die Abstimmung. (B) Darf ich fragen, ob alle im Raum anwesenden Kolle- (D) Bevor wir zur Abstimmung über das vorgeschlagene ginnen und Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben haben? Stimmzettelverfahren kommen, möchte ich Ihnen dieses – Ich sehe jedenfalls keine gegenteiligen Anzeigen. Dann skizzieren, damit auch jeder weiß, auf welche Abstimmungs- schließe ich damit die namentliche Abstimmung. Ich bit- prozedur er sich am Ende unserer Debatte einzustimmen te um Auszählung.1) hat: Alle vier Gesetzentwürfe werden auf einem Stimmzet- tel gleichzeitig zur Abstimmung gestellt, verbunden mit der Wir unterbrechen kurz, bis das Ergebnis der nament- Möglichkeit, mit „Nein gegenüber allen Gesetzentwürfen“ lichen Abstimmung ermittelt ist, weil davon der weitere oder mit „Enthaltung gegenüber allen Gesetzentwürfen“ zu Verfahrensgang abhängt. stimmen. Dabei kann nur ein Kreuz gemacht werden. Eine (Unterbrechung von 9.14 bis 9.20 Uhr) dieser Optionen – entweder einer der vorliegenden Gesetz- entwürfe oder keiner der Gesetzentwürfe oder Enthaltung – Präsident Dr. Norbert Lammert: kann jeweils angekreuzt werden. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich Die erforderliche Mehrheit für einen Entwurf ist er- darf Sie bitten, Platz zu nehmen. reicht, wenn dieser mehr Jastimmen als die anderen Vor- Darf ich noch einmal darum bitten, Platz zu nehmen? lagen erhält, zuzüglich der Neinstimmen. Herr Kollege Sensburg, vielleicht beispielhaft für die Falls kein Entwurf im ersten Durchgang dieses anderen Antragsteller? Das bringt uns dann gleich eine Stimmzettelverfahrens die Mehrheit erhält, kommt es in erhebliche Verbesserung der Übersicht hier im Plenum. einem zweiten Abstimmungsgang zur Abstimmung über Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und die beiden bestplatzierten Gesetzentwürfe. Dieser würde Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen wiederum mithilfe eines Stimmzettelverfahrens durchge- Abstimmung über die Anwendung des Stimmzettelver- führt. Dabei gibt es wieder die Möglichkeit, einen der fahrens unter Abweichung von der Geschäftsordnung be- verbleibenden Gesetzentwürfe anzukreuzen oder mit kannt: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt Nein oder Enthaltung zu votieren. 522, mit Nein haben gestimmt 61, Enthaltungen gibt es Erhält auch im zweiten Abstimmungsgang keiner der keine. Damit ist die erforderliche Zweidrittelmehrheit beiden Gesetzentwürfe die erforderliche Mehrheit, müss- der anwesenden Mitglieder für die Abweichung von der te anschließend über den Gesetzentwurf mit dem besse- Geschäftsordnung nicht nur erkennbar erreicht, sondern ren Ergebnis abgestimmt werden. Das erfolgt mit unseren deutlich überboten. üblichen Namensstimmkarten. Würde in dieser namentli- chen Abstimmung der verbleibende Gesetzentwurf nicht 1) Ergebnis Seite 13067 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13067

(A) Endgültiges Ergebnis Klaus-Peter Flosbach Bettina Hornhues Karin Maag (C) Abgegebene Stimmen: 586; Charles M. Huber davon Dr. Anette Hübinger Thomas Mahlberg ja: 525 Dr. Hans-Peter Friedrich Hubert Hüppe (Hof) nein: 61 Erich Irlstorfer enthalten: 0 Hans-Georg von der Marwitz Dr. Michael Fuchs Sylvia Jörrißen Hans-Joachim Fuchtel Dr. (Altötting) Ja Alexander Funk Reiner Meier CDU/CSU Ingo Gädechens Bartholomäus Kalb Dr. Michael Meister Dr. Hans-Werner Kammer Dr. Steffen Kampeter Steffen Kanitz Maria Michalk Dr. h.c. Dorothee Bär Dr. Thomas Bareiß Ursula Groden-Kranich Bernhard Kaster Dietrich Monstadt Günter Baumann Hermann Gröhe Karsten Möring Klaus-Dieter Gröhler Dr. Stefan Kaufmann (Börde) Michael Grosse-Brömer Volker Mosblech Veronika Bellmann Astrid Grotelüschen Dr. Markus Grübel Carsten Müller Dr. Andre Berghegger Axel Knoerig (Braunschweig) Dr. Jens Koeppen Stefan Müller (Erlangen) Monika Grütters Dr. Gerd Müller Peter Beyer Dr. Carsten Körber Dr. Fritz Güntzler Dr. Dr. Günter Krings Helmut Nowak (B) Dr. Maria Böhmer Rüdiger Kruse Dr. Georg Nüßlein (D) Dr. Klaus Brähmig Jürgen Hardt Dr. Roy Kühne Michael Brand Günter Lach Florian Oßner Dr. Uwe Lagosky Dr. Dr. Karl A. Lamers Dr. Dr. Stefan Heck Andreas G. Lämmel Dr. Dr. Norbert Lammert Cajus Caesar Ulrich Lange Dr. Martin Pätzold (Chemnitz) Barbara Lanzinger Ulrich Petzold Alexandra Dinges-Dierig Mark Helfrich Dr. Dr. Uda Heller Paul Lehrieder Sibylle Pfeiffer Jörg Hellmuth Dr. Thomas Dörflinger Dr. Marie-Luise Dött Dr. Hansjörg Durz Philipp Graf Lerchenfeld Alexander Radwan Iris Eberl Peter Hintze Dr. Alois Rainer Jutta Eckenbach Dr. Dr. Dr. Hermann Färber Robert Hochbaum Matthias Lietz Dr. (Dortmund) Dr. Dr. Ingrid Fischbach Alexander Hoffmann Johannes Röring Dirk Fischer (Hamburg) Wilfried Lorenz Erwin Rüddel Axel E. Fischer Franz-Josef Holzenkamp Dr. Claudia Lücking-Michel (Karlsruhe-Land) Dr. Hendrik Hoppenstedt Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Maria Flachsbarth Margaret Horb Dr. Wolfgang Schäuble 13068 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Siegmund Ehrmann Dr. Hans-Ulrich Krüger (C) Karl Schiewerling Michaela Engelmeier Helga Kühn-Mengel Petra Ernstberger Norbert Schindler Christian Lange (Backnang) Karin Evers-Meyer Dr. Karl Lauterbach Heiko Schmelzle (Hamburg) Dr. Steffen-Claudio Lemme Christian Schmidt (Fürth) Dr. Dr. Burkhard Lischka Gabriele Schmidt (Ühlingen) Peter Weiß (Emmendingen) Elke Ferner Gabriele Lösekrug-Möller Ronja Schmitt Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Ute Finckh-Krämer Christian Flisek Kirsten Lühmann Nadine Schön (St. Wendel) Karl-Georg Wellmann Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Dr. Klaus-Peter Schulze Waldemar Westermayer Dr. Peter Wichtel (Weil am Rhein) Annette Widmann-Mauz Christina Schwarzer Heinz Wiese (Ehingen) Iris Gleicke Detlef Müller (Chemnitz) Klaus-Peter Willsch Angelika Glöckner Bettina Müller Elisabeth Winkelmeier- Michelle Müntefering Becker Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich Dr. Patrick Sensburg Gabriele Groneberg Andrea Nahles Bernd Siebert Dagmar G. Wöhrl Michael Groß Barbara Woltmann Uli Grötsch Wolfgang Gunkel Heinrich Zertik Mahmut Özdemir (Duisburg) Rita Hagl-Kehl Aydan Özoguz Carola Stauche Gudrun Zollner Dr. Ulrich Hampel (B) (D) Dr. SPD Jeannine Pflugradt Dirk Heidenblut (Peine) Ingrid Arndt-Brauer Joachim Poß (Minden) Dr. Barbara Hendricks Florian Post Heidtrud Henn Heinz-Joachim Barchmann Rita Stockhofe Dr. Simone Raatz Dr. Katarina Barley Gabriele Hiller-Ohm (Essen) Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Matthäus Strebl Dr. Dr. Eva Högl Dr. Carola Reimann Thomas Stritzl Bärbel Bas Christina Jantz Lena Strothmann Sönke Rix Michael Stübgen (Heidelberg) Petra Rode-Bosse Dr. Dr. Astrid Timmermann-Fechter Dr. Karl-Heinz Brunner Johannes Kahrs René Röspel Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Dr. Volker Ullrich Michael Roth (Heringen) Dr. Marina Kermer Susann Rüthrich Bernd Rützel Dr. Michael Vietz Dr. (Kleinsaara) Dr. Bärbel Kofler Annette Sawade Sven Volmering Martin Dörmann Birgit Kömpel Dr. Hans-Joachim Christel Voßbeck-Kayser Elvira Drobinski-Weiß Schabedoth Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13069

(A) Axel Schäfer (Bochum) Dr. Renate Künast Birgit Menz (C) Dr. Markus Kurth Cornelia Möhring Sigrid Hupach Dr. Nicole Maisch Norbert Müller (Potsdam) Dr. Dorothee Schlegel Susanna Karawanskij Beate Müller-Gemmeke Dr. Alexander S. Neu (Aachen) Özcan Mutlu Richard Pitterle Matthias Schmidt (Berlin) Dr. Dr. (Wetzlar) (Erfurt) Katrin Kunert Cem Özdemir Harald Weinberg Elfi Scho-Antwerpes Brigitte Pothmer Sabine Zimmermann (Augsburg) (Zwickau) (Spandau) Dr. Gesine Lötzsch Elisabeth Scharfenberg BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kordula Schulz-Asche Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Harald Terpe Norbert Spinrath Marieluise Beck (Bremen) Michael Schlecht Beate Walter-Rosenheimer Dr. Franziska Brantner Martina Stamm-Fibich Dr. Petra Sitte Nein Katja Dörner Peer Steinbrück Dr. Katharina Dröge CDU/CSU Azize Tank Frank Tempel Dr. Thomas Gambke Kathrin Vogler Dr. Egon Jüttner Kai Gehring Dr. Karin Thissen Dr. Katja Keul Carsten Träger Halina Wawzyniak Dr. Norbert Röttgen Tom Koenigs Rüdiger Veit Dr. Sabine Sütterlin-Waack Sylvia Kotting-Uhl Birgit Wöllert Dr. (B) Dirk Vöpel Jörn Wunderlich Dr. (D) Christian Kühn (Tübingen) SPD Sören Bartol Peter Meiwald Gülistan Yüksel BÜNDNIS 90/ Petra Crone DIE GRÜNEN Mechthild Rawert Dr. Jens Zimmermann Luise Amtsberg Lisa Paus Brigitte Zypries Annalena Baerbock Tabea Rößner DIE LINKE (Köln) Corinna Rüffer DIE LINKE Jan van Aken Ulle Schauws Dr. Katrin Göring-Eckardt Matthias W. Birkwald Dr. Gerhard Schick Christine Buchholz Dr. Britta Haßelmann Eva Bulling-Schröter Dr. Wolfgang Streng- Dr. Anton Hofreiter Sevim Dagdelen mann-Kuhn Wolfgang Gehrcke Bärbel Höhn Hans-Christian Ströbele Inge Höger Jürgen Trittin Dr. Andre Hahn Maria Klein-Schmeink Dr. Julia Verlinden Heike Hänsel Stephan Kühn (Dresden) Dr. Valerie Wilms

Ich will das gerne zum Anlass nehmen, mich noch ein- lasten, sodass wir jetzt zügig in die inhaltliche Beratung mal ausdrücklich bei allen gestern Beteiligten, bei den eintreten können. Vertretern der Gruppenanträge und allen Mitgliedern des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Ältestenrates, zu bedanken für das erkennbare gemein- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des same Bemühen, einen Verfahrensweg zu finden, der es BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) uns erspart, die schwierige und ernsthafte Debatte über Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine die Sache mit einer Verfahrensauseinandersetzung zu be- Debattenzeit von insgesamt 135 Minuten vorgesehen, 13070 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) die wie in vergleichbaren Fällen nach dem Stärkeverhält- empfundenen Dank für das, was tagtäglich in unserem (C) nis der Initiativen verteilt werden soll. Darüber hinaus Land an Mitmenschlichkeit geleistet wird. gibt es die Vereinbarung, wiederum wie in vergleichba- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- ren Fällen, dass die Kolleginnen und Kollegen, deren wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Redewunsch in diesem Zeitrahmen nicht berücksichtigt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden kann, in einem einer Redezeit von fünf Minuten entsprechenden Umfang ihre Reden zu Protokoll geben Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der heutigen können. Ich darf Sie zu beiden Vereinbarungen fragen, Entscheidung ist es wichtig, dass wir alle wissen, wo­ ob Sie damit einverstanden sind. – Das ist offenkundig rüber wir entscheiden, und auch, worüber wir nicht ent- der Fall. Dann können wir so verfahren.1) scheiden. Die Hilfen stark ausbauen und den Missbrauch stoppen – das ist, kurz gesagt, das Kernanliegen unserer Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Gruppe mit Unterstützern aus allen Fraktionen. nächst dem Kollegen Michael Brand. Einen großen Schritt bei den Hilfen haben wir gestern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und beschlossen. Heute ist der Gesetzgeber aufgerufen, den der SPD) Missbrauch zu stoppen, auch deshalb, weil es nicht vor allem nur um Kusch und Co. geht: Es geht im Kern um Einen kleinen Augenblick noch, Herr Kollege Brand. – eine Verschiebung einer wichtigen Achse unserer Gesell- Ein Hinweis noch, damit nicht zwischenzeitlich Irritati- schaft. Es geht auch um den Schutz von Menschen vor onen entstehen: Gegen Ende der Aussprache werden die gefährlichem Druck durch gefährliche geschäftsmäßige Stimmzettel verteilt oder in den Fächern verfügbar sein, Angebote zur Suizidbeihilfe. die Sie für den späteren Abstimmungsgang verwenden Wir können diese Debatte zum Thema Suizidbeihilfe können. Das werden wir dann noch einmal erläutern. nicht zum Abschluss bringen, ohne den Grund für ihren Da trägt jeder seinen Namen ein, sodass wir auf diese Beginn zu beachten. Es stimmt, was ein profilierter Be- Weise ein namentliches Stimmverfahren haben. Ich sage obachter dieser Tage festgestellt hat – ich will das zitie- das nur, damit wir in der Zwischenzeit hier nicht mögli- ren –: cherweise verzweifelt umherirrende Kollegen haben, die nach dem Stimmzettel suchen, den es sicher gibt. Der Bundestag sollte sich wieder auf den Ausgangs- punkt konzentrieren, der das Gesetzgebungsverfah- So, bitte schön, Herr Kollege Brand. ren in dieser Frage ausgelöst hat. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf ist dadurch entstanden, dass sich Anbieter in Deutschland etablieren, die geschäfts- (B) Michael Brand (CDU/CSU): mäßig für Suizidassistenz werben und damit den (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Suizid fördern. Heute ist ein besonderer Tag: Der Deutsche Bundestag Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht im Kern um entscheidet über ein sensibles Thema, das kein Weiß und die Alternative: eine maßvolle Änderung oder Laufen- kein Schwarz kennt, sondern viele verschiedene Facetten lassen mit der Konsequenz der Ausbreitung. Nach dieser hat. Debatte bleibt nichts, wie es war, auch nicht nach dem heutigen Tag. Denn selbst wenn wir nichts entscheiden Nach über einem Jahr intensiver Debatte möchte ich würden, hat unser Signal heute Auswirkungen auf die vor allem mit einem Dank beginnen. Nicht nur hier im gesellschaftliche Entwicklung in dieser wichtigen Frage. Parlament, sondern auch in vielen Veranstaltungen, quer durch unser Land, in Gesprächen in Familien und unter Der niederländische Autor Gerbert van Loenen hat Freunden ist das Thema Sterben ein gutes Stück aus der dieser Tage gewarnt: Die deutsche Debatte erinnere ihn Tabuzone geholt worden, sozusagen in die Mitte der Ge- an die Anfänge der niederländischen Debatte. Er sagt sellschaft zurückgebracht worden. Es wird heute mehr rückblickend, dass in den Niederlanden gerade am Be- über menschliche Sterbebegleitung gesprochen, über ginn entscheidende Fehler begangen wurden. Dass An- Ängste, über Hoffnungen. Oft waren es die Zwischen- gebot auch bei Sterbehilfe Nachfrage schafft, haben wir töne, die den Unterschied ausgemacht haben. Und man- doch durch die Entwicklungen in den Nachbarländern che sehr persönlichen Gespräche haben tief in uns etwas erfahren; das hat sich dort gezeigt. Die Erfahrung lehrt bewegt. Für diesen Zugewinn an Menschlichkeit können auch, dass die angeblich engen Kriterienkataloge nicht wir dankbar sein. halten.

Gerade diese Gespräche und die Begegnungen haben Wenn wir heute nichts entscheiden würden, wäre die gezeigt: Es wird so unendlich vieles an menschlicher geschäftsmäßige Suizidbeihilfe deutlich gestärkt, sie Hilfe und an Zuwendung erbracht von Familienange- würde sich weiter ausbreiten. Deshalb schlagen wir heute hörigen, von Ehrenamtlichen, von Hauptamtlichen in eine moderate Regelung vor, die sehr präzise nur dieses Hospizen, in Krankenhäusern, in Pflegeeinrichtungen, gefährliche Phänomen unterbindet. Dabei haben wir sehr in Palliativteams und an vielen anderen Stellen. Das ist genau darauf geachtet, dass ärztliche Freiräume erhalten beeindruckend und verdient unseren Respekt. Deswegen bleiben. sage ich, sicherlich auch im Namen aller hier, einen tief Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt Bereiche, in denen das Strafrecht schlicht schweigen muss. Der 1) Anlage 4 Gesetzgeber kann und er sollte auch nicht jeden einzel- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13071

Michael Brand (A) nen Fall regeln wollen. Der Präsident der renommierten Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, die Deut- Bevor die Kollegin Griese das Wort bekommt, will ich sche PalliativStiftung, der Deutsche Hospiz- und Pallia- gleich an dieser Stelle auf ein Problem aufmerksam ma- tivVerband und andere haben eindeutig bestätigt: Unser chen, das vermutlich alle Redner haben werden, nämlich Gesetzentwurf beinhaltet keine Kriminalisierung von auf das Problem, ein so komplexes Thema in fünf Minu- Ärzten. ten zu vermitteln. Nur, würde ich in jedem Falle nicht nur dem Wunsch des jeweiligen Redners oder der Rednerin, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) sondern sicher auch dem eigenen Verständnis für den Zu- sammenhang nachgeben, würde der Zeitrahmen, den wir Die Bundesärztekammer hat es in einem Schreiben an gerade beschlossen haben, explodieren. Wir haben uns alle Abgeordneten – ich zitiere – nach „eingehender in- auf ein Abstimmungsverfahren verständigt, das sehr zeit- haltlicher und rechtlicher Prüfung“ ungewöhnlich klar aufwändig ist und das auch mit Blick auf sonstige Dis­ formuliert: Die Behauptung der Kriminalisierung der positionen berücksichtigt werden muss. Deswegen noch Ärzte ist nicht wahr und – auch das zitiere ich – „dient einmal meine herzliche Bitte – auch wenn es schwer ausschließlich der Verunsicherung der Abgeordneten und ist –, sich um die Einhaltung der FünfMinutenRegel zu auch einiger Ärzte“. bemühen. Es ist uns im Gegenteil in den intensiven Beratungen Bitte schön, Frau Griese. der letzten anderthalb Jahre zu unserem Gesetzentwurf gelungen, präzise die Trennung zu ziehen zwischen zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Beispiel Ärzten, die in schweren Situationen nach ihrem CDU/CSU) Gewissen handeln, und anderen, die es darauf anlegen, geschäftsmäßig mit Absicht und auf Wiederholung an- Kerstin Griese (SPD): gelegt die Suizidbeihilfe zu fördern. Wir brauchen statt- dessen menschliche Zuwendung, manchmal sollte man Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! einfach nur zuhören oder mal die Hand halten. Der Le- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach intensi- ver Beschäftigung mit den Themen Sterbehilfe, Sterbe- benswille kann auch dadurch dahinschwinden, wenn begleitung und assistierter Suizid kommen wir heute zu man sich einsam oder nicht mehr gebraucht fühlt. einer Entscheidung im Bundestag. Wie viele Abgeordne- Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns kann te habe auch ich Hospize und Palliativstationen besucht, einmal selbst in eine ausweglose Situation kommen. Die mit Ärztinnen und Ärzten, mit Juristinnen und Juristen FAZ hat am gestrigen Donnerstag einen besonders ein- gesprochen. Ich habe auch über meine eigenen Vorstel- (B) drücklichen Fall veröffentlicht. Ich möchte ihn hier zum lungen vom Ende des Lebens nachgedacht. (D) Schluss kurz beschreiben. Viele hier kennen den sehr an- Ich denke, wenn wir es geschafft haben – vielleicht rührenden französischen Film Ziemlich beste Freunde. auch durch die Debatten in diesem Haus –, dass in den Der Film beruht auf der wahren Geschichte eines sehr Familien und Nachbarschaften, in den Freundeskreisen erfolgreichen und bekannten Unternehmers, der nach und Vereinen wieder mehr darüber geredet wird, wie wir einem Absturz beim Gleitflug vor 20 Jahren vom Hals über das Sterben denken und wie wir füreinander sorgen abwärts komplett gelähmt ist. Er wollte deshalb nicht können, dann hat diese Debatte schon einen guten und weiterleben, aber er fand laut seiner Aussage niemanden, wichtigen Fortschritt erzielt. Deshalb einen ganz herzli- der ihm beim Suizid half. Für einen derart gelähmten chen Dank an alle, die sich beteiligt haben, an alle, die Menschen sei ein Suizid eben kompliziert zu bewerkstel- uns beraten haben, und ganz besonders an die Menschen, ligen. In diesen Tagen sagte er – auch das will ich zum die sich in der Hospizbewegung engagieren! Schluss zitieren –: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- Heute würde ich mein Leben niemals aufgeben wol- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des len. Im Gegenteil: Die wiederkehrenden Debatten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) um eine Vereinfachung der Sterbehilfe ängstigen mich. Ich fürchte manchmal, unsere Gesellschaft Warum brauchen wir jetzt ein Gesetz? Wir brauchen ein Gesetz, weil es in Deutschland Vereine und Einzel- könnte in ihrem Optimierungswahn einen Automa- personen gibt, die als ihr Hauptgeschäft die Selbsttötung tismus dieser Methode akzeptieren. fördern, unterstützen und durchführen. Wir wollen unter Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Perspek- Strafe stellen, wenn jemand mit der Absicht der Selbst- tivwechsel, dieses Beispiel eines sehr selbstbewussten tötung geschäftsmäßig handelt – das heißt, auf Wieder- Menschen zeigt: Niemand – niemand! – ist unter Druck holung angelegt und im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. vor Fehlschlüssen sicher. So wie wir gestern die Hilfen Diejenigen, die unseren Gesetzentwurf unterstützen, sa- für sterbende Menschen deutlich gestärkt haben, so müs- gen ganz klar, dass wir dieses Geschäft mit dem Tod von Menschen für ethisch nicht tragbar halten. sen wir heute den Schutz von Menschen in subjektiv aus- wegloser Lage stärken. Wir müssen diesen Schritt heute (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) tun. Ich bitte Sie und ich bitte euch, ihn mit uns gemein- sam zu gehen. Wenn man sich ansieht, dass die sogenannten Sterbe- hilfevereine auch Menschen zu Tode bringen, die psy- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) chisch krank, lebensmüde oder depressiv sind, und dass 13072 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Kerstin Griese (A) sie das schneller tun, je mehr man zahlt, dann, glaube ich, Keine Therapie und kein künstliches Weiterleben sind (C) sind wir uns hier alle einig, dass wir das nicht wollen. Pflicht. Im Gegenteil: Der Patient entscheidet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Der Angst vor Schmerzen muss mit den inzwischen CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sehr weit entwickelten Möglichkeiten der Palliativme- NEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE dizin begegnet werden, und ich bin dankbar, dass wir LINKE]) gestern – das gehört zu diesem Thema – die Ausweitung der Hospiz- und Palliativarbeit beschlossen haben. Die Unser Gesetzentwurf konzentriert sich deshalb auf Angst vor Einsamkeit, um die es auch oft geht, können die sogenannten Sterbehilfevereine und auf Einzelperso- wir nicht mit einem Gesetz nehmen, sondern es geht hier nen, die den assistierten Suizid geschäftsmäßig anbieten. darum, dass wir eine sorgende Gesellschaft sein müssen. Denn ihr Tun macht uns Sorgen, auch mit Blick auf die Das geht jede und jeden von uns jeden Tag an. Entwicklung in den Niederlanden und in der Schweiz, wo die Fallzahlen angestiegen sind, nachdem das dort Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Staat kann und ausgeweitet wurde. wird nie alle Facetten des Sterbens regeln können. Das Unser Gesetzentwurf ist ein Weg der Mitte, weil un- wäre auch vermessen. Aber wir können als Gesetzgeber sere grundsätzliche Rechtsordnung so bleibt, wie sie ist. klarmachen, dass wir den assistierten Suizid als ärztliche Ich betone: Der Suizid und auch die Beihilfe dazu blei- Regelleistung oder als frei verfügbares Vereinsangebot ben straffrei. Indirekte und passive Sterbehilfe bis hin nicht wollen. zur palliativen Sedierung sind legal. Ja, auch der Fall, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) in dem ein Arzt in einem ethisch begründeten Einzelfall aufgrund einer Gewissensentscheidung dem Wunsch des Unser Gesetzentwurf steht für Selbstbestimmung. Ich Patienten nachkommt, ihm zu helfen, aus dem Leben zu will, dass niemand unter Druck gerät, vorzeitig aus dem scheiden, bleibt straffrei. Das ist in unserem Gesetzent- Leben zu gehen, wenn doch noch gute Tage im Leben wurf ganz klar geregelt. Ich zitiere daraus: möglich sind. Ich will, dass sich niemand entschuldigen muss, dass er leben will. Deshalb schützt unser Verbot Der hier vorgelegte Entwurf kriminalisiert aus- der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe den Einzelnen vor drücklich nicht die Suizidhilfe, die im Einzelfall in übereilten oder fremdbestimmten Sterbewünschen. einer schwierigen Konfliktsituation gewährt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute nichts zu ent- Die Anhörung und zahlreiche Stellungnahmen von Ju- scheiden, wäre nach dieser ausführlichen Debatte des risten, der Bundesärztekammer und allen großen Hospiz- letzten Jahres keine Lösung. Im Gegenteil: Das wäre und Palliativverbänden haben klargestellt, dass unser Ge- ein falsches Signal. Damit würden wir diejenigen, die (B) setzentwurf keine Kriminalisierung von Ärzten bewirkt. das Geschäft mit dem Tod machen und den assistierten (D) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Suizid als Dienstleistung anbieten, weitermachen lassen. Das wollen wir ausdrücklich nicht. Ich betone deshalb noch einmal, dass unter den Be- griff „geschäftsmäßig“ nicht die Tätigkeit von Ärztinnen Deshalb bitte ich Sie sehr herzlich um Unterstützung und Ärzten fällt, wie sie in der Hospizarbeit, in der Palli- für den Gesetzentwurf Brand/Griese/Vogler/Terpe und ativmedizin und bei der Behandlung von Schwerkranken vieler weiterer Kolleginnen und Kollegen aus diesem stattfindet. Mir ist wichtig, dass der ärztliche Freiraum, Haus. den es heute gibt, erhalten bleibt und dass Ärztinnen und Vielen Dank. Ärzte in schwierigen ethischen Situationen individuell helfen und entscheiden können. Das ist mit unserem Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ setzentwurf gewährleistet. CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE Damit bleibt das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt LINKE]) und Patient erhalten. Ja, es wird und muss weiter möglich sein, dass ein Mensch, der schwer leidet, zu seinem Arzt sagt: Ich will sterben. – Dieser Satz „Ich will sterben“ Präsident Dr. Norbert Lammert: erfordert vom Gegenüber aber vor allem Zeit: Zeit, nach Das Wort erhält nun der Kollege Peter Hintze. den Gründen zu fragen, und Zeit für Hilfe und Zuwen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dung. Ich glaube nicht, dass die richtige Antwort darauf SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der Giftbecher auf dem Nachttisch für den einsamen Sui­ NEN) zid ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Peter Hintze (CDU/CSU): CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- NEN) ren! Gestern wurde in den Tagesthemen ein verzweifelter Auf den Sterbewunsch und auf Ängste, die Menschen ALS-Kranker gezeigt, der sich mit einer selbstgebauten haben – das ist ja verständlich –, ist die richtige Antwort Apparatur das Leben nehmen wollte. Sein ihn betreuen- eben, auf die Rechte der Patienten und auf Patientenver- der Arzt konnte ihn davon mit dem Versprechen abbrin- fügungen hinzuweisen. Niemand muss Behandlungen gen, dass er ihm im äußersten Notfall, wenn er es gar mit sich machen lassen, die er nicht will. Ich weiß, dass nicht mehr aushalten kann und wenn die Palliativmedizin viele Menschen Angst vor einer Übertherapierung haben. ans Ende kommt, Suizidassistenz gewährt. Unser Anlie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13073

Vizepräsident Peter Hintze (A) gen ist es, dass die verantwortlichen Ärzte dieses Recht ten das. Aber gehen Sie einmal in die Krankenhäuser (C) auf Gewissensentscheidung und Hilfe im extremen Not- und sprechen Sie mit den Schwestern und Pflegern. Die fall behalten, auch wenn es mehrfach vorkommt. Palliativmedizin stößt an Grenzen, wenn ein qualvolles Ersticken droht. Jeder, der das einmal miterlebt hat, wird (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) sehr nachdenklich. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, In einem freiheitlichen Rechtsstaat muss man mit dem den Sterbenden beim friedlichen Entschlafen zu helfen. Strafrecht sehr vorsichtig umgehen. Ich frage mich auch: (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) Was ist das für ein Menschenbild, von dem wir hier eben in zwei Reden gehört haben, das nur von fremdbestimm- Ich bin für den Satz, dass Leiden im Sterben sinn- ten Menschen ausgeht, die nicht wissen, was sie tun und los ist, schwer angegriffen worden. Ich wiederhole ihn: was für sie gut oder richtig ist? Leiden im Sterben ist sinnlos! Kein Mensch muss einen Qualtod hinnehmen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Was wäre das für ein Rechtsstaat, der, um einen Scharla- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) tan zu erwischen, tausend verantwortungsvoll handelnde Wir wollen, dass am Sterbebett nicht Staatsanwälte ste- Ärzte mit Strafe bedroht? hen, sondern Angehörige und Ärzte. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Jetzt komme ich zum Schlüsselbegriff, nämlich „ge- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schäftsmäßig“. Das ist eine Sprachfalle. Der normale NEN) Mensch denkt: Oh, da macht einer mit einer üblen Sache In der größten existenziellen Not eines Menschen soll- Geschäfte. – Wir wissen aber aus der Anhörung und auf- te sich der Staat zurückhalten. Sagen Sie bitte Nein zu grund der Warnung von 140 Strafrechtsprofessoren, die einem Verbot und Ja zu unserem freiheitlichen Entwurf, gesagt haben: „Macht das bitte nicht“, dass „geschäfts- der das Gewissen schützt und die Selbstbestimmung der mäßig“ im Recht bedeutet – das steht übrigens auch in Menschen sichert. der Begründung des Gesetzentwurfs –: eine auf Wieder- holung angelegte Handlung. Ich danke Ihnen. Ein Krebsarzt oder ein Schmerzmediziner, der nach (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) einem Gespräch einem Sterbenden zweimal hilft, steht schon im Wiederholungsverdacht. Ich glaube zwar wie Präsident Dr. Norbert Lammert: die Antragsteller, dass das Gericht den Arzt am Ende des Renate Künast ist die nächste Rednerin. (B) Tages nicht bestraft. Aber was ist das für ein Staat, in (D) dem Ärzte mit Ermittlungsverfahren überzogen werden und die Staatsanwaltschaft geradezu aufgefordert wird, Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hier tätig zu werden? Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sterben ohne den Staatsanwalt und ohne dass der Arzt, der mir (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) vielleicht hilft, das Damoklesschwert eines Strafverfah- Was wäre die Folge, wenn die Ärzteschaft erkennt, rens, einer Gefängnisstrafe über sich hängen hat: Das ist was – wenn es so käme – hier heute beschlossen wur- es, was 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung wollen. – Herr de? Sie würde sich zurückziehen. Was wäre erreicht? Der Kauder, hören Sie doch bitte zu. Das Thema ist ernst ge- Patient würde in seiner größten existenziellen Not allei- nug. ne gelassen. Der eine mag zum Sterben in die Schweiz (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fahren und der andere vor den Zug springen, wie es tra- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – gischerweise häufig genug passiert. Das alles passiert – Volker Kauder [CDU/CSU]: Reden Sie doch!) auch das ist ganz wichtig – unter der Flagge einer Moral, die nur von einer Minderheit der Bevölkerung vertreten Wir alle waren in vielen Veranstaltungen. Ich habe das wird. Gefühl, wir alle, quer durch dieses Haus, haben uns selten so viel und so lange, nämlich anderthalb Jahre, mit einem (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) Thema wie diesem Thema Sterben beschäftigt. Was mir Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrheit in der in Veranstaltungen immer wieder aufgefallen ist – auch Bevölkerung lehnt eine Strafverschärfung ab. Die Mehr- wenn Menschen unterschiedliche Auffassungen hatten heit in der Bevölkerung setzt sich für Selbstbestimmung und um eine gemeinsame Position gerungen haben –, ist, ein. Wir reden hier über Menschenwürde. Der Kern der dass die Bürgerinnen und Bürger sagten: Der Staat soll Menschenwürde ist die Selbstbestimmung. Wir sind die sich bei der Entscheidung darüber heraushalten, wie ich Volksvertreter. Vertreten wir das Volk! aus diesem Leben gehe. Das entscheide ich selber. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) Die Palliativmedizin hilft in den meisten Fällen – Gott Auch viele junge Menschen machen sich darüber Ge- sei Dank. Begleitung und Nähe sind unglaublich wichtig. danken und sagen: Selbst wenn ich ein gut versorgter Pa- Aber es gibt Fälle – jeder, der Sterbende begleitet hat, tient bin, kann ich mich doch immer noch frei entschei- hat das vielleicht schon einmal erlebt –, bei denen die den, wann ich aus diesem Leben gehe, um diese letzten Palliativmedizin nicht mehr helfen kann. Einige bestrei- Tage und Wochen nicht zu leiden. 13074 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Renate Künast (A) Viele fragten: Was hat sich für Sie das Jahr über in nicht unerheblichem Umfang Geld verdienen wollen. (C) der Diskussion verändert? Für mich hat sich verändert, Darum geht es im gewerblichen Bereich, und das wollen dass ich immer mehr davon überzeugt bin, dass es uns wir verbieten. Aber ich sage Ihnen: Geschäftsmäßig ist nicht zusteht, die Möglichkeit der Menschen für Fragen, alles, selbst wenn kein Geld fließt. Juristisch lernt man Beratungen und Gespräche in dieser letzten Phase einzu- das schon im ersten Semester BGB. Man muss etwas nur schränken. zum Gegenstand seiner Beschäftigung machen nach dem Motto: Du möchtest etwas, und ich gebe es dir. – Schon Ich wurde in meiner Auffassung bestärkt, dass es eine das reicht aus. Möglichkeit für ein offenes Beratungsgespräch geben sollte, in dem der Arzt nicht gleich sagen muss: „Dies ge- Diese neue Strafnorm betrifft insofern uns alle. Sie be- hört nicht zum Gegenstand meiner Beschäftigung“, um trifft in einem säkularen Staat, in dem der Staat eigentlich einmal einen Satz aus dem Brand/Griese-Gesetzentwurf zur Neutralität verpflichtet ist, am Ende jeden Arzt und anzuführen. Wenn der Arzt nicht sagen muss, dass er das jeden, der über sein Leben frei verfügen will. Insbeson- nicht tut, sondern offen mit mir reden kann, wird viel- dere betrifft es diejenigen, die Schwerkranke behandeln. leicht der eine oder andere Suizid mehr verhindert. Faktisch muss der Arzt immer sagen: Nein, das gehört (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht zu meinem Beschäftigungsfeld. SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie, an LINKEN) uns: Akzeptieren wir die Selbstbestimmung am Le- Ich habe das Bundesjustizministerium nach empiri- bensende. Lassen wir die Möglichkeit zu offenen Bera- schen Zahlen gefragt, auch jetzt wieder. Es hat mir ge- tungsgesprächen zu. Vergewissern wir uns, dass wir zwar antwortet: Es gibt keine anderen Zahlen als die Zahlen eigene Auffassungen haben können, dass diese aber – ob aus 2012. – In den 2012er-Unterlagen stand: Wir haben ethisch oder religiös – nicht in das Strafgesetzbuch ge- keine Zahlen. hören. Meine Damen und Herren, mich hat in diesem Jahr (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- eines bestärkt: Widerstehen wir Abgeordnete doch dem SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Gefühl, uns selbst und unsere eigene Auffassung in das LINKEN) Strafgesetzbuch zu schreiben, sondern sagen wir an die- Fragen wir uns einmal, ob es legitim ist, dass die Beihilfe ser Stelle lieber: Wir halten es mit der Freiheit des Men- für Angehörige – beispielsweise wenn Frau A ihrem Ehe- schen. Es wird ja viel über einen Dammbruch geredet. mann oder wenn Herr B seiner Ehefrau Beihilfe leistet – Ich weiß aber gar nicht, wann es diesen Dammbruch seit zwar straffrei wäre, aber das exakt gleiche Verhalten für 1871 gegeben haben soll. Und Kusch allein kann kein (B) den Arzt nicht straffrei wäre. Ich glaube, dass es dafür (D) Dammbruch sein, wirklich keinerlei rechtliche Legitimation gibt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich wende mich – letzter Satz – an die Frauen in die- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der sem Saal. Überlegen Sie einmal, wie unsere Debatten LINKEN sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/ im Deutschen Bundestag – vielleicht waren Sie damals CSU]) dabei; wenn nicht, lesen Sie es nach – über den Schwan- zumal der Staatsanwalt in Hamburg bereits nach dem gerschaftsabbruch waren. geltenden Recht tätig ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Lassen Sie mich ein Wort zur Freiheit sagen. Weil wir LINKEN) am Anfang dieser Legislaturperiode über Freiheit geredet haben, habe ich meiner eigenen Fraktion gesagt: Denkt Ich glaube, wir sollten mit der Haltung von damals auch daran, dass Freiheit auch heißen kann, dass die Men- an diese Entscheidung zum assistierten Suizid herange- schen ganz frei eine andere Entscheidung treffen, als wir hen. Hätten wir damals eine andere Haltung gehabt, hätte persönlich es aus religiöser oder ethischer Überzeugung es die jetzige Regelung in Bezug auf den Schwanger- für richtig halten. Ich glaube, das ist der Punkt: Wenn wir schaftsabbruch nicht gegeben. über Freiheit reden, müssen wir den Menschen auch die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Freiheit lassen – obwohl wir persönlich vielleicht ande- rer Meinung sind –, selbst zu bestimmen, ob und wie sie Entscheiden wir uns dafür, die Mitte der Gesellschaft gehen wollen. abzubilden. 75 bis 80 Prozent der Gesellschaft sagen: Das entscheide ich, nicht der Staat. – Geben wir diesen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Menschen die Möglichkeit einer offenen und ehrlichen SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Beratung, auch um Suizid zu verhindern. LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Nur darum geht es heute, nämlich ob wir diesen Grund- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der satz wirklich aufrechterhalten. LINKEN) Auch der Begriff „geschäftsmäßig“ hilft uns nicht wei- ter. In dem Antrag meiner Gruppe steht „gewerbsmäßig“. Präsident Dr. Norbert Lammert: Warum haben wir das gemacht? Nach langem Überlegen Patrick Sensburg erhält nun das Wort. war uns klar: Wir sollten vielleicht die Sorge aufgreifen, die sich daraus ergibt, dass Leute damit systematisch in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13075

(A) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): von Frau Künast deutlich geworden. Das ist aus meiner (C) Sicht unseriös. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir haben doch Nicht durch die Hand eines anderen sollen die Men- gestern über Palliativmedizin gesprochen! schen sterben, sondern an der Hand eines anderen. Das haben wir doch gestern beschlossen!) Das sind die Worte, die Bundespräsident Horst Köh- Wissen doch auch diese Gruppen, dass man heutzutage ler immer wieder gesagt hat und die Bundespräsident Menschen insbesondere durch gute Palliativmedizin bis ­Joachim Gauck in den letzten Tagen wiederholt hat. hin zur palliativen Sedierung die Schmerzen nehmen kann. Gestern haben wir nach einer erstklassigen Debatte Was man ihnen nicht nehmen kann, Herr Lauterbach, die Stärkung des Hospiz- und Palliativwesens beschlos- sind Leid, Angst und Einsamkeit. Aber das können Sie sen. Denn wirkliche Sterbebegleitung besteht in der auf- ihnen auch durch ein Sterbemittel nicht nehmen. Sie kön- opfernden Begleitung und Pflege gerade von Menschen nen nur durch gute Begleitung durch die Familie, Ver- in schweren Situationen und eben nicht in der Herbeifüh- wandte und Freunde oder durch professionelle Hilfe von rung des Todes. Das ist keine Sterbebegleitung. Dies hat Ärzten oder Pflegepersonal versuchen, dies ein wenig zu auch das Forum des Bundespräsidenten gezeigt, das am lindern. Aufgabe von Ärzten ist es übrigens, Leben zu vergangenen Montag in einer wirklich intensiven Dis- erhalten, statt es zu beenden. kussion mit Beteiligten – mit Patienten, engagierten Ärz- ten im Hospizwesen, Palliativmedizinern und Menschen Welche Fälle meinen Sie denn, möchte ich diese bei- in Hospizvereinen – deutlich gemacht hat, dass die Hilfe den Gruppen fragen, wenn sie in ihrer Begründung von und die Bereitschaft, zu pflegen, auch über längere Zeit- 100 000 Selbstmordversuchen reden, von denen 10 000 räume, und sich aufopfernd den Menschen zu widmen, erfolgreich sind? Verstehen Sie das unter Hilfe oder un- die Hilfe brauchen, der richtige Weg ist. Deutlich wurde, ter Suizidassistenz? Ich glaube, wir müssen den Akzent dass das Wissen um die Palliativmedizin und das, was so setzen, wie wir ihn gestern im Deutschen Bundestag heute möglich ist, in weiten Teilen noch viel zu gering gesetzt haben: für mehr Palliativmedizin und für einen ist. Da müssen wir etwas machen. Ausbau des Hospizwesens. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wer in diesem Rahmen Sterbehilfe gesetzlich zulässt, (B) Wir sprechen uns daher mit unserer Gruppe für ein macht auch den Suizid zu einer normalen Handlung. Aus (D) Verbot der Hilfe zur Selbsttötung aus, sei es aus Krank- Studien wie gerade jetzt aus Oregon wissen wir, dass heit in der letzten Lebensphase, sei es aber auch aus an- dann nicht nur die Suizidassistenzfälle, sondern auch die deren Gründen. Es ist zumindest in zwei Gesetzentwür- Suizidraten zunehmen. Nicht durch die Hand eines an- fen in der Begründung enthalten, dass auch alle anderen deren sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand Gründe Grundlage für eine Hilfe zur Selbsttötung sein eines anderen. Hierdurch kommt die in der Verfassung können. Sterbehilfe darf keine Alternative zur Pflege und verankerte Schutzfunktion des Staates gegenüber seinen Sterbebegleitung sein. Daher sprechen wir uns für ein Bürgern zum Ausdruck, gerade in der schwächsten Le- Verbot aus. benssituation. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen Assistenz im Leben und keine Assistenz im Suizid. Darum bitte ich Sie, heute für den Gesetzent- Norwegen, Finnland, Dänemark, Portugal, Spanien, wurf der Gruppe Hüppe/Dörflinger/Sensburg zu stim- Italien, Frankreich, Österreich, Griechenland, die Slo- men. Denn in ihm zeigt sich wirklicher Lebensschutz. wakei, Ungarn, Polen und Irland: Alle dieser Länder in Danke schön. Europa haben ein Verbot der Suizidassistenz. Vor gerade zwei Monaten, am 11. September dieses Jahres, hat das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unterhaus in Großbritannien mit 330 zu 118 Stimmen die Sterbehilfe für verboten erklärt. David Cameron hat Präsident Dr. Norbert Lammert: in der Debatte einen Blick auf diejenigen gerichtet, die Die Kollegin Katja Keul erhält nun das Wort. wir auch in unserer Debatte nicht vergessen dürfen, als er ausgeführt hat, der Druck auf alte, schwache und auch auf depressive Menschen würde zunehmen, wenn es kein Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verbot der Sterbehilfe gäbe. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute fünf Alternativen zur Abstim- 1,7 Millionen Menschen in Deutschland sind Dauer- mung. Das ist neben den vier Gesetzentwürfen die Beibe- pflegefälle, die zu Hause gepflegt werden. Die Tendenz haltung der geltenden Rechtslage, für die ich hier plädie- ist steigend. Statt auf Pflege, Betreuung oder Palliativme- ren möchte. Weil es nicht oft genug gesagt werden kann, dizin zu setzen, machen die Gruppen Hintze/Lauterbach möchte ich zu Beginn noch einmal klarstellen, worum und Künast/Sitte Angst mit dem Szenario eines qualvol- es bei allen fünf Alternativen definitiv nicht geht. Die len Tods, dem sie die Hilfe zum Selbstmord als humane Tötung auf Verlangen, die sogenannte aktive Sterbehilfe, Tat gegenüberstellen. Das ist auch gerade in der Rede wie sie in Belgien und den Niederlanden teilweise prak- 13076 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Katja Keul (A) tiziert wird, ist und bleibt eine Straftat nach deutschem im Hinblick auf seine Patienten immer geschäftsmäßig (C) Recht, und das halte ich auch für richtig. im Rahmen seiner Berufsausübung und würde sich da- mit immer einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) aussetzen. Da hilft auch die Ausnahme der persönlichen Herr Brand und Herr Sensburg, nehmen Sie das endlich Nähe nicht viel weiter, die auch der Wissenschaftliche zur Kenntnis. Dienst für nicht vereinbar mit dem Bestimmtheitsgebot hält. Auch wer die Grenzen von der Beihilfe zur Tatherr- schaft überschreitet, wie die Juristen das nennen, wird Der erbwillige Neffe hingegen, der seiner reichen wegen eines Tötungsdeliktes zur Verantwortung gezo- Großtante Mut zuspricht, endlich den Weg freizumachen, gen, so auch die aktuelle Anklage gegen Herrn Kusch, wäre nach diesem Entwurf der Einzige, der vor Straf- der Anlass für die ganze Debatte sein soll. Auch wer je- verfolgung sicher wäre. Dabei soll doch der angebliche mandem zum Tode verhilft, der aufgrund seelischer oder Druck auf die Alten den gesetzgeberischen Handlungs- geistiger Erkrankung nicht mehr zur freien Willensbil- bedarf begründen. Warum dieser Entwurf also gerade dung in der Lage ist, muss sich gegebenenfalls wegen die professionellen Berater mit Freiheitsstrafe verfolgen eines Tötungsdeliktes verantworten. will, erschließt sich mir nicht. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) Besonders gefährlich: Auch die Beratung selbst kann unter den Rechtsbegriff der Beihilfe fallen. Wendet sich Was bleibt, ist die Straffreiheit der Beihilfe zur Durch- ein zum Sterben entschlossener Mensch an den Arzt sei- führung eines freien, selbstbestimmten Sterbewunsches. nes Vertrauens, müsste dieser nach dem Brand’schen Ge- Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die heutige Rechts- setz unmittelbar darauf hinweisen, dass er nicht ergeb- lage in Deutschland zu einem signifikanten Anstieg as- nisoffen beraten darf, sondern nur Unterstützung beim sistierter Suizide geführt hätte. Im Gegenteil: Es geht Weiterleben, nicht aber beim Sterben leisten darf. Ist die um derart geringe Fallzahlen, dass ein gesetzgeberischer Sterbende dazu nicht bereit, müsste das Gespräch unver- Handlungsbedarf nicht erkennbar ist. züglich abgebrochen werden. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) Auch die Beschränkung der Strafbarkeit auf die Ge- Die angebliche Rutschbahn hin zur aktiven Sterbehilfe, werbsmäßigkeit im Entwurf Künast/Sitte hilft da nicht die mit der derzeitigen Rechtslage angeblich drohen soll, weiter. Gewerbsmäßig ist alles, was nicht nur geschäfts- ist weit und breit nicht zu sehen. mäßig, sondern auch zur Erzielung von regelmäßigen (B) Einkünften erfolgt. Jeder Arzt trifft auf seine Patienten (D) Was aber würde passieren, wenn heute einer der Ge- im Rahmen seiner Berufsausübung. Diesen Beruf üben setzentwürfe eine Mehrheit bekommen würde? Am ge- Ärzte nicht ehrenamtlich aus, sondern zur Erzielung von ringsten wäre der Schaden wohl noch bei der zivilrecht- Einkünften. Auch wenn keine gesonderte Gebühr anfällt, lichen Regelung im BGB. Rein formal stellt sich dabei handeln die Ärzte im Hinblick auf ihre Patienten immer das Problem, dass wir als Bundesgesetzgeber leider im Rahmen ihrer Berufstätigkeit, mit der sie ihren Le- keine Gesetzgebungskompetenz für das ärztliche Berufs- bensunterhalt verdienen, und damit gewerbsmäßig. recht haben und das Gesetz daher verfassungswidrig sein dürfte. Inhaltlich bleibt unklar, was mit der Wahrschein- Fazit: Menschen, die sich aus welchen Gründen auch lichkeit des Todes gemeint sein soll. Da allerdings jede immer mit dem Gedanken tragen, ihr Leben selbst zu Sanktion für den Fall eines Verstoßes fehlt, dürfte die beenden, sollten uneingeschränkt Zugang zu ergebnisof- Gesetzesänderung an sich wirkungslos bleiben. fener Beratung und Unterstützung haben. Auf diesem Der Kollege Sensburg will hingegen konsequent alle, Wege können sie möglicherweise auch wieder von ih- ob Angehörige oder Ärzte, die einem Sterbewilligen hel- rem Vorhaben Abstand nehmen. Ob diese Menschen sich fen, hinter Schloss und Riegel bringen. Staatsanwälte ihren Angehörigen oder dem Arzt ihres Vertrauens oder sollen danach künftig den Zwang zum Weiterleben für aber einem unabhängigen Sterbehilfeverein zuwenden, alle durchsetzen. Das Menschenbild, das diesem Vor- sollte ihre Entscheidung bleiben und nicht vom Gesetz- schlag zugrunde liegt, ist mir so fern, dass ich keine wei- geber vorgeschrieben werden. teren Ausführungen dazu machen will. Müssten die Ärzte oder Vereine im Zusammenhang (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) mit der Tätigkeit Sorge haben, sich strafbar zu machen, würde den Betroffenen dieser Weg versperrt, und sie Es bleiben die beiden Entwürfe, die einmal die ge- würden andere Wege finden – im Zweifel einsamere und schäftsmäßige und zum anderen die gewerbsmäßige Sui­ grausamere Wege. Sowohl die gewerbsmäßige als auch zidhilfe mit dem Strafrecht ahnden wollen. Geschäfts- die geschäftsmäßige Hilfeleistung muss daher im Sinne mäßig ist jede organisierte, auf Wiederholung angelegte der Betroffenen straffrei bleiben. Form der Sterbehilfe. Dabei reicht es wohlgemerkt, dass die organisatorische Einbettung auf eine solche Wieder- Deswegen plädiere ich eindringlich dafür, gegen alle holung angelegt ist, ohne dass es überhaupt eine Wieder- vier vorgelegten Gesetzentwürfe mit Nein zu stimmen. holung sein muss. Vereinsmitglieder sind danach eben- Oder um es mit Montesquieu zu sagen: „Wenn es nicht so strafbar wie Ärzte, auch wenn die Unterzeichner des notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, Entwurfs das immer wieder bestreiten. Jeder Arzt handelt kein Gesetz zu machen.“ Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13077

Katja Keul (A) Vielen Dank. Nun ist wiederholt gesagt worden, die Ärzte würden (C) verunsichert. Nun hat Kollege Brand schon darauf hinge- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) wiesen, dass dies von der deutschen Ärzteschaft und den Organisationen derer, die als Palliativmedizinerinnen und Präsident Dr. Norbert Lammert: -mediziner genau diese Arbeit machen, zurückgewiesen Hermann Gröhe erhält nun das Wort. wird. Sie sagen: Dies sind notwendige Leitplanken, die unsere Beziehung zu den Patientinnen und Patienten schützen. Es ist nach dem Menschenbild gefragt worden. (CDU/CSU): Hermann Gröhe Was ist das eigentlich für ein Menschenbild, wenn wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! glauben, die Ärzte vor ihrer eigenen Position schützen Wenn wir heute um angemessene Regelungen für die zu müssen? Selbsttötungsbeihilfe ringen und darüber diskutieren, dann geht es um die Frage: Wie bringen wir die Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der pflichtung unserer Rechtsordnung zusammen, Würde SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- und Leben des Menschen zu schützen und seine Selbst- NEN) bestimmung zu achten? Es geht genau darum, wie wir dies zusammenbringen. Da ist es sehr legitim, zu fragen: Wenn dann noch gesagt wird, wir hebelten zivilrecht- Was darf der Staat? Dem werde ich mich gleich zuwen- lich die demokratische Festlegung aller deutschen Ärzte- den. kammern aus, dass Suizidbeihilfe keine ärztliche Aufga- be ist, dann ist das Bevormundung der Ärzteschaft. Aber ich sage sehr deutlich: Es ist völlig unangemes- sen, denen, die wie ich den Entwurf der Kollegen Brand (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der und Griese unterstützen, zu unterstellen, sie wollten den SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Staatsanwalt an das Sterbebett kranker Menschen sen- NEN) den. Es ist der bisherigen Debatte nicht würdig, mit sol- chen Unterstellungen zu arbeiten. Nein, das führt in die Irre. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Dann werden extreme Fälle genannt, in denen wir die Frage stellen: Haben wir Verständnis, wenn eine Ärztin Ja, es geht um die Frage: Was darf der säkulare Staat? oder ein Arzt die Regelungen des Standesrechts über- Es ist auch davor gewarnt worden, religiöse Weltan- schreitet? Ich habe dieses Verständnis, und der Umstand, schauung gleichsam zur Grundlage zu machen und das dass in keinem einzigen Fall heute eine Approbation Strafrecht in den Dienst dieser Überzeugung zu stellen. entzogen wurde, zeigt, dass die dazu berufenen standes- (B) Ich nehme diese Mahnung sehr ernst. Auch ich will dies rechtlichen und auch staatlichen Gremien mit Augenmaß (D) nicht. Aber ich weise die in dieser Warnung häufig zum an diese Frage herangehen. Einem ethischen Dilemma Ausdruck kommende Unterstellung zurück, uns sei da­ trägt man mit kluger Rechtsanwendung und nicht mit ran gelegen. Mich motiviert in dieser Frage mein Glau- fragwürdiger Rechtsaufweichung Rechnung. be, aber inhaltlich geht es mir um die Verteidigung der Rechtsschutzorientierung unserer Verfassungsordnung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der NEN) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) Wer eine Grenzsituation normieren will, der macht am Ende die Lösung zum Normalfall, und das darf nicht Was darf der Staat? Ich plädiere für den Entwurf der sein. Suizidassistenz ist keine Behandlungsvariante, we- Kolleginnen und Kollegen, weil er eine Regelung mit der ärztlicherseits noch durch Vereine. Bitte stimmen Sie Maß und Mitte ist. Ja, ich bin der Meinung, dass es richtig für den Gesetzentwurf der Kollegen Brand/Griese. ist, dass unsere Rechtsordnung zum Drama der Selbsttö- tung schweigt. Deswegen bin ich auch dafür, dass wir an (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) der Straffreiheit der individuellen Selbsttötungsbeihilfe insgesamt festhalten, ohne ein Sonderstrafrecht für ir- Herzlichen Dank. gendeine Berufsgruppe. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Präsident Dr. Norbert Lammert: Es ist richtig, dass unsere Rechtsordnung dazu Ich erteile das Wort der Kollegin Carola Reimann. schweigt. Aber es ist eine völlig unterschiedliche Situ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ation, ob ein zur Selbsttötung entschlossener Mensch mit einer anderen Person über mögliche Unterstützungs- handlungen redet oder ob Vereine einem unbegrenzten Dr. Carola Reimann (SPD): Adressatenkreis dies gleichsam als Dienstleistung anbie- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ten. ren! Sterben ist etwas höchst Individuelles. Niemand (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) kann für einen anderen nachfühlen; niemand kann das für einen anderen durchleben. Wie man am Ende ster- Das Signal der Normalität einer Selbsttötung als Hand- ben will, ist von eigenen Erfahrungen, tiefen persönli- lungsoption ist falsch. chen Überzeugungen und moralischen Einstellungen 13078 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dr. Carola Reimann (A) bestimmt. Ich bin der festen Überzeugung: Der Staat hat dungsfreiheit am Lebensende einschränkt, obwohl eine (C) sich hier weitgehend zurückzuhalten. Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger – wir haben viele Gespräche in diesem Bereich geführt – diese Entschei- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) dungsfreiheit wünscht. Dieser Entwurf würde gravieren- Von diesem Grundsatz haben wir uns bei der Erstel- de Konsequenzen haben, und darüber können auch beru- lung unseres Gesetzentwurfes leiten lassen. Es ist eine higende Bezeichnungen nicht hinwegtäuschen. behutsame Regelung, die sich weitgehend an dem ori- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) entiert, was jetzt bereits gilt. Denn: Wie der Suizid, so ist auch die Beihilfe zum Suizid in Deutschland straffrei, Liebe Kollegen Brand und Griese, während der ge- und das schon seit 150 Jahren. samten Debatte konnten Sie die Sorgen der Ärztinnen und Ärzte vor staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf mehr Rechts- nicht überzeugend ausräumen. sicherheit schaffen und zugleich Freiräume erhalten. Mit der Erlaubnis der Suizidbeihilfe für Ärzte, so heißt es bei (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Stimmt doch uns, beenden wir das Regelungschaos der unterschiedli- nicht!) chen Landesberufsordnungen und geben eine klare Bot- Im Gegenteil, die Zweifel sind größer geworden. Immer schaft an alle Betroffenen: Niemand muss ins Ausland wieder melden sich besorgte Mediziner zu Wort, in den fahren, und niemand muss sich an medizinische Laien Veranstaltungen, auf den Podien und in den letzten Wo- und selbsternannte Sterbehelfer wenden. Wir wollen, chen verstärkt auch in den Medien. Die Verunsicherung dass sich Menschen in großer Not ihrem Arzt anvertrau- ist greifbar. en können, weil er den Patienten am besten kennt und weil er ihn fachlich auch am besten beraten kann. Ich verstehe nicht, warum Sie diese Sorgen nicht auf- gegriffen haben und mit einem Änderungsantrag die Ärz- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) te von Ihrer Regelung ausgenommen haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich weiß (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) nicht, wie es sich anfühlt, mit einer qualvollen, unheil- baren Krankheit zu leben. Ich weiß auch nicht, welche Das haben Sie nicht getan, und damit nehmen Sie in Entscheidung ich in diesem Fall treffen würde. Ich weiß Kauf, dass sich Ärzte von ihren Patienten zurückziehen, nur: Sollte ich in dieser Situation sein, will ich für mich um strafrechtliche Ermittlungen zu vermeiden. persönlich meinen eigenen Weg finden dürfen. Als Abge- Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie um Ihre Un- ordnete sage ich: Ich will, dass auch andere diese Freiheit terstützung für den Entwurf Hintze/Reimann/Lauter- haben. bach, der sich an der jetzigen Rechtslage orientiert, mehr (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Rechtssicherheit für Ärzte und Patienten schafft und da- mit dieses Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Pati- Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass wir als ent, das so wichtig ist, stärkt. Gesetzgeber den Menschen die Möglichkeit des ärztlich begleiteten Suizids nicht verweigern dürfen. In diesem Zudem gibt es natürlich die Möglichkeit, für die jet- sensiblen Bereich – wenn es darum geht, Menschen in zige Rechtslage einzutreten, wie es auch die Vorsitzende existenzieller Not zu helfen – sollte sich der Gesetzgeber des Deutschen Ethikrats, Professorin Woopen, empfiehlt. gut überlegen, welche staatlichen Eingriffe er verantwor- In diesem Fall müssen Sie bei allen Entwürfen mit Nein ten kann. Ich bin mir sicher, in diesem Haus denken viele stimmen. so. Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag hat heute Dazu passt auf den ersten Blick das von den Kollegen die Chance, nach einer langen intensiven Debatte ein Brand und Griese so viel beschworene Bild des Wegs starkes Zeichen gegen eine Verschärfung des Strafrechts der Mitte; gerade ist es noch einmal angeklungen. Die und für die Selbstbestimmung zu setzen. Es wäre auch Botschaft, die damit verbunden werden soll, ist klar: ein ein starkes Zeichen des Vertrauens in unsere Ärzte und Gefühl von Maßhalten, von Ausgewogenheit und von vor allem ein Zeichen des Vertrauens in unsere Bürge- Konsens. rinnen und Bürger, die am Ende ihres Lebens Entschei- dungsfreiheit wollen. Ich finde, sie haben unser Vertrau- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist aber kein en verdient. Weg der Mitte, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) weil dieser Entwurf bei der Regelung dieses hochsensi­ Präsident Dr. Norbert Lammert: blen Bereiches auf das Strafrecht zurückgreift und Ärzte Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte. einer ernsthaften Gefahr staatsanwaltschaftlicher Ermitt- lungen aussetzt. Dies ist auch deswegen kein Weg der Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Mitte, weil dieser Entwurf mit einer 150-jährigen Tradi- tion der straffreien Suizidbeihilfe bricht. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Antike geboren, entwickelte sich über Jahrhunderte die (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Idee, dass der Mensch über sich selbst, über seinen eige- nen Körper und Geist souverän ist. Kolleginnen und Kollegen, darüber hinaus ist dies kein Weg der Mitte, weil dieser Entwurf die Entschei- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. 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Dr. Petra Sitte (A) Er besitzt in seiner Natur begründete angeborene Rechte. Punkte ernst. Wir stellen aber nicht die Selbstbestim- (C) Im 19. Jahrhundert fand diese Idee Eingang in die deut- mung der Menschen infrage. Wir wollen wegen diffuser sche Rechts- und Verfassungsgeschichte. Danach kann Besorgnisse nicht in Grundrechte eingreifen. Ursprüng- der Rechtsstaat diese Rechte nicht etwa verleihen; nein, lich wollten wir eigentlich an der Rechtslage auch gar meine Damen und Herren, er hat sie zu garantieren. nichts ändern. Aber unsere Entwürfe sind jetzt vor dem Hintergrund einer Verbotsdebatte auch in dem Geist ent- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) standen: besser den bewährten Rechtszustand schützen, Insbesondere auch die Väter und Mütter des Grundge- als der Bevölkerung, auch der konfessionell gebundenen setzes, obwohl sie alle anderen Gründe gehabt hätten, Bevölkerung, gegen ihren mehrheitlichen Willen das haben großen Wert auf die Souveränität des Individuums Strafrecht aufzuzwingen. gelegt. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich frage mich nun also: Was ist in den letzten Jah- ren in diesem Land passiert, dass ein Teil des Parlaments Rechtfertigen nun die gefühlten oder geglaubten meint, jetzt so massiv in diese Souveränität eingreifen zu Gründe für ein Verbot oder für eine massive Einschrän- müssen? kung der Sterbehilfe wirklich eine solch historische Mis- sion, dass der 18. Deutsche Bundestag der Meinung ist, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der Normen und Werte einer Jahrhunderte andauernden libe- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ralen Tradition durch eine Strafrechtsverschärfung über NEN) Bord werfen zu dürfen? Das entspräche vielleicht den Gibt es irgendeinen wissenschaftlich untersuchten Be- theologischen Vorstellungen der großen Religionsge- weis für die Notwendigkeit? Nein. Es ist vorhin schon meinschaften. Aber wir, meine Damen und Herren, sind gesagt worden: Es gibt keinen. – Das wissen Sie so gut das Parlament eines säkularen Staates. wie ich. Nicht zuletzt wegen dieses Umstands hat die letzte Bundesregierung ihren damaligen Gesetzentwurf (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der zurückgezogen. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) Als Hauptgründe für eine Strafrechtsverschärfung hört man nun: Menschen in diesem Land wollen ihre Sinnwelten und ihre Selbstbestimmung leben. Der Bundestag wür- Erstens heißt es, die Rechtslage der Ärzte sei unklar. de mit einem Verbot oder mit einer Strafrechtsverschär- Je nach Landesärztekammer – das stimmt – ist sie im fung essenziell Selbstbestimmungsrechte aus Artikel 1 Standesrecht verschieden geregelt: Das geht von „keine des Grundgesetzes einschränken, und zur Würde des (B) Regelung“ bis zum Verbot. Dabei könnte das Urteil des Menschen gehört eben nicht nur sein Leben und dessen (D) Berliner Verwaltungsgerichts von 2012 für Klarheit sor- selbstbestimmte Gestaltung, sondern es gehören auch gen. Es heißt dort – ich zitiere –: Sterben und Tod dazu. Wieso soll es in diesen Phasen Der ärztlichen Ethik lässt sich kein klares und ein- anders sein? deutiges Verbot der ärztlichen Beihilfe zu Suizid in Wieso, so frage ich Sie, meine Damen und Herren, Ausnahmefällen entnehmen. die Sie für eine Strafrechtsverschärfung sind, haben Sie Damit ist alles gesagt. bei solchen Entscheidungen ein solch tiefes Misstrauen gegenüber den Menschen in diesem Land? Wieso sollen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der diese nicht sehr bedacht genau darüber viele Jahre nach- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gedacht haben, aus ihrer konkreten Situation heraus mit NEN) Angehörigen geredet haben usw.? Zweitens stehen Sterbehilfevereine in der Kritik. Roger Kusch mit Sterbehilfe Deutschland gilt als das Und schließlich: Wieso glauben Sie, meine Damen schwarze Schaf. Nur, mit ihm beschäftigen sich regel- und Herren, dass nachfolgende Generationen nicht ge- mäßig Ermittlungsbehörden und Gerichte. Also: Unser nauso mit den Freiheiten umgehen können, die uns die Rechtsstaat funktioniert doch hier augenscheinlich ziem- gültige Rechtslage seit über 140 Jahren bietet? Wenn sich lich gut, auch ohne strengere Gesetze. bis heute keine gravierenden Fehlentwicklungen einge- stellt haben, warum bitte sollen nachfolgende Generatio- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der nen verantwortungsloser als wir entscheiden? SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Die Vereine Dignitas oder Exit bieten Suizidassistenz Auch deshalb sei gesagt: Eines Verbots- oder Ver- an, aber nach Schweizer Recht, nicht nach deutschem schärfungsgesetzes bedarf es nicht. Deshalb werbe ich Recht. Da haben wir gar nicht einzugreifen. Sie sind also dafür: Begegnen Sie dem Verbotsentwurf der Gruppe schon jetzt streng reguliert. Andere Sterbehilfevereine, um Herrn Sensburg und der unverhältnismäßigen Straf- meine Damen und Herren, gibt es in Deutschland gar rechtsverschärfung der Gruppe um Herrn Brand und Frau nicht. Griese mit einem Nein! Was es aber schon gibt, ist die Sorge, dass sich Vereine Danke für die Aufmerksamkeit. neu bilden könnten. Die Gesetzentwürfe der Gruppen um Herrn Hintze bzw. um Frau Künast nehmen diese beiden (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) 13080 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: meinem Falle vorwiegend meine Schwester – mit ganzer (C) Veronika Bellmann ist die nächste Rednerin. Hingabe tun, rettet Menschenleben. Und: Ja, auch das Leben mit einer unheilbaren Krank- Veronika Bellmann (CDU/CSU): heit und in der Schwäche des Alters ist noch lebenswert. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wenn ich aber den Willen zum Leben dem Sterbewil- Herren! Sterben gehört zum Leben dazu. Die Diskussi- len unterordne und noch eine medizinische Assistenz in on um das Hospiz- und Palliativgesetz gestern und um Aussicht stelle, dann kann an die Stelle des Willens zum die Sterbehilfe heute hat dieses Thema gewissermaßen vorzeitigen Sterben schleichend mutmaßlicher Wille und enttabuisiert, auch die Frage, wie weit Fremdhilfe und irgendwann das gesellschaftliche Sollen treten. Das wäre Selbstbestimmung gehen dürfen. Das hat verfassungs- ein Dammbruch, weil dann Suizid zur Normalität werden mäßige Grenzen. kann. Verfassungsrechtlich sicher ist der Gesetzentwurf Es behaupte keiner, dass ich hier Schwarzmalerei be- Sensburg/Dörflinger/Hüppe, weil er keine rechtlichen treibe. Schauen wir in eines unserer Nachbarländer, die Grauzonen bietet. Wir stellen klar, dass Suizid und Bei- Niederlande. Dort ist Sterbehilfe seit 14 Jahren erlaubt. hilfe zum Suizid verschiedene Rechtsgüter sind. In an- Der Niederländer Gerbert van Loenen hat ein Buch über deren Gruppenentwürfen wird darauf abgestellt, dass Sterbehilfe in den Niederlanden geschrieben. Als sein Selbsttötung nicht strafbar ist und Beihilfe demnach auch Partner infolge einer Operation wegen eines Hirntu- nicht. Der Suizid betrifft aber das eigene Leben, Suizid- mors im 32. Lebensjahr schwerbehindert wurde, stellten beihilfe ein fremdes Leben. Deswegen ist es für uns eine Freunde dessen Lebensrecht infrage: strafbare Handlung. Lediglich der Abbruch nicht indi- Es kamen sehr brutale Sprüche. Ein Freund meinte: zierter medizinischer Behandlungen und vom Patienten „Niek gewünschte Behandlungsabbrüche bleiben straffrei. Wir kennen das von der Patientenverfügung. – so hieß der junge Mann - Suizidbeihilfe bedeutet für uns Gefahr für den Lebens- wäre besser tot gewesen. Das ist doch kein Leben schutz. Schon ein kurzer Blick in die Suizidforschung mehr.“ zeigt, dass Selbstmordabsichten meist Hilferufe sind. Und zum Patienten selbst sagte jemand: Sie fragen nicht nach Beendigung des Lebens, sondern sie verdeutlichen den Wunsch nach Beendigung des Lei- Es ist deine Wahl, weiterzuleben. Dann sollst du dens. Oftmals ist es auch die Angst der Menschen vor un- auch nicht meckern. erträglichen Schmerzen und vor Einsamkeit. Sie ist dann (B) so groß, dass sie die Angst vor dem Sterben überlagert. Van Loenen sagt dazu: (D) Die Angst vor dem Sterben können wir niemandem Man sagt: „Na ja, in solch einer Lage will man ja nehmen. Aber wir können Schmerzen lindern und Ein- nicht leben.“ Und daraus wird geschlossen: Wer in samkeit verhindern. Für beides haben wir die richtigen, dieser Lage ist, sollte besser tot sein. Wenn sich je- wenn auch noch sehr ausbaufähigen Hilfsangebote. Ich mand umbringt, gibt es Verständnis, wenn er weiter- spreche von ambulanter und stationärer Palliativmedizin leben möchte, nicht. … und von Hospizbetreuung. Zuallererst den Gründen von … und die Entwicklung geht immer weiter. Auch Selbsttötungsabsichten durch menschliche Zuwendung unerträgliches psychisches Leid reicht als Begrün- und beste medizinische Versorgung entgegenzutreten, dung für Tötung auf Verlangen. Vor einigen Mona- dafür sollten wir unsere ganze Zeit, Kraft und Energie ten wurde das Leben einer Frau beendet, die unter aufwenden, Mysophobie, krankhafter Angst vor Ansteckung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) litt. statt zuerst darüber nachzudenken, wie wir das Helfen Keiner möge behaupten, das wird es in Deutschland beim Selbsttöten irgendwie rechtlich absichern können, nicht geben. Beim Tod meines Vaters bekam ich gesagt, und den Menschen noch zuzureden, Selbstmord sei das dass wir nun froh sein könnten, dass es zu Ende und dass gute Recht ihrer Selbstbestimmung. Zum Leben zu ver- es ja ein notwendiger Tod gewesen sei. Mein Vater war helfen, ist immer besser, als zum Sterben zu verhelfen. mit 67 Jahren zu Hause nach vorzeitiger Demenz ver- storben. Gute Palliativ- und Hospizversorgung und die Unter- stützung pflegender Angehöriger verhindert sehr oft den Präsident Dr. Norbert Lammert: Wunsch nach Suizid. Da weiß ich, wovon ich rede. Ich Frau Kollegin, Sie achten bitte auch auf die Zeit. habe mich schon frühzeitig mit dem Thema Kinderhos- piz beschäftigt, in meinem Wahlkreis das erste stationäre Hospiz auf den Weg gebracht, und in meiner Familie ha- Veronika Bellmann (CDU/CSU): ben wir erst den Vater gepflegt, bis er zu Hause verstarb, Oder nehmen wir das Beispiel vom Beginn des Le- und begleiten nun die Mutter auf dem letzten Stück ihres bens, wenn Eltern mit behinderten Kindern angespro- Lebensweges. Sowohl unsere Hospizpatienten als auch chen werden. Kollege Hüppe kann davon ein Lied sin- meine Mutter geben uns deutlich zu verstehen, wie gut gen. Erst kürzlich wurde er von Dr. Hanjo Lehmann, ihnen Zuwendung medizinischer und menschlicher Art Mitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes und der tut. Was die Hospizmitarbeiter und Angehörigen – in Arbeitsgemeinschaft Ärztliche Sterbehilfe, kontaktiert. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13081

Veronika Bellmann (A) Er sagte: „Dein Sohn, der behindert ist, wird dich irgend- Es sollte bei der jetzigen Rechtslage bleiben: Beihilfe (C) wann fragen: Vater, warum lebe ich? Ich will sterben. Ich zum Suizid bleibt straffrei, die Tötung auf Verlangen ist bin der Welt doch nur eine Last.“ Der Tod gehört zum weiterhin strafbewehrt. Leben, aber die Selbsttötung darf nicht zur Normalität und der assistierte Suizid nicht zum selbstverständlichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Angebot werden, für das womöglich noch ein Rezept BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ausgestellt wird. Wer die Grenze von der Hilfeleistung zur Tatherrschaft überschreitet, muss mit strafrechtlichen Ermittlungen Präsident Dr. Norbert Lammert: rechnen. Das gilt selbstverständlich auch für die relativ neuen Sterbehilfevereine. Unser Rechtsstaat hat die not- Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss wendigen Instrumente. Ermittlungen erfolgen derzeit, kommen. wie wir alle wissen. Es gibt dazu eine gefestigte Recht- sprechung. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich habe Verständnis für diejenigen, die Sterbehilfe- Ich komme zum letzten Satz. Ärzte sind Lebens- und vereine ablehnen, sei es aus moralischen Gründen, aber keine Sterbehelfer. Unser Antrag ist deshalb eine klare auch deswegen, weil sie eine Sogwirkung befürchten. Wertentscheidung für das Recht auf Leben. Der Philo- Bis jetzt sprechen die Zahlen nicht für eine Sogwirkung. soph Robert Spaemann sagt – Von 100 000 Selbstmordversuchen im Jahr werden circa 10 000 beendet. Im Jahr 2014 hat die Sterbehilfe Deutsch- land – wir haben es schon gehört: die einzige Sterbehil- Präsident Dr. Norbert Lammert: feorganisation in Deutschland – 44 Suizidbegleitungen Das war jetzt der letzte Satz, Frau Kollegin. durchgeführt. Das sind 0,4 Prozent aller Suizide. Von einer Sogwirkung kann meines Erachtens auch Veronika Bellmann (CDU/CSU): deswegen nicht gesprochen werden, da die Selbstmord- zahlen insgesamt von 18 000 in 1980 auf 10 000 in 2014 Vielen Dank. gesunken sind, und das obwohl wir seit dem Jahr 2008 Sterbehilfevereine in Deutschland haben. Auch verstärk- Präsident Dr. Norbert Lammert: te Suizidprävention und bessere Palliativversorgung kön- nen ein Grund für die gesunkenen Zahlen sein. Nächste Rednerin ist die Kollegin Sütterlin-Waack. (B) Ich weiß, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass viele Gegner der Sterbehilfevereine befürchten, dass mit dem Tod Geschäfte gemacht werden. Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Wird schon!) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Ich gebe allerdings zu bedenken, dass eingetragene Ver- gen! Nicht immer sind wir Parlamentarier in der Situ- eine keine wirtschaftlichen Zwecke verfolgen dürfen und ation, dass unsere Meinung mit der Mehrheitsmeinung ihnen bei Zuwiderhandlung der Vereinsstatus entzogen der Bevölkerung übereinstimmt. Bei unserem Antrag wird. Verstehen Sie uns bitte nicht falsch: Auch für uns ist das weitgehend so. Nach einer letzten Umfrage aus haben sämtliche Hilfen und Beratungsangebote selbst- dem Juni 2015 befürworten 81 Prozent der Bevölkerung verständlich Vorrang. Die Palliativmedizin muss weiter Sterbehilfe, 43 Prozent gar die aktive Sterbehilfe. Aktive ausgebaut werden. Sterbehilfe, das möchte ich betonen, spielt in unserer De- batte keine Rolle. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Aber, meine Damen und Herren, wir halten die un- eingeschränkte Entscheidungsmöglichkeit eines jeden Ebenfalls hohe Zustimmungsraten dokumentieren Um- Einzelnen am Ende seines Lebens für so wichtig, dass fragen, ob private Sterbehilfeorganisationen in Deutsch- wir keine Strafbarkeit des assistierten Suizids möchten. land erlaubt sein sollen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Im parlamentarischen Verfahren, das wir heute, nach einem Jahr verantwortungs- und wertvoller Diskussion, Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein- abschließen wollen, haben alle vier Gesetzentwürfe zur dringlich darum, noch einmal zu überlegen, ob wir zum Sterbebegleitung Kritik erfahren. Auf Einzelheiten muss jetzigen Zeitpunkt wirklich Gesetzesänderungen brau- ich hier nicht mehr eingehen. Sie wurden hinlänglich, chen. Sollte heute kein Gesetzentwurf eine Mehrheit be- auch heute, erörtert. kommen, dann heißt das nicht, dass wir uns die Debatten, Arbeitstreffen und Anhörungen der letzten zwölf Monate Wir beantragen dagegen, festzustellen, dass neue hätten sparen können. Wir haben hier keine nutzlosen Straftatbestände hinsichtlich der Sterbehilfe nicht erfor- Debatten im Parlament und in der Gesellschaft geführt; derlich sind. denn wir haben mit der Diskussion, mit dem Austausch von weltanschaulichen Standpunkten, von ethischen und (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) juristischen Fragen dazu beitragen, dass das Thema Tod, 13082 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dr. Sabine Sütterlin-Waack (A) Leid und Sterblichkeit ein Stück mehr enttabuisiert wur- schen befinden sich einmalig in einer Situation, aus der (C) de. Auch das ist ein Erfolg. sie in dieser Situation keinen Ausweg wissen. Als Sozial- arbeiterin habe ich mehr als nur einmal Menschen in sol- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) chen Situationen erlebt und begleitet; ich weiß durchaus, Bei jeder Diskussion, die ich zu diesem Thema be- wovon ich hier rede. stritten habe, habe ich zitiert, was uns unser Bundestags- Suizid ist nicht eine Option im Leben, die gleichbe- präsident Lammert bei der Orientierungsdebatte mit auf rechtigt neben anderen steht. Und genau darum geht es den Weg gegeben hat. Ich darf Sie, sehr geehrter Herr in unserem Gesetzentwurf: Suizidbeihilfe darf keine nor- Präsident, zitieren: male Dienstleistung werden. Suizidbeihilfe darf nicht all- Dabei wird der Gesetzgeber seine ganze Sorgfalt täglich oder normal für unsere Gesellschaft sein. nicht nur der Frage widmen müssen, wo es zwischen (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) individueller Selbstbestimmung auf der einen Seite und ärztlicher Verantwortung auf der anderen Sei- Wir fürchten: Wo es ein Angebot gibt, gibt es auch eine te Handlungs- und Regelungsbedarf gibt, sondern Nachfrage, und wenn etwas gesetzlich geregelt ist und auch, ob überhaupt und wie dieser Handlungsbedarf häufiger praktiziert wird, erweckt es den Eindruck von in allgemeinverbindlichen gesetzlichen Regelungen Normalität, von Unbedenklichkeit. überzeugend gelöst werden kann. Die schleichende Normalisierung der Sterbehilfe be- Vielen Dank. schrieb der niederländische Medizinethiker Theo Boer in der letzten Woche sehr eindrucksvoll in einem Interview (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Da sagte er: Die Zahl der assistierten Suizide in den Niederlanden Präsident Dr. Norbert Lammert: steigt, trotz guter Palliativversorgung. Die Enttabuisie- Elisabeth Scharfenberg ist die nächste Rednerin. rung, die Normalität von Sterbehilfe, lässt die Kritik dar- an verstummen. Die Dienstleistung Sterbehilfe wird im- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mer seltener infrage gestellt. Daraus entsteht ein Druck der SPD) bei den Menschen, diese Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. – Die steigende Zahl der assistierten Suizide in Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Niederlanden zeigt: Das sind keine vagen Vermutun- NEN): gen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Die organisierte Sterbehilfe suggeriert uns: Wir ha- (B) Kollegen! In unserer Gesellschaft leben immer mehr ben eine ganz einfache Lösung für all eure Probleme; (D) ältere und pflegebedürftige Menschen, Menschen mit das Erbe für die Kinder und die Enkel muss nicht für die psychischen Erkrankungen, Menschen, die alleine leben, teure Pflege aufgebracht werden. – Woher das Zweifeln Menschen, die durch ihre Lebensumstände sehr ver- am Leben kommt, darum muss sich dann keiner mehr letzlich geworden sind und deshalb unseren besonderen kümmern, da muss keiner mehr nachforschen. Schutz brauchen. Wie aufgehoben sich diese Menschen in unserer Gesellschaft fühlen, das ist auch vom Ausgang In der aktuellen Debatte wird häufig das Gefühl ver- der heutigen Debatte abhängig. mittelt, dass Alter, Schwäche, Demenz oder Pflegebe- dürftigkeit Zustände sind, die einem Menschen die Wür- In unseren Diskussionen und Reden ist viel von de nehmen. Das möchte ich ganz klar zurückweisen. Selbstbestimmung die Rede. Selbstbestimmung ist aber keine Einbahnstraße. Selbstbestimmung braucht Bedin- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) gungen, unter denen eine freie Entscheidung möglich ist. Es gibt kein würdeloses Leben, auch nicht in der De- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) menz. Wir machen es nur würdelos, wenn wir den Men- schen nicht verstehen, wenn wir den Menschen degra- Ich bezweifle, dass das bei den meisten Suiziden – assis- dieren, wenn wir über ihn reden anstatt mit ihm. Es ist tiert oder nicht – der Fall ist. nicht würdelos, auf Hilfe angewiesen zu sein. Es ist nicht Wenn wir genauer hinschauen, warum vor allem äl- würdelos, sich von anderen Menschen pflegen zu lassen. tere Menschen aus dem Leben scheiden wollen, dann Noch ein Missverständnis möchte ich aufklären: Un- sehen wir, dass sie niemandem zur Last fallen wollen. ser Gesetzentwurf ändert nichts an der Tatsache, dass der Sie haben Angst, Dinge nicht mehr allein tun zu können. Suizid in Deutschland straflos ist. Er ändert nichts daran, Sie haben Angst, dement zu werden. Sie haben Angst dass Menschen, die einem anderen beim Suizid helfen, vor Pflegebedürftigkeit. Viele leiden unter chronischen in der Regel ebenfalls straflos bleiben. Unser Gesetzent- Schmerzen, unter versteckten Altersdepressionen, und wurf schränkt die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen viele sind einfach nur sehr, sehr einsam. nicht ein. Seelische Erkrankungen oder akute Krisen sind oft die (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Gründe für den Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Oft ist das Verlangen nach einem Suizid ein Hilferuf, der an Das gilt auch für Ärzte. Wenn Ärzte im Einzelfall Hil- uns gerichtet ist: Wende dich doch endlich mir zu! Siehst fe beim Suizid leisten, so machen sie es doch nicht zum du denn überhaupt nicht, wie ich leide? – Diese Men- regelmäßigen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit und bleiben schen wollen nicht um jeden Preis sterben. Diese Men- somit nach unserem Gesetzentwurf straflos; das wurde Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13083

Elisabeth Scharfenberg (A) in der Anhörung im Rechtsausschuss bestätigt. Dies gilt Die Voraussetzung für geschäftsmäßigen Suizid – bei (C) auch für die Palliativärzte. Das ist auch der Grund, wa- „geschäftsmäßig“ denkt man an Geschäft; jemand will rum gerade der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband viel Geld verdienen – ist die Wiederholungsabsicht. Im und die Deutsche PalliativStiftung unseren Vorschlag Gesetzentwurf von Brand/Griese heißt es, eine Wieder- ausdrücklich unterstützen. holungsabsicht könnte bereits bei einer einmaligen Hilfe zum selbstbestimmten Sterben gegeben sein. Das heißt, Sterben ist etwas sehr Individuelles – ob es sich um dass Ärzte und Pfleger, die regelmäßig Sterbende beglei- Suizid handelt oder nicht. Wir dürfen es nicht in die Hän- ten, der konkreten Gefahr staatsanwaltschaftlicher Er- de irgendwelcher Organisationen legen. Darum ist es mittlungen ausgesetzt sind. Das ist Fakt. auch keine Lösung, einfach gar nichts zu tun. Und wir sollten das Sterben auch nicht komplett durchregeln. In (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der diesem Sinne bitte ich Sie sehr herzlich um Unterstüt- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- zung unseres Gesetzentwurfs, den ich gemeinsam mit NEN) meinen Kolleginnen und Kollegen Kerstin Griese, Mi- Sie müssen mit Befragungen und Ermittlungen rechnen. chael Brand, Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe und ande- Ich frage Sie: Welcher Arzt geht ein solches Risiko ein? ren entwickelt habe. Er wird sich von seinem Patienten entfernen. An wen sol- Danke schön. len sich die Patienten dann wenden, wenn sie Suizidge- danken haben, wenn sie Hilfe brauchen? Wir sagen doch (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) immer: Es ist schon lebensbejahend, wenn du weißt, dass du dich an jemanden wenden kannst, dem du deine Sor- Präsident Dr. Norbert Lammert: gen und Empfindungen anvertrauen kannst. Das ist doch Ich erteile der Kollegin Dagmar Wöhrl das Wort. Suizidprävention! Ist das nicht der Fall, dann sieht sich der Patient einer anonymen Entscheidungswelt gegen- Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU): über, und er hat niemanden mehr, dem er sich anvertrau- en kann. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je- der von uns hat sich mit dem Thema Sterbehilfe anders Die Diskussion ist auch historisch, weil eigene An- auseinandergesetzt. Wir haben auf allen Ebenen respekt- schauungen in Bezug auf Ethik und Moral gegen den voll miteinander diskutiert. Viele von uns haben persön- Willen der Mehrheit der Bevölkerung mittels Strafrecht liche Erfahrungen mit diesem Thema gemacht, auch ich. durchgesetzt werden sollen. Wir müssen uns die Frage Viele haben Hospize besucht. Ich habe in einem Hospiz stellen: Haben wir als Bundestagsabgeordnete wirklich gearbeitet, um noch näher an diesem Thema dran zu sein. das Recht, Menschen ohne Not in ihrer Entscheidung in (B) Ich habe auch viel gelesen. einem so persönlichen Lebensbereich einzuschränken? (D) Eine Geschichte ist mir besonders präsent. Ein junger (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Patient auf einer Palliativstation litt wegen eines unheil- Ich kann nur sagen: Keiner meiner Wähler hat mir das baren Tumors unter starken Schmerzen. Die Beschwer- Recht übertragen, zu entscheiden, wie er zu sterben hat. den konnten gelindert werden. Nach einer Woche konnte er entlassen werden. Er hat sich beim palliativmedizini- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) schen Team bedankt, ging nach Hause und nahm sich das Leben. Das Team war total entsetzt und hat sich gefragt: Das Strafrecht ist das schärfste Schwert, das ein Staat Warum hat er uns nicht gesagt, dass er Probleme hat? Die hat. Das Strafrecht soll nur angewendet werden, wenn es Schwester des Patienten, der er sich vorher anvertraut um die Gefährdung von Rechtsgütern geht. Aber wie ist hatte, fragte ihn: Warum hast du nicht mit den Palliativ- denn die Situation an unseren Krankenbetten in Deutsch- medizinern gesprochen? Die erschütternde Antwort war: land, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die konstant Um Gottes willen! Die Ärzte und Pfleger waren so gut niedrigen Fallzahlen in den Ländern, in denen ärztlich zu mir, ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. assistierter Suizid Gott sei Dank erlaubt ist, belegen ein- deutig, dass es die behauptete Gefährdung von Rechtsgü- Jeder versteht, dass man gegen die dubiosen – und das tern nicht gibt. sind sie – Sterbehilfevereine vorgehen will, aber es ist (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) wichtig, wie man dieses Ziel erreicht. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist der richtige Weg. Die meisten Menschen empfinden, dass es sich hier um einen illegitimen Übergriff des Staates handelt. Ich muss (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sagen: Mir persönlich widerstrebt es, die existenzielle BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und höchst intime Ausnahmesituationen am Lebensende Die meisten Menschen entscheiden sich bewusst gegen auf die Ebene der öffentlichen Regulierung zu hieven. Sterbehilfevereine, sie entscheiden sich für eine Beglei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des tung durch die Ärzte, durch die Pfleger und durch die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Angehörigen. Der Gesetzgeber sollte sich hier zurückhalten und die Die Debatte heute könnte von historischer Bedeutung Menschen ihr eigenes Leben so gestalten lassen, wie sie sein, und zwar deswegen, weil Beihilfe zu einer straflo- es für richtig halten. sen Haupttat zukünftig unter Strafe gestellt werden soll. Das ist ein Systembruch nach 150 Jahren erfolgreicher Ich glaube, diese Debatte kann eine historische De- Strafrechtsgeschichte, liebe Kolleginnen und Kollegen. batte sein, wenn wir aus den Erfahrungen, die wir in den 13084 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dagmar G. Wöhrl (A) Diskussionen der letzten Monate gesammelt haben, ab- und Sterbehelfer in unserem Land, und das ist proble- (C) leiten, dass wir unsere eigenen, persönlichen Ansichten matisch. zurücknehmen, dass wir die Grenzen unseres Mandates nicht überschreiten, dass wir auch den Staat in seine (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus – Grenzen verweisen und die Selbstbestimmung über die Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ja wider- Fremdbestimmung stellen. legt!) Eine Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Suizidhil- Zusammenfassend möchte ich sagen: Danke für die fe führt dazu, dass Ärzte, die viele totkranke Patienten Debatte. Ich sage aber auch: Nein danke für das Ergebnis. behandeln und nur in seltenen Fällen Suizidhilfe leis- Vielen Dank. ten, künftig mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen rechnen müssen; denn „geschäftsmäßig“ bedeutet: ohne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der finanzielle Interessen mit Wiederholungsabsicht zu han- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- deln. Eine Wiederholungsabsicht kann bereits nach ein- NEN) maliger Suizidhilfe unterstellt werden. Jeder Anfangs- verdacht macht zum Beispiel einen Palliativmediziner Präsident Dr. Norbert Lammert: zu einem Fall für die Strafverfolgungsbehörden, und das können wir nicht ernsthaft wollen. Kai Gehring erhält nun das Wort. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kai Gehring KEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir jetzt aber das Horrorszenario!) entscheiden heute über die weitreichende Frage, ob es zu einer Kriminalisierung der seit 150 Jahren straflosen Su- Der Wunsch eines qualvoll Sterbenden nach Suizid- izidhilfe kommt. hilfe wird durch den Entwurf von Künast, Sitte und mir genauso abgesichert und geschützt wie durch den Ent- Der Brand/Griese-Entwurf bringt Ärzte in die Ge- wurf von Hintze, Reimann und Lauterbach. Auch eine fahr der Strafverfolgung und belastet das gerade am Le- Beibehaltung der geltenden Rechtslage würde diesem bensende besonders wichtige Vertrauensverhältnis zwi- Ziel gerecht. schen Arzt und Patient schwer. (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Meis- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus) tens!)

(B) Ich will keine Verbotsgesetze und keine Bevormun- Unsere Gesetzentwürfe sichern Sterbewilligen und Ärz- (D) dung im Bereich der Sterbehilfe; denn zu einem selbst- ten ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Straffreiheit bestimmten Leben gehört auch ein selbstbestimmter Tod. und Rechtssicherheit. Wir brauchen Freiheit für Gewis- Die allermeisten Menschen von jung bis alt in unserem sensentscheidungen. Land sagen: Mein Ende gehört mir. Diesen Kern der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Selbstbestimmung haben wir als Gesetzgeber zu respek- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der tieren. Über die Köpfe von Sterbewilligen hinweg zu ent- LINKEN sowie der Abg. Dagmar G. Wöhrl scheiden, finde ich inhuman. [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Für mich sind übrigens die Wünsche des Sterbenden SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der maßgeblich, nicht die der Kirchen. Gerade in unserem LINKEN) religionsneutralen, säkularen und pluralistischen Staat Wir als Mitglieder des Bundestages haben nicht das haben religiöse Erwägungen im Strafrecht nichts zu su- Recht dazu, Sterbewillige zu zwingen, ihren schweren chen. Leidensweg bis zum Ende zu gehen. Das scharfe Schwert (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- des Strafrechts ist die Ultima Ratio unseres Rechtsstaa- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der tes. Es zu nutzen, obwohl es kein gravierendes, kein LINKEN) empirisch belegtes Phänomen gibt, ist unverantwortlich. Die Suizidhilfe ist seit 150 Jahren erlaubt und kein Prob- Sterbewillige in größter Not benötigen Fürsorge, Zuwen- lem. Brand, Griese und Sensburg warnen vor Gefahren, dung, helfende Hände und ergebnisoffene Gespräche. die es schlichtweg so nicht gibt. Deswegen will ich, dass das Spektrum der letzten Hilfe beim freiverantwortlichen Suizid weitgehend so erhalten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- bleibt, wie es ist. Die Behauptung, Suizidbeihilfe werde SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der zum medizinischen Regelangebot, ist hanebüchen. Su- LINKEN) izidhilfe bleibt eine ärztliche Gewissensentscheidung. Die Initiative geht vom notleidenden Menschen aus. Alle Warnrufe halte ich nicht für plausibel, sondern für Kein Drängen, kein Profit – Punkt. Angstschürerei und Horrorszenarien. Die Keule des Strafrechts für einzelne existenzielle und intime Ausnah- Letzte Hilfe dagegen auf Familienmitglieder zu be- mesituationen am Lebensende zu schwingen, halte ich grenzen, ist unerträglich restriktiv. Menschen, die keine daher für unangemessen. Brand, Griese, Sensburg wollen Angehörigen haben oder kein Vertrauensverhältnis zu ih- den bösen Herrn Kusch treffen, treffen aber alle Ärzte ren Verwandten, müssen mit einem Arzt über letzte Hilfe Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13085

Kai Gehring (A) sprechen können und ihn gegebenenfalls um Suizidas- ihnen das Leiden erleichtert, psychologisch und thera- (C) sistenz bitten können. Menschen den Sterbewunsch zu peutisch, immer auf dem modernsten Stand wie bei vie- verwehren, ihnen auch das Gespräch zu verwehren und len ihrer Standeskollegen. ihre möglichen Assistenten zu kriminalisieren, halte ich für unethisch. Ich spreche mich gegen die Straffreiheit aus. Denn nicht nur ich stelle mir die Frage, wo bei einer Legali- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sierung die Grenze ist. Wird die Hemmschwelle so weit SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der gesenkt, dass Suizid dann plötzlich hoffähig wird? Ein LINKEN) Artikel in der FAZ hat jüngst genau diese These bestätigt. Wer keine Angehörigen hat oder sie nicht um letzte Hilfe Seit der Legalisierung der Tötung auf Verlangen und des bitten kann, darf nicht alleingelassen werden. assistierten Suizids in den Niederlanden ist die Hemm- Aus all diesen Gründen bitte ich Sie: Stimmen Sie für schwelle zur Selbsttötung stetig gesunken. Die Zahlen in Gesetzentwürfe, die Straffreiheit und Selbstbestimmung den Niederlanden sprechen eine deutliche Sprache. Wa- sichern, und sagen Sie Nein zu Brand/ Griese. Hören ren es 2005 noch 1 800 Fälle, steigerte sich die Zahl im Sie auf die überwältigende Mehrheit deutscher Straf- Jahr 2014 bereits auf 5 300 Fälle. Diese Zahlen spiegeln rechtsprofessoren, auf die Vorsitzende des Deutschen deutlich wider, dass Sterbehilfe bei unseren Nachbarn Ethikrates, auf große Teile der Ärzteschaft und Palliati- zur Normalität geworden ist. vmediziner und vor allem auf unsere Bevölkerung. Die Menschen, ob Christ oder konfessionslos, wollen ihr Le- Die Untersuchungen zeigen auch, dass sich der Kreis ben so gestalten, wie sie es für richtig halten. Stimmen derer, die Sterbehilfe in Betracht ziehen, deutlich er- Sie also für Gesetzentwürfe der Vernunft und für die ge- weitert hat. Waren es anfangs hauptsächlich Krebskran- sellschaftliche Mehrheit. ke und Aidspatienten, finden sich heute Patienten mit vielen verschiedenen Krankheitsbildern wie Demenz, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) psychiatrische Erkrankungen oder auch altersbedingte Beschwerden darunter. Stattdessen sollten wir unsere Präsident Dr. Norbert Lammert: medizinischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte würdi- Bettina Hornhues ist die nächste Rednerin. gen und die Forschung weiter unterstützen. Denn durch eine bestmögliche Palliativmedizin ist eine leidensarme Sterbebegleitung möglich. Hierbei stehen die Linderung Bettina Hornhues (CDU/CSU): der Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Vordergrund. Das ist aus meiner Sicht auch der rich- Sehr geehrte Damen und Herren! In einer intensiven De- tige Weg. (B) batte der vergangenen Monate fand eine umfangreiche (D) Meinungsbildung und Meinungsschärfung statt, und dies Viele schwerstkranke Patienten antworten auf die nicht nur bei uns Parlamentariern. Selten wurde in der Frage, warum sie nicht mehr leben möchten, sehr häufig breiten Öffentlichkeit über ein Thema mit so viel En- mit dem Wunsch, den Angehörigen nicht länger zur Last gagement diskutiert. Dies zeigt, dass es sich heute nicht fallen zu wollen. Stellt man diese Patienten palliativme- nur um eine politische, sondern vor allem auch um eine ethische Diskussion handelt. dizinisch ein und fragt nach ein paar Tagen nach, hat sich ihre Einstellung vollkommen geändert. Es ist ein Sinnes- Ich persönlich habe mich nach intensiver Diskussion wandel, der eintritt, wenn der Patient antwortet, dass er und gründlicher Abwägung entschlossen, dass ich den unter diesen Umständen – mit der richtigen therapeuti- Gesetzentwurf der Kollegen Dr. Patrick Sensburg und schen Maßnahme – weiterleben möchte. Der Satz „Ich Thomas Dörflinger unterstütze; denn dies ist der ein- will nicht mehr leben“ müsste richtig heißen: Ich will so zige Gesetzentwurf, der sich gegen eine Legalisierung nicht mehr leben. – Diese Maxime sollten wir in unserer ausspricht. Die anderen Entwürfe, die heute zur Abstim- Gesellschaft verankern. mung stehen, legalisieren die Suizidbeihilfe von Ange- hörigen und Ärzten und unterscheiden sich nur in den Deswegen war es auch so wichtig, dass wir gestern Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Es darf meiner das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativ- persönlichen Meinung nach keine Freigabe der Sterbe- versorgung in Deutschland verabschiedet haben. An die- hilfe in irgendeiner Form geben, vor allem aber keine ser Stelle möchte ich deshalb einen Dank aussprechen: kommerzielle und keine geschäftsmäßige Sterbehilfe. an die Hospize und die vielen ehrenamtlichen Helfer Hilfe beim Sterben und nicht Hilfe zum Sterben, den Tod genauso wie an die vielen pflegenden Angehörigen, die begleiten und nicht herbeiführen – dieser Leitsatz steht sich aufopferungsvoll einsetzen und ein würdiges Ster- für mich an erster Stelle. Den Grund möchte ich Ihnen ben bzw. eine Begleitung bis zum Tod ermöglichen, sei gerne erläutern. es in der ambulanten oder in der stationären Versorgung. Als Arzttochter bin ich ein Leben lang von den The- Diesen Menschen ist Hochachtung entgegenzubringen, men „Krankheit“ und „Tod“ begleitet worden. Es gab ganz im Gegensatz zu denjenigen Menschen, die aus dem viele Patientenfälle, die meine Eltern aufgrund ihrer Tod ein Geschäft machen, kommerzielle Sterbehilfe be- Schwere weit über das normale Patientengespräch hinaus treiben und aus dem Leid anderer Kapital schlagen. Denn beschäftigten. Aber eines kam für meine Eltern nicht in- wer kann uns garantieren, dass diese Ärzte und Sterbe- frage: dem Tod nachzuhelfen, war das Leid des Patienten hilfevereine den Schwerstkranken gegenüber die Abwä- noch so groß. Stattdessen wurden die Patienten begleitet, gung ermöglichen? Ich sehe zudem die Gefahr, dass Mit- 13086 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Bettina Hornhues (A) leid die Bewertung zur Sterbehilfe beeinflusst. Das darf abzuweichen. Deswegen werde ich diesem Vorschlag (C) meiner Ansicht nach nicht passieren. nicht zustimmen. (Beifall des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Die Gesetzentwürfe des Kollegen Hintze und der Kol- Der Vorschlag Brand/Griese sieht vor, dass man im legin Künast öffnen dagegen Tür und Tor für etwas, das Strafgesetzbuch eine Änderung einfügt, und zwar lautet nicht zu kontrollieren ist. Diese Lasten dürfen und sollten sie: wir niemandem auferlegen. Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gele- Präsident Dr. Norbert Lammert: genheit gewährt, verschafft oder vermittelt ... Frau Kollegin. Die ganze Diskussion, die wir in den letzten Wochen und Monaten geführt haben, hat sich um die Fragen gerankt: Kann dieses „geschäftsmäßig“ belastbar, sicher, ge- Bettina Hornhues (CDU/CSU): richtsfest ausgelegt werden? Wann handelt ein Arzt „ge- Schließen möchte ich mit einem Zitat unseres ehema- schäftsmäßig“? Das ist völlig unklar geblieben. Es gibt ligen Bundespräsidenten Johannes Rau, der sagte: dazu ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Opti- Bundestages, das die Zweifel an dieser Regelung über- onen ist, wird jeder rechenschaftspflichtig, der ande- zeugend darlegt. Die Sachverständigen haben das in der ren die Last seines Weiterlebens aufbürdet. Anhörung bestätigt. Deswegen möchte ich gerne sagen: Es geht hier nicht um eine Kriminalisierung der Ärzte – Vielen Dank. solche Aussagen finde ich auch falsch, was diesen Ge- setzentwurf anbelangt –, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: sondern es geht darum, dass man aufgrund dieser Unsi- cherheit – was heißt „geschäftsmäßig“? – eine Vielzahl Das Wort hat die Kollegin Brigitte Zypries. von Prozessen produziert. Das gilt es zu vermeiden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) (B) (D) Brigitte Zypries (SPD): Mit dem Vorschlag Hintze/Reimann wird vorgese- Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten hen, den Widerspruch in der gegenwärtigen schwierigen Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn Rechtslage – einerseits ist die Sterbebeihilfe straffrei, man bei einem so komplexen und sensiblen Thema nur andererseits ist die Sterbebeihilfe nach dem ärztlichen fünf Minuten Redezeit hat, muss man sich begrenzen. Standesrecht verboten – dadurch aufzulösen, dass man Ich will mich deshalb auf die juristische Bewertung be- Ärzten diese Hilfestellung durch Einfügungen im Bür- schränken. Für die juristische Bewertung gilt bei so sen- gerlichen Gesetzbuch ausdrücklich erlaubt. Es ist von siblen Themen wie dem, über das wir heute reden, ganz meinen Vorrednerinnen hier schon gesagt worden: Das besonders, dass man sehr sorgfältig arbeiten muss. ist verfassungsrechtlich einfach nicht zulässig, weil das ärztliche Standesrecht in der Kompetenz der Bundeslän- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- der bzw. in der Selbstverwaltung der Ärzteschaft liegt. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gilt Vorhin hat jemand gesagt, der Vorschlag richte weiter eigentlich immer!) keinen Schaden an. Er würde aber auf alle Fälle beklagt werden. So viel ist doch sicher. Gerade dann, wenn es um Themen wie die Grenze von Leben und Tod geht, muss man sicherstellen, dass man Der Vorschlag Künast/Sitte sieht dagegen als einziger nicht unnötig Prozesse produziert. Als ehemalige Bun- Vorschlag ein völlig neues, eigenständiges Gesetz vor, desjustizministerin weiß ich, wie leicht einem so etwas mit dem Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden, „gelingt“, obwohl man es gar nicht will. die nach geltendem Recht nicht strafbewehrt sind. Da- rüber hinaus – das ist mir auch sehr als schwierig auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gestoßen – muss derjenige, der in „organisierter oder BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geschäftsmäßiger Form“ Hilfe zur Selbsttötung leisten will, ein schriftlich dokumentiertes Beratungsgespräch Die geltende Rechtslage, meine Damen und Herren, führen. ist so: Sterbewillige müssen bis zum Schluss die Tatherr- schaft behalten. Dann ist auch die Beihilfe nicht strafbar. Die erste Frage ist hier: Was heißt eigentlich „ in or- Der Vorschlag Sensburg ist zwar klar und eindeutig ge- ganisierter oder geschäftsmäßiger Form“? Auch das ist fasst; er sieht in seiner Intention aber vor, dass die Bei- wieder eine Frage nach der Bestimmtheit des Begriffes. hilfe zur Selbsttötung künftig strafbar wird. Das ist eine Dass sämtliche Beratungsprotokolle von den Protago- Regelung, die es – das wurde schon genannt – seit 1871 nisten, die sich gegen dieses ärztliche Verhalten wehren so nicht gibt. Ich glaube, wir haben keinen Grund, davon wollen, auch noch vor Gericht angefochten werden, weil Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13087

Parl. Staatssekretärin Brigitte Zypries (A) die Gespräche nicht ordentlich dokumentiert worden habe, hatte ich den Eindruck, dass die eigene Überzeu- (C) sind – wir kennen das ja aus dem Pflegebereich –, kön- gung – es ist ja richtig, dass man eine solche hat – auch nen wir, glaube ich, gerade in diesem sensiblen Bereich dazu verwendet wird, die Überzeugung anderer in einer nicht brauchen. Art und Weise zu kritisieren, die mit dem, was im Gesetz- entwurf steht, nicht übereinstimmt. Es ist also sicher, dass jeder dieser drei Gesetzentwür- fe vor Gericht beklagt werden würde – von Organisati- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, onen sowieso, aber auch von Einzelpersonen, die sich der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE entweder in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt füh- GRÜNEN) len oder als Angehörige ärztliches Verhalten kritisieren. Das heißt, wir würden mit jeder dieser Regelungen mehr Ich will gar nicht über andere sprechen; denn es ist Probleme schaffen, als wir lösen. schon fordernd genug, über das zu sprechen, was man selber will. Was wollen wir? Ich glaube, wir sind uns zu (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) einem großen Teil darüber einig, dass wir keine Sterbe- Daneben würden wir gerade in diesem sensiblen Bereich hilfevereine haben wollen, bei denen Menschen einen für viele Jahre eine enorme Rechtsunsicherheit schaffen. Beitrag bezahlen müssen. Wenn sie eine schnellere Lö- sung haben wollen, ist der Beitrag höher. Dann wird ein Herr Gröhe, Sie haben vorhin gesagt: Wir brauchen Sterben ohne weitere Prüfung organisiert, allein nach eine kluge Rechtsanwendung. Ich kann dazu nur sagen: dem Motto: Wer will, der kann. – Das wollen wir alle Damit haben Sie völlig Recht. Das Problem ist nur: Da- nicht. rüber entscheidet der Gesetzgeber nicht mehr. Der Ge- setzgeber macht ein Gesetz, und die Anwendung obliegt Wenn man das hört, was heute über das Thema Selbst- dann den Gerichten, die sich mit denen zu befassen ha- bestimmung gesagt wird, könnte man den Eindruck ha- ben, die dagegen klagen. ben, dass die eine oder andere Gruppierung den Suizid verbieten will. Genau dies ist nicht der Fall. Der Suizid (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wird überhaupt nicht verboten, sondern jeder kann selbst- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bestimmt entscheiden. Aber ich glaube: Es gibt nicht den Was dann dabei herauskommt, können wir – zum Glück – Anspruch eines Einzelnen darauf, dass ein anderer ihm nicht mehr beeinflussen. Das Problem ist einfach, dass bei der Umsetzung dieser Entscheidung hilft. Das ist der wir das dann nicht mehr regeln können. wichtige Punkt. Deswegen glaube ich, dass wir mit der bestehenden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Rechtslage die gewerbsmäßig assistierte Selbsttötung ordneten der SPD) (B) weiterhin als unzulässig beschreiben sollten. Die Staats- (D) anwaltschaften – das wurde ja bereits gesagt – ermitteln. Das kann nicht nach dem Motto laufen: Ich habe ein An- Die Menschen, die ihr Leiden beenden möchten, erhalten recht darauf, dass mir ein Arzt helfen muss. – Da kann ich eine ergebnisoffene Beratung: eben nicht nur zum Ster- gut verstehen, dass Ärzte sagen: Das wollen wir nicht. ben, sondern auch zum Weiterleben. Jetzt kann man doch nicht so tun – das haben einige (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- getan –, als ob die deutsche Ärzteschaft eine andere Mei- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nung vertreten würde. Die überwiegende Mehrheit der NEN) deutschen Ärzteschaft hat gesagt, dass sie dies nicht will. Natürlich wollen Ärzte Menschen begleiten, aber sie sind nicht dafür da, Menschen in den Tod zu befördern. Diese Präsident Dr. Norbert Lammert: Entscheidung der deutschen Ärzteschaft sollten wir ak- Volker Kauder ist der nächste Redner. zeptieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren, worüber Dass wir es heute mit einem jeden persönlich besonders wir heute entscheiden, ist die Forderung, Sterbende zu fordernden Thema zu tun haben, zeigt schon die unge- begleiten und sie nicht alleine zu lassen. Wenn wir dem wöhnliche Beratungskonstellation, beginnend mit einer Antrag von Brand/Griese folgen, wird uns die Aufgabe, Orientierungsdebatte, mit der wir uns erst einmal Klar- Sterbende zu begleiten, nicht mehr loslassen. Wir treffen heit über das Feld verschafft haben, das wir bearbeiten nämlich damit keine endgültige Entscheidung. Vielmehr oder nicht bearbeiten wollen, über eine ein Jahr dauernde ist es eine ständige Mahnung, ein ständiger Stachel, das interne Diskussion mit Sachverständigen bis hin zu ei- Begleiten Sterbender zu einem Anliegen von uns zu ma- nem Meinungsbild, das wir uns verschafft haben. Jeder chen. Das geht nicht nach dem Motto: Wir können einen Einzelne muss diese Entscheidung für sich selbst treffen. Schlussstrich ziehen, und dann ist die Aufgabe erledigt. Es gibt keine Führungsvorgabe durch Fraktionen. Jeder Deswegen ist der Antrag von Brand/Griese eine we- ist hier selber gefordert. sentlich größere gesellschaftliche Herausforderung als Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung jedes alles andere, nämlich sich täglich darüber bewusst zu Einzelnen, und ich bitte darum, dass dies gegenseitig werden, dass Sterben zwar etwas höchst Individuelles gilt. Bei der einen oder anderen Rede, die ich hier gehört ist, dass wir aber Sterbende begleiten müssen und nicht 13088 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Volker Kauder (A) allein lassen dürfen – als eine ständige Herausforderung tient-Beziehung kriminalisiert wird. Wir unterstellen (C) in unserem täglichen Leben. nicht, dass das die Absicht ist; das ist nicht der Fall. Uns ist nur wichtig, zu sagen, dass wir glauben, dass das fol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gen könnte, dass das die nicht beabsichtigte Folge sein ordneten der SPD und der Abg. Katrin Gö- könnte. Darum geht es doch. ring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. – Dr. Karl Lauterbach von der SPD-Frak- NEN) tion hat jetzt das Wort. Das einzige Problem, das ich mit den Vorträgen habe, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist – ich selbst bin kein Jurist –: Ich bin nicht der Mei- nung, dass es so sicher wäre, dass die Folge des Antrags Brand/Griese nicht ist, dass es zu einer Kriminalisierung Dr. Karl Lauterbach (SPD): der Ärzte kommt, die die Sterbehilfe praktizieren wollen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte das für nicht so sicher, wie es dargestellt wird. Zunächst will ich mit dem beginnen, was uns eint. Uns alle eint die Bemühung, die Palliativmedizin deutlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zu stärken. Dazu haben wir gestern etwas Wichtiges be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlossen. 140 führende Strafrechtler sind der Meinung, dass es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu dieser Kriminalisierung kommen könnte. Der Wissen- schaftliche Dienst des Deutschen Bundestags ist, wie es Aber die Palliativmedizin hilft nicht bei dem heutigen die ehemalige Justizministerin gesagt hat, der Meinung, Problem; denn diejenigen, die den assistierten Suizid dass es dazu kommen könnte. wünschen, wie er in Oregon oder in der Schweiz erlaubt ist, werden zu 90 Prozent palliativmedizinisch versorgt. In der Anhörung, die wir gehabt haben, war ein Teil Also kennen diese Menschen die Palliativmedizin, weil der angehörten Rechtsprofessoren, zum Beispiel Profes- sie an ihnen praktiziert wird. Herr Gröhe, das Land mit sor Hillgruber und Professor Merkel, der Meinung, dass der in Europa mit Abstand besten Palliativversorgung, es zu dieser Kriminalisierung kommen könnte. Ja, sogar die Niederlande, hat eine sehr hohe und aus meiner Sicht in der Stellungnahme des jetzigen Justizministers ist man bedauernswert hohe Quote bei der aktiven Sterbehilfe, der Meinung, dass es zu dieser Kriminalisierung kom- die wir natürlich nicht wollen. men könnte. (B) (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Alles, was ich sagen will, ist: Die Lage ist nicht so (D) Somit löst die Palliativmedizin nicht das Problem, über sicher, wie Sie es darstellen. das wir heute reden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Die zweite Sache, die uns eint, ist: Wir alle wollen KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- keinen Dammbruch. Wir wollen keine aktive Sterbehilfe, NEN sowie des Abg. Peter Hintze [CDU/ und wir wollen auch keine Normalität in der Sterbehilfe. CSU]) Aber auch das steht nicht zur Debatte. Wir müssen dieses Risiko vermeiden. Wir wollen keine Die Regelung von Hintze, Reimann und Lauterbach, Unsicherheit. Dies sage ich als Arzt. über die wir heute diskutieren, gibt es in Oregon schon Der Arzt, der Sterbehilfe leistet, nimmt schon jetzt seit 17 Jahren. Nach wie vor 2 Promille der Todesfäl- drei große Gefahren für das Wohl seines Patienten in le sind assistierter Suizid. Die Zahl ist nicht gestiegen. Kauf – er macht das ja nicht für sich; er bekommt kein Auch in der Schweiz sind es 2 bis 3 Promille; das ist Geld dafür; es gibt keine Gebühr; er macht das nur für ebenfalls nicht gestiegen. seinen Patienten –: Er ist schon jetzt in der Gefahr, dass Was ist das beste Beispiel dafür, dass der erlaubte as- er die Garantenpflicht verletzt, die wir bei der Patien- sistierte Suizid keinen Dammbruch bringt? Was ist das tenverfügung gut gelöst haben, beim assistierten Suizid wichtigste Land? Deutschland. Wir haben diese Rege- nicht. Er müsste eigentlich sofort eingreifen, wenn es zu lung seit 140 Jahren. Die aktive Beihilfe zum Suizid ist einem Problem kommt. – Das ist das erste Problem. bei uns strafbar. Das soll nicht legalisiert werden, Das zweite Problem ist: In vielen Kammern, zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Beispiel in der Kammer Nordrhein, in der ich als Arzt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gelistet bin, kann die Approbation – von der Kammer der Bezirksregierung empfohlen – entzogen werden. Die wie dies eben fälschlich dargestellt wurde, sondern das Tatsache, dass das noch nicht passiert ist, geht auch da- ist strafbar und soll es auch bleiben. Das hat keinen rauf zurück, dass wir diese Regeln in einigen Kammern Dammbruch gebracht, und es ist kein Dammbruch zu erst seit einigen Monaten haben. erwarten. Niemand will einen Dammbruch; den wollen wir alle nicht. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist doch ein Horrorszenario!) Herr Gröhe, Sie haben vollkommen recht: Man darf nicht unterstellen, der Antrag Brand/Griese wolle, dass Wir haben ja noch gar keinen Vorlauf. Wir können das das Krankenbett kriminalisiert wird, dass die Arzt-Pa- doch nicht ausschließen. – Das ist das zweite Problem. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13089

Dr. Karl Lauterbach (A) Das dritte Problem, das wir – rechtlich gesprochen – Krankheiten entgegenzutreten, die noch vor 200 Jahren (C) haben, ist, dass die Ärzte das Betäubungsmittelgesetz in zu furchtbaren Epidemien führten und ganze Landstri- gewisser Weise beugen müssen; denn Betäubungsmittel che entvölkerten, lässt uns einen kleinen Schritt aus den spielen bei der Palliativmedizin keine Rolle. Die Medi- vermeintlichen Gegebenheiten einer doch so grausamen kamente, die ich hier einsetze, sind keine Medikamente Natur heraustreten. für die Palliativmedizin. Dass wir mit einer ganzen Reihe sozialer und medi- Somit bin ich bereits in dreierlei Hinsicht in einer zinischer Maßnahmen die Kindersterblichkeit auf ein in rechtlichen Grauzone. Jetzt kommt das Strafrecht dazu. der Menschheitsgeschichte nie gekanntes niedriges Ni- Machen wir uns doch nichts vor: Das macht kein Arzt veau senken konnten, lässt die Chance für jedes geborene mehr. Ich selbst würde es auch nicht machen. Das ist zu Leben, zur Selbstbestimmung heranzureifen, enorm stei- riskant. gen. Auch auf diesem Gebiet wissen wir um die regiona- le Beschränktheit dieser Erfolge und darum, dass ganze Daher plädiere ich dafür: Lieber kein Gesetz als ein Kontinente kaum an ihr teilhaben können. schlechtes Gesetz. Selbstbestimmt in Menschenwürde zu leben, heißt für (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) mich, nicht zu kapitulieren vor vermeintlichen Unverän- Wir haben eine gute Debatte gehabt. Wir alle haben aus derlichkeiten oder vor einem „Das war schon immer so“. dieser Debatte gelernt. Wir dürfen stolz sein: Wir haben Wäre dies unser Grundsatz, würden wir heute noch unter aus dieser Debatte gelernt und sind weitergekommen. furchtbarsten Bedingungen leben. Alle Freiheit, die wir Wenn wir zum Schluss sagen: „Wir beschließen gar haben, wurde erkämpft und im Widerstand gegen Ver- nichts“, dann haben wir das Thema enttabuisiert und sind hältnisse errungen, die anders waren. Dies gilt meiner gemeinsam auf einem Erkenntnisweg zu dem Ergebnis Auffassung nach auch für ein Sterben in Menschenwür- gekommen: Besser kein Gesetz als ein schlechtes Gesetz. de, nämlich selbstbestimmt und in Freiheit. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: DIE GRÜNEN]) Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Susanna Wir schaffen es, unsere Lebenserwartung immer hö- Karawanskij. her zu schrauben, aber nicht, Verfall und Sterben aufzu- halten. Zu spekulieren, was uns die Zukunft bringen mag, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) verbietet an dieser Stelle meines Erachtens der gesunde Menschenverstand. (B) Susanna Karawanskij (DIE LINKE): (D) Wir müssen heute entscheiden, inwieweit wir ein Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ende des Lebens in Menschenwürde – einer Menschen- Kollegen! Liebe Gäste! Ein Leben in Menschenwürde würde, die von Selbstbestimmung und Freiheit ausgeht – zu führen, führen zu können und vor allen Dingen auch möglich machen wollen. Der Gesetzentwurf von Renate führen zu dürfen, ist ein alter Menschheitstraum. Daher Künast und Petra Sitte hat diesen Zusammenhang als wird der Begriff „Menschenwürde“ gerne zu großen Grundannahme, die im Übrigen – das wurde auch schon Anlässen, feierlichen Gelegenheiten oder eben auch bei mehrfach gesagt – von weiten Teilen der deutschen Be- grundsätzlichen Fragen wie die, vor der wir heute stehen, völkerung, nämlich von 80 Prozent der Menschen im herangezogen und zur Letztbegründung der eigenen Ar- Land, geteilt wird. gumentation genutzt. Und noch eines möchte ich ansprechen: Die Men- Dass wir am heutigen Tag die verschiedenen Vorschlä- schenwürde, die Selbstbestimmung und die Freiheit, ge alle auch unter dem Aspekt des Lebens in Menschen- die hinter diesem Gesetzentwurf stehen, kommen allen würde – und des Sterbens als dessen letzte Phase – be- Menschen gleichermaßen zu, und deshalb wollen wir sprechen, zeigt, dass es mit solchen großen Begriffen wie nicht, dass daraus ein Gewinnmodell wird. Ich spreche der Menschenwürde doch nicht ganz so einfach ist. Denn mich ganz klar gegen eine Kommerzialisierung, also ein darüber, was der Mensch ist und was ihm zukommt, wird gewerbsmäßiges Anbieten sterbebegleitender Hilfeleis- sehr unterschiedlich gedacht. Ob er beispielsweise Be- tungen, aus. Denn in unserer Gegenwart ist die gleiche standteil einer, sagen wir, Schöpfungsgeschichte, einer Freiheit für alle vor allem dann nicht Wirklichkeit, wenn Evolutionsgeschichte oder – auch das ist möglich – von sie als Marktteilnehmer aufzutreten gezwungen sind. Der beidem ist, lässt ganz verschiedene Perspektiven auf uns eine hat vielleicht nicht mehr als seine eigene Haut zum und damit auch darauf zu, was denn unsere Würde sei. Markte zu tragen, während der andere das Erbe ganzer Für mich ist der Begriff der Menschenwürde aufs Generationen verprassen kann. Engste mit der Frage der Selbstbestimmung und des Da heute viele Philosophen und andere Denker zitiert selbstbestimmten Lebens verbunden. Auch dieser Punkt worden sind, will ich in diesem Zusammenhang Hans kann nicht sinnvoll ahistorisch oder überzeitlich betrach- Albers zitieren: „Das letzte Hemd hat leider keine Ta- tet werden. Die grundsätzliche Möglichkeit von uns schen.“ Und zumindest darin sind wir alle gleich. Frauen, selbst darüber zu bestimmen, ob und wann wir Kinder zur Welt bringen wollen, zum Beispiel ist ganz (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der klar erst jüngeren Datums. Sie ist – wir wissen das – kei- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nesfalls überall gegeben. Auch die Möglichkeit, vielen NEN) 13090 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Aber es ist ein Grenzfall. Ich möchte nicht, dass es zur (C) Vielen Dank. – Jetzt spricht Andrea Nahles. gewöhnlichen Handlung wird. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den Vorlagen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Hier ist sehr viel von Selbstbestimmung die Rede. Andrea Nahles (SPD): Wer einen Menschen beim Sterben einmal begleitet hat, weiß, dass in dieser Phase keineswegs nur der Aspekt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der Selbsttötung zur Selbstbestimmung gehört. Vielmehr Kollegen! In den letzten anderthalb Jahren ist uns in die- geht es sehr wohl um Begleitung. Aber greifen wir ein- sem Parlament etwas gelungen. Wir haben es geschafft, mal das Argument der Selbstbestimmung auf. Der Ge- nicht nur hier im Parlament, sondern auch in der Gesell- setzentwurf Brand/Griese nimmt der Selbstbestimmung schaft eine Debatte über das zu führen, was bis dahin in nichts weg. Wenn sich ein Mensch dafür entscheidet, der Tabuzone war, den Tod. Das „Bis zuletzt gut leben Suizidhilfe nicht organisierten Anbietern zu überlassen, und am Ende gut sterben“ stand im Mittelpunkt dieser sondern sie an dem Ort lässt, wo das einzig entschieden Debatte. Ich glaube, wir haben als Gesetzgeber einiges werden kann, nämlich in dem ganz persönlichen und in- auf den Weg gebracht, was Menschen wirklich hilft, zum dividuellen Verhältnis von Patient zu Angehörigen sowie Beispiel erst gestern mit dem, was wir beschlossen haben im Verhältnis von Patient zu Arzt, dann kann man nur zur Verbesserung der Hospizarbeit und der Palliativme- sagen: Dahin gehört es, und da bleibt es auch. Es gehört dizin. aber nicht in die Hände Dritter, die damit Geschäfte ma- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) chen. Das sollten wir heute nicht gefährden. Wir sollten hinter (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) diese Debatte auch nicht zurückfallen. Ich möchte noch etwas zu dem Argument sagen, dass Wenn hier immer wieder behauptet wird, dass es zu sich der Staat heraushalten soll. Der Gesetzgeber hat Haftstrafen oder Ermittlungsverfahren gegenüber Ärz- auch hier eine Schutzpflicht, die er meiner Meinung nach tinnen und Ärzten kommt, wenn man dem von mir un- nicht ignorieren kann; denn es ist nachweislich so, dass terstützten Gesetzentwurf von Brand, Griese, Vogler und die Sterbehilfevereine auch Menschen zu Sterbehilfe Terpe folgt, dann ist das schlicht falsch. verhelfen, die schlichtweg einsam sind, die – das wurde in der Hart aber fair-Sendung noch einmal belegt – mit (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) einem Trauerfall nicht zurechtkommen oder die schlicht (B) und ergreifend am Ende nicht mehr wissen, wie es wei- (D) Ich möchte an dieser Stelle dazu zwei Dinge sagen. Ers- tergeht, und Hilfe brauchen. Ja, sie brauchen Hilfe, aber tens. Die Straffreiheit der Suizidhilfe bleibt auch bei keine Sterbehilfe. Dass dies missachtet wird, ist nach- Brand/Griese unangetastet; das wurde schon erwähnt. weislich der Fall. Zweitens. Nun kommt die Verfeinerung der Argumenta- tion. Man sei sich nicht so sicher, hat Karl Lauterbach (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) gesagt. Ja, wer wäre das in dieser Frage? Er hat dafür Entschuldigung, aber vor dieser Entscheidung dürfen 140 Strafrechtler angeführt, die eine initiative Stellung- wir uns nicht drücken. Es ist deshalb keine Lösung, über nahme vor einem Jahr abgegeben haben. Zu diesem Zeit- keinen der Gesetzentwürfe abzustimmen. Es ist eine Il- punkt lag noch keiner der Gesetzentwürfe vor, über die lusion, zu glauben, wir könnten hinter diese anderthalb wir heute debattieren. Jahre andauernde Debatte zurück. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wer Verunsicherung schüren will, der kann das ganz ein- Denn nach den intensiven Diskussionen, die wir geführt fach tun, indem er eine allgemeine Stellungnahme des haben, bedeutete eine fehlende Mehrheit im Parlament Justizministers anführt, der, als ebenfalls auch eine Entscheidung und gäbe das Signal: Angebo- noch kein Gesetzentwurf vorlag, gesagt hat, es könnte te zum assistierten Suizid, ob Gewinnabsicht oder nicht, zu Abgrenzungsschwierigkeiten kommen. Ja! Und dar- sind gesellschaftlich akzeptiert, und der Suizid ist eine um haben wir uns im letzten Jahr bemüht, diese Abgren- akzeptable Antwort auf Schwäche, Hilflosigkeit und zungsschwierigkeiten zu beseitigen. Leid. Das kann man wollen – ich will es nicht. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich bitte an dieser Stelle, den Gesetzentwurf von Brand, Griese, Vogler und Terpe genau zu lesen. Hier Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: geht es darum, geschäftsmäßigen Suizid zu verbieten. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht Lisa Bei „geschäftsmäßig“ kommt es auf die Intention an. Paus. Wer Leiden lindern will, im Grenzfall seinem Gewissen folgt und Sterbehilfe leistet, fällt nicht unter das Krite- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rium der Geschäftsmäßigkeit; das hat Ruth Rissing‑van Saan in der Anhörung deutlich gemacht. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lie- be Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier heu- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) te für den Gesetzentwurf Hintze und Reimann. Ich bin Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13091

Lisa Paus (A) zu dieser Gruppe gewechselt, weil sie im vergangenen Sterben. Aber das ärztliche Standesrecht steht dem ent- (C) Jahr eine starke Entwicklung durchgemacht hat mit dem gegen. Ergebnis, dass dieser Gesetzentwurf tatsächlich der libe- ralste Gesetzentwurf ist, der heute zur Abstimmung steht. Was bekommt ein Todkranker normalerweise hier Für mich persönlich ist das auch der einzige Entwurf, der zu hören? Machen Sie sich keine Sorgen! Wenn es so wirklich die Lage der sterbenskranken Menschen in die- weit ist, dann wird man sich um Sie kümmern und Ihre sem Lande verbessern würde. Schmerzen lindern. – Oder er bekommt von den Ärzten zu hören: Sie wissen, wenn ich Ihnen Tabletten gebe, Unser Gesetzentwurf, anders als die anderen Gesetz- dann verliere ich meine Zulassung. entwürfe, betrifft eben nicht das Strafgesetz; das Straf- recht hat bei diesem Thema einfach nichts zu suchen. Aber was eben passieren kann, wenn der Sterbehilfe- wunsch nicht gehört wird, das hat ein Bekannter von mir, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) selber Arzt, leider erleben müssen. Dieser Arzt arbeitete Unser Gesetzentwurf will stattdessen durch eine klei- jahrelang vertrauensvoll mit einer Mitarbeiterin zusam- ne Änderung im Zivilrecht schlichtweg mehr Rechtssi- men. Diese Mitarbeiterin – Ironie des Schicksals – be- cherheit für Ärzte schaffen. Die Ärzte werden ausdrück- kam eines Tages ebenfalls die Diagnose Lungenkrebs. lich vor dem Entzug ihrer ärztlichen Zulassung geschützt, Sie versuchte, mit ihm über Sterbehilfe zu sprechen. Er wenn sie Suizidbeihilfe bei Todkranken leisten. Gerade wehrte das Gespräch ab. Zwei Tage später wurde er an- der Redebeitrag von Frau Nahles hat noch einmal deut- gerufen, und ihm wurde mitgeteilt, dass die zuvor lebens- lich gemacht: Eigentlich verhandeln wir heute die Frage: lustige Frau mit einer Kugel im Kopf in der Wohnung Untergräbt es die gesellschaftliche Moral, wenn ein un- gefunden worden ist. Für diesen Arzt ist heute klar: Er heilbar Kranker Selbstmord begehen möchte, selbst wenn würde sich persönlich das nächste Mal anders entschei- er bestens palliativ versorgt wird? Sensburg, Brand/Grie- den. se und Frau Nahles beantworten diese Frage mit Ja, ich (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD] und beantworte diese Frage ganz klar mit Nein. Dr. Carola Reimann [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Es besteht leider die Gefahr, wenn der Gesetzentwurf Todkranke haben gerade auch das moralische Recht, von Brand und Griese durchkommt, dass diese Art von Suizid zu begehen. Wenn sie das wollen, dann verdienen Selbstmorden, wie der der Mitarbeiterin, wegen der vor- sie Anteilnahme und nicht, dass sie alleingelassen wer- gesehenen Strafverschärfung und der damit verbundenen den, gerade nicht von den Ärzten. Verunsicherung sogar noch öfter geschehen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Frau Nahles, es war genau eine Strafrechtlerin in der (B) gesamten Debatte im gesamten letzten Jahr, die gesagt (D) Ich bin in dieser Frage auch deswegen so vehement, hat: Es gibt kein Problem. weil ich wirklich davon überzeugt bin, dass eine ergeb- nisoffene ärztliche Beratung, die eine Unterstützung (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) beim Suizid nicht von vornherein durch Standesrecht Alle anderen Strafrechtler haben gesagt: Es gibt ein Pro- ausschließt, die Selbstmordrate nicht erhöhen, sondern blem. – Diese Verunsicherung wird eben dazu führen, sie sogar senken würde; denn nur in einem tabufreien, dass viel mehr Menschen alleingelassen werden. Dazu in einem offenen Arzt-Patient-Gespräch kann der Arzt kann man einfach nur klar mit Nein stimmen. wirklich die richtige Therapie für den Patienten finden. Vor allem kann der Arzt nur so die Depressiven von den (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Lebenssatten wirklich unterscheiden und den Depressi- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) ven helfen. Wenn Sie meiner Meinung sind, dass wir das Selbstbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- stimmungsrecht der Menschen auch und gerade im Ster- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) ben stärken sollten, dass ein Mehr an Selbstbestimmung unser Land nicht unmenschlicher, sondern menschlicher Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle von meinem macht, dann stimmen Sie auch mit Ja für den Antrag von Lebensgefährten berichtet, über seinen Umgang mit dem Hintze und Reimann. Sterben, nachdem er, der Nichtraucher, die Diagnose Lungenkrebs erhalten hatte. Die Selbstbestimmung bis Danke. zum Schluss nicht zu verlieren, das war für ihn zentral. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ihm hat die Gewissheit, im Zweifel über Tabletten zu verfügen, über drei Jahre und viele schwere Stunden hin- weggeholfen. Am Ende hat der Besitz dieser vermeint- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lichen Todestabletten, die er allerdings erst nach vielen Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Anton Versuchen von einem Arzt bekommen hatte, sogar sei- Hofreiter das Wort. nen Suizid tatsächlich verhindert; denn sie gaben ihm die Ruhe, die er brauchte, um sein Sterben zu akzeptieren. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich wiederhole das deswegen, weil der Fall meines Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Lebensgefährten, wie ich inzwischen weiß, kein Einzel- Kollegen! Wir debattieren heute darüber, wie viel Frei- fall ist; er ist im Gegenteil typisch für sehr viele unheilbar heit wir den Menschen in ihrer letzten Lebensphase las- Krebskranke und ihren gewünschten Umgang mit dem sen wollen. Ich plädiere dafür, dass wir als Gesetzgeber 13092 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dr. Anton Hofreiter (A) uns da so weit wie möglich zurücknehmen und den Men- fessoren ist anderer Meinung, und damit besteht das Ri- (C) schen ihre Selbstbestimmung überlassen. Ich kann ja das siko, dass es nicht ausgeschlossen ist. Argument verstehen, dass man die Sorge hat, dass Men- schen in den Tod gedrängt werden, weil es heißt: Man Deshalb bitte ich Sie, diesen Gesetzentwurf abzuleh- sollte niemandem mehr zur Last fallen. – Aber das steht nen und von den anderen Gesetzentwürfen dem Gesetz- doch heute überhaupt nicht zur Debatte. entwurf Künast/Sitte zuzustimmen. Wenn ich mir die einzelnen Gesetzentwürfe anschaue, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- stelle ich fest: Wir haben auf der einen Seite den Vor- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) schlag, alles so zu lassen, wie es ist. Dann gibt es ein unterschiedliches Ausmaß der Verschärfung: von To- Etwas Weiteres kommt hinzu. Frau Nahles sagte in ih- talverbot bis Abstufungen. Ich plädiere für den Antrag rer Rede: Ich will, dass dies so geregelt wird. – Ja, auch Künast/Sitte, der ganz klar davon spricht, dass wir den ich will bestimmte Regelungen in dem Bereich; aber ich Ärzten, den nahen Angehörigen und auch nichtgewerb- sehe nicht, dass wir Menschen entsprechende Regelun- lichen, nicht auf Gewinnerzielung gerichteten Vereinen gen aufdrücken sollten. Es war davon die Rede, dass die diese Möglichkeit geben sollen. Sterbehilfe nahen Angehörigen, Verwandten oder Ärzten überlassen bleiben soll. Wenn ich einmal in so einer Situ- Das heißt, die Befürchtungen, die geäußert wer- ation bin, möchte ich das nahen Verwandten oder einem den – dass alles viel schlimmer wird, dass die einzelnen Arzt als Vertrauensperson vielleicht nicht zumuten. Viel- Menschen unter Druck kommen –, halte ich angesichts leicht will ich, dass mich bei dieser letzten Handlung ein der Debatte und angesichts der Auswahl von Fragestel- Mensch unterstützt, der mir gerade nicht nahesteht. Mit lungen, die wir haben, für völlig ungerechtfertigt; denn welchem Recht nehmen wir als Gesetzgeber jemandem niemand will eine stärkere Liberalisierung, sondern man diese Entscheidungsfreiheit? Mit welchem Recht würden will entweder den Status quo oder unterschiedliche For- Sie oder würde die Mehrheit mir diese Entscheidungs- men der Verschärfung. Deswegen halte ich dieses Argu- freiheit nehmen? Ich kann keinen Schutzgrund erkennen, ment für nicht stichhaltig. der es rechtfertigt, mir diese Entscheidung zu nehmen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich bitte Sie deshalb eindrücklich: Lassen Sie es bei SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der den liberalen Gesetzentwürfen, die eine Klarstellung zur LINKEN) jetzigen Gesetzeslage und nicht die befürchtete Liberali- sierung zur jetzigen Gesetzeslage enthalten! Lassen wir Wenn wir die Frage angehen, wie wir den Menschen den Menschen in dem Bereich die Entscheidungsfrei- am besten helfen können, wie wir den Menschen am heit, und lassen wir sie entscheiden, ob sie diesen letzten (B) besten die Ängste nehmen können, dann zeigt sich: Wir Schritt einem nahen Angehörigen, einem Arzt, dem sie (D) brauchen eine gute Palliativmedizin und eine gute Hos- vertrauen, oder einer Fachperson in einem nicht auf Ge- pizversorgung. Da sind wir gestern einen guten Schritt winnerzielung ausgerichteten Verein überlassen wollen! vorangekommen. Aber wir brauchen auch deutliche Ver- Darum bitte ich Sie. besserungen der Zustände in den Pflegeheimen. Ich glau- be, da haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns. Das wird (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- klar, wenn man sich die Zustände in vielen Pflegeheimen SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der ansieht. LINKEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) (Beifall bei der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Es ist davon die Rede gewesen, insbesondere von Vertretern des Vorschlags Brand/Griese, dass ihnen zu Vielen Dank. – Michael Frieser hat als nächster Red- Unrecht vorgeworfen wird, dass sie die Ärzte krimina- ner das Wort. lisieren wollen. Dazu meine ich: Niemand wirft ihnen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und vor, dass sie die Ärzte kriminalisieren wollen. Aber wenn der SPD) man sich die Anhörung und die Auseinandersetzung, die es dabei gab, vergegenwärtigt, dann kommt man zu dem Schluss: Es ist offensichtlich umstritten – ich bin selbst Michael Frieser (CDU/CSU): kein Jurist, habe aber nachgelesen, was unterschiedliche Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Juristen darüber gesagt haben –, ob das durch diesen und Kollegen! Diese Debatte wird doch mit etwas mehr Gesetzentwurf passieren kann, wenn auch von Ihnen un- Verve und etwas mehr Emotionen geführt als noch die beabsichtigt. Bei so einer schwierigen Frage, finde ich, letzte. Wir alle versuchen, den notwendigen sittlichen dürfen wir nicht das Risiko eingehen, am Ende – wenn Ernst zu behalten. Ja, es geht um viel. Es geht um nicht auch von den Antragstellern unbeabsichtigt – zu einer weniger als um die Entscheidung: Bereite ich in diesem Kriminalisierung der Ärzte zu kommen. Land und in dieser Gesellschaft dem Tod den Weg, oder (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ausge- bereite ich einer Begleitung bis ans Ende des Lebens den schlossen!) Weg? Deshalb erlaube ich auch jede Form von Zuspit- zung. Manchmal muss man Dinge zuspitzen, damit Za- – Auch wenn Sie dazwischenrufen: „Das ist ausgeschlos- cken herausgemeißelt werden, damit wir uns darüber klar sen!“, Herr Brand: Eine ganze Reihe von Strafrechtspro- werden, worum es tatsächlich geht. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13093

Michael Frieser (A) Ich will für den Entwurf Brand/Griese für alle Kolle- irgendeiner Art und Weise ein Problem mit seiner Appro- (C) ginnen und Kollegen, die jetzt wirklich mit einer ganzen bation gehabt. Reihe von Wissenschaftlern aus sämtlichen Disziplinen (Michael Brand [CDU/CSU]: So ist es!) über fast eineinhalb Jahre gerungen haben, doch noch einmal ein paar Dinge geraderücken, weil wir sagen müs- Nicht in einem einzigen Fall! Auch wenn Sie immer wie- sen: Es wird schon auch mit Absicht Verunsicherung ge- der anderes behaupten; es wird nicht wahrer. Ich stelle streut. – Gerade dieser Absicht muss man entgegentreten. mir schon die Frage: Wozu diese Versuche der Verunsi- cherung? Man könnte stolz darauf sein, dass wir die Zeit heute fast nur mit der Diskussion über unseren gemeinsamen Wir reden heute auch über Gesetzentwürfe, die eine Entwurf verbringen. Das ist schon auch etwas, was wir aktive Sterbehilfe in diesem Land zulassen wollen. Akti- als Debattenbeitrag gutheißen können. Aber man muss ve Sterbehilfe – am Ende steht die Tötung auf Verlangen noch einmal deutlich machen: Die straffreie Beihilfe, die und deren Legalisierung. Das ist unsere große Angst. Wir wir in diesem Land als wichtig erkannt haben, bleibt ge- spüren in den Diskussionen den Druck auf unsere Gesell- nau so, wie sie ist. An dieser Stelle wird und darf sich schaft und wissen: Wir müssen reagieren, weil es nicht nichts ändern, egal, wie oft das hier anders behauptet nur im benachbarten Ausland, sondern auch bei uns im wird. Land Vereine und Verbände gibt, die uns diesen Druck auferlegen. Diese Diskussion ist nicht am Ende; sie wird (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der weitergeführt. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE Wir haben alle Wege geprüft und kommen zu dem LINKE]) Ergebnis: Wenn wir chirurgisch präzise diese Aufgabe lösen wollen, ist das Strafrecht an dieser Stelle der ein- Es wird keine Kriminalisierung von Ärzten geben, zige Weg, leider kein anderer. Ich kann nur noch einmal nicht nur weil wir sie nicht wollen, nicht nur weil wir der sagen: Alle Voraussetzungen müssen kumulativ gegeben Auffassung sind, dass das der falsche Weg ist, sondern sein. Jemand, der hilft, muss es in der Absicht tun. Das weil es um ein intimes Verhältnis geht, zwischen dem Tun muss auf Wiederholung angelegt sein; es muss zum Patienten, dem Sterbenden, und seinem Arzt und seinen Inhalt der Beschäftigung gehören. – Am Ende dieses Pro- nahen Angehörigen. Sie wird es deshalb nicht geben, zesses muss ich sagen: Mit diesem Gesetzentwurf wer- weil wir eine ganze Skala an Voraussetzungen haben, die den wir genau diejenigen treffen, die wir treffen wollen, kumulativ zusammenwirken müssen, damit diese Frage und zwar konsensual in diesem Haus. Deshalb sind die überhaupt aufkommen kann. Widersprüche etwas konstruiert. (B) Das entscheidende Kriterium der Geschäftsmäßigkeit Liebe Kolleginnen und Kollegen, Nein ist heute keine (D) kann man sicherlich neu zu definieren versuchen; aber es Option. Nichtstun ist der falsche Weg; denn dann berei- ist in der deutschen Rechtsordnung definiert. ten wir den Verbänden, den aggressiven Vereinen, die Tod auf Bestellung anbieten, den Weg. Sagen Sie mit uns (Zustimmung des Abg. Michael Brand [CDU/ gemeinsam Ja für ein wirklich lebenswürdiges Leben bis CSU]) ans Ende, eine Begleitung bis ans Ende! Sagen Sie Nein dazu, dass der Tod auf Bestellung zum Normalfall in die- Es muss alles zusammenkommen: Es muss ein auf Wie- sem Land wird. derholung angelegtes Tun sein, Vielen Dank. (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Ange- legt! Das ist wichtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Elisabeth Scharfen- und es muss der Inhalt der Beschäftigung sein, des Arztes berg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) oder einer anderen Person. Das ist genau der Punkt. Bei uns steht gerade nicht der Arzt im Zentrum, sondern die Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: aggressiven Vereine, diejenigen, die den Tod auf Bestel- Vielen Dank. – Burkhard Lischka hat als nächster lung anbieten. Gerade deshalb geht es nicht um Krimi- Redner das Wort. nalisierung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE] und Elisabeth Scharfenberg Burkhard Lischka (SPD): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- ben in den letzten Monaten eine sehr intensive Debatte Ich erlaube mir, hier schon auch deutlich zu sagen: geführt – das ist mehrfach gesagt worden – über das Le- Alle genannten Einzelfälle, die hier mit sehr viel emoti- ben, über den Tod, über unser Lebensende und das Ster- onaler Beteiligung des Einzelnen, die ich niemals in Ab- ben. Wir haben danach gefragt, in welcher Gesellschaft rede stellen will, zitiert werden, sind nach unserem Ge- wir eigentlich leben wollen, wie selbstbestimmt und setzentwurf, nach dem Entwurf Brand/Griese, in keiner damit auch wie eigenverantwortlich. Was wollen wir ei- Weise auch nur annähernd strafrechtlich relevant oder gentlich, wenn wir an einen Punkt kommen, an dem wir Grenzfälle. Kein einziger! Kein einziger Arzt in diesem sagen: „Ich kann nicht“? Welche Schmerzen sind ertrag- Land hat bei der Frage der Begleitung zum Tod jemals in bar und für wie lange? Wollen wir das allen Menschen 13094 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Burkhard Lischka (A) vorschreiben, und ist das Strafrecht das taugliche Mittel, diesem Wunsch aufzuzeigen. Versperren Sie heute nicht (C) das vorzuschreiben? diesen Weg! Darum hat uns, den Gesetzgeber, niemand gebeten – kein Arzt, kein Angehöriger und erst recht kein Über den Tod nachzudenken, über den eigenen oder Patient. den eines geliebten Menschen, ist nicht leicht. Diese Debatte hat mir gezeigt, dass es auch keine einfachen (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Antworten gibt, im Gegenteil. Bei mir ist in den letzten Wochen und Monaten mehr und mehr die Erkenntnis gewachsen, dass es gerade beim Thema Sterbehilfe kein Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Richtig oder Falsch, kein Schwarz oder Weiß gibt. Es Vielen Dank. – Dr. Eva Högl hat als nächste Rednerin sind die Zwischentöne, die zählen. Ich bin mir eigent- das Wort. lich nur sicher, dass sich individuelle Notsituationen am Lebensende nicht schematisch regeln lassen. Ich weiß ja (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nicht einmal für mich selbst, für mich persönlich, wie ich CDU/CSU) mich entscheiden werde, wenn ich einmal in eine solche Notsituation komme. Soll ich das dann heute allen ande- Dr. Eva Högl (SPD): ren Menschen per Bundesgesetzblatt vorschreiben? Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Kollegen! Jeder Mensch kann frei entscheiden, sein Le- Ich weiß heute nur eines: Es wird eine sehr, sehr schwie- ben zu beenden. Das ist nicht schön; aber es gibt kei- rige Entscheidung, wenn mein Weiterleben einmal zur nen Zwang zum Leben. Wenn Menschen sterben wollen, Qual werden sollte. Es wird eine Entscheidung, die so dann formulieren sie diesen Wunsch häufig, weil sie ein oder so viel Mut voraussetzt, und es ist letztlich eine Ge- sehr hohes Alter erreicht haben, weil sie an einer schwe- wissensentscheidung für mich, für meine Angehörigen ren, unheilbaren Krankheit leiden, weil sie Angst haben und für den Arzt, der mich behandelt. Deshalb, liebe Kol- vor Schmerzen, vor Einsamkeit oder davor, anderen leginnen und Kollegen, möchte ich Sie heute nur um ei- Menschen, insbesondere Angehörigen, zur Last zu fallen. nes bitten: Versperren Sie den Menschen nicht diese Ge- Deswegen muss es unser gemeinsames Bestreben sein, wissensentscheidung, nicht mit Mitteln des Strafrechts! am Lebensende bei schweren Krankheiten das Allerbeste für diese Menschen zu tun, Ängste zu nehmen, Sorgen (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) und Nöte ernst zu nehmen. Aber wir dürfen auf diese Seit 1831 verzichtet Bayern und seit 1851 Preußen auf Sterbewünsche auf keinen Fall damit reagieren, dass wir jegliche strafrechtliche Sanktion bei der Selbsttötung. den Tod als Dienstleistung anbieten. (B) Das war klug, und dabei sollten wir es belassen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ärzte haben einen großen Freiraum. Sie müssen den CDU/CSU) Willen der Patientinnen und Patienten berücksichtigen, Um noch eines möchte ich Sie heute bitten: Setzen Sie und sie tun das auch: Sie unterlassen Behandlungen, sie Ärzte nicht der Gefahr strafrechtlicher Ermittlungen aus. nehmen sie gar nicht erst auf. Sie müssen Behandlungen abbrechen, wenn der Patient das nicht mehr möchte, und (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ sie dürfen sogar Behandlungen aufnehmen, die schnel- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ler zum Tod führen, als es ohne Behandlung der Fall NEN sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE wäre. – Die Ärzte haben also einen großen Spielraum, LINKE]) und die Patientinnen und Patienten verfügen über eine Das ist das Allerletzte, was wir bei diesem Thema brau- größtmögliche Selbstbestimmung. Genau das wollen wir chen. alle erhalten. Die Intensivmedizin hat die Grenze zwischen Leben Mit dem Gesetzentwurf Brand/Griese, für den ich und Tod in den letzten Jahren unscharf werden lassen. spreche, sollen nur diejenigen bestraft werden, die es Sterbende, so scheint es mir manchmal, dürfen nicht darauf anlegen, wiederholt Suizidbeihilfe zu betreiben. mehr sterben. Nur: Das Weiterleben kann dann grausam Gemeint sind Sterbehilfevereine und Einzelpersonen, die sein, und nicht jedes Sterben in unserem Land ist dann die Förderung des Suizids anderer bewusst und gewollt würdig. Daran ändert auch die Palliativmedizin nichts. zum regelmäßigen Gegenstand ihrer Tätigkeit machen. Der angstfreie, schmerzlose und sanfte Tod ist eben nicht Genau darum geht es. nur eine Frage der richtigen Technik. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Ich bin schon ein wenig erstaunt und auch ein bisschen NEN) erschüttert, mit welchen Unterstellungen und mit wel- Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dass todkranke cher Kampagne auf unseren Gesetzentwurf reagiert wird. Menschen ihren Verfall nicht bis zum Allerletzten durch- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) leiden müssen. Sie brauchen auch künftig einen An- sprechpartner, einen Arzt, an den sie sich wenden können Ärztinnen und Ärzte lindern Schmerzen und Leiden. und der zunächst einmal ihren Todeswunsch respektiert, Aber der Beruf des Arztes ist nicht darauf ausgelegt, der allerdings auch kompetent ist, ihnen Alternativen zu Menschen den Tod zu bringen. Wer hilft und Leiden lin- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13095

Dr. Eva Högl (A) dert, ist und bleibt straffrei – auch nach dem Gesetzent- Was aber auch nicht geht, liebe Kolleginnen und Kol- (C) wurf Brand/Griese. legen, ist Folgendes: Wir sind der Deutsche Bundestag, wir sind der Gesetzgeber. Für mich ist heute viermal (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Nein als Beendigung einer zweijährigen Debatte über- Ein paar Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf von Pe- haupt keine Alternative. Wir brauchen eine gesetzliche ter Hintze und anderen. Er verspricht viel und hält nichts. Regelung. Er verspricht Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ und kann diese gar nicht bieten; denn die vorgesehenen CSU und der LINKEN sowie der Abg. Clau- Regelungen können wir hier im Deutschen Bundestag dia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE überhaupt nicht verabschieden, weil wir dafür gar keine GRÜNEN]) Gesetzgebungskompetenz haben. Im Gesetzentwurf ist von einem Freiraum für Ärzte die Rede. Wenn Sie sich Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie den Gesetzent- das aber genau anschauen, dann stellen Sie fest, dass in wurf Brand/Griese und andere. Wahrheit der bereits vorhandene Spielraum der Ärztin- Vielen Dank. nen und Ärzte ganz entscheidend eingeschränkt wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der CDU/CSU sowie der Abg. Claudia Roth Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Er nimmt Ärztinnen und Ärzten die Handlungsmöglich- keiten. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dr. Katarina Ein weiterer Gesichtspunkt ist mir sehr wichtig. Der Barley das Wort. Gesetzentwurf fingiert Selbstbestimmung von Menschen und unterscheidet – das ist nach unserer Verfassung sogar (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der unzulässig – nach dem Lebenswert der einzelnen Person. CDU/CSU) Einzelne sollen Sterbehilfe von Ärztinnen und Ärzten bekommen, anderen wird das verwehrt. Das ist mit unse- Dr. Katarina Barley (SPD): rem Rechtssystem überhaupt nicht vereinbar. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ legen! Liebe Gäste! Wir stimmen heute über vier Gesetz- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- entwürfe ab, drei davon im Bereich des Strafrechts, einer NEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE im Bereich des Zivilrechtes; das haben wir schon gehört. (B) LINKE]) (D) Auch ich werde mich zunächst mit dem Gesetzent- Das ist ein absolut untauglicher Regelungsvorschlag. Er wurf Brand/Griese auseinandersetzen, weil ich ihn für verspricht, was er nicht halten kann. Deswegen wundert hochproblematisch halte. Ich will Ihnen auch sagen, wa- mich in dieser Debatte heute fast gar nicht, dass niemand rum. Es geht immer um die Kriminalisierung der Ärzte. mehr für diesen Gesetzentwurf wirbt, sondern nur noch Auch ich unterstelle nicht, dass die Autoren das wollen. versucht wird, unseren Gesetzentwurf zu verhindern. Aber schauen Sie sich bitte einmal den Wortlaut an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Volker Kauder [CDU/CSU]: Reden Sie doch CDU/CSU sowie der Abg. Claudia Roth über Ihren!) (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Über den Begriff der Geschäftsmäßigkeit hat die Kol- Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr wahr!) legin Brigitte Zypries bereits etwas gesagt. Es gibt aber Unser Gesetzentwurf – Brand/Griese und andere – hat noch einen anderen Punkt. Das Problem liegt in der als entscheidenden Gesichtspunkt, dass es keinen Zwang Formulierung, dass einem anderen geschäftsmäßig Su- gibt, sich für den Tod und gegen das Leben zu entschei- izidbeihilfe geleistet wird. Das muss in der Absicht ge- den. Es ist ein Gesetzentwurf, der den Freiraum und die schehen, die Selbsttötung eines anderen zu fördern. So Selbstbestimmung aller betroffenen Menschen und auch steht es im Gesetzentwurf. Darauf habe ich die Verfasser der Ärztinnen und Ärzte erhält. Wer aber das unsägliche dieses Gesetzentwurfs sehr frühzeitig hingewiesen. Das Treiben der Sterbehilfevereine und auch Einzelner unter- heißt, bestraft wird die auf Wiederholung angelegte Sui- binden will, der darf Sterben nicht als Dienstleistung an- zidbeihilfe, aber ausgeführt worden sein muss sie nur an bieten. Dafür braucht es das Strafrecht, liebe Kolleginnen einem anderen. Das ist der entscheidende Punkt; denn und Kollegen. spätestens beim zweiten Mal muss geprüft werden, ob Geschäftsmäßigkeit vorliegt. Womöglich genügt es sogar (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ schon, wenn Sie einen Arzt haben, der öffentlich bekun- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- det, dass er Sterbehilfe richtig findet, dass er bereit ist, NEN) das zu tun. Dann haben Sie einen ersten Verdachtsfall. Ich will nicht sagen, dass derjenige dann verurteilt wird; Ja, wir nehmen das Strafrecht in die Hand. Ja, das ist ein aber ganz sicher wird in diesem Fall die Staatsanwalt- scharfes Schwert. Aber ohne Strafrecht geht es nicht. Wir schaft tätig. Das muss sie, weil es dem Gesetzeswortlaut haben in den letzten anderthalb Jahren wirklich sorgfältig entspricht. Daran kommen Sie nicht vorbei. geprüft, ob wir ohne das Strafrecht auskommen, und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das nicht geht. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) 13096 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dr. Katarina Barley (A) Ich vermute, dass Sie mit dem Element der Absicht Vielen Dank. (C) diejenigen herausnehmen wollten, die Palliativ- und Hospizmedizin betreiben. Das ist auch gut und richtig (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) so. Aber diejenigen Ärzte, die ganz bewusst sagen: „In diesem Einzelfall möchte ich meinem Patienten helfen; Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ich sehe die existenzielle Not, in der er sich befindet, und Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Dr. Maria wir haben gemeinsam im ArztPatientVerhältnis alles ver- Flachsbarth das Wort. sucht, alle Möglichkeiten der Behandlung, alle Möglich- keiten der Hospiz- und Palliativversorgung besprochen; wir sind gemeinsam der Meinung, dass es keinen besse- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): ren Weg gibt“, treffen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf. Ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! halte das für fatal, weil wir dann keine Ärzte mehr finden, Tod und Sterben sind schrecklich – immer. In ihrem Ab- die sich so für ihre Patienten einsetzen. solutheitsanspruch zerstören sie alle Gewissheiten und Beziehungen des täglichen Lebens. Glücklich ist, wer im (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Glauben Trost und Halt finden kann. Grundsätzlich muss ich sagen: Bis auf den Gesetzent- wurf Sensburg, dem ich ganz grundsätzlich nicht zustim- Bis zuletzt selbstbestimmt zu leben, meine Ange- men kann, merkt man allen Gesetzentwürfen an, dass die hörigen und mich selbst vor vermeidbarem Leid und Autoren bestimmte Einzelfälle im Kopf hatten, die sie Schmerz zu bewahren, ist doch ein nur allzu verständli- regeln wollten, die sie erlauben oder verbieten wollten. cher Wunsch aller Menschen. Auch wenn diese Debatte Das ist nie gut, wenn man ein Gesetz macht. Wenn man sich um den assistierten Suizid dreht, so lassen Sie mich ein Gesetz schafft, um einen konkreten Fall, den man vor doch zunächst die bereits bestehenden, rechtlich mögli- Augen hat, zu regeln, dann besteht die Gefahr, dass man chen Instrumente aufführen, im Rahmen derer die Ge- damit auch Fälle erfasst, die man nicht erfassen möchte. staltung des letzten Lebensabschnittes selbstbestimmt Das kann man nicht immer verhindern. Aber weil das so möglich ist. ist, muss man auf dem Gebiet des Strafrechts ganz beson- Solange der Patient oder die Patientin bei klarem Be- ders vorsichtig sein und darf zu diesem scharfen Schwert wusstsein ist, kann er oder sie ohnehin frei für sich be- schlichtweg nicht greifen. stimmen, welche Therapien begonnen, fortgeführt oder (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) auch abgebrochen werden sollen. Mein eigener Vater hat schon vor über 20 Jahren den Abbruch einer Therapie Mit Blick auf die Uhr will ich zum Entwurf Hintze/ verfügt und ist in der Folge nach wenigen Wochen ge- Reimann nur noch wenige Sätze sagen. Es wird immer (B) storben. Für den Fall der eigenen Entscheidungsunfähig- (D) gesagt, er sei verfassungswidrig, weil wir nicht die Ge- keit gibt es die Vorsorgevollmacht und die Patientenver- setzgebungskompetenz haben. Ich halte das für falsch. fügung zur Festlegung von Therapiegrenzen. Aus welchen Gründen? Braucht es vor diesem Hintergrund eigentlich die Bei- Erstens. Ich glaube, dass damit nicht wir unsere Zu- hilfe zum Suizid als alltägliche Dienstleistung zur wür- ständigkeiten überschreiten, sondern dass die Ärztekam- digen Bewältigung des letzten Lebensabschnitts? Ich bin mern ihre Kompetenzen bei weitem überschritten haben. dezidiert der Meinung: Nein. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Wir sind durch unser Grundgesetz, Artikel 1 und 2, Das Standesrecht ist dazu da, die Rechtssituation der sowohl der Menschenwürde als auch der freien Selbstbe- Ärzte untereinander sehr niedrigschwellig zu regeln – da stimmung verpflichtet – auch im Sterben. Deshalb stelle geht es um Werbung und solche Dinge –; aber es ist de- ich auch nicht in Abrede, dass schwerstkranke Menschen finitiv nicht dazu da, um ein Thema zu regeln, mit dem im Einzelfall trotz guter palliativer Versorgung ihrem Le- sich der Deutsche Bundestag anderthalb Jahre lang be- ben bewusst ein Ende setzen wollen. Der Selbstbestim- schäftigt hat und bei dem wir das Abstimmungsverhalten mung kann es in einzelnen Fällen entsprechen, der Bitte zu einer Gewissensentscheidung erklären. eines Menschen nachzukommen, ihm zu helfen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Deshalb werden wir diese Ge- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause – wissensentscheidung nicht strafrechtlich bewerten. Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Aber Sie muten es ihnen zu!) Doch es ist und bleibt vordringliche Aufgabe des Staa- tes, das menschliche Leben und seine Unversehrtheit zu Zweitens. Es gibt im BGB ein Beispiel dafür, dass das schützen, wie Artikel 2 Satz 2 Grundgesetz es gebietet. geht. Die §§ 630 a BGB ff. enthalten ganz ausführliche Es geht deshalb nicht darum, alle auf eine bestimmte Regelungen zum Verhältnis von Arzt und Patienten, dazu, Weltanschauung zu verpflichten, auch wenn ich für mich was Ärzte tun müssen, worüber sie informieren müssen, selbst als Grundlage das Christentum nicht verleugnen was sie dokumentieren müssen. Das alles steht schon im will. Es geht vielmehr darum, als weltanschaulich neu- BGB; das ist überhaupt nicht das Problem. traler Staat das Grundrecht auf Lebensschutz wirksam Aus den Gründen, die ich Ihnen genannt habe, stimme zu garantieren. Ich bin überzeugt, dass diese staatliche ich für den Entwurf Hintze/Lauterbach. Wenn er nicht Verpflichtung besonders in den verletzlichen Phasen durchkommen wird, werde ich zu allen Entwürfen, die des Lebens gilt. Nach vielen Gesprächen im letzten Jahr sich auf dem Gebiet des Strafrechts bewegen, Nein sa- habe ich immer wieder von Ärzten und in der Hospiz- gen. und Palliativmedizin tätigen Menschen gehört, dass die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13097

Parl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth (A) allermeisten schwer leidenden Patienten zwar nicht mehr Erstens. Palliative Sedierung ist vom so geforderten (C) leiden, aber sehr wohl leben wollen. Verbot nicht betroffen, sondern steht genauso wie bis- lang als ärztliche Maßnahme zur Verfügung, um einen (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Richtig!) Menschen am Lebensende von Schmerzen und Leid zu Diesen Menschen und ihren Angehörigen beizustehen, entlasten. sie auf ihrem schweren Weg medizinisch kompetent und Zweitens. Personen, die als Angehörige oder auch als menschlich einfühlsam zu begleiten, das ist Anliegen des Ärzte in den fraglichen Einzelfällen einem Menschen hel- Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativ- fen, in Selbstbestimmung sein Leben zu beenden, werden versorgung, das wir gestern verabschiedet haben – ein durch dieses Gesetz nicht kriminalisiert; darauf ist mehr- absolut wichtiger und notwendiger Schritt. Wir werden fach hingewiesen worden. Bei der Anhörung wurde ganz uns in Zukunft noch intensiver um die Suizidprävention klar definiert: willentlich, auf Wiederholung angelegtes kümmern müssen; denn gerade denjenigen Menschen, Handeln – das meint der Begriff der Geschäftsmäßigkeit. die verzweifelt, schwerstkrank, einsam oder lebensmüde sind, müssen wir als humane Gesellschaft doch andere Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf Angebote unterbreiten als die Beihilfe zu einem Suizid. Brand/Griese/Vogler/Terpe wird sowohl dem Lebens- schutz als auch der Selbstbestimmung gerecht. Deshalb (Beifall der Abg. Kathrin Vogler bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. [DIE LINKE]) Herzlichen Dank. Die Entwicklungen in den Niederlanden und in Belgi- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) en in den letzten Jahren sind höchst besorgniserregend. Professor Boer gehörte bis 2014 der niederländischen Kontrollkommission an und berichtet nun, dass Suizid- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: beihilfe und sogar Tötung auf Verlangen dort eben längst Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Halina nicht mehr nur ein letzter Ausweg aus schwerem Leiden ­Wawzyniak das Wort. bei aussichtsloser körperlicher Krankheit sind. Zudem sind die Zahlen der assistierten Suizide und der Suizide (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der allgemein in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Die CDU/CSU und der SPD) Zahl der Suizide sinkt eben nicht, wenn, wie manchmal suggeriert wird, der assistierte Suizid rechtlich möglich Halina Wawzyniak (DIE LINKE): und damit gesellschaftsfähig wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen eine Debatte, die sehr von persönlichen Er- (B) Ich habe die Sorge, dass, wenn Suizid und die Beihilfe (D) dazu zu einer scheinbar selbstverständlichen Option am fahrungen geprägt ist. Ich möchte nicht Richterin sein Lebensende würden, sich dann Menschen, die – egal in über die individuelle Entscheidung, die hier Kolleginnen welcher Lebensphase – auf Hilfe angewiesen sind, wo- und Kollegen getroffen haben. Ich habe Respekt vor jeder möglich eines Tages dafür rechtfertigen müssen, diesen Entscheidung, die hier getroffen wird. Ich maße mir nicht Schritt nicht zu gehen. Das ist für mich eine humane Ka- an, Kolleginnen und Kollegen, die eine Entscheidung ge- tastrophe. troffen haben, vorzuwerfen, sie seien unverantwortlich, inhuman, unethisch. Ich glaube, alle, die hier entschei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den, haben sich sehr gut überlegt, wie sie entscheiden. der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) LINKE]) Meine Entscheidung heute orientiert sich an der Ich werbe dafür, das Verbot der geschäftsmäßigen Frage: Wie sichern wir eine freie, eine autonome, eine Formen der Suizidbeihilfe heute gesetzlich zu regeln. selbstbestimmte Entscheidung? Denn es stimmt: Jeder Das ist absolut notwendig – das zeigen die Debatten der Mensch genießt eine umfassende Dispositionsfreiheit im letzten zwölf Monate –; denn sonst würden wir den Ster- Hinblick auf das eigene Leben. Deswegen müssen wir behilfeorganisationen einen Persilschein ausstellen. fragen: Wie können wir diese freie, autonome, selbstbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stimmte Entscheidung sichern? der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE Es gibt eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen, LINKE]) die gar nicht entscheiden und mit Nein stimmen wollen. Meine Entscheidung wäre das ausdrücklich nicht; denn Der beste Weg dazu ist meiner festen Überzeugung nach dann bleibt alles, wie es ist. Dann gäbe es zum Beispiel der Gesetzentwurf Brand/Griese. Durch das strafrechtli- nach wie vor die Sterbehilfevereine, und – Frau Sitte hat che Verbot geschäftsmäßiger Beihilfe zum Suizid wird es angesprochen – dann bestünde auch die Gefahr, dass wirksam verhindert, dass in unserem Land Suizidbeihilfe sich neue gründen. als scheinbar gängige Dienstleistung betrieben werden kann. Zugleich lässt er Ausnahmen in den bislang sehr (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) engen Grenzen und damit Raum für individuelle Suizid- beihilfe im absoluten Einzelfall zu. Ich selbst unterstütze den Gesetzentwurf Griese/ Brand, obwohl mir eine Lösung jenseits des Strafrechts Noch zwei Anmerkungen zum Schluss, um zwei viel, viel lieber gewesen wäre. Aber das Vereinsrecht ist Missverständnisse klarzustellen: glücklicherweise ein hohes Gut, und deswegen kann man 13098 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Halina Wawzyniak (A) einen Verein eben nur verbieten, wenn er gegen Strafge- nicht darauf angelegt, mit Wissen und Wollen die Selbst- (C) setze verstößt. tötung eines Dritten zu fördern. Zum Gesetzentwurf Griese/Brand ist hier vieles ge- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) sagt worden. Ich will zitieren, was darin steht: Wenn das Argument der Strafbarkeit nicht greift, Wer in der Absicht wird immer mit dem Staatsanwalt argumentiert. In der – über die ist hier heute noch gar nicht geredet worden – Anhörung hat Herr Thöns, einer der Ärzte, erklärt, dass Ermittlungen gegen ihn auf Anzeigen von Notärzten, die Selbsttötung eines anderen Angehörigen und in einem Fall sogar eines Bestatters beruhten – ganz ohne Gesetzentwurf und eben nicht ein- – also eines Dritten – fach einmal so. Was hier bisher keine Rolle gespielt hat, zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Ge- ist Folgendes: Staatsanwälte brauchen, um überhaupt legenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird tätig zu werden, tatsächliche Anhaltspunkte für ein Ein- ... bestraft. schreiten. Ein vager Verdacht reicht eben nicht, sondern es muss irgendetwas Handfestes sein. Dieses Handfeste Der Schutzzweck dieses Gesetzes ist für mich die muss sein, dass jemand die Absicht hat, mit Wissen und Sicherung der freien, autonomen und selbstbestimmten Wollen die Selbsttötung eines Dritten regelmäßig, qua- Entscheidung, si als Mittelpunkt seines Geschäftsinteresses, durchzu- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) führen. Das muss stehen. Das ist eine hohe Hürde. Ich glaube, diese hohe Hürde ist angemessen und sie ist er- Denn diese Selbstbestimmung ist nicht erst gefährdet, forderlich, um die freie, autonome und selbstbestimmte wenn ein kommerzielles, also ein gewerbsmäßiges Han- Entscheidung von Menschen über ihr Lebensende zu si- deln vorliegt. In einer auf Verwertung ausgerichteten Ge- chern. sellschaft entsteht ein Druck, sich zu rechtfertigen, schon frühzeitig – zum Beispiel, weil Kosten für die Pflege ver- Deswegen bitte ich um Zustimmung zum Gesetzent- ursacht werden –, wenn die Beihilfe zur Selbsttötung ein wurf Brand/Griese. normales Dienstleistungsangebot ist. Genau ein solches (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Dienstleistungsangebot möchte ich nicht, um der Selbst- bestimmung willen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Vielen Dank. – Als letzter Redner in der Debatte (B) Diese ethische Debatte ist zum Teil in eine juristische spricht Rudolf Henke. (D) Debatte umgekippt. Ich will es deswegen noch einmal sagen: Der Gesetzentwurf stellt unter Strafe, wenn je- Rudolf Henke (CDU/CSU): mand mit Wissen und Wollen – das ist Absicht: Wissen und Wollen – die Selbsttötung eines anderen, also einer Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Lie- dritten Person, fördert und dies geschäftsmäßig macht, be Kolleginnen und Kollegen! Frau Zypries hat daran dies also zum Mittelpunkt des Jobs macht. Dann ist das appelliert, sorgfältig zu arbeiten. Deswegen, liebe Frau strafbar – nicht mehr und nicht weniger. Dr. Barley, gestatten Sie mir einen Hinweis zu der Frage der Rechtmäßigkeit von Berufsordnungen von Ärztekam- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) mern. Das ist in den Bundesländern durch die jeweiligen Um ein paar Beispiele aus der Anhörung zu nehmen: Aufsichtsministerien zu prüfen, in Nordrhein-Westfalen Der Arzt, der einen Patienten übers Wochenende an eine also durch die Landesregierung von Nordrhein-Westfa- Morphiumpumpe anschließt und ihm die Möglichkeit len. Das Ergebnis dieser Prüfung ist dann eventuell eine der Regulierung der Dosis gibt, ist nach dem Gesetzent- Korrektur der Berufsordnung, wenn sie vom geltenden wurf nicht strafbar. Recht abweicht. Die Berufsordnung kann erst danach im Ministerialblatt veröffentlicht werden. Sie ist dann also (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) von der jeweiligen Landesregierung rechtlich geprüft. Er will es gerade nicht zu seiner Profession machen, mit Aber das ist nicht der zentrale Punkt. Der zentrale Wissen und Wollen die Selbsttötung eines Dritten zu för- Punkt ist die Frage: Müssen wir überhaupt etwas re- dern. geln? Ich habe jetzt viele gehört, die gesagt haben: Ei- gentlich regen sich bei uns inzwischen ein bisschen Ein weiteres Beispiel aus der Anhörung: Die Apothe- Zweifel. Der Deutsche Ethikrat und seine Vorsitzende kerin, die einer zu Depressionen neigenden Person Pen- sind schon erwähnt worden. Ich glaube, man muss zwi- tobarbital gibt, angeblich zum Einschläfern des schwer- schen der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats und dem kranken Hundes, macht sich nach dem Gesetzentwurf Deutschen Ethikrat differenzieren. Ich will aus einer im nicht strafbar. Sie hat nicht die Absicht, geschäftsmäßig Dezember 2014 vom Deutschen Ethikrat vorgelegten die Selbsttötung eines Dritten zu fördern. Ad-hoc-Empfehlung zitieren: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Eine Suizidbeihilfe, die keine ... Hilfe in tragischen Der Mediziner, der den Wunsch des Patienten, keine Ausnahmesituationen, sondern eine Art Normalfall Nahrung mehr zu sich zu nehmen, respektiert, ist nach wäre, etwa im Sinne eines wählbaren Regelange- dem Gesetzentwurf nicht strafbar. Seine Tätigkeit ist bots von Ärzten oder im Sinne der Dienstleitung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13099

Rudolf Henke (A) eines Vereins, wäre geeignet, den gesellschaftlichen davor haben, dass wir diese Entscheidung treffen, so wie (C) Respekt vor dem Leben zu schwächen. sie dort vorgeschlagen wird. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Natürlich kann man sagen, dass die Zahlen nicht ex- Eine letzte Bemerkung. Hier ist viel von autonomen, plodiert sind, seit Kusch und andere unterwegs sind. selbstbestimmten Entscheidungen die Rede gewesen. Ich Aber das hat doch auch damit zu tun, dass die Debatte bin mir nicht sicher, ob ein verstärktes Unterwegssein darüber, wie wir gesetzmäßig darauf reagieren müssen, von Suizidassistenten – das muss ja nicht jemand vom seit 2008 in der Politik geführt wird. Das hat natürlich Format eines Herrn Kusch sein; das kann ja morgen oder eine generalpräventive Wirkung gehabt; sonst wären übermorgen jemand ganz anderes sein – wirklich hilft, vielleicht mehr Vereine entstanden. Autonomie zu verteidigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich verrate Ihnen etwas: Ich habe als, ich glaube, 22- oder 23-Jähriger am Fenster gestanden und mich in einer Im Jahre 2010 hatte der Bundesgerichtshof die Frage Beziehungskrise gefragt: Was mache ich jetzt? – Wenn zu klären, ob sich ein Anwalt strafbar macht, der einer da einer gewesen wäre, der noch ein bisschen geschubst Mandantin, die weiß, dass ihre schwerkranke Mutter hätte, der das noch ein bisschen befördert hätte, dann nicht zeitlebens künstlich ernährt werden will, rät, den wäre ich vielleicht nicht mehr hier. Versorgungsschlauch durchzuschneiden. Der Bundesge- richtshof hat diesen Anwalt freigesprochen. Die Richte- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das kann man rin, die dafür gesorgt hat, dass der Bundesgerichtshof so doch nicht vergleichen!) geurteilt hat, Frau Rissing-van Saan, hat auch in der An- Unser Ziel muss sein, die Zahl erfolgreicher Suizide hörung zu diesem Thema Stellung genommen. Das sage weiter zu senken, aber nicht, das Vollbringen und Durch- ich nur, um einmal einzuordnen, wie sie hinsichtlich des führen von Suiziden zu erleichtern. Deswegen brauchen Strafrechts zu dieser Frage steht. wir keine Suizidassistenten, die den Hunderttausend, die (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie war die versuchen, einen Suizid durchzuführen – 10 000 erfolg- Einzige!) reich –, dafür noch eine zusätzliche Motivation und eine Erfolgsgarantie geben. Sie hat auch zu der Frage der Geschäftsmäßigkeit Bitte stimmen Sie mit mir für den Entwurf von Brand, Stellung genommen. Sie kommt in der Bewertung des Griese, Vogler und Terpe. Entwurfs von Brand/Griese zu dem Ergebnis: Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (B) Strafbar sollen solche Verhaltensweise ... jedoch nur (D) sein, wenn sie „geschäftsmäßig“ begangen werden, (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) was nach herkömmlichem strafrechtlichen Ver- ständnis ein auf Wiederholung angelegtes gleicharti- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ges Handeln und den Willen des Täters voraussetzt, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe damit dieses zu einem wiederkehrenden Bestandteil seiner die Aussprache und bedanke mich bei allen Rednerinnen beruflichen oder wirtschaftlichen Betätigungen zu und Rednern für die große Ernsthaftigkeit, mit der die- machen, ohne dass es dabei auf eine Gewinnerzie- se Debatte geführt worden ist. Wenn dabei Emotionen lungsabsicht ankäme. spürbar geworden sind, dann zeigt das doch eigentlich Sie ist in der Anhörung und in vielen weiteren Stel- nur, dass uns alle die Frage der Sterbebegleitung wirklich lungsnahmen mehrfach zu der Auffassung gekommen, zutiefst bewegt. dass die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs die Au- Bevor wir jetzt zu den Abstimmungen kommen, bitte tonomie von Ärzten, die in der Palliativmedizin oder in ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum der Hämatologie und Onkologie tätig sind, nicht bedroht. Abstimmungsverfahren. Ich bitte auch diejenigen, die (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) dies jetzt vielleicht zum zweiten Mal hören, trotzdem aufmerksam zuzuhören, weil wir ein sehr ungewöhnli- Anders wäre es auch nicht erklärbar, dass sich die Bun- ches Abstimmungsverfahren haben, bei dem wirklich desärztekammer und die Palliativorganisationen bis auf Aufmerksamkeit geboten ist. den heutigen Tag dafür einsetzen, eine solche Gesetzge- bung zu verabschieden. Zur Abstimmung stehen vier Gesetzentwürfe sowie ein Antrag zum Thema Sterbebegleitung. Es handelt sich Ich will nur daran erinnern, dass jemand wie Thomas um den Gesetzentwurf der Abgeordneten Michael Brand, Sitte, der in führender Rolle bei der Deutschen Pallia- Kerstin Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald Terpe und tivStiftung ist, einigen von uns noch in diesen Tagen weiterer Abgeordneter zur Strafbarkeit der geschäftsmä- einen Brief geschrieben hat, in dem es heißt: Ich habe ßigen Förderung der Selbsttötung, um den Gesetzentwurf keine Angst vor einem Verbot geschäftsmäßiger Selbst- der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, tötungshilfe. Im Gegenteil: Ich bin dafür, obwohl ich su- Dr. Karl Lauterbach, Burkhard Lischka und weiterer Ab- izidwillige Schwerkranke so berate, wie sie es wollen, geordneter zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebens- und ihnen so zur Seite stehe, wie sie es brauchen, so wie beendigung, um den Gesetzentwurf der Abgeordneten ich es derzeit mehr als einmal im Monat tue. – Er hat Renate Künast, Dr. Petra Sitte, Kai Gehring, Luise Amts- davor keine Angst. Dann sollten auch wir keine Angst berg und weiterer Abgeordneter über die Straffreiheit der 13100 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Hilfe zur Selbsttötung, um den Gesetzentwurf der Abge- Die weißen Stimmzettel werden gleich im Saal ver- (C) ordneten Dr. Patrick Sensburg, Thomas Dörflinger, Peter teilt. Nachdem Sie Ihren Stimmzettel erhalten haben, tra- Beyer, Hubert Hüppe und weiterer Abgeordneter über gen Sie bitte zunächst Ihren Namen einschließlich eines die Strafbarkeit der Teilnahme an der Selbsttötung so- eventuellen Ortszusatzes und ihre Fraktion deutlich les- wie den Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Sabine bar in Druckbuchstaben ein. ­Sütterlin-Waack, Brigitte Zypries, Matthias W. Birkwald und weiterer Abgeordneter mit dem Titel „Keine neuen (Heiterkeit im ganzen Hause) Straftatbestände bei Sterbehilfe“. – Jeder weiß, warum ich das sage. – Sie können, wie be- Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz reits dargelegt, einen der Gesetzentwürfe ankreuzen. Sie hat in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksa- können aber auch insgesamt mit „Nein“ stimmen oder che 18/6573 nur empfohlen, über die Gesetzentwürfe im sich insgesamt enthalten. Plenum einen Beschluss zu fassen, selbst aber keine in- Ungültig sind Stimmzettel ohne lesbare Namensanga- haltliche Empfehlung abgegeben. be, mit mehr als einem Kreuz oder ohne jegliches Kreuz. Zunächst findet die Abstimmung über die Gesetz- Nur die Abgabe eines mit Namen versehenen Stimmzet- entwürfe im Stimmzettelverfahren statt. Nur wenn kein tels, der natürlich lesbar sein muss, gilt als Nachweis der Gesetzentwurf angenommen wurde, kann im Anschluss Teilnahme an der Abstimmung. noch die Abstimmung über den Antrag stattfinden. Ich bitte jetzt die Plenarassistenten, die weißen Stimm- Bei dem Stimmzettelverfahren werden zunächst die zettel zu verteilen. Gleichzeitig bitte ich die Schriftfüh- vier Gesetzentwürfe gemeinsam zur Abstimmung ge- rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze stellt. Auf diesem Stimmzettel können Sie sich für einen einzunehmen. – Darf ich fragen, ob alle Plätze an den der Entwürfe entscheiden oder Ihr Kreuz bei „Nein ge- Urnen besetzt sind? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich genüber allen Gesetzentwürfen“ oder bei „Enthaltung die Abstimmung. gegenüber allen Gesetzentwürfen“ machen. Es darf also Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- nur eine Alternative angekreuzt werden. Die erforderli- me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. che Mehrheit für einen Entwurf ist erreicht, wenn dieser Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- mehr Jastimmen als die konkurrierenden Vorlagen zu- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu sammen zuzüglich der Neinstimmen auf sich vereinen beginnen. kann. Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der Abstimmung Falls kein Entwurf diese Mehrheit erhält, kommt es in unterbreche ich die Sitzung. (B) einem zweiten Abstimmungsgang zur Abstimmung über (D) die beiden bestplatzierten Gesetzentwürfe. Dieser würde (Unterbrechung von 12.24 bis 12.45 Uhr) ebenfalls mithilfe eines Stimmzettels durchgeführt. Sie können sich dann für einen dieser beiden Gesetzentwürfe Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: entscheiden oder Ihr Kreuz wiederum bei „Nein gegen- Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. über beiden Gesetzentwürfen“ oder bei „Enthaltung ge- genüber beiden Gesetzentwürfen“ machen. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- Erhält auch im zweiten Abstimmungsgang keiner der mung bekannt: Abgegeben wurden 602 Stimmzettel. beiden Gesetzentwürfe die erforderliche Mehrheit, müss- Ungültig waren 3; gültig waren 599. Auf den Gesetzent- te anschließend über den Gesetzentwurf mit dem besse- wurf Brand/Griese auf der Drucksache 18/5373 entfielen ren Ergebnis mit den üblichen Namensstimmkarten ent- 309 Stimmen. schieden werden. Würde dieser Gesetzentwurf nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, wäre auch (Lebhafter Beifall bei Abgeordneten im gan- dieser damit in zweiter Beratung abgelehnt. Eine dritte zen Hause) Beratung des Gesetzentwurfes entfiele dann. Auf den Gesetzentwurf Hintze/Reimann auf der Druck- Wird ein Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange- sache 18/5374 entfielen 128 Stimmen. Auf den Gesetz- nommen, kommt es sofort zur dritten Beratung, in der entwurf Künast/Sitte auf der Drucksache 18/5375 entfie- ebenfalls namentlich abgestimmt wird. len 52 Stimmen, und auf den Gesetzentwurf ­Sensburg/ Dörflinger auf der Drucksache 18/5376 entfielen37 Stim- Über die in zweiter Beratung ausgeschiedenen Ge- men. Mit Nein gegenüber allen Gesetzentwürfen haben setzentwürfe wird, wie bereits heute Morgen festgelegt 70 Mitglieder des Deutschen Bundestages gestimmt. worden ist, nicht mehr abgestimmt. Enthalten haben sich 3.2) Ich will noch darauf hinweisen, dass zur Abstimmung mehrere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsord- Ein Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenom- nung vorliegen.1) men, wenn er mehr Jastimmen als alle anderen Gesetz- entwürfe zusammen zuzüglich der Neinstimmen erhalten Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir hat. Der Gesetzentwurf Brand/Griese hat mehr Jastim- jetzt zum ersten Abstimmungsgang. Ich bitte Sie trotz- men als alle anderen Gesetzentwürfe zusammen zuzüg- dem, noch einmal einen kurzen Moment zuzuhören. lich der Neinstimmen erhalten und hat damit im ersten

1) Anlage 3 2) Endgültiges Ergebnis siehe Anlage 2 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13101

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Abstimmungsgang die erforderliche Mehrheit erhalten. schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe- (C) Er ist damit in zweiter Lesung angenommen. rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- nen. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Ich unterbreche die Sitzung bis zum Vorliegen des Wir kommen somit zur Ergebnisses der namentlichen Abstimmung und bitte die dritten Beratung Kolleginnen und Kollegen, so lange hierzubleiben, bis das Ergebnis dieser Abstimmung vorliegt. und Schlussabstimmung. Auch hier wurde namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf beantragt. Ich bit- (Unterbrechung von 12.53 bis 13.02 Uhr) te auch hier die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze an den Urnen einzunehmen. – Sind Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es ein Mitglied Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und des Hauses, das seine Stimme noch nicht abgegeben Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen hat? – Wir müssen noch ein wenig warten. Ich habe ge- Abstimmung zur dritten Lesung des Gesetzentwurfs zur hört, dass es noch einen kleinen Stau gibt. Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbst- tötung auf den Drucksachen 18/5373 und 18/6573 be- Ist jetzt noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das kannt: abgegebene Stimmen 602. Mit Ja haben gestimmt seine Stimme bisher nicht abgegeben hat? – Ein Kollege 360, hat seine Stimme noch nicht abgegeben. Dann bitte ich, das nun zu tun, und zwar mit der Stimmkarte. Noch ein- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) mal für alle: Jetzt wird mit der Stimmkarte abgestimmt. mit Nein haben gestimmt 233, enthalten haben sich Gibt es jetzt noch jemanden, der seine Stimme bis- 9 Kolleginnen und Kollegen. Damit ist der Gesetzent- her nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann wurf in dritter Beratung angenommen worden.

Endgültiges Ergebnis Dr. Ralf Brauksiepe Cemile Giousouf Alexander Hoffmann Abgegebene Stimmen: 602; Heike Brehmer Josef Göppel Karl Holmeier davon Ralph Brinkhaus Reinhard Grindel Franz-Josef Holzenkamp Ursula Groden-Kranich Dr. Hendrik Hoppenstedt (B) ja: 360 Cajus Caesar (D) nein: 233 Gitta Connemann Hermann Gröhe Margaret Horb enthalten: 9 Alexander Dobrindt Klaus-Dieter Gröhler Bettina Hornhues Michael Donth Michael Grosse-Brömer Charles M. Huber Ja Thomas Dörflinger Astrid Grotelüschen Anette Hübinger Marie-Luise Dött Markus Grübel Hubert Hüppe CDU/CSU Hansjörg Durz Manfred Grund Erich Irlstorfer Stephan Albani Dr. Bernd Fabritius Oliver Grundmann Thomas Jarzombek Katrin Albsteiger Hermann Färber Monika Grütters Dr. Thomas Feist Fritz Güntzler Dr. Franz Josef Jung Artur Auernhammer Enak Ferlemann Christian Haase Xaver Jung Dorothee Bär Dirk Fischer (Hamburg) Florian Hahn Bartholomäus Kalb Günter Baumann Axel E. Fischer Dr. Stephan Harbarth Hans-Werner Kammer Maik Beermann (Karlsruhe-Land) Gerda Hasselfeldt Steffen Kampeter Manfred Behrens (Börde) Dr. Maria Flachsbarth Matthias Hauer Anja Karliczek Sybille Benning Klaus-Peter Flosbach Mark Hauptmann Bernhard Kaster Dr. Andre Berghegger Thorsten Frei Dr. Stefan Heck Volker Kauder Dr. Christoph Bergner Dr. Astrid Freudenstein Dr. Matthias Heider Dr. Stefan Kaufmann Ute Bertram Dr. Hans-Peter Friedrich Helmut Heiderich Roderich Kiesewetter Peter Beyer (Hof) Mechthild Heil Dr. Georg Kippels Steffen Bilger Michael Frieser Frank Heinrich (Chemnitz) Volkmar Klein Clemens Binninger Dr. Michael Fuchs Uda Heller Jens Koeppen Dr. Maria Böhmer Hans-Joachim Fuchtel Rudolf Henke Markus Koob Wolfgang Bosbach Alexander Funk Michael Hennrich Carsten Körber Klaus Brähmig Ingo Gädechens Ansgar Heveling Hartmut Koschyk Michael Brand Dr. Thomas Gebhart Christian Hirte Michael Kretschmer Dr. Reinhard Brandl Alois Gerig Dr. Heribert Hirte Gunther Krichbaum Helmut Brandt Eberhard Gienger Robert Hochbaum Dr. Günter Krings 13102 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Rüdiger Kruse Martin Patzelt Dr. Volker Ullrich Hubertus Heil (Peine) (C) Bettina Kudla Dr. Martin Pätzold Oswin Veith Marcus Held Dr. Roy Kühne Sibylle Pfeiffer Thomas Viesehon Wolfgang Hellmich Günter Lach Eckhard Pols Michael Vietz Dr. Barbara Hendricks Uwe Lagosky Thomas Rachel Sven Volmering Dr. Eva Högl Dr. Karl A. Lamers Kerstin Radomski Kees de Vries Christina Jantz Dr. Norbert Lammert Alexander Radwan Dr. Johann Wadephul Josip Juratovic Katharina Landgraf Alois Rainer Marco Wanderwitz Oliver Kaczmarek Ulrich Lange Dr. Peter Ramsauer Nina Warken Arno Klare Barbara Lanzinger Eckhardt Rehberg Albert Weiler Lars Klingbeil Dr. Silke Launert Lothar Riebsamen Marcus Weinberg (Hamburg) Birgit Kömpel Paul Lehrieder Josef Rief Dr. Anja Weisgerber Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Katja Leikert Dr. Heinz Riesenhuber Peter Weiß (Emmendingen) Helga Kühn-Mengel Dr. Philipp Lengsfeld Johannes Röring Sabine Weiss (Wesel I) Christine Lambrecht Dr. Andreas Lenz Erwin Rüddel Karl-Georg Wellmann Christian Lange (Backnang) Philipp Graf Lerchenfeld Albert Rupprecht Marian Wendt Steffen-Claudio Lemme Dr. Ursula von der Leyen Anita Schäfer (Saalstadt) Waldemar Westermayer Gabriele Lösekrug-Möller Ingbert Liebing Dr. Wolfgang Schäuble Kai Whittaker Hiltrud Lotze Matthias Lietz Andreas Scheuer Peter Wichtel Kirsten Lühmann Dr. Carsten Linnemann Karl Schiewerling Annette Widmann-Mauz Dr. Birgit Malecha-Nissen Patricia Lips Norbert Schindler Heinz Wiese (Ehingen) Hilde Mattheis Wilfried Lorenz Heiko Schmelzle Elisabeth Winkelmeier- Bettina Müller Dr. Claudia Lücking-Michel Christian Schmidt (Fürth) Becker Michelle Müntefering Daniela Ludwig Gabriele Schmidt (Ühlingen) Oliver Wittke Karin Maag Ronja Schmitt Barbara Woltmann Dr. Rolf Mützenich Yvonne Magwas Patrick Schnieder Tobias Zech Andrea Nahles Gisela Manderla Nadine Schön (St. Wendel) Heinrich Zertik Dietmar Nietan Matern von Marschall Bernhard Schulte-Drüggelte Emmi Zeulner Thomas Oppermann (B) Hans-Georg von der Marwitz Dr. Klaus-Peter Schulze Dr. Matthias Zimmer Aydan Özoguz (D) Andreas Mattfeldt Uwe Schummer Gudrun Zollner Detlev Pilger Stephan Mayer (Altötting) Armin Schuster (Weil am Achim Post (Minden) Rhein) Reiner Meier SPD Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Michael Meister Detlef Seif Dr. Rainer Arnold Dr. Angela Merkel Johannes Selle Martin Rabanus Heike Baehrens Jan Metzler Reinhold Sendker Stefan Rebmann Ulrike Bahr Maria Michalk Bernd Siebert Andreas Rimkus Thomas Silberhorn Doris Barnett Dr. h.c. Hans Michelbach Dennis Rohde Johannes Singhammer Dr. Matthias Bartke Dr. Mathias Middelberg Dr. Martin Rosemann Dietrich Monstadt Jens Spahn Bärbel Bas René Röspel Karsten Möring Carola Stauche Burkhard Blienert Dr. Ernst Dieter Rossmann Volker Mosblech Dr. Frank Steffel Willi Brase Michael Roth (Heringen) Elisabeth Motschmann Dr. Wolfgang Stefinger Martin Burkert Susann Rüthrich Stefan Müller (Erlangen) Albert Stegemann Dr. Lars Castellucci Bernd Rützel Dr. Gerd Müller Peter Stein Siegmund Ehrmann Annette Sawade Dr. Philipp Murmann Erika Steinbach Petra Ernstberger Marianne Schieder Dr. Andreas Nick Johannes Steiniger Dr. Fritz Felgentreu Michaela Noll Christian Frhr. von Stetten Dr. Ute Finckh-Krämer Udo Schiefner Helmut Nowak Dieter Stier Christian Flisek Dr. Dorothee Schlegel Dr. Georg Nüßlein Rita Stockhofe Dagmar Freitag Ulla Schmidt (Aachen) Julia Obermeier Stephan Stracke Dagmar Schmidt (Wetzlar) Wilfried Oellers Max Straubinger Michael Gerdes Elfi Scho-Antwerpes Florian Oßner Matthäus Strebl Martin Gerster Dr. Tim Ostermann (Heilbronn) Iris Gleicke Rita Schwarzelühr-Sutter Henning Otte Dr. Peter Tauber Kerstin Griese Ingrid Pahlmann Antje Tillmann Uli Grötsch Peer Steinbrück Sylvia Pantel Dr. Hans-Peter Uhl Sebastian Hartmann Gabi Weber Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13103

(A) DIE LINKE Alois Karl Gabriele Groneberg Ursula Schulte (C) Jan van Aken Kordula Kovac Michael Groß Swen Schulz (Spandau) Sevim Dagdelen Antje Lezius Wolfgang Gunkel Ewald Schurer Annette Groth Dr. Jan-Marco Luczak Bettina Hagedorn Heike Hänsel Thomas Mahlberg Rita Hagl-Kehl Andreas Schwarz Andrej Hunko Marlene Mortler Metin Hakverdi Norbert Spinrath Ulla Jelpke Carsten Müller Ulrich Hampel Svenja Stadler (Braunschweig) Martina Renner Dirk Heidenblut Martina Stamm-Fibich Dr. Norbert Röttgen Kathrin Vogler Sonja Steffen Tankred Schipanski Heidtrud Henn Halina Wawzyniak Christoph Strässer Christina Schwarzer Gustav Herzog Jörn Wunderlich Kerstin Tack Tino Sorge Gabriele Hiller-Ohm Hubertus Zdebel Claudia Tausend Sebastian Steineke Petra Hinz (Essen) Pia Zimmermann Michael Thews Gero Storjohann Thomas Hitschler Dr. Karin Thissen Matthias Ilgen BÜNDNIS 90/ Thomas Stritzl Carsten Träger DIE GRÜNEN Lena Strothmann Frank Junge Rüdiger Veit Michael Stübgen Thomas Jurk Ute Vogt Volker Beck (Köln) Dr. Sabine Sütterlin-Waack Johannes Kahrs Dirk Vöpel Katrin Göring-Eckardt Astrid Timmermann-Fechter Ralf Kapschack Bernd Westphal Britta Haßelmann Arnold Vaatz Gabriele Katzmarek Dirk Wiese Bärbel Höhn Volkmar Vogel (Kleinsaara) Gülistan Yüksel Maria Klein-Schmeink Christel Voßbeck-Kayser Marina Kermer Dagmar Ziegler Stephan Kühn (Dresden) Kai Wegner Cansel Kiziltepe Stefan Zierke Markus Kurth Ingo Wellenreuther Dr. Bärbel Kofler Dr. Jens Zimmermann Dr. Tobias Lindner Dagmar G. Wöhrl Anette Kramme Manfred Zöllmer Beate Müller-Gemmeke Dr. Karl Lauterbach Brigitte Zypries Özcan Mutlu SPD Burkhard Lischka Dr. Konstantin von Notz Caren Marks Niels Annen DIE LINKE (B) Omid Nouripour Katja Mast (D) Ingrid Arndt-Brauer Dr. Dietmar Bartsch Cem Özdemir Dr. Matthias Miersch Heinz-Joachim Barchmann Herbert Behrens Claudia Roth (Augsburg) Klaus Mindrup Dr. Katarina Barley Karin Binder Corinna Rüffer Susanne Mittag Klaus Barthel Matthias W. Birkwald Manuel Sarrazin Detlef Müller (Chemnitz) Sören Bartol Elisabeth Scharfenberg Ulli Nissen Christine Buchholz Uwe Beckmeyer Kordula Schulz-Asche Mahmut Özdemir (Duisburg) Eva Bulling-Schröter Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Harald Terpe Markus Paschke Roland Claus Dr. Karl-Heinz Brunner Christian Petry Dr. Nein Edelgard Bulmahn Jeannine Pflugradt Petra Crone Sabine Poschmann Wolfgang Gehrcke CDU/CSU Bernhard Daldrup Joachim Poß Nicole Gohlke Peter Bleser Dr. Daniela De Ridder Florian Post Dr. Andre Hahn Norbert Brackmann Dr. Karamba Diaby Florian Pronold Dr. Rosemarie Hein Alexandra Dinges-Dierig Sabine Dittmar Dr. Simone Raatz Sigrid Hupach Iris Eberl Martin Dörmann Mechthild Rawert Susanna Karawanskij Jutta Eckenbach Elvira Drobinski-Weiß Gerold Reichenbach Kerstin Kassner Dr. Herlind Gundelach Michaela Engelmeier Dr. Carola Reimann Katja Kipping Olav Gutting Dr. h.c. Sönke Rix Jan Korte Jürgen Hardt Saskia Esken Petra Rode-Bosse Jutta Krellmann Mark Helfrich Karin Evers-Meyer Sarah Ryglewski Katrin Kunert Jörg Hellmuth Dr. Johannes Fechner Johann Saathoff Sabine Leidig Peter Hintze Elke Ferner Dr. Hans-Joachim Ralph Lenkert Thorsten Hoffmann Gabriele Fograscher Schabedoth Stefan Liebich (Dortmund) Dr. Edgar Franke Axel Schäfer (Bochum) Dr. Gesine Lötzsch Sylvia Jörrißen Ulrich Freese Dr. Nina Scheer Thomas Lutze Dr. Egon Jüttner Angelika Glöckner Matthias Schmidt (Berlin) Birgit Menz Steffen Kanitz Ulrike Gottschalck Carsten Schneider (Erfurt) Cornelia Möhring 13104 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Niema Movassat BÜNDNIS 90/ Tom Koenigs Hans-Christian Ströbele (C) Norbert Müller (Potsdam) DIE GRÜNEN Sylvia Kotting-Uhl Markus Tressel Dr. Alexander S. Neu Luise Amtsberg Oliver Krischer Jürgen Trittin Thomas Nord Kerstin Andreae Christian Kühn (Tübingen) Dr. Julia Verlinden Petra Pau Annalena Baerbock Renate Künast Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Richard Pitterle Marieluise Beck (Bremen) Monika Lazar Steffi Lemke Michael Schlecht Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Nicole Maisch Dr. Petra Sitte Enthalten Katja Dörner Peter Meiwald Kersten Steinke CDU/CSU Katharina Dröge Irene Mihalic Dr. Kirsten Tackmann Harald Ebner Friedrich Ostendorff Thomas Bareiß Azize Tank Dr. Thomas Gambke Lisa Paus Veronika Bellmann Dr. Axel Troost Matthias Gastel Brigitte Pothmer Ingrid Fischbach Alexander Ulrich Kai Gehring Tabea Rößner Axel Knoerig Harald Weinberg Anja Hajduk Ulle Schauws Andreas G. Lämmel Katrin Werner Dr. Anton Hofreiter Dr. Gerhard Schick Ulrich Petzold Birgit Wöllert Dieter Janecek Dr. Frithjof Schmidt Dr. Joachim Pfeiffer Sabine Zimmermann Uwe Kekeritz Dr. Wolfgang Jana Schimke (Zwickau) Katja Keul Strengmann-Kuhn Dr. Patrick Sensburg

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Damit entfällt die Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Keul/Sütterlin-Waack und weiterer Abge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Frauen starten qualifiziert ins Berufs- ordneter auf der Drucksache 18/6546. leben, und sie haben häufig auch die besseren Berufs- abschlüsse als Männer. Während der Ausbildung ist die Vizepräsidentin Petra Pau: Welt noch in Ordnung. Doch kaum sind die Prüfungen Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an unseren vorbei, geht es schon los, dass sie weniger verdienen als (B) weiteren Verhandlungen nicht mehr teilnehmen wollen Männer. Betroffene Mienen und Symbolpolitik bringen (D) oder können, uns zu helfen, die notwendige Aufmerk- uns hier kein Stück weiter. Es ist wirklich an der Zeit, samkeit herzustellen und Gespräche gegebenenfalls nach dass Frauen für das, was sie leisten, auch gerecht ent- draußen zu verlagern. lohnt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es frak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tionsübergreifende Gespräche gibt, bitte ich darum, diese und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten außerhalb des Plenums zu führen. Ansonsten bitte ich da- der SPD) rum, Platz zu nehmen. Seit Jahren diskutieren wir über diese Ungerechtigkeit Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: und müssen uns dabei auch allerlei Unsinn anhören. Ganz Schlaue meinen beispielsweise, Frauen sollten halt mehr Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate technische Berufe erlernen, dann würden sie auch mehr Müller-Gemmeke, Ulle Schauws, Dr. Franziska verdienen. Aber die Entgeltdiskriminierung ist nicht al- Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frakti- lein ein Nischenproblem der klassischen Frauenberufe, on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern sie zieht sich quer durch alle Beschäftigungsfel- Frauen verdienen gleichen Lohn für gleiche der. Natürlich verdient eine Bauingenieurin mehr als eine Altenpflegerin, aber – und hier liegt das Problem – sie und gleichwertige Arbeit verdient dennoch weniger als ihr männlicher Kollege. Drucksache 18/6550 Und das ist nicht akzeptabel. Überweisungsvorschlag: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) der SPD) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Federführung strittig Ein paar Zahlen bzw. Fakten: Frauen mit Hochschul- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für abschluss verdienen 24 Prozent weniger als Männer, die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Fachhochschulabsolventinnen sogar 28 Prozent. Zudem nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. bekommen Frauen weniger Urlaubsgeld, Weihnachts- geld und Gewinnbeteiligung, und sie werden seltener Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin befördert als Männer. Wie das in der Realität aussieht, Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die zeigen auch Beispiele, die bei der Antidiskriminierungs- Grünen. stelle des Bundes ankommen. Eine Geschäftsführerin Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13105

Beate Müller-Gemmeke (A) bekam beispielsweise weniger Bonus als ihr Kollege, recht und bürokratischem Aufwand ist für uns nicht ak- (C) obwohl sie die bessere Leistungsbeurteilung hatte. Auch zeptabel. eine Pastorin der Diakonie wurde benachteiligt. Und ein ganz krasses Beispiel: Eine Schlosserin klagte, dass sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Cornelia Möhring [DIE LIN- nur 11,50 Euro in der Stunde verdient, die Männer im KE]) gleichen Betrieb aber 19 Euro. Ihr Chef hatte damit aber überhaupt kein Problem und sagte ihr ins Gesicht, sie sei Sehr geehrte Damen und Herren von den Regierungs- nun einmal eine Frau und das würde alles erklären. Kurz- fraktionen, es besteht kein Mangel an Fakten, und doch um: Schlechter bezahlte Arbeit ist häufig noch immer existiert in Deutschland bis dato keine umfassende poli- Frauensache. Und damit muss endlich Schluss sein. tische Strategie, um den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ durchzusetzen. Aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genau solch eine Strategie ist notwendig; denn Entgelt- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten gleichheit ist keine Verhandlungssache, und Entgeltdis- der SPD) kriminierung ist auch kein individuelles Problem der Frauen, sondern ein gesellschaftliches Problem. Mit Darüber hinaus gibt es noch die sogenannte mittel- unserem Antrag liegt jetzt solch eine Strategie auf dem bare Entgeltdiskriminierung; denn es geht nicht allein Tisch. Werden Sie also endlich tätig! Denn Frauen ver- darum, dass Arbeit gleich bezahlt wird, sondern es geht dienen mehr. auch darum, dass gilt: Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Aber frauendominierte Berufe werden deutlich Vielen Dank. schlechter bezahlt als männerdominierte klassische In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dustrieberufe. Auf ein Berufsleben gerechnet, also auf sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 40 Jahre, beträgt beispielsweise der Lohnunterschied zwischen einer Erzieherin und einem Kfz-Mechaniker rund 211 000 Euro. Deshalb gingen auch die Streikenden Vizepräsidentin Petra Pau: aus den Sozial- und Erziehungsberufen in diesem Jahr zu Das Wort hat die Kollegin Ursula Groden-Kranich für Recht auf die Straße. Ihnen ging es um die längst über- die CDU/CSU-Fraktion. fällige Aufwertung ihrer Arbeit; denn Wertschätzung und (Beifall bei der CDU/CSU) Anerkennung sehen anders aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): (B) sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Cornelia Möhring [DIE LINKE]) Liebe Gäste! Im März durfte ich schon einmal zu Ihnen sprechen. Damals ging es um einen nahezu gleichlauten- Transparenz in großen Unternehmen zu schaffen, lie- den Antrag der Fraktion Die Linke. be SPD, ist als Lösung zu wenig. Da hilft auch kein schö- nes Bild mit roten Equal-Pay-Taschen. Wir fordern in un- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE serem Antrag hingegen echte, verbindliche Regelungen. GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Die Tarifpartner sollen zukünftig ihre Tarifverträge und Wie wir alle wissen, könnte jeder von uns eine ganze die Betriebe ihre nichttariflichen Entgeltstrukturen über- Reihe von Anträgen, Gesetzentwürfen und Initiativen al- prüfen, und zwar auf der Grundlage von geschlechtsneu- ler Fraktionen aus den letzten Jahren zur Entgeltgleich- tralen Kriterien und mithilfe eines analytischen Arbeits- heit ins Feld führen. Als Mitglied des Europaausschusses bewertungsverfahrens. Natürlich müssen festgestellte könnte ich dasselbe noch einmal mit europäischen Geset- Entgeltdiskriminierungen dann auch innerhalb einer Frist zen, Beschlüssen und Empfehlungen machen. Es besteht beseitigt werden. Die Antidiskriminierungsstelle des also, zumindest in der politischen Landschaft, durchaus Bundes soll für Stichproben eine Kontrollbefugnis er- kein Mangel an Aufmerksamkeit und teils guten, teils halten. Notwendig sind Sanktionen, vor allem auch ein weniger guten Denkansätzen. Verbandsklagerecht; denn wir brauchen ein wirksames Gesetz und keinen zahnlosen Tiger. Wir haben ein AGG, wir haben ein Grundgesetz, das Diskriminierung verbietet, und wir haben Gewerkschaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten, Tarifpartner und Betriebsräte, die jahrzehntelang sowie der Abg. Cornelia Möhring [DIE LIN- Zeit hatten, das Ziel der fairen Entlohnung anzugehen – KE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: offensichtlich jedoch nicht immer, wenn überhaupt, mit Dann müssen nicht die Verbände klagen! Das dem nötigen Willen oder dem gewünschten Erfolg. kann auch jeder Einzelne!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt auch Betriebe ohne Tarif- Der Aufwand kann, gerade für kleine Betriebe, durch bindung!) Tools und Hilfsmaterialien angemessen klein gehalten werden. Falls Sie solch ein Gesetz dennoch gleich wieder Die Frauen-Union beispielsweise fordert dezidiert, mehr als Bürokratiemonster bezeichnen, halte ich dem entge- Frauen in Tarifkommissionen zu entsenden, um die Frau- gen: Das Recht auf Entgeltgleichheit ist im Grundgesetz en selbst Entscheidungen für ihre Belange treffen zu las- verankert. Allein schon das Abwägen zwischen Grund- sen. 13106 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Ursula Groden-Kranich (A) Wir alle wissen: Es braucht mehr als eine Maßnah- eg‑check-Verfahren auf den gesamten öffentlichen (C) me, um Lohngerechtigkeit langfristig zu erreichen. Wir Dienst anzuwenden. müssen bei der Erziehung junger Mädchen und Frauen in Sachen Finanzen, Berufsleben und Altersvorsorge an- (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] fangen und dürfen bei der Vereinbarkeit von Kindererzie- und Elke Ferner [SPD]) hung, Pflege und Beruf noch lange nicht aufhören. Denn auch hier gibt es noch eine Lohnlücke von 11 Pro- Schön wäre es auch, wenn gerade die Oppositions- zent und bereinigt von 7 Prozent. parteien ihre Forderungen wie jene im heute diskutierten Ich halte es aber dennoch schlechterdings für unmög- Antrag in den eigenen Reihen und in den von ihnen mit- lich, eine faire Bewertung sämtlicher Berufe und Arbeits- regierten Ländern und deren Verwaltungen auch selbst verhältnisse nur per Gesetz durchzuführen. Schon inner- umsetzen würden. halb einer Branche ist das ein ehrgeiziges Unterfangen, (Beifall des Abg. Heinz Wiese (Ehingen) und branchenübergreifend wird es noch schwieriger, Ar- [CDU/CSU]) beiten als gleichwertig einzugruppieren. Selbstverständ- lich muss sich die Politik und vielmehr noch müssen sich In Rheinland-Pfalz haben wir beispielsweise immer noch die Tarifpartner für eine Aufwertung der Berufsfelder die skandalöse Situation, dass junge Lehrerinnen nach und eine faire Entlohnung für alle Arbeitnehmerinnen dem Referendariat immer wieder mit zeitlich befristeten und Arbeitnehmer einsetzen, und dies transparent nach- Verträgen abgespeist werden – falls sie überhaupt eine vollziehbar. Anstellung bekommen. Abgesehen von der wesentlich schlechteren Bezahlung haben diese Frauen keinerlei Neben offensichtlichen Ungerechtigkeiten und zusätz- Planungssicherheit für ihr Berufs- und Familienleben – lich zur vermeintlich objektiven Bewertung von Berufs- und das als Angestellte im öffentlichen Dienst eines Bun- feldern gibt es aber auch noch die subjektive Bewertung deslandes! eines jeden Arbeitsplatzes durch den Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin. Und da geht es dann um persönliche (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Zufriedenheit und individuelle Bedürfnisse, die letztlich Viele Ursachen für den Gender Pay Gap sind hinläng- in jedem einzelnen Arbeitsverhältnis und jedem einzel- lich bekannt. Wir könnten weiter endlos über bereinigte nen Lebensabschnitt neu ausgehandelt werden müssen. und unbereinigte Lohnlücken und über mittelbare und Hier geht es nicht nur um Geld, sondern um ein Gesamt- unmittelbare Diskriminierung diskutieren. All das bringt paket, das für alle Beteiligten stimmig sein muss. Aus uns aber nicht weiter; denn der Teufel steckt hier wie so meiner eigenen beruflichen Erfahrung kann ich sagen, oft im Detail bzw. schon im Titel Ihres Antrages. Denn dass zeitliche und räumliche Flexibilität oft buchstäblich (B) worum geht es eigentlich? Der vermeintlich klare Begriff mehr wert sind als rein monetäre Vergütungen. (D) der „gleichwertigen“ Arbeit ist in der Realität eben doch (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unklarer, schwammiger und wesentlich komplizierter, als NEN]: Was heißt das denn für Sie? Dass Sie er hier dargestellt wird. Was heißt gleichwertige Arbeit? das nicht wollen, oder was?) Wer legt nach welchen Maßstäben fest, welche Arbeiten gleichwertig sind? Und was ist ein fairer Lohn für diese Dasselbe gilt übrigens für die Berufswahl. Natürlich Arbeiten? Wie bewerten wir Berufserfahrung und wie die müssen wir Mädchen und Jungen von Anfang an über rein formellen Qualifikationen? Berufsbilder und Verdienstmöglichkeiten bis hin zu den Rentenaussichten umfassend informieren und aufklären. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Wenn Frauen sich dann aber aufgrund ihrer persönli- GRÜNEN]: Manchmal ist es gut, wenn man chen Neigungen und Fähigkeiten für ihren Traumberuf einen Antrag auch liest! – Zuruf der Abg. Ulle entscheiden, wohl wissend, dass sie in anderen Berufen Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mehr verdienen könnten, dann müssen wir das als Politik Was ist uns mehr wert: Qualität oder Quantität? Körper- und Gesellschaft akzeptieren und dürfen diese Entschei- liche oder psychische Belastungen? Verantwortung für dungen nicht nachträglich abwerten, geringschätzen und Menschenleben oder Gefahren für die eigene Gesund- gerade jungen Frauen ein schlechtes Gewissen einreden, heit? Langjährige Routine oder unverbrauchte Neugier weil sie sich für den „falschen Job“ oder für eine Auszeit und Ideen? in der Familie entschieden haben. Natürlich gibt es inzwischen recht gute Instrumente (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie Logib-D und eg‑check, mit deren Hilfe die Diskri- NEN]: Wer macht das denn? – Beate Mül- minierungspotenziale von Entgelten analysiert werden ler-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können. NEN]: Das ist unglaublich!) (Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke Freie Entscheidungen sind keine Opfer, sondern ein Ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) winn. Damit können seelische Belastungen wie Burnouts übrigens oftmals vermieden werden. – Sie haben die ganze Zeit reden können, Als Frau, als Arbeitgeberin und als Mutter einer (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Tochter wünsche ich mir für Frauen vor allen Dingen GRÜNEN]: Na und?) Wahlfreiheit. Ich traue Frauen als mündigen Bürgerinnen ich habe Ihnen doch auch zugehört. – Der Berliner grundsätzlich zu, individuelle Entscheidungen klug zu Senat hat zum Beispiel im Sommer beschlossen, das treffen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13107

Ursula Groden-Kranich (A) Wir können heute schon einiges tun, das sich nach Danke schön. (C) Klein-Klein anhört, aber vielleicht nützlicher und effek- tiver ist also so mancher Antrag. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke Wir können als Arbeitgeberinnen und Mentorinnen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema ver- mit gutem Beispiel vorangehen, Frauen fördern, Ange- fehlt!) stellte fair bezahlen und offen für alles sein, was der Ver- einbarkeit von Beruf und Familie in unseren Büros dient. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat die Kollegin Conni Möhring für die GRÜNEN]: „Können“! Ja! – Ulle Schauws Fraktion Die Linke. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können auch ein Entgeltgleichheitsgesetz machen!) (Beifall bei der LINKEN)

Und wir können als Verbraucher darauf achten, eben Cornelia Möhring (DIE LINKE): nicht die immer noch weit verbreitete Geiz-ist-geil-Men- talität zu unterstützen, sondern die Arbeit in unserem Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Umfeld wertzuschätzen und angemessen zu entlohnen. Kollegen! Ich finde, es ist bitter nötig, dass wir hier erneut über das Thema Lohngleichheit bei Frauen und Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen kurzen Männern reden. Wir reden nämlich über erhebliche Blick auf eine Gruppe von potenziellen Arbeitnehmerin- Lohn­unterschiede. Die können im Laufe des Erwerbsle- nen, mit denen wir uns noch intensiver beschäftigen soll- bens einer Frau schon mal den Gegenwert eines ganzen ten: die Asylbewerberinnen, die in Deutschland ein neues Wohnhauses ausmachen. Frauen bekommen im Schnitt Zuhause zu finden hoffen. Bei diesen Frauen – übrigens nämlich immer noch ein Fünftel weniger als ihre männ- auch bei allen hier lebenden Migrantinnen der ersten, lichen Kollegen. Für komplett die gleiche Arbeit sind es zweiten und dritten Generation – stehen wir in Sachen immerhin noch 8 Prozent weniger. Das ist und bleibt un- Lohngerechtigkeit nochmals vor völlig anderen Heraus- gerecht, und das muss ausgeschlossen werden. forderungen und völlig anderen Dimensionen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Da geht es nicht nur um die Frage, wie wir mehr Mäd- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE chen in die MINT-Fächer bekommen. Nein, da geht es GRÜNEN) erst einmal darum, dass muslimische Frauen überhaupt Deutschkurse besuchen dürfen und muslimische Mäd- Der nächste Equal Pay Day, also der im Jahr 2016, chen am Schulunterricht inklusive Sportunterricht teil- wird übrigens einen Tag früher begangen werden als (B) nehmen, ganz zu schweigen von der weiteren Ausbil- bisher. Der Equal Pay Day markiert den Zeitraum vom (D) dung und der Ausübung welcher Berufe auch immer. Da Anfang eines Jahres, in dem Frauen umsonst arbeiten, sind die Gegner einer fair entlohnten berufstätigen Frau wenn man als Maßstab den Verdienst ihrer männlichen nicht mehr die Arbeitgeber, Vorgesetzten und Kollegen, Kollegen heranzieht. Leider liegt diese Beschleunigung sondern es sind die eigenen Ehemänner, Brüder und Vä- im Schneckentempo aber am Schaltjahr und nicht daran, ter in den Familien dieser Frauen. dass endlich systematisch gegen Lohndiskriminierung vorgegangen wird. Mir wäre solch ein Tempo sowieso Hier müssen wir dann auch ehrlicherweise zugeben, viel zu langsam. Ich finde, ehrlich gestanden, Ungeduld dass wir vor einem politischen und gesellschaftlichen ist hier dringend angebracht, weil es für die Frauen in Dilemma stehen. Wollen wir die kulturelle Selbstbestim- dieser Republik um existenzielle Fragen geht. mung um jeden Preis, oder wollen wir, dass unsere Vor- stellungen von einer modernen Frau und Arbeitnehmerin (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- für alle Frauen in Deutschland gelten? NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) (Beifall der Abg. Nadine Schön (St. Wendel) [CDU/CSU]) Es gibt verschiedene Ursachen und Erklärungen; auf einige will ich kurz eingehen: Frauen sind seltener Ich bin sehr gespannt, was gerade die Grünen in Sachen in Führungspositionen und deshalb auch seltener unter Frauenrechte auf diesem Gebiet der Bildung politisch un- den Spitzenverdienenden zu finden. Daran wird auch die ternehmen werden. Von Rheinland-Pfalz bin ich bislang Quote für Aufsichtsräte leider nichts ändern, weil davon enttäuscht. maximal 160 Frauen profitieren. Stattdessen arbeiten Frauen im Niedriglohnsektor, oft gleichzeitig auch noch (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Machen Sie in Teilzeit oder in Minijobs. ruhig noch ein bisschen Wahlkampf!) Wir kennen die Folgen: Was als 22-prozentige Lohn- Den vorliegenden Antrag der Grünen lehnen wir ab, lücke beginnt, führt zu deutlich geringeren Renten, häu- sind aber zuversichtlich, dass die in Politik und Gesell- fig zu Armutsrenten. Für Frauen bedeutet das ganz akut schaft begonnene Diskussion insgesamt dazu führen ein ständig wachsendes Armutsrisiko und eine ständig wird, dass sowohl der angekündigte Gesetzentwurf der wachsende Abhängigkeit von anderen. Damit, liebe Kol- Koalitionsfraktionen als auch die mögliche und mehr als leginnen und Kollegen, muss endlich Schluss sein. notwendige Umsetzung durch die Tarifpartner weitere substanzielle Fortschritte in Sachen Lohngerechtigkeit (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- bewirken werden. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 13108 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Cornelia Möhring (A) Den Stand der Gleichstellung können wir übrigens die das Gehalt im Ergebnis deutlich verbessern. Dumm (C) nicht daran ablesen, ob wir eine Frau als Kanzlerin ha- nur, wenn diesen Abschlüssen der gemeinsame Barbe- ben – auch wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen such oder das Herüberschieben der Puffkarte vorausgeht. von der Union, das schwer enttäuschen mag –, aber zum Denn da sind, einmal abgesehen von den unfreundlichen Beispiel daran, ob es Lohnlücken bei der Bezahlung von Arbeitszeiten, Frauen nicht vorgesehen und kommen so- Frauen und Männern gibt und, wenn ja, wie groß sie sind. mit auch nicht in den Genuss dieser Prämien. Wer es schafft, eins und eins zusammenzuzählen, wird so unschwer erkennen, dass es schlecht um die Gleichstel- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sind diese Bei- lung in unserem Land bestellt ist. spiele zu erklären? Ich sage es Ihnen: Es geht um ganz klare harte Machtverhältnisse. Es geht darum, dass in Es gibt weitere Punkte, die ein schlechtes Bild auf den diesen gesellschaftlichen Strukturen Sexismus in dieser Stand der Gleichstellung werfen und für die große Lohn- Form als normal gilt. Sexismus drückt nicht allein kör- lücke sorgen. Ganze Tätigkeitsfelder werden in unserer perliche Distanzlosigkeit und Übergriffe aus, Sexismus Gesellschaft abgewertet. Alle Tätigkeiten, die nicht zu ist eine auf das Geschlecht bezogene Diskriminierung. ordentlichen Gewinnen und Profit führen – das sind nun So müssen wir leider feststellen, dass die Lohnungleich- einmal alle Tätigkeiten, die sich um das Wohl der Men- heit zutiefst sexistisch ist. schen drehen –, werden schlecht bezahlt und sind ver- meintlich nichts wert. Diese schlecht oder nicht bezahlte (Beifall bei der LINKEN) Sorgearbeit wird vorwiegend von Frauen erledigt. Eine Es ist in jedem Fall ein Verstoß gegen Artikel 3 un- Autoreparatur ist uns mehr wert als die Erziehung un- seres Grundgesetzes. Ich finde, das dürfen wir den Ar- serer Kinder, glaubt man den Lohnstreifen für Kfz-Me- beitgebern nicht durchgehen lassen, das dürfen wir den chaniker und Erzieherinnen. Aber damit nun nicht die Gewerkschaften als Tarifpartner nicht durchgehen las- Falschen Morgenluft wittern: Wir wollen nicht, dass die sen, und das dürfen wir erst recht nicht der Regierung Kollegen in der Kfz-Werkstatt weniger Gehalt bekom- durchgehen lassen. men. Vielmehr wollen wir, dass alle Beschäftigten im Sorgebereich deutlich besser bezahlt werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Das Tempo bei der Schaffung eines Lohngleichheitsge- Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Alle mehr!) setzes ist unangemessen langsam. Das anfänglich laut- starke: „Nun soll die Lohnlücke geschlossen werden, ein Ein weiterer Punkt – eigentlich gehört dieser ins vori- Entgeltgesetz kommt“, ist lange Zeit zum Schweigen im ge Jahrtausend –: Immer noch dominiert das sogenannte Walde geworden. Seit fast zwei Jahren wird jetzt im Mi- (B) Alleinverdiener- bzw. Hinzuverdienerinnen-Modell, also nisterium das Ei ausgebrütet. Erst sollte der Entwurf nach (D) dass der Mann für die Erwerbsarbeit zuständig ist und der Sommerpause kommen, dann im Oktober. Jetzt, im die Frau für die Erziehungs- und Hausarbeit. Das wol- November, wird angekündigt, den Entwurf in den nächs- len junge Paare – vorwiegend die Frauen – überhaupt gar ten Wochen vorzulegen. nicht mehr als Familienmodell leben. Das wird vom Mi- nisterium richtigerweise auch häufig gesagt, aber, ich fin- Das Getrödel ist doch nicht auf das Motto „Gut Ding de, Sie als Regierung müssten dann auch endlich anfan- will Weile haben“ zurückzuführen, sondern eher darauf, gen, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu ändern. dass die Union schon länger das Gespenst des Bürokra- tiemonsters an die Wand malt und den Aufstand probt (Elke Ferner [SPD]: Das machen wir doch oder sowieso meint, mit der Miniquote schon alles ge- schon! Elterngeld Plus!) tan zu haben. Was auch immer der Grund sein mag – ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht darum, richte meinen Appell einmal an beide Ministerien –: was bestimmte Arbeiten tatsächlich wert sind. Es geht Kommen Sie bitte endlich in die Puschen, und legen Sie heute leider darum, wer sie macht. Ich will das an weite- den Gesetzentwurf endlich vor! ren Beispielen verdeutlichen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Erstens. In den USA ist es seit langem üblich, dass neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bewerberinnen und Bewerber für Orchester hinter einem Wir brauchen neben der gleichen Entlohnung für glei- Vorhang vorspielen. Ihr Geschlecht wird im wahrsten che und vergleichbare, also gleichwertige Arbeit unbe- Sinne des Wortes verschleiert. Seither sind die Chancen dingt auch eine Aufwertung bestimmter Tätigkeiten. Die von Frauen in den Vorrunden um 50 Prozent gestiegen finanzielle Aufwertung ist ein harter Kampf. Das haben und in den Ausscheidungsrunden um satte 300 Prozent. uns die Streiks in den Krankenhäusern und den Kitas Das ist im Übrigen auch bei uns nicht anders. gezeigt. Es ist aber ein dringend notwendiger Kampf. Zweites Beispiel. Der Fahrer eines Wäschediens- Genau in diesen Arbeitsbereichen wird über die Mensch- tes – in der Regel ein Mann –, der Altenheime anfährt, lichkeit einer Gesellschaft entschieden. bekommt eine Schmutzzulage. Die Altenpflegerin – in Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ursachen sind der Regel eine Frau –, die die Wäsche dort wechselt, be- klar. Es gibt gute Lösungsvorschläge, so wie in dem hier kommt keine. vorliegenden Antrag der Grünen, aber auch in den beiden Drittens. Es ist immer noch so, dass beispielsweise Anträgen meiner Fraktion der Linken. Jetzt braucht es in Verkaufsabteilungen großer Unternehmen Prämien mutige und entschlossene Schritte. Ich fordere die Koa- und Zulagen für Geschäftsabschlüsse gezahlt werden, lition auf: Legen Sie endlich los! Sorgen Sie dafür, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13109

Cornelia Möhring (A) hierzulande das Prinzip gilt: Gleicher Lohn bei gleicher Lohngleichheit. Vor allen Dingen fehlt der Anspruch (C) und gleichwertiger Arbeit! Stoppen Sie konsequent jeden auf Rückkehr zur früheren Arbeitszeit. Dieses Problem Sexismus in der Arbeitswelt! werden wir im nächsten Jahr angehen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag zur Herstellung der Entgeltgleichheit. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit werden wir mit der beruflichen Sackgasse, die Teilzeit bedeutet, Schluss machen und Teilzeit auf das zurückführen, wofür sie eigentlich gedacht war, nämlich Vizepräsidentin Petra Pau: auf eine zeitlich befristete Episode im Erwerbsleben von Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner für die Frauen, aber auch von Männern. Dann wird Teilzeit kein SPD-Fraktion. unfreiwilliger Dauerzustand mehr sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Nächste, was wir brauchen, ist mehr Transparenz. der CDU/CSU) Um überhaupt feststellen zu können, ob Entgeltungleich- heit vorhanden ist, braucht man mehr Transparenz. Es ist Elke Ferner (SPD): schon ein bisschen komisch, dass gerade in Deutschland Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- die Antwort auf die Frage: „Was verdient der Kollege, nen! „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, das war vor gut bzw. was verdient die Kollegin?“ das bestgehütete Ge- 150 Jahren eine der zentralen Forderungen der deutschen heimnis ist. Das ist in anderen Ländern anders. Wir wol- und der internationalen Frauenbewegung. Im Jahr 2015 len natürlich keine Lohnlisten veröffentlichen, sondern beträgt die Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern wir wollen die Entgeltstrukturen sichtbar machen – da- in Deutschland immer noch 22 Prozent. Damit befinden rauf haben wir uns in dieser Koalition verständigt –, und wir uns mit Estland ganz hinten, am Ende der Skala in zwar bei Betrieben ab 500 Beschäftigten. Das ist auch gut der Europäischen Union. Nächstes Jahr wird die Lohn- so. Denn nur wenn man die Entgeltungleichheit kennt, differenz 21,6 Prozent betragen. Was für ein Fortschritt! kann man sich auf den Weg machen, Entgeltgleichheit Ich sage Ihnen: Da müssen wir nun wirklich ein bisschen herzustellen. mehr Tempo machen; sonst erleben noch nicht einmal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unsere Enkeltöchter, dass es gleichen Lohn für gleiche der CDU/CSU) Arbeit gibt. Wir haben auch vereinbart, dass die festgestellte Ent- Im 21. Jahrhundert geht es aber nicht mehr nur um geltungleichheit durch die Unternehmen mithilfe ver- (B) gleichen Lohn für gleiche, sondern auch um gleichen bindlicher Verfahren und gemeinsam mit den Beschäf- (D) Lohn für gleichwertige Arbeit. Da die Ursachen für die tigten unter Beteiligung der Interessenvertretung im Lohndifferenz vielfältig sind, gibt es auch nicht nur die Betrieb beseitigt wird; es geht also nicht nur darum, die eine Lösung, sondern wir brauchen mehr Maßnahmen, Entgeltungleichheit zu dokumentieren, sondern auch da- und zwar ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Da reicht rum, etwas dagegen zu tun. Wir haben darüber hinaus ei- es nicht aus, wenn mehr Frauen in den Tarifkommissi- nen individuellen Auskunftsanspruch der Beschäftigten onen sind – und zwar auf beiden Seiten des Tisches –, vereinbart. sondern da brauchen wir ein bisschen mehr. Ich möchte an dieser Stelle klar und deutlich sagen: Wir haben mit dem gesetzlichen Mindestlohn, mit Schon heute ist Entgeltdiskriminierung verboten. Es ist der verbesserten Möglichkeit zur Erlangung der All- nicht so, als ob das erlaubt wäre. Allerdings geschieht es. gemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und, damit Das liegt auch daran, dass diejenigen, die davon betrof- verbunden, mit einer Stärkung der Tarifbindung einen fen sind – ob direkt oder indirekt –, ihren Rechtsanspruch ersten wichtigen Schritt hin zu mehr Lohngerechtigkeit einzeln vor Gericht durchsetzen müssen. Wir alle wissen: gemacht. Im Niedriglohnsektor und gerade in den nicht Wer seinen Job behalten will, der wird das im Zweifel tarifgebundenen Betrieben arbeiten sehr viele Frauen. In- nicht tun. Deshalb brauchen wir zusätzliche gesetzliche sofern bin ich der Überzeugung, dass im Jahr 2017 schon Regelungen. ein Effekt zu spüren sein wird, auch im Hinblick auf den Gender Pay Gap. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bleibt das Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“. Gerade die Berufe, für die sich Frauen in gro- Ein weiterer Grund für die Lohndifferenz ist die Teil- ßer Zahl entscheiden, werden schlechter bezahlt als die zeitarbeit. Eine niedrigere Bezahlung von Teilzeitarbeit Berufe, für die sich Männer überwiegend entscheiden. pro Stunde ist durch das Teilzeit- und Befristungsgesetz Ich frage hier jetzt einmal in die Runde: Ist es wirklich verboten. Es geschieht trotzdem, am meisten bei den gerecht, dass das Heben von Steinen – beispielsweise bei Minijobberinnen, aber auch bei denjenigen, die nur ihre einem Maurer – mit fast 3 000 Euro im Monat besser Arbeitszeit reduziert haben. Es kommt hinzu, dass die entlohnt wird als das Heben von Menschen in der Alten- Teilzeitbeschäftigten kaum an betrieblicher Qualifizie- pflege, wo die höheren Einkommen bei 2 700 Euro und rung und kaum bis gar nicht an betrieblichen Aufstiegs- die sonstigen Einkommen bei 2 400 Euro liegen? Ist es möglichkeiten teilhaben. Das führt im Laufe der Zeit na- richtig, dass ein Produktionshelfer im Bäckerhandwerk türlich wieder zu mehr Lohnungleichheit statt zu mehr ein höheres Einkommen hat als die Bäckereifachverkäu- 13110 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Parl. Staatssekretärin Elke Ferner (A) ferin, die eine Ausbildung von drei bis dreieinhalb Jahren Schönen Dank. (C) mit anschließender Prüfung gemacht hat? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Mechthild Rawert [SPD]: Nein!) CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Ich möchte die Taube in der Hand!) Es gibt also auch Diskriminierungen, die in Tarifver- trägen angelegt sind. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir uns gemeinsam mit den Tarifpartnern auf den Weg ma- Vizepräsidentin Petra Pau: chen wollen, die Tarifverträge zu überprüfen, und ich be- Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die CDU/ grüße ausdrücklich, dass Gewerkschaften wie die NGG CSU-Fraktion. und die IG Metall schon dabei sind, das zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Karin Maag (CDU/CSU): Wir müssen aber auch eine gesellschaftliche Debat- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! te darüber führen, dass die sozialen Berufe, wie die in Dass wir im Jahr 2015 trotz klarer verfassungsrechtlicher der Pflege oder in der Erziehung, besser entlohnt werden Vorgaben und trotz eines AGG, das CDU/CSU, SPD und müssen. Grüne gemeinsam beschlossen haben, noch immer eine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Entgeltungleichheit anprangern müssen – da haben die Dr. ­Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Grünen recht –, ärgert mich wirklich ganz persönlich. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass die unbereinigte Entgeltlücke bei 22 Prozent liegt und, abhängig von Regionen und Branchen, schwankt Der Streik der Erzieherinnen war vor diesem Hinter- und dass diese Lohnlücke mit zunehmender Qualifikati- grund völlig berechtigt. on sogar steigt, ärgert mich auch. Ich denke, wir müssen auch darüber reden, wie wir die Dort, wo es Tarifverträge gibt, wird es besser. Frauen Ausbildung organisieren; denn es ist auch nicht gerecht, profitieren von der Tarifbindung stärker als Männer. Was dass die einen eine Ausbildungsvergütung bekommen, mich aber ganz persönlich auf die Palme bringt – da bin während die anderen teilweise auch noch Schulgeld zah- ich wirklich oben –, ist die sogenannte bereinigte Ent- len müssen. geltlücke, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ also das, was herauskommt, wenn Teilzeitarbeit und der DIE GRÜNEN) (B) Einfluss von Berufswahl und Branchen herausgerechnet (D) Daneben müssen wir auch über das Berufswahlver- werden. Unabhängig davon, ob das nun 7 Prozent oder halten von jungen Frauen und Männern reden, das sich nur 2,2 Prozent sind – je nach Berechnung –, bleibt es in den letzten 30 Jahren kaum verändert hat. Das hat et- eine Entgeltlücke, und das ist ein Skandal. was mit Rollenmustern, aber auch mit einer späten und (Beifall der Abg. Beate Müller-Gemmeke teilweise unzureichenden Information über Verdienst-, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten sowie über die Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Vor allem die Beseitigung der bereinigten Entgeltlü- Familie zu tun. Auch hier müssen wir ansetzen. cke müssen wir dringend angehen. Dort ist die Diskrimi- nierung ganz offensichtlich. Genau deshalb – Frau Ferner Insofern brauchen wir ein ganzes Bündel von Maß- hat es ja schon gesagt – haben wir uns im Koalitionsver- nahmen, und ich bin sehr froh, dass die Grünen Vorschlä- trag auch zu den notwendigen Maßnahmen bekannt. ge dazu gemacht haben, insbesondere weil Teile dieser Vorschläge eine sehr große Ähnlichkeit mit dem Gesetz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU entwurf haben, den wir als SPD-Fraktion in der letzten und der SPD sowie der Abg. Maria Klein- Wahlperiode in den Bundestag eingebracht haben. Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Um auch noch einmal auf die Frage zurückzukom- Hier muss vor allem Transparenz hergestellt werden. men, ob das, worauf wir uns verständigt haben und wozu Dort, wo Unterschiede offengelegt werden, kann diese wir bald einen Vorschlag vorlegen werden, ausreicht: unterschiedliche Vergütung nicht mehr fortgeführt wer- den. Deshalb wird der Bericht zur Entgeltgleichheit ver- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bindlicher Bestandteil des Lageberichts im HGB. NEN]: Nein!) Berichtspflichtig, liebe Frau Müller-Gemmeke,- wer Auch hier gilt der Grundsatz, dass wir einen unumkehr- den damit Betriebe ab 500 Beschäftigten. Das halte baren Einstieg zu mehr Lohngerechtigkeit brauchen. ich persönlich für richtig; denn wenn die Regelung nur Ehrlich gesagt ist mir hier, wie bei der Quote, der Spatz noch unter dem Label „Noch mehr Bürokratie für die in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach. Lassen Wirtschaft“ läuft – egal ob man das nun gut findet oder Sie uns diesen Einstieg in dieser Wahlperiode machen nicht –, dann wird die Akzeptanz insgesamt fehlen. Von und auch gerne darum streiten, wie man das besser und daher ist es aus meiner Sicht richtig, dass wir nur die schneller hinbekommen kann. Ich bin aber froh, dass Unternehmen erfassen, die ohnehin einen Lagebericht es in diesem Haus zumindest über das Ob keinen Streit erstellen müssen, und dass wir diese entsprechend ver- mehr gibt. pflichten. Diese Unternehmen haben dann zumindest die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13111

Karin Maag (A) Gelegenheit, darzustellen, welche Maßnahmen sie zur Bei den Tätigkeitsfeldern sind auch die Tarifpartner in (C) Herstellung von Entgeltgleichheit einleiten. der Pflicht – da lehne ich mich jetzt einigermaßen ent- spannt zurück –, und deshalb schauen wir gemeinsam (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit den Tarifpartnern, wie einzelne Tätigkeitsfelder ge- der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- schlechtergerecht bewertet und aufgewertet werden kön- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frauen haben nen. Natürlich muss sich – auch da bin ich bei Ihnen – in doch ein Auskunftsklagerecht!) den Berufsfeldern der Sorgearbeit, also Pflege, Kinder- betreuung und frühkindliche Bildung, einiges tun. Da Auf diese Berichtspflicht aufbauend, wird es dann den brauchen wir, liebe Frau Kollegin, mehr Frauen in den individuellen Auskunftsanspruch geben. Wir wollen den Tarifkommissionen. Ich bin gern bereit, mich da für eine Auskunftsanspruch für die Beschäftigten mit vergleich- Quote einzusetzen. barer oder gleichwertiger Tätigkeit. Dabei geht es um die Art der Tätigkeit, zum Beispiel im IT-Bereich oder im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Marketing. Es geht ebenso um Führungs- und Fachlauf- ordneten der SPD) bahnen. Es geht auch darum, dass wir die Frauen in die Lage versetzen, die Gehaltsstrukturen zu kennen, damit Wenn wir über Rahmenbedingungen sprechen, dann sie besser verhandeln können. Wir wollen nicht, dass ist mir wichtig, hervorzuheben, dass wir in den letzten der Herr Meier nun fürchten muss, dass die Frau Müller Jahren unter unionsgeführten Regierungen die Situa- weiß, was er verdient. Diesen Unfrieden wollen wir nicht tion für die Frauen auf dem Arbeitsmarkt deutlich ver- in die Betriebe bringen. Wir brauchen aber ein verbindli- bessert haben. Da nenne ich vor allem die Regelungen ches Verfahren, das dafür sorgt, dass die Unternehmen in zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Un- eigener Verantwortung mögliche Entgeltdiskriminierun- ter ­Ursula von der Leyen wurde der Rechtsanspruch auf gen beseitigen können. einen Krippen- und Kitaplatz eingeführt. Ich nenne hier den Kitaausbau, an dem sich der Bund nachhaltig und Wichtig ist mir persönlich dabei, dass wir den Unter- auch weiterhin beteiligt, obwohl dafür die Länder zustän- nehmen zwar vorgeben, dass sie ein solches Verfahren dig sind. Ich nenne hier auch die Familienpflegezeit und anwenden müssen. Welches Verfahren für den einzelnen das Pflegestärkungsgesetz. Ich nenne die Frauenquote Betrieb nun sinnvoll ist und wie eine solche Methodik und vor allem auch die Mütterrente; denn die Entgelt- aussehen kann, die hohe Aussagekraft hat und die trotz- lücke nehmen die Frauen ja auch in die Rente mit. Eine dem mit den Daten, die der Betrieb bereits generiert hat, Rentenlücke von 59 Prozent bedeutet eine massive Un- arbeiten kann – ob das Logib-D, ob das eg-check oder gerechtigkeit. Ich bin wirklich froh, dass wir zu Beginn eine andere Software ist, die im Moment entwickelt der Legislaturperiode die notwendigen Schritte eingelei- tet haben: Das durchschnittliche Alterseinkommen der (B) wird –, dazu will ich keine Vorgaben machen. Jedenfalls (D) muss dabei herauskommen, dass das Unternehmen aus Frauen ist mit der Mütterrente schon heute um knapp dieser Analyse konkrete Handlungsoptionen ableiten 10 Prozent gestiegen. kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn hier strukturelle Ungleichheiten gefunden Dennoch bleibt – zugegeben – viel zu tun. werden, dann müssen die Unternehmen natürlich nach- bessern. Ein Rechtsschutz – das geht jetzt in Richtung Zeit für Familie darf kein Karrierekiller sein. Des- Grüne – ist aus meiner Sicht ausreichend vorhanden. Der wegen muss es nach einer familienbedingten Aus- oder Antidiskriminierungsstelle eine Kontrollbefugnis oder Teilzeit auch das Recht geben, wieder zur ursprünglichen andere vergleichbare übergriffige Kompetenzen einzu- Arbeitszeit zurückzukehren. Wir müssen und werden das räumen, ist meines Erachtens nicht nötig. Teilzeitrecht entsprechend überarbeiten und endlich ei- nen Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit einführen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – GRÜNEN]: Was ist mit Verbandsklagerecht?) Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, reden wir von GRÜNEN]: Das hätte man schon längst ma- der unbereinigten Lohnlücke, von den 22 Prozent. Diese chen können!) Zahl hat aus meiner Sicht einen eher symbolischen Cha- Führungspositionen sind noch immer Männerdomä- rakter. Sie ist natürlich ein Beleg dafür, dass in unserer nen. Ab Januar greift die fixe Quote für die Aufsichts- Gesellschaft vieles noch nicht stimmt; da bin ich ganz bei räte. An die Adresse derjenigen, die jetzt die Zielquoten Ihnen. Mir ist aber wichtig, dass wir die eben beschrie- für die Vorstände und die darunterliegenden Ebenen sehr benen und dringend notwendigen Maßnahmen für die zögerlich umsetzen, und an die Adresse der wenig Am- Beseitigung der realen Entgeltdiskriminierung in Höhe bitionierten, die auch noch nicht sehen, dass Frauen in von 2 oder 7 Prozent nicht mit der Lösung für gesamtge- Führungspositionen kein Wettbewerbsnachteil sind: Ich sellschaftliche Probleme in einen Topf werfen. kann Ihnen versichern, dass ich mit meinen Kolleginnen in der Fraktion und mit Ihnen ein Auge darauf haben wer- Um diese unbereinigte Entgeltlücke zu schließen – da de. Wir werden evaluieren. Ich werde mir gegebenenfalls bin ich ganz bei Ihnen –, bedarf es eben nicht nur eines gerne Mitstreiterinnen für die Nachbesserung suchen. Gesetzes, sondern da brauchen wir ein Bündel von Maß- nahmen. Da geht es zum Beispiel um die Aufwertung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Tätigkeitsfeldern, aber auch genauso um die Ände- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ rung von Rahmenbedingungen. DIE GRÜNEN) 13112 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Karin Maag (A) Sie haben vorhin die Berufswahl genannt. Natürlich Wie die bestbezahlte US-Schauspielerin Jennifer (C) müssen wir den Frauen und Mädchen auch die Bran- ­Lawrence aktuell scharf kritisierte, verdienen zum Bei- chen schmackhaft machen, die bislang männerdominiert spiel auch in Hollywood Schauspielerinnen deutlich waren. Dazu gehört aber eine vernünftige Studien- und weniger als männliche Kollegen – Ernüchterung in der Berufsberatung. Da müssen Verdienstaussichten und Traumfabrik. Aufstiegschancen besprochen werden. Als 18- oder 25-Jährige denkt man noch nicht daran, was die Berufs- Das sind aber die gleichen diskriminierenden Me- wahl für die spätere Rente bedeutet. chanismen wie beim Gender Pay Gap hier. Dass Frauen schlichtweg schlechter bezahlt werden, weil sie Frauen Mir ist ein Punkt ganz wichtig. sind, bleibt für mich nach wie vor unfassbar. Für diese (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh Gott, noch Ungerechtigkeit gibt es keine sachlichen Gründe. einer!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sie müssen es sich anhören, meine Damen. – Die Mess- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten latte der Union ist nicht das berufliche Arbeitsvolumen der SPD) von Frauen. Mir ganz persönlich, aber auch den Frauen Aber es gibt einige Ursachen, die ich benennen möch- in der Union geht es nicht darum, möglichst viele Frau- te: en in möglichst viele Stunden Erwerbsarbeit zu drängen. Unsere Messlatte ist allein die Antwort auf die Fragen: Erstens. Frauen arbeiten häufiger in sozialen und Wie wollen Frauen ihre individuelle Berufstätigkeit und Dienstleistungsberufen, in denen deutlich weniger ge- Familienarbeit vereinbaren? Wie können wir – da sehe zahlt wird als in der Industrie und in vielen anderen Be- ich mich sehr in der Pflicht – die Rahmenbedingungen reichen wie in der Baubranche, also in den sogenannten dazu setzen und verbessern? typischen Männerberufen. Das kann nicht so bleiben. Hier muss gerecht bewertet und müssen soziale Berufe Wir wollen die Wahlfreiheit für die Mütter und Töch- mehr wertgeschätzt werden. Das heißt ganz klar: besser ter. Sie selbst sollen bestimmen können, wie viel Zeit sie bezahlen; denn körperliche und psychische Belastungen in welcher Lebensphase und in welchem Bereich brau- können bei der Bezahlung nicht länger unterbewertet chen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Väter und oder gar außer Acht gelassen werden. Söhne. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so oder so: Entgelt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diskriminierung muss und wird zeitnah – da sehe ich und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten die Familienministerin und die Arbeitsministerin in der der SPD) (B) Pflicht – ein Ende haben. Zweitens. Frauen steigen wie Männer in Vollzeit ins (D) Ich danke Ihnen. Berufsleben ein. Das ändert sich in der Regel, wenn sie Kinder bekommen Über 45 Prozent der Mütter arbei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ten dauerhaft in kleiner Teilzeit oder in Minijobs. Dabei bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE gibt es ganz selten Chancen auf Karriere. Die Teilzeit- GRÜNEN) beschäftigung wird häufig schlechter und oft nicht der Qualifikation entsprechend bezahlt. Die Folge ist: Frauen Vizepräsidentin Petra Pau: haben dadurch kein existenzsicherndes Einkommen und Das Wort hat die Kollegin Ulle Schauws für die Frak- verdienen im Lebensverlauf auf das gesamte Erwerbsle- tion Bündnis 90/Die Grünen. ben gesehen rund 40 Prozent weniger als Männer. Die Rentenlücke liegt bei 57 Prozent. Das Risiko von Allein- erziehendenarmut und Altersarmut ist für Frauen sehr Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hoch. Das müssen wir schnellstmöglich ändern. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Liebe Gäste! Am Dienstag wurde die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kampagne zum Equal Pay Day 2016 unter dem Motto und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten „Was ist meine Arbeit wert?“ gestartet. Der wird im kom- der SPD und der Abg. Nadine Schön (St. Wen- menden Jahr am 19. März begangen. Wir wissen, dass er del) [CDU/CSU]) jetzt einen Tag früher stattfindet. Wir wissen auch, war- Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb brauchen um. wir nicht nur ein Entgeltgleichheitsgesetz, sondern auch Das ist seit vielen Jahren ein wiederkehrendes Ereig- ein modernes Arbeitszeitkonzept. Viele Frauen möchten nis – seit zu vielen Jahren. Es klingt schon fast wie ein mehr und viele Männer, besonders Väter, möchten we- Mantra: Der Lohnunterschied zwischen Männern und niger Stunden arbeiten. Wir Grünen wollen darum eine Frauen beträgt 22 Prozent, bereinigt 7 Prozent. Das kann neue Vollzeit mit einem flexiblen Arbeitszeitkorridor von nicht sein. Die Stagnation, die Fortsetzung ungleicher 30 bis 40 Stunden etablieren. So würden Diskriminierung und unfairer Bezahlung für Frauen in Deutschland brau- in der Teilzeit entgegengewirkt, beruflicher Aufstieg er- chen jetzt ein Gegensteuern. möglicht und auch die Lohnlücke langsam geschlossen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN LINKEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13113

Ulle Schauws (A) Die Bundesregierung, die Wirtschaft und auch die Ta- Frauen verdienen im Durchschnitt circa 22 Prozent (C) rifpartnerinnen und -partner sind jetzt dran, das umzu- weniger als Männer. Das allein ist ein handfester Skan- setzen. Ich frage die Frauenministerin, die heute leider dal. Frauen werden tatsächlich auch beim Lohn immer nicht anwesend sein kann: Worauf warten Sie noch? Dass noch direkt benachteiligt. Die gleiche Tätigkeit im glei- das Wetter schöner wird? Das wird nicht schöner; es ist chen Unternehmen, aber noch immer zwei unterschiedli- November. Sie kündigen auf Konferenzen oder Podien che Einkommen: Das ist, wie gesagt, ein Skandal. immer vollmundig an, die Entgeltungleichheit beenden zu wollen. Die Süddeutsche vom 3. November schreibt Diskriminierung wirkt aber – die Kollegin hat es zu Ihrem Verhalten – ich zitiere –: schon angesprochen – nicht immer nur direkt. Viel schwerer wiegen die indirekten Ursachen und vor allem Gut gebrüllt – nur leider war dann Schweigen im die Folgen der Lohnlücke. Um einige aufzuzeigen: Frau- Walde. Bald zwei Jahre brütet die Familienministe- en fehlen in bestimmten einkommensstarken Berufen rin schon an einem Gesetzentwurf. und Branchen. Sie erklimmen erst allmählich auch die (Elke Ferner [SPD]: Wir haben schon mehr höheren Stufen der Karriereleiter. Frauen unterbrechen Gesetze umgesetzt als eins!) oder reduzieren ihre Erwerbstätigkeit häufiger und länger familienbedingt als Männer. Wir Frauen sind – ja, auch – Ich sage ja nur, dass bis jetzt noch nichts vorliegt. – Wir das stimmt – leider oft zurückhaltender bei Lohn- und Grüne unterstützen sie und auch die SPD gerne dabei. Gehaltsverhandlungen. Typische Frauenberufe werden Sehen Sie unseren Antrag als echtes Angebot. Denn wir traditionell schlechter bewertet und entlohnt als typische wollen Frauen wirksam den Rücken stärken. Das geht Männerberufe, auch dann, wenn Gleichwertiges in ihnen aus unserem Antrag auch deutlich hervor. geleistet wird. Die CDU/CSU will das offensichtlich nicht so eindeu- tig. Das Gezeter aus weiten Teilen der Union und auch Schauen wir auf das Ergebnis. Frauen haben aufgrund der Wirtschaft tönt uns aus allen Ecken entgegen. Noch dieser Tatsache lange nachwirkende Einbußen bei der einmal einzuknicken wie beim Quötchen, um die Unter- Einkommensentwicklung. Sie haben vor allem Nachtei- nehmen nicht zu fordern: Was wäre das für ein Signal an le bei der Karriereentwicklung. Dadurch bauen Frauen Frauen? im Laufe ihres Erwerbslebens deutlich weniger eigenes Vermögen auf als Männer. Sie beziehen später deutlich Ich kann nur hoffen, Sie haben in der Großen Koa- weniger Rente und sind damit deutlich häufiger von Al- lition die Zeit genutzt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, tersarmut betroffen. Das ist ungeheuerlich, und das ist der über den angekündigten Vorschlag hinausgeht. Denn nicht mehr hinnehmbar. eine Transparenzoffensive ohne Sanktionen bzw. erst für (B) (D) Unternehmen ab 500 Beschäftigten reicht nicht aus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Frauen sind heute – das wurde hier schon mehrfach Frauen haben ein wirksames Entgeltgleichheitsgesetz gesagt – gleich gut oder sogar besser ausgebildet als verdient, das wirklich konsequent auf die gleichwerti- Männer. Aber noch immer wird typische Frauenarbeit ge und gerechte Bezahlung von Frauen umsteuert. Ha- weniger wertgeschätzt als typisch männliche Arbeit. Aber ben Sie also den Mut, effiziente Veränderungen für ein warum soll eine Erzieherin oder eine Krankenschwester wirklich großes Entgeltgleichheitsgesetz auf den Weg zu weniger verdienen als ein Industriearbeiter? Beide – ich bringen! betone: beide – sollen angemessen verdienen. Sie leisten nicht das Gleiche, aber sie leisten – das ist ganz wichtig – Vielen Dank. Gleichwertiges.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genau da müssen wir ansetzen. Wir müssen überprüf- und bei der LINKEN) bare Kriterien für die Wertigkeit von Arbeit entwickeln; denn gleichwertige Arbeit muss auch gleich bezahlt Vizepräsidentin Petra Pau: werden. Gleichwertige Arbeit bedeutet nun einmal nicht Die Kollegin Birgit Kömpel hat für die SPD-Fraktion gleiche Arbeit. Um gleichwertige Arbeit zu bestimmen, das Wort. müssen wir sprichwörtlich Äpfel mit Birnen vergleichen, eben die Krankenschwester und den Stahlarbeiter. Da (Beifall bei der SPD) wird es um Ausbildung, Verantwortung, Belastung und vieles mehr gehen. Birgit Kömpel (SPD): Der „eg-check“ der Hans-Böckler-Stiftung hat es vor- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin- gemacht. Er definiert Kriterien für die Wertigkeit von Ar- nen und Kollegen! Ich freue mich über den Antrag der Grünen; denn er bringt das Problem auf den Tisch. Lohn- beit. Damit schafft er Transparenz im Bereich der Löhne diskriminierung gegenüber Frauen ist eine besonders und Gehälter. Diesen und weitere Aufschläge werden wir schwerwiegende Diskriminierung, die beseitigt gehört. aufnehmen. Mit Elterngeld Plus und der Frauenquote ha- ben wir begonnen. Jetzt gehen wir die Lohngleichheit an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Liebe Kollegin Schauws, ich bin fest davon überzeugt, LINKEN) dass wir diesen Meilenstein der Gleichberechtigung mit 13114 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Birgit Kömpel (A) unserer Ministerin Manuela Schwesig hinbekommen und die Gründe für die bestehenden Lohnunterschiede zwi- (C) durchsetzen können. schen Frauen und Männern zu werfen. Diese lassen sich auf verschiedene Ursachen zurückführen, wobei relativ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schnell festzustellen ist, dass die meisten Faktoren in der der CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE persönlichen Erwerbsbiografie begründet liegen. Wie LINKE]: Mit ihrem Koalitionspartner auch?) heißt es so schön? Politik beginnt mit dem Betrachten Also: Packen wir es an! Ich freue mich auf die Be- der Realität, Frau Müller-Gemmeke. ratungen mit allen Fraktionen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das haben wir getan, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Lehrieder!) der CDU/CSU) Zum einen sind insbesondere die häufigen Erwerbsun- Vizepräsidentin Petra Pau: terbrechungen aufgrund familiärer Verpflichtungen aus- Der Kollege Paul Lehrieder hat für die CDU/ schlaggebend. Nach längeren familienbedingten Erwerb- CSU-Fraktion das Wort. sunterbrechungen und damit einhergehenden Einbußen beim Gehalt sind Frauen oftmals nicht mehr in der Lage, (Beifall bei der CDU/CSU) den Einkommensvorsprung ihrer männlichen Kollegen aufzuholen. Immerhin dauert eine familienbedingte Er- Paul Lehrieder (CDU/CSU): werbsunterbrechung durchschnittlich vier Jahre und acht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Monate. Eine hohe Teilzeitquote und lange Familien- Liebe Kollegen! Frau Kollegin Beate Müller-Gemmeke, phasen kennzeichnen also viele Frauenerwerbsverläufe. aufpassen! Hier spielt die Musik. Man spricht hier auch, leider zutreffenderweise, in vielen Fällen von der Sackgasse Teilzeit. Auch dieses Problem (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE müssen wir lösen. Wir müssen ein Wiedereintrittsrecht GRÜNEN]: Ich bin da!) auf den Weg bringen. Da sind auch die Arbeits- und So- Sie haben vorhin in Ihrer Auftaktrede einige Passagen zialpolitiker gefragt. aus dem Antrag Ihrer Fraktion zitiert. Ich kenne Sie als Des Weiteren sind Frauen in bestimmten Berufen und geschätzte und engagierte Kollegin aus dem Ausschuss Branchen, in Positionen mit höherem Qualifikationsan- für Arbeit und Soziales sowie dem Petitionsausschuss, spruch und Führungspositionen nach wie vor unterreprä- wo wir schon manchen Strauß miteinander ausgefoch- sentiert. Diesem Aspekt der hierarchisch zunehmenden ten haben. Aber mit Ihrem Antrag liegen Sie falsch, Frau Männerdominanz und der damit einhergehenden ge- (B) Beate Müller-Gemmeke. Diese Große Koalition hat das (D) schlechterbedingten Einkommenslücke sind wir bereits Problem richtig im Visier und wird es sine ira et studio im Frühjahr mit dem Gesetz zur gleichberechtigten Teil- sowie ohne Hektik so angehen, dass dabei etwas Ver- habe von Frauen und Männern an Führungspositionen nünftiges herauskommt. Dazu bedarf es weder eines An- in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst ent- trages der Grünen noch eines Antrages der Linken. Frau gegengetreten. Dafür können Sie uns auch einmal loben, Kollegin Möhring, Füße stillhalten! Frau Müller-Gemmeke. Noch immer bekommen Frauen und Männer für die gleiche Arbeit nicht überall den gleichen Lohn; das ist (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Mül- bekannt. In Deutschland verdienen die Frauen – darauf ler-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurde schon von einigen Vorrednerinnen hingewiesen – NEN]: Das war ein kleines Gesetzchen!) bei vergleichbarer Qualifikation und Tätigkeit im Schnitt 7 Prozent weniger als Männer; das ist die sogenannte be- – So viel Zeit muss sein. Das müssen Sie jetzt schon reinigte Entgeltlücke. Unbereinigt bzw. dann, wenn man aushalten. – Ferner arbeiten Frauen pro Woche durch- den Bruttodurchschnittsverdienst gegenüberstellt, ver- schnittlich neun Stunden weniger als Männer, was einer dienen Frauen sogar 22 Prozent weniger als Männer. Ja, Arbeitszeitlücke von etwa 23 Prozent entspricht. Etwa es ist richtig, Frau Schauws: In Hollywood sind es sogar 46 Prozent aller abhängig beschäftigten Frauen arbeiten 24 Prozent. Das kann uns aber nicht trösten. Teilzeit – ich habe es bereits ausgeführt – und dabei in geringem Stundenumfang. Schließlich zeigen viele Frau- (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- en aufgrund nach wie vor vorherrschender tradierter Rol- NEN]: Eben! Das habe ich gesagt!) lenbilder – Fokus auf Karrierechancen des Mannes; man Damit liegt Deutschland, was die sogenannte Gender unterstützt den Partner bei der Karriereplanung – noch Pay Gap, die Lohnlücke, angeht, im europäischen Ver- eine geringere berufliche Mobilität als ihre männlichen gleich auf einem der hinteren Plätze. Frauen verdienen Kollegen. Stellen Sie sich nur einmal einen beruflich schon ein Jahr nach Ausbildungsabschluss 14 Prozent bedingten Umzug vor. Dieser wird bei Männern gesell- weniger als Männer. Des Weiteren sind 60 Prozent der schaftlich eher akzeptiert als bei Frauen. Frauen überwiegend in ungelernten und angelernten Be- Aufgrund der Tatsache, dass die Frauen in unserem rufen vertreten und werden zudem häufiger als Männer Land so hochqualifiziert und gut ausgebildet sind wie unter ihrem Ausbildungsniveau eingesetzt. nie zuvor, häufiger Abitur machen als Männer, häufiger Um diesen Unterschieden wirksam begegnen zu ein Studium beginnen und dies auch häufig erfolgreicher können, lohnt es sich zunächst einmal, einen Blick auf abschließen als Männer, lässt sich das bestehende Un- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13115

Paul Lehrieder (A) gleichgewicht bei der Entlohnung nicht durch etwaige Sie müssen schon aufpassen, Frau Müller-Gemmeke. (C) Qualifikationsunterschiede rechtfertigen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Ich passe immer auf!) NEN]: Was folgt daraus?) Wenn Sie schimpfen, müssen Sie auch etwas entgegen- – Warten Sie, ich komme gleich zur Lösung. Immer nehmen. schön ruhig bleiben, nur keine Hektik. Wir haben in diesem Jahr mit dem Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Aus diesem Grund haben wir uns im Koalitionsvertrag Führungspositionen ein wichtiges Element auf den Weg darauf verständigt, gemeinsam mit den Tarifvertragspar- gebracht. Wir haben mit dem gesetzlichen Mindestlohn – teien – das unterscheidet uns von Ihnen; Frau Kollegin das wissen Sie so gut wie ich – ein wichtiges Element auf Ferner hat bereits darauf hingewiesen, dass die Tarif- den Weg gebracht. Wir haben mit dem quantitativen und vertragsparteien da auch gefordert sind und sich die Ge- qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung, dem Ge- werkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten bereits auf den setz zur besseren Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Weg gemacht hat, das Gefälle abzumildern – die Entgelt- Beruf und mit dem Elterngeld Plus vieles auf den Weg gleichheit von Frauen und Männern anzugehen und die gebracht, was die Erwerbstätigkeit von Frauen verbessert erwiesene Entgeltdiskriminierung zu beseitigen. – Ich und auch die Entgeltungleichheit möglicherweise in dem lasse die näheren Ausführungen aus Zeitgründen weg. Bereich vermindert. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Wir werden noch in diesem Jahr mit einem Gesetzes- Grünen, dass wir prinzipiell nicht so weit auseinander- vorhaben beginnen und dieses im nächsten Jahr zu Ende liegen, wie Sie denken. Allerdings unterscheiden wir uns führen. Dies werden wir mit der Ihnen bekannten Quali- insbesondere in der unterschiedlichen Herangehensweise tät, Kraft, aber auch Besonnenheit der Großen Koalition an bestimmte Probleme. Statt vorschnell nach der gesetz- tun. lich herbeigeführten Bürokratiekeule zu greifen, sollten wir zunächst den Tarifpartnern Gelegenheit geben – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- NEN]: Das ist das Problem! – Beate ordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke ­Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt haben NEN]: Was machen Sie jetzt gegen die 10 Pro- Sie doch nichts zu den 10 Prozent gesagt!) zent? Dazu haben Sie nichts gesagt!) (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) – haben Sie eine Frage, Frau Müller-Gemmeke? Sie wür- Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ursula Schulte den sich die Sympathie aller Kolleginnen und Kollegen das Wort. hier zuziehen; aber ich hätte dann mehr Redezeit –, sich mit dem Problem zu befassen und es gemeinsam zu lö- (Beifall bei der SPD) sen. Die unionsgeführte Bundesregierung und die CDU/ Ursula Schulte (SPD): CSU-Bundestagsfraktion bekennen sich selbstverständ- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten lich zur verfassungsrechtlich verankerten Tarifautonomie Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und vertrauen auf die Sachnähe und Regelungskompe- In der vergangenen Wahlkreiswoche hatte ich eine Ein- tenz der beteiligten Tarifpartner. ladung zu einem Frühstücksgespräch über das Thema „Frauen machen Politik – Auf jeden Fall anders? – Auf (Beifall bei der CDU/CSU) jeden Fall besser?“. Bevor wir zu dem Ergebnis kamen, dass Frauen in der Regel andere Prioritäten in ihrer poli- So vielfältig die Gründe für die oben genannte ge- tischen Arbeit setzen als Männer, haben wir uns gemein- schlechtsspezifische Einkommenslücke sind, so -viel sam auf eine kurze Erinnerungsreise begeben. schichtig sollten auch die diesbezüglichen politischen Maßnahmen zur Beseitigung dieser Lücke sein. Das Sie begann im Jahr 1908, als Frauen endlich politi- Schwingen mit der gesetzlichen Keule allein, wie Sie es schen Parteien beitreten durften. Sie machte Station im gerne so oft fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen von Jahr 1949, als in Artikel 3 des Grundgesetzes der alles den Grünen, ist hier meist nicht zielführend. Wir müssen entscheidende Satz verankert wurde: „Männer und Frau- auch die Arbeitgeber, also die andere Tarifvertragspartei, en sind gleichberechtigt.“ Sie streifte das Jahr 1957, mit auf den Weg nehmen. als Frauen endlich ohne die Zustimmung ihres Mannes ein Konto eröffnen durften. Sie führte uns dann in das (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Jahr 1977, in das Jahr, in dem Frauen endlich nicht mehr GRÜNEN]: Das machen wir seit Jahrzehn- die Erlaubnis ihres Mannes einholen mussten, wenn sie ten!) denn berufstätig sein wollten. Wir werden für mehr Lohngerechtigkeit sorgen, je- In diesem Zusammenhang konnten sich viele Frau- doch im Rahmen der Umsetzung auch den Verwaltungs- en auch noch an den Satz erinnern: Meine Frau braucht aufwand für die Unternehmen in einem erträglichen Um- nicht erwerbstätig zu sein; ich kann meine Familie allein fang lassen. ernähren. – Heute ist das ja alles anders. Heute stehen 13116 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Ursula Schulte (A) Frauen – Gott sei Dank – alle Wege offen. Scheinbar gibt herinnern und Erzieher in diesem Jahr hat uns das deut- (C) es keine Diskriminierung mehr. lich vor Augen geführt. Die Erziehung von Kindern, die Pflege von alten und kranken Menschen gibt es nicht zum Und doch: Wenn wir den Blick auf den Equal Pay Day Nulltarif; das muss diese Gesellschaft endlich kapieren. 2016 richten, wird deutlich, dass die Forderung nach einer gerechten und diskriminierungsfreien Bezahlung (Beifall bei der SPD) noch immer nicht umgesetzt ist. Jahr für Jahr veröffent- lichen wir Zahlen über die Entgeltlücke zwischen den Diese für uns alle wichtigen Berufe müssen stärker wert- Gehältern von Frauen und Männern. Dabei ist es letzt- geschätzt, aber vor allem gerechter entlohnt werden. Die endlich egal, ob wir über bereinigte oder über unberei- Gesellschaft und hier vor allem die Arbeitgeber dürfen nigte Zahlen reden. Es ist egal, ob wir über 7 Prozent, auch die Fähigkeiten von Frauen und natürlich auch von 15 Prozent oder 23,2 Prozent reden. Fakt ist: Es gibt Männern, die diese während der Familienphase zusätz- diese Gerechtigkeitslücke. Oder wie es unsere Familien- lich erwerben, nicht länger unberücksichtigt lassen. Es ministerin, Manuela Schwesig, beim diesjährigen Equal sind dies vor allem soziale Kompetenzen, aber zum Bei- Pay Day gesagt hat – ich zitiere –: spiel auch ein gutes Zeitmanagement, also Fähigkeiten, die jedes Unternehmen doch eigentlich gut gebrauchen Wenn Frauen trotz gleicher Tätigkeit und Qualifika- kann. tion weniger verdienen als ihre männlichen Kolle- gen, ist das nicht nur ungerecht – es ist ein Unrecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben also auf mehreren Ebenen zu agieren. Es wäre ja auch zu schön, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn wir die Entgeltgleichheit mit einem Federstrich der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ herstellen könnten. Wir müssen noch mehr für die Ver- DIE GRÜNEN) einbarkeit von Familie und Beruf tun. Wir müssen den Lohnsenkungswettbewerb stoppen, und wir müssen uns Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lohnlücke ver- für eine verbesserte Qualität der Arbeitsbedingungen harrt in Deutschland seit Jahren auf etwa gleichem Ni- einsetzen. Vor allem aber muss Arbeit endlich einheitlich veau und ist in kaum einem anderen Land der EU so groß bewertet werden. Der Schlüssel für die Beseitigung der wie bei uns. Das muss uns doch eigentlich alle beschä- Lohnungleichheit liegt in transparenten Gehaltsstruktu- men. Deshalb benötigen wir dringend ein Gesetz, das zu ren. mehr Transparenz bei den Lohnstrukturen führt und die direkte Lohndiskriminierung abschafft. Es ist wirklich an (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE der Zeit – da haben die Grünen recht –, endlich Taten GRÜNEN]: Geschlechtsneutrale Kriterien!) folgen zu lassen. Daher muss vor allem dort angesetzt werden, wo Be- (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nachteiligung ihren Ursprung hat und die Gleichstellung (D) SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Bärbel unmittelbar hergestellt werden kann: in den Betrieben, Bas [SPD]) und zwar auch in mittleren und kleinen Betrieben; denn dort arbeitet die Mehrzahl der Frauen. Und hier zitiere Artikel 3 unseres Grundgesetzes verpflichtet uns im Üb- ich noch einmal Manuela Schwesig: „Wir müssen Loh- rigen auch dazu. Weniger Lohn für Frauen bei gleichwer- nungleichheit sichtbar machen.“ Ich füge hinzu: Wenn tiger Arbeit, das muss doch im 21. Jahrhundert endlich die Ungleichheit dann sichtbar ist, müssen wir den Frau- der Vergangenheit angehören. en auch die Möglichkeit geben, gemeinsam dagegen vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Beate zugehen. Nur gemeinsam ist frau stark; das stimmt noch Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- immer. NEN]: Stimmt!) (Beifall bei der SPD) Große Teile der Lohndifferenz entstehen durch indi- Ich sehe, meine Redezeit geht zu Ende. Deswegen rekte Lohndiskriminierungen. Geschlechterspezifische komme ich zum Schluss und sage, dass wir natürlich Unterschiede bei der Berufswahl, Branchenzugehörig- eine bessere Bezahlung in den sogenannten Frauenberu- keit, Teilzeit, Minijobs und familienbedingte Erwerbs­ fen brauchen. Den Frauen kann ich nur zurufen: Keine pausen sind wesentliche Punkte, die zur Lohndiskrimi- falsche Bescheidenheit bei den Lohn- und Gehaltsver- nierung führen. handlungen in den Betrieben! Treten Sie selbstbewusst Hinzu kommt, dass unser Arbeitsmarkt gespalten ist. auf! Denn Ihre Arbeit ist jeden Euro wert. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben zugenommen. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. Die Frauenerwerbstätigkeit ist in vielen Fällen nicht exis- tenzsichernd. Der Weg dieser Frauen ist vorgezeichnet. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Er führt unweigerlich in die Altersarmut. Das dürfen wir bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE nicht länger zulassen. Die Einführung des Mindestlohns GRÜNEN) war hier nur ein erster wichtiger Schritt, um das Problem zu lösen. Weitere müssen dringend folgen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich schließe die Aussprache. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Mit Blick auf die sogenannten Frauenberufe wird Drucksache 18/6550 an die in der Tagesordnung aufge- deutlich: Sie sind schlecht entlohnt. Der Streik der Erzie- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13117

Vizepräsidentin Petra Pau (A) jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD trag zum Klimaschutz leistet. Bei der Brücke, die zwi- (C) wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Se- schen den Sektoren „Strom“ und „Wärme“ geschlagen nioren, Frauen und Jugend; wird, zeigt sich die besondere Effizienz der Kraft-Wär- me-Kopplung und auch ihre Systemdienlichkeit. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr guter Aus- schuss!) Große Herausforderungen liegen vor uns, wenn wir einen immer höher werdenden Anteil erneuerbarer Ener- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federfüh- gien in das Stromnetz integrieren wollen. Erneuerbare rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Energien sind vielfach vom Wetter abhängig. Wir brau- Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der chen also auch in Zukunft noch flexible Kraftwerke, um Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also: Fe- auf Bedarfe schnell reagieren zu können. Anlagen der derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer Kraft-Wärme-Kopplung sind bestens geeignet, komple- stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt mentär eingesetzt zu werden. dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvor- schlag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke gegen die Stim- Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Es handelt sich also um eine sehr flexible Technologie, Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der die gerade in Verbindung mit Speichern sehr großes Po- Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Feder- tenzial entfaltet. führung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen Kraft-Wärme-Kopplung übernimmt in einem Strom- und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- markt mit zunehmender Volatilität die wichtige System- schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der aufgabe, hier Systemdienstleistungen zu erbringen, und Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koaliti- natürlich – ich habe es schon erwähnt – schützt es unser onsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung Klima und hätte hier auch noch deutlich höhere Potenzi- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. ale. Die CO2-Einsparungspotenziale liegen nach einem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Gutachten, das dem Gesetzentwurf zugrunde liegt, bei 86 Millionen Tonnen. Zum Vergleich: Derzeit werden Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- bereits 56 oder 57 Millionen Tonnen eingespart. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- gelung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes Momentan ist es aber vordergründig wichtig, dafür zu sorgen, dass diese Technologie nicht aus dem Markt Drucksache 18/6419 verschwindet, nicht verdrängt wird. Genau das würde (B) (D) Überweisungsvorschlag: aber passieren, wenn wir jetzt nicht handeln. Ich möchte Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) es deutlich sagen: Nach meinem Dafürhalten ist es be- Innenausschuss dauerlich, dass es uns nicht gelungen ist, bereits vor der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Sommerpause hier zu Potte zu kommen. Ich hoffe sehr, sicherheit dass es uns jetzt im besten Einvernehmen gelingt, dafür Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zu sorgen, dass keine weiteren Verzögerungen eintreten die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- und dass das Gesetz wirklich spätestens zum 1. Januar nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 2016 in Kraft tritt. (Unruhe) Besonders problematisch ist die Lage in der öffent- lichen Versorgung, verbunden mit Fernwärmenetzen. – Wenn die Verabschiedungszeremonien hier abgeschlos- Auch hier ist die Novellierung dringendst geboten, weil sen sind, kann ich auch die Aussprache eröffnen. bereits einzelne Versorger überlegen, vor allen Dingen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Stadtwerke, ihre Fernwärmenetze wegen zunehmender Florian Post für die SPD-Fraktion. Unwirtschaftlichkeit vom Netz zu nehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Ministerium hat nun einen Entwurf vorgelegt, der CDU/CSU) der in seiner grundsätzlichen Aussage in meinen Augen zu begrüßen ist. Er enthält auch Forderungen, die die Florian Post (SPD): SPD-Fraktion schon seit langem gestellt hat. Besonders hervorzuheben ist die Verdoppelung des Förderdeckels Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen von 750 Millionen Euro auf 1,5 Milliarden Euro. Da- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist durch können gerade Bestandsanlagen der öffentlichen Freitagnachmittag. Da finde ich es beachtlich, dass meh- Versorgung gefördert werden, und es kann verhindert rere Kollegen wieder den Weg zu uns gefunden haben. Es werden, dass sie vom Netz gehen. Dies ist momentan handelt sich ja auch um ein wichtiges Thema im Bereich unumgänglich, weil die derzeitigen Rahmenbedingun- der Energiewende: die Kraft-Wärme-Kopplung. gen alles andere als einfach sind; die Betonung liegt Die Kraft-Wärme-Kopplung ist ein wichtiger Baustein hierbei auf „derzeitig“. Die Bestandsförderung soll von bei der Energiewende. Derzeit werden bereits 56 Mil- der Bestimmung her ja nur befristet gelten; denn wir lionen Tonnen CO2 durch den Einsatz der Kraft-Wär- haben ja noch weitere energiepolitische Gesetzesvorha- me-Kopplung eingespart. Das macht deutlich, dass die ben in der Pipeline, die durch die damit einhergehenden Kraft-Wärme-Kopplung auch einen wichtigen Bei- Veränderungen auf dem Strommarkt dazu führen sollen, 13118 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Florian Post (A) dass dann der wirtschaftliche Betrieb dieser Kraft-Wär- auch wegen der Privilegierung bei anderen Umlagen die (C) me-Kopplungsanlagen eben auch wieder möglich ist. Schwelle der Wirtschaftlichkeit erreichen. Da jede Anla- ge und jedes Unternehmen unterschiedlich ist, ist es eben (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht möglich, jeden Einzelfall im Gesetz zu berücksich- NEN]: Das glaube ich nicht!) tigen. Es soll auch kein Industrieförderungsgesetz wer- Es gibt noch weitere positive Punkte. Die Direktver- den, sondern in erster Linie ein Klimaschutzinstrument marktung, die angestrebt wird, und auch die Aussetzung bleiben. Aber natürlich sehe ich ein, dass es für die In- der Förderung bei negativen Strompreisen sind zu begrü- dustrie von zentraler Bedeutung ist, dass darauf geach- ßen, genauso wie die Erhöhung der Förderung von Wär- tet wird, dass zumindest die EEG-Privilegierung auch in menetzen und -speichern, damit die Kraft-Wärme-Kopp- Zukunft erhalten bleibt, um Investitionssicherheit und lung wirklich ihr volles Flexibilitätspotenzial entfalten Rechtssicherheit für die Unternehmen herzustellen. kann. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Es ist auch richtig, dass die Umlagesystematik ver- ändert wird, da momentan die privilegierte Strommenge (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten größer ist als die nicht privilegierte. Daher halte ich es der CDU/CSU) auch für folgerichtig, die Systematik an die Systematik der EEG-Umlage anzupassen. Vizepräsidentin Petra Pau: Aber der Gesetzentwurf enthält auch einige zu kritisie- Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für rende Punkte, die wir hier im parlamentarischen Verfah- die Fraktion Die Linke. ren noch diskutieren müssen. Ich trete hier hinsichtlich (Beifall bei der LINKEN) einiger Punkte für eine Änderung ein. Das fängt schon mit dem § 1 an. Wir haben auch im Koalitionsvertrag das Ausbauziel der Kraft-Wärme-Kopplung beschlos- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): sen: Bis 2020 soll der Anteil der Nettostromerzeugung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aus Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen 25 Prozent an der Die Bundesregierung verhält sich sehr verwirrend. Wie Gesamtstromerzeugung betragen. Wenn es so bliebe, wie ein Mantra wird immer wieder vorgetragen – wir haben es jetzt im Entwurf steht, dass sich der Anteil nur auf die es ja jetzt gehört –, wie wichtig die Wärmewende sei. regelbare Stromerzeugung beziehen soll, führte das dazu, Schließlich sind die Sektoren Wärme- und Kälteerzeu- dass kein weiterer Zubau in der Kraft-Wärme-Kopplung gung für mehr als die Hälfte des Endenergieverbrauchs erfolgt. Der Grund liegt in dem immer größer werdenden verantwortlich. Die Bundesregierung handelt aber anders (B) Anteil der Stromerzeugung im Bereich der erneuerbaren als sie redet. Wer die Wärmewende wirklich will, muss (D) Energien. Damit wäre dann das Ziel schon erreicht, und nicht nur den Erzeugern von Wärme aus erneuerbaren es erfolgte kein weiterer Zubau. Das wollen wir nicht. Energien viel stärker unter die Arme greifen, sondern auch denen durch Kraft-Wärme-Kopplung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Oli- Man kann natürlich über eine zeitliche Streckung des ver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ziels diskutieren. Hier wäre mein Vorschlag, dass man durchaus über das Jahr 2025 diskutieren kann. Aber auf Diese Chance wird mit dieser Novelle vertan. keinen Fall darf die Bezugsgröße „regelbare Stromerzeu- gung“ lauten, sondern es muss sich an der Gesamtstrom­ Wir Linken möchten die Stromerzeugung aus erzeugung orientieren. Kraft-Wärme-Kopplung gestärkt sehen, weil sie als fle- xible, steuerbare Energie einen wichtigen Beitrag zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Energiewende leistet. Das Ziel ist die Vollversorgung Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU]) aus regenerativer Energie; das ist gar keine Frage. Aber Ein weiterer Knackpunkt ist die Behandlung von Ei- auf dem Weg dorthin ist die KWK wirklich wichtig. Es genstrom. Hier kommt vielfältig Kritik vonseiten der In- nützt eben nichts, die Fördersumme für die Kraft-Wär- dustrie. Die Industrie wirft uns an dieser Stelle vor, dass me-Kopplung auf 1,5 Milliarden Euro zu verdoppeln, wir mit dem Gesetzentwurf eine Ungleichbehandlung wenn das Geld nicht abgerufen wird. Bisher war die För- im Vergleich zur öffentlichen Versorgung herbeiführten. dersumme nur halb so hoch, und die Mittel wurden auch Diese Kritik weise ich ausdrücklich zurück, weil eben nicht vollständig abgerufen, weil es sich aufgrund niedri- ungleiche Sachverhalte auch keine gleiche Behandlung ger Börsenstrompreise eben nicht lohnt. rechtfertigen. Auch Anlagen der öffentlichen Versorgung Vor etwa einem Jahr wurde die Potenzialanalyse zur werden ja strompreisgeführt und können dadurch Sys­ KWK veröffentlicht. Da lag der Anteil der KWK an der tem­aufgaben im Markt übernehmen. Deswegen macht es Stromerzeugung bei nur 16,2 Prozent, also weit entfernt durchaus Sinn, diese Technologie mit öffentlichen Gel- vom 25-Prozent-Ziel bis 2020. Das ist ein Alarmsignal. dern der Stromverbraucher zu fördern. Wärmegeführte industrielle Eigenerzeugungsanlagen sind dazu nur sehr (Beifall bei der LINKEN) begrenzt in der Lage. Aus diesem Grund weise ich diese Kritik zurück. Aber statt wirklich anzupacken, haben Sie das Ziel kampflos aufgegeben. Ihr Vorschlag – 25 Prozent In einem Gutachten, das das BMWi in Auftrag gege- KWK-Anteil an der regelbaren Stromerzeugung – be- ben hat, wurde errechnet, dass die Eigenstromanlagen deutet, dass Sie die KWK nicht wirklich wollen; denn Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13119

Eva Bulling-Schröter (A) das neue, reduzierte Ziel wird man ohne Anstrengungen Jens Koeppen (CDU/CSU): (C) erreichen. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (Klaus Mindrup [SPD]: Das hat doch Kolle- und Kollegen! Wir beraten das Gesetz zur Neuregelung ge Post gerade klargestellt, dass das nicht so der Kraft-Wärme-Kopplung heute in erster Lesung. So ist! – Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer haben wir noch zwischen der ersten und der zweiten Le- [CDU/CSU]: Die Rede war schon geschrie- sung Zeit, um einiges zu verändern. ben! So flexibel ist sie nicht!) Herr Kollege Post, ich bin nicht ganz so euphorisch Die Linke fordert dagegen, das bisherige Ziel eines An- und zufrieden wie Sie mit dem Entwurf des Ministeri- teils der KWK von 25 Prozent an der Nettostromerzeu- ums. Das sage ich auch in Ihre Richtung, Frau Staatsse- gung bis 2020 beizubehalten und um ein Ziel für die kretärin. Deswegen möchte ich sagen, dass wir mit der Wärmeversorgung aus KWK in Höhe von 20 Prozent bis Novelle wahrscheinlich wichtige Potenziale verschenken 2020 zu ergänzen. und die KWK-Förderung teurer machen. Wenn wir uns einmal an den Ursprung des Gesetzes aus dem Jahr 2002 Wir wollen gerade kleine KWK-Anlagen: bürger- und und die Novellierung im Jahr 2012 erinnern, so geht es verbrauchsnahe Anlagen wie beim Mieterstrommodell. in § 1, wie Sie es bereits erwähnt haben, um Energie- Auch KWK-Anlagen, die Schulen, Krankenhäuser oder einsparung, Umweltschutz und die Erreichung der Kli- Altersheime versorgen, leisten einen wichtigen Beitrag maschutzziele. Deswegen wollen wir einen Anteil der zur dezentralen Energiewende; denn sie entlasten das Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen Netz und verringern Netzverluste. Durch das EEG 2014 von 25 Prozent erreichen, übrigens mit Wärme und mit sind sie unter Druck geraten, weil seitdem auch eine Um- Kälte. So steht es im Gesetzentwurf. lage auf den Eigenverbrauch fällig ist. Diese Schieflage Ich möchte mich auf fünf Punkte konzentrieren. Ich hätten Sie mit dem KWK-Gesetz korrigieren müssen. könnte gut und gerne 20 Punkte benennen. Deswegen Beispiel Krankenhaus: Kliniken haben einen hohen haben die fünf Punkte keinen Anspruch auf Vollständig- Bedarf an Strom, Wärme und Kälte. Eine hocheffiziente keit; denn ich habe nur diese 10 Minuten Redezeit. Diese KWK-Anlage kann in Kliniken die Energiekosten dras- fünf Punkte sind sehr wichtig. Frau Staatssekretärin, bit- tisch mindern und die Emissionen um bis zu 80 Prozent te nehmen Sie sie als Anregung mit in das Ministerium. reduzieren. Das sind zukunftsfähige Modelle, die bei Ih- An diesen Punkten werden wir in den nächsten Wochen nen auf der Abschussliste stehen, weil Sie sich weigern, bei Anhörungen in den Ausschüssen und bei den Bera- geeignete Fördermöglichkeiten zu schaffen. Die Linke tungen in Koalitionsberichterstattergesprächen vielleicht (B) fordert deshalb, für Anlagen bis 250 Kilowatt elektri- noch etwas ändern. Wir müssen aufpassen, dass wir mit (D) scher Leistung und höchstens 1 000 Megawattstunden den Festlegungen, die wir jetzt getroffen haben, nicht das selbst verbrauchten Stroms die EEG-Umlage zu erlassen, Kind mit dem Bade ausschütten. Das könnte nämlich bis eine besser geeignete Lösung für sie gefunden wurde. passieren. Wir fordern zudem, die Förderung der ortsnahen Wär- Erstens. Das 25-Prozent-Ziel steht im Koalitions- me- und Stromversorgung zu verbessern. Hierzu legen vertrag. Das ist richtig. Wir müssen uns klar an den ur- wir konkrete Zahlen in unserem Antrag vor. Wenn die sprünglichen Bezugspunkt halten. Das haben Sie ganz von dieser Bundesregierung hochgelobten Quartierskon- klar gesagt. Das ist die Gesamtstrommenge. Wir können zepte funktionieren sollen – die funktionieren nicht ohne nicht akzeptieren, Frau Staatssekretärin, dass es jetzt an KWK –, brauchen sie eine zukunftssichere Grundlage. der regelbaren Nettostrommenge ausgerichtet wird; denn (Beifall bei der LINKEN) das ist definitiv eine Reduzierung. Wir müssen aufpas- sen, dass wir diese Kürzung nicht hinnehmen. Wenn wir Darum sage ich: Wir haben noch Anhörungen. Sie das machen – das sage ich so deutlich –, wird das Gesetz können noch etwas heilen. Heilen Sie endlich diese Feh- ein KWK-Ausstiegsgesetz. Das wollen wir nicht. ler, und setzen Sie sich ohne Wenn und Aber für eine erneuerbare Wärmewende ein, bei der die KWK eine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- wichtigere Rolle spielt, als Sie anerkennen wollen. Bitte wie bei Abgeordneten der LINKEN und des denken Sie auch an die Arbeitsplätze im Bereich KWK. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie wackeln zurzeit auch schon. – Jetzt bin ich aber verunsichert.

Danke. (Klaus Mindrup [SPD]: Wir haben auch ge- klatscht!) (Beifall bei der LINKEN) Da habe ich wahrscheinlich etwas falsch gemacht. Ich Vizepräsidentin Petra Pau: nehme alles zurück. Mal sehen, ob es so weitergeht. Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/ (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU-Fraktion. NEN]: Alle einig gegen die Bundesregierung! Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) – Sehr schön, wunderbar. 13120 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Jens Koeppen (A) Zweitens. Dieser Punkt ist genauso wichtig. Es ist die unsinnig. Deswegen brauchen wir eine stärkere Förde- (C) Technologieneutralität. Da werden Sie wahrscheinlich rung der Industrie-KWK. nicht mehr klatschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE ordneten der SPD) GRÜNEN]: Nein!) Ich sehe es übrigens sehr kritisch, dass die KWK mit diesem Gesetz fast nur noch im Bereich der öffentlichen Die Technologieneutralität ist aber wichtig, weil wir mit Versorgung gefördert werden soll und die Förderung der der Förderung der KWK eine Technologie und keinen Industrie-KWK immer weiter zurückgeht. Dies stellt Brennstoff fördern. Deswegen brauchen wir die Brenn- eine ungerechtfertigte Diskriminierung der industriellen stoffneutralität. Wenn wir uns auf Gas fokussieren – Herr Nutzung der KWK gegenüber der öffentlichen Nutzung Post, ich verstehe, was Sie damit meinen; ich bin auch der KWK dar. Ich sage damit nicht, dass die KWK im für die Unterstützung der Stadtwerke; das ist gar keine Bereich der öffentlichen Versorgung nicht gefördert wer- Frage –, werden wir bei der Industrie-KWK nicht vor- den soll – es ist gar keine Frage, dass sie gefördert wer- wärtskommen. Das ist dann ein Umstieg von einem fos- den soll –, aber es darf nicht vernachlässigt werden, dass silen Träger auf einen anderen fossilen Träger. Ich weiß die industrielle KWK darunter leidet. nicht, ob das so sinnvoll ist. Erstens ist Gas teurer – das wissen Sie –, und zweitens sind die Auswirkungen auf Ich halte es auch nicht für zielführend – man muss das Erreichen der Klimaschutzziele minimal. Wir müs- schauen, ob man da etwas ändern kann –, dass es bei sen die Gesamt-CO2-Bilanz – von der Gasförderung über der Verknüpfung der Besonderen Ausgleichsregelung den Transport bis hin zur Verbrennung – beachten. Sie mit der KWK bleiben soll. Denn es sind zwei verschie- alle wissen – Sie kennen die Studien –, wie viel Methan dene Förderinstrumente: einmal das Erneuerbare-Ener- auf dem Weg von Russland nach Deutschland entweicht. gien-Gesetz und einmal das KWKG. Diese miteinander Deswegen ist die Klimabilanz schon lange nicht mehr so zu verknüpfen bedeutet, die Förderung der KWK wei- gut, wie man es dachte. Ich empfehle hierzu die Studie ter einzuschränken. Das halte ich nicht für sinnvoll. Wir des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bun- sollten das im Berichterstattergespräch adressieren und destages. Hier können Sie sehen, dass das nicht mehr so versuchen, dort mit dem Ministerium übereinzukommen. stark auseinanderklafft. Zu der Betrachtung des Ministeriums hinsichtlich der Geostrategisch ist das vielleicht auch etwas kritisch zu Opportunitätskosten will ich jetzt nicht viel sagen. Es sehen. Gerade in der jetzigen Zeit machen wir uns immer ist schwierig. Ich halte die Betrachtung für gewagt. Sie mehr abhängig. Die Importabhängigkeit bei Gas darf in ist auch nicht ganz schlüssig. Ich frage adressiert an das (B) dieser Größenordnung nicht weiter steigen. Ministerium: Will man die industrielle KWK einschrän- (D) ken und damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Die Bundesländer Nordrhein-Westfalen – nicht unse- Industrie aufs Spiel setzen? Will man die erheblichen Po- re Feldpostnummer –, Brandenburg, aber auch Sachsen tenziale, die die Industrie-KWK hat, wirklich nicht nut- sagen ganz klar: Wir brauchen die Brennstoffneutralität. zen? Dann muss man das deutlich sagen. Wir wollen das Das sollten wir auch beachten. – Jetzt klatscht keiner nicht. Ich hoffe, wir sind uns in der Koalition einig, dass mehr. wir daran wirklich noch schrauben müssen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Der vierte Punkt. Wir brauchen den Zubau von großen Beifall des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ und kleinen KWK-Anlagen. Da sind wir uns wahrschein- CSU] – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir lich einig. schon!) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Der dritte Punkt: Benachteiligung der Industrie-KWK. Die Benachteiligung der Industrie-KWK durch dieses Wenn wir allerdings an der Befristung bis zum Jah- Gesetz ist eklatant. Sie alle wissen, dass Produktionspro- re 2020 festhalten, die jetzt in der Neuregelung vorge- zesse in der Industrie sehr stark auf Wärmezufuhr basie- sehen ist, dann es wird zu keinem Neubau und zu keiner ren, zum Beispiel in der Raffinerie, um Erdöl zu spalten Modernisierung einer großen KWK-Anlage kommen; usw., oder in der Stahlindustrie. Die Wärmezufuhr kann das wird dann nicht passieren. jedenfalls zurzeit, bis 2030, realistischerweise nicht über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erneuerbare Energien erfolgen. Für die Wärmezufuhr – die Temperatur liegt häufig bei 300 Grad – werden jähr- Sie alle wissen, wie lange die Genehmigungsverfahren lich 200 Terawattstunden Energie benötigt. Dafür reichen dauern: vier bis sechs Jahre, ohne dass man mit dem die erneuerbaren Energien zurzeit nicht aus. Hier bietet Bau überhaupt begonnen hat, ohne jemals einen Spaten die KWK einen effizienten Weg. Nahezu 90 Prozent in die Erde gestochen zu haben. Dann ist das Jahr 2020 der industriellen Wärmeerzeugung werden zurzeit über erreicht, und es gibt keine Förderung mehr. Das Gesetz KWK erreicht. Das ist ganz wichtig; denn durch die in- schafft keine Planungssicherheit. Dies bedeutet, dass die dustrielle Eigenerzeugung von Energie über KWK – da Betriebe keine neuen Bauprojekte mit großen KWK-An- kommen wir zur Einsparung – werden 18 Millionen Ton- lagen angehen. Das sollten wir vermeiden. Ich bin für nen CO2-Emissionen vermieden. Die Alternative wäre eine generelle Streichung der Befristung. Wir können eine getrennte Erzeugung von Wärme und Strom. Das natürlich zu Hilfsinstrumenten greifen; aber eine gene- müssen wir unbedingt vermeiden. Das geht nicht; das ist relle Streichung wäre mir persönlich lieber, weil wir so Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13121

Jens Koeppen (A) Planungssicherheit für Projekte im Bereich der Industrie-­ die Energiewende und den Klimaschutz geht, treten Sie (C) KWK schaffen. erst einmal ordentlich auf die Bremse. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zuruf von der SPD: Unsinn!) NEN] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE Bei der KWK geht es ums Energiesparen und darum, GRÜNEN]: Da muss ich wieder klatschen!) aus weniger mehr zu machen, mit dem gleichen Energie- Der fünfte Punkt: der Zubau von Klein-KWK- und Mi- einsatz Strom und Wärme gleichzeitig zu erzeugen und kro-KWK-Anlagen mit einer Leistung unter 50 kW. Ich so Energiekosten und Treibhausgase zu reduzieren. Aber sehe eine Gefahr darin, die Dauer der Zuschlagszahlung anstatt diese Option entschlossen voranzutreiben, lassen auf 45 000 Volllaststunden zu senken. Diese Begrenzung Sie mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung die gro- wäre ein ganz vehementer Einschnitt und würde dazu ßen Chancen, die die KWK bietet, einfach verstreichen; führen, dass sich die kleinen und die Mikro-KWK-An- in vielen Dingen waren wir uns doch schon einig. Das ist lagen nicht mehr lohnen. Ich weiß gar nicht, warum man leider vonseiten der Bundesregierung eine Energiewen- diese Begrenzung vorgenommen hat. Das würde, wenn depolitik mit angezogener Handbremse. man es durchrechnet, für die Mikro-KWK, die ganzjäh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rig im Einsatz sind, eine Kürzung der Zuschlagszahlun- sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE gen um fast die Hälfte bedeuten. Das sollten wir ver- LINKE]) meiden. Diese Anlagen erbringen zwar nicht die großen Leistungen, aber sie sind sehr wichtig. Sie sind in den Sie kürzen mir nichts, dir nichts das KWK-Ziel zu- Markt eingeführt worden und müssen jetzt noch weiter sammen. Von Ihrem Versprechen im Koalitionsvertrag, nach vorne kommen und zur Serienreife gebracht wer- die KWK auszubauen, wollen Sie auf einmal nichts mehr den. Damit diese Anlagen preisgünstiger werden, sollten wissen. Statt die versprochenen 25 Prozent vom Netto- wir bei 60 000 Volllaststunden bleiben. Das halte ich für stromerzeugungsanteil bis zum Jahr 2020 zu erreichen, sehr wichtig. wollen Sie die KWK faktisch einfrieren. Ich frage Sie: Worauf sollen sich die Stadtwerke, die Betreiber und die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Investoren bei Ihren KWKPlänen eigentlich noch verlas- wie bei Abgeordneten der LINKEN) sen? Alles in allem: Wenn wir uns einig sind, dann können (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Nicht auf wir das Thema in einer Anhörung oder in den Berichter- diese Koalition!) stattergesprächen beraten und das Ergebnis gemeinsam Sieht etwa so verlässliche Wirtschafts- und Energiepoli- (B) an das Ministerium adressieren. Wenn wir die entspre- tik aus? Das finde ich nicht. (D) chenden Punkte beachten, dann wird es kein, wie be- fürchtet, „KWK-Ausstiegsgesetz“, sondern dann wird es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Instrument zur Förderung einer sehr effektiven und und bei der LINKEN) klimafreundlichen Technologie. Wenn wir das in den Noch etwas ärgert mich gewaltig an Ihrem Entwurf nächsten Wochen gemeinsam schaffen, dann wäre ich eines neuen KWK-Gesetzes. Nachdem Sie der Bürger­ sehr froh. energie schon bei der EEG-Novelle baumstammgroße (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ­Oliver Knüppel zwischen die Beine geworfen haben – Stichwort Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei „Ausschreibungen“ –, wollen Sie nun ganz offensichtlich vier von fünf Punkten stimme ich zu!) auch bei der KWK das dezentrale Bürgerengagement für die Energiewende mit aller Kraft abwürgen. Oder wie sonst soll man es interpretieren, dass Sie die Förderung Vizepräsidentin Petra Pau: von kleinen KWK-Anlagen massiv kürzen? Sie benach- Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die teiligen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ausgerech- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. net intelligente und bürgernahe Versorgungslösungen für eine umweltschonende Strom- und Wärmeversorgung in Wohnanlagen, also die sogenannten Mieterstrom- und Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): -wärmemodelle. Deshalb liest sich der vorliegende Ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten setzentwurf für mich wie ein weiterer Baustein in Ihrem Damen und Herren! Vor genau acht Monaten haben wir „Anti-Bürgerenergie-Programm“. Grüne Ihnen hier im Parlament einen Antrag vorgelegt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem wir die dringende Novellierung des Kraft-Wär- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) me-Kopplungsgesetzes eingefordert haben. Schon da- mals war der Handlungsdruck extrem groß. Inzwischen Immerhin: In einem ganz wichtigen Punkt haben Sie werden weitere Betreiber von vergleichsweise klima- unsere Forderung vom März aufgegriffen. Künftig wol- schonenden KWK-Anlagen gezwungen, ihre Anlagen len Sie keine neuen KWK-Anlagen auf Kohlebasis mehr abzuschalten, und neue Investitionen in moderne An- fördern; das ist ein überfälliger Schritt. Allerdings kann lagen liegen auf Eis, weil es keine Planungssicherheit diese kleine Korrektur im KWK-Gesetz nicht über Ihren gibt. Aber anstatt zügig zu liefern, hat Minister Gabriel riesigen Fehler hinwegtäuschen, den Sie diese Woche bei die KWK-Novelle weiter verzögert und verschleppt. Mir der Stilllegung der Kohlemeiler gemacht haben. Es ist scheint langsam, das ist Ihr Konzept: Immer, wenn es um ein absolutes Unding, dass nun ausgerechnet die uralten 13122 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dr. Julia Verlinden (A) Kohledreckschleudern Stilllegungsprämien in Milliar- sparkassengesetzes. Das aktuelle Bausparkassengesetz (C) denhöhen bekommen. in Deutschland stammt aus dem Jahr 1991. Es haben sich offensichtlich zahlreiche regulatorische Verände- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungen ergeben, insbesondere infolge der Finanzkrise sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 2007/2008. Dies sollte mit Sicherheit Anlass sein, auch Sie können es einfach nicht lassen mit Ihren Geschen- das Bausparkassengesetz zu modernisieren und an die ken an die Kohlekonzerne. Diese schmutzigen Geschen- neuen Rahmenbedingungen anzupassen. ke gehen am Ende nicht nur zulasten der Energieverbrau- Außerdem erleben wir eine besondere Entwicklung cherinnen und Energieverbraucher, sondern vor allen am Markt: Die Niedrigzinsphase führt dazu, dass das Dingen zulasten des Klimas, und das ist das Gegenteil Bausparkassengeschäft mit relativ hohen Einlagezinsen von nachhaltiger Klimaschutzpolitik. Ich bin gespannt, aus der Vergangenheit und gleichzeitiger Zinszusage bei welche Reaktionen Sie damit in Paris erzeugen. Kreditaufnahme in beide Richtungen nicht mehr funkti- (Beifall der Abg. Anja Hajduk [BÜND- oniert, weil sehr viele zum einen die Einlagechance bei NIS 90/DIE GRÜNEN]) hohen Zinsen nutzen, aber die Kredite, die sie dafür ein- kaufen, nicht in Anspruch nehmen. Deshalb müssen wir Ich bin auch gespannt, was Sie in der nächsten Woche darüber nachdenken, wie das Modell Bausparkasse auch von den Experten in der Anhörung im Wirtschaftsaus- in Zukunft funktionieren kann. schuss zu hören bekommen und ob Sie dann bereit sind, das, was Sie gerade angekündigt haben, und vielleicht Wir legen einen Entwurf vor, der eine Modernisie- noch viele andere Verbesserungen umzusetzen. Wir sind rung des Bausparkassengesetzes vorsieht. Es geht da- gerne dabei. rum, Verfahren und Methoden so anzupassen, dass die 21 Bausparkassen, die wir heute in Deutschland haben, So viel dürfte jetzt klar geworden sein: Die Korrektu- ihr Geschäft mit dem Grundgedanken Bausparen – im ren sind dringend erforderlich. Wir brauchen mehr Kli- Sinne eines langfristigen Sparens mit dem Ziel der Ei- maschutz statt weniger. Wir brauchen mehr Möglichkei- gentumsbildung im Bereich des Wohneigentums – fort- ten für Bürgerenergie. Deshalb brauchen wir auch mehr führen können. effiziente KWK-Anlagen und nicht weniger. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vielen Dank. Wir wollen Risiken, die in diesem Geschäft liegen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch ein vernünftiges Risikomanagement der Bau- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sparkassen entgegenwirken. Dafür wollen wir § 25 a des Kreditwesengesetzes bezüglich der Bausparkassen (B) Vizepräsidentin Petra Pau: präzisieren. Wir wollen den Bausparkassen auf beiden (D) Ich schließe die Aussprache. Seiten, sowohl auf der Ertragsseite als auch auf der Kos- tenseite, helfen, damit sie ihr Geschäftsmodell etwas fle- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- xibilisieren können. Wir wollen ihnen zusätzliche Hand- wurfs auf Drucksache 18/6419 an die in der Tagesord- lungsoptionen an die Hand geben, zum einen, indem wir nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Immobilienfinanzierungen, die nicht dem klassischen dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Bausparkredit entsprechen, durch Bausparkassen erlau- Dann ist die Überweisung so beschlossen. ben. Über die Möglichkeit zur Vergabe solcher Kredite Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: wollen wir weitere Einnahmemöglichkeiten für die Bau- sparkassen schaffen. Auf der anderen Seite wollen wir Erste Beratung des von der Bundesregierung ihnen die Möglichkeit der Finanzierung über Pfandbriefe eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes einräumen. Auch dafür brauchen wir eine entsprechende zur Änderung des Gesetzes über Bausparkas- Flexibilisierung. Das heißt, wir versuchen, sowohl auf sen der Kostenseite als auch auf der Ertragsseite ein Stück Drucksache 18/6418 weit für Entspannung zu sorgen. Dabei wollen wir am Überweisungsvorschlag: Spezialbankenprinzip für die Bausparkassen festhalten. Finanzausschuss (f) Wir wollen dieses Spezialbankenprinzip nicht aufgeben. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Wir haben, wie erwähnt, 21 Bausparkassen mit über Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für 30 Millionen Bausparverträgen. Das heißt, Bausparen die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- trifft in Deutschland nach wie vor auf eine sehr große nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Akzeptanz. Wir sprechen über mehr als 150 Milliarden Euro, die sich aktuell als Ansparsumme in Bausparver- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- trägen befinden. Das heißt, wir müssen mit dieser Frage mentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister. sehr sensibel und sehr sorgsam umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht – ich habe es angesprochen – um die Zins- bindungsfristen und damit um die Ertragsseite der Bau- Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun- sparkassen. Ich glaube, die Beantwortung der Frage, wie desminister der Finanzen: in Zukunft Bauspartarife gestaltet werden, ist nicht Auf- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- gabe der Politik und nicht Aufgabe der Entscheider hier gen! Wir sprechen heute über die Änderung des Bau- im Parlament, sondern das ist Aufgabe der Bausparkas- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13123

Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister (A) sen und deren Manager. Ich glaube, wir müssen die not- bensversicherungsreformgesetz die Beteiligung der Ver- (C) wendige Flexibilität schaffen, damit Tarife auch in dem sicherten an den Bewertungsreserven gekappt. jetzigen Umfeld regulatorisch wie marktseitig angeboten werden können. (Lothar Binding (Heidelberg) [SPD]: Das war klug!) Beispiele für Regelungen, die wir treffen, habe ich genannt. Wir wollen dabei auch zulassen, dass der Son- Auch am Mittwoch beim Fachgespräch des Finanzaus- derposten für die bauspartechnische Absicherung für Ka- schusses über Niedrigzinspolitik wurde deutlich, dass pitalanlagemöglichkeiten flexibler genutzt werden kann. man die Niedrigzinsphase zum gegenwärtigen Zeitpunkt Ich glaube, es ist richtig, dass wir bei der Bundesanstalt auf keinen Fall dämonisieren und auch keine falschen für Finanzdienstleistungsaufsicht dafür sorgen, dass die Schlüsse daraus ziehen sollte. Regulierung, die wir an dieser Stelle haben, genutzt wird, Bausparkassen werden fortan weitere Betätigungs- um sozusagen speziell auf dieses Modell einzugehen. felder eingeräumt, um ihre Ertragslage zu stärken. Sie In diesem Sinne möchte ich Sie bitten, diesen Gesetz- sollen neben ihrem Kerngeschäft, Bausparkassendarle- entwurf zügig zu beraten. Wir würden uns wünschen, ihn hen zu gewähren, nun auch gewöhnliche Baudarlehen zum Jahreswechsel 2015/2016 in Kraft zu setzen, um da- gewähren und Hypothekenpfandbriefe herausgeben, um mit den Bausparkassen eine Perspektive für die Zukunft sich zu refinanzieren. Diese Tätigkeitsausweitung steht zu bieten. dem bisherigen Kerngeschäft der Bausparkassen zwei- felsohne nahe. Aber ich frage mich, in welchem Umfang Wir haben mit Absicht gesagt, dass wir bei der gan- Bausparkassen personelle und auch finanzielle Ressour- zen Geschichte nicht nur auf die Bausparkassen schauen, cen haben, um stabilere und höhere Erträge zu erwirt- sondern auch die Interessen der Bausparer wahren wol- schaften. Ich bin mir auch unsicher, ob tatsächlich alle len. Die Interessen der Bausparer wahren wir, indem wir Bausparkassen von dieser Tätigkeitserweiterung profitie- als Gesetzgeber von Eingriffen in bestehende Verträge ren bzw. ob auch das notwendige Know-how in ganzer absehen. Ich glaube, das ist an dieser Stelle eine richti- Breite vorhanden ist. Es reicht nicht, dass das Finanz- ge Grundentscheidung und trägt dazu bei, dass bei Bau- ministerium betont, dass die Bankenaufsicht zukünftig sparern das Vertrauen in dieses Produkt und ihre Partner strenger beobachten muss. Das klingt für mich ein biss- erhalten bleibt. chen nach einem Pfeifen im Walde. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gut ist, dass im Gesetzesentwurf, so wie er jetzt vor- liegt, keine Aktienquote für die Kapitalanlagen von Bau- Ich darf Sie um eine positive Beratung dieses Gesetz- sparkassen festgelegt wurde. Das muss auch so bleiben. entwurfs bitten und hoffe, dass er am Ende in der dritten (B) Denn sonst würde auch hier wieder ein Einfallstor ge- (D) Lesung Ihre Zustimmung findet. schaffen werden, um die Gelder der Bausparer auf dem Vielen Dank. Börsenparkett aufs Spiel zu setzen. Da stellt sich dann noch mehr die Frage, inwieweit das Know-how bei den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorhanden ist, das Geld der Kunden in Aktien zu investieren. Das wäre aber Vizepräsidentin Petra Pau: tatsächlich überhaupt nicht das Kerngeschäft der Bau- Das Wort hat die Kollegin Susanna Karawanskij für sparkassen. die Fraktion Die Linke. Was uns nicht gefällt, ist die Einführung der Definiti- (Beifall bei der LINKEN) on eines Bausparerkollektivs; das gefällt uns überhaupt nicht.

Susanna Karawanskij (DIE LINKE): (Manfred Zöllmer [SPD]: Aber das hat doch Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Tradition bei euch!) und Kollegen! Liebe Gäste! In dieser Debatte geht es um Denn seit geraumer Zeit versuchen die Bausparkassen, Bausparkassen, um Anpassungen an das Risikomanage- ihre Kunden vorzeitig aus gut verzinsten Verträgen zu ment und um das Aufsichtsrecht in der EU, sodass die drängen; sie kündigen einseitig die Verträge. Zahlreiche neuen Aufgaben der Europäischen Zentralbank berück- Gerichtsverfahren laufen da noch. Die Urteile zeigen sichtigt werden können. Aber vor allen Dingen wird mit bislang noch keine klare Linie. Mit der Definition eines diesem Gesetzentwurf auf die Auswirkungen im Niedrig- Bausparerkollektivs könnte den Bausparkassen eine vor- zinsumfeld reagiert. Dauerhaft niedrige Zinsen können zeitige Kündigung erleichtert werden. Die Kündigung negative Auswirkungen auf Banken, auf Versicherungen eines hochverzinsten Altvertrages könnte immer als im und auf Bausparkassen haben. Doch man sollte genau Interesse des Kollektivs liegend begründet werden. So prüfen, ob die in Gesetzesform gegossenen Änderungen etwas stärkt einseitig die Lage der Bausparkassen, läuft tatsächlich zielführend sind und letzten Endes die Kun- allerdings den Interessen der Verbraucherinnen und Ver- den bzw. die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht braucher entgegen. Das ist mit uns nicht zu machen. benachteiligt werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte noch einmal daran erinnern: Obwohl die Ertragslage der meisten Lebensversicherer alles andere Auch die Lebensversicherungen berufen sich auf das als bedenklich ist und war, wurde zum Beispiel im Le- Versichertenkollektiv, um Verbraucherschutz und Rech- 13124 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Susanna Karawanskij (A) te der Versicherten – ich möchte als Beispiel die Über- – im Übrigen ein untrügliches Anzeichen dafür, dass es (C) schussbeteiligung anführen – zu umgehen. Bielefeld doch gibt, lieber Herr Kollege. (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist ja ein (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) derartiger Unsinn!) Gesetzlich geregelt wurde das Thema in Deutschland Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfas- 1973 durch das Bausparkassengesetz und die Bauspar- sen: Bausparkassen sollen nach diesem Gesetzentwurf kassenverordnung. Das Gesetz wurde dann 1991 novel- ihre Geschäfte ausweiten und höhere Erträge unter In­ liert, um den Weg in den europäischen Binnenmarkt zu kaufnahme größerer Risiken erwirtschaften dürfen. ebnen. In Deutschland haben wir eine duale Struktur der Mögliche Folgen für Verbraucher bleiben allerdings aus- Bausparkassen: die privaten Bausparkassen auf der einen geblendet. Ihre Stellung wird hier gerade nicht gestärkt. Seite und die Landesbausparkassen in der Trägerschaft Sie werden vielmehr größeren Unwägbarkeiten ausge- von Bundesländern und/oder Sparkassenorganisationen setzt, weswegen wir dringend für Nachbesserungen am auf der anderen Seite. Gesetzentwurf plädieren und diese fordern werden. In Warum brauchen wir eigentlich ein neues Gesetz? der Form, in der der Gesetzentwurf jetzt vorliegt, über- Wenn Sie aktuell unter diesem Stichwort einen Blick in zeugt er nicht. die Zeitungslandschaft werfen, dann stoßen Sie auf Mel- (Beifall bei der LINKEN) dungen wie – ich darf zitieren – „Der Niedergang der Bausparkassen“ – das war in der FAZ – oder – Zitat – „Der verzweifelte Überlebenskampf der Bausparkas- Vizepräsidentin Petra Pau: sen“; das war in der Welt. Es gibt also offensichtlich ein Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die Problem. SPD-Fraktion. Ich darf einen Bankenprofessor zitieren: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das Geschäftsmodell der Bausparkassen ist hoch- gradig gefährdet. Manfred Zöllmer (SPD): Er fährt fort: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bausparkassen sind Kreditinstitute, deren Geschäftsbe- Wenn die Niedrigzinsphase noch zwei, drei Jahre trieb darauf gerichtet ist, Einlagen von Bausparern ent- anhält, werden die ersten Bausparkassen in existen- gegenzunehmen und daraus Gelddarlehen für wohnungs- zielle Not geraten. wirtschaftliche Maßnahmen zu gewähren. – So definiert (B) (D) die BaFin das Geschäftsmodell von Bausparkassen. Sie seien die „Verlierer der Niedrigzinspolitik“. Zusammengefasst heißt das: ein paar Jahre sparen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich ist das dann einen günstigen Kredit fürs Haus bekommen. Dies paradox. Denn gerade die Niedrigzinspolitik der EZB hat basiert auf der Grundidee des kollektiven Bausparens. einen ungeahnten Immobilienboom ausgelöst. Die Flucht Liebe Kollegin Karawanskij, ich dachte, gerade die Lin- vieler Menschen in Betongold angesichts niedriger Zin- ke könnte mit dem Begriff des Kollektivs einigermaßen sen hat auf der anderen Seite aber auch die Branche der vernünftig umgehen. Bausparkassen in eine Krise gestürzt; denn die vor ei- nigen Jahren abgeschlossenen und angesparten Verträge (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sind nun nicht mehr attraktiv. Ein Immobiliendarlehen Aber ich habe mich da getäuscht. von einer Bank ist heute häufig zu viel günstigeren Zin- sen zu bekommen. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Mit der Solidarität im Kollektiv! Ja, aber die Frage ist In der Vergangenheit wurden von den Bausparkas- doch immer, welches Kollektiv Sie beschrei- sen ganz ordentliche Zinsversprechungen gemacht, um ben! – Zuruf von der SPD: Die SPD kann es für Anleger entsprechend attraktiv zu sein, sodass viele schon besser! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ Kunden heute ihr angespartes Geld lieber für ordentliche CSU]: Oh, jetzt wird es spannend! – Weiterer Zinsen bei der Bausparkasse parken und dies als lukra- Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD hätte das tive Geldanlage sehen, während sie sich den Kredit am besser tarnen können!) Markt besorgen. Das heißt, die Bausparkassen werden von ihren Kunden ein bisschen in den Schwitzkasten ge- Ihre Kritik habe ich da nicht verstanden. nommen. Deshalb ist der Gesetzgeber gefordert, das eine und das andere neu zu justieren. Die Idee ist im Übrigen sehr alt. Sie stammt aus China und kam dort bereits im 3. Jahrhundert vor Christus vor. Wir wollen auf die Herausforderungen der Niedrig- Die erste deutsche Bausparkasse für jedermann wurde zinsphase reagieren und das bewährte System der Bau- durch Pastor von Bodelschwingh 1885 in Bielefeld ge- sparkassen mit ihrer geschäftspolitischen Ausrichtung als gründet Spezialinstitute stärken; denn wir wollen und müssen den Wohnungsbau in Deutschland fördern. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat Ihnen Ihr Team denn da Ich sage aber noch einmal ganz ausdrücklich, dass aufgeschrieben? – Zuruf von der SPD: Biele- von diesen Regelungen, die wir anstreben, die Verbrau- feld gibt es gar nicht!) cherinnen und Verbraucher nicht betroffen sein werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13125

Manfred Zöllmer (A) Ihre Rechtsstellung bleibt unverändert. Ich glaube, das ist Vielen Dank. (C) eine ganz wichtige Botschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU)

Im Wesentlichen geht es darum, die Bausparkassen Vizepräsidentin Petra Pau: von einigen gesetzlichen Fesseln zu befreien und ihnen die Möglichkeit zu geben, auch in einer Niedrigzinspha- Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die se wirtschaftlich attraktiv zu bleiben, ohne dass wir die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Risiken im gesamten Finanzsystem damit erhöhen. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Zuge dieses Gesetzgebungsverfahrens werden wir Dr. Gerhard Schick deshalb die Frage prüfen müssen, ob wir eine Erhöhung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Beleihungsgrenze über 80 Prozent hinaus zulassen Die gerade vorgetragene Definition, was eine Bauspar- wollen. Bisher dürfen Bausparkassen Darlehen nur bis zu kasse macht, ist historisch richtig. Wenn man sich aber dieser Grenze vergeben. Aufgrund der von den Bauspar- anschaut, was Bausparkassen heute machen, dann sieht kassen vorzunehmenden Abschläge bei der Beleihungs- man: Es gibt dazu einen großen Unterschied. Die alte wertermittlung ergibt sich bei einer Beleihungsgrenze Idee ist: Erst wird der Bausparvertrag angespart, dann von 80 Prozent regelmäßig nur ein Anteil von ungefähr gibt es die Zuteilung, und danach habe ich die Möglich- 75 Prozent des Verkehrswerts, der von den Bausparkas- keit, meine Immobilie über einen Kredit zu finanzieren. sen ohne Zusatzsicherheiten finanziert werden kann. In beiden Phasen, sowohl beim Ansparen als auch beim Kredit, habe ich ein niedriges Zinsniveau. Eine gute Idee. Dies überfordert häufig gerade junge Familien finanzi- ell und benachteiligt die Bausparkassen im Wettbewerb. Tatsache ist aber, dass heute die Bausparkassen – das Wir werden deshalb prüfen, ob eine Erhöhung der Be- zeigt ein Blick auf die Bilanz des Bausparkassensektors leihungsgrenze mit dem Ziel einer stabilitätsgerechten in Deutschland – zu über drei Vierteln gar nicht mehr die- Ausgestaltung der Finanzmärkte vereinbar ist. ses Geschäft betreiben, sondern in den letzten Jahren – man muss sogar sagen: Jahrzehnten – der Anteil dieses Durch die Niedrigzinsen können Bausparkassen bei traditionellen Geschäftes kontinuierlich nach unten ge- vorgegebener konservativer Anlagestrategie nur geringe gangen ist, und zwar nicht erst, seitdem die Zinsen auf- Margen erzielen. Deshalb werden wir prüfen, wie stark grund der Finanzkrise so niedrig sind, sondern schon seit wir die Geldanlagemöglichkeiten erweitern können, um den 90er-Jahren. Damals war das Verhältnis noch umge- (B) die Ertragslage zu verbessern. (D) kehrt. Damals machte der Anteil des traditionellen Ge- Liebe Frau Karawanskij, es geht dabei natürlich nicht schäfts drei Viertel aus. Das ist heute nicht mehr der Fall. um eine Lizenz zum Zocken mit den Kundengeldern, An diese Stelle sind sogenannte Koppelungsgeschäfte (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das getreten. Das besagt, dass man eine Immobilienfinanzie- sagen Sie immer!) rung mit einem Bausparvertrag koppelt, der gleichzeitig angespart wird. Dabei muss man massive Zweifel haben, sondern um eine sachgerechte und beschränkte Erweite- ob dieses Modell für den Kunden eine günstige Lösung rung der Anlagemöglichkeiten der Bauspargelder in den ist. Warum haben sich denn die Bausparkassen über Jah- Bereichen „Aktien“ und „Forderungen aus nachrangigen re hinweg dagegen gewehrt, dass man für das Koppelpro- Verbindlichkeiten gegenüber Unternehmen“ – und das dukt gemeinsam den Effektivzins ausweisen muss? Der in einem sehr begrenzten Maße. Dass Sie Staatsanleihen Grund war, dass dadurch ein Vergleich möglich gewesen nicht für total sicher erklären können, wissen wir auf- wäre und deutlich geworden wäre, dass dieses Modell für grund dessen, was in den vergangenen Jahren passiert ist. den Verbraucher häufig nicht die günstigste Lösung ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Jetzt liegt uns ein Gesetzentwurf vor, in dem zu dieser CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ Fehlentwicklung überhaupt nichts steht. Das kann natür- DIE GRÜNEN]: Besser VW-Aktien!) lich überhaupt nicht überzeugen. Außerdem muss man – Das wird man sehen. sehen, dass die Finanzaufsicht sogar die Grundlage dafür gelegt hat. Es ist so, dass die Finanzaufsicht 2002 diese Daneben gibt es eine Reihe weiterer Punkte, denen Ausweitung nichttraditioneller Geschäfte ermöglicht hat. wir unsere besondere Aufmerksamkeit widmen werden. Auch davor, 1990, gab es mit dem Bausparkassengesetz eine Ausweitung dieser Möglichkeiten. Das hat insge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz- samt nicht dazu geführt, das traditionelle Bausparen zu entwurf wollen wir die Bausparkassen stärken. Bauspa- stärken, sondern das hat unseres Erachtens zu einer Fehl- ren soll auch zukünftig für Verbraucher attraktiv bleiben. entwicklung geführt. Für sie ändert sich nichts. Die bestehende Rechtsgrundla- ge bleibt erhalten. Es geht uns um eine sinnvolle Neujus- Diese Entwicklung im Gesetz fortzuschreiben und zu tierung einiger gesetzlicher Rahmenbedingungen, damit sagen: „Wir weiten die Möglichkeiten noch mehr aus“, die Bausparkassen auch in einer Niedrigzinsphase ihre heißt, dass Sie das Spezialitätsprinzip, das besagt, dass Aufgaben erfüllen können. Bausparkassen etwas anderes sind als Banken, noch wei- 13126 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Dr. Gerhard Schick (A) ter aufweichen. Ich glaube, wir müssen uns intensiv an- – So konnte man es verstehen. – Warum stehen wir heute (C) sehen, ob das der richtige Weg ist. hier? Wir stehen heute wegen der Zinspolitik der EZB in den letzten Jahren hier, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Es ist eine Frage, ob es wirklich sinnvoll und notwen- ist falsch! Das ist empirisch nicht belegt!) dig ist, dass Bausparkassen jetzt auch Pfandbriefe kau- einer Zinspolitik, die in dieser Form selbst Herr fen können. Welche Bausparkasse will das überhaupt? Dr. Schick nicht vorausgesagt hat. Bei aller Weisheit, Welche Bausparkasse kann das brauchen? Dann gehen die Sie hier regelmäßig reklamieren, haben auch Sie das Sie an den Fonds zur bauspartechnischen Absicherung nicht voraussagen können. heran: Er soll dazu beitragen, in der Niedrigzinsphase die Erträge zu stabilisieren. Allerdings hat er nur ein Vo- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lumen von 1,4 Prozent des gesamten Bausparguthabens Dann sagen Sie doch mal was zur Kritik, wenn in Deutschland. Ich halte die Hoffnung, dass man damit Sie so weise sind!) eine Stabilisierung erreichen könnte, für ziemlich wacke- – Das werde ich schon, Frau Kollegin, keine Angst. Mit lig und nicht überzeugend. Herrn Dr. Schick duelliere ich mich gern, zumindest ver- bal. Vor allem wollen wir sicherstellen, dass dieser Fehl- entwicklung, dass Kunden häufig Angebote bekommen, Zur Zinspolitik der letzten Jahre möchte ich sagen: Die die aus einem eigentlich guten Sektor stammen, aber einen oder anderen haben es noch nicht mitbekommen, angesichts dessen, wie es heute läuft, keine gute Lö- wie zum Beispiel bei der Lebensversicherung: Diesem sung sind, entgegengetreten wird und die Kunden somit Thema haben wir uns gewidmet. Die Kollegin Karliczek wieder gute Angebote erhalten. Zum einen müssen wir hat das hervorragend gelöst. Transparenz schaffen, sodass die Kunden die Produkte Wir haben uns mit dem Thema betriebliche Altersvor- vergleichen können. Zum anderen müssen wir fragen: sorge, dem Thema Bausparkassen und dem Thema Regi- Wie können wir der Fehlentwicklung der letzten Jahre onalbanken zu beschäftigen. Deswegen haben wir doch, mit diesem Gesetz begegnen, anstatt einfach die Fehlent- von allen Obleuten beschlossen, die Anhörung in dieser wicklungen fortzuschreiben und die Möglichkeiten der Woche durchgeführt. Warum haben wir diese Anhörung Bausparkassen auszuweiten? gemacht? Wir haben sie deswegen gemacht, weil alle der Meinung sind: Die EZB-Zinspolitik geht eigentlich am (B) Im Endeffekt machen Sie Folgendes: Aus der heutigen Markt vorbei und hat keine Auswirkungen. – Aber genau (D) Problemlage verschieben Sie die Risiken in die Zukunft. das Gegenteil ist der Fall. Es wird zusätzliche Risiken auf die Bilanz der Bauspar- kassen geben. Dann werden wir uns in einigen Jahren mit Und deswegen diskutieren wir heute über das Thema weiteren Fehlentwicklungen beschäftigen müssen. Die- Bausparkassen. Wir wollen ein gutes, traditionelles Pro- ser Ansatz kann nicht überzeugen. dukt zukunftsfähig machen.

Danke schön. Das Absurde an der Diskussion, die wir gerade führen müssen, ist, dass die Situation an den Kapitalmärkten in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den USA – von dort sind ja die Wirtschafts- und Wäh- und bei der LINKEN) rungsprobleme gekommen, und daraufhin sind entspre- chende Reaktionen der Europäischen Zentralbank, der Fed und der japanischen Zentralbank erfolgt – dazu führt, Vizepräsidentin Petra Pau: dass alle traditionell langfristigen Modelle in eine Schief­ lage kommen. Das ist die Konsequenz. Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege ­Alexander Radwan das Wort. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn aus- gerechnet diejenigen, die die Finanzmarktkrise ausgelöst (Beifall bei der CDU/CSU) haben, die Profiteure werden, weil die langfristigen Mo- delle geschliffen werden. Alexander Radwan (CDU/CSU): Darum ist es dringend notwendig, dass wir hier auf politischer Ebene mit den Maßnahmen reagieren, die Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bera- bereits diskutiert wurden, sei es durch die Ausgabe von ten heute in erster Lesung die Novellierung des Bauspar- Pfandbriefen oder mit der Möglichkeit, dass man sich im kassengesetzes. Nach den Reden der bisherigen Redner Bausparsektor breiter aufstellt. Dies alles wurde schon könnte man den Eindruck gewinnen: Der Grund, warum genannt. wir hier stehen, ist, dass die Bausparkassen große Fehler gemacht, dass sie falsche Geschäftsmodelle verfolgt ha- Letztendlich geht es in der Debatte heute darum – es ben und möglicherweise überflüssig sind. ist sehr wichtig, dass nicht in existierende Verträge oder generell in die Vertragsbeziehungen zwischen Bauspar- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Das hat kei- kasse und Bausparer eingegriffen wird –, dass das Ver- ner gesagt!) trauen erhalten und aufgebaut wird. Darum ist es wichtig, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13127

Alexander Radwan (A) dass hier nicht eingegriffen und dass das richtige Signal Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) ausgesandt wird. die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU – Susanna ­Karawanskij [DIE LINKE]: Wir nehmen Sie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege beim Wort, Herr Radwan!) Matthias B. Birkwald für die Fraktion Die Linke. Das Spezialbankensystem bleibt durch diesen Gesetz- (Beifall bei der LINKEN) entwurf erhalten. Mein dringender Appell an die euro- päische Ebene ist, dass auch das Spezialbankensystem bei der Regulierung berücksichtigt wird. Meine Bitte an Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): das BMF bzw. an die BaFin ist, dass man, wenn zum Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Beispiel auch in der EBA das Zinsänderungsrisiko the- Herren! Die ganz große Koalition aus Union, SPD, Grü- matisiert wird und man dort zu Vorgaben kommt, nicht nen und FDP hat im Jahr 2001 das Niveau der gesetzli- pauschal alles über einen Kamm schert und sagt: „Eine chen Rente auf Talfahrt geschickt. Um beinahe 20 Pro- Bausparkasse wird wie jede normale Bank behandelt“, zent wird die Rente bis 2030 gekürzt werden. sondern dass auch die europäische Ebene diese Beson- derheit in ihrer Normierung berücksichtigt. Wir sollten Nun frage ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: das Spezialbankensystem bei uns hochhalten und auch Was raten Sie den Menschen, wenn Sie gefragt werden, auf europäischer Ebene dafür sorgen, dass die Strukturen wie man für das Alter vorsorgen soll? Mit der Ries- erhalten bleiben und zukunftsweisend werden. ter-Rente wohl eher nicht; denn sie ist der totale Flop. Bausparverträge sind ein traditionelles, gutes Produkt, Nein, jetzt soll es die betriebliche Altersvorsorge rich- das sehr viele Menschen in Deutschland dazu gebracht ten. Sie steht im Koalitionsvertrag. Viel passiert ist da hat, Eigentum an Immobilien zu erwerben. Darum kön- bisher nicht. nen wir mit diesem Gesetzesvorschlag alle Debatten führen, die notwendig sind – die Kollegin Karliczek als Der Kollege Peter Weiß von der Union hat dazu ge- Berichterstatterin hat sich hierauf schon bestens vorbe- sagt – ich zitiere aus der FAZ vom 8. September –, er reitet –, um Korrekturen anzugehen. wolle, dass die Arbeitgeber mit Freude und Begeisterung Wir dürfen nichts unversucht lassen, damit das Bau- ihren Arbeitnehmern eine betriebliche Altersvorsorge sparen zukunftsweisend bleibt. Schließlich ist das Bau- anbieten. Tja, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur, was sparprodukt nicht als solches das Problem, sondern die die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber dann konkret mit Freude anbieten, welche schlechten Angebote sie ihren (B) ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen wir uns (D) bewegen. Das ist der eigentliche Haken, den wir sehen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dann oft machen und zu welchen Konditionen dann etwas angeboten wird: Besten Dank für die Aufmerksamkeit. Dazu habe ich von der Koalition bisher noch nichts ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding hört. Genau das ist das Problem. (Heidelberg) [SPD]: Aber die EZB ist nicht al- Zahlen die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen nämlich leine schuld! Wir applaudieren aber trotzdem!) nichts dazu, wie das heute leider oft üblich ist, dann ist die betriebliche Altersversorgung ein reines Minusge- Vizepräsidentin Petra Pau: schäft. Das sage nicht ich, sondern das sagt Georg Plötz, Ich schließe die Aussprache. der Altersvorsorgespezialist der Verbraucherzentrale Bayern. Das betone ich besonders für die CSU-Kollegin- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- nen und -Kollegen im Saal. wurfs auf Drucksache 18/6418 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wenn dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Sie die Arbeitgeber aus der Verantwortung und aus der Dann ist die Überweisung so beschlossen. Haftung entlassen, dann kümmern sie sich gar nicht mehr Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: um die Konditionen der Betriebsrenten ihrer Beschäf- tigten. Schon heute sind Direktversicherungen bei den Beratung des Antrags der Abgeordneten Ha- Chefs am beliebtesten; denn damit hat der Arbeitgeber rald Weinberg, Matthias W. Birkwald, Sabine nicht viel Arbeit. Er oder sie schließt dann zum Beispiel ­Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter bei der Allianz oder AXA einfach eine Lebensversiche- und der Fraktion DIE LINKE rung für die Beschäftigten ab, mehr nicht. Gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Viele Beschäftigte verstehen gar nicht, was daran Direktversicherungen und Versorgungsbezü- noch betriebliche Altersversorgung sein soll. Denn der ge – Doppelverbeitragung vermeiden Arbeitgeber macht gar nichts mehr, gerade bei Direkt- Drucksache 18/6364 versicherungen. Überweisungsvorschlag: Meine Damen und Herren, im März dieses Jahres habe Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ich mich mit Vertretern des Vereins Direktversicherungs- Finanzausschuss geschädigte e. V. getroffen. GMG-Geschädigte haben sie Ausschuss für Arbeit und Soziales sich vorher genannt. 7,6 Millionen solcher Verträge gibt 13128 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Matthias W. Birkwald (A) es. GMG, liebe SPD, steht für Ihr Gesundheitsmoderni- und Pflegeversicherungsbeiträge mehr fällig werden. Al- (C) sierungsgesetz von 2004. les andere ist ungerecht und Garantiert beschissen! Das ist übrigens der Titel eines druckfrischen Buches über (Mechthild Rawert [SPD]: Gutes Gesetz!) den ganz legalen Betrug mit den Lebensversicherungen. Schade, dass die Kollegin Ulla Schmidt nicht im Saal ist. Sie hat das GMG damals ja mit dem heutigen Mi- Danke. Schönes Wochenende! nisterpräsidenten Seehofer verhandelt. In diesem Zu- (Beifall bei der LINKEN) sammenhang erinnere ich mich an einen Satz von Herrn Seehofer. „Das war eine der schönsten Nächte meines Lebens“, sagte er. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt für die (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das CDU/CSU-Fraktion. wissen wir noch!) Für die Betroffenen sollte es aber ein böses Erwachen (Beifall bei der CDU/CSU) geben. Sie hatten nämlich bereits Direktversicherungen abgeschlossen und ihre Versicherungsprämien aus ver- Dietrich Monstadt (CDU/CSU): beitragtem Einkommen gezahlt, also aus ihrem Netto- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- einkommen. Und dann beschließt Gesundheitsministerin nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kol- Ulla Schmidt aus Geldnot, dass diese Beschäftigten auch lege Birkwald, Sie sollten sich vielleicht weniger mit den bei der Auszahlung im Alter volle Beitrage zur gesetz- schönen Nächten von amtierenden Ministerpräsidenten lichen Krankenversicherung zahlen müssen. Zum zwei- befassen und dafür mehr mit Fakten. Diese versuche ich ten Mal volle Beiträge! Was heißt das? Das sind knapp Ihnen gleich einmal zu erklären. 20 Prozent; denn die Rentnerin bzw. der Rentner zahlen den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberbeitrag, und dann Bis zum 31. Dezember 2003 hatten versicherungs- ist das häufig eine dreifache Belastung. Das nenne ich pflichtige Rentner aus Versorgungsbezügen nur die Hälfte kalte Enteignung, und das ist extrem ungerecht. des allgemeinen Beitragssatzes der jeweiligen Kranken- kasse zu zahlen. Durch das GKV-Modernisierungsgesetz (Beifall bei der LINKEN) unter Rot-Grün ist diese Rechtslage mit Wirkung zum Ein Beispiel: Giuseppe Burcheri, ein ehemaliger 1. Januar 2004 so geändert worden, dass der Beitrags- Ford-Mitarbeiter, zahlte während seines Arbeitslebens, satz für Versorgungsbezüge von Pflichtversicherten vom und er zahlt im Alter noch einmal. Was zahlt er? Er zahlt halben auf den vollen allgemeinen Beitragssatz der je- den eigenen und den Krankenversicherungsbeitrag des weiligen Krankenkasse angehoben wurde. Freiwillig in (B) (D) Arbeitgebers für eine sogenannte Betriebsrente. Hätte er der GKV versicherte Rentnerinnen und Rentner hatten eine private Zusatzversicherung abgeschlossen, hätte er aus Versorgungsbezügen bereits vor dem 1. Januar 2004 aus seiner Zusatzrente gar keinen Krankenversicherungs- einen Beitrag nach dem vollen ermäßigten Beitragssatz beitrag gezahlt, nicht einen Cent. „Hätte ich das damals zu zahlen. Insoweit sind die Vorschriften für die Bei- gewusst, hätte ich die Versicherung nie abgeschlossen“, tragsberechnung aus Versorgungsbezügen für freiwillig sagte Giuseppe Burcheri völlig zu Recht. Aber er konn- versicherte Rentner und pflichtversicherte Rentner ange- te nicht wissen, was die damalige Gesundheitsministerin glichen worden. Im Ergebnis ist damals Gleichheit bzw. Ulla Schmidt eiskalt, rückwirkend, ohne jeglichen Ver- Gleichberechtigung im Sinne der Solidargemeinschaft trauensschutz und für alle Altverträge beschließen wür- geschaffen worden. Dies hat in der Folge auch die Recht- de. Das hat sie aber. Deshalb musste Peter Weber von sprechung so gesehen. Untergesetzliche Urteile haben seinen 21 874 Euro nun 5 131 Euro an seine Kranken- schon frühzeitig festgestellt, dass die Erhebung von Bei- kasse zahlen, so ein Beispiel aus der Wirtschaftswoche trägen aus Kapitalleistungen der betrieblichen Direktver- von gestern. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen sicherung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. von SPD und Union, fordere ich Sie auf: Lassen Sie den Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungs- Menschen endlich Gerechtigkeit widerfahren! Schaffen gemäßheit dieser Regelung unter anderem mit Beschluss Sie die Doppelverbeitragung ab! vom 6. September 2010 bestätigt. (Beifall bei der LINKEN) Sicherlich war die Finanzlage der GKV im Jahre 2003 Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der klipp und klar eine andere als heute. In fünf Jahren wird sie wieder an- regelt, dass Sozialversicherungsbeiträge für Betriebsren- ders aussehen. Auf diese veränderten Bedingungen müs- ten nur einmal abgeführt werden müssen. sen wir reagieren. Genau dies machen wir aktuell. Über das Thema Direktversicherung wird derzeit in meiner Fraktion ausführlich im Rahmen einer fachübergreifen- Vizepräsidentin Petra Pau: den Arbeitsgruppe zum Thema „Stärkung der betriebli- Kollege Birkwald. chen Altersvorsorge“ diskutiert. Federführend ist hier der Ausschuss für Arbeit und Soziales. (DIE LINKE): Matthias W. Birkwald (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ein Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Wenn be- guter Ausschuss!) reits in der Ansparphase Sozialversicherungsbeiträge ab- geführt werden, dann dürfen in der Leistungsphase bzw. – Gut, dass Sie das anerkennen. Hätten Sie das auch ein- auf die Kapitalabfindung keine Krankenversicherungs- mal gesagt! Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13129

Dietrich Monstadt (A) Im Gegensatz zu den Antragstellern steht die unions- gesetzlichen Krankenversicherung; diese Rechtslage (C) geführte Koalition für eine wohldurchdachte und sachge- ist genau aus diesem Grund auch in höchstrichterlicher rechte Politik. Wir stehen für Verlässlichkeit. Wir stehen Rechtsprechung nicht beanstandet worden. Eine Neuge- für Nachhaltigkeit. Wir stehen für Generationengerech- staltung im Beitragsrecht der GKV muss sorgfältig ab- tigkeit. gewogen und geprüft werden. Deshalb werden wir zu- nächst die Ergebnisse der Arbeit der fachübergreifenden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Arbeitsgruppe abwarten. Vor diesem Hintergrund wird Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger uns in die es Sie nicht überraschen, dass wir Ihren Antrag ablehnen Regierungsverantwortung gewählt und nicht die Partei müssen. Die Linke. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch! – (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schade eigent- muss es noch andere Gründe geben!) lich!) Daher überrascht nicht, dass Sie diesen absolut über- Herzlichen Dank. flüssigen Antrag noch mit einem Antrag zur Bürgerver- (Beifall bei der CDU/CSU) sicherung anreichern. Vielleicht war der Antrag aber auch nur noch Mittel zum Zweck, um darüber heute noch einmal zu diskutieren, und dies vor dem auch Ihnen be- Vizepräsidentin Petra Pau: kannten Hintergrund, dass die mit der Einführung einer Die Kollegin Maria Klein-Schmeink hat für die Frak- Bürgerversicherung verbundene Abschaffung der priva- tion Bündnis 90/Die Grünen jetzt das Wort. ten Krankenvollversicherung verfassungsrechtlich nicht zulässig bzw. höchst fragwürdig ist. Sie als Antragsteller Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wissen ganz genau – Sie sollten das jedenfalls wissen –, NEN): dass Sie bisher nichts, aber auch gar nichts an tragfähigen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- Konzepten vorgestellt haben, ginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken greift ein (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Problem auf, von dem viele von uns erfahren haben. Sehr Doch! Sie haben den Antrag nicht gelesen! – viele von Ihnen werden genauso wie ich und andere Kol- Dr. ­Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie ha- legen Briefe erhalten haben, in denen wir von empörten ben ihn nicht verstanden!) und entrüsteten Rentnern, Frührentnern und Neurent- nern, Klagen darüber erhalten haben, dass die Belastung nichts, mit dem man sich auch nur ansatzweise sachge- aus dieser zusätzlichen Verbeitragung ihnen erstens nicht (B) recht auseinandersetzen könnte. bekannt war und sie diese zweitens nicht akzeptabel fin- (D) Wir als CDU/CSU-Fraktion stehen für ein freiheitli- den. Das ist das eine. Insofern greifen Sie ein Gerechtig- ches Gesundheitswesen. Wir setzen auf Wettbewerb zwi- keitsdefizit auf, das tatsächlich vorhanden ist. schen den Krankenkassen, zwischen GKV und PKV. Aber die Linken versuchen mit ihrem Antrag, mit dem (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mittel des Krankenversicherungsbeitragsrechts ein Pro- NEN]: Es gibt keinen Wettbewerb zwischen blem zu lösen, das viel vielschichtiger ist. Es ist näm- GKV und PKV!) lich ein Problem, das wir insgesamt in der Behandlung der betrieblichen Altersversorgung auf der einen Seite Nur wettbewerbliche Strukturen können Effizienzreser- und der anderen Formen von Altersvorsorge auf der an- ven im Gesundheitssystem heben. Wir wollen Vielfalt deren Seite haben. Da haben wir sowohl steuerrechtlich und Wahlmöglichkeiten im Sinne der Versicherten si- als auch beitragsrechtlich verschiedene und voneinander cherstellen. abweichende Formen der Behandlung und Berücksichti- Genau das ist der Grund, warum die Menschen in gung. Das wirft das eigentliche Problem auf und macht unserem Land nicht nur uns, sondern auch unserem Ge- die Schieflage aus. Deshalb meinen wir, dass der Ansatz, sundheitswesen vertrauen und nicht Ihnen, meine Damen den die Linken gewählt haben, so nicht taugt. und Herren von den Linken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben richtig!) Sie einen besseren Ansatz? Dem würden wir gerne zustimmen!) Die Einnahmen der GKV aus der Verbeitragung von Versorgungsbezügen betragen derzeit jährlich rund Aber wir sollten den Antrag zum Anlass nehmen, ge- 5,2 Milliarden Euro, wobei der größte Teil auf Beiträge nau hinzuschauen, wie denn eigentlich die Ausgestaltung für Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ent- sein muss. Es ist in der Tat für die Bevölkerung wenig fällt. Die Beiträge aus den Versorgungsbezügen stellen akzeptabel und nicht hinnehmbar, dass wir völlig unter- somit ein unverzichtbares Element für die nachhaltige Fi- schiedliche Arten der Verbeitragung haben, dass es einen nanzierung des Solidarprinzips der GKV dar. Als Gegen- Unterschied macht, ob im Wege der Entgeltumwandlung leistung steht der umfassende Versicherungsschutz in der aus dem Bruttoentgelt der Arbeitgeber gezahlt hat – dann GKV auch für diese Beitragspflichtigen zur Verfügung. ist es beitragsfrei –, ob der Arbeitnehmer aus dem Brut- toentgelt gezahlt hat – dann ist es auch beitragsfrei – oder Die aktuelle Rechtslage dient somit auch der Erhal- aber ob er es aus seinen Nettoeinnahmen gezahlt hat – tung der Stabilität der Finanzierungsgrundlagen der dann ist es nicht beitragsfrei. 13130 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Maria Klein-Schmeink (A) Der ganze Kuddelmuddel geht in der Auszahlungs- Stelle grundsätzlich über die betriebliche Altersversor- (C) phase noch weiter. Bei der betrieblichen Rente habe ich gung und über die solidarische Bürgerversicherung dis- Teile, die beitragsfrei sind, andere Teile, die nicht bei- kutieren, beschränke ich mich heute auf klarstellende tragsfrei sind. Habe ich aber einfach eine private Versi- Erläuterungen. cherung, dann zahle ich keinen Beitrag. Das ist ein Ne- beneinander, das die Menschen nicht verstehen können. Worum geht es? Bis 2004 waren Versorgungsbezü- Das akzeptieren sie nicht. Da müssen wir heran, und da ge, die monatlich ausgezahlt wurden, beitragspflichtig, müssen wir eine Harmonisierung erreichen. Dieses Pro­ während Versorgungsbezüge, die am Vertragsende als blem müssen wir angehen. Einmalauszahlung ausgezahlt wurden, beitragsfrei wa- ren. Diese Ungleichbehandlung musste beendet werden, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und sie wurde beendet. Eine Gleichbehandlung gibt es sowie des Abg. Lothar Binding (Heidelberg) seit dem 1. Januar 2004. Nach dem Willen des rot-grü- [SPD]) nen Gesetzgebers sollten pflichtversicherte Rentnerinnen Daher sollten wir den Ball, der uns mit diesem Antrag und Rentner auch auf Versorgungsbezüge Krankenversi- zugespielt wurde, durchaus aufnehmen; aber das, was cherungsbeiträge zahlen, die als Einmalzahlung geleistet Sie vorschlagen, nämlich jede Form der Doppelverbei- werden. Ein Beispiel dafür ist eine Lebensversicherung, tragung abzuschaffen, wirft erhebliche Probleme für das die über den Arbeitgeber als sogenannte Direktversiche- Beitragsrecht in der GKV auf. Heute ist es so: Beiträge rung gezahlt wurde. werden dann gezahlt, wenn Einkommen zufließt. Wenn Infolge dieser politischen Entscheidung sind mehr- Sie dieses Prinzip aufheben, dann durchbrechen Sie ein fach Verfassungsbeschwerden gegen diese Krankenkas- grundlegendes Prinzip, das wir in der GKV haben. Das senabzüge erhoben worden. Doch nur eine dieser Kla- würde sehr viele Folgewirkungen mit Blick auf das Ge- gen hatte Erfolg: Nur dann, wenn eine vom Arbeitgeber rechtigkeitsempfinden haben. Daher kann das nicht pas- abgeschlossene betriebliche Direktversicherung privat sieren. Wenn Sie an dieser Stelle nämlich wirklich wei- fortgeführt wird und sich der Arbeitnehmer, die Arbeit- terdenken würden, dürften Sie die Rente insgesamt nicht nehmerin im Vertrag als Versicherungsnehmer oder Ver- mehr verbeitragen, und das kann an dieser Stelle so nicht sicherungsnehmerin einträgt, können diese der Beitrags- gehen. pflicht – in Gänsefüßchen – entkommen, so die Richter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Richterinnen. Mit anderen Worten: Pflichtversi- sowie bei Abgeordneten der SPD) cherte Rentner und Rentnerinnen müssen auf Leistungen, die auf arbeitnehmerfinanzierten Lebensversicherungs- Aber wir sollten den Ball aufnehmen, und ein ganz beiträgen beruhen, dann keine Versicherungsbeiträge (B) wichtiger Ball ist ja tatsächlich die Bürgerversicherung. zahlen, wenn sie selbst als Krankenversicherungsnehmer (D) Mit der Bürgerversicherung würden wir erstmals die oder -nehmerin in der Police stehen. verschiedenen Einkommensarten zusammen betrach- ten, würden eben nicht unterschiedlich mit Einkommen Die Argumentation des höchsten deutschen Gerichtes aus Löhnen und Gehältern auf der einen Seite und aus war: Wenn der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin selbst Mieten, Pachten und anderen Kapitaleinnahmen auf der zahlt und dieser bzw. diese der alleinige Versicherungs- anderen Seite umgehen. Das ist ein ganz wichtiger Bei- nehmer bzw. die alleinige Versicherungsnehmerin ist, trag: erstens für mehr Gerechtigkeit, zweitens für eine entfällt jeglicher Bezug zum Arbeitsverhältnis. Die Ver- Stärkung der Einnahmebasis sowohl in der Krankenver- sicherung ist dann genauso zu behandeln wie eine private sicherung als auch in anderen Systemen. Von daher ist Kapitallebensversicherung, die ja bei Pflichtversicherten die Bürgerversicherung ein ganz wichtiger Schlüssel, mit ebenfalls keine Beitragspflicht in der gesetzlichen Kran- dem da Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Diesen kenversicherung auslöst. Weg sollten wir in Zukunft einschlagen. Die damaligen Beweggründe von Rot-Grün waren: Herzlichen Dank. Die Neuregelung sollte dazu beitragen, die Unterdeckung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Krankenversicherung der verrenteten Menschen sowie des Abg. Lothar Binding (Heidelberg) zu verringern. Damals wurden die Gesundheitsausgaben [SPD]) für die ältere Generation überwiegend von der erwerbstä- tigen Generation finanziert. Richtig ist auch heute noch: Die jüngere Generation unterstützt die ältere, indem sie

Vizepräsidentin Petra Pau: finanzielle Lasten auch für ein höheres Krankheitsrisiko Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die trägt. SPD-Fraktion. Mit der Neuregelung wurde entschieden, hier für ei- (Beifall bei der SPD) nen stärkeren Ausgleich zwischen den Generationen zu sorgen. Zur Beitragszahlung verstärkt herangezogen Mechthild Rawert (SPD): wurden aber nur die Rentnerinnen und Rentner, deren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eine solche battieren heute in erster Lesung einen Antrag der Linken Mehrbelastung auch zuließ. Das ist insbesondere bei de- zum sperrigen Thema „Gerechte Krankenversicherungs- nen der Fall, die zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Rente beiträge für Direktversicherungen und Versorgungsbezü- Einkünfte aus Versorgungsbezügen – wie gesagt: Le- ge – Doppelverbeitragung vermeiden“. Da wir an anderer bensversicherung mit Kapitalabfindung – beziehen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13131

Mechthild Rawert (A) Die Verfassungsmäßigkeit – das habe ich schon ge- im Alter in Deutschland gebracht; das sollte man nicht (C) sagt – wurde wiederholt bestätigt. Die Erhebung von vergessen. Beiträgen auf Kapitalleistungen aus der betrieblichen Di- rektversicherung war und ist den betroffenen Versicher- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten zumutbar. Der Gesetzgeber ist auch berechtigt, jünge- NEN]: Und eine Hypothek für die Beitrags- re Krankenversicherte bei der Finanzierung des höheren zahler!) Aufwands für die Rentnerinnen und Rentner zu entlasten Damit bekämpfen und verhindern wir drohende Altersar- und diese selbst zur Finanzierung heranzuziehen. mut, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Wir haben gemerkt, dass es in dem Antrag mehrere Rentnerinnen und Rentner können für das kommende Vermischungen gibt. Es wird über die betriebliche Al- Jahr, für 2016 – das dürfen wir auch nicht vergessen –, tersvorsorge als Ganzes diskutiert. Es wird auf die Bür- mit einem deutlichen Anstieg ihrer Renten, ihrer Bezü- gerversicherung Bezug genommen, die wir auch wollen. ge rechnen; er wird zwischen 4 Prozent und 5 Prozent Des Weiteren wird über Gerechtigkeit und Solidarität betragen. diskutiert. Der Antrag ist in sich aber nicht stringent. Das (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Einmal werden wir im Weiteren – dafür gehen wir in die parla- und dann nie wieder!) mentarische Beratung – diskutieren. Das ist ein weiterer Baustein zur Alterssicherung. Ich Ich freue mich auf die Diskussion und wünsche uns glaube, das kann man nicht bestreiten. Auch für die allen ein schönes Wochenende. nächsten Jahre – wir hoffen natürlich, dass die wirtschaft- liche Entwicklung so weitergeht – ist nicht auszuschlie- (Beifall bei der SPD) ßen, dass es für die Rentnerinnen und Rentner steigende Bezüge geben wird. Vizepräsidentin Petra Pau: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Der Kollege Erich Irlstorfer hat für die CDU/ Rentenniveau sinkt bis 2030!) CSU-Fraktion das Wort. Mit anderen Worten: Ich denke, die Große Koalition leistet hier ganze Arbeit bei der Bekämpfung von Alters­ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- armut. Das wird auch die politische Kernarbeit dieser ordneten der SPD) Koalition bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): (B) Ich möchte auf den vorliegenden Antrag aber auch (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! noch unter einem anderen Blickwinkel eingehen. Wir besprechen heute einen Antrag der Fraktion Die Lin- ke zum Thema „Verbeitragung bei Direktversicherungen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Versorgungsbezügen“. Dieser Antrag bezieht sich NEN]: Zum ersten Mal überhaupt!) auf einen Gegenstand, der über die Gesundheitspolitik Ohne mir die Politik der damaligen rot-grünen Bundes- hinausgeht und in einem etwas weiteren Zusammenhang regierung zu eigen machen zu wollen: Was die Gesetzes­ steht, nämlich im Zusammenhang mit der Alterssiche- änderung im Jahr 2004 angeht, muss man einfach aner- rungspolitik in ihrer Gesamtheit. kennen, wenn man rückblickend darauf schaut, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir damals eine (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Richtig!) andere Situation hatten. Die Kollegin von den Grünen, Die Position vieler Bürgerinnen und Bürger, die eine Frau Klein-Schmeink, hat gesagt: Da müssen wir noch hohe finanzielle Belastung durch die doppelte Verbeitra- einmal genau hinschauen. – Ich glaube, da sind wir gar gung beklagen, kann ich durchaus nachvollziehen. Ziel nicht so weit auseinander. der christlich-sozialen Politik ist es, zu gewährleisten, Natürlich möchte ich Ihnen am Freitagnachmittag dass die Menschen im Alter in Deutschland mit ihren meine Ausführungen zur Bürgerversicherung ersparen; Renten auskommen. In diesem Zusammenhang darf ich vermutlich kennen Sie sie auch schon. Es ist aber darauf daran erinnern, dass die CSU mit der Mütterrente zu Be- hinzuweisen – das wurde vorhin auch schon kurz ge- ginn dieser Wahlperiode eines ihrer zentralen Verspre- tan –, dass das Bundesverfassungsgericht die Einbezie- chen eingelöst und umgesetzt hat. hung der Versorgungsbezüge in die Beitragspflicht nicht nur gebilligt, sondern wegen des in der GKV geltenden (Beifall bei der CDU/CSU – Markus Kurth Solidaritätsprinzips sogar für geboten erachtet hat. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf wessen Kosten?) Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz wurde eine bis dahin bestehende Möglichkeit, Krankenversicherungs- Ich möchte nicht verhehlen, meine sehr geehrten Da- beiträge auf die Versicherungsleistungen zu umgehen, men und Herren, dass das eine oder andere Element im beendet. Zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung deck- Rentenpaket aus meiner Sicht als Kompromisslösung zu ten zudem die eigenen Beitragszahlungen der Rentner werten ist und nicht unbedingt im Einklang mit meinen nur noch gut 40 Prozent ihrer Leistungsausgaben in der Vorstellungen ist. Das Rentenpaket in seiner Gesamtheit Krankenversicherung ab, was natürlich durchaus frag- aber hat eine deutliche Verbesserung für die Menschen würdig ist. 13132 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

Erich Irlstorfer (A) Wesentlich ist für mich, dass die Finanzierung der ge- Ich möchte das Ganze zunächst noch einmal in den (C) setzlichen Krankenversicherung Ausdruck eines fairen Gesamtkontext stellen. Wir reden hier eigentlich nicht Generationenvertrags ist. Darum geht es schlussendlich, über die Rentenversicherung, sondern über die Kranken- wenn wir eine ausgewogene Lastenverteilung zwischen versicherungsbeiträge bei Direktversicherungen, also ei- Rentnern und Erwerbstätigen in die Praxis umsetzen. Ich gentlich über die Finanzierung der Krankenversicherung. glaube, im Großen und Ganzen wird die Finanzierung Wenn man sich Ihren Antrag genau anschaut, erkennt der GKV diesen Zielen auch gerecht. man, dass der zweite Absatz ja auch eher eine Grundauf- forderung ist, die Krankenversicherung zu reformieren. Nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass die Insofern war ich froh, als ich gesehen habe, dass Sie nach Beiträge, um die es hier geht, im System der GKV blei- den Eingangsstatements auf den Kern zurückgekommen ben und somit eben auch den Beitragszahlerinnen und sind. Deswegen möchte ich auch noch etwas zur Kran- Beitragszahlern, den Versicherten, zugutekommen, eben- kenversicherung sagen. so ihren Kindern und Kindeskindern. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein Wir haben in der Großen Koalition gerade erst eine Viertel von der Gesamtleistung fast!) Menge Pakete in Angriff genommen, mit denen wir enorm viel für die Verbesserung der Versorgung gerade Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum der gesetzlich Krankenversicherten getan haben. Schluss. Ich habe – ich sagte es bereits – wirklich Ver- ständnis für die Menschen, die eine finanzielle Über- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten forderung im Alter beklagen, auch durch die Beiträge der CDU/CSU) zur gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Koalition arbeitet nicht nur an Verbesserungen bei den Rentenbe- Das ist auch und gerade vor dem Hintergrund zu se- zügen und für eine nachhaltig starke wirtschaftliche Ent- hen, dass wir es natürlich mit einem demografischen wicklung, sondern es gelingt ihr auch. Wandel zu tun haben – da wird uns im Übrigen immer noch vorgehalten, dass wir nicht genug getan haben im (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Na ja! – Hinblick auf die Pflege und andere Dinge – und dieser Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir demografische Wandel zwei Effekte hat. Der sehr po- werden es sehen!) sitive Effekt ist, dass wir alle durchaus älter werden. Aber dadurch, dass wir alle älter werden, erhöhen sich In diesem Sinne herzlichen Dank. auch die Krankheitskosten, die Kosten für Pflege und (Beifall bei der CDU/CSU) Ähnliches mehr. Das Ganze muss bezahlt werden, und zwar generationengerecht. Schon die damalige Regie- rung verfolgte den Ansatz: „Wir müssen das generati- (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) onengerechter machen“, ein Ansatz übrigens – das ha- Das Wort hat der Kollege Dirk Heidenblut für die ben wir vorhin schon gehört –, der vom Gericht bereits SPD-Fraktion. bestätigt wurde. (Beifall bei der SPD) Wenn man sich jetzt Ihren Antrag genau anschaut, dann sieht man, dass Sie eigentlich wieder versuchen, Dirk Heidenblut (SPD): uns Ihre Vorstellung davon, wie das Versicherungssys- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tem aussehen sollte – ich will das hier nicht diskutieren; Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst Sie wissen, dass wir als SPD an der einen oder anderen einmal, Herr Kollege Birkwald, bei aller Wertschätzung Stelle durchaus ein wenig Sympathie dafür haben –, na- für unsere ehemalige Ministerin Schmidt und auch für hezubringen. Aber Sie tun dies, indem Sie eine beste- unseren jetzigen Minister Gröhe: Gesetze machen immer hende Problematik, die im Rahmen der betrieblichen noch die Parlamente. Insofern kann keine Ministerin, Versicherung womöglich auch mit angesprochen wer- auch kein Minister jemandem per Gesetz eiskalt etwas den muss, mit Ihrem Mäntelchen versehen. Im Übrigen wegnehmen oder geben. Es wäre schon Sache des Parla- beschäftigen wir uns gerade mit der Frage der Rente, ments, dies zu tun. auch der betrieblichen Rente; das ist ja schon deutlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD – ­Matthias geworden. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist kein Mittel, W. Birkwald [DIE LINKE]: Das macht es uns auf diesem Weg immer wieder die gleichen Debat- nicht besser!) ten aufzuzwingen. Das wird leerlaufen, so wie es bisher leergelaufen ist. Das will ich an dieser Stelle nur klarstellen, ganz abgese- hen davon, dass das seinerzeit kein eiskaltes Wegnehmen Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. oder Geben war. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wie bei der letzten Rede in einer Debatte so üblich, der CDU/CSU) neigt man dazu, einiges zu wiederholen. Dafür entschul- dige ich mich im Vorhinein. Aber wie Sie sehen, habe ich nur drei Minuten Redezeit. Das wird also nicht ganz so Vizepräsidentin Petra Pau: hart werden. Ich schließe die Aussprache. (Heiterkeit des Abg. Markus Kurth [BÜND- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf NIS 90/DIE GRÜNEN]) Drucksache 18/6364 an die in der Tagesordnung aufge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13133

Vizepräsidentin Petra Pau (A) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- (C) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung tages auf Mittwoch, den 11. November 2015, 13 Uhr, ein. so beschlossen. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute. Die Sitzung ist geschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. (Schluss: 15.40 Uhr)

Berichtigung 133. Sitzung, Seite 12928 B, letzter Zuruf ist wie folgt zu lesen: (Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Dann fragen Sie einmal Ihren Klempner!)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13135

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bluhm, Heidrun DIE LINKE 06.11.2015 Lay, Caren DIE LINKE 06.11.2015

Bülow, Marco SPD 06.11.2015 Maizière, Dr. Thomas de CDU/CSU 06.11.2015

Feiler, Uwe CDU/CSU 06.11.2015 Petzold (Havelland), DIE LINKE 06.11.2015 Harald Gabriel, Sigmar SPD 06.11.2015 Schröder (Wiesbaden), CDU/CSU 06.11.2015 Glöckner, Angelika SPD 06.11.2015 Dr. Kristina

Kelber, Ulrich SPD 06.11.2015 Thönnes, Franz SPD 06.11.2015

Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ 06.11.2015 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ 06.11.2015 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Klimke, Jürgen CDU/CSU 06.11.2015 Wicklein, Andrea SPD 06.11.2015

Kolbe, Daniela SPD 06.11.2015

(B) (D) 13136 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Anlage 2 (C) Endgültiges Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung im Stimmzettelverfahren über vier Gesetzentwürfe zur Sterbebegleitung Abgegebene Stimmen insgesamt: 602 Ungültige Stimmen: 3 Gültige Stimmen: 599 Nein-Stimmen: 70 Enthaltungen: 3

Es entfielen auf die Gesetzentwürfe der Abgeordneten Michael Brand, Kerstin Griese, ­Kathrin Vogler und weiterer Abgeordneter Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – Drucksache 18/5373 und 18/6573 – 309 Stimmen

der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach und weiterer Abgeordneter Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung – Drucksache 18/5374 und 18/6573 – 128 Stimmen

der Abgeordneten Renate Künast, Dr. Petra Sitte, Kai (B) Gehring und weiterer Abgeordneter (D) Entwurf eines Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung – Drucksache 18/5375 und 18/6573 – 52 Stimmen

der Abgeordneten Dr. Patrick Sensburg, Thomas ­Dörflinger, Peter Beyer und weiterer Abgeordneter Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Teilnahme an der Selbsttötung – Drucksache 18/5376 und 18/6573 – 37 Stimmen

Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. CDU/CSU Stephan Albani x Katrin Albsteiger x Peter Altmaier x Artur Auernhammer x Dorothee Bär x Thomas Bareiß x Günter Baumann x Maik Beermann x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13137

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Manfred Behrens (Börde) x Veronika Bellmann x Sybille Benning x Dr. André Berghegger x Dr. Christoph Bergner x Ute Bertram x Peter Beyer x Steffen Bilger x Clemens Binninger x Peter Bleser x Dr. Maria Böhmer x Wolfgang Bosbach x Norbert Brackmann x Klaus Brähmig x Michael Brand x Dr. Reinhard Brandl x Helmut Brandt x Dr. Ralf Brauksiepe x Heike Brehmer x Ralph Brinkhaus x Cajus Caesar x (B) Gitta Connemann x (D) Alexandra Dinges-Dierig x Alexander Dobrindt x Michael Donth x Thomas Dörflinger x Marie-Luise Dött x Hansjörg Durz x Iris Eberl x Jutta Eckenbach x Dr. Bernd Fabritius x Hermann Färber x Dr. Thomas Feist x Enak Ferlemann x Ingrid Fischbach x Dirk Fischer (Hamburg) x Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) x Dr. Maria Flachsbarth x Klaus-Peter Flosbach x Thorsten Frei x Dr. Astrid Freudenstein x Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) x Michael Frieser x Dr. Michael Fuchs x 13138 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Hans-Joachim Fuchtel x Alexander Funk x Ingo Gädechens x Dr. Thomas Gebhart x Alois Gerig x Eberhard Gienger x Cemile Giousouf x Josef Göppel x Reinhard Grindel x Ursula Groden-Kranich x Hermann Gröhe x Klaus-Dieter Gröhler x Michael Grosse-Brömer x Astrid Grotelüschen x Markus Grübel x Manfred Grund x Oliver Grundmann x Monika Grütters x Dr. Herlind Gundelach x Fritz Güntzler x Olav Gutting x (B) Christian Haase x (D) Florian Hahn x Dr. Stephan Harbarth x Jürgen Hardt x Gerda Hasselfeldt x Matthias Hauer x Mark Hauptmann x Dr. Stefan Heck x Dr. Matthias Heider x Helmut Heiderich x Mechthild Heil x Frank Heinrich (Chemnitz) x Mark Helfrich x Uda Heller x Jörg Hellmuth x Rudolf Henke x Michael Hennrich x Ansgar Heveling x Peter Hintze x Christian Hirte x Dr. Heribert Hirte x Robert Hochbaum x Alexander Hoffmann x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13139

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Thorsten Hoffmann (Dortmund) x Karl Holmeier x Franz-Josef Holzenkamp x Dr. Hendrik Hoppenstedt x Margaret Horb x Bettina Hornhues x Charles M. Huber x Anette Hübinger x Hubert Hüppe x Erich Irlstorfer x Thomas Jarzombek x Sylvia Jörrißen x Andreas Jung x Dr. Franz Josef Jung x Xaver Jung x Dr. Egon Jüttner x Bartholomäus Kalb x Hans-Werner Kammer x Steffen Kampeter x Steffen Kanitz x Alois Karl x (B) Anja Karliczek x (D) Bernhard Kaster x Volker Kauder x Dr. Stefan Kaufmann x Roderich Kiesewetter x Dr. Georg Kippels x Volkmar Klein x Axel Knoerig x Jens Koeppen x Markus Koob x Carsten Körber x Hartmut Koschyk x Kordula Kovac x Michael Kretschmer x Gunther Krichbaum x Dr. Günter Krings x Rüdiger Kruse x Bettina Kudla x Dr. Roy Kühne x Günter Lach x Uwe Lagosky x Dr. Karl A. Lamers x Andreas G. Lämmel x 13140 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Dr. Norbert Lammert x Katharina Landgraf x Ulrich Lange x Barbara Lanzinger x Dr. Silke Launert x Paul Lehrieder x Dr. Katja Leikert x Dr. Philipp Lengsfeld x Dr. Andreas Lenz x Philipp Graf Lerchenfeld x Dr. Ursula von der Leyen x Antje Lezius x Ingbert Liebing x Matthias Lietz x Andrea Lindholz x Dr. Carsten Linnemann x Patricia Lips x Wilfried Lorenz x Dr. Claudia Lücking-Michel x Dr. Jan-Marco Luczak x Daniela Ludwig x (B) Karin Maag x (D) Yvonne Magwas x Thomas Mahlberg x Gisela Manderla x Matern von Marschall x Hans-Georg von der Marwitz x Andreas Mattfeldt x Stephan Mayer (Altötting) x Reiner Meier x Dr. Michael Meister x Jan Metzler x Maria Michalk x Dr. h. c. Hans Michelbach x Dr. Mathias Middelberg x Dietrich Monstadt x Karsten Möring x Marlene Mortler x Volker Mosblech x Elisabeth Motschmann x Dr. Gerd Müller x Carsten Müller (Braunschweig) x Stefan Müller (Erlangen) x Dr. Philipp Murmann x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13141

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Dr. Andreas Nick x Michaela Noll x Helmut Nowak x Dr. Georg Nüßlein x Julia Obermeier x Wilfried Oellers x Florian Oßner x Dr. Tim Ostermann x Henning Otte x Ingrid Pahlmann x Sylvia Pantel x Martin Patzelt x Dr. Martin Pätzold x Ulrich Petzold x Dr. Joachim Pfeiffer x Sibylle Pfeiffer x Eckhard Pols x Thomas Rachel x Kerstin Radomski x Alexander Radwan x Alois Rainer x (B) Dr. Peter Ramsauer x (D) Eckhardt Rehberg x Lothar Riebsamen x Josef Rief x Dr. Heinz Riesenhuber x Johannes Röring x Dr. Norbert Röttgen x Erwin Rüddel x Albert Rupprecht x Anita Schäfer (Saalstadt) x Dr. Wolfgang Schäuble x Andreas Scheuer x Karl Schiewerling x Jana Schimke x Norbert Schindler x Tankred Schipanski x Heiko Schmelzle x Christian Schmidt (Fürth) x Gabriele Schmidt (Ühlingen) x Ronja Schmitt x Patrick Schnieder x Nadine Schön (St. Wendel) x Bernhard Schulte-Drüggelte x 13142 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Dr. Klaus-Peter Schulze x Uwe Schummer x Armin Schuster (Weil am Rhein) x Christina Schwarzer x Detlef Seif x Johannes Selle x Reinhold Sendker x Dr. Patrick Sensburg x Bernd Siebert x Thomas Silberhorn x Johannes Singhammer x Tino Sorge x Jens Spahn x Carola Stauche x Dr. Frank Steffel x Dr. Wolfgang Stefinger x Albert Stegemann x Peter Stein x Erika Steinbach x Sebastian Steineke x Johannes Steiniger x (B) Christian Frhr. von Stetten x (D) Dieter Stier x Rita Stockhofe x Gero Storjohann x Stephan Stracke x Max Straubinger x Matthäus Strebl x x Thomas Stritzl x Lena Strothmann x Michael Stübgen x Dr. Sabine Sütterlin-Waack x Dr. Peter Tauber x Antje Tillmann x Astrid Timmermann-Fechter x Dr. Hans-Peter Uhl x Dr. Volker Ullrich x Arnold Vaatz x Oswin Veith x Thomas Viesehon x Michael Vietz x Volkmar Vogel (Kleinsaara) x Sven Volmering x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13143

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Christel Voßbeck-Kayser x Kees de Vries x Dr. Johann Wadephul x Marco Wanderwitz x Nina Warken x Kai Wegner x Albert Weiler x Marcus Weinberg (Hamburg) x Dr. Anja Weisgerber x Peter Weiß (Emmendingen) x Sabine Weiss (Wesel I) x Ingo Wellenreuther x Karl-Georg Wellmann x Marian Wendt x Waldemar Westermayer x Kai Whittaker x Peter Wichtel x Annette Widmann-Mauz x Heinz Wiese (Ehingen) x Elisabeth Winkelmeier-Becker x Oliver Wittke x (B) Dagmar G. Wöhrl x (D) Barbara Woltmann x Tobias Zech x Heinrich Zertik x Emmi Zeulner x Dr. Matthias Zimmer x Gudrun Zollner x SPD Niels Annen x Ingrid Arndt-Brauer x Rainer Arnold x Heike Baehrens x Ulrike Bahr x Heinz-Joachim Barchmann x Dr. Katarina Barley x Doris Barnett x Klaus Barthel x Dr. Matthias Bartke x Sören Bartol x Bärbel Bas x Lothar Binding (Heidelberg) x Burkhard Blienert x Willi Brase x 13144 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Dr. Karl-Heinz Brunner x Edelgard Bulmahn x Martin Burkert x Dr. Lars Castellucci x Petra Crone x Bernhard Daldrup x Dr. Daniela De Ridder x Dr. Karamba Diaby x Sabine Dittmar x Martin Dörmann x Elvira Drobinski-Weiß x Siegmund Ehrmann x Michaela Engelmeier x Dr. h. c. Gernot Erler x Petra Ernstberger x Saskia Esken x Karin Evers-Meyer x Dr. Johannes Fechner x Dr. Fritz Felgentreu x Elke Ferner x Dr. Ute Finckh-Krämer x (B) Christian Flisek x (D) Gabriele Fograscher x Dr. Edgar Franke x Ulrich Freese x Dagmar Freitag x Michael Gerdes x Martin Gerster x Iris Gleicke x Angelika Glöckner x Ulrike Gottschalck x Kerstin Griese x Gabriele Groneberg x Michael Groß x Uli Grötsch x Wolfgang Gunkel x Bettina Hagedorn x Rita Hagl-Kehl x Metin Hakverdi x Ulrich Hampel x Sebastian Hartmann x Dirk Heidenblut x Hubertus Heil (Peine) x Gabriela Heinrich x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13145

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Marcus Held x Wolfgang Hellmich x Dr. Barbara Hendricks x Heidtrud Henn x Gustav Herzog x Gabriele Hiller-Ohm x Petra Hinz (Essen) x Thomas Hitschler x Dr. Eva Högl x Matthias Ilgen x Christina Jantz x Frank Junge x Thomas Jurk x Oliver Kaczmarek x Johannes Kahrs x Ralf Kapschack x Gabriele Katzmarek x Ulrich Kelber x Marina Kermer x Cansel Kiziltepe x Arno Klare x (B) Lars Klingbeil x (D) Dr. Bärbel Kofler x Birgit Kömpel x Anette Kramme x Dr. Hans-Ulrich Krüger x Helga Kühn-Mengel x Christine Lambrecht x Christian Lange (Backnang) x Dr. Karl Lauterbach x Steffen-Claudio Lemme x Burkhard Lischka x Gabriele Lösekrug-Möller x Hiltrud Lotze x Kirsten Lühmann x Dr. Birgit Malecha-Nissen x Caren Marks x Katja Mast x Hilde Mattheis x Dr. Matthias Miersch x Klaus Mindrup x Susanne Mittag x Bettina Müller x Detlef Müller (Chemnitz) x 13146 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Michelle Müntefering x Dr. Rolf Mützenich x Andrea Nahles x Dietmar Nietan x Ulli Nissen x Thomas Oppermann x Mahmut Özdemir (Duisburg) x Aydan Özoguz x Markus Paschke x Christian Petry x Jeannine Pflugradt x Detlev Pilger x Sabine Poschmann x Joachim Poß x Florian Post x Achim Post (Minden) x Dr. Wilhelm Priesmeier x Florian Pronold x Dr. Sascha Raabe x Dr. Simone Raatz x Martin Rabanus x (B) Mechthild Rawert x (D) Stefan Rebmann x Gerold Reichenbach x Dr. Carola Reimann x Andreas Rimkus x Sönke Rix x Petra Rode-Bosse x Dennis Rohde x Dr. Martin Rosemann x René Röspel x Dr. Ernst Dieter Rossmann x Michael Roth (Heringen) x Susann Rüthrich x Bernd Rützel x Sarah Ryglewski x Johann Saathoff x Annette Sawade x Dr. Hans-Joachim Schabedoth x Axel Schäfer (Bochum) x Dr. Nina Scheer x Marianne Schieder x Udo Schiefner x Dr. Dorothee Schlegel x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13147

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Ulla Schmidt (Aachen) x Matthias Schmidt (Berlin) x Dagmar Schmidt (Wetzlar) x Carsten Schneider (Erfurt) x Elfi Scho-Antwerpes x Ursula Schulte x Swen Schulz (Spandau) x Ewald Schurer x Frank Schwabe x Stefan Schwartze x Andreas Schwarz x Rita Schwarzelühr-Sutter x Rainer Spiering x Norbert Spinrath x Svenja Stadler x Martina Stamm-Fibich x Sonja Steffen x Peer Steinbrück x Christoph Strässer x Kerstin Tack x Claudia Tausend x (B) Michael Thews x (D) Dr. Karin Thissen x Carsten Träger x Rüdiger Veit x Ute Vogt x Dirk Vöpel x Gabi Weber x Bernd Westphal x Dirk Wiese x Gülistan Yüksel x Dagmar Ziegler x Stefan Zierke x Dr. Jens Zimmermann x Manfred Zöllmer x Brigitte Zypries x DIE LINKE. Jan van Aken x Dr. Dietmar Bartsch x Herbert Behrens x Karin Binder x Matthias W. Birkwald x Christine Buchholz x Eva Bulling-Schröter x 13148 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Roland Claus x Sevim Dagdelen x Dr. Diether Dehm x Klaus Ernst x Wolfgang Gehrcke x Nicole Gohlke x Annette Groth x Dr. André Hahn x Heike Hänsel x Dr. Rosemarie Hein x Inge Höger x Andrej Hunko x Sigrid Hupach x Ulla Jelpke x Susanna Karawanskij x Kerstin Kassner x Katja Kipping x Jan Korte x Jutta Krellmann x Katrin Kunert x Sabine Leidig x (B) Ralph Lenkert x (D) Stefan Liebich x Dr. Gesine Lötzsch x Thomas Lutze x Birgit Menz x Cornelia Möhring x Niema Movassat x Norbert Müller (Potsdam) x Dr. Alexander S. Neu x Thomas Nord x Petra Pau x Richard Pitterle x Martina Renner x Michael Schlecht x Dr. Petra Sitte x Kersten Steinke x Dr. Kirsten Tackmann x Azize Tank x Dr. Axel Troost x Alexander Ulrich x Kathrin Vogler x Halina Wawzyniak x Harald Weinberg x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13149

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Katrin Werner x Birgit Wöllert x Jörn Wunderlich x Hubertus Zdebel x Pia Zimmermann x Sabine Zimmermann (Zwickau) x BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg x Kerstin Andreae x Annalena Baerbock x Marieluise Beck (Bremen) x Volker Beck (Köln) x Dr. Franziska Brantner x Agnieszka Brugger x Katja Dörner x Katharina Dröge x Harald Ebner x Dr. Thomas Gambke x Matthias Gastel x Kai Gehring x Katrin Göring-Eckardt x (B) Anja Hajduk x (D) Britta Haßelmann x Dr. Anton Hofreiter x Bärbel Höhn x Dieter Janecek x Uwe Kekeritz x Katja Keul x Maria Klein-Schmeink x Tom Koenigs x Sylvia Kotting-Uhl x Oliver Krischer x Stephan Kühn (Dresden) x Christian Kühn (Tübingen) x Renate Künast x Markus Kurth x Monika Lazar x Steffi Lemke x Dr. Tobias Lindner x Nicole Maisch x Peter Meiwald x Irene Mihalic x Beate Müller-Gemmeke x Özcan Mutlu x 13150 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) (C) Brand/ Hintze/ Künast/ Sensburg/ Ent- Name Nein Ungült. Griese Reimann Sitte Dörflinger haltg. Dr. Konstantin von Notz x Omid Nouripour x Friedrich Ostendorff x Cem Özdemir x Lisa Paus x Brigitte Pothmer x Tabea Rößner x Claudia Roth (Augsburg) x Corinna Rüffer x Manuel Sarrazin x Elisabeth Scharfenberg x Ulle Schauws x Dr. Gerhard Schick x Dr. Frithjof Schmidt x Kordula Schulz-Asche x Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn x Hans-Christian Ströbele x Dr. Harald Terpe x Markus Tressel x Jürgen Trittin x Dr. Julia Verlinden x (B) Beate Walter-Rosenheimer x (D) Dr. Valerie Wilms x Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13151

(A) Anlage 3 zogenen Lebensbeendigung entsprechen zu können – so (C) wie das auch der Gesetzentwurf von Hintze/Reimann Erklärungen nach § 31 GO formuliert, während der Entwurf von Brand/Griese dies zu den namentlichen Abstimmungen über einschränken will bzw. das Strafrecht verschärft. – den von den Abgeordneten Michael Brand, Ein einfaches Weiter-so ist aus meiner Sicht schwie- Kerstin Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald rig, weil die derzeitige Situation unklar ist, da das ärztli- ­Terpe und weiteren Abgeordneten eingebrach- che Standesrecht derzeit in der Mehrzahl der Ärztekam- ten Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der merbezirke in Deutschland Ärztinnen und Ärzten die geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung Suizidassistenz untersagt, in sieben jedoch nicht. – den von den Abgeordneten Peter Hintze, Ich unterstütze, dass der Gesetzentwurf von Hintze/ Dr. ­Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach, Reimann –anders als beispielsweise der Entwurf von Burkhard Lischka und weiteren Abgeordneten Künast/Sitte – aufgrund der Entscheidungstiefe und zur eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Re- Vermeidung von Missbräuchen die ärztliche Suizidas- gelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendi- sistenz an bestimmte Voraussetzungen bindet: Die ster- gung (Suizidhilfegesetz) bewillige Person ist volljährig und einwilligungsfähig, – den von den Abgeordneten Renate Künast, wurde intensiv durch einen Arzt beraten und leidet unter Dr. Petra Sitte, Kai Gehring, Luise Amtsberg einer schweren, unumkehrbaren, zum Tode führenden und weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- Krankheit, was auch bedeutet, dass Depression oder wurf eines Gesetzes über die Straffreiheit der Demenz nicht erfasst sind, was für mich zentral ist. Ein Hilfe zur Selbsttötung zweiter Arzt soll dies kontrollieren und bestätigen. – den von den Abgeordneten Dr. Patrick ­Sensburg, Die Anhörung und die parlamentarischen Beratungen Thomas Dörflinger, Peter Beyer, Hubert Hüppe haben jedoch verdeutlicht, dass der Eingriff ins ärztliche und weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- Standesrecht in allen Gesetzentwürfen nicht rechtssicher wurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der ist, auch bei Hintze/Reimann. Zudem wurde in der Be- Teilnahme an der Selbsttötung ratung deutlich, dass das Rechtsverhältnis Arzt-Patient unklar bliebe, weil die Suizidhilfe nicht Teil des Behand- (Tagesordnungspunkt 26) lungsvertrages sein soll. Auch wären Vereine von diesen Regelungen nicht erfasst, was ich für problematisch hal- Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- te. NEN): Was es für jeden Einzelnen bedeutet, in Würde (B) Aus diesem Grund favorisiere ich zwar den Gesetz- (D) und selbstbestimmt zu sterben, ist so unterschiedlich wie entwurf von Hintze/Reimann. Aber aufgrund des aus die Natur des Menschen selbst. Trotzdem gibt es einen meiner Sicht auch dort bestehenden Nachbesserungs- Trend, der aus meiner Sicht in den Mittelpunkt der De- bedarfs kann die heutige Abstimmung für mich kein batte gehört, wenn wir aktuell darüber diskutieren, ob die Schlussstrich sein. Vielmehr waren die letzten eineinhalb Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt werden soll oder Jahre Debatte ein wichtiger Zwischenschritt. nicht: So geben Menschen über 60 Jahre als Grund für ihren Sterbewunsch neben der Angst vor Schmerzen und Abhängigkeit von Apparatemedizin vor allem an, Angst Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- davor zu haben, jemandem zur Last zu fallen oder einsam NEN): Der Deutsche Bundestag hat sich entschlossen, zu sein. Zudem gibt es klare Hinweise darauf, dass gera- über eine rechtliche Neuregelung der Beihilfe zum Su- de bei älteren Menschen depressive Erkrankungen nicht izid zu entscheiden. Ich bin nicht davon überzeugt, dass ausreichend diagnostiziert und behandelt werden. Forde- es möglich ist, das vielfältige Gesicht von menschlicher rungen nach einer Lockerung der Sterbehilfe gerade über Not, Leiden und Sterben in ein Gesetz zu pressen. Vor Vereine sind eine Reaktion auf diese Ängste – vor allem allem gehört dieser Sachverhalt nicht ins Strafrecht. aber ein Alarmsignal. Alle heute vorliegenden Gesetzentwürfe werden zu Zugleich gibt es Situationen, in denen die Schmerzlin- rechtlichen Unklarheiten und möglicherweise zu Verfah- derung eben nicht mehr ausreicht und Ärzte, Nahestehen- ren vor dem Bundesverfassungsgericht führen. Ich gehe de und Sterbende spüren, dass das Leiden unerträglich ist davon aus, dass es einem juristisch nicht perfekten Ge- und dass die Kraft nicht reicht. Wann dieser Moment ge- setz dennoch gelingen kann, gesellschaftlichen Rechts- kommen ist, werden wir nicht allgemeinverbindlich und frieden herzustellen. mit letzter Rechtssicherheit, und gerade nicht mit dem Ich möchte den Grundsatz des Respekts vor der selbst- Strafrecht, regeln können. Um Schwerstleidende und bestimmten Entscheidung über das eigene Leben ge- ihre nahestehenden Personen in einer solch individuel- wahrt sehen. Ich begrüße deshalb die Botschaft des Ge- len Notsituation zu unterstützen, müssen und dürfen wir setzentwurfs der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. ­Carola die Sterbehilfe nicht weiter institutionalisieren. Aber wir Reimann, Dr. Karl Lauterbach, Burkhard Lischka und sollten Rechtssicherheit für Ärzte und Patientinnen und weiterer Abgeordneter, dem ich zustimme. Patienten herstellen. Um die Selbstbestimmung von un- heilbar erkrankten Patienten zu stärken, ist es daher sinn- Die Beratung und Begleitung in so existenziellen Fra- voll, eine Regelung zu schaffen, die es Ärztinnen und gen von Leben und Tod gehört in die Hand von Personen, Ärzten ausdrücklich ermöglicht, in Ausnahmesituationen die in einem Vertrauensverhältnis zu dem betreffenden dem Wunsch des Patienten nach Hilfe bei der selbstvoll- Menschen stehen. Deshalb sollten sich gesetzliche Re- 13152 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) gelungen darauf beschränken, Missbrauch zu verhindern gehörige haben, die für sie da sind oder die sie brauchen. (C) und der Gefahr einer Unterscheidung von „lebenswer- Mir geht es darum, dass jeder Einzelne und jede Einzelne tem“ und vermeintlich „nicht lebenswertem“ Leben ent- die Möglichkeit behält, selbst über das Ende des eigenen gegenzuwirken. Lebens bestimmen zu können. Politikerinnen und Politi- ker haben nicht das Recht, höchst persönliche Entschei- Es bleibt weiterhin die Aufgabe von Politik und Ge- dungen, Entscheidungen, die den eigenen Tod betreffen, sellschaft, die Palliativmedizin für alle Sterbenskranken zu bewerten oder zu erschweren. Und sie haben nicht vorzuhalten, das Hospizwesen flächendeckend auszu- das Recht, darüber zu urteilen, was ein würdevolles Le- bauen und die würdige und zugewandte Begleitung von bensende ist. Sterbenden in den Pflegeheimen und im privaten Raum zu ermöglichen. Um diese Selbstbestimmung weiterhin zu ermöglich, muss der assistierte Suizid straffrei bleiben. Moralvor- stellungen dürfen nicht Ratgeber für Gesetze sein, die für Christine Buchholz (DIE LINKE): Selbstbestim- alle gelten. Glauben, Ansichten und ethische Vorstellun- mung und optimale Versorgung statt Strafrecht: Das gen gehören nicht ins Strafgesetzbuch. Vielmehr sollten Thema Sterbehilfe hat zu einer breiten gesellschaftliche praktikable Lösungen gefunden werden, die es allen er- Diskussion über die Lebenssituation schwer kranker und möglichen, eigene Entscheidungen zu treffen. Diese um- sterbender Menschen geführt. Das ist positiv, denn die- fassen für mich auch, dass es möglich sein muss, eine se öffentliche Debatte ist eine wichtige Voraussetzung Person seiner/ihrer Wahl um Beihilfe zur Selbsttötung zu für die dringend notwendige Verbesserung der medizi- bitten. Denn: Ein selbstbestimmtes und menschenwür- nischen Versorgung und Pflege im Allgemeinen und der diges Leben schließt auch selbstbestimmtes Sterben mit Palliativ- und Hospizversorgung im Speziellen. Denn ein. noch immer haben viele Menschen keinen Zugang zu ei- ner optimalen medizinischen, pflegerischen und psycho- Ärztinnen und Ärzte, die schwer kranken Menschen soziale Begleitung am Lebensende. bei der Fragestellung nach dem Ende des Lebens zur Sei- Es hilft den Betroffenen nicht, wenn man diejenigen, te stehen, sollen nicht kriminalisiert werden. Patientinnen die sie bei der Selbstbestimmung am Lebensende unter- und Patienten sollen deren Rat suchen können und deren stützen, strafrechtlich verfolgt. Schwerkranke und Ster- Unterstützung in Anspruch nehmen können – natürlich bende brauchen neben der optimalen Versorgung empha- nur, wenn die Ärztinnen und Ärzte dies selbst wollen und tische Unterstützung und Beratung, um frei ihre eigene mit ihrem Gewissen vereinbaren können. In dem Antrag Entscheidung treffen zu können. von Brand/Griese sehe ich – wie viele namhafte Straf- Ein würdevolles Leben und Sterben ist ein soziales rechtsexpertinnen und –experten auch – das Risiko, dass Menschenrecht. Ärztinnen und Ärzten die Strafverfolgung droht, wenn (B) sie Menschen in ihrem Wunsch zu sterben, beraten oder (D) Deshalb habe ich heute im Bundestag gegen die Ver- unterstützen. Eine solche Verschärfung lehne ich ab. schärfung der geltenden Gesetze gestimmt. Nur wenn sich Menschen in ihrer existentiellen Not vertrauensvoll beispielsweise. an Ärztinnen und Ärzte (SPD): Nach reiflicher Überlegung Petra Crone wenden können, ist die Möglichkeit der Suizidprävention komme ich zu dem Schluss, meine im Juni 2015 erklärte noch gegeben. Ein beratendes Gespräch kann die Selbst- Unterstützung zum Antrag „Entwurf eines Gesetzes zur tötung eventuell verhindern. Eine Kriminalisierung von Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbst- Ärztinnen und Ärzte könnte jedoch dazu führen, dass tötung“ zurückzuziehen. Menschen andere Formen des Suizids wählen. Mir ist In vielen Gesprächen und Fachrunden wurde regel- aber wichtig, dass mit Sterbehilfe kein Profit gemacht mäßig auf die schwierige Rechtslage für unser medizi- wird. Dafür müssen jedoch seriöse Angebote wie die nisches Fachpersonal hingewiesen. Ich möchte keinen Konsultation von Ärztinnen und Ärzten sowie nichtkom- Arzt oder keine Ärztin bestraft wissen, weil er oder sie merziellen Sterbehilfevereinen gestärkt werden. Menschen auch im Rahmen ihres Sterbens hilft. Diese Skepsis kann der oben genannte Antrag nicht Viele Menschen möchten explizit nicht ihre Angehö- ausräumen. Aus diesem Grund schließe ich mich den Ini­ rigen bitten, sie beim Suizid zu unterstützen, zum, Bei- tiatoren des Antrags „Keine neuen Straftatbestände bei spiel weil sie diese nicht belasten wollen. Darüber hi- Sterbehilfe“ an. naus haben besonders viele ältere Menschen gar keine Angehörigen mehr; andere Menschen haben wiederum kein Vertrauensverhältnis zu diesen. Die Möglichkeit der Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie nichtkommerziellen, außerfamiliären Sterbehilfe ist mei- ein würdevolles Lebensende aussieht, kann jede und ner Meinung nach eine wichtige Form der Unterstützung. jeder nur für sich selbst entscheiden. Jeder Mensch hat Diese sollte weder verwehrt werden noch sollten die As- seine Vorstellung von persönlicher Würde; niemand an- sistentInnen, die dann die Beihilfe leisten, kriminalisiert deres kann diese stellvertretend definieren. Neben allen werden. Eine strafrechtliche Ahndung bewirkt das Ge- medizinischen Möglichkeiten, die wir haben, gibt es genteil. Menschen werden gezwungen sein, ins Ausland Menschen, die psychisch gesund und bei vollem Be- zu reisen oder zu illegalen Mitteln greifen müssen, um wusstsein, jedoch unheilbar krank sind und darüber Ge- sich ihren letzten Wunsch zu erfüllen. wissheit haben. Diese Menschen wollen und sollen nicht ihre Selbstbestimmung verlieren, unabhängig davon, ob Im Rahmen der Debatte zur Sterbebegleitung wurde sie einen Zugang zur Palliativmedizin haben, ob sie An- auch über die Situation von Schwerkranken diskutiert. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13153

(A) Schwer kranke und alte Menschen sollen am Ende ihres ten kommt der Entwurf Künast/Sitte, auch wenn meine (C) Lebens besser und individueller betreut, ihre Schmerzen eigenen Vorstellungen darüber hinausgehen. gelindert und Ängste genommen werden. Leider fehlt es nach wie vor an einer gesellschaftlichen Würdigung Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass nicht wirt- von Pflege und Pflegenden allgemein und insbesondere schaftliche Not darüber entscheidet, ob der Anspruch des auch in der Palliativ- und Hospizversorgung. Die unzu- Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar, reichende Wertschätzung zeigt sich besonders deutlich in eingelöst werden kann oder nicht. Die Entscheidung, eine der fehlenden finanziellen und personellen Ausstattung. Schwangerschaft auszutragen oder sie zu beenden, hing Deshalb setze ich mich für eine flächendeckende Hos- über Jahrzehnte an der Frage, ob sich die Frau eine Reise piz- und Palliativversorgung ein. Ein menschenwürdiges in die Niederlande leisten kann. Eine große Mehrheit von Sterben muss überall möglich sein, egal ob zu Hause, im Frauen musste dagegen unter erbärmlichen Bedingungen Krankenhaus oder im Heim. Die grüne Bundestagsfrakti- einen Schwangerschaftsabbruch mit hohen Risiken für on hat in einem Antrag eine verbesserte Trauerbegleitung Leib und Leben erfahren. Heute hängt oftmals die Frage, für Angehörige gefordert, was von der Bundesregierung ob ein Mensch seinem Leben würdevoll ein Ende setzen im gestern vom Bundestag verabschiedeten Gesetz zur kann, daran, ob er das Geld hat, in die Schweiz zu fahren Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung auf- oder nicht. Würde, Leben und Tod dürfen nicht weiterhin gegriffen wurde. Künftig sollen ambulante Hospizdiens- vom sozialen Status abhängen. te mehr Geld erhalten, um auch die so wichtige Trau- erbegleitung von Angehörigen leisten zu können und Micheal Groß (SPD): Das Leben in Würde ist unser insgesamt den Einsatz von Ehrenamtlichen zu stärken. höchstes Gut. Jeder Mensch hat das Recht, ein selbstbe- Es gilt aber, unterschiedliche Fragestellungen nicht stimmtes Leben zu führen, und dazu gehört, aus meiner miteinander vermischen. Die Gründe für den Mangel ganz persönlichen Sicht, auch das Sterben in Würde. Die im Bereich der Hospiz- und Palliativversorgung liegen vorliegenden Gesetzesentwürfe bringen in meinen Augen in der (finanziellen) Anerkennung der Berufe darin, dass keine Lösung für das eigentliche Problem: Ein Antrag Pflege noch viel zu oft als Privatangelegenheit verstan- zielt auf Strafbarkeit bei der Teilnahme an der Selbsttö- den wird, darin, dass im Bereich der Palliativmedizin zu tung, was aus meiner Sicht eine deutliche Verschlechte- wenig Plätze vorhanden sind, aber nicht darin, dass Sui- rung der derzeit bestehenden Rechtslage ist und ich daher zidbeihilfe nicht unter Strafe steht. ablehne. Ein Gesetzentwurf gewährt die Sterbehilfe nur dem Arzt durch eine zivilrechtliche Regelung und dem Selbstbestimmung muss auch am Lebensende mög- Schutz vor dem Entzug der Approbation. Dieser Antrag lich sein. Der assistiere Suizid muss deshalb weiterhin hat meine größte Unterstützung. Letztendlich erfasst kei- straffrei bleiben. Aus diesem Grund spreche ich mich ge- ner der Vorschläge das Thema in seinem Umfang. Wir (B) (D) gen jede Form der Kriminalisierung von Ärztinnen und haben in unserer Gesellschaft das Sterben lange Zeit an Ärzten und gegen eine Verschärfung der gegenwärtigen den Rand gedrängt. Es ist kein schönes Thema, kein po- Rechtslage aus. Aus diesem Grund habe ich heute den litisches Thema – es ist ein sehr persönliches und auch Gesetzentwurf von Renate Künast inhaltlich unterstützt. familiäres Thema. Sich mit der Endlichkeit des eigenen In der namentlichen Abstimmung habe ich mit „Nein“ Seins auseinanderzusetzen, machen wir meist nur aus gestimmt, um eine Verschärfung der Rechtlage mit Blick persönlicher Betroffenheit, weil wir jemanden Naheste- auf die Beihilfe zum Suizid zu verhindern. henden verloren haben oder selbst mit schweren Krank- heiten oder Unfällen konfrontiert werden. Dennoch ist in Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich habe für den den vergangenen Jahren ein Prozess des gesellschaftli- Text Künast Sitte gestimmt, weil aus meiner Sicht gibt chen Umdenkens in Gang gekommen. Das Patientenver- es das nicht einzuschränkende Recht über den eigenen fügungsgesetz, wonach jeder Umfang lebenserhaltende Körper. Dieses Recht steht am Beginn des Lebens, es ist Maßnahmen Pflegestärkungsgesetz zur Unterstützung das uneingeschränkte Recht der Frau, zu entscheiden, ob vorab entscheiden kann, ob und in welchem durchgeführt sie eine Schwangerschaft austrägt oder beendet. Es ist werden können oder das der Pflegebedürftigen und der das Recht eines jeden Menschen, zu entscheiden, ob er pflegenden Angehörigen, ist Teil der Auseinandersetzung sein Leben fortführen oder beenden will. Leben ist im- und wichtige erste Weichenstellung in einem Umden- mer – aus meiner Sicht – ein soziales Ensemble. Gründe kungsprozess. zum Weiterleben oder zur Beendigung des eigenen Le- Ich selber musste mich aus persönlicher Erkrankung bens liegen im Ermessen der oder des Betroffenen. Es intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Für mich darf keinen Zwang geben, es darf auch keine Einschrän- persönlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass für kung geben. Krankheit, Alter sind Gründe, aber nicht die mich in einem solchen Falle lediglich Familie, sehr enge alleinigen. Freunde und der Arzt meines persönlichen Vertrauens die Mich hat über Jahrzehnte die Entscheidung von ­Laura richtigen Ansprechpartner wären. Marx und Paul Lafargue tief beeindruckt. Beide ent- Die Palliativ- und Hospizversorgung in Deutschland schieden sich, nach langen Jahren des Zusammenlebens ist immer noch zu gering. Es geht nicht nur um Schmerz- ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen. Nach einem linderung, um medizinische und psychologische Betreu- Opernbesuch 1911 gingen sie gemeinsam in den Freitod. ung, sondern um Abschiednehmen. Eine stationäre und Für die Entscheidung, sein eigenes Leben zu beenden, ambulante Versorgung ist unbedingt flächendeckend si- muss der Gesetzgeber Hilfen zulassen, wenn es die oder cherzustellen und finanziell abzusichern. In der bisheri- der Betroffene wollen. Meinen Vorstellungen am nächs- gen Praxis sind viele Palliativzentren immer noch stark 13154 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) auf Spenden angewiesen, um ihre wertvolle Arbeit in der Aus meiner Sicht ist bereits die geschäftsmäßige Or- (C) Form leisten zu können. ganisation von Sterbehilfe, auch ohne kommerzielle Ab- sicht, ethisch problematisch und strafwürdig, da sie eine Um den Menschen ihren letzten Weg in Würde und explizite oder auch implizite Werbung für den Suizid be- selbstbestimmt gehen lassen zu können, rein rechtlich deutet. Deshalb habe ich für die Schaffung eines neuen betrachtet, ist unsere Gesetzgebung derart gestaltet, dass § 217 StGB gestimmt, mit dem die geschäftsmäßige För- erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist. Eine spe- derung der Selbsttötung unter Strafe gestellt wird. zifische Erlaubnis bestimmter Gruppierungen schließt somit andere aus. Daher brauchen wir keinen Ausbau Darunter fällt eine auf Wiederholung angelegte Tätig- der erlaubten Sterbehilfe in den vorliegenden Entwürfen. keit in der Absicht, Suizid zu fördern. Geschäftsmäßig Wichtig ist, dass sie Zugang zu ergebnisoffener Beratung heißt, dass jemand die Sterbehilfe zum wiederkehrenden und Unterstützung haben, um auf diesem Weg der irre- Bestandteil seiner Tätigkeit macht. versiblen Entscheidung, eventuell. auch wieder Abstand nehmen zu können von dem Weg. Aus diesem Grund leh- Nicht davon betroffen ist hingegen die normale ärzt- ne ich die Gesetzesentwürfe und Anträge ab. Sterbehilfe liche heilende, beratende, lindernde Tätigkeit eines Me- darf keine Frage des Geldes und von Interessen sein. diziners. Straffrei bleibt aber auch der Arzt, der eine Suizidbeihilfe im Einzelfall und aus altruistischen Mo- tiven leistet, weil das gerade nicht unter die Definition Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Beginnend „geschäftsmäßig“ fällt. mit einer vierstündigen Orientierungsdebatte am 13. No- vember 2014 hat der Deutsche Bundestag intensiv über Anders als ein Sterbehilfeverein, dessen Zweck auf die Frage der Sterbehilfe beraten. Bis zur ersten Lesung die Beihilfe zum Suizid gerichtet ist, will ein normaler am 2. Juli 2015 wurden vier Gruppenanträge erarbeitet, Arzt, auch ein Arzt, der im Hospiz tätig ist, oder ein Pal- die zur weiteren Beratung in die Ausschüsse überwiesen liativmediziner, geschäftsmäßig Leiden lindern. Er will wurden. Der federführende Ausschuss für Recht und Ver- gerade nicht wiederholt Suizidhilfe leisten. braucherschutz hat die Gesetzentwürfe insbesondere am 23. September 2015 in öffentlicher Anhörung mit Sach- Axel Knoerig (CDU/CSU): Ich spreche mich für eine verständigen über fünf Stunden ausführlich diskutiert. Wahrung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende Aufgrund dieser Beratungen und nach reiflicher Über- aus, die nicht durch staatliche Intervention und straf- legung habe ich heute für den Entwurf eines Gesetzes rechtliche Sanktionen beeinflusst werden darf. Ich stim- zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der me daher für den Gesetzentwurf von Hintze / Reimann / Selbsttötung auf BT-Drucksache 18/5373 (Brand/Griese) Lauterbach / Lischka (Drucksache 18/5374), fordere aber darüber hinaus folgende Anpassungen: (B) gestimmt. (D) Die Institutionalisierung von Ad-hoc-Beratungsstel- Derzeit ist die Beihilfe zur Selbsttötung in Deutsch- len zur Sterbehilfe, die ohne Fristen aufgesucht werden land nicht strafbar. Gemäß § 27 Absatz 1 StGB wird als können und Schwerstkranke im Sinne einer Suizidprä- Gehilfe bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu des- vention beraten, ist dringend geboten. Diese Beratungs- sen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe ge- stellen müssen zivilgesellschaftlich organisiert werden. leistet hat. Da die Selbsttötung nicht strafbar ist, fehlt es Ihre Arbeit muss in Geschäftsberichten evaluiert werden. an der rechtswidrigen Haupttat. Die ärztliche Begleitung eines Suizides muss in Be- Aktivitäten von sogenannten Sterbehilfevereinen und richten dokumentiert werden, die ebenfalls in bestimm- auch einzelnen Personen, die organisiert oder gar ge- ten Abständen evaluiert werden. werbsmäßig legal Beihilfe zum Suizid anbieten, sehe ich äußerst kritisch und lehne ich ab. Dazu muss die Rechts- Der Gesetzentwurf (Drucksache 18/5374) muss insbe- lage geändert werden. sondere vor dem Hintergrund eines Schutzes Dritter vor den Folgen von Suiziden gesehen werden. Ein umfassendes Verbot der Sterbehilfe, wie es der Gesetzentwurf von Sensburg/Dörflinger vorsieht, halte ich allerdings nicht für erforderlich. Mit der Ermögli- Mechthild Rawert (SPD): Ich bin in einem Alter, in chung einer zulässigen Suizidbeihilfe durch Ärzte, wie dem ich Erfahrung mit dem Sterben und Tod von Famili- sie der Entwurf von Hintze/Reimann/Lauterbach vor- enangehörigen und von FreundInnen habe. Zum Thema sieht, oder gar dem Entwurf von Künast/Sitte, die nur Sterbehilfe habe ich in den vergangenen Monaten viele die gewerbsmäßige Suizidbeihilfe unter Strafe stellen Gespräche geführt, zahlreiche persönliche Briefe sowie wollen, würde der Gesetzgeber demgegenüber de facto Schreiben von Organisationen haben mich erreicht. Die die Voraussetzungen eines Angebots für Suizidbeihilfe bisherigen Debatten und die entsprechende Anhörung regeln. Damit würden einerseits beispielsweise Ärzte zur Sterbebegleitung im Deutschen Bundestag wurden unter Zugzwang gesetzt, diese Tätigkeit anzubieten. An- intensiv verfolgt. Weitere Impulse zur Entscheidungsfin- dererseits haben viele Menschen Angst, im Alter oder bei dung gaben mir auch die BürgerInnen meines Wahlkrei- schwerer Krankheit anderen zur Last zu fallen. Insbeson- ses Tempelhof-Schöneberg auf der Fraktion-vor-Ort-Ver- dere aufgrund dieses Empfindens könnten bereits An- anstaltung am 22. September 2015. gebote der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid einen Die Mehrheit der Bevölkerung befürchtet eine „Neu- Erwartungsdruck erzeugen, diese Angebote wahrzuneh- kriminalisierung“ der Sterbehilfe: Sie empfinden einen men, um durch einen Suizid die eigene Familie von einer derart gravierenden Eingriff als einen illegitimen Über- vermeintlichen „Last“ zu befreien. griff des Staates. Darunter sind auch viele überzeugte Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13155

(A) ChristInnen beider Konfessionen, über die Haltungen telgesetz und Betäubungsmittelgesetz. Die bestehende (C) von Mitgliedern anderer Religionsangehöriger weiß ich Rechtslage hat schon bisher verhindert, dass organisierte leider zu wenig. Über 140 deutsche Strafrechtslehrende Sterbehilfe in Deutschland zu einem Massenphänomen sprechen sich ebenfalls dagegen aus. Gleiches meint die geworden ist. überwiegende Mehrheit der MedizinerInnen: Nur eine Minderheit von 20 Prozent der ÄrztInnen möchte ein Ich bin der Auffassung, dass Menschen, die sich, aus strafrechtliches Verbot. Die Mehrheit insbesondere der welchen Gründen auch immer, mit dem Gedanken tra- PalliativmedizinerInnen und der OnkologInnen lehnen gen, ihr Leben selbst zu beenden, uneingeschränkt Zu- Strafverschärfungen ab. gang zu ergebnisoffener Beratung und Unterstützung haben sollen. Erfahrungen zeigen, dass gerade viele Auch ich bin zu der Auffassung gekommen, dass eine Sterbenskranke unter diesen Umständen auch von ihrem Strafbewehrung der Suizidhilfe nicht nötig – und vor al- Vorhaben wieder Abstand nehmen. Allein die Gewissheit lem nicht hilfreich– ist. Im Unterschied zu anderen euro- der PatientInnen, dass ihre ÄrztInnen ihnen weiterhelfen päischen Nachbarstaaten, wie Belgien oder Niederlande, würden, reicht den meisten. ist in Deutschland die Tötung auf Verlangen bereits unter Strafe gestellt. Unbestritten ist, dass alles zu tun ist, damit wir deutschlandweit eine gute Hospiz- und Palliativkultur Eine gewichtige Sorge, die mich und viele BürgerIn- entwickeln. Daher begrüße ich das gestern vom Deut- nen umtreibt, ist die mögliche Kriminalisierung genau schen Bundestag beschlossene Hospiz- und Palliativge- der Berufsgruppe, die für die Option eines vertrauens- setz außerordentlich. Auf der von mir organisierten Frak- vollen Gespräches zur assistierten Suizidbeihilfe und als tion-vor-Ort-Veranstaltung zur Sterbehilfe berichteten potenzielle UnterstützerInnen in Frage kommen: die Me- MitarbeiterInnen der Telefonseelsorge und aus der Pal- dizinerInnen. Allein die Aussicht, dass MedizinerInnen liativ- und Hospizarbeit, dass häufig der Satz falle: „Ich mit der Drohung der Strafbewehrung leben müssen, wird will so nicht mehr leben“. Seltener zu hören sei die Aus- das ÄrztInnen-PatientInnen-Verhältnis prägen - sofern sage: „Ich will nicht mehr leben“. Grund seien schwere Möglichkeiten des vertrauensvollen Gespräches über- Beschwerden der PatientInnen. Werden diese gelindert, haupt noch gewährleistet werden. Ohne ÄrztInnen fehlt verschwinde der Wunsch oft. Aber es bleibt der traurige aber die kompetente medikamentöse Möglichkeit. Fakt: Selbst mit der palliativen Sedierung (Narkoseschlaf Menschen, die professionell mit PatientInnen in bis zum Tod) können auch die besten Palliativmediziner- Kontakt treten, handeln in jeder Hinsicht geschäftsmä- Innen nicht alle Qualen nehmen. ßig – und zwar nicht nur im Hinblick auf die eigentli- che Behandlung, sondern auch im Hinblick auf die er- Das Lesen von Stellungnahmen und Diskussionserfah- (B) gebnisoffene Beratung von lebensmüden PatientInnen. rungen zeigt mir, dass es nicht – wie häufig behauptet – (D) ÄrztInnen, die in verantwortungsvoller Ausübung ihrer die Schwachen und Einsamen sind, die ihren Wunsch zu durch das Grundgesetz geschützten Gewissensfreiheit sterben gegenüber einer ÄrztIn äußern. Es sind zumeist nur in sehr wenigen Ausnahmefällen eine Suizidhilfe selbstbewusste und gebildete Menschen, die nicht auf- leisten, würden in den Verdacht geraten, mit Wiederho- grund der Schmerzen oder aufgrund von äußerem Druck lungsabsicht zu handeln. so agieren, sondern denen es um Selbstbestimmung, um ihre Würde geht. Ich teile die Ansicht nicht, dass es bei Ein Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe zielt auf keiner Ausweitung der Strafbewehrung zu einem soge- „WiederholungstäterInnen“. Dadurch trifft ein solches nannten Dammbruch kommt. Ich sehe unsere Gesell- Gesetz vor allem ÄrztInnen, die viele sterbenskranke schaft nicht in einem so miserablen Zustand. Außerdem PatientInnen betreuen, also insbesondere Palliativmedi- ist es unsere Aufgabe als gewählte PolitikerInnen, eine zinerInnen oder KrebsärztInnen. Gerade hier ist aber das entsprechend vorbeugende „gute Politik“ zu machen. besondere Vertrauensverhältnis notwendig. Sie müssen offen sein können für die Wünsche und Nöte der Ster- Ich sehe die Klärung der hier behandelten Fragestel- benskranken. Wenn sie dies nicht mehr sein dürfen, ver- lungen vor allem bei den MedizinerInnen selbst. Nie- größert sich doch die Gefahr, dass windige Geschäftema- mand soll gegen sein Gewissen handeln müssen. Derzeit cherInnen durch Deutschland reisen und im Falle eines ist es für MedizinerInnen und PatientInnen aber sehr Strafrechtsverbots die Preise deutlich anziehen können. sehr unbefriedigend, dass es eine Frage des Wohnortes „Dann haben nur noch Reiche die Wahl zwischen der teu- ist, ob ein solch vertrauensvolles Gespräch, ob ein unein- ren Begleitung in der Schweiz oder zwielichtiger Sterbe- geschränkter Zugang zu ergebnisoffener Beratung und hilfe gegen Bargeld. Sozial Schwachen bleibt Bahngleis, Unterstützung gegeben ist. Zehn von 17 Landesärzte- Strick oder Hochhaus.“ kammern verbieten die ärztliche Suizidassistenz. Gefragt sind die ÄrztInnen in ihrer Selbstverwaltung. Sie müssen Profitorientierte sogenannte SterbehelferInnen han- sich so organisieren, dass der Mehrheitswille auch poli- deln nicht nur sittenwidrig. Gegen sie kann die Staatsan- tisch relevant wird. waltschaft wegen des Verdachts auf Totschlag ermitteln. Die derzeitige Gesetzeslage reicht also aus, um der Ge- Ich schließe mich nachdrücklich der Empfehlung des schäftemacherei mit dem Tod Einhalt zu bieten. Der Sor- Deutschen Ethikrats an, wonach „die Ärztekammern ge der kommerziellen Ausbeutung des Sterbewunsches einheitlich zum Ausdruck bringen sollten, dass unge- eines Menschen kann durch gewerberechtliche Regulie- achtet des Grundsatzes, dass Beihilfe zum Suizid keine rung außerhalb des Strafrechts entgegengetreten werden. ärztliche Aufgabe ist, im Widerspruch dazu stehende Entscheidend sind auch die Vorschriften im Arzneimit- Gewissensentscheidungen in einem vertrauensvollen 13156 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) ÄrztIn-PatientIn-Verhältnis bei Ausnahmesituationen re- Anlage 4 (C) spektiert werden“. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Aus all diesen Gründen habe ich den Antrag „Keine – des von den Abgeordneten Michael Brand, neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe“ der Abgeord- ­Kerstin Griese, Kathrin Vogler, Dr. Harald neten Katja Keul, Dr. Sabine Sütterlin-Waack, Brigitte ­Terpe und weiteren Abgeordneten eingebrach- ­Zypries, Matthias W. Birkwald zusammen mit weiteren ten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit Abgeordneten unterzeichnet und lehne die vier vorgeleg- der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttö- ten Gesetzesentwürfe ab. tung – des von den Abgeordneten Peter Hintze, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kordula Schulz-Asche Dr. ­Carola Reimann, Dr. Karl Lauterbach, NEN): Heute hat der Bundestag über ein Verbot der or- Burkhard Lischka und weiteren Abgeordneten ganisierten Sterbehilfe entschieden. Damit eng verknüpft eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- ist die Frage, wie ein würdevolles Sterben aussehen kann. gelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendi- Darüber gab und gibt es in der Bevölkerung und auch im gung (Suizidhilfegesetz) Bundestag quer durch alle Fraktionen sehr unterschied- liche Meinungen, über die in den letzten Monaten heftig – des von den Abgeordneten Renate Künast, diskutiert wurde. Dr. Petra Sitte, Kai Gehring, Luise Amtsberg Ich halte das Recht auf Selbstbestimmung auch am und weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- Lebensende für ein sehr hohes Gut. Die Intention des wurfs eines Gesetzes über die Straffreiheit der von mir mitunterzeichneten „Entwurfs eines Gesetzes Hilfe zur Selbsttötung zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der – des von den Abgeordneten Dr. Patrick ­Sensburg, Selbsttötung“, Drucksache 18/5373, der von Abgeordne- Thomas Dörflinger, Peter Beyer, Hubert Hüppe ten aller Fraktionen initiiert wurde, ist es nicht, die Arbeit und weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- der Palliativmedizin zu erschweren, sondern dubiosen wurfs eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Vereinen oder Personen, die eine zu bezahlende Dienst- Teilnahme an der Selbsttötung leistung bewerben und anbieten, das Handwerk zu legen. Die Sterbehilfe wollen wir daher auf besondere Vertrau- (Tagesordnungspunkt 26) ensverhältnisse beschränken. Ärztinnen und Ärzte hin- gegen können auch weiterhin ohne Einschränkungen für Heike Brehmer (CDU/CSU): Wir reden heute in ihre Patientinnen und Patienten da sein. Damit bleiben abschließender Beratung zu den Gruppenanträgen zum (B) die letzte Lebensphase und das Sterben individuelle Er- Thema Sterbebegleitung. Das Thema Sterbebegleitung (D) eignisse. bewegt die Menschen in unserem Land. Es ist eine höchst emotionale und zum Teil sehr kontrovers geführte Debat- Für mich ist nicht die uneigennützige Beratung und te. Schließlich geht es im Kern um die Frage, wie wir in Begleitung bei einem Suizid das Problem, sondern der as- unserer Gesellschaft mit Alter, Krankheit, Pflege und Tod sistierte Suizid als Geschäftsmodell. Statt kommerzieller umgehen wollen. Durch den medizinischen Fortschritt Sterbehilfe, die nur schwer zu kontrollieren ist, brauchen und die demografische Entwicklung steigt die Lebens- wir eine starke Förderung des bürgerschaftlichen En- erwartung erfreulicherweise stetig an. Dadurch gewinnt gagements im Bereich der Begleitung von Menschen am die Frage, wie wir mit dem Ende des Lebens umgehen, Lebensende, um ihnen ein menschenwürdiges Sterben zu zunehmend an Bedeutung. ermöglichen. Dazu gehören die vielen Hospize und die professionelle Begleitung der dort ehrenamtlich Tätigen. Laut Berechnungen des Bundesgesundheitsministeri- Ja, und wir brauchen dringend einen Ausbau der Pallia- ums wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen bis tivversorgung: nicht in Form der häufigen Politikerlyrik, zum Jahr 2030 auf über 3,2 Millionen ansteigen. Die sondern in knallharter Finanzierung für eine integrierte, meisten Menschen möchten, dass das medizinisch Not- ganzheitliche Versorgung schwerstkranker Menschen. wendige und Sinnvolle für sie getan wird. Gerade in der Nur so können wir die Autonomie und Selbstbestim- letzten Phase des menschlichen Lebens, die häufig durch mung von Individuen am Lebensende respektieren und Krankheit und Schwäche gekennzeichnet ist, sind Men- ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Umfeld und schen besonders schutz- und pflegebedürftig. auch das Recht auf einen natürlichen Tod ermöglichen. Als Gesetzgeber ist es daher unsere Aufgabe, Rah- Gerade die gestrige Verabschiedung des Hospiz- und Pal- menbedingungen für ein menschenwürdiges Leben und liativgesetzes, Drucksache 18/6585, auch mit den Stim- Sterben zu schaffen. Dabei geht es um Menschenwürde, men der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen ist den Schutz des Lebens und das Recht auf Selbstbestim- hierfür ein erster wichtiger Schritt. Ich trete weiterhin für mung. ein gesellschaftliches Klima ein, in dem kein Leben als nutzlos oder gar unwürdig betrachtet wird. Dies wird in dem Gruppenantrag meiner Kollegen Thomas Dörflinger und Dr. Patrick Sensburg (Drucksa- Ich gebe zu, dass mir die Entscheidung nicht leichtge- che 18/5376), den ich persönlich unterstütze, besonders fallen ist. Ich werde sehr genau beobachten, welche Aus- deutlich. Der Entwurf schafft klare gesetzliche Regelun- wirkungen das nun verabschiedete Gesetz in der Umset- gen, indem neben der aktiven Sterbehilfe auch die assis- zung haben wird. Gegebenenfalls sind dann Änderungen tierte Suizidbeihilfe verboten wird. Gleichzeitig werden notwendig. alle anderen Formen des Begleitens in den Tod gestärkt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13157

(A) Die passive Sterbehilfe bleibt unberührt und wird nicht decken sich mit Beobachtungen aus der Schweiz, wo (C) angetastet. Der Entwurf meiner Kollegen Dörflinger und das geschäftsmäßige Angebot der Suizidbeihilfe zu einer Dr. Sensburg ist hinreichend bestimmt und klar, sodass er Steigerung der Selbsttötungen geführt hat. verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Diejenigen Entwürfe, die eine Freigabe der Suizidassistenz wollen, Auch in den Niederlanden ist zu beobachten, wie un- werden letztlich den Ärzten die Entscheidung aufbürden, befriedigend gesetzliche Regelungen sein können und wer ein Sterbemittel bekommt und wer nicht. dass sie mehr Unsicherheiten als Klarheit bringen. Es ist aber nicht die Aufgabe eines Arztes, den Tod Das Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung hängt un- herbeizuführen. Erst recht ist es nicht Aufgabe des Arz- trennbar mit dem Ausbau der Hospiz- und Palliativ- tes, Sterbehelfer zu sein, sondern seine Aufgabe ist, den versorgung zusammen. Wir benötigen einen weiteren Sterbenden im Rahmen der Möglichkeiten zu begleiten Ausbau der Beratungsangebote zum Thema Sterbebe- und mit einer verbesserten Palliativmedizin den Men- gleitung, da diese Angebote den Betroffenen die notwen- schen die große Angst vor dem Sterben zu nehmen. dige Hilfe in der letzten Lebensphase bieten. Der von mir unterstützte Antrag sieht vor, mittels ei- Die flächendeckende medizinische, pflegerische und nes neuen § 217 des Strafgesetzbuches Anstiftung und seelsorgerische Betreuung schwer kranker und sterben- Beihilfe zu einer Selbsttötung zu verbieten. Die Gefahr, der Menschen muss im Mittelpunkt all unserer Über- dass jemand mit dem Leid und der Verzweiflung von legungen stehen. Es ist bekannt, dass eine qualitativ Menschen sein Geld verdient, ist mit der Unantastbarkeit hochwertige und professionelle palliative Begleitung der Menschenwürde nicht vereinbar. den Menschen Schmerz und Angst vor dem Tod nehmen kann. Die wenigsten Menschen halten aktiv am Suizid Die Schutzwürdigkeit der Menschenwürde gilt vom fest, wenn ihnen Ängste genommen und aktive Angebote Anfang bis zum Ende des Lebens und gehört zu den zur Unterstützung gemacht werden. Die Gewissheit, am Kernaufgaben unseres demokratischen Gemeinwesens. Ende des Lebens nicht allein zu sein, entlastet die Betrof- Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir eine organisierte fenen und nimmt ihnen ihre Ängste. Sterbehilfe als Dienstleistung wollen. Darüber hinaus ist die Frage, wann Suizidbeihilfe zulässig sein soll, kaum Der Gruppenantrag von Thomas Dörflinger und durch ein Gesetz regelbar. Das Verbot der Tötung auf Dr. Patrick Sensburg (Drucksache 18/5376) behandelt Verlangen findet schließlich ihre pragmatische Begrün- das Thema Sterbehilfe mit der notwendigen Verantwor- dung in der Überlegung, dass die Behauptung des Tä- tung vor Gott und den Menschen und schafft ebenso ters, auf Verlangen gehandelt oder nur Beihilfe geleistet Klarheit im Strafrecht. Jeder Mensch hat das Recht auf zu haben, im Nachhinein schwer lösbare Beweisfragen ein menschenwürdiges Leben und ein ebenso menschen- (B) aufwirft. würdiges Lebensende. Wenn wir diesen Grundsatz be- (D) herzigen, werden wir den Menschen gemeinsam mit Fa- Sollte sich erst einmal eine scheinbare Normalität der milien, Hospizen und medizinischem Fachpersonal ein unterstützten Selbsttötung für schwerkranke Menschen Lebensende in Würde und Geborgenheit ermöglichen. einstellen, steht zu befürchten, dass bei diesen Menschen ein Erwartungsdruck entsteht. Sie wollen ihren Angehö- Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu. Nur so können rigen oder der Gemeinschaft nicht dauerhaft zur Last zu wir die Würde des Menschen bis zu seinem Lebensende fallen. Je selbstverständlicher und einfacher die Option schützen und bewahren und klare gesetzliche Regelun- zur Suizidbeihilfe erscheint, desto eher ist zu befürchten, gen schaffen. Wir müssen eine Begleitung bis zum Tod dass sich Menschen dazu verleitet sehen könnten, von fördern und nicht die Beförderung in den Tod. dieser Option Gebrauch zu machen. Das dürfen wir nie- mals zulassen. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Von Suizid besonders In der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für gefährdet sind generell Menschen, die depressiv, alt, Recht und Verbraucherschutz zum Thema Sterbebeglei- behindert, chronisch krank, pflegebedürftig, verwitwet, tung am 23. September hat der Rechtswissenschaftler arbeitslos oder alleinstehend und einsam sind. Oft treten Professor Dr. Christian Hillgruber das Verbot von Anstif- alle diese Merkmale gemeinsam auf. Viele treffen oft auf tung und Beihilfe zur Selbsttötung und das Festhalten am Menschen mit Behinderung zu. Leben als schützenswertes Gut als angemessen und ver- Wir wissen, dass schon aus demografischen Gründen fassungskonform bezeichnet. Für ihn ist ein neuer § 217 die Gruppe der Älteren in den nächsten Jahren stark an- StGB eine sinnvolle Ergänzung des Strafrechts, „weil die wachsen wird. Die Babyboom-Generation kommt ins Abgrenzung zwischen Fremdtötung (auf Verlangen) und Rentenalter, während immer weniger junge Leute nach- bloßer Mitwirkung am Suizid prekär ist und die Grenzen kommen. Es ist daher schon hinterfragt worden, ob es in der Praxis verschwimmen …“. ein reiner Zufall ist, dass wir die Debatte über den as- sistierten Suizid zu einem Zeitpunkt führen, an dem der Darüber hinaus hat eine im Oktober veröffentlichte demografische Wandel intensiv wie nie zuvor in Politik empirische Untersuchung der britischen Wissenschaft- und Medien behandelt wird. ler David Jones und David Paton am Beispiel der USA gezeigt, dass eine Legalisierung ärztlicher Suizidbeihil- Aus der Suizidforschung wissen wir, dass es jährlich fe mit einer signifikanten Zunahme der Gesamtzahl von etwa 100 000 Suizidversuche in Deutschland gibt, von Selbstmorden einhergeht. Vielmehr scheint die Einfüh- denen 10 Prozent tödlich enden. Zugleich weist uns die rung ärztlicher Suizidbeihilfe mehr Selbsttötungen aus- Forschung darauf hin, dass hinter fast allen Suiziden und zulösen als zu verhindern! Die Resultate aus den USA Suizidversuchen eine psychische Erkrankung oder sozi- 13158 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) ale Probleme wie Vereinsamung stehen. Hiergegen kann Wir können von der Erfahrung des Auslandes lernen: (C) man mit medizinischer, psychologischer und sozialer In den Niederlanden, wo Euthanasie ausschließlich für Hilfe angehen – die Fachleute der Suizidprävention ha- einwilligungsfähige, unheilbar körperlich Kranke ein- ben wirksame Konzepte erarbeitet. Vor wenigen Wochen, geführt wurde, befürwortet heute jeder dritte nieder- am 10. September, war der Weltsuizidpräventionstag. Er ländische Arzt Euthanasie bei Dementen, bei psychisch sollte uns diese Zusammenhänge ins Bewusstsein rufen. Kranken und bei gesunden Lebensmüden, so eine im Dieser Weltsuizidpräventionstag ist übrigens keine Ver- Frühjahr 2015 veröffentlichte Studie. anstaltung von Außenseitern; dahinter steht neben der Internationalen Vereinigung für Suizidprävention (Asso- Ende 2012 bekamen zwei belgische Zwillinge, die ciation for Suicide Prevention – IASP) die Weltgesund- von Geburt an gehörlos waren, tödliche Injektionen. Der heitsorganisation (WHO). Grund war, dass sie befürchteten, zu erblinden. 2013 ließ sich ein ansonsten gesunder 44-jähriger Belgier nach Dass echte Hilfe bei Suizidgefährdung möglich und einer missglückten Geschlechtsumwandlung wegen un- erfolgreich ist, erkennen Sie daran, dass die wenigsten erträglicher psychischer Leiden töten. 2014 legalisierte Menschen, die nach einem Suizidversuch professionelle das belgische Parlament Euthanasie auch an Kindern. Hilfe erhalten, jemals wieder einen Suizidversuch ma- Ebenfalls 2014 wurde der Euthanasieantrag des körper- chen. lich gesunden, aber psychisch leidenden belgischen Se- Ein Kernpunkt der Debatte um assistierten Suizid ist: xualstraftäters Frank Van Den Bleeken akzeptiert. Als Wenn es erst einmal gesellschaftlich akzeptiert ist, erst man ihm spezielle Therapie anbot, ließ er die Tötung recht, wenn es ein gesetzlich festgeschriebenes Recht da- absetzen. Das Ausland zeigt, dass die angeblich strenge rauf gibt, dass ich mithilfe eines Arztes oder einer Orga- Eingrenzbarkeit nicht dauerhaft hält. nisation aus dem Leben scheiden kann, und wenn das als In der aktuellen Diskussion spielt die Tatherrschaft meine autonome, verantwortungsbewusste Entscheidung des Sterbewilligen eine zentrale Rolle. Der Arzt leiste gilt, dann trage schließlich ich selbst die Verantwortung nur Beihilfe, die Haupttat werde vom Suizidenten ausge- dafür, wenn ich weiterleben und die Ressourcen der All- führt. Lassen Sie mich die Tragfähigkeit dieser Vorstel- gemeinheit weiter in Anspruch nehmen oder meinen An- lung einmal hinterfragen. gehörigen zur Last fallen will. Bitte stellen Sie sich vor, Ihr Arzt verschreibt Ihnen Wenn die unterstützte Selbsttötung eine legitime ein Antibiotikum, das Sie vorschriftsmäßig einnehmen, Entscheidung des Einzelnen ist, werden kranke und be- und Sie werden wieder gesund. Wäre es jetzt richtig, zu hinderte und pflegebedürftige Menschen unter Erwar- sagen: „Der Arzt hat den Patienten geheilt“, oder wäre es tungsdruck kommen. Es reicht übrigens, wenn sie diesen korrekt, zu sagen: „Der Patient hat sich selbst geheilt, der Erwartungsdruck nur empfinden. (B) Arzt hat nur geholfen“? (D) Davon werden nicht in erster Linie prominente Fern- sehintendanten oder bekannte Schauspieler mit hohem Jetzt stellen Sie sich vor, der Arzt verschreibt ein töd- Einkommen und guter sozialer Vernetzung betroffen liches Mittel, das der Patient einnimmt und stirbt. Wie sein. Es wird vielmehr die Bezieher kleiner Renten, Al- würden wir hier den Beitrag des Arztes bewerten? leinstehende und vor allem Menschen mit Behinderun- Ich will damit unterstreichen, dass die Tatherrschaft gen betreffen. des Patienten – das juristische Kriterium, das den assis- Ich habe kürzlich mit einem pensionierten Arzt ge- tierten Suizid von der aktiven Sterbehilfe trennt – eine sprochen, der deutschlandweit Beihilfe zum Suizid leis- hauchdünne Grenze ist. Sie würde nicht auf Dauer halten. tet. Er hat mir als Beispiel seinen jüngsten Fall geschil- Selbst Urban Wiesing, einer der vier Autoren des Ster- dert: Eine Frau Mitte siebzig ist durch einen Schlaganfall behilfeentwurfes nach dem Vorbild von Oregon, sagte gelähmt und pflegebedürftig, sie kommt in ein Heim. Ihr in einem taz-Interview 2014 zur Tatherrschaft des Pati- Sohn hat eine sechsstellige Summe für den geplanten enten: „Wir würden andernfalls eine Grenze überschrei- Hauskauf angespart. Er muss monatlich einen Anteil von ten, die wir im Augenblick politisch nicht überschreiten über 1 500 Euro für das Pflegeheim zahlen. Die Mutter können und sollten, weil sie überhaupt nicht zur Debatte wolle Sterbehilfe – aber kommuniziert hatte der pensio- steht.“ Offensichtlich wird bereits an das Überschreiten nierte Arzt bisher nur mit dem Sohn; er hatte die Mutter gedacht. noch nie gesehen. Die unterstützte Selbsttötung ist – so sagen die Befür- Das liegt auch in der Logik der Argumentation. Wenn worter – angeblich dauerhaft begrenzbar auf Menschen, das Leiden und die Selbstbestimmung des Sterbewilligen die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte – also „einwil- die entscheidenden Kriterien sind – wird man ihm dann ligungsfähig“ – und psychisch gesund sind. Wie lange die vermeintlich moralisch geschuldete „Hilfe“ verwei- würden solche Grenzen dem Diskussionsdruck standhal- gern, weil er selbst das Glas nicht mehr leeren kann? ten? Was wäre mit Menschen, die einwilligungsunfähig Der Deutsche Ärztetag 2011 hat mit einer Dreivier- geworden sind (durch Unfall, Krankheit oder Altersde- telmehrheit beschlossen, dass Beihilfe zum Suizid keine menz)? Was wäre mit Menschen, die aufgrund einer Be- ärztliche Aufgabe ist; eine große Mehrheit der Ärzte- hinderung nie einwilligungsfähig waren? Wäre es nicht schaft lehnt das ab. naheliegend, einem aus der Außenperspektive aussichts- los leidenden Menschen, der nicht selbst um Sterbehilfe Das hat aber auch eine absehbare praktische Konse- bitten kann, auch ohne diese Bitte zu „helfen“? quenz: Wer sich selbst töten will, der hat also mit ho- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13159

(A) her Wahrscheinlichkeit einen Hausarzt, der Beihilfe zur Richtung greift der Arzt dann ein? Würde er riskieren, (C) Selbsttötung ablehnt. dass der Suizident mit weiteren Schädigungen wieder aufwacht? Immerhin hat er den Patienten aufgesucht mit Es ist daher nicht realistisch – wie Befürworter des dem Ziel, ihm zum Tod zu verhelfen. ärztlich assistierten Suizids sagen –, dass ich denjenigen Arzt um „letzte Hilfe“ bitte, der mich schon viele Jah- Wir sollten den verhängnisvollen Weg nicht beschrei- re kennt. Typischerweise müsste ich einen anderen Arzt ten, den Arzt zum Todeshelfer zu machen, denn der Arzt finden, der dazu bereit ist und der mich noch nie zuvor repräsentiert dem Patienten gegenüber die Bejahung sei- gesehen hat. Es könnte wieder auf reisende Suizidärzte ner Existenz durch die Solidargemeinschaft der Leben- wie den pensionierten Urologen Uwe-Christian Arnold den. hinauslaufen, der mit Gasflasche und Kaffeemühle durch Deutschland reist und bis heute bei etwa 300 Suiziden Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) hat das vor assistiert hat. fast 200 Jahren so formuliert: „Er [der Arzt] soll und darf nichts anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück In Oregon – das uns von manchen als Vorbild hin- oder Unglück sei, ob es Werth habe oder nicht, dies gestellt wird – ist es typischerweise so, dass dort über geht ihn nichts an, und maaßt er sich einmal an, diese 90 Prozent der ärztlich assistierten Suizide mithilfe von Rücksicht mit in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die solchen Ärzten stattfinden, die von einem Sterbehilfever- Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste ein vermittelt werden. Mensch im Staate.“ In Oregon gibt es eine weitere brisante Entwicklung, Und wir sollten uns in der aktuellen Debatte bewusst auf die ich hinweisen will. Ich habe hier die aktuelle so- sein, dass Begründungen und Voraussetzungen des ärzt- genannte Priorisierungsliste aus Oregon. Darin stehen lich assistierten Suizids wie Selbstbestimmung über das die medizinischen Leistungen, die diejenigen bekom- eigene Leben, aussichtsloses Leiden und Tatherrschaft men, die nur die soziale Mindestkrankenversorgung des Suizidenten nicht dauerhaft halten. Medicaid haben. Die von Medicaid noch finanzierten Die Argumente werden teilweise heute schon vorge- Therapien werden nach ihrer „Kosten-Effektivität“ auf- tragen: Mit Udo Reiter plädieren manche für die tödliche gelistet. Interessant ist, dass assistierter Suizid von der Selbstbestimmung über das eigene Leben, auch wenn Rationierung ausdrücklich nicht betroffen ist und auch kein aussichtsloses Leiden vorliegt – solange der Suizi- in Zukunft nicht sein soll. Therapie wird rationiert, assis- dent die Tatherrschaft hat. tierter Suizid bleibt garantiert. Mit Urban Wiesing ist die Tatherrschaft des Patien- Interessant ist auch, dass in Oregon inzwischen die ten „im Augenblick“ noch eine nicht zu überschreiten- Mehrheit der ärztlich assistierten Suizide sozial schwa- (B) de politische Grenze – woraus man schließen kann, dass (D) che Menschen betrifft, die nur den sozialen Mindest- für ihn letztlich Selbstbestimmung und Leiden genügen krankenversicherungsschutz Medicaid haben. Ihr Anteil könnten. Das wäre Tötung auf Verlangen. ist 2014 auf 60,2 Prozent angestiegen, viel höher als ihr Bevölkerungsanteil. Für besonders gefährlich halte ich eine Argumentati- on, die jedes Leiden für sinnlos erklärt. Damit wird of- Wo es wie im US-Staat Oregon ein gesetzliches Recht fensichtlich auch das Leiden des einwilligungsunfähigen auf ärztlich assistierten Suizid gibt, ist die Gesamtselbst- Behinderten, der auch zur Tatherrschaft unfähig ist, für tötungsrate nachweislich höher als in Staaten ohne Le- sinnlos erklärt. galisierung des ärztlich assistierten Suizids. Dies belegt eine kürzlich veröffentlichte aufwendige statistische Das betrifft ebenso den Patienten, der die Tatherrschaft Analyse des Medizinethikers David Jones aus Oxford nicht mehr ausüben kann, der vielleicht genau deshalb und des Wirtschaftswissenschaftlers David Paton aus zusätzlich leidet, der aber einwilligungsfähig, psychisch Nottingham, die unter anderem die Daten aus Oregon, gesund und volljährig ist. Wird man ihn „sinnlos leiden“ Washington, Montana und Vermont untersucht und mit lassen? anderen US-Bundesstaaten verglichen haben. Die Er- gebnisse widerlegen die „Oregon-Legende“, der zufolge Wir dürfen uns nicht auf diese schiefe Ebene begeben. die ausdrückliche gesetzliche Gestattung der ärztlichen Daher schlagen wir in unserem Gesetzentwurf die grund- Suizidassistenz suizidpräventiv wirken, also zu niedrige- sätzliche Strafbarkeit jeder Beihilfe zum Suizid vor – wie ren Selbstmordraten führen soll. Im Gegenteil geht lega- es beispielsweise in Österreich, Italien, Finnland, Spani- lisierter ärztlich assistierter Suizid mit steigenden Raten en, Polen und England gilt. aller Suizide einher. Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): Wie Wenn wir also hören, wir sollten uns Oregon zum Vor- Sie wissen, habe ich mit meinen Bundestagskollegen bild nehmen, dann bitte schauen wir auch genau hin, was Michael Brand, Kerstin Griese und Michael Frieser einen sich in Oregon entwickelt hat! der Gesetzentwürfe zum Thema Sterbehilfe verfasst. Un- Warum soll gerade ein Arzt bei der Selbsttötung „hel- ser Gesetzentwurf sieht dabei die Einführung der Straf- fen“? Doch wegen seiner Sachkunde und damit es „si- barkeit für geschäftsmäßige, auf Wiederholung angelegte cher funktioniert“. Was aber macht der Arzt, wenn etwas Förderung zum assistierten Suizid vor. schiefgeht – zum Beispiel spontanes Erbrechen durch Wir haben in den vergangenen Monaten mit Unter- den Suizidenten, in Oregon in 2,5 Prozent der Fälle of- stützung sachkundiger Expertinnen und Experten diesen fiziell als „Komplikation“ registriert –, und in welche Gesetzentwurf erarbeitet, der in moderater Weise das 13160 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Thema Suizidbeihilfe regelt. Unser Gruppenantrag be- gebracht, widersprach Rissing-van Saan deutlich; Zitat: (C) inhaltet, im Gegensatz zu Entwürfen anderer Gruppen, „Die Gefahr, dass medizinische, insbesondere pallia- weder weitreichende neue Strafbarkeiten wie ein Total- tiv-medizinische Behandlungen zur Heilung oder Lei- verbot, noch lässt er eine Öffnungsklausel für eine Aus- denslinderung von den genannten tatbestandsmäßigen weitung des ärztlich assistierten Suizids zu. Wir glauben, Verhaltensweisen nicht in genügender Deutlichkeit un- damit den Erfordernissen eines ausgewogenen Entwurfs terschieden werden könnten, besteht nicht.” gerecht geworden zu sein. Starke Unterstützung kommt nach der Anhörung auch Wir wollen nicht, dass Suizidhilfe zu einem normalen weiterhin von der Ärzteschaft: „Der Entwurf sieht ein Dienstleistungsangebot wird, das gleichberechtigt neben klares Verbot von Sterbehilfeorganisationen vor, verzich- anderen besteht. Wir befürchten, dass dadurch der Druck tet aber auf weitere gesetzliche Regelungen”, schreibt auf ältere, kranke, behinderte oder pflegebedürftige Men- die Bundesärztekammer und betont, „dass es die Auf- schen steigen wird, diese Angebote auch in Anspruch zu gabe von Ärzten ist, Hilfe beim Sterben zu leisten, aber nehmen. Oder dass die Betroffenen selbst aus falsch ver- nicht Hilfe zum Sterben”. Der Präsident der Bundesärz- standener Rücksichtnahme gegenüber ihren Familien zu tekammer, Frank Ulrich Montgomery, hat in dieser Wo- dieser Option greifen. Darüber hinaus sollen alte, kran- che noch einmal in einem Brief an alle Abgeordneten des ke und behinderte Menschen nicht das Gefühl vermittelt Deutschen Bundestags deutlich betont – ich zitiere –: „Es bekommen, dass sie in unserer Gesellschaft nicht mehr wird behauptet, der Gesetzentwurf Brand/Griese krimi- erwünscht sind und dass Suizid eine schnelle Lösung des nalisiere die Ärzte. Dies ist nicht wahr. Nach eingehender Problems sei. inhaltlicher und rechtlicher Prüfung kann die Bundesärz- Unser Entwurf berücksichtigt aber andererseits auch tekammer keine Gefahr der Kriminalisierung der Ärzte- Konfliktlagen von Familienangehörigen und Ärzten, die schaft erkennen. Dieses Argument dient ausschließlich mit schrecklichem Leid konfrontiert werden und sich der Verunsicherung der Abgeordneten (und auch einiger im Einzelfall nicht anders zu helfen wussten, als dem Ärzte).“ Wunsch des Sterbenden nach Unterstützung bei der Zu den bitteren Wirklichkeiten gehört aber auch, dass Selbsttötung nachzukommen, indem die Beihilfe zur unendlich viele Menschen in unserem Land unnötig viel Selbsttötung ebenfalls straffrei bleibt. Das allein wird leiden müssen, weil die heutigen Möglichkeiten der Pal- dem Vertrauensverhältnis des leidenden Patienten zum liativmedizin und der entsprechenden pflegerischen Be- behandelnden Arzt sowie zu Angehörigen und Freunden gleitung nicht zur Verfügung stehen. Das ist das Ergebnis gerecht. Eine Einschränkung durch formalisierte Verfah- von Verdrängung, von Ignoranz und von falschen Priori- ren, gleichgültig, in welchem Rechtsgebiet sie geregelt tätensetzungen im Einsatz der vorhandenen Mittel. Die sind, entspricht nach meiner Auffassung nicht einem hu- (B) überzeugende Antwort kann nur heißen: konsequenter (D) manen Umgang mit schwer leidenden Menschen. Ausbau der Strukturen und Angebote von Palliativmedi- Die Anhörung zu den Gesetzentwürfen zur Sterbe- zin. Die Palliativmedizin muss aus ihrer Randexistenz in begleitung im Rechtsausschuss mit Experten aus Recht, das Zentrum der Gesundheitspolitik! Der Ausbau eines Ethik und Medizin hat erfreulicherweise sehr konkrete flächendeckenden Netzwerkes ambulanter und statio- Klärungen in komplexen Fragestellungen ergeben. Vor närer Dienste ist möglich. Dafür braucht es die entspre- allem hat die Anhörung am 23. September eines er- chenden rechtlichen und finanziellen Bedingungen. bracht: Der von mir und meinen Kollegen Brand/Griese Hier haben wir gestern im Plenum mit der Verabschie- eingebrachte Gesetzentwurf wurde auch in den zentralen dung des Hospiz- und Palliativgesetzes einen wichtigen Punkten bestätigt – er ist juristisch solide, insbesondere Schritt getan. Mein Dank geht vor allem an unseren Bun- verfassungsgemäß, und ethisch wie medizinisch ange- desgesundheitsminister Hermann Gröhe für seine uner- messen. müdliche Arbeit. Dies betrifft vor allem den zentralen Punkt, dass Ärz- Sterben muss jeder von uns alleine. Als Gesellschaft te nach dem Gesetzentwurf und seiner Definition von sind wir aber verantwortlich dafür, unter welchen Bedin- Geschäftsmäßigkeit nicht vom Strafrecht bedroht sind, gungen Menschen sterben: alleine oder liebevoll beglei- wenn sie ihrer verantwortungsvollen ärztlichen Tätigkeit tet, schwer leidend oder optimal palliativ versorgt. auch in den Grenzfällen zwischen Leben und Tod nach- gehen. Wenn aber Beihilfe zum Suizid erst mal zum Standar- drepertoire bei uns gehört, muss ich mich entscheiden; So hat die Sachverständige und frühere Vorsitzen- dann bin ich nicht mehr frei, mich nicht zu dieser Option de Richterin am Bundesgerichtshof Professor Dr. Ruth zu verhalten. So eine Situation möchte ich für unser Land ­Rissing-van Saan überzeugend dargelegt, dass der Be- verhindern. griff der Geschäftsmäßigkeit – ich zitiere – „in unserer Rechtsordnung ein gängiger und von der Rechtsprechung Namhafte Pro-Suizidbeihilfe-Politiker haben in den stets im selben Sinn verwendeter Begriff (ist), der auf vergangenen Tagen verlauten lassen, keine Regelung Wiederholung angelegte Tätigkeiten oder Verhaltenswei- wäre besser als unsere, nämlich das Verbot geschäfts- sen kennzeichnet, die nicht auf Gewinnerzielung ausge- mäßiger Suizidassistenz. Da kann man nur fassungslos richtet sein müssen. Das wird in der Begründung dieses fragen: Wie bitte? Nichts tun ist keine Option. Denn dann Gesetzentwurfs ausführlich und erschöpfend dargelegt.” hätten organisierte Sterbehelfer leichteres Spiel denn je. Etwaigen Unterstellungen, behandelnde Ärzte würden Wir haben uns bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs hier generell oder regelmäßig in strafrechtliche Konflikte von folgender Aussage leiten lassen: Eine Gesellschaft Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13161

(A) mit menschlichem Gesicht muss Menschen in Not einen Meine Entscheidungsfindung wird dabei von zwei (C) menschlichen Ausweg anbieten, keinen technischen. Seiten beeinflusst: Ich bitte deshalb um eine breite Unterstützung unseres Im September 2014 fand eine fraktionsoffene Sitzung Antrages. der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zu dem Thema „Suizidbeihilfe, Palliativ- und Hospizversor- gung“ statt. Die Diskussion war bemerkenswert vielfäl- (CDU/CSU): Am Anfang unseres Le- Maria Michalk tig. Unter den Gästen war auch Udo Reiter, ehemaliger bens steht das Geschenk des Lebens, weil jeden von uns Intendant des MDR. Bei der fraktionsoffenen Sitzung eine Mutter geboren hat. Am Ende des Lebens steht die setzte er sich sehr stark für das Selbstbestimmungsrecht Ungewissheit, wie unser Leben enden wird. ein. Er berichtete von einem Medikamentencocktail, den Die Hoffnung auf die vertraute Umgebung in der Fa- er gerne irgendwann bei sich zu Hause, in gewohnter milie und eine gute medizinische Begleitung ist zu Recht Umgebung, einnehmen würde und welcher ihn einschla- groß. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies eintritt, nimmt fen lassen würde. Dieses „irgendwann“ war zwei Wo- Unsicherheit und Angst. In stabilen Zeiten unseres Le- chen später. Es war kein Medikamentencocktail, sondern bens darüber zu reden, die persönlichen Wünsche im eine Pistole, mit der er sich das Leben nahm. vertrauten Kreis der Familie und Freunde zu äußern, sich über Möglichkeiten und Grenzen aller Hilfen, auch der In meinem privaten Umfeld begegnet mir ein ande- medizinischen, zu informieren, seinen Willen in einer rer Weg, mit einer schweren Krankheit umzugehen. Ein Patientenverfügung zu dokumentieren, hilft, in extremen guter Freund ist an ALS erkrankt. ALS ist eine Erkran- Lebenssituationen das Notwendige tun zu können. Nie- kung des Nervensystems. Es kommt zu einer irreversib- mand muss am Ende seines Lebens leiden. Die medizi- len Schädigung oder Degeneration der Nervenzellen. Die nischen Hilfsmöglichkeiten verbessern sich ständig. Die Muskulatur wird nach und nach immer mehr gelähmt, bis Palliativmedizin in ihren vernetzten Möglichkeiten wird schließlich auch die Atemmuskulatur nicht mehr funk- sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich tioniert. Diese Krankheit ist nicht heilbar. Als ich mei- ständig ausgebaut. Ehrenamtliche Hospizbegleiter und nen guten Freund das letzte Mal gesehen habe, konnte stationäre Hospize erleichtern die Entscheidung für die er kaum gehen, nicht mehr sprechen und wurde über jeweils sehr individuelle Situation. Ein gut versorgter Pa- eine Sonde ernährt. Nur mithilfe eines Sprachcomputers tient kann sich frei entscheiden und seinen Willen zum konnten wir uns unterhalten. Als ich ihn fragte, was ich Ausdruck bringen und die Natürlichkeit des Todes nicht für ihn tun könne, meinte er nur: Bete für mich. – Zu in dem Zwang erleben, sich dem eigenen Schicksal zu er- dem Zeitpunkt wartete er noch auf einen Platz im Hos- geben oder zu resignieren und seinem Leben selbst oder piz. Seine Frau stand immer an seiner Seite, unterstützte und begleitete ihn. Wenige Tage nach der Aufnahme in (B) mithilfe eines Dritten ein Ende zu setzen. Erst aus dieser (D) Zwangssituation wächst wohl der Wunsch nach Selbsttö- ein Hospiz starb er. Zu keinem Zeitpunkt ist das Wort tung. Diese Widersprüche aufzulösen, darum geht es in Sterbehilfe gefallen. dieser Debatte. Das Ende des Lebens ist kein leichter und kein ein- Unsere Rechtsordnung ist stumm zum Tatbestand des facher Weg. Die Herausforderung besteht darin, diesen Suizids. Aber ein staatlich legitimiertes Verlangen auf Weg als Teil des Lebens zu verstehen und zu begleiten. Suizidhilfe darf es nicht geben. Ärzte dürfen in ihren Bestmöglich zu begleiten. Sowohl menschlich als auch Entscheidungen nicht eingeschränkt werden. Sie sind zur medizinisch. Hilfe in schwierigen Lebenssituationen verpflichtet und Befürworter der Sterbehilfe beziehen sich oft auf Ar- tun es seit Jahrhunderten in verantwortungsvoller Weise. tikel 1 Absatz 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Die aktuelle Rahmengesetzgebung und die sich ständig Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen verbessernden medizinischen Möglichkeiten sind Basis ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Scheinbar ist für diese Aufgabe. ein Sterben mit Würde nicht möglich, wenn der Weg hin Ein Abweichen davon darf es in unserem Land nicht zum Tod ein schwieriger ist. geben. Dies hat nichts mit einer Kriminalisierung der Auch ich beziehe mich bei der Diskussion auf diesen Ärzteschaft zu tun, wie es in bemerkenswerter Weise in Artikel. Dabei prägt mich aber vor allem mein Menschen- dieser Debatte getan wurde. Beihilfe zum Suizid darf es bild. Als gläubiger Christ glaube ich fest daran, dass das in unserem Land nicht geben und muss verboten bleiben. Leben ein Geschenk Gottes ist. Über Beginn und Ende Aber mit ganzer Kraft müssen wir weiter für eine große dieses Geschenks können wir nicht frei verfügen. Diese Sensibilisierung für diese Fragen und echte Hilfen arbei- Sichtweise gilt dabei nicht exklusiv für Christen. Unse- ten. re gesamte Verfassung spiegelt ein zutiefst christliches Menschenbild wider. Bereits in der Präambel heißt es: Karl Schiewerling (CDU/CSU): In Artikel 2 Ab- „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den satz 2 unseres Grundgesetzes heißt es: „Jeder hat das Menschen ...“ Darauf folgt Artikel 1 Absatz 1, den ich Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Gibt bereits genannt habe. Dieses Menschenbild ist Bestand- es dann im Umkehrschluss auch das Recht auf Tod? teil unserer Verfassung und daher allgemeingültig. Aktuell diskutieren wir darüber, ob es auch ein Recht Diese unantastbare Würde eines jeden Menschen ist auf einen selbstbestimmten und frei gewählten Tod gibt. in der letzten Phase seines Lebens besonders schutzbe- Es ist eine Gewissensentscheidung, die wie alle Grund- dürftig. Unsere Aufgabe besteht darin, bestmögliche satzfragen nicht einfach zu entscheiden ist. Voraussetzungen zu gestalten, die ein menschwürdiges 13162 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Leben und Sterben schaffen. Menschen müssen ihren ihre Unterschrift einer späteren assistierten Suizidbeihil- (C) Lebensweg bis zu Ende gehen dürfen und würdig sterben fe zustimmen. können – nicht durch die Hand eines anderen, sondern an Ich lehne jede Form organisierter Sterbehilfe – durch der Hand eines anderen. Verbände, Vereine und Einzelpersonen, die ihren Dienst Natürlich berühren mich bei der Debatte auch die per- dauerhaft und immer wieder anbieten – ab. Infolgedes- sönlichen Geschichten und Schicksale anderer Betroffe- sen schließe ich mich dem Entwurf eines Gesetzes zur ner, die bei einem allgemeingültigen Gesetz berücksich- Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbst- tigt werden müssen. tötung an. Dieser Gesetzentwurf spricht sich ganz klar gegen jegliche Form der geschäftsmäßigen, also auf Obwohl 70 Prozent der in Deutschland lebenden Wiederholung angelegten Sterbehilfe aus. Das gilt so- Menschen eine aktive Sterbehilfe befürworten, zeigt eine wohl für Vereine als auch für Einzelpersonen. Die Wie- Umfrage, dass circa 60 Prozent der repräsentativ Be- derholungsabsicht ist hier maßgebend, nicht etwa eine fragten sich über die derzeit geltenden Regelungen nicht Einnahme- oder Gewinnerzielungsabsicht. Als Lösung hinreichend informiert fühlen. Die jetzige Rechtslage zur wird die Schaffung eines neuen Strafbestandes im Straf- Wahrung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende gesetzbuch gesehen, der die geschäftsmäßige Förderung ist vielen Menschen nicht bekannt. Oft wird Sterbehil- der Selbsttötung unter Strafe stellt. Dabei sollen Angehö- fe mit „objektiv schwerem oder extremem“ Leiden ge- rige des Suizidwilligen oder ihm nahestehende Personen, rechtfertigt. Aber kann Leiden objektiv gemessen wer- die sich als nicht geschäftsmäßig handelnde Teilnehmer den? Können wir, wenn wir über verschiedene Formen an der Tat beteiligen, von der Strafandrohung ausgenom- von Sterbehilfe sprechen, das Leiden von Menschen in men werden. leicht, mittelschwer und schwer kategorisieren? Ich habe da meine Zweifel. Gleichzeitig verletzt der Entwurf nicht das Recht auf Selbstbestimmung, welches Ausfluss der Menschenwür- Deshalb sollte aus meiner Sicht nur das gesetzlich ge- de ist. Somit lässt der Gesetzentwurf Freiraum für den regelt werden, was notwendig ist und dem im Grundge- Einzelfall, welcher dramatisch sein kann. Sowohl das setz zugrundeliegenden Menschenbild entspricht. Recht auf Selbstbestimmung als auch das Vertrauens- Die häufig vertretene Meinung, dass sich ein Mensch verhältnis zwischen Sterbenden und Angehörigen oder mit aktiver Sterbehilfe würdig aus seinem Leben verab- dem behandelndem Arzt werden nicht berührt und ein- schieden kann, teile ich nicht. Die Palliativmedizin ist geschränkt. Dieser Entwurf regelt nur das, was geregelt ein bewährter und hilfreicher Begleiter von Menschen werden muss, und lässt Raum für jeden individuellen auf ihrem letzten Lebensweg. Sie hat hohe Achtung vor Einzelfall. Deshalb plädiere ich für diesen Gesetzent- dem leidenden und sterbenden Menschen; sie sieht ihre wurf. (B) Aufgabe nicht in der Heilung, sondern vielmehr in der (D) Linderung, Begleitung und Tröstung. Bei der Palliativ- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Ich werde heute für betreuung stehen nicht nur der Kranke und der Leidende den Gesetzentwurf von Brand/Griese stimmen, der die im Mittelpunkt, sondern auch ihr soziales Umfeld. Der gewerbsmäßige und geschäftsmäßige Beihilfe zum Su- würdevolle Sterbeprozess zeichnet sich bei der Palliativ- izid zukünftig unter Strafe stellen wird. Es ist ein von medizin und der hospizlichen Betreuung durch den ver- Vernunft und Empathie getragener Gesetzentwurf, der antwortungsvollen und bewussten Umgang mit dem Tod die Selbstbestimmung am Lebensende wahrt, zugleich aus. Besonders die ehrenamtliche Hospizbewegung hat aber verhindert, dass künftig kommerzielle Sterbehilfe- hieran einen maßgeblichen Anteil. Der Tod wird dabei vereine oder Gesellschaften ein Geschäftsmodell mit der als Teil des menschlichen Lebens verstanden und akzep- Hilfe zum Sterben entwickeln. tiert. Denn der Tod gehört zum Leben dazu. Dies kann der wertegebundene Staat nicht zulassen, Wir müssen einen gesetzlichen Rahmen finden, der weil wir damit eine Entwicklung billigen würden, deren sowohl die Interessen der Gemeinschaft wie auch die ei- Ende sicher weder von uns gewollt, geschweige denn ak- nes jeden Einzelnen in Einklang bringt. Diese Frage wird zeptiert werden könnte. sicherlich jeder der hier Anwesenden auf seine Art beant- Der Tod eines Menschen, die Hinführung zum Sterben worten. Weil keiner mit letzter Gewissheit sagen kann, und die Hilfeleistung beim Suizid kann niemals Teil einer was denn das gesamtgesellschaftliche Interesse ist. Dienstleistung oder gar eines Geschäftsmodells sein. Wenn das Selbstbestimmungsrecht die Begründung Ich möchte noch einmal an das Wesentliche erinnern: für aktive Sterbehilfe ist, dann kann man auch einem Alles beginnt mit der Würde des Menschen und Artikel 1 Gesunden dieses Recht nicht absprechen. Eine Gesell- unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist un- schaft, in der sich jeder zu jedem Zeitpunkt das Leben antastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Auftrag aller nehmen darf, lehne ich ab. Es wäre eine Gesellschaft staatlicher Gewalt.“ Dieser Anspruch ist absolut. Nicht in des Todes und nicht des Lebens. Eine gesellschaftliche einem religiös zu verstehendem Sinne, sondern vielmehr Normalisierung von Suizidbeihilfe halte ich für riskant. als eine bewusste Orientierung des Verfassungsgebers an Insbesondere alte und kranke Menschen können sich da- Werten, die eine freiheitliche und ethische Ordnung erst durch zu einem assistierten Suizid verleiten lassen oder gewährleisten, ohne sie aus sich selbst heraus begründen sich sogar gedrängt fühlen. Meines Erachtens würde die- zu können. se Bedrängung verstärkt werden, wenn wir, ähnlich wie in Belgien bereits üblich, Formulare einführen würden, Der absolute Wert des menschlichen Lebens und un- durch die Menschen bei Einzug in ein Altenheim durch sere Menschlichkeit sind in jeder Lebenslage zu respek- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13163

(A) tieren, weil wir sonst nicht leben könnten. Der Mensch stehen vor dem vielleicht anspruchsvollsten Gesetzge- (C) kann die Begründung für das Menschsein nicht schaffen bungsprojekt dieser Legislaturperiode. Nicht so oft wird oder gar definieren. der Gesetzgeber gefragt, zu den „letzten Fragen des Le- bens“ Stellung zu beziehen. Und trotzdem bringt uns der Daraus erwächst für die staatliche Ordnung die Pflicht, Fortschritt in Medizin, Technik und Pflege immer wieder Leben zu schützen. Das gilt aber gleichermaßen für den in Entscheidungsnot, über schwere Gewissenskonflikte Einzelnen. Die staatliche Ordnung lebt durch das Han- und komplexe medizinethische Grundfragen urteilen zu deln der Menschen. Sie ist davon nicht getrennt, sondern müssen. ergibt sich erst daraus. Leben mit ethischen und solida- rischen Regeln ist das Band, das die Menschen zusam- Gleichzeitig erfüllen wir heute einen Auftrag des Ko- menhält. Deswegen trennt dieses Band, wer das Leben alitionsvertrages und wollen das Geschäft mit dem Tod, eines anderen beendet oder dies gezielt fördert. Er stellt wo das Leiden und die Nöte der Menschen ausgenutzt sich somit außerhalb des notwendigen und akzeptab- werden, endgültig unterbinden. Dafür brauchen wir eine len Grundkonsenses. Der Philosoph Robert Spaemann gesetzliche Regelung und dürfen nicht, wie in letzter spricht daher zu Recht von einer „ungeheuerlichen Zu- Zeit vermehrt suggeriert, untätig bleiben. Auf eine klä- mutung“, wenn von Menschen verlangt würde, an der rende Änderung der Rechtslage zu verzichten, wie einer Beendigung des Lebens behilflich zu sein. Es würde sich der Anträge nahelegt, ist keine Alternative. Die geltende am Ende gegen die Leidenden und somit auch gegen uns Gesetzeslage reicht offensichtlich nicht aus, um Fehlent- selbst richten. wicklungen zu verhindern. Halbherzige Regelungen, also Grauzonen und Rechtsunsicherheit, können wir uns ge- Andererseits muss die Frage erlaubt sein, welches nauso wenig leisten. Es gilt, konsequent das menschliche Leid und welche Linderung wir den Menschen zumu- Leben an seinem Ende zu schützen. Ein altes, todkrankes ten dürfen oder gestatten müssen. Von der Erduldung und gebrechliches Leben ist genauso wertvoll wie ein von Leid zu sprechen, fällt leichter, wenn man davon junges, gesundes, und kraftvolles – und das ist eine Kern- nicht betroffen ist. Es ändert aber nichts an der Reali- frage der Menschenwürde. Diese Würde kommt jedem tät des Schmerzes. Daher gibt es die Situationen, in de- Menschen voraussetzungslos zu und darf nicht durch nen Leben nicht mehr ertragbar erscheint. Darauf muss eine Überbetonung des Selbstbestimmungsrechts und eine Antwort geben, wer Leben schützen und bewahren eines vermeintlichen Autonomieschutzes ausgehebelt möchte. Dies ist die Stunde für richtige und mitfühlende werden. Deshalb ist bei aller Komplexität des Themas Palliativ- und Hospizmedizin. Das gestern verabschie- eine völlige Freigabe jeglicher Beihilfe zur Selbsttötung dete Gesetzespaket zur Hospiz- und Palliativversorgung gefährlich, verfehlt und ein falsches Signal. geht damit den richtigen Weg. Einen in die Diskussion mitunter eingebrachten kons- (B) Die Antwort auf Aspekte des Leids darf nicht in der truierten „inhumanen Zwang zum Leiden“ gibt es nicht; (D) aktiven Hilfe zum Sterben liegen. Erst recht nicht, wenn deshalb akzeptiere ich den Vorwurf des Paternalismus diese Hilfe zum Sterben als Teil des Lebens kommerzi- nicht. Auch die Erwägung einer strafrechtlichen Lösung alisiert oder regelmäßig wäre. Dies würde eine ethische ist kein Ausdruck von Bevormundung, sondern ent- Entwicklung aufzeigen, die entgrenzt und kaum zu be- spricht dem Ernst und der Komplexität des Sachverhalts. herrschen wäre. Wird ein Aspekt des Lebens zur Dis­ Die Praxis sowie zahlreiche Studien bestätigen: Ein an- position gestellt und ihm daher weniger Würde zuge- fänglicher Sterbewunsch – sei es durch Tötung auf Ver- schrieben, dann ist es nicht völlig fernliegend, dass auch langen oder Suizidbeihilfe – bleibt selten stetig. Im Laufe Menschen in anderen Lebenslagen infrage gestellt oder einer vernünftigen Therapie und Hospizbegleitung wird gar unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit betrachtet er in den allermeisten Fällen zurückgenommen und nicht werden. wiederholt. Auch gesetzgebungstechnisch ist der Gesetzentwurf Es ist mehrmals in anderen europäischen Ländern em- ein guter Kompromiss. Er bestraft nur die geschäfts- pirisch belegt: Mit jedem Schritt in Richtung der Legali- mäßige Beihilfe zum Suizid. Ärzte werden gerade nicht sierung der Suizidbeihilfe sinkt die Hemmschwelle und kriminalisiert. Dies haben führende Vertreter der Ärzte- steigt die Zahl der Selbsttötungen. Aus mehreren Grün- verbände als auch zahlreiche Strafrechtler mit sehr guten den ist eine wie auch immer geartete sogenannte ärztliche Argumenten dargelegt. Diese sind beachtlich. In einzel- Suizidassistenz, für die sich wiederum einer der Anträge nen, ausweglosen Situationen dagegen erhebt der Staat starkmacht, ebenfalls inakzeptabel. Die Konstellation ei- gerade keinen Strafanspruch. Die Balance gelingt diesem ner ärztlichen Beteiligung am Suizid führt zu einem fun- Gesetzentwurf. damentalen besorgniserregenden Wandel der Rolle der Daher plädiere ich dafür, den Gesetzentwurf Brand/ Ärzte und des Arzt-Patient-Verhältnisses. Mein Bild vom Griese anzunehmen. Arzt ist eines des Begleiters, des Helfers und des Kämp- fers für das Leben und nicht des Richters über den Tod oder gar des Henkers. „Nicht durch die Hand, sondern an Marian Wendt (CDU/CSU): „Mein Leben lang habe der Hand soll der Mensch sterben.“ Sehr dankbar bin ich, ich gespart, auf dass wir ein Häuschen haben, das möch- dass der Bundespräsident sich diesen einfachen Satz vor te ich meinen Kindern vermachen, das soll nicht für wenigen Tagen öffentlich zu eigen gemacht hat. meine Pflege draufgehen. Ich will niemandem zur Last fallen.“ Diese drastische Aussage eines Sterbewilligen „Starke Schmerzen, Atemnot, Angst vor dem Ersti- verdeutlicht die ganze Dramatik des heute zu beratenden cken – all das können wir heute mit Palliativversorgung Sachverhalts. Der Bundestagspräsident hat recht: Wir und Hospizbegleitung gut in den Griff bekommen“, be- 13164 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) stätigte Professor Radbruch, Präsident der Deutschen keit, Angst oder Schmerz erfolgt, oder im schlimmsten (C) Gesellschaft für Palliativmedizin. Heute muss keiner in Fall gar auf einer empfundenen Erwartungshaltung einer Deutschland wegen unerträglicher Schmerzen den Frei- Gesellschaft beruht, die dem Kranken die Nutzung dieses tod anstreben. Auch die seelische Belastung, den Stress, vermeintlich naheliegenden Angebots nahelegt. die existenziellen Ängste, eine mögliche Belastung durch Krankheit, die sozialen Probleme – auch dies kann durch Dass es hier keineswegs nur um die letzte Phase des eine qualitätsvolle Palliativbegleitung und ein multipro- Sterbens geht, zeigt ein Blick in unsere Nachbarländer, fessionelles Hospizteam weitreichend gemildert und in denen eine liberalere Sterbehilfepraxis existiert; hier neutralisiert werden. Jeder der deutschlandweit mehreren werden teilweise depressive Menschen und einsame Tausend Selbstmordversuche ist ein verzweifelter Schrei Senioren im Heim bei ihrem Suizid unterstützt. Ich bin nach Aufmerksamkeit, der uns allen als Gesellschaft, überzeugt, dass wir in dieser Hinsicht auch bei uns wei- aber insbesondere Angehörigen gilt. Die geforderte „Ent- tere Veränderungen erleben werden, dass der ärztlich tabuisierung“ der Sterbehilfe ginge einher mit einer Er- vorgeschlagene Suizid zur normalen Therapiealternative wartungshaltung oder gar Druck auf kranke und gebrech- wird, für die es dann auch irgendwann eine Stelle in der liche Menschen, niemandem zur Last zu fallen. In einer Gebührenordnung geben wird, wenn wir heute nichts ge- für sich Humanität und Solidarität beanspruchenden Ge- gen gewerbliche und geschäftsmäßige Suizidbeihilfe tun. sellschaft können menschliche Zuwendung und Fürsorge Deshalb befürworte ich auch keine Ausnahme für ärztli- die einzige Antwort auf körperliches und menschliches ches Handeln. Dabei ist wichtig, dass geschäftsmäßiges Leiden, auf Hilflosigkeit und Einsamkeit sein. Handeln nicht nur Wiederholungsabsicht voraussetzt, sondern zusätzlich erfordert, dass das Handeln mit dem Ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben darf kei- Willen verbunden ist, dies zum dauerhaften Bestandteil ne Alternative zur Therapie und eine Freitodbegleitung des ärztlichen Handelns zu machen. Wer Beihilfe zum darf nicht zu einem üblichen medizinischen Leistungsan- Suizid nicht in sein normales ärztliches Behandlungsan- gebot werden. Eine Selbsttötung kann keine Reaktion auf gebot aufnimmt, sondern seine ärztliche Aufgabe wei- schwierige Lebenssituationen werden. Nicht für den Tod, terhin im Erhalt des Lebens und im Lindern von Leiden sondern für das Leben werde ich heute votieren, und das sieht, erfüllt dieses Merkmal nicht. Hilfe in möglichen aus tiefster christlicher Überzeugung! extremen Einzelfällen, in denen der Wunsch nach einem sofortigen Tod auch durch palliative Versorgung und menschliche Zuwendung nicht aufzuheben ist, erfüllt (CDU/CSU): Ich Elisabeth Winkelmeier-Becker diese Voraussetzung nicht, sie bleibt damit – selbst bei unterstütze den Antrag Brand, Griese et alii. wiederholten Fällen – möglich; dies belässt den Spiel- Die Diskussion um die Grenzen der Beihilfe zum Su- raum, den die ärztlichen Berufsordnungen einräumen, (B) izid berührt uns in unserer Einstellung zum Schutz des und schränkt diesen nicht ein. (D) Lebens in all seinen Phasen. In den vergangenen Jahren hat der medizinische Fortschritt dazu geführt, dass in Wenn Krankheit und Sterben mit großen Schmerzen, vielen Fällen Krankheiten nicht mehr zum schnellen Tod Pflegebedürftigkeit und Unselbstständigkeit verbunden führen, sondern zu langandauerndem Leiden, das für die sind, brauchen wir noch bessere Möglichkeiten, durch Betroffenen und ihr Umfeld manchmal schwer erträglich Palliativmedizin das Leiden zu lindern. Deshalb ist es so ist. Zugleich droht der gesellschaftliche – nicht zuletzt wichtig, dass wir am Tag vor der Entscheidung über die christlich begründete – Konsens, dass die Selbsttötung Suizidbeihilfe die Gesetze für eine echte Verbesserung grundsätzlich ein Tabu darstellt, wegzufallen. der Palliativversorgung verabschiedet haben, die immer auf Linderung des Leidens, nicht auf Tötung ausgerichtet Lange Zeit hat diese gemeinsame Grundhaltung Men- ist. Sie ist und bleibt strafrechtlich völlig unangetastet. schen davon abgehalten, sich für einen Suizid zu ent- scheiden, und sie damit auch vor jeder Beeinflussung Suizidbeihilfe darf nicht zum normalen Angebot wer- von außen geschützt. Die Erfahrungen in anderen Län- den. Deshalb ist das Verbot gewerblicher und geschäfts- dern zeigen nun, dass sich hier schnell ein Geschäfts- mäßiger Suizidhilfe notwendig. feld entwickeln kann, das der Beihilfe zum Suizid den „fatalen Anschein der Normalität“ gibt. Was zunächst Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Das Motto des dies- als Erweiterung der selbstbestimmten Entscheidung jährigen Evangelischen Kirchentages in Stuttgart „damit zum Suizid erscheint, wirkt sich tatsächlich oft als Ein- wir klug werden“ hätte zwar nicht als Leitmotto, aber zu- schränkung der Entscheidung zum Leben aus; denn wer mindest in den Köpfen und Debatten durch den Zu- oder weiter Kosten und Mühen für seine Pflege, Therapie und besser Vorsatz ergänzt werden mögen: „Mensch, beden- schmerzlindernde Behandlung in Anspruch nehmen will, ke, dass du sterben musst, auf dass du klug wirst.“ wer das naheliegend erscheinende Angebot zur Selbst- Wenn ich dies bedenke, was so selbstverständlich zum tötung nicht annimmt, obwohl er dies früher für einen Leben dazugehört wie das Geborenwerden, dann werde solchen Fall bejaht hat, kann sich dann unter Rechtfer- ich mir über die letzten Dinge Gedanken zu machen ha- tigungsdruck gesetzt sehen. Es wäre aber inakzeptabel, ben. Das kann auch die Gesellschaft zusammen mit mir wenn bei kranken oder alten Menschen der Eindruck ent- tun, aber nicht stellvertretend für mich. stünde, sich für ihr Weiterleben rechtfertigen zu müssen, weil es mit einer aufwendigen medizinische Behandlung Damit sind wir bei dem, was Politik „nur“ leisten oder Pflege verbunden ist. Durch organisierte Sterbehil- kann, aber leisten muss: da gesetzliche Regelungen zu fe würde dann Menschen Sterbe“hilfe“ geleistet, deren treffen, wo eine Institution beginnt, „dem Menschen“ Todeswunsch nicht wirklich frei ist, sondern aus Einsam- Entscheidungen abzunehmen oder sie zu manipulieren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13165

(A) Da wo es Menschen leichter gemacht wird, nicht über die neue Wohnformen initiieren, und wenn das Füreinan- (C) Sterben nachzudenken, da, meine ich, beginnt nicht die der-da-Sein in den verschiedenen Lebensmodellen und Freiheit des Einzelnen, sondern da wird der Mensch zur Netzwerken im Vordergrund steht, dann brauchen wir Ware eines Geschäftsmodells und bleibt nicht Herr oder nichts an der bisherigen Gesetzeslage zu ändern, außer Frau über sein/ihr Leben und somit sein/ihr Lebensende. dass die guten Tage ebenso wie die weniger guten und letzten Tage an der Hand lieber Menschen und nicht al- Wir haben, ausgehend von Vorsorgevollmachten und leine mit einem teuer erkauften Schierlingsbecher erlebt Patientenverfügungen, jederzeit die Möglichkeit, Men- werden. Denn letztendlich ist jedes gekaufte Sterben ein schen unseres Vertrauens in unsere Wünsche, Ängste und sehr einsames Sterben – meist an fremdem Ort. Vorstellungen von unseren letzten Aus-, Um- und Abwe- gen einzuweihen. Dazu zählen Ärzte, die Angehörigen, Ein gutes Leben machen auch Beziehungen aus, so Freunde und Menschen, die sich um Körper und Seele Peter Dabrock, evangelischer Theologe aus Erlangen, kümmern. in denen man sich fallenlassen könne. Wer so sterben möchte, wie er gelebt hat, müsste sich also in diese Be- So vieles im Leben gemeistert, Familien gemanagt, ziehungen fallenlassen können. Häuser gebaut, junge und ältere Menschen auch in schwierigeren Lebenslagen begleitet zu haben und Her- ausforderungen erfolgreich angenommen zu haben, nach Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hals- und Beinbrüchen selbst wieder auf die Füße ge- „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, kommen zu sein! Da haben wir an unsere inneren Kräfte dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Das hat geglaubt und darauf vertraut. schon Montesquieu festgestellt. Mit dem Gesetzentwurf Griese/Brand, an dem ich von Genau an dieser Stelle stehen wir heute. Der Bundes- Anfang an mitgedacht habe, ist ein Rahmen vorgelegt, tag hat sich dem Thema „Assistierter Suizid“ mit viel der nichts anderes vorsieht, als die Selbstverantwortung Zeit und großer Ernsthaftigkeit angenommen. Es gab für das eigene Leben zu behalten – und aus dem Sterben eine offene Debatte, eine weitere Debatte zu den ent- eben kein Geschäftsmodell zu machen. standenen Gesetzentwürfen und eine große Anhörung. Es gab zahllose Artikel und Veranstaltungen. Das Thema Einwenden könnte man nun: Dafür braucht man doch Sterben ist aus der Tabuecke raus, und das ist richtig so. keine Bundestagsdebatte oder ein neues Gesetz. Aber einwenden muss man: Wenn genau dieses Nichtvorhan- Froh bin ich allerdings auch darüber, dass es gelungen densein eines Verbots oder Ausschlusses einer auf Wie- ist, eine echte Alternative zu den bislang vorliegenden derholung angelegten geschäftsmäßigen Sterbehilfe den Entwürfen vorzulegen und zur heutigen Debatte einzu- bringen. Alle bislang vorliegenden Gesetzentwürfe ent- (B) Weg ebnet, dann „verkaufen“ wir unsere auf humanis- (D) tischen und christlichen Maßstäben angelegte Werteord- halten Einschränkungen der jetzigen Rechtslage. Das nung. kann und werde ich nicht unterstützen. Ich möchte nicht, dass die Möglichkeit zum assistierten Suizid in welcher Es ist in unserer Geschichte – nach 1945, vereinzelt Form auch immer eingeschränkt wird. Das sieht auch der auch vorher – gesagt worden: Nicht nur das Falsche tun, weit überwiegende Teil der Bürgerinnen und Bürger so. sondern auch das Gute nicht getan zu haben, möge sich Die vertreten wir ja hier im Bundestag. Deshalb unter- nicht wiederholen. stütze ich den Antrag „Keine neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe“. Auch Schweigen fällt in diese Kategorie. Schweigen ist das Gegenteil von dem, was wir mit dieser nunmehr Man kann es offensichtlich nicht oft genug wiederho- über eineinhalbjährigen Debatte in vielen Diskussionen, len: Der assistierte Suizid ist seit 150 Jahren straffrei. Es Informationsveranstaltungen mit Fachleuten und mit je- geht nicht darum, den assistierten Suizid zu liberalisieren dermann und -frau geleistet haben. oder aktive Sterbehilfe zuzulassen, auch wenn ich damit kein Problem hätte. Den Warnern und Angstmachern Es hat sich auf jeden Fall gelohnt, die Bewusstheit möchte ich noch einmal deutlich machen: Es gibt kei- vieler zu stärken, nachzudenken und vorzudenken, mitei- ne Tür, die heute geöffnet werden könnte. Die Tür steht nander zu reden, Lösungen zu überlegen, Wege zu ebnen offen, seit anderthalb Jahrhunderten. Bislang sind die für den Fall, dass ich – den Zeitpunkt nicht kennend – Massen nicht gekommen, die da durchwollen. Ich sehe nicht mehr entscheiden oder artikulieren kann, wie mein keinen einzigen Grund, warum sich das plötzlich ändern letzter Weg gestaltet sein soll. sollte. Ich habe auch noch keinen überzeugenden Grund Für einen nahestehenden Menschen kann ich nur mit gehört. Es wird hier auch nicht der Weg zur aktiven Ster- dessen Einwilligung entscheiden – dazu muss ich, wie behilfe bereitet; es liegt ja kein einziger wirklich liberaler das Wort bereits sagt, um seinen Willen wissen. Diesen Entwurf vor, auch wenn gerne anderes behauptet wird. Willen, so habe ich es in den letzten Jahren sehr persön- Es geht heute nur darum, Menschen, die in höchster Not lich erlebt, werde ich nicht brechen. um Hilfe bitten, diese Hilfe nicht in Zukunft verweigern zu müssen und die Helfer dann auch noch zu kriminali- In unserer zunehmend singularisierten Gesellschaft sieren. gibt es junge, aber auch immer mehr ältere Alleinleben- de. Wenn wir nun im Bereich der ambulanten und der Bei der Debatte um den assistierten Suizid scheint es stationären Hospizarbeit mehr tun, ehren- wie hauptamt- mir vor allem um irrationale Ängste Einzelner und um lich, wenn wir mehr über palliative Versorgung wissen Moral- und Glaubensvorstellungen zu gehen. Diese Din- und sie auch einfordern, wenn wir Initiativen stärken, ge haben aber in der Gesetzgebung nichts zu suchen! Das 13166 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) sagen uns auch die Menschen draußen, die sich zu einem vieler Menschen, von Angehörigen, Ärzten, Theologen (C) Großteil dagegen wehren, dass eine so elementar persön- und engagierten Bürgerinnen und Bürgern, beschäftigt. liche Entscheidung wie das eigene Sterben so stark ein- Nun ist es an der Zeit, zu handeln. geschränkt wird, wie es zum Beispiel durch den Entwurf Diese Debatten, dieser Raum für Diskussionen und von Brand/Griese geschehen würde. intensive Gespräche, haben der schwierigen Entschei- Ich vertrete ein liberales Menschenbild, das den Men- dungsfindung, der tiefgründigen Besinnung und der schen als eigenverantwortliches Individuum begreift. Ich Reflexion sehr gut getan, fast kann man sagen: Sie sind halte das auch für ein konstituierendes Merkmal einer schon ein Wert an sich. Demokratie. Diese Gesetzgebung entfernt sich weit da- Mehrfach konnte ich bei öffentlichen Veranstaltun- von, den Menschen als eigenverantwortliches Individu- gen mit Ärzten, Theologen und betroffenen Angehöri- um zu respektieren. Das ist ein verheerendes Signal für gen über das Thema Sterbehilfe zuhören und beitragen. unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Der Auch konnte ich sehr viele intensive und vertrauliche Gesetzgeber hat nicht das Recht, individuelle Moralvor- Gespräche führen. Die Sorgen und Ängste der Menschen stellungen mithilfe des Strafrechts zu allgemeingültigen insbesondere vor einem qualvollen Sterben, vor einem Regeln zu erklären. Das wäre der Dammbruch, vor dem Sterben womöglich an Apparaten ohne eigene Willens­ die Befürworter einer Strafrechtsverschärfung immer entscheidung und davor, der eigenen Familie „zur Last“ warnen. zu werden – diese Sorgen bestehen. Und natürlich stellt Die Gesetzentwürfe und die Debatte im Parlament, sich jeder von uns bei diesem schwierigen Thema auch mit der Zivilgesellschaft und fachlichen Vertretern wie selbst die Frage: Was wünsche ich mir für das Ende mei- Juristen und Ärzten haben eines gezeigt: Die eine Wahr- nes Lebens? heit gibt es nicht. Vieles, was die einen als unumstößliche In der Verantwortung, die uns kraft unseres Mandats Tatsache verkaufen, wird von der Gegenseite mit Leich- für die gesamte Gesellschaft übertragen worden ist, ge- tigkeit widerlegt. Es ist eben nicht so, dass die Legalisie- ben wir heute eine Orientierung, die angelehnt ist an un- rung von Sterbehilfevereinen die Menschen in den Suizid sere wertegegründeten Überzeugungen. Es wäre falsch, drängt. Das müsste ja bereits eingetreten sein. zu glauben oder zu suggerieren, wir könnten oder würden Es ist eben nicht so, dass Ärzte, die im Palliativbereich heute für jede Situation Regelungen treffen oder treffen arbeiten, nicht von Strafverfolgung bedroht sind. Sie be- können. Wir sind nicht Herren über Leben und Tod. Wir kommen schon jetzt regelmäßig Besuch von Polizei und stellen heute wichtige Marksteine für eine menschen- Staatsanwalt. Bislang werden solche Verfahren richti- würdige Sterbebegleitung auf. Für mich lauten diese aus- gerweise immer eingestellt. Das wird sich aber bei ei- gehend von meiner Wertorientierung als evangelischer (B) ner Verschärfung logischerweise ändern. Das hindert die Christ: (D) Ärzte am Helfen. Wie kann das dem Schutz der Patienten Eine organisierte oder gewerbsmäßige Beihilfe zum dienen? Diese werden dann eben alleingelassen. Suizid stünde meinem Verständnis von Selbstbestim- Wenn Palliativärzte fürchten müssen, für ihre Arbeit mung entgegen und missachtet, dass das Sterben un- strafrechtlich belangt zu werden, werden sie bestimm- trennbar zum Leben gehört. Suizidhilfe darf nicht zu ei- te Angebote wie die Überlassung größerer Mengen an ner professionalisierten Dienstleistung zum Beispiel von Schmerzmitteln nicht mehr machen. Dem einzelnen han- „Sterbehilfevereinen“ und zu einer regulären Alternative delnden Arzt kann man daraus keinen Vorwurf machen. und somit zur akzeptierten Fremdbestimmung werden. Nein, diesen Vorwurf, Menschen in großer Not von Hilfe Werden solche Wege „salonfähig“, besteht zudem die ausgeschlossen zu haben, den muss sich dann das Parla- große Gefahr, dass der soziale Druck auf die Schwer- ment machen. kranken, sich für das Angebot zu entscheiden, sehr groß wird. Ich sage Ihnen: Es ist kein Zeichen von Handlungsun- fähigkeit, wenn heute am Ende des Tages kein neues Ge- Jeder Mensch ist einzigartig – im Leben und Sterben. setz steht, das die Beihilfe zum Suizid einschränkt. Nein, Nach christlichem Verständnis ist der von Gott geschaf- es ist ein Zeichen dafür, dass die Volksvertreter, die heute fene Mensch von ihm mit einem besonderen Auftrag für hier versammelt sind, Debatten und Argumente ernstneh- die Schöpfung versehen – in Freiheit und Verantwortung. men, abwägen und auch zu ihren Erkenntnissen stehen. Gewisse Handlungsoptionen, die stattdessen eine im Er- Manchmal kann es, nach reiflicher Abwägung, auch bes- gebnis als „sozialverträglich“ beschriebene Option zulas- ser sein, nicht zu handeln. Heute ist so ein Tag. Deshalb sen und fördern, spiegeln mehr gesellschaftliche Erwar- werde ich heute – und ich bitte Sie herzlich, das auch tung an den Menschen als umgekehrt wider. zu tun – viermal mit Nein stimmen. Den Antrag „Keine neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe“ unterstütze ich. Die Anerkennung der unveräußerlichen Würde des Menschen gilt unabhängig von seinen Eigenschaften oder seiner Leistungsfähigkeit, und sie gilt übrigens auch Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung für das ungeborene Leben, für den Sterbenden oder den und Landwirtschaft: Mit der heutigen Entscheidung über Menschen mit Behinderung. Sie ist nicht differenzierbar. die gesetzliche Regelung der Sterbebegleitung fassen wir die intensiven Diskussionen der vergangenen Monate in Es ist daher auch eine Frage der gesamtgesellschaftli- den Rahmen eines Gesetzes. Wie ich haben sicherlich chen Solidarität, darum, dass man zeigt, dass das mensch- viele Kolleginnen und Kollegen sich mit ethischen und liche Leben auch in der Phase von Krankheit, Leid oder sehr unmittelbaren Fragen, Wünschen und Anmerkungen Alter und den damit verbundenen Anstrengungen für die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015 13167

(A) Gesellschaft wertvoll ist. Aus diesem Grund ist die De- zustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 (C) batte um menschenwürdiges Sterben in die Mitte der Ge- des Grundgesetzes nicht zu stellen: sellschaft zurückzuholen und zu enttabuisieren. – Steueränderungsgesetz 2015 Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg haben wir – Gesetz zur Anpassung des nationalen Bankenab- gestern mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Ver- wicklungsrechts an den Einheitlichen Abwick- besserung der Hospiz- und Palliativversorgung in lungsmechanismus und die europäischen Vorgaben Deutschland gemacht. Unser Ziel ist, Hospiz- und Pallia- zur Bankenabgabe (Abwicklungsmechanismusge- tivversorgung in unserem Land auszubauen und flächen- setz – AbwMechG) deckend anzubieten. Diese Form der Sterbebegleitung und Pflege in der letzten Lebensphase, die die Menschen- – Gesetz zur Abwicklung der staatlichen Notariate in würde und Selbstbestimmung der Schwerstkranken und Baden-Württemberg Sterbenden achtet, wollen wir auch darüber hinaus stär- – Gesetz über die internationale Zusammenarbeit ken, und daher werden wir diesen Weg weitergehen. Ich zur Durchführung von Sanktionsrecht der Verein- freue mich sehr, dass dieses eindrucksvolle, ursprünglich ten Nationen und über die internationale Rechts- aus der Bürgergesellschaft und den Kirchen erwachsene hilfe auf Hoher See sowie zur Änderung seerechtli- Engagement für die Schwachen in unserer Mitte so ge- cher Vorschriften stärkt wird. Mein Dank gilt den vielen engagierten und sorgenden Ärzten, Pflegern, Bürgerinnen und Bürgern – Zweites Gesetz zur Änderung des Binnenschiff- in den vielen Hospizvereinen. Ich erlebe in meiner Hei- fahrtsaufgabengesetzes mat, wie segensreich und wirksam dieses Handeln ist, – Gesetzes zu dem Protokoll vom 14. Oktober 2005 am Beispiel des Hospizvereins und des gemeinnützigen zum Übereinkommen vom 10. März 1988 zur Be- Palliativ-Care-Teams in Fürth, deren engagiertes Wirken kämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die gerade erst mit einer hervorragenden Platzierung im Ber- Sicherheit der Seeschifffahrt und zu dem Protokoll telsmann-Palliativ-Ranking anerkannt worden ist. vom 14. Oktober 2005 zum Protokoll vom 10. März Mit dem Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der geschäfts- 1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlun- mäßigen Förderung der Selbsttötung, der eine verant- gen gegen die Sicherheit fester Plattformen, die sich wortliche Sterbebegleitung regelt, bewegen wir uns in auf dem Festlandsockel befinden diesem Rahmen. An der Grenze des Lebens wollen wir – Drittes Gesetz zur Änderung des Regionalisie- bestmögliche Hilfe beim Sterben zum Beispiel durch An- rungsgesetzes gehörige von Heilberufen in Krankenhäusern und Hos- – Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Ver- (B) pizen ermöglichen, lehnen die Hilfe zum Sterben aber (D) kategorisch ab. Wenn die Hilfen und Formen der Hospiz- sorgung und Betreuung ausländischer Kinder und und Palliativmedizin an ihre Grenzen stoßen, sollen Me- Jugendlicher diziner unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände – Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz im Einzelfall das Leiden der Betroffenen lindern können. – … Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregister­ Ich erkenne nicht, dass diese Regelungen rechtliche gesetzes Unsicherheit für Ärztinnen und Ärzte schaffen würden. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie ge- Patient wird weiterhin geschützt. Der Arzt ist kein Ge- mäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer werbetreibender, sondern Partner des Erkrankten in Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: schwierigen Lebenssituationen. Ich danke den Initiatoren des Gesetzentwurfs, ins- Innenausschuss besondere Michael Brand und Kerstin Griese, für ihr – Unterrichtung durch die Bundesregierung Engagement und ihre Umsicht in dieser schwierigen Debatte. Mit dem Gesetzentwurf, dem ich heute meine Evaluierungsbericht nach Artikel 9 des Gesetzes zur Stimme gebe, schützen wir die Würde des Sterbenden, Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes das Selbstbestimmungsrecht und das Leben – im Ein- Drucksache 18/5935 klang mit unserer Rechtstradition.

Ich bitte Sie um Unterstützung für diesen maßvollen Finanzausschuss Gesetzentwurf, der sich darauf konzentriert, der Praxis der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung wirksam – Unterrichtung durch die Bundesregierung zu begegnen. Zweiter Bericht des Ausschusses für Finanzstabili- tät zur Finanzstabilität in Deutschland Drucksachen 18/5457, 18/5976 Nr. 1.3 Anlage 5 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Amtliche Mitteilung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Bundesrat hat in seiner 937. Sitzung am 16. Ok- Nationaler Energieeffizienz-Aktionsplan 2014 der tober 2015 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zu- Bundesrepublik Deutschland 13168 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 6. November 2015

(A) Drucksachen 18/1860, 18/2048 Nr. 3 Drucksachen 18/5565, 18/5976 Nr. 1.5 (C)

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätig- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer keit in den Jahren 2013/2014 sowie über die Lage Beratung abgesehen hat. und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet und Stellungnahme der Bundesregierung Drucksachen 18/5210, 18/5976 Nr. 1.1 Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/4504 Nr. A.1 Ratsdokument 6841/15 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/6146 Nr. A.1 Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpoli- Ratsdokument 11877/15 Drucksache 18/6417 Nr. A.2 tik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 2014 EP P8_TA-PROV(2015)0319 (Rüstungsexportbericht 2014) Drucksache 18/6417 Nr. A.3 Drucksachen 18/5340, 18/5458 Nr. 5 Ratsdokument 11870/15

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Innenausschuss Neufassung der Geschäftsordnung des Bundessi- Drucksache 18/6146 Nr. A.4 Ratsdokument 11845/15 cherheitsrates Drucksache 18/6146 Nr. A.5 Drucksachen 18/5773, 18/6138 Nr. 1 Ratsdokument 11846/15

Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/4504 Nr. A.9 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 6594/15 Drucksache 18/4504 Nr. A.10 Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichts- Ratsdokument 6595/15 jahr 2013 Drucksache 18/5982 Nr. A.28 (B) Drucksachen 18/5520, 18/5976 Nr. 1.4 Ratsdokument 9964/15 (D) Drucksache 18/5982 Nr. A.33 Ratsdokument 11018/15 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak- torsicherheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/5165 Nr. A.11 Ratsdokument 6915/15 Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Drucksache 18/5459 Nr. A.15 Jahr 2013 Ratsdokument 9455/15

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