Bayerische Landeszentrale 1 | 11 für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven

Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte

Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern / Jugend zwischen Islam und Islamismus / Interview mit Frantisek Cerny / Memorium Nürnberg / Ungarn Einsichten und Perspektiven

Autorinnen und Autoren dieses HeftesImpressum

Dr. Friedegund Freitag ist Mitarbeiterin im Editionsprojekt „Briefwechsel zwischen König Einsichten Ludwig I. von Bayern und Leo von Klenze“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. und Perspektiven Christoph Huber ist Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Werner Karg ist stellvertretender Direktor der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Verantwortlich: Dr. Robert Sigel ist Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Lehrer am Werner Karg, Dachauer Josef-Effner-Gymnasium und deutscher Delegierter und KMK-Vertreter in der Inter- Praterinsel 2, nationalen Arbeitsgemeinschaft für Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF). 80538 München Prof. Dr. Elke Thiel ist Wirtschafts- und Europawissenschaftlerin in München. Henrike Zentgraf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dokumentationszentrums Reichspartei- Redaktion: tagsgelände in Nürnberg und war als Projektkoordinatorin für das Memorium Nürnberger Monika Franz, Prozesse maßgeblich am Aufbau der neuen Einrichtung beteiligt. Dr. Christof Hangkofer Christoph Huber, Werner Karg

Veranstaltungshinweis Gestaltung: griesbeckdesign Die Landeszentralen Bayerns und Thüringens werden vom 19. bis zum 21. Mai 2011 ein www.griesbeckdesign.de Symposion zum Thema „Linksextremismus“ durchführen; die Veranstaltung wird in der Gedenkstätte Point Alpha stattfinden. Anmeldungen sind voraussichtlich ab Mitte April Druck: möglich (www.politische-bildung-bayern.de). creo Druck & Medienservice Gmbh, Nach derzeitigen Planungen werden –unter anderem –Fachvorträge zu folgenden Gutenbergstraße 1, Themen angeboten: 96050 Bamberg

• Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Traumati- Titelbild: Die „Nürnberger sierungen und Belastungen Prinzipien“ im Memorium • Die Rolle der KPD als antidemokratische Kraft in der Geschichte der Weimarer Nürnberger Prozesse Republik Bild: Museen der Stadt Nürnberg • Deutsche Kommunisten 1933–1946: Prägungen im Exil und die Gründung der SED • Die SED als Staatspartei der DDR • Westdeutscher Linksextremismus nach dem KPD-Verbot • Das gewalttätige linksextremistische Milieu in Westdeutschland • Das Ende der DDR: Häutungen der SED 1989/90 • Entwicklung der PDS in den neuen Ländern • Die Entwicklung in den alten Ländern: Von der WASG zu „Die Linke“

• Bestandsaufnahme Linksextremismus in der Gegenwart Die Landeszentrale konnte die Urhe- • Im Parteienspektrum des wiedervereinigten Deutschlands: Potenziale und Perspek- berrechte nicht bei allen Bildern dieser tiven links von der SPD Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nach- • Linke Kräfte und ihre nationalen, europäischen, globalen Perspektiven und Netzwerke träglich zu honorieren.

Fehler in der letzten Ausgabe: In dem Beitrag „Betrachtungen über die Mitte Europas“ wird ausgeführt, dass Golo Mann seine Doktorarbeit über Friedrich Gentz geschrieben habe. Richtig ist: Golo Mann schrieb seine Doktorarbeit über Hegels Philosophie.

2 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Einsichten und Perspektiven

Inhalt

Friedegund Freitag 4 „Dann könnte Bayern im Süden von Deutschland werden, was Preußen im Norden ist“ Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Ankündigung 20 Der Bayerischen Geschichte auf der Spur Eine 14-teilige Sendereihe in BR-alpha

Robert Sigel 21 Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiter- bildung in der Gedenkstättenpädagogik Buchbesprechung

Interview 24 Ein Gespräch mit Frantisek Cerny

Neue Publikation der Landeszentrale 29 Was vom Alten Reich übrig blieb… Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitli- chen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert

Christoph Huber 30 Jugendszenen in Deutschland – zwischen Islam und Islamismus Tagungsbericht

Henrike Zentgraf 34 Memorium Nürnberg

Elke Thiel 52 Ungarn

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 3 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) „Dann könnte Bayern im Süden von Deutschland werden, was Preußen im Norden ist“

Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Von Friedegund Freitag

König Maximilian II. von Bayern (1811–1864); Ölgemälde von Wilhelm von Kaulbach, um 1848 Abbildung: Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg

4 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Wenn sich 2011 der Todestag König Ludwigs II. von Und der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl urteilte Bayern zum 125. Mal jährt, wird sich eine Vielzahl von über ihn: „Maximilian II. von Bayern hatte in seinem gan- Ausstellungen, Festivitäten und Publikationen mit dem zen Wesen wenig Leidenschaftliches, aber eine Leidenschaft sagenumwobenen „Märchenkönig“ beschäftigen. erfasste ihn, welche bei Fürsten selten sein mag: – die Lei- Angesichts des Ausmaßes, in dem dieser König immer denschaft zu lernen.“2 noch die Fantasie der Nachwelt beflügelt, dürften den Der bayerische Kronprinz hatte eine ausgezeichne- Veranstaltern ein großer Besucherandrang und den te Ausbildung genossen. In Berlin und Göttingen hatte er in Buchhandlungen hohe Verkaufszahlen beinahe sicher den Jahren 1829 bis 1831 bei Arnold Heeren, Friedrich sein. Wohl weit weniger Menschen werden in diesem Christoph Dahlmann und Friedrich von Raumer Geschich- Jahr des 200. Geburtstags von Ludwigs Vater Maximi- te und Staatsrecht gehört. Leopold von Ranke hatte ihm lian II. gedenken. Wenn man in Betracht zieht, dass Privatvorlesungen in Berchtesgaden gehalten; der Kontakt Maximilian II. in der öffentlichen Wahrnehmung weit zwischen beiden blieb ein Leben lang bestehen. Der schon weniger präsent ist als sein Sohn Ludwig II. oder sein dem Kronprinzen eigene wissenschaftlich-methodische Vater Ludwig I., der allein durch das Schlagwort Zugriff wurde auch kennzeichnend für seinen späteren „Kunstkönigtum“ vielen ein Begriff ist, vermag dies Regierungsstil. Maximilian II. sammelte stets so viele Infor- kaum zu überraschen. mationen wie möglich, holte von verschiedenen Seiten Rat- schläge ein und stützte sich zudem auf eine Reihe von Gut- Dabei hat der dritte bayerische König während seiner Re- achten, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Dies gierungszeit von 1848 bis 1864 in der bayerischen Haupt- ermöglichte ihm zwar einerseits, zu einem ausgewogenen stadt München unübersehbare Spuren hinterlassen: Die Urteil zu gelangen, gestattete es andererseits aber Ratge- Maximilianstraße, in der er seine Idee eines neuen Architek- bern, die sein Vertrauen genossen, erheblichen Einfluss auf turstils umsetzte, zieht heute als noble Einkaufsmeile Be- seine Entscheidungen zu nehmen. sucher aus aller Welt an; das von ihm gegründete Bayerische Das Ausmaß dieses Einflusses wurde von der baye- Nationalmuseum, heute das Staatliche Museum für Völker- rischen Öffentlichkeit stets mit einem gewissen Misstrauen kunde, setzt in ihrer Mitte einen markanten Akzent. Vor verfolgt, vor allem, als der Sekretär und engste Vertraute des allem aber das Maximilianeum, das am Ende der Maximi- Königs, der aus Preußen stammende Historiker Wilhelm lianstraße das rechte Isarhochufer bekrönt, zieht die Blicke von Doenniges, in Verdacht geriet, nicht primär bayerische, auf sich. Nicht nur die von Maximilian II. gegründete, sondern vielmehr preußische Interessen zu verfolgen. Dies gleichnamige Studienstiftung für hoch begabte Abiturien- rückte wiederum die Empfehlungen, die Doenniges im ten hat im Maximilianeum ihren Sitz, sondern auch der Hinblick auf die Erteilung von Professuren und die Be- Bayerische Landtag. Es ist fraglich, ob dem gebürtigen setzung von Lehrstühlen gegeben hatte, sowie generell die Münchner oder dem Besucher von auswärts bewusst ist, wissenschaftspolitischen Entscheidungen, die Maximili- dass er hier nicht nur das architektonische Erbe eines wei- an II. unter dem Einfluss dieses Ratgebers getroffen hatte, teren bauwütigen Monarchen aus dem Hause Wittelsbach in ein schiefes Licht. Darauf wird jedoch später noch einzu- vor Augen hat, sondern auch Zeugnisse einer Kultur- und gehen sein. Wissenschaftspolitik, die Maximilian II. zu einer Ausnah- meerscheinung unter den Fürsten des 19. Jahrhunderts Die Ziele der königlichen Wissen- macht und teilweise bis in die Gegenwart fortwirkt. schaftspolitik

Die Persönlichkeit Maximilians II. Von seiner persönlichen Präferenz abgesehen, verband sich mit der Wissenschaftspolitik Maximilians II. eine konkrete, Die Beschäftigung mit den Wissenschaften entsprang einer vielschichtige Zielsetzung. Da war zunächst einmal der tiefen persönlichen Neigung Maximilians. Belegt ist von Wunsch, aus dem übermächtigen Schatten seines Vaters her- ihm der Ausspruch: „Wäre ich nicht in einer königlichen auszutreten. Ludwig I. hatte die Entwicklung der Kunst in Wiege geboren worden, so wäre ich am liebsten Professor Bayern jahrzehntelang geprägt; unter ihm war München zu geworden; dieser Beruf hätte mich am meisten angezogen.“1 einer Kunststadt von europäischem Rang geworden. Wenn

1So überliefert von dem Schweizer Juristen und in München tätigen Staatsrechtslehrer Johann Caspar Bluntschli; zit. nach: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller: Erlebte und gelebte Universität. Die Universität München im 19. und 20. Jahrhundert, Pfaffenhofen 1986, S. 55. 2Zit. nach: Achim Sing: Maximilian II. und „die Frage, ob die Wissenschaft oder die Kunst dauernden Ruhm gewähren“, in: Winfried Nerdinger (Hg.): Zwischen Glaspalast und Maximilianeum. Architektur in Bayern zur Zeit Maximilians II. (1848–1864), Ausstellungs- kataloge des Architekturmuseums der Technischen Universität München und des Münchner Stadtmuseums 10, Eurasburg 1997, S. 47–51, hier S. 47.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 5 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Die königliche Familie: König Maximilian II. von Bayern mit Königin Marie Friederike (1825–1889), Kronprinz Ludwig (1845–1886) und Prinz Otto (1848–1916) im Jahr 1860 Abbildung: Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg

auch nicht ohne Ehrgeiz, es seinem Vater auf dem Gebiet derung verhängte Spardiktat hatte sich auf den personellen der Kunst und der Architektur gleichzutun, so war sich Sektor zunehmend nachteilig ausgewirkt. Doppelbeset- Maximilian II. doch bewusst, dass er seine Energie einem zungen, bei denen Professoren von der Akademie der Wis- anderen Bereich zuwenden musste, wenn er als König eige- senschaften besoldet wurden und gleichzeitig an der Uni- ne Akzente setzen wollte. Mit der Wissenschaftspflege bot versität lehrten, waren keine Seltenheit. Die zweifache sich ihm ein neues, von seinem Vorgänger weniger domi- Belastung und damit einhergehende Überforderung dürften niertes Aktionsfeld. Zwar hatte Ludwig I. bereits kurz nach die Bereitschaft zu einem außergewöhnlichen Einsatz zwei- seiner Thronbesteigung entscheidende Grundlagen gelegt. fellos gedämpft haben. Zudem hatten viele Professoren In der Absicht, die bayerische Hauptstadt zu einem altersbedingt ihren wissenschaftlichen Zenit überschritten Zentrum für Wissenschaft und Forschung zu machen, hatte oder sie befanden sich nicht mehr auf dem neuesten For- er 1826 die Universität von Landshut nach München verlegt schungsstand und hingen veralteten Lehrmethoden an, und ihre personelle Verbindung mit der Bayerischen Aka- ohne jedoch jüngeren Kräften Platz zu machen. In den in demie der Wissenschaften veranlasst. An der neu angeleg- der damaligen Wissenschaftslandschaft aufblühenden Fä- ten, repräsentativen Ludwigstraße waren für die Universität chern der Naturwissenschaften, der Medizin und Geschich- und die Hof- und Staatsbibliothek monumentale Bauten te war der Lehr- und Forschungsstandard so weit gesunken, entstanden. Persönlichkeiten wie der Philosoph Friedrich dass Bayern viel von seiner Attraktivität als Wissenschafts- Wilhelm Schelling, der Philologe Friedrich Thiersch, der standort verloren hatte. Germanist und Sprachforscher Johann Andreas Schmeller oder der katholische Theologe und Publizist Joseph Görres Für Maximilian II. ergab sich daraus als einzig mögliche hatten zu ihrer Zeit dem Lehrbetrieb ein durchaus beacht- Konsequenz: „Was das Gebiet des Geistes betrifft, so liches Renommee verliehen. Aber trotz dieser vielverspre- will ich vor allem darauf sehen, daß alle Tore dem Geiste chenden Anfänge war es um die Wissenschaftspflege zum geöffnet werden, daß wir in der Entwicklung der Zeit Zeitpunkt von Maximilians Regierungsantritt eher schlecht nicht zurückstehen, sondern voranschreiten und so bestellt. Das von Ludwig I. im Interesse seiner Kunstför- einen geachteten, verehrten Namen in Deutschland

6 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) erhalten. Dann könnte Bayern im Süden von Deutsch- lehrter aus ganz Deutschland eine wesentliche Rolle land werden, was Preußen im Norden ist, dann könnten spielte; wir an der Spitze der deutschen Staaten zweiten Ranges 2. die Einrichtung wissenschaftlicher Kommissionen und eine Großmacht bilden, wozu Österreich wegen seiner Seminare an den Universitäten und der Bayerischen Füller außerdeutscher Interessen nicht befähigt ist.“3 Akademie der Wissenschaften; 3. umfangreiche Fördermaßnahmen, die nicht nur begab- Maximilian wollte also das Universitäts- und Bildungswe- ten Studenten, sondern ebenso wissenschaftlichen Ver- sen in Bayern auf ein Niveau bringen, bei dem man den einen und Gesellschaften sowie Forschungsprojekten Vergleich mit den großen deutschen Geisteszentren nicht zu und Expeditionen zuteil wurden, sowie scheuen brauchte. Bayern sollte nicht nur konkurrenzfähig, 4. die gesellschaftliche wie soziale Auszeichnung heraus- sondern als Wissenschaftsstandort in Deutschland sogar mit ragender Literaten und Wissenschaftler. tonangebend werden und dadurch seinen Führungsan- spruch unter den deutschen Mittelstaaten untermauern. Die Hochschulpolitik Was dem Königreich an politischem Einfluss und militäri- scher Stärke fehlte, sollte es in geistig-kultureller Hinsicht In der Hochschulpolitik konzentrierten sich die Bemü- wettmachen und auf diese Weise neben Österreich und hungen Maximilians II. zunächst vor allem auf die bayeri- Preußen seine Position als dritte Macht in Deutschland fes- sche Hauptstadt und die Ludwig-Maximilians-Universität. tigen. Die Förderung der Wissenschaften erfolgte also nicht In München fanden sich geradezu ideale Ausgangsbedin- nur um ihrer selbst willen, sondern stand immer auch im gungen, denn die Museen und naturwissenschaftlichen Dienste eines übergeordneten politischen Ziels. Sammlungen, die reich ausgestatteten Archive und Bibliotheken eröffneten der Forschung ein weites Feld. Schwerpunktsetzungen Weniger Aufmerksamkeit schenkte der König den Hochschulen in Würzburg und Erlangen. Im Alter von 36 Jahren inmitten der revolutionären Umwäl- zungen des Jahres 1848 durch die überraschende Abdan- Essenzieller Bestandteil der wissenschaftspolitischen kung seines Vaters Ludwig I. vorzeitig auf den Thron Initiativen war, wie bereits erwähnt, die Berufungspo- gekommen, hatte der junge König zunächst mehr als genug litik. Ließ man im personellen Bereich die nötige damit zu tun, für politisch stabile Verhältnisse zu sorgen, Voraussicht walten, so die Überzeugung des Königs, seine Herrschaft durch einen Reformkurs zu stabilisieren investierte man langfristig in die Zukunft des Landes. und gleichzeitig die Zukunft der Monarchie und damit auch Durch die Berufung der in ihrem jeweiligen Fachgebiet der wittelsbachischen Dynastie zu sichern. als Koryphäen angesehenen Wissenschaftler konnte Maximilian II. konzentrierte sich daher zunächst man einerseits den Lehr- und Forschungsstandard in darauf, ein tragfähiges Konzept für seine Wissenschafts- Bayern zügig an das Niveau der führenden deutschen politik auszuarbeiten. Dabei stützte er sich auf ein ganzes Zentren angleichen und andererseits den Grundstock Heer von Beratern, darunter der schon erwähnte Wilhelm zu einer längerfristigen Entwicklung legen, indem man von Doenniges. Gelehrte und Fachleute unterschiedlichster im eigenen Land einen hochqualifizierten wissenschaft- Provenienz wurden zur Vorlage von Gutachten aufgefor- lichen Nachwuchs heranbildete, der später an die Stelle dert, bayerische Gesandte hielten in ganz Deutschland Aus- auswärtiger Kräfte treten konnte. schau nach vielversprechenden jungen Talenten, eine wis- senschaftliche Kommission wurde ins Leben gerufen, wel- Maximilian II. empfand es als erhebliches Manko, dass zu che die einzelnen Maßnahmen aufeinander abstimmen und Zeiten seines Vaters die bayerischen Hochschulen ihr wis- koordinieren sollte. Anfang der 1850er Jahre wurden dann senschaftliches Personal aus Kostengründen nur selten von konkrete Schritte eingeleitet. außerhalb, sondern vorwiegend aus den eigenen Reihen bzw. aus landeseigenen Gymnasien und Lyzeen bezogen Kernpunkte waren dabei: hatten. Zudem hatte Ludwig I., um den christlich-konser- 1. die Neuausrichtung und Umgestaltung der bayerischen vativen Grundcharakter der Universität zu bewahren, ab Hochschulen, wofür die Berufung renommierter Ge- einem bestimmten Zeitpunkt weitaus mehr Wert auf die

3Zit. nach: Harald Dickerhof: „Es soll eine neue Ära in München begründet werden ...“ Zur Rolle der Nordlichter in der Modernisierung der bayerischen Universität, in: König Maximilian II. von Bayern (1848–1864), hg. v. Rainer A. Müller, Rosenheim 1988, S. 271–283, hier S. 271.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 7 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Die „Einführung Alexander von Humboldts in einen Kreis berühmter Männer aus Kunst und Wissenschaft in Bayern“, Entwurf zu einem Fresko für das Maximilianeum in München Abbildung: ullstein bild

politische Haltung eines Kandidaten sowie auf die „richti- gularien ebenso rücksichtslos wie die zuständigen Stellen im ge“ – das heißt die katholische – Konfession gelegt als auf Ministerium und an der Universität. Ebenso wenig zählten wissenschaftliche Qualifikation. für ihn die Ansprüche früherer Anwärter, wenn es galt, ei- Für Maximilian II. waren andere Kriterien aus- nem Wunschkandidaten eine Professur zu verschaffen oder schlaggebend. Er suchte nach Literaten, Naturwissen- diesen in bestimmten Fakultätsgremien zu platzieren. Nicht schaftlern und Historikern, die geeignet waren, die von ihm selten ging mit der Besetzung eines Lehrstuhls oder der als verkrustet empfundenen Strukturen an den bayerischen Verleihung einer Professur die zwangsweise Pensionierung Hochschulen aufzubrechen, die der Forschung neue An- altgedienter Professoren einher, deren Leistungen nicht stöße geben und gleichzeitig das geistig-kulturelle Leben in mehr den ehrgeizigen Zielen des Königs entsprachen oder Bayern entscheidend bereichern konnten. In diesem Zu- in deren konservativer Wissenschaftsauffassung und tradi- sammenhang waren für ihn weder politische Ansichten tionellen Lehrmethoden Maximilian II. ein Hindernis für noch Konfession oder Herkunft relevant. Sein Blick ging die Weiterentwicklung und Neuausrichtung der Universität dabei gezielt über die Grenzen seines Königreichs hinaus. sah. Die meisten Gelehrten, die den Ruf nach München erhiel- ten – allein bis 1856 waren es 55 –, stammten aus Mittel- und Die Berufung außerbayerischer Norddeutschland. Für diese zumeist protestantischen Gelehrter und Förderung einheimischer Gelehrten bürgerte sich rasch der wenig schmeichelhafte Wissenschaftler Spottname „Nordlichter“ ein. Von wenigen Ausnahmen ab- gesehen, schlug ihnen in Bayern mehr oder weniger offene Beispielhaft zeigt sich dies im Fachbereich Medizin. Der Ablehnung entgegen. Die Aufnahme in die Münchner Ge- ehemals moderne Standard der medizinischen Fakultät war sellschaft wurde ihnen verweigert – die meisten „Nordlich- mit den Jahren erheblich gesunken; mit Ausnahme des ter“ lehnten es allerdings auch ab, sich darum zu bemühen Fachbereichs Anatomie haftete der gesamten Fakultät zu – und die universitären Kreise hießen ihre neuen Mitglieder Recht der Ruf der Rückständigkeit an. Der längst fällige ebenfalls keineswegs herzlich willkommen. Letzteres war Wandel setzte 1851 mit der Berufung des Heidelberger Kli- freilich wesentlich auf den Umstand zurückzuführen, dass nikers Karl von Pfeufer ein, der den wegen seiner konser- der König sich wiederholt persönlich in die Berufungs- vativen, romantisch-religiös geprägten Wissenschaftsauf- verfahren einschaltete. Dabei überging er die üblichen Re- fassung höchst umstrittenen und als fortschrittsfeindlich

8 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) geltenden Johann Nepomuk von Ringseis ablöste. Wenig später erging der Ruf an Theodor von Bischoff, einem der führenden Anatomen und Physiologen seiner Zeit, und den Zoologen und Anatom Karl Theodor von Siebold.

Schrittweise setzte sich nun die rationale, exakten na- turwissenschaftlichen Erkenntnissen folgende, auf Analyse und Experiment basierende Medizin durch. Der Münchner Hygieniker Max von Pettenkofer wurde 1853 zum ordentlichen Professor für medizinische Chemie ernannt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der verheerenden Auswirkungen der Choleraepidemie, die 1854 in Bayern tausende von Opfern gefordert hatte, darunter Königin Therese, die Mutter Maximilians II., widmete sich Pettenkofer mit königlicher Unterstüt- zung in den folgenden Jahren verstärkt der Erfor- schung von Ansteckungs- und Verbreitungswegen epi- demischer Krankheiten. Dank seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden in den folgenden Jahrzehnten große Fortschritte auf dem Gebiet der Seuchenbe- kämpfung erzielt; die Trinkwasserversorgung und sani- täre Situation in den Städten verbesserte sich erheblich. 1865 wurde eigens für Pettenkofer der Lehrstuhl für Hygiene eingerichtet. Justus von Liebig (1803–1873); Fotografie von Franz Hanf- staengl, 1860 Abbildung: ullstein bild Zahlreiche weitere Gelehrte aus anderen Fachbereichen fanden in der Ära Maximilians II. ihren Weg nach München: Der rheinländische Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Die Naturwissenschaften Riehl zum Beispiel, für den 1859 der deutschlandweit erste Lehrstuhl für Kulturgeschichte geschaffen und der zum Wie schon die Umgestaltung des Fachbereichs Medizin „Begründer der Volkskunde“ wurde, Philipp Johann Gus- zeigt, richtete sich das besondere Augenmerk des Kö- tav von Jolly, dem der Ruf eines begnadeten akademischen nigs auf die Naturwissenschaften. An sie stellte er hohe Lehrers vorauseilte und der als Nachfolger Georg Simon Erwartungen, erhoffte er sich doch von der Umsetzung von Ohms den Lehrstuhl für Experimentalphysik erhielt, der neuesten Forschungsergebnisse eine deutliche der Dichter Emanuel Geibel, der 1852 zum Professor für Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards sowie Literatur und Ästhetik ernannt wurde, ohne dass damit generelle Vorteile für die industrielle und landwirt- allerdings ein Lehrdeputat verbunden gewesen wäre, die schaftliche Entwicklung im Agrarstaat Bayern. Schriftsteller Friedrich Bodenstedt und Paul Heyse. Den Die Förderung der Naturwissenschaften verband sich aus Bayern stammenden Philologen Karl Halm holte der folglich mit dem konkreten Anspruch an ihren unmit- König eigens aus Wien in die bayerische Hauptstadt zurück telbaren praktischen Nutzen. und übertrug ihm die Leitung der Bayerischen Staatsbi- bliothek; auch der Philologe Ernst von Lasaulx und der Die Besetzung des Lehrstuhls für Chemie Kirchenhistoriker Johann Ignaz von Döllinger, die als poli- mit Justus von Liebig tisch unbequem unter Ludwig I. zwangsweise in den Ruhe- stand versetzt worden waren, nahmen ihre Lehrtätigkeit „München bietet mir einen neuen Wirkungskreis. Ich habe 1849 wieder auf. mich verpflichtet, im Wintersemester Experimentalchemie In konsequenter Ergänzung zu seiner Personal- in 6 Stunden zu lesen, sonst nichts, keine Praktikanten. Ich politik trieb Maximilian II. die Einrichtung von Instituten werde meine jungen Leute arbeiten lassen, aber nach mei- und Seminaren voran, veranlasste den Ausbau von Labora- ner Auswahl. Ich bekomme Thaler 30000 zu einem ganz torien und Kliniken und rief wissenschaftliche Kommissio- neuen Laboratorium und Zubehör, Thaler 5000 Besoldung nen ins Leben. jährlich, Thaler 2500 für Instandhaltung des Inventars und

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 9 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Justus von Liebig in seinem Arbeitszimmer; zeitgenössische Illustration Abbildung: ullstein bild

keine Praktikanten! Kann man so etwas von sich weisen? neues chemisches Laboratorium errichtet und die bereits Unmöglich.“4 vorhandene, den Anforderungen nicht mehr genügende Anlage zu seinem Wohnhaus umgebaut. In dem hochmo- Am Fall des Chemikers Justus von Liebig zeigt sich dernen Hörsaal, der zum Laboratorium gehörte, fanden beispielhaft, zu welch großen Zugeständnissen Maximi- sich zu den von Liebig ins Leben gerufenen Abendvor- lian II. bereit war, wenn es galt, eine Kapazität in ihrem lesungen regelmäßig bis zu 300 Zuhörer und sogar Mit- jeweiligen Fachgebiet an München zu binden – kaum glieder der königlichen Familie ein. Liebig verstand es, in ins Gewicht fallende Lehrverpflichtungen, ausreichend populärwissenschaftlichen Vorträgen die Grundlagen der Zeit für eigene Forschungen, eine hervorragende Be- Naturwissenschaften auch einem Laienpublikum anschau- soldung und zahlreiche Sondervergünstigungen, von lich zu vermitteln; wenn er nicht selbst am Katheder stand, denen einheimische Kollegen im Regelfall nur träumen bestritten Kollegen aus verschiedenen Fachrichtungen die konnten. abendlichen Vorlesungen, so auch Heinrich von Sybel. Die mit chemischen Experimenten gepaarten Vorträge Liebigs Natürlich knüpfte sich daran die Erwartung, dass die For- hatten einen hohen Unterhaltungswert. Der Chemiker schungen Liebigs nutzbringende Anwendung finden und erfreute sich bald allgemeiner Beliebtheit und gehörte damit dazu beitragen würden, Bayern ein gehobenes wissen- zu den wenigen „Nordlichtern“, die nicht ausgegrenzt oder schaftliches Renommee zu verleihen. Für Liebig, dessen sogar angefeindet wurden. Berufung wesentlich dem in München ansässigen Chemiker Dank der großzügigen Arbeitsbedingungen, die Max von Pettenkofer zu verdanken war, wurde eigens ein Maximilian II. ihm eingeräumt hatte, konnte sich Liebig

4Justus von Liebig an August Hofmann im Juli 1851, zit. nach: Heinrich Nöth: „Habe mich fest und unwiderruflich gebunden.“ Justus von Liebig (1803–1873) und seine Zeit in München, in: „Dem Geist alle Tore öffnen.“ König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft, hg. von Ulrike Leutheusser, Heinrich Nöth, München 2009, S. 75–92, hier S. 76.

10 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) verstärkt seinen Forschungen zur analytischen und organi- schen Chemie widmen. Dabei suchte er die Zusammen- arbeit mit anderen naturwissenschaftlichen Teildisziplinen wie der Medizin und der Physik. Seine Forschungsergeb- nisse fanden nicht nur Anwendung in der Landwirtschaft – bahnbrechend wurde hier vor allem die Einführung des Kunstdüngers –, sondern unter anderem auch in der Nah- rungsmittelherstellung. „Liebigs Fleischextrakt“ ist bis heu- te im Handel. Liebig, der seit 1852 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war, wurde 1859 ihr Präsident. Er bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod 1873.

Das Mathematisch-Physikalische Seminar

Mit der Gründung des Mathematisch-Physikalischen Se- minars und des vielleicht bekannteren Historischen Semi- nars hielt Mitte der 1850er Jahre der Seminargedanke auch an der Universität in München Einzug. Dahinter stand die Idee, dass sich die Qualität der Lehre nur verbessern könn- te, wenn man sich von der ausschließlichen Faktenpräsen- tation und -deutung durch den Lehrenden löste – heute würde man dies vielleicht als Frontalunterricht bezeichnen – und ergänzend zu den herkömmlichen Vorlesungen die Studenten im direkten Dialog und durch praktische Übun- Leopold von Ranke (1795–1886) Abbildung: ullstein bild gen zu selbstständiger Forschungsarbeit anleitete und gleichzeitig die angehenden Gymnasiallehrer sowohl päd- agogisch als auch didaktisch auf ihre Lehrtätigkeit vorbe- Integration der neubayerischen Gebiete waren längst noch reitete. Den Vorstand des Mathematisch-Physikalischen nicht abgeschlossen und die konfessionellen, regionalen wie Seminars übernahmen der Mathematiker Philipp Ludwig mentalen Unterschiede zwischen den einzelnen Bevölke- von Seidel, der seine Erfahrungen aus seiner Zeit in Berlin rungsgruppen erwiesen sich immer noch als stärker als ein und Königsberg mit einbrachte, und der Physiker Philipp etwaiges gesamtbayerisches Nationalbewusstsein. Vor dem Johann Gustav von Jolly. Mit Jolly, der vor allem durch Hintergrund der kleindeutsch-nationalstaatlichen Eini- seine Forschungen zur Verbesserung von Messinstrumen- gungsbestrebungen konnten die bedrohte Eigenständigkeit ten und Messmethoden bekannt wurde – die Jolly sche des bayerischen Staats und der Fortbestand der monarchi- Federwaage etwa durfte in keinem physikalischen Institut schen Staatsform jedoch nur gesichert werden, wenn sich fehlen –, wurde 1865 erstmals ein „Nordlicht“ Rektor der das Volk mit eben diesem Staat und dem Herrscherhaus Ludwig-Maximilians-Universität. identifizierte. Maximilian II. wies der Geschichtswissen- schaft die Aufgabe zu, durch die Erforschung der bayeri- Die Geisteswissenschaften schen Vergangenheit und die Vermittlung der historischen Identität und landeseigenen Kultur an den bayerischen Richtete sich bei den Naturwissenschaften das Haupt- Universitäten und Schulen zur Schaffung eines bayerischen augenmerk des Königs auf die konkrete Anwendbarkeit der Nationalbewusstseins beizutragen: Forschungen, so verband sich mit seinen geschichtspoliti- „Die Geschichte der neuesten Zeit hat die provi- schen Maßnahmen eine andere Zielsetzung. Die Folgen der dentielle Bestimmung Bayerns in Deutschland kundgethan Revolution von 1848 hatten den bayerischen Staat und die [...] Zu einem Volke zu zählen, welchem in der deutschen Monarchie in ihren Grundfesten erschüttert. Erschwerend Staatenfamilie diese hohe Bedeutung zukommt, und dessen kam hinzu, dass man gewissermaßen noch mit Altlasten zu Staatsbau wie kein anderer den revolutionären Stürmen der kämpfen hatte. Als Königreich existierte Bayern schließlich Neuzeit widerstanden hat, muß jedem Angehörigen des erst seit 1806 und seine endgültige Ausprägung hatte das bayerischen Staates ein befriedigendes Gefühl gewähren, Staatsgebiet erst 1816 gefunden. Die Bemühungen um eine und ihn zu einem freudigen Aufblick zu seinem königlichen

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Herrn veranlassen [...] In diesem Sinne soll die bayerische Geschichte gelehrt und hierdurch bei der Jugend das baye- rische Nationalgefühl geweckt [...] werden.“5 Die Beförderung eines bayerischen Nationalbe- wusstseins ausgerechnet in die Hände eines Preußen, näm- lich Heinrich von Sybels, zu legen, wirkte sich bei der Verwirklichung dieses Ziel allerdings eher kontraproduktiv aus.

Die Berufung Heinrich von Sybels auf den Lehrstuhl für Geschichte

1852 klagte der Mediävist Johann Friedrich Böhmer, in München sei es in „historicis ziemlich öde und leer“.6 Die Auffassung, dass es um die Geschichtswissenschaft schlecht bestellt sei und die Ludwig-Maximilians-Universität sich in dieser Hinsicht schon lange nicht mehr auf der Höhe ihrer Zeit befinde, teilte auch Maximilian II. Über 20 Jahre, von 1827 bis 1848, hatte mit Joseph Görres ein weithin bekann- ter Vertreter des politischen Katholizismus den Lehrstuhl für Geschichte innegehabt. Nach seinem Tod fehlte es nicht nur an einer großen, charismatischen Lehrpersönlichkeit, sondern vor allem an jemandem, der die kritische Ge- schichtswissenschaft an den bayerischen Hochschulen eta- blierte und damit Lehr- und Forschungsmethoden einführ- te, die dem damaligen modernen Standard entsprachen. Maximilian II. hätte gerne Leopold von Ranke, dem „Vater“ der historisch-kritischen Methode, zu dem er seit seiner Kronprinzenzeit in engem Kontakt stand, an der Ludwig-Maximilians-Universität den Lehrstuhl für Ge- schichte verliehen. Da Ranke es jedoch vorzog, in Berlin zu Heinrich von Sybel (1817–1895), Fotografie, 1860 bleiben, ging der Ruf an Heinrich von Sybel. Gleichzeitig Abbildung: ullstein bild mit diesem kam ein weiterer Ranke-Schüler, der gebürtige Würzburger Carl Adolf von Cornelius. In Sybel im Beson- deren vereinten sich sämtliche Eigenschaften, welche die hinter der Einrichtung zweier bedeutender wissenschaftli- „Nordlichter“ den Bayern suspekt machten. Er war Preuße, cher Institutionen, des Historischen Seminars an der liberal und Protestant, er lehnte das katholische Kirchentum Universität München und der Historischen Kommission an offen ab und setzte sich mit Nachdruck für die kleindeut- der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. sche Reichsidee ein. Mit Unterstützung des Königs konnte er während seines Wirkens in München von 1856 bis 1861 Das Historische Seminar an der dennoch einen dominierenden Einfluss auf die Entwicklung Ludwig-Maximilians-Universität der Geschichtswissenschaften nehmen. Ab 1859 gab Sybel die Historische Zeitschrift heraus, die der interessierten Auf Anordnung Maximilians II. wurde am 14. Januar 1857 Öffentlichkeit die kritische Geschichtswissenschaft sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität als eines der ersten historische Fragestellungen und Forschungsansätze näher- in Deutschland das Historische Seminar gegründet. Ziel bringen sollte. Sybel war auch die eigentlich treibende Kraft dieses Seminars war es, die Studenten zu wissenschaftlich

5Staatsministerium des Innern an sämtliche Kreisregierungen „den Unterricht in der bayerischen Geschichte betr.,“ 13.1.1851, zit. nach: Hedwig Dickerhof-Fröhlich: Das historische Studium an der Universität München im 19. Jahrhundert. Vom Bildungsfach zum Berufsstudium, München 1979, S. 93. 6Zit. nach: Winfried Schulze: 150 Jahre deutsche Geschichtswissenschaft in München, in: Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität, hg. v. Katharina Weigand, München 2010, S. 31–53, hier S. 32.

12 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) fundierten, objektiven und methodisch-kritischen For- schungen anzuleiten und gleichzeitig die Lehramtskandi- daten auf ihre künftige Aufgabe vorzubereiten. Wiewohl bereits von Wilhelm von Doenniges mit Nachdruck vertre- ten, ging die Gründung im Wesentlichen auf Heinrich von Sybel zurück, der schon an seiner vorherigen Wirkungs- stätte in Bonn diese Unterrichtsform praktiziert hatte. Nachdem er seinen Kollegen Carl Adolf von Cornelius er- folgreich von der Mitleitung verdrängt hatte, fungierte Sy- bel bis zu seinem Weggang aus München 1861 als alleiniger Direktor des Seminars. Dies relativierte die ursprüngliche Absicht des Königs, mit dem katholischen Cornelius gewis- sermaßen ein Gegengewicht zu Sybel an der Universität zu installieren und dadurch die vor allem von der ultramontan gesinnten Presse geschürten Befürchtungen wegen eines protestantischen Übergewichts im Fach Geschichte zu be- schwichtigen. Da Sybel sich zudem noch das alleinige Prüfungsrecht reserviert hatte, wurde erwartungsgemäß Unmut darüber laut, dass die Berufsausbildung der bayeri- schen Geschichtslehrer mehr oder weniger ausschließlich in den Händen eines protestantischen und noch dazu preußi- schen Historikers lag. Ungeachtet aller Vorbehalte gegen Sybel, die sich später übrigens in gleicher Weise gegen sei- nen Nachfolger Wilhelm von Giesebrecht richteten, war das Historische Seminar überaus erfolgreich. Von zahlreichen Studenten aus dem In- und Ausland besucht, trug es wesentlich dazu bei, die kritische Geschichtswissenschaft in München zu etablieren.

Die wissenschaftlichen Kommissionen an der Bayerischen Akademie der Wissen- Wilhelm von Doenniges (1814–1872); Fotografie von Franz schaften Hanfstaengl, 1860 Abbildung: ullstein bild

Die Historische Kommission Organisiert war die Kommission als übergreifende gesamt- Am 20. August 1858 wurde bei der Bayerischen Akademie deutsche Forschungseinrichtung. Zu den vorerst 18 ordent- der Wissenschaften die „Commission für deutsche Ge- lichen Mitgliedern gehörten neben Leopold von Ranke, schichts- und Quellenforschung“ gegründet. Ihre Aufgabe Jacob Grimm, Wilhelm von Giesebrecht, Johann Gustav bestand darin, „sich vornehmlich mit der Auffindung und Droysen oder Georg Heinrich Pertz auch einige in Mün- Herausgabe werthvollen Quellenmaterials für die deutsche chen tätige Gelehrte, nämlich Carl Adolf von Cornelius, Geschichte in deren ganzen Umfange [zu] beschäftigen, Heinrich von Sybel, Karl Spruner von Merz, Heinrich soweit dasselbe nicht in den Bereich bereits bestehender Föhringer, Georg Thomas von Rudhart und Franz Löher. Unternehmungen fällt. Sie wird außerdem wissenschaftli- Erster Präsident wurde Leopold von Ranke, der gemeinsam che Arbeiten, die in diesem Gebiete nothwendig oder er- mit Heinrich von Sybel bei dem König die Gründung ange- sprießlich erscheinen, hervorzurufen suchen, sie wird end- regt hatte. Sybel fungierte bis 1861 als erster geschäftsfüh- lich hervorragende wissenschaftliche Arbeiten dieses render Sekretär der Kommission, gemäß der Satzungen war Gebietes, welche sonst nicht zur Publikation gelangen wür- er damit das einzige Mitglied, das tatsächlich ortsansässig den, veröffentlichen.“7 sein musste; 1886 folgte er Ranke als Präsident nach.

7Statut der Historischen Kommission bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften vom 26. November 1858, § III, zit. nach: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1983, bearb. v. Georg Kalmer, München 1984, S. 48.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 13 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Der Jahresetat der Kommission belief sich auf 15.000 Gulden, zusätzlich gewährte Maximilian II. aus seiner Ka- binettskasse immer wieder finanzielle Zuschüsse; spätestens 1880 war die Kommission mit der Festsetzung einer dauer- haften Dotation fest etabliert. Zu den ersten großen Projek- ten der Kommission – und damit ist ihr Tätigkeitsfeld nur andeutungsweise skizziert – gehörte die Edition der deut- schen Reichtagsakten seit dem späten 14. Jahrhundert, der deutschen Städtechroniken des Mittelalters, der Jahrbücher des Deutschen Reichs sowie eine Sammlung historischer Volkslieder. 1860 wurde auf den Antrag von Carl Adolph von Cornelius zudem beschlossen, die „Politischen Korres- pondenzen der Fürsten aus dem Hause Wittelsbach“ aus dem 16. und 17. Jahrhundert herauszugeben. Das Aufga- bengebiet erweiterte sich stetig. Mittlerweile hat sich die Historische Kommission längst zu einer hochangesehenen Forschungsinstitution entwickelt und ist aus der deutschen Wissenschaftslandschaft nicht mehr wegzudenken.

Die Naturwissenschaftlich-Technische Kommission

Eine wesentlich kürzere Dauer war der Naturwissenschaft- lich-Technischen Kommission beschieden. Auf Anregung Max von Pettenkofers und mit königlicher Verfügung am 15. März 1852 ins Leben gerufen, hatte sie die Aufgabe, „die neuesten Erfindungen und Entdeckungen auf die verschie- denen Zweige der Technik zu beziehen und für sie mög- lichst nutzbar zu machen“.8 Wie generell in den Natur- wissenschaften waren also der Praxisbezug und die An- wendbarkeit der Forschungsergebnisse entscheidend, wenn auch die Akademie, genauer gesagt die mathematisch-phy- sikalische Klasse, dagegen den Einwand erhob, ihre Auf- gabe könne nur eine reine, an keinen konkreten Zweck gebundene Grundlagenforschung sein. Die Kommission setzte sich aus Vertretern ver- schiedenster Fachgebiete zusammen, zu ihren Mitgliedern gehörten bekannte Mineralogen, Astronomen, Chemiker, Physiker, Geologen, Mathematiker und Mediziner wie Jo- hann Nepomuk von Fuchs, Franz von Kobell, Johann von Lamont, Emil von Schafhäutl, Justus von Liebig, Ludwig Ansicht des Maximilianeums und der Maximiliansbrücke in Mün- Buchner oder Philipp Ludwig von Seidel. Dank der Unter- chen vom gegenüberliegenden Ufer der , Postkarte/Lithogra- stützung durch den König, der aus seinem Privatvermögen fie, 1903 Abbildung: Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg mehrmals Zuschüsse gewährte, konnten bereits nach weni- gen Jahren erste Fortschritte verzeichnet werden. Das Spek- trum erstreckte sich dabei von Fragen der Gesundheits- Tätigkeit der Kommission stark an die Person und vor allem vorsorge und Ernährungslehre über den menschlichen und an das Geld des Monarchen gebunden war, erwies sich indes tierischen Stoffwechsel bis hin zur Wiederbelebung alter bald als nachteilig. Ludwig II. stellte mangels Interesse die künstlerischer Techniken und deren Überführung in den staatliche und persönliche Finanzierung ein. Damit kamen industriellen Herstellungsprozess. Der Umstand, dass die die Arbeiten zum Erliegen.

8Zit. nach: Sylvia Krauss: „Wissenschaftlicher Charakter, praktische Tendenz.“ Die Gründung der naturwissenschaftlich-technischen Kommission, in: „Dem Geist alle Tore öffnen“ (wie Anm. 4), S. 32–43, hier S. 33.

14 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Begabtenförderung, Elitenbildung und versitäten und der Akademie der Wissenschaften eine inten- geistiges Leben in München sive, modernen Standards entsprechende Lehr- und For- schungstätigkeit anzustoßen. Was die Ausbildung der künf- Eine „Pflanzschule“ für Staatsdiener – die Studien- tigen Beamten in Justiz und Verwaltung anging, wollte der stiftung Maximilianeum König allerdings nicht ausschließlich auf die regulären Studiengänge setzen, sondern durch eine frühzeitige För- Wie gezeigt, bemühte Maximilian II. sich mit Nachdruck derung hochbegabter Abiturienten die Elite des Landes für darum, durch die Schaffung geeigneter institutioneller, per- den höheren Staatsdienst heranziehen. Die 1852 zu diesem soneller und finanzieller Rahmenbedingungen, an den Uni- Zweck eingerichtete Studienstiftung Maximilianeum ge-

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 15 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864)

Der bayerische Maximilians- orden für Wissenschaft und Kunst Abbildung: Bayerisches Armeemuseum, Ingolstadt

währte Ausnahmetalenten aus allen Bevölkerungsschichten Der bayerische Maximiliansorden für unabhängig von ihrer Konfession oder ihrem sozialen Stand Wissenschaft und Kunst freie Kost und Logis sowie zusätzlichen Unterricht und damit die Möglichkeit, sich ungehindert von materiellen Am 28.11.1853 wurde der bayerische Maximiliansorden für Erwägungen auf ihre spätere Tätigkeit im Staatsdienst vor- Wissenschaft und Kunst, der sich eng an den preußischen zubereiten. Vorgesehen war die Aufnahme von 25 bis maxi- Orden Pour le mérite anlehnte, erstmals an eine Reihe von mal 50 Stipendiaten. Als Stiftungskapital stellte Maximili- Künstlern und Wissenschaftlern vergeben. Dahinter stand an II. aus seinem Privatvermögen testamentarisch 800.000 der Wunsch, außergewöhnliche Verdienste in besonderer Gulden bereit, die Vermögensverwaltung oblag der Lud- Weise zu würdigen und dadurch ein sichtbares Zeichen zu wig-Maximilians-Universität. Zusätzlich ließ der König setzen, welch hohe Wertschätzung Literaten, Wissenschaft- nach den Plänen des Architekten Friedrich Bürklein am ler und Künstler in Bayern genossen. Die Verleihung dieses rechten Isarufer hoch über der Stadt einen monumentalen, vom König gestifteten Ordens sollte die geistige Elite des ebenfalls Maximilianeum genannten Prachtbau errichten, Landes gleichsam adeln, ihr den Zugang zum Hof, zur kö- welcher der Stiftung überschrieben wurde. Der Grundstein niglichen Tafel und zu hohen Festlichkeiten ermöglichen zu diesem „Nationalbau“, der wie viele andere kulturpoli- und ihr damit, ohne Rücksicht auf Stand, Herkunft, Kon- tische Maßnahmen des Königs auch dem Zweck diente, ein fession oder politische Überzeugung, vergleichbare Privi- bayerisches Nationalgefühl zu befördern und den Namen legien einräumen, wie sie die bayerische Aristokratie von des Stifters im Gedächtnis der Nachwelt zu verankern, Geburt an genoss. Die Verleihung des Ordens beschränkte wurde 1857 gelegt, die Fertigstellung erfolgte aufgrund wie- sich indes nicht auf das bayerische Staatsgebiet. Von den 34 derholter Finanzierungsschwierigkeiten allerdings erst Wissenschaftlern, die den Orden 1853 erhielten, hatten nur 1874 und damit ein Jahrzehnt nach dem Tod Maximilians II. zwölf ihren Wirkungsbereich in Bayern, wobei ein Teil Nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wieder noch nicht einmal aus dem Land stammte. 13 weitere waren aufgebaut und erweitert, ist das Maximilianeum nach wie in Berlin tätig, der Rest verteilte sich auf den gesamtdeut- vor Sitz der gleichnamigen Studienstiftung und inzwischen schen Raum. Unter den zu Lebzeiten Maximilians II. auch des Bayerischen Landtags. Seit 1980 haben dank der Geehrten befanden sich auch mehrere „Nordlichter“, da- „Wittelsbacher Jubiläumsstiftung“ auch hochbegabte Abi- runter Justus von Liebig und dessen Schwiegersohn, der turientinnen die Möglichkeit, in das Förderprogramm auf- Chemiker Moriz Carrière, Wilhelm von Doenniges, Hein- genommen zu werden. rich von Sybel, Paul Heyse, Friedrich Bodenstedt, Emanuel

16 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) von Geibel, Philipp von Jolly und Wilhelm Heinrich Riehl. Gegenreaktionen Angesichts der Tatsache, dass die auswärtigen Gelehrten sich im Allgemeinen keiner großen Beliebtheit in der baye- Wie das Beispiel der Symposien zeigt, war Maximilian II. rischen Bevölkerung erfreuten, war ihre Auszeichnung stets darauf bedacht, etwaige Befürchtungen der baye- durch den König auch als eine demonstrative Geste seiner rischen Bevölkerung zu beschwichtigen und diese durch uneingeschränkten Unterstützung zu verstehen. eine intensive Öffentlichkeitsarbeit vom Nutzen seiner Wissenschaftspolitik und dem Gewinn für das Ansehen Die königlichen Symposien Bayerns in Deutschland und Europa zu überzeugen. Dies war umso notwendiger, als die Resonanz in Maximilian II., der die geistigen Entwicklungen seiner Zeit Bayern, vor allem was die Berufungspolitik und den mit regem Interesse verfolgte, suchte auch privat den Ge- Einfluss der „Nordlichter“ anging, überwiegend nega- dankenaustausch mit Gelehrten, Literaten und Künstlern. tiv war. Was 1852 zunächst als ein vergleichsweise ungezwungener, poetisch-literarisch geprägter Zirkel begann, hatte spätes- Allerdings konnte der König nicht verhindern, dass die tens 1855 die Form regelmäßiger, mitunter sogar mehrmals Gegner seiner Politik ebenfalls das Medium der Presse nutz- pro Woche stattfindender abendlicher Gesprächsrunden ten, um die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beein- angenommen. Die mit einem erheblichen Prestige verbun- flussen. Dass man dabei nicht gerade zimperlich zu Werke dene Ehre, zu einem solchen Symposium geladen zu wer- ging, zeigte sich spätestens im Dezember 1855. Die Rekto- den, wurde zunächst vor allem den vom König nach Bayern ratswahlen an der Ludwig-Maximilians-Universität, bei de- berufenen „Nordlichtern“ zuteil, darunter Heyse, Boden- nen mit Karl Theodor von Siebold und Johann Nepomuk stedt, Geibel, Liebig, Sybel, Doenniges und Jolly. Das von Ringseis je ein Vertreter der ausländischen Gelehrten Spektrum der erörterten Themen erstreckte sich über und der einheimischen, altbayerischen Professorenschaft Wissenschaft, Literatur und Politik bis zu religiösen, sozia- gegeneinander antraten, waren mit der Wahl des ultramon- len und anderen zeitgenössisch relevanten Fragen. Die tan gesinnten und als entschiedener Gegner der „Nordlich- intensive Diskussion mit Angehörigen verschiedener Fach- ter“ bekannten Ringseis zu einem Ausdruck des Wider- richtungen hatte für Maximilian II. nicht nur einen infor- stands gegen die königliche Berufungspolitik geworden. mativen Wert, sondern diente ihm auch zur kritischen Er- Ringseis nutzte seine Antrittsrede, um die empi- örterung seiner wissenschaftspolitischen Pläne. Einer der risch-positivistische Wissenschaftsrichtung, die unter Ma- Teilnehmer, der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl, ximilian II. an der Universität Einzug gehalten hatte, die bezeichnete die abendlichen Gesprächsrunden gar als die „Nordlichter“ als deren Befürworter und damit indirekt die „Hauptwerkstätte“ der „mannigfachen Bildungspläne“ des Regierungspolitik heftig zu attackieren. Die Rede löste eine Königs.9 Wie weit dies zutrifft, sei dahingestellt, jedenfalls öffentliche Grundsatzdebatte zwischen Einheimischen und beschäftigte sich Maximilian II. über die eigentlichen Sit- Berufenen aus. Weit über akademische Kreise hinausge- zungen hinaus noch intensiv mit den dabei angefertigten hend, wurde diese Debatte bis in die Bevölkerung und in das Protokollen. bayerische Königshaus getragen, zog eine heftige Pressefeh- In der bayerischen Öffentlichkeit gaben die Sym- de nach sich und fand selbst auf den Theaterbühnen ihren posien, über deren Inhalt und Ablauf anfänglich kaum Niederschlag. Kurz gesagt, der in Bayern seit langem Einzelheiten nach außen drangen, Anlass zu Spekulationen schwelende „Nordlichterstreit“ erreichte nunmehr seinen darüber, ob die geladenen „Nordlichter“ nicht vielleicht den Höhepunkt. vertraulichen Umgang mit dem Monarchen dazu benutz- Die vehemente Ablehnung der „Nordlichter“ hatte ten, um diesen in politischen Fragen zu beeinflussen. Maxi- mehrere Gründe. Zweifellos barg die Wissenschaftspolitik milian sah sich daher genötigt, die Gesprächszirkel stärker Maximilians II. in ihren Zielen wie in ihrer Umsetzung ein als bisher auch gebürtigen Bayern zu öffnen und in hohes Konfliktpotenzial in sich. Einerseits wollte der König Presseerklärungen den dezidiert unpolitischen und privaten die Eigenständigkeit Bayerns sichern und dessen Führungs- Charakter dieser Zusammenkünfte zu betonen. anspruch unter den deutschen Mittelstaaten untermauern, andererseits suchte er dies über die Angleichung an nord-

9Zit. nach: Manfred Pix: „Aufwertung der geistigen Elite.“ Der Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst und das Symposion, in: „Dem Geist alle Tore öffnen“ (wie Anm. 4), S. 15–31, hier S. 26.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 17 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) deutsche Verhältnisse und in enger Orientierung an Preu- tik an der königlichen Triaspolitik in bewussten Gegensatz ßen zu erreichen. Statt auf innerbayerische Kräfte stützte er zur bayerischen Regierungspolitik begab, verlor er endgül- sich verstärkt auf Gelehrte aus dem deutschen „Ausland“. tig die Gunst und Unterstützung Maximilians. Sybel sah Die einheimischen Kräfte mussten sich nicht nur bei der daraufhin in Bayern keine Zukunft mehr für sich. 1861 folg- Besetzung der Lehrstühle und in Fragen der Besoldung te er einem Ruf an die Universität in Bonn. Andere auslän- übergangen fühlen, sondern sahen sich im Aufeinander- dische Gelehrte kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass ohne prallen zweier grundverschiedener Wissenschaftsrichtun- den Rückhalt durch den König die berufliche Situation in gen – die eine geprägt durch einen katholischen Konser- München nur wenige Anreize bot, welche die privaten vatismus und einer engen Bindung an historische Traditio- Nachteile aufgewogen und ein Bleiben gerechtfertigt hät- nen, die andere erfüllt von einem liberalen Geist, der die ten. Der Jurist Johann Caspar Bluntschli entschied sich menschliche Vernunft und Objektivität zum einzig gültigen bereits 1861, Bayern zu verlassen. Nach dem Tod des Maßstab autonomer Wissenschaft erhob – auch noch dem Königs 1864 kehrten auch Geibel und Bodenstedt der baye- Vorwurf der intellektuellen Rückständigkeit und Fort- rischen Hauptstadt den Rücken. Wieder andere, wie Justus schrittsfeindlichkeit ausgesetzt. Dagegen musste das baye- von Liebig oder Wilhelm Heinrich Riehl, konnten ihre rische Nationalbewusstsein, dessen Stärkung Maximilian II. Stellung behaupten; für sie wurde München über lange sich doch gerade zum Ziel gesetzt hatte, zwangsläufig auf- Jahre hinweg zu einer erfolgreichen Wirkungsstätte. begehren. Zusätzlich angeheizt wurden die Konflikte durch Ausblick die konfessionellen Gegensätze, durch die Sorge, die pro- testantischen „Nordlichter“ hätten es auf eine „Deka- Die Wissenschaftspolitik Maximilians II. wies in vielerlei tholisierung“ Bayerns abgesehen, und nicht zuletzt durch Hinsicht eine zukunftsweisende Richtung auf. Allerdings politische Differenzen, die sich an dem Problem einer groß- blieben Rückschläge nicht aus. Die meisten der vom König deutsch-föderalistischen oder einer kleindeutsch-zentralis- nach München berufenen norddeutschen Wissenschaftler tischen Lösung der Deutschen Frage entzündeten. Die verließen Bayern bereits wieder nach wenigen Jahren; der Kritik an der königlichen Wissenschafts- und Berufungspo- langfristige Effekt, den sich Maximilian von ihrem Wirken litik wandte sich jedoch nicht so sehr gegen deren Initiator erhofft hatte, blieb somit letztlich aus. Maximilian II., als vielmehr gegen deren Hauptakteure; gegen den ehrgeizigen königlichen Berater Wilhelm von Ludwig II., der für die Wissenschaften nur wenig Doenniges etwa, dem man einen unheilvollen Einfluss auf Interesse aufbrachte, vollzog eine komplette Abkehr den Monarchen unterstellte, oder den „preußischen Vor- von der Berufungspolitik seines Vaters und stellte zu- posten in München“ Heinrich von Sybel,10 der seine klein- dem für verschiedene, von diesem unterstützte Insti- deutschen, antikatholischen Überzeugungen offensiv ver- tutionen und Forschungsvorhaben kein Geld mehr zur trat, zu diesem Zweck auch die Geschichtswissenschaft Verfügung. Insgesamt aber läutete die Regierungszeit instrumentalisierte und den Vortragssaal als öffentliches Maximilians II. eine Blütezeit der Wissenschaften ein. Podium nutzte. Mit seinem Stoßgebet „erlöse uns von dem Kritische, auf Experiment und Analyse beruhende For- Sybel. Amen“ sprach der bayerische Pfarrer Anton Freiherr schungsmethoden setzten sich durch, die Grundlagen- von Ow vielen seiner Landsleute aus der Seele. forschung wurde entscheidend vorangetrieben, Mün- Als Konsequenz aus der sich verschärfenden chen stieg zu einem Zentrum historischer Forschung gesellschaftlichen und politischen Situation und dem lang- auf, Bayern festigte seinen Ruf als bedeutender anhaltenden Widerstand von Seiten der Ministerialbüro- Wissenschaftsstandort. kratie und der Bevölkerung sah Maximilian II. sich in den späten 1850er Jahren genötigt, in der Berufungspolitik einen Das Historische Seminar an der Ludwig-Maximilians-Uni- Kurswechsel vorzunehmen und sich von den „Nordlich- versität und die Historische Kommission an der Bayeri- tern“ schrittweise zu distanzieren. Der in Bayern allseits schen Akademie der Wissenschaften behaupten bis heute verhasste Doenniges wurde bereits 1856 aus der Hauptstadt ihren hohen Rang innerhalb der deutschen Forschungs- weg- und in den diplomatischen Dienst versetzt. Auch die landschaft; die Historische Zeitschrift ist ein maßgebliches Anfeindungen gegen Sybel zu ignorieren, fiel dem König Organ der deutschen Geschichtswissenschaft. Die Studien- zunehmend schwer. Als der Historiker sich durch seine Kri- stiftung Maximilianeum hat ihren Stiftungszweck modifi-

10 Dazu Volker Dotterweich: Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817–1861), Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Göttingen 1978, S. 359–374.

18 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Die Wissenschaftspolitik König Maximilians II. von Bayern (1811–1864) ziert, dient aber immer noch der Elitenbildung; seit 1981 Lothar Gall: wird der bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen und Kunst wieder an verdiente Persönlichkeiten verliehen. Akademie der Wissenschaften, in: ders. (Hg.), ... „für deut- Die Förderung der Geschichtswissenschaften, so- sche Geschichts- und Quellenforschung.“ 150 Jahre weit sie der „Hebung des bayerischen Nationalgefühls“ Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie diente,11 ging einher mit anderen kulturpolitischen Maß- der Wissenschaften, München 2008, S. 7–57. nahmen des Königs. Erwähnt seien hier – ohne das kultur- Peter Jakob Kock: und bildungspolitische Programm Maximilians II. damit Das Maximilianeum. Biografie eines Gebäudes, München mehr als andeutungsweise zu streifen – die von Wilhelm 2008. Heinrich Riehl herausgegebene Zeitschrift „Bavaria“, die Hans Körner: sich mit bayerischer Landes- und Volkskunde befasste und Der Bayerische Maximilians-Orden für Wissenschaft und für ihre Zeit neue Maßstäbe setzte, die Pflege landeseigener Kunst und seine Mitglieder, in: ZBLG 47 (1984), S. 299– Bräuche und Traditionen und die Gründung des 398. Bayerischen Nationalmuseums 1855. Auf diesem Gebiet Hans-Michael Körner: wird man dem König beachtlichen Erfolg bescheinigen dür- Staat und Geschichte im Königreich Bayern (1806–1918), fen. Soweit seine Wissenschaftspolitik aber darauf abzielte, München 1992. die bayerische Eigenstaatlichkeit zu bewahren, blieb ihr die- Hans-Michael Körner: ser Erfolg versagt. Wie Hans-Michael Körner konstatiert, Kulturpolitik im Königreich Bayern: von der Revolution trugen die an der Universität und der Bayerischen Aka- 1848 bis zum Ende der Monarchie, in: Kulturstaat Bayern. demie der Wissenschaften angesiedelten geschichtspoliti- 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. d. Bayerischen Landeszen- schen Maßnahmen nicht dazu bei, die bayerische Eigen- trale für politische Bildungsarbeit, München 1997, staatlichkeit zu bewahren, sie „erleichterten allenfalls das S. 31–43. Hineinwachsen Bayerns ins Kaiserreich von 1871.“12 Ulrike Leutheusser, Heinrich Nöth (Hg.): „Dem Geist alle Tore öffnen“. König Maximilian II. von Literatur Bayern und die Wissenschaft, München 2009. Rainer A. Müller (Hg.): Rüdiger vom Bruch, Rainer A. Müller: König Maximilian II. von Bayern (1848–1864), Rosenheim Erlebte und gelebte Universität. Die Universität München 1988. im 19. und 20. Jahrhundert, Pfaffenhofen 1986. Winfried Nerdinger (Hg.): Hedwig Dickerhof-Fröhlich: Zwischen Glaspalast und Maximilianeum. Architektur in Das historische Studium an der Universität München im Bayern zur Zeit Maximilians II. (1848–1864), 19. Jahrhundert. Vom Bildungsfach zum Berufsstudium, Ausstellungskataloge des Architekturmuseums der München 1979. Technischen Universität München und des Münchner Volker Dotterweich: Stadtmuseums 10, Eurasburg 1997. Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Achim Sing: Absicht (1817–1861), Schriftenreihe der Historischen Die Wissenschaftspolitik Maximilians II. von Bayern Kommission bei der Bayerischen Akademie der (1848–1864). Nordlichterstreit und gelehrtes Leben in Wissenschaften, Göttingen 1978. München, Ludovico Maximilianea Forschungen 17, Berlin Andreas Elsner: 1996. Neue Perspektiven in Kulturpolitik und Katharina Weigand (Hg.): Wissenschaftsspezialisierung, in: Laetitia Boehm, Johannes Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. Spörl (Hg.): Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt – 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians- Landshut – München 1472–1972, Berlin 1972, S. 271–314. Universität, München 2010.

11 Zit. nach: Manfred Hanisch: Maximilian II. und die Geschichte: bayerisches Nationalgefühl durch Geschichtsbewußtsein, in: Nerdinger (wie Anm. 2), S. 17–27, hier S. 19. 12 Hans-Michael Körner: Staat und Geschichte im Königreich Bayern (1806–1918), München 1992, S. 568.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 19 Pressemitteilung Der Bayerischen Geschichte auf der Spur Eine 14-teilige Sendereihe in BR-alpha

Ab 10. Februar 2011, immer donnerstags um 22.45 Uhr (WH.: freitags um 8.15 Uhr)

Wussten Sie, dass Bayern sogar einmal ans Mittelmeer Sendetermine „Der Bayerischen grenzte? Wie lange regierten die Wittelsbacher? Und wie Geschichte auf der Spur“: kam Bayern eigentlich zu seinem Ehrentitel „Freistaat“? Immer donnerstags um 22.45 Uhr, Ab dem 10. Februar können Sie sich gemeinsam in BR-alpha mit dem Historiker Prof. Dr. Manfred Treml auf Spurensu- che begeben: Prof. Treml erläutert in 14 Folgen Wendemar- 10.Februar: Das „unterirdische“ Bayern ken und prägende Ereignisse, Persönlichkeiten oder Struk- 17. Februar: Das Land wird schwäbisch – fränkisch – turen der Geschichte Bayerns. Aber auch das Alltagsleben bairisch hat seinen Platz in der Sendereihe, etwa die Frage, wann 24. Februar: Von Karl dem Großen zu Heinrich dem Bayern zum Maßkrug kam… Anschaulich, prägnant und Löwen doch analytisch, eignet sich die Sendereihe auch hervorra- 3. März: Die frühen Wittelsbacher gend für den Geschichtsunterricht. 10.März: Franken und Schwaben im Mittelalter Anhand von historischen Bildern werden Schwer- 17. März: Metropolen an der Schwelle zur Neuzeit punkte in der Geschichte Bayerns erläutert: die Entstehung 24. März: Neue Welt und rechter Glaube der Stammesgebiete und ihre Entwicklung im Mittelalter, 31.März: Absolute Fürstenherrschaft die bedeutendsten Städte verschiedener Epochen, die Herr- 7. April: Montgelas und die „Revolution von oben“ scher, aber auch das Leben der kleinen Leute. In weiteren 14.April: Das Königreich Folgen geht es um die Abstammung der Baiern, die Herr- 21. April: Vom roten Freistaat zur braunen schaft der Merowinger in dem Gebiet Frankens, um Otto Reichsprovinz von Wittelsbach, Heinrich den Löwen, um die Abhängig- 28. April: Die braune Diktatur keit des Königs von Unternehmerpersönlichkeiten im 16. 5. Mai: Ein Freistaat aus dem Trümmerfeld Jahrhundert, die Katastrophen des Dreißigjährigen Krieges 12. Mai: Zwischen Tradition und Moderne oder die Zeit der Weimarer Republik, die nationalsozialisti- sche Herrschaft und den Wiederaufbau des Freistaates Bayern nach 1945. Weitere Informationen: www.br-alpha.de

20 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Rezension

Rezension: Sie „ […]verfügen über Grundwissen zu feldspezifi- schen, psychologischen Phänomenen wie Opferidentifi- kation, Täter- und Gewaltfaszination sowie Abwehr von Verantwortungsübernahme“. ------

Sie „ […] verfügen über psychologische Grundkennt- nisse in den Bereichen: •Emotionen/Affekte und Emotionsregulierung •Übertragungsphänomene •Gedächtnis und Narration •Adoleszenz/Pubertät“ ------

Sie „[…] kennen das Überwältigungs- und Manipulati- onspotenzial von Sprache und gehen daher bewusst und sensibel mit Sprache um“ ------

Sie „[…] reflektieren die spezifischen psychologischen Belastungen ihrer Arbeit. Sie kennen Überlastungssym- ptome und nehmen sie wahr. Sie nutzen Hilfs- und Reflexionsangebote (z.B. Kollegiale Beratung und/oder Supervision).“ (S. 26ff)

Um welchen Beruf handelt es sich, der solche Fähigkeiten und Anforderungen voraussetzt? Familienberater? Jugend- Barbara Thimm, Gottfried Kößler, und Kinderpsychologe? Lehrer? Mentaltrainer? Trauma- Susanne Ulrich (Hg.) therapeut? Jugendrichter? Es ist das Berufsbild des Gedenkstättenpädagogen, das mit den oben zitierten Qualitätsmerkmalen beschrieben Verunsichernde Orte. wird, wobei die genannten vier Merkmale nur eine kleine Auswahl aus dem insgesamt 42 Merkmale umfassenden Ka- Selbstverständnis und Weiter- talog darstellen. Dieser Katalog gliedert seine 42 Merkmale in fünf Kategorien, eine eher inhaltliche, welche das Wissen bildung in der Gedenkstätten- um die Geschichte des Nationalsozialismus und des jewei- pädagogik ligen spezifischen Ortes benennt, eine ethische Kategorie, eine politische, eine methodische sowie eine Kategorie, wel- che eine selbstreflexive Dimension beschreibt. Es handelt Frankfurt/M. 2010 sich dabei, so die Autoren, um maximale Zielvorstellungen, (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 26) sie sollen „Orientierung bieten und Diskussionen anregen“, „zur Selbsteinschätzung genutzt werden“ und „die vielfäl- Von Robert Sigel tigen Herausforderungen in diesem Arbeitsfeld würdigen“. (S. 23) Dieses sogenannte „Berufsbild Gedenkstättenpä- dagoge“ ist nur ein Thema des Sammelbandes; Wolf Kaiser formuliert in seinem einleitenden Beitrag die Bedingungen und Zielsetzungen heutiger Gedenkstättenpädagogik, Vere- na Haug geht auf die gesellschaftliche Rolle der Gedenkstät- ten in der Gegenwart ein, weitere Beiträge thematisieren Gegenwartsbezug, Demokratielernen, Möglichkeiten kriti- scher historisch-politischer Bildung als Aufgaben der Ge-

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 21 Rezension denkstättenpädagogik. Soziale Identitäten als Bestim- völlig neuer medialer Formen und Methoden nicht neu dis- mungsfaktoren des pädagogischen Dialogs, Inklusivität so- kutiert, überdacht, formuliert werden? wie die psychologische Architektur der Gedenkstättenpä- Viele dieser Aspekte werden von den Autoren zwar dagogik werden in weiteren kurzen Beiträgen angespro- angesprochen, differierende Ansichten, eine inhaltliche chen. Auseinandersetzung, unterschiedliche Schlussfolgerungen allerdings finden sich nicht –die Projektgruppe scheint sich, Ein Kapitel „Übungen“ im sogenannten Praxisteil ent- von ganz wenigen Punkten abgesehen, stets einig gewesen hält in der Tat konkrete Arbeitsformen, die einzeln oder zu sein. in kleinen Gruppen durchgeführt werden können; Was die eingangs beschriebenen Qualifizierungs- Inhalte solcher Übungen sind etwa „Mein Bild vom merkmale angeht, so steht die Notwendigkeit einer Quali- Nationalsozialismus“, „Schlüsselerlebnisse“, „Gefühle fizierung der in der Gedenkstättenpädagogik Tätigen außer erkunden“, „Selbstverständnis der Gedenkstätte“. Zweifel, auch die genannte Studie der EU-Menschenrechts- Ein in seiner subjektiven Beliebigkeit etwas sonderbares agentur hat darauf deutlich verwiesen. Inwiefern für eine Kapitel ist der „Bildteil“, in dem elf der zwölf Mitglieder solche Qualifizierung die Ergebnisse des Modellprojekts, des Projekts „in ihrer Gedenkstätte einen Ort aufge- wie sie im vorliegenden Sammelband präsentiert werden, sucht und fotografiert [haben], der ihnen in ihrer Ar- wirklich von Nutzen sind, ist jedoch ungewiss. beit besonders wichtig geworden ist. Auf diese Weise ist eine Montage reflektierter Bilder entstanden […]“ Der Frage nach dem Nutzen hat die Frage vorauszu- (S. 16). Um eine Montage reflektierter Bilder handelt es gehen, für wen dieses Buch gedacht ist. Wer sind jene sich hierbei gleichwohl nicht, eher um eine Reihung Gedenkstättenpädagogen und -pädagoginnen, an die wenig definierter Impressionen, die wie in einem Poesie- sich die Autoren wenden? Ist es die relativ kleine Zahl album das Ganze ein wenig thematisch bebildern. der Festangestellten in den pädagogischen Abteilungen oder ist es die große Zahl der freien Mitarbeiter(innen), Die Texte, Übungen, Bilder sind Ergebnis eines Bundesmo- der Honorarkräfte, die neben einem Beruf bzw. neben dellprojekts, das von 2007 bis 2010 unter dem Titel „Ge- Ausbildung oder Studium –oft nur vorübergehend – denkstättenpädagogik und Gegenwartsbezug –Selbstver- Gruppen betreuen, Rundgänge durchführen, Seminare ständigung und Konzeptentwicklung“ Pädagogen und (an)leiten? „Verunsichernde Orte“ –der gleichnamige Pädagoginnen aus zwölf Gedenkstätten aus Deutschland, Flyer wendet sich ausdrücklich an „(feste und freie) Österreich und Polen in einer Projektgruppe vereinte. Mitarbeitende, Lehrer/innen und andere Engagierte“. Die Notwendigkeit einer bilanzierenden Selbstver- Der für alle gleichermaßen verwendete Terminus ständigung steht außer Frage: zwar ist die Gedenkstättenpä- „MpA –Mitarbeiter(in) mit pädagogischem Auftrag“ – dagogik gesellschaftlich in einem Maße anerkannt wie nie vermag jedoch nicht hinwegzutäuschen über die Kluft, zuvor, gleichzeitig aber deutet sich eine Entwicklung an, die welche die festen Gedenkstättenpädagogen(-innen) von viele Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten in Frage den freien Mitarbeitenden trennt. stellen könnte: • Gedenkstättenpädagogik, Holocaust Education So sind Forderungen wie die folgende nicht wirklich überhaupt, ohne Überlebende – wie wird sie sich verändern, Forderungen, die sich an diese freien Honorarkräfte richten wie muss sie sich verändern, welchen Desideraten kann wie können: begegnet bzw. entsprochen werden? Welche Rolle werden „Es geht zum einen darum, den Konstruktionscharakter Emotion und Pathos in Zukunft haben? jeder ‚Erzählung‘, jeder Repräsentation wie Dokumenta- • Der 23. August als der Gedenktag für Opfer tota- tion der nationalsozialistischen Vergangenheit nachvoll- litärer und autoritärer Regime –welche Folgen hat dieses ziehbar zu machen. Den in sie eingegangenen Perspektiven gemeinsame Gedenken für die Gedenkstätten und ihre Päd- und Deutungskriterien ist nachzuspüren, sie sind zu hinter- agogik? fragen und der Kritik zugänglich zu machen. Zum anderen • Menschenrechtserziehung an Gedenkstätten ist sind vor diesem Hintergrund auch die Fragen und Probleme eine nicht nur von der EU-Menschenrechtsagentur erho- familialer bzw. informeller Überlieferungen in den Bil- bene und in einer großen Studie untersuchte Forderung – dungsprozess einzubeziehen, Erzählen, Zuhören und soll es sie geben, kann es sie geben? Befragen privater Narrative sowie gemeinsames Nach- • Muss das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher denken über deren teilweise paradoxes Verhältnis zu wis- Konsenses 25 Jahre nach seiner Formulierung angesichts senschaftlichem und gesellschaftlich akzeptiertem Wissen

22 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Rezension münden hier idealer Weise in eine Auseinandersetzung über tige Gedenkstättenpädagogik stellen und vergleicht man angemessene Inhalte und Formen der gesellschaftlich-kul- damit die konkrete Praxis, so ergibt sich ein Widerspruch; turellen Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine die zahlreichen Ansprüche wirken irreal angesichts der rea- Massenverbrechen. Nicht zuletzt geht es dabei um die Be- len Bedingungen. Imke Scheurich weist in ihrem Beitrag auf teiligung an historischer Sinnbildung.“ (S. 39/ 40) diese reale Situation hin, wenn sie davon spricht, dass bei Während für die Gruppe der professionalisierten Gedenkstättenbesuchen in aller Regel Führungen und Se- festen Gedenkstättenpädagogen solche Reflexionen und minare von nur wenigen Stunden Dauer überwiegen, dass Anforderungen durchaus als Meßlatte zu gelten haben, häufig Vorwissen und Kontextwissen fehlen, dass insgesamt können sie den Arbeitsbedingungen der freien Mitarbeiten- die Rahmenbedingungen kontraproduktiv seien. (S.42) den nicht gerecht werden. Auch die erwähnten 42 Quali- Dieser Widerspruch verweist auf ein zentrales tätsmerkmale können nicht wirklich zum Maßstab von Eig- Problem der Studie: Die Projektgruppe versäumte es letzt- nung oder Nicht-Eignung freier Mitarbeitender gemacht lich, die Gedenkstättenpädagogik als Teil eines größeren werden, so wünschenswert sie prinzipiell sein mögen. Vermittlungszusammenhanges zu sehen. Für den überwie- Wie etwa soll eine Honorarkraft, die eine Schul- genden Teil vor allem der jugendlichen Besucher ist der klasse durch eine KZ-Gedenkstätte führt und begleitet, fol- Gedenkstättenbesuch, sind Rundgang und Seminare nur ein gende Maxime beachten: Modul eines umfangreicheren Programms, in welchem Na- „MpA sind sich bewusst, dass Gruppen bzw. ein- tionalsozialismus, Entrechtung, Entwürdigung, Verfol- zelne Teilnehmer(innen) nicht immer völlig freiwillig kom- gung, Genozid, juristische Aufarbeitung insgesamt vermit- men (z.B. im Rahmen von Schulveranstaltungen). Sie nut- telt werden. In diesen Zusammenhang muss sich die Ge- zen ihren Spielraum, um Freiwilligkeit zu ermöglichen.“ denkstättenpädagogik hineinbegeben, muss versuchen, hier (S. 29) Besonderen Nachdruck erhält diese Maxime durch ihren Platz zu definieren, versuchen, auf die Bedingungen eine zweite, die darauf hinweist, „die Vermittlungstätigkeit einzuwirken, Vorbereitung und Nachbereitung mitzuge- im Kontext politischer Bildung [zu verorten] und zentrale stalten etc. Maximen der politischen Bildung, insbesondere das Primat der Freiwilligkeit [zu beachten].“ (S. 28) Der Versuch hingegen, Demokratielernen, Gegen- Unabhängig vom Sinn und der Berechtigung einer wartsbezug, reflexives Geschichtsbewusstsein, kritische so eingeforderten Freiwilligkeit –wo diese konsequent historisch-politische Bildung neben der Vermittlung durchgesetzt werden soll, muss eine solche Maßnahme als von Kenntnissen zur konkreten Geschichte des Ortes grundsätzlicher pädagogischer Rahmen von der pädagogi- und neben der Vermittlung von Kenntnissen zur schen Abteilung einer Gedenkstätte gesetzt werden, als Geschichte des Umgangs mit dem Ort nach 1945 und Forderung an freie Mitarbeitende ist sie irreal. neben der Erläuterung der Funktionen der Gedenk- Das Dilemma, die Gedenkstättenpädagogik quali- stätte (S. 10) in den drei Stunden eines durchschnittli- fizieren zu wollen und sich dabei an höchst unterschiedli- chen Gedenkstättenbesuches zu verwirklichen, ist zum che Gruppen gleichzeitig zu richten, ohne zu differenzieren, Scheitern verurteilt. hätte vielleicht vermieden werden können, wenn in die Pro- jektgruppe auch Vertreter dieser freien Mitarbeitenden in Die Studie schreitet so zwar den Horizont des gedenkstät- repräsentativer Zahl aufgenommen worden wären. So aber tenpädagogischen Diskurses ab, aber sie verharrt dabei in werden die Forderungen, die sinnvolles und notwendiges ihrer Beschränkung. Schlecht vorbereitete Besucher, unin- Postulat an die festen Mitarbeiter(innen) der pädagogischen teressierte Jugendliche, Schüler, die nur gezwungenermaßen Abteilungen sind, für die große Zahl der freien zum perma- kommen, Gruppen, die nicht die notwendige Zeit mitbrin- nenten Ausweis ihrer Kompetenzdefizite. gen, all solche Verweise auf ungenügende Rahmenbedin- Wenn die Autoren mit ihren Qualifizierungsforde- gungen, ob zutreffend oder nicht, salvieren zwar das gute rungen allerdings das Ziel einer grundsätzlichen und umfas- Gewissen der Gedenkstättenpädagogen, führen aber dazu, senden Professionalisierung des Bereiches Gedenkstätten- dass theoretischer Diskurs und konkrete Praxis immer wei- pädagogik zum Ziel haben, also auch des Bereichs der „frei- ter auseinanderklaffen. en Mitarbeitenden und Engagierten“, dann hätte dies be- Sollten die „verunsichernden Orte“ auch die Mit- nannt und in seinen Möglichkeiten und Folgen diskutiert arbeiter der Projektgruppe verunsichert haben, so ist diese werden sollen. Verunsicherung leider wenig spürbar geworden. Betrachtet man jedoch nun Weite und Umfang der Anforderungen, welche die Autoren an eine moderne, heu-

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 23 Interview „Wir haben dann gespro- chen und die Leute sind schließlich friedlich aus- einandergegangen.“

Ein Gespräch mit Frantisek Cerny, gelernter Dreher, Journalist, Literatur- wissenschaftler, Deutschlehrer und Botschafter der Tschechoslowakei und Tschechiens in der Bundesrepublik.

Interview von Werner Karg und Robert Sigel

Die Bilder zu diesem Interview zeigen Frantisek Cerny beim Gespräch in den Räumen des Prager Literaturhauses. Fotos: Dr. Christa Schikorra

24 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Interview

Frantisek Cerny war bis 2001 Botschafter erst der gar nicht, was das überhaupt sein sollte, jetzt denk ich aber, Tschechoslowakei und dann der Tschechischen Republik dass das meine Arbeit ganz gut charakterisiert. in Deutschland. Cerny, 1931 in Prag geboren, ist nicht Landeszentrale: Wie lange waren Sie in Berlin? nur –oft auch aktiver –Zeitzeuge der verschiedenen Frantisek Cerny: Zunächst müssen Sie wissen: Ich war Entwicklungen in der Tschechoslowakei seit den 50er quasi ein Seiteneinsteiger. Ich war ja nie im diplomatischen Jahren, er personifiziert auch den kulturellen Reichtum Dienst; vor der Wende sowieso nicht, aus politischen Grün- und die geistige Vielfalt, das Neben- und Miteinander den war ich nie im Palais Czernin (Sitz des Außenministe- von Tschechen und Deutschen im böhmischen Kultur- riums in Prag auf dem Hradschin, die Red.), und auch ar- raum. Seit 2004 ist Frantisek Cerny Vorstandsvorsit- chitektonisch gefällt mir das überhaupt nicht, das ist mir zu zender des Prager Literaturhauses deutschsprachiger protzig. Czernin hatte den Ehrgeiz, größer zu werden als Autoren, das Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle und die Burg. Czernin hat immer gesagt, ich bin über der Burg. Europaabgeordneter Bernd Posselt im November 2010 Das war mir unangenehm. Ich hatte nie die Idee gehabt, dass besucht haben; das Literaturhaus –www.prager-lite- ich da mal als Mitarbeiter tätig sein würde. Ich bin dann so raturhaus.com –ist eine von vielen tschechischen Ini- nach der Wende hineingeraten. Ich war ja sehr gut befreun- tiativen, die die deutschen Prägekräfte in Böhmen det mit denen allen, die jetzt Verantwortung trugen, mit diskutieren und bewahren. Dienstbier und Havel. Und die haben mir dann gesagt, ich soll doch etwas fürs Vaterland tun. Das kennt man in Deutschland nicht. In Deutschland gibt es die Diplomaten, Landeszentrale: Herr Cerny, Sie waren Botschafter der die ihre Karriere irgendwie ganz unten anfangen und ganz tschechischen Republik in Berlin. Wodurch war Ihre diplo- langsam, wenn sie fünfzig oder sechzig geworden sind, wer- matische Tätigkeit geprägt –gerade vor dem Horizont der den sie dann Botschafter. Wenn sie dann aber fünfundsech- ambivalenten wechselseitigen Erfahrungen der Tschechen zig sind, dann müssen sie wieder aufhören, aber das wollen und der Deutschen miteinander? die dann überhaupt nicht. Ich habe da doch so meine Er- Frantisek Cerny: Ich will Ihnen das Profil meiner Tätigkeit fahrungen gemacht. Kennen Sie Herrn Roßbach, Dr. Anton an einem Beispiel erläutern. Das muss so im Jahre 2000 ge- Roßbach? Er war Botschafter hier in Prag zu Außenminister wesen sein. Es ging darum, dass wir hier in Tschechien ein Fischers Zeiten. berühmtes Pferderennen haben, genauer in Pardubice, die Der musste aufhören, weil er fünfundsechzig geworden ist, Velká Pardubická, ein sehr traditionelles Pferderennen, nur und in dieser Zeit bin ich, ich war sogar ein paar Monate ein geringer Teil der startenden Pferde erreicht dabei über- älter als er, nach Bonn gekommen. Ich war zuerst in Berlin, haupt das Ziel. Es gibt da einen sehr schwierigen Sprung, dann zwei Jahre in Prag, dann in Bonn, und aus Bonn dann der immer nur einmal im Jahr gesprungen wird, und da der Umzug nach Berlin. In Berlin habe ich 2001 aufgehört. kommen einfach viele Pferde um. Herr Rossbach fragte mich, wie ist das möglich? Du fängst Landeszentrale: Es ging um Tierschutzfragen? Das klingt jetzt noch einmal an! Dann habe ich dem Kinkel geschrie- merkwürdig. ben, weil wir uns noch aus Bonn kannten und ich ein gutes Frantisek Cerny: Naja, um Tierschutz und teilweise auch Verhältnis zu ihm hatte, und habe ihm geschildert, dass die- um die Behandlung der Protestierenden bei den Demon- ser Rossbach jetzt eigentlich erst angefangen hat, sich hier strationen gegen das Pferderennen und bei anderen Gele- in Prag ein bisschen auszukennen, und jetzt muss er weg. genheiten. Das Eingreifen der tschechischen Polizei bei sol- Und der Kinkel hat mir geantwortet, ich kann das alles chen Protesten war teilweise sehr brachial. Also beides nachvollziehen, ich verstehe das ja, aber wenn ich eine Aus- zusammen, Tierschutz und Menschenschutz. nahme mache, wollen alle nicht mit 65 aufhören, die wollen Wir waren also in unserer Botschaft in Berlin damit kon- alle länger bleiben, und das geht nicht. Also ich bin jeden- frontiert, dass Menschen sehr nachdrücklich gegen Vorfälle falls erst 1990 nach der Wende in den diplomatischen Dienst in Tschechien protestiert haben. Mein Stellvertreter fragte: gegangen. Vorher wäre das gar nicht denkbar gewesen, we- „Was machen wir?“ gen meiner politischen Einstellung und auch wegen meiner Ich habe also gesagt: „Gut, zuerst wollen wir mal miteinan- Herkunft. der sprechen, sucht euch zehn Leute aus, kommt rein, dann Landeszentrale: Was ist Ihre Herkunft? bekommt ihr Kaffee.“ Wir haben dann gesprochen und die Frantisek Cerny: Ich bin ein Prager, ich bin in Prag gebo- Leute sind schließlich friedlich auseinandergegangen. Die ren und aufgewachsen, immer in Prag gewesen, meine Her- Polizei ist ohne Einsatz abgezogen. In der Presse, ich glaube kunft ist eine ziemlich bürgerliche, das war nicht gut im es war in der „tageszeitung“, wurde meine Vorgehensweise Jahre 1950. Ich habe deshalb noch nicht einmal studiert. zwar positiv beschrieben, aber gleichzeitig wurde bemerkt, Landeszentrale: Sie durften nicht studieren? der Botschafter sei eine „Labertasche“. Ich wusste damals Frantisek Cerny: Ich durfte zunächst nicht studieren. Mein

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 25 Interview

Frantisek Cerny: Bei den Jugendsendungen des tschecho- slowakischen Rundfunks und dann bei dessen Auslands- sendungen. Die Auslandssendungen des tschechoslowaki- schen Rundfunks sind –nach BBC –die ältesten. Die Auslandssendungen gab es seit den späten zwanziger Jah- ren, haben sich dann weiterentwickelt, nur in der Zeit des Protektorats natürlich nicht, wurden dann aber gleich nach 1945 wieder eingerichtet. Das waren Sendungen in engli- scher, französischer, deutscher und spanischer Sprache. Der Rundfunk spielte in der Tschechoslowakei eine wichti- ge Rolle, auch 1968, im Prager Frühling überhaupt. Man hatte damals als Journalist das Gefühl, dass man jede Woche etwas mehr machen konnte. Tabus zu brechen war unser aller Ehrgeiz. Die Auslandssendungen waren dazu gedacht, der Welt ein positives Bild von unserer schönen sozialistischen Tsche- choslowakei zu präsentieren. Das habe ich ganz gerne ge- macht, weil: wir sind ein schönes Land. Aber wir haben immer mehr auch versucht darzustellen, dass es hier nicht so ganz blöde Leute gibt. Die Sendungen wurden immer aktueller; sie waren ur- sprünglich für das westliche Ausland bestimmt, aber wir wurden immer mehr in der DDR gehört. Die Leute in der DDR sahen, dass hier in einem Bruderland etwas vor sich ging, was bei ihnen nicht möglich war. Wir Tschechen sind halt, das hat –glaube ich –Hitler gesagt, ein heimtückisches Großvater mütterlicherseits war ein sehr hoher Beamter der Volk. Jedenfalls haben wir versucht, alles Mögliche gerade Republik und ein großer Freund und Kommilitone von Ma- in die deutschen Sendungen hineinzubringen, was der saryk (Tomáš Masaryk, 1850–1937, Gründer und erster Obrigkeit in der DDR nicht gefällt. Das hatte einen solchen Staatspräsident der Tschechoslowakei, die Red.), Sie kön- Erfolg, dass schon Ende 1967 in zahlreichen Orten der nen sich denken, was das bedeutet hat. Ich war jedenfalls DDR die Störsender auf Radio Prag umgepolt wurden. Die drei Jahre Arbeiter – ich bin gelernter Dreher. Dann musste Sendungen des Bruderlandes fanden die zu Recht gefährli- ich drei Jahre zum Militär. cher als die des Westens. Ulbricht hat sich damals sehr 1950 bis 1953 habe ich in einer Fabrik gearbeitet und dann, bemüht, ständig einzuwirken auf dieses schreckliche Land Ende 53, habe ich mich an der Hochschule gemeldet und hier, in dem sich die Konterrevolution ausbreitete. Er woll- wurde sogar angenommen –jetzt als bewährter Dreher. te unbedingt auch nach Prag kommen. Er war hier auch bei Aber dann –ich wollte damals Theaterwissenschaften und den Spitzen der sozialistischen Partei bei uns nicht beliebt. Psychologie studieren –hat man mir wieder gesagt, naja, das Und da hat man gesagt, naja, in Prag, wer weiß, aber er geht doch wieder nicht. Sie müssen jetzt etwas Technisches könnte doch nach Karlsbad kommen. Das war wieder so studieren. Das wollte ich nicht. Ich bin dann vormittags in eine tschechische Heimtücke: Es war Sommer, ich glaube die Vorlesung gegangen, danach hatte ich Nachmittags- Juni, und man hat den Besuch folgendermaßen veranstaltet: schicht in der Fabrik. Dann war ich beim Militär als Bau- Wir starten an einem kleinen Flughafen, von dem Flughafen soldat. Nach der Militärzeit bin ich endlich an der Hoch- fährt man dann mit dem Auto in die Kurstadt, es wird be- schule angenommen worden und habe Germanistik stu- kanntgegeben, dass an diesem Vormittag Ulbricht und Dub- diert. cek über die Promenade zu irgendwelchen Verhandlungen Dann habe ich, weil ich schon ziemlich alt war und mich ein schreiten, kurz: wir machen also ein Bad in der Menge. So bisschen um meine Eltern kümmern musste, die schon hat man das den Ulbricht-Leuten gesagt, und die waren ein- Rentner waren und kein Geld hatten, angefangen beim Ra- verstanden. Und in Karlsbad waren auf einmal massenhaft dio zu arbeiten. Zuerst als externer Mitarbeiter und dann als Menschen da, stehen zu beiden Seiten der Straße, vor allem Rundfunkredakteur. Deutsche. Karlsbad war damals ein Treffpunkt der Deut- Landeszentrale: Bei welchen Sendern haben Sie da gear- schen, weil die Ostdeutschen nach Karlsbad durften, die beitet? Westdeutschen sowieso. Die Familien trafen sich dort. Jetzt

26 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Interview

Frantisek Cerny: Nun, ich habe ja Germanistik studiert, und natürlich hatte ich wie jeder oder fast jeder Prager schon Kontakte auch mit deutschsprachigen Verwandten und Be- kannten. Ich erzähle immer sehr gerne die Geschichte von meiner Großmutter, die ist als älteste geboren worden und dann kamen noch zehn weitere Geschwister – das waren alles Männer. Ja, wirklich! Die Familie hieß Zverina – das heißt Wildfleisch. Nomen est omen. Zwei dieser Männer sind im Ersten Weltkrieg gefallen, aber die acht weiteren wa- ren alle irgendwie in der Forstwirtschaft tätig. Der eine war ein hoher tschechischer Staatsbeamter hier am Forstmini- sterium, zwei waren in Österreich, einer war in Galizien tätig und mein Lieblingsonkel Anton war Leibjäger von dem Fürsten Schwarzenberg –in Juboka, es gibt da zwei Li- nien. Diese Onkel und Tanten versammelten sich jedes Jahr zwei Mal bei ihrer ältesten Schwester. Hier in Prag. Dann saßen sie an so einem großen Tisch, der Tisch ist sogar noch in der Wohnung bei meinem Bruder. Da erzählten sie und es wurde unterschiedlich gesprochen, meistens tschechisch, die aus Österreich haben aber deutsch gesprochen und man übersetzte nicht. Das ist mein Ideal, wie es in Europa sein sollte: Seine Sprache sprechen, aber die anderen einigerma- ßen verstehen. Das ist ein Ideal, eine Idee, aber in dieser Fa- milie war sie Wirklichkeit. Jedenfalls: Ich saß dort immer gerne und hörte zu. Mich interessierte, wie gesagt, Onkel Anton, das war jemand, der hat seine Geschichten immer so ging man über die Promenade und von beiden Seiten wurde begonnen: Ich und der Fürst. Und dann hat er seine Erleb- ständig laut skandiert „Dubcek, Dubcek, Dubcek“, an der nisse mit Fürst Schwarzenberg erzählt. Auf diese Weise war Aussprache wurde deutlich, dass vor allem die Deutschen mir die deutsche Sprache nicht so fremd, und ich habe sie riefen. Keiner rief „Ulbricht“. Das war die tschechische dann auch studiert und schließlich bei Eduard Goldstücker Heimtücke, und damit haben wir einen noch größeren mein Studium abgeschlossen Feind gehabt. Landeszentrale: Worum ging es bei Ihrer Abschlussarbeit? Ich habe damals noch die Gelegenheit gehabt, mit Ulbricht Frantisek Cerny: Goldstücker wollte unbedingt, dass ich ein Interview aufzunehmen, das mehrmals gesendet wurde. etwas über die Prager Literatur schreibe. Das war auch seine In diesem Interview haben wir darüber gesprochen, was so Ausrichtung. Aber ich habe ihm gesagt: „Das interessiert in unseren Ländern vorgeht, und er wollte wissen, was die mich weniger, ich würde lieber über Erich Maria Remarque Studenten bei uns für schreckliche Sachen machen. Ich habe schreiben.“ Der Grund: Remarque wird oder wurde im gesagt: „Die Studenten sind überall ein revolutionäres Ele- deutschen Raum eher als trivial betrachtet. Aber damals war ment. Sie sind noch nicht angepasst. Schauen Sie sich doch es der bekannteste, meist gelesene, beliebteste deutsche an –es war ja das Jahr 68 –, was sich in Amerika tut, was sich Schriftsteller überhaupt in den sozialistischen Ländern. In in der BRD tut oder in Paris. Da sind unsere Studenten ei- der Sowjetunion hatte er Millionenauflagen. Bei uns sind gentlich noch sehr zurückhaltend.“ Und dann habe ich ihn alle Bücher von Remarque übersetzt worden. „Im Westen nach den Studenten in der DDR gefragt. Da sagte er diesen nichts Neues“, sein Hauptwerk, das als Zeitungsroman er- klassischen Satz: „Unsere Studenten studieren und singen schienen ist (ab dem 10. November 1928 in der Vossischen schöne Lieder!“ Zeitung, die Red.), ist umgehend, am 29. Januar 1929, auf Das war übrigens auch die Zeit, in der meine Tätigkeit beim Tschechisch in Buchform herausgekommen. Die erste Über- Rundfunk zu Ende ging. Ich erhielt Berufs- und Reisever- setzung von Erich Maria Remarque war diese tschechische bot. Ich hab dann als Deutschlehrer angefangen, bei der Übersetzung. Ich wollte über Remarque schreiben, weil er tschechischen Volkshochschule. Ich war die folgenden 20 eine interessante Persönlichkeit, eine schillernde Gestalt war. Jahre eigentlich Deutschlehrer. Es gibt ein deutsches Buch, das trägt den Titel „Hat Erich Landeszentrale: Woher kommt Ihre Nähe zur deutschen Maria Remarque wirklich gelebt?“ (Salomo Friedlaender: Sprache und Literatur? Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Der Mann. Das

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Werk. Der Genius. 1000 Worte Remarque. Berlin, Leipzig scher Ebene vorgelesen und verhandelt und Novotný hörte 1929, die Red.) kaum zu, aber in dem Moment, als das Wort Ulbricht fiel, Jedenfalls schreibt Remarque so, dass man ihn wirklich war Novotný plötzlich wach und hat gesagt, „naja, wir soll- gerne liest. Aber das ist in deutscher Literatur ja nicht gera- ten das Kafka-Institut vielleicht doch einrichten“. Die erste de das beste Zeugnis. Die Leute wünschen, dass man kom- Folge war, dass an der Philosophischen Fakultät der Karls- plizierter schreibt. Und da hat man ihm doch wirklich vor- Universität Professor Goldstücker beauftragt wurde, eine geworfen, dass er ein bisschen ein Landesverräter war, und Art Kafka-Studiengang anzubieten; auch eine Art Lite- nach 1933 wurde er verbrannt und musste weg. Er hat dann raturhaus war schon geplant, aber dann kam 1968 und es in Amerika gelebt. Er war ein mondäner Mensch, er ist sel- war für 20 Jahre vorbei. Als wir 1990 mit Lenka Reinerova ber Autorennen gefahren und solche Sachen. Also: eine den Plan wieder aufgegriffen haben, waren die Schwierig- schillernde Gestalt, und über den habe ich dann meine keiten anderer Art; jetzt ging es um Finanzfragen. Abschlussarbeit geschrieben, ich hab das gegen Goldstü- Wir wollten ursprünglich in Prag 1 anfangen, weil ja eigent- cker durchgesetzt. Der wollte –wie gesagt –, dass ich mich lich die Prager Literatur eher dort zuhause war. Prag ist ja um die Prager Literatur bemühe. Und ich habe ihm gesagt: geteilt in Prag 1 und Prag 2, und die von Prag 1 haben uns „Das hat doch Zeit.“ alles mögliche versprochen, aber wenn es um Geld ging, war Landeszentrale: Das machen Sie jetzt am Ende Ihres be- es auf einmal zu teuer. Dann habe ich festgestellt, dass es ruflichen Lebens mit dem Prager Literaturhaus. Rivalitäten gibt zwischen Prag 1 und Prag 2, dass die Bür- Frantisek Cerny: Das mache ich jetzt, ja. Goldstücker wäre germeisterin in Prag 2 aus ihrem Prag 2 auch ein kulturelles wahrscheinlich zufrieden. Aber der Literaturhausplan geht Viertel machen möchte. Sie hat zugehört und gesagt „Ja, ja, ja auch auf die 60er Jahre zurück: 1964 gab es hier eine be- das ist wunderbar. Ein Prager Literaturhaus, das wird etwas rühmte Kafka-Konferenz, diese Konferenz war so eine Art sein, womit sich Prag dann auch rühmen kann.“ Es dauerte Durchbruch, seitdem konnte man auch wieder Kafka-Über- nicht mehr lange, und nach einem Monat hat sie angerufen setzungen hier lesen. Das war eine wissenschaftliche Kon- und gesagt: „Wir haben hier so ein leeres Haus zu einer ferenz, bei der man politisch argumentiert hat: Kafka ist wirklich menschenfreundlichen Miete.“ Aber es kann sich zwar ein Ideologe der Entfremdung und dekadent, aber ändern. Kapitalismus kann alles ändern: Kommt jemand an- wenn er so wichtig war für Prag und für die ganze Welt, derer und sagt, was machen sie da? Deutsche Literatur, was dann können wir nicht so tun, als ob es keinen Kafka gäbe; soll das? Sie zahlen so wenig, da könnte man auch Chinesen das wäre gerade so –so hat man später kommentiert –, als ob oder Vietnamesen einmieten und einen Supermarkt einrich- wir das weltberühmte Kurbad Karlsbad krampfhaft ausra- ten, und die bezahlen dann richtig. dieren wollten und sagen: „Karlsbad gibt’s ja gar nicht.“ Landeszentrale: Aber so ist das Leben, und da sind Sie ein Nach dieser Konferenz jedenfalls haben wir den Literatur- bewährter Steuermann. hausplan gefasst, allerdings in Zeiten, die schwierig zu ver- Frantisek Cerny: Eher eine alte Labertasche. stehen sind für Menschen, die die kommunistische Herr- Landeszentrale: Bei all den Aufgaben und Pflichten, die schaft nicht miterlebt haben. Die Partei war hier die einzige Sie haben, kommen Sie da noch zum Lesen? regierende Macht, Anton Novotný war Präsident und KP- Frantisek Cerny: Ich lese viel und ich lese hauptsächlich Chef. (Antonín Novotný, 1904 bis 1975, 1953 bis 1968 Vor- lange in die Nacht hinein. sitzender der kommunistischen Partei der Tschechoslo- Landeszentrale: Auch deutsche Literatur? wakei, 1957 bis 1968 Staatspräsident, die Red.). Er war sehr Frantisek Cerny: Auch deutsche Literatur. Mehr als rich- stolz darauf, dass er in der Zeitschrift „Life“ 1966 als der tige Fachbücher. Erst gestern habe ich ein deutsches Buch schönste Staatsmann der Welt abfotografiert wurde. Und: zu lesen begonnen, die Geschichte von Loki Schmidt. Ein Novotný mochte Ulbricht nicht, überhaupt nicht. Und das populäres Buch. Anhand ihres Lebens schildert sie das ver- hätte beinahe dazu geführt, dass wir schon in den 60er gangene Jahrhundert. Das ist ganz interessant. Jahren eine Art Literaturhaus bekommen hätten. Wir haben Landeszentrale: Schreiben Sie selber? eine Petition beim Politbüro eingereicht und mit vielen Frantisek Cerny: Nein. Worten beschrieben, dass ein Institut, das sich um Kafka Landeszentrale: Haben Sie es auch nicht überlegt? bemüht, die Popularität der tschechoslowakischen soziali- Frantisek Cerny: Ich habe geschrieben, als ich Journalist stischen Republik steigern könne, dass aber die Sache einen war, aber jetzt, nein, ich will nicht. Haken habe, weil: Sie würde sehr das Missfallen des Staats- Landeszentrale: Sie labern lieber. ratsvorsitzenden und Parteichefs Ulbricht hervorrufen. Frantisek Cerny: Ich labere lieber, ja. Unsere Angelegenheit wurde wirklich auf oberster politi-

28 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Neue Publikation der Landeszentrale

Neue Publikation der Landeszentrale

heit entdecken. Gerade in Städten verdichten sich diese Spuren zu einem geschichtlichen Text, in dem sich Jahrhunderte überlagern wie auf einem Palimpsest, das immer neu beschrieben wird. Sie sind häufig nur noch von Experten auffind- oder entzifferbar und bedürfen der „Übersetzung“. Dabei geht es nicht nur um den Reichsadler auf einem Kanaldeckel oder in einem Wappen, wie et- wa im Falle der ehemaligen Reichsstädte Nürnberg oder Kempten, sondern auch um mentale und kulturelle Prägungen, die von Generation zu Generation tradiert werden und Identitäten aus- machen. Das Alte Reich mit seiner komplexen Entwicklung von den nicht exakt fassbaren Anfängen (die manche mit der Konsoli- dierung des ostfränkischen Reichs im 9. Jahrhundert, andere mit der Herrschaft der Ottonen im 10. Jahrhundert ansetzen) bis zur Was vom Alten Reich Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. am 6. August des Jahres 1806, mit seinen Beharrungs- und Reformkräften, mit sei- übrig blieb… nen spezifischen Antagonismen von kaiserlicher Zentralmacht und fürstlich-territorialen Machtansprüchen, seiner Kriegs- und Deutungen, Institutionen und Bilder des früh- Friedensgeschichte, dem Ringen um religiöse und kulturelle Iden- neuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches titäten, war immer ein zentraler Bezugspunkt für unterschiedlich- Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert ste Geschichtsbilder. Der riesige Bildersaal dieses Reiches, das seit der Stauferzeit das Attribut des „Heiligen“ und seit dem 15. Jahr- (A 134) hundert den Zusatz „Deutscher Nation“ führte, dient bis heute als positive wie negative Projektionsfläche. So etwa im 19. Jahrhun- dert für die Idee des deutschen Nationalstaats kleindeutscher Ist heute noch von Bedeutung, „was vom Alten Reiche übrig Lesart, nach der die habsburgische Dominanz im Alten Reich eher blieb“? Soll – abgesehen von Experten oder Geschichtsliebhabern als Fremdherrschaft interpretiert wurde und nach der das preu- – Menschen des 21. Jahrhunderts interessieren, ob ihre Stadt vor ßisch dominierte, sogenannte „zweite Reich“ als eine Art „besse- Jahrhunderten Freie Reichsstadt war oder einem geistlichen Terri- re Wiederbegründung“ seines Vorgängers apostrophiert werden torium angehörte? Wie viele haben überhaupt noch eine Vorstel- konnte. Auch die Nationalsozialisten übertrugen ihre Geschichts- lung dieses 1806 untergegangenen „Heiligen Römischen Reiches semantik auf selektive Teilaspekte der gleichen Bezugsfläche, in- Deutscher Nation“? dem sie sich mit der Formel des „Dritten Reichs“ direkt in die Wissen um Geschichte droht zunehmend zu einer Sache Kontinuität dazu stellten und damit das Alte Reich gleichsam als kleinerer Bildungseliten zu werden. Es erklärt sich zwar auf der Prototypen eines Imperiums sahen, das die vermeintliche Über- einen Seite von selbst, dass die im „global village“ lebenden Men- legenheit des Germanentums bereits verkörpert habe. Für den schen mit Herausforderungen konfrontiert sind, die nicht unbe- demokratisch-föderativen Erinnerungs- und Geschichtshaushalt dingt Muße für geisteswissenschaftliche Studien mit sich bringen, der Bundesrepublik bietet das Alte Reich – allerdings in denkbar und dass viele – bedingt durch eine moderne Arbeitswelt, die be- krassem Gegensatz zu der nationalsozialistischen Deutungsva- dingungslose Flexibilität und Mobilität abverlangt – sich schlicht riante – einige Ansatzpunkte: Der jahrhundertübergreifende Pro- weniger mit ihrer Herkunftsregion und deren Geschichte befas- zess der Reichsreformen ab 1495 etwa, wo mit der Einführung des sen. Gleichzeitig verrät indes eine Flut an medialen Angeboten, zunächst in Frankfurt angesiedelten Reichskammergerichtes, der dass es ein Bedürfnis nach Wissen um das eigene Herkommen gibt Reichskreise und später, ab 1663, dem „Immerwährenden“ und dass Geschichte an sich nach wie vor eine große Faszination Reichstag in Regensburg Gegengewichte zur kaiserlichen Macht- ausübt – dies ist ablesbar an dem großen Spektrum aufwändig ge- fülle geschaffen wurden, ist ein Beispiel für ein reformfähiges bun- stalteter Fernsehformate, in denen zur besten Sendezeit gerne auch desstaatliches Modell, das bis 1806 eine relative Eigenständigkeit auf emotionalisierende Szenen im Stile des „Sandalenfilms“ gesetzt und Diversität seiner Einzelterritorien zugelassen hatte. Der heu- wird, bis hin zur Adventure-Flachware, in der Geschichte auf eine tige Bundesrat, dessen legislative Kompetenz vielfach als typisches karnevaleske „Herr-der-Ringe“-Ästhetik reduziert wird. Blockadeinstrument im politischen Prozess und als unzeitgemäßes Geschichte, und auch die Geschichte des (in Abgrenzung Element der „Kleinstaaterei“ angegriffen wird, garantiert in dieser zu dem 1871 gegründeten deutschen Kaiserreich so titulierten) Tradition gerade nach der nationalsozialistischen Barbarei als „Alten Reiches“, ist präsent. Wer mit offenen Augen durch seine „zweite demokratische Herzkammer“ diese Tradition föderativer Lebenswelt geht, kann die Hinterlassenschaften dieser Vergangen- Gewaltenteilung.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 29 Jugendszenen in Deutschland – zwischen Islam und Islamismus Jugendszenen in Deutsch- land – zwischen Islam und Islamismus

Bericht über ein Expertengespräch der Konrad-Adenauer-Stiftung am 15. Dezember 2010

Von Christoph Huber

PD Dr. Johanna Pink, Dr. Sonja Hegasy, Dr. habil. Christel Gärtner sowie Prof. Dr. Christian Pfeiffer (von links nach rechts) auf dem Podium über „Ursachen und Hintergründe von Radikalisierung“ Bild: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Die Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch politische Extremismen bedarf einer zunehmend differenzierten Perspektive. Dominierte seit Beginn der neunziger Jahre die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus die öffentliche Debatte, so gerät in den letzten Jahren durch steigende Fallzahlen von Gewaltdelikten auch der Linksextremismus wieder stärker in den Blick. Eine neue Herausforderung stellen die von einer Minderheit der Muslime in Deutschland vertre- tenen Positionen des sogenannten islamistischen Extremismus dar. Unter diese Sam- melbezeichnung fallen verschiedene Bewegungen, die unter Berufung auf einen poli- tisch instrumentalisierten Islam die westlich-demokratische Staats- und Gesellschafts- form ablehnen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltete am 15. Dezember 2010 ein Expertengespräch in Berlin, das sich diesem Thema im Hinblick auf Jugendliche annahm.

30 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Jugendszenen in Deutschland – zwischen Islam und Islamismus

Gebet in einer Berliner Moschee Bild: ullstein

Das Bemühen um Differenzierung und Abwägung, das die abhebt. So sei der Koran nach islamistischem Verständ- Tagung bestimmte, wurde schon in der Begrüßung durch nis nicht nur Offenbarung, sondern auch als Verfas- Dr. Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung Politik sungstext zu lesen, die Sunna, nach gemäßigt islami- und Beratung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, deutlich, schem Verständnis als „Brauch“ zu übersetzen, werde der darstellte, dass Ängste in Zusammenhang mit „dem“ als unbedingte „Pflicht“ angesehen, die Scharia werde Islam, die auch auf Unkenntnis basierten, in Europa schon von Islamisten statt als ethische Norm als staatliches seit Jahrhunderten existierten und dass muslimische Ju- Gesetz verstanden und so fort. gendliche auf keinen Fall nur als sicherheitspolitisches Pro- blem Thema der Politik werden dürften. Er warf aber auch Unter Verweis auf die Prozesshaftigkeit jeder Realität pro- die Frage auf, ob und in welchem Ausmaß in bestimmten blematisierte Prof. Dr. Werner Schiffauer jedoch eine zu fixe Jugendszenen eine Distanz zur Demokratie bestehe und Klassifikation nach solchen Kriterien. Er verwies darauf, inwiefern in diesen Szenen Gewalt als legitimes Mittel dass Entwürfe einer Weltgestaltung Teil vieler Religionen akzeptiert werde. Prof. Dr. Werner Schiffauer, Professor für sei und beispielsweise auch die christliche Befreiungstheo- vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Eu- logie Forderungen im Hinblick auf staatliches Handeln arti- ropa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, setzte kuliert habe. Andererseits könne auch eine weltabgewandt dieses Bemühen um Differenzierung auf begrifflichem Ge- mystizistische Religiosität fundamentalistische Züge an- biet fort: nehmen. Er plädierte schließlich für schwächere, flexiblere Grenzziehungen von staatlich institutioneller Seite zwi- Was ist der Unterschied zwischen Islam und Islamis- schen Islam und Islamismus, um Kommunikation mit isla- mus? Er verwies auf eine Studie des nordrhein-westfä- mischen Organisationen nicht zu schnell abzubrechen. Kri- lischen Innenministeriums, die bei der Unterscheidung tisch diskutiert wurden in diesem Zusammenhang seine vor allem auf unterschiedliche Begriffsbestimmungen Ausführungen zu Milli Görüs¸ in einem zweiten Beitrag:

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 31 Jugendszenen in Deutschland – zwischen Islam und Islamismus

Mehmet Sabri Erbakan, Neffe des Milli-Görüs¸-Gründers habe, der nicht mit wirklicher Glaubenspraxis oder und von 1996 bis 2002 Generalsekretär, wurde dabei als auch nur Wissen über die Religion einhergehe. Auch Beispiel für eine offenere Nachwuchselite der Organisation die Islamkundelehrerin und Autorin Lamya Kaddor herangezogen, die durch schulischen Erfolg statt einer argumentierte in ihrem Beitrag in diese Richtung: Für Rückkehrorientierung aufstiegsorientierte Zukunftspläne Jugendliche etwa, die in der Türkei nicht als Türken in Europa entwickelt hätte und so eine Vermittlerrolle über- und in Deutschland nicht als Deutsche angesehen wür- nehmen könnte. Claudia Dantschke vom Zentrum Demo- den, biete die Religion eine Form der identifikatorischen kratische Kultur in Berlin verwies in der Diskussion darauf, Selbstvergewisserung. dass Mehmet Sabri Erbakan schließlich 2002 wieder gestürzt worden sei. Auch Dr. Johanna Pink, Privatdo- Dr. Silke Borgstedt, Direktorin des Bereichs Sozialfor- zentin für Islamwissenschaft an der Freien Universität schung bei Sinus Sociovision, zeigte hierbei in ihrer Studie Berlin, vermied bei ihrer Erkundung von religionsimma- geschlechtsspezifische Unterschiede auf: Von Mädchen nenten Ursachen von Gewalt zugespitzte Antworten. Der werde der Glaube durchaus als Kraft spendender Anker be- Koran sei in einem sich wandelnden historischen Kontext schrieben, mit dem auch eine konkrete Beschäftigung etwa entstanden, der von einer defensiven Position der neuen durch das Lesen religiöser Schriften einhergehe. Für Jungen Religion über eine Phase gewalttätiger Auseinanderset- sei die Identifizierung mit dem Islam oftmals nur ein verba- zungen zum Triumph des Islam geführt habe – dement- ler Akt, mit dem sie sich eines Alleinstellungsmerkmals sprechend zeige sich auch kein einheitliches Bild hinsicht- gegenüber ihrer nichtmigrantischen Umwelt versicherten lich der Frage nach der Gewalt. Im Verhältnis gegenüber und der kaum Auswirkungen auf ihre Lebenspraxis habe. Nichtmuslimen spiele die Unterscheidung zwischen Der Islamwissenschaftler Dr. Götz Nordbruch, „Schriftbesitzern“ – also Juden und Christen – einerseits Mitbegründer des Vereins ufuq.de, der sich dem Studium und „Götzenanbetern“ und Atheisten andererseits eine islamischer Jugendkultur in Deutschland widmet, warnte große Rolle. In der islamischen Welt finde eine breite De- deshalb auch davor, in einem gemäßigten Islam die Lösung batte darüber statt, inwieweit Positionen aus der Frühzeit aller möglichen sozialen Probleme zu sehen. Als negatives des Islam für die Gegenwart eine Rolle spielten – etwa die Beispiel erwähnte er den Vorschlag, dass Imame die Polizei berüchtigte Todesstrafe für Apostasie. Für die breit disku- in Brennpunktbereichen begleiten und als Vermittler auf- tierten Phänomene von Jugendgewalt sah Dr. Pink jeden- treten. Dadurch würden soziale Probleme und Konflikte falls keine religionsimmanenten Legitimationsquellen. erst ‚islamisiert’ und religiöse Instanzen mit einer sugge- Griffiger erschienen die empirischen Befunde der rierten staatlichen Autorität versehen. bekannten Befragung von 45.000 Schülerinnen und Schü- Mehrere Beiträger widmeten sich den konkreten lern mit und ohne Migrationshintergrund, die Prof. Dr. Erscheinungsformen muslimischer Jugendszenen. Prof. Dr. Christian Pfeiffer auf der Tagung persönlich vorstellte. Er Hans-Jürgen von Wensierski, Professor für Erziehungs- fand heraus, dass Gewalterfahrungen bei muslimischen Ju- wissenschaft, Jugendbildung, Erwachsenenbildung und gendlichen eine umso größere Rolle spielten, je religiöser Neue Medien an der Universität Rostock, beschrieb diese sich diese selbst einschätzten. Umgekehrt sei die statistische als Bricolage von westlichen Jugendkulturen mit einerseits Wahrscheinlichkeit für einen Schulbesuch bis hin zum ethnischen und religiösen Traditionen sowie andererseits Abitur bei diesen Jugendlichen am geringsten. Prof. Dr. einer postmodernen kommerziellen islamischen Kulturin- Christian Pfeiffer vermutete die Ursachen allerdings auch dustrie. Neben einer stärkeren Geschlechterdifferenzierung nicht in der Religion des Islam – er verwies darauf, dass die falle im Vergleich mit nichtmuslimischen Jugendlichen auf, Korrelation von Gläubigkeit und familiärer Gewalt bei dass junge Muslime in verschiedenen Szenen fast ganz fehl- evangelikal-freikirchlichen Gruppen noch deutlicher sei. ten, wobei unterschiedliche Gründe eine Rolle spielten: Der Das Problem trete seiner Meinung nach durch konservati- Bruch mit der Erwachsenengeneration sowie die Ver- ve Imame auf, die zu oft eine rückständige Machokultur ver- kehrung der Geschlechterordnung, wie sie für Punks ty- mittelten und den Moscheegemeinden auf diese Weise einen pisch seien, entspreche ebenso wenig der Mentalität junger integrationsfeindlichen Charakter verliehen. Hierüber Muslime wie das Spiel mit christlicher Symbolik der wurde – teilweise hitzig – diskutiert. Gothic-Bewegung. Sehr attraktiv erscheine dagegen die HipHop-Szene, wobei problematische Männlichkeitsbilder Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob die Selbstbe- ebenso eine Rolle spielten wie – darauf wurde in der Dis- zeichnung als religiös gerade bei männlichen Jugendli- kussion hingewiesen – die Tradition des HipHop als Kultur chen wirklich aussagekräftig sei, da der Islam bei diesen einer ethnischen Minderheit. Dr. Silke Borgstedt stellte in oft nur die Funktion eines identitätsstiftenden Labels ihrer schon erwähnten Studie über bildungsferne Jugend-

32 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Jugendszenen in Deutschland – zwischen Islam und Islamismus

Mädchen in Berlin-Neukölln Bild: ullstein

liche auch Gemeinsamkeiten zwischen migrantischen und dernis. Prof. Dr. Christian Pfeiffer verwies auf ein Ergebnis nichtmigrantischen Jugendmilieus fest: etwa die Angst vor seiner Studie: Auf die Frage, wen man sich – wenn keinen der Entfernung von ihrem vertrauten Milieu sowie die Angehörigen der eigenen Nationalität – als Nachbarn wün- Bedeutung von Konsum, Medien und der Beschäftigung sche, antworteten Türken mehrheitlich: einen Deutschen. mit dem eigenen Körper. Deutsche hätten in diesem Fall statistisch am liebsten einen Schweden als Nachbarn und am wenigsten gerne einen Claudia Dantschke ging auch konkret auf islamistische Türken. Umstrittener war das Fallbeispiel von Dr. Christel Szenen ein – insbesondere am Beispiel der salafitischen Gärtner, Soziologin an der Westfälischen Wilhelms-Uni- Bewegung, die vor allem durch den Konvertiten und versität Münster. Es ging dabei um eine junge Türkin, die Prediger Pierre Vogel mediale Aufmerksamkeit bekom- sich im Alter von zwölf Jahren gemeinsam mit einer Freun- men habe. Als Zielgruppe seien vor allem Jugendliche din und auf deren Anregung hin für das Tragen des aus bikulturellen und weltlich-säkular geprägten musli- Kopftuchs entschied. Ihre Familie habe ihr zunächst zum mischen Elternhäusern auszumachen. Der Islamismus Abwarten geraten, für den Fall der Entscheidung dafür aber biete ihnen zum einen eine Lösung für ihre Identitäts- – wie deren Milieu insgesamt – erwartet, dass diese Ent- problematik und zum anderen eine sinnstiftende Form scheidung nicht rückgängig gemacht werde. Die Entschei- von Spiritualität im Rahmen eines Erweckungserleb- dung für das Kopftuch sei durch die Reaktionen ihrer deut- nisses – ein Mechanismus, wie man ihn ähnlich bei den schen Schulkameradinnen („Du bist voll unterdrückt!“) evangelikalen „reborn christs“ in den USA beobachten und später vor allem durch den faktischen Ausschluss aus könne. Für Jugendliche attraktive Vorbilder wie zum der deutschen Arbeitsgesellschaft für sie zur Bürde gewor- Beispiel Rapper würden gezielt für die Rekrutierung den; gerade deshalb wäre ihr aber ein Ablegen des Kopf- herangezogen. tuchs nicht nur als Enttäuschung ihrer Milieuerwartung, sondern auch als Unterwerfung unter nicht nachvollzieh- Der Düsseldorfer Islamwissenschaftler Dr. Michael Kiefer bare Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft erschienen. erwähnte auch Milieus, in denen der Islam mit nationalisti- In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die schen Elementen vermischt werde, und ging in diesem Forderung der Eltern, eine Entscheidung für das Kopftuch Zusammenhang auf türkische Jugendszenen ein, in denen nur unumkehrbar zu treffen, nicht eine autoritäre Setzung Antisemitismus oder aggressive Ablehnung von Kurden darstelle, die als eigentliches Integrationshindernis gesehen eine Rolle spielten. werden könne. Mehrere Referenten problematisierten andererseits auch Ressentiments von Deutschen als ein Integrationshin-

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 33 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse Am Ort eines We lt- gerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Von Henrike Zentgraf

Foto: museen der stadt nürnberg

34 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

„Endlich stehe ich in dem Saal, in dem der Prozeß stattfinden wird. In dem einmal, Jahrhunderte später, irgendein alter, von einer staunenden Touristenschar umgebener Mann gelangweilt herunterleiern wird: ‚Und jetzt befinden Sie sich in dem histori- schen Saal, in dem am 20. November des Jahres 1945 der erste Prozeß gegen Kriegs- verbrecher eröffnet wurde.“1

Der Nürnberger Justizpalast, 1945. Rechts vom Hauptge- bäude abgesetzt ist der Schwurgerichtsbau erkennbar. Foto: museen der stadt nürnberg

So sagte Erich Kästner im Herbst 1945 die Zukunft jenes und Christkindlesmarkt zu den wichtigsten Koordinaten in Raumes vorher, der als Schauplatz der „Nürnberger Pro- der historischen und touristischen Topografie Nürnbergs. zesse“ auserkoren worden war. Die Überprüfung seiner Jahrhunderte vorgreifenden Prophezeiung bleibt uns natur- Die Geschichte gemäß versagt, die Gegenwart indes gibt dem Schriftsteller bereits Recht: Der Schwurgerichtssaal des Nürnberger Jus- Mit dem Begriff der „Nürnberger Prozesse“ wird meist zu- tizgebäudes an der Fürther Straße, infolge der Raumnum- nächst der Prozess vor dem Internationalen Militärgerichts- merierung auch „Saal 600“ genannt, zählt heute als histori- hof (IMT) assoziiert, in dem sich vom 20. November 1945 scher Ort eines weltbedeutenden Ereignisses neben Burg bis 1. Oktober 1946 die führenden Köpfe des NS-Regimes

1Zit. n. Steffen Radlmaier: „Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Starreportern“, Frankfurt a. M. 2001, S. 67.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 35 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Verhandlungen über das „Sta- tut für den Internationalen Militärgerichtshof“ in Lon- don, August 1945 Foto: museen der stadt nürnberg

für ihre Taten verantworten mussten. Die daran anschlie- vorgesehen. Die Unterzeichnung des Londoner Abkom- ßenden Verfahren vor amerikanischen Militärgerichten fan- mens am 8. August 1945 besiegelte dieses Vorhaben. Das den lange Zeit völlig zu Unrecht kaum Würdigung. darin enthaltene „Statut für den Internationalen Militärge- richtshof“ sah eine Anklage wegen „Verbrechen gegen den Der Prozess vor dem IMT war in vielfacher Weise ein Frieden“, „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Novum: Erstmals in der Geschichte mussten sich die Menschlichkeit“ vor, denen nachträglich noch der Anklage- Machthaber eines Staates in einem rechtsstaatlichen punkt „Gemeinsamer Plan oder Verschwörung zur Entfes- Gerichtsverfahren persönlich für ihre und die Politik selung eines Angriffskrieges“ hinzugefügt wurde. ihres Landes verantworten. Ebenso neu war es, dass Das Statut legte fest, dass jeder Signatar je einen sich ein internationaler Gerichtshof zusammenfand, Richter und einen Stellvertreter ernennen sollte, und formu- um über diese Angeklagten zu Gericht zu sitzen. Ganz lierte wichtige Rechtsgrundsätze des Verfahrens: Weder die nebenbei wurde das Verfahren zudem – aus der Not amtliche Stellung eines Angeklagten noch die Tatsache, dass heraus – zur Geburtsstunde des Simultandolmet- er auf Befehl eines Vorgesetzten oder seiner Regierung ge- schens.2 handelt hatte, galten als Strafausschließungs- oder Strafmil- derungsgrund. Eine weitere Neuerung lag in der Anklage Der Weg zum Prozess von Organisationen, die in ihrer Gesamtheit als verbreche- risch erklärt werden konnten. Dazu zählten beispielsweise Bereits 1943 einigten sich die Alliierten auf die Ahndung die SS, die Gestapo und das Führerkorps der NSDAP. deutscher Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Regel sollte den Angeklagten in den Ländern der Pro- Die Wahl des Verhandlungsortes zess gemacht werden, auf deren Territorium sie ihre Verbre- chen begangen hatten. Für diejenigen, bei denen eine ent- Nürnberg trägt bis heute als einstiger Traditionsort sprechende geographische Zuordnung nicht möglich war, der Nationalsozialisten ein schweres Erbe. Hier ver- wurde der Prozess vor einem internationalen Gerichtshof sammelten sich die Nationalsozialisten alljährlich zu

2Die internationale Zusammensetzung des Gerichts hatte eine Sprachenvielfalt zur Folge, die bei Anwendung des damals üblichen Konse- kutiv-Dolmetschens die Länge des Verfahrens ins Unermessliche gesteigert hätte. Eine von IBM entwickelte Anlage machte es jedoch mög- lich, simultan in alle vier Prozesssprachen Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch zu übersetzen, stellte aber die Dolmetscher auch vor bis dahin unbekannte Herausforderungen. Vgl. hierzu: Hartwig Kalverkämper/Larisa Schippel (Hg.): Simultandolmetschen in Erstbe- währung: Der Nürnberger Prozess 1945, Stuttgart 2007.

36 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Die Angeklagten vor dem Internationalen Militärgerichtshof, 1945/46. Foto: museen der stadt nürnberg

den Reichsparteitagen, um „Führerkult“ und „Volks- unter auch Bad Kissingen oder Stätten wie das Deutsche gemeinschaft“ zu inszenieren und die Bevölkerung mit Museum in München.3 In Nürnberg fanden die für die Vor- militärischen und militaristischen Propagandaschauen bereitung des Prozesses Verantwortlichen einen nahezu auf den Krieg einzuschwören. Die 1935 hier verkün- unzerstörten Gebäudekomplex vor, der die zu erwartenden deten „Nürnberger Gesetze“ „legalisierten“ die Ent- großen Mitarbeiterstäbe aufnehmen konnte. Die kurze Ent- würdigung, Ausplünderung und Verfolgung „nicht- fernung zu dem unmittelbar daran angeschlossenen Zellen- arischer“ Bevölkerungsgruppen bis hin zur Vernich- gefängnis ermöglichte kurze Transportwege der Angeklag- tung und verbanden damit den Namen der Stadt dauer- ten – ein wichtiger Sicherheitsfaktor sowohl im Schutz vor haft mit dem größten Verbrechen der Menschheitsge- Flucht- und Befreiungsversuchen als auch vor Vergeltungs- schichte. Nur zu leicht fällt es da, die Wahl des Prozess- anschlägen. Die vergleichsweise zentrale Lage der Stadt trug ortes in einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang ihr Übriges zur Wahl bei. Dennoch zeigen Briefe, Berichte zu stellen. Dennoch waren es zunächst v.a. logistische und Zeitzeugenaussagen von damals, dass den Beteiligten Gründe, die für die Wahl Nürnbergs sprachen. der Symbolcharakter dieses Ortes durchaus bewusst war, auch wenn entsprechende Aussagen dazu in den offiziellen Sowohl die USA als auch die Sowjetunion drängten auf Dokumenten fehlen. einen Prozessort in der eigenen Besatzungszone. Nachdem ursprünglich mehr als ein Prozess vor dem neu geschaffe- Der Prozessverlauf vor dem IMT nen Gerichtshof geplant war, einigten sich die Alliierten schließlich auf Berlin als ständigen Sitz des IMT unter dem Nach der offiziellen Prozesseröffnung am 18. Oktober 1945 Vorsitz des sowjetischen Richters Iona T. Nikitschenko; das in Berlin begann die Nürnberger Hauptverhandlung am 20. erste Verfahren hingegen sollte in der amerikanischen Be- November 1945 mit der Verlesung der Anklageschrift. Jede satzungszone abgehalten werden. Auf der Suche nach einem der vier durch eigene Anklageabteilungen vor Gericht ver- geeigneten Ort kamen verschiedene Städte in Betracht, dar- tretenen Mächte verfolgte eigene Schwerpunkte bei der Prä-

3Vgl. hierzu die Aussagen des für den Umbau des Gerichtsorts zuständigen amerikanischen Architekten Dan Kiley in B. Stave/M. Palmer (Hg.): Witnesses to Nuremberg, New York 1998, S. 15–36.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 37 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Die Angeklagten des Hauptkriegsverbrecher- Angeklagt nach den Punkten prozesses (20.11.1945–1.10.1946): 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 2 (Verbrechen gegen den Frieden), Hermann Göring (1893–1946) 3 (Kriegsverbrechen), Berufssoldat, Politiker 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Hitlers designierter Nachfolger, Oberbefehlshaber der Verurteilt nach 2, 3, 4 zumTod durch den Strang. Luftwaffe und der zweite Mann im NS-Staat 1945 verhaftet (1900–1946) 15.10.1946 Selbstmord mit Gift. Rechtsanwalt, Dr. Befehlshaber im besetzten Polen (Generalgouvernement) Angeklagt nach den Punkten 1945 verhaftet 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 16.10.1946 Hinrichtung. 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 3 (Kriegsverbrechen), Angeklagt nach den Punkten 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Verurteilt nach 1, 2, 3, 4 zumTod durch den Strang. 3 (Kriegsverbrechen), 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Konstantin von Neurath (1873–1956) Verurteilt nach 3, 4 zumTod durch den Strang. Diplomat 1932–1938 Reichsaußenminister Franz von Papen (1879–1969) 1945 verhaftet Zentrumspolitiker, Reichskanzler 1932 1954 vorzeitige Haftentlassung. Vizekanzler Hitlers 1933–34 1947 Verurteilung zu acht Jahren Arbeitslager durch eine Angeklagt nach den Punkten Spruchkammer 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 1949 vorzeitige Haftentlassung. 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 3 (Kriegsverbrechen), Angeklagt nach den Punkten 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Verurteilt nach 1, 2, 3, 4 zu 15 Jahren Haft. 2 (Verbrechen gegen den Frieden). Freispruch. (1893–1946) Spirituosenhändler Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) 1938–1945 Reichsaußenminister Rechtsanwalt, Reichskommissar für die besetzten 1945 verhaftet Niederlande 16.10.1946 Hinrichtung. 1945 verhaftet 16.10.1946 Hinrichtung. Angeklagt nach den Punkten 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Angeklagt nach den Punkten 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung) 3 (Kriegsverbrechen), 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 3 (Kriegsverbrechen), Verurteilt nach 1, 2, 3, 4 zumTod durch den Strang. 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Verurteilt nach 2, 3, 4 zumTod durch den Strang. (1877–1946) Jurist und Verwaltungsbeamter, Dr. Reichsinnenminister Martin Bormann (1900–1945) Reichsprotektor Böhmen und Mähren Landwirt 1945 verhaftet Leiter der Parteikanzlei der NSDAP 16.10.1946 Hinrichtung. „Sekretär des Führers“ Mai 1945 verschollen 1972 Feststellung desTodes im Jahr 1945.

38 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Angeklagt nach den Punkten 1945 verhaftet 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 1947 Verurteilung zu neun Jahren Arbeitslager von einer 3 (Kriegsverbrechen), Spruchkammer und Berufsverbot 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 1950 vorzeitige Haftentlassung. Verurteilt in Abwesenheit nach 3 und 4 zumTod durch den Strang. Angeklagt nach den Punkten 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 3 (Kriegsverbrechen), (1893–1946) 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Architekt Freispruch. NS-Ideologe Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (1885–1946) 1945 verhaftet Volksschullehrer, Gauleiter von Franken, Herausgeber des 16.10.1946 Hinrichtung. antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ 1945 verhaftet Angeklagt nach den Punkten 16.10.1946 Hinrichtung. 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 2 (Verbrechen gegen den Frieden), Angeklagt nach den Punkten 3 (Kriegsverbrechen), 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Verurteilt nach 1, 2, 3, 4 zumTod durch den Strang. Verurteilt nach 4 zumTod durch den Strang.

Wilhelm Keitel (1882–1946) Rudolf Heß (1894–1987) Berufssoldat, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht „Stellvertreter des Führers“ 1945 verhaftet 1941 interniert 16.10.1946 Hinrichtung. 17.8.1987 Selbstmord im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau. Angeklagt nach den Punkten 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Angeklagt nach den Punkten 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 3 (Kriegsverbrechen), 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 3 (Kriegsverbrechen), Verurteilt nach 1, 2, 3, 4 zumTod durch den Strang. 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Verurteilt nach 1, 2 zu lebenslanger Haft. (1890–1946) Berufssoldat Baldur von Schirach (1907–1974) Chef des Wehrmachtsführungsstabs „Jugendführer des Deutschen Reiches“ 1945 verhaftet Gauleiter von Wien 16.10.1946 Hinrichtung 1945 verhaftet 1966 Haftentlassung. Angeklagt nach den Punkten 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Angeklagt nach den Punkten 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 3 (Kriegsverbrechen), 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Verurteilt nach 4 zu 20 Jahren Haft. Verurteilt nach 1, 2, 3, 4 zumTod durch den Strang.

Hans Fritzsche (1900–1953) Journalist, Chefkommentator des deutschen Rundfunks, in Führungsposition im Reichsministerium für Aufklärung und Propaganda

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 39 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Karl Dönitz (1891–1980) 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Berufssoldat Verurteilt nach 3, 4 zu 20 Jahren Haft. Befehlshaber der deutschen U-Boot-Flotte Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine (seit 1943) (1877–1970) 1945 verhaftet Bankier, Dr. Reichsbankpräsident Angeklagt nach den Punkten Reichswirtschaftsminister 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 1944 KZ-Haft 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1947 Verurteilung zu acht Jahren Arbeitslager von einer 3 (Kriegsverbrechen). Spruchkammer Verurteilt nach 2, 3 zu 10 Jahren Haft. 1948 Freispruch, später Wirtschafts- und Finanzberater

Erich Raeder (1876–1960) Angeklagt nach den Punkten Berufssoldat 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Großadmiral 2 (Verbrechen gegen den Frieden). Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine (bis 1943) Freispruch. 1945 verhaftet 1955 vorzeitige Haftentlassung. (1894–1946) Arbeiter Angeklagt nach den Punkten Gauleiter vonThüringen 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 1942 Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1945 verhaftet 3 (Kriegsverbrechen). 16.10.1946 Hinrichtung. Verurteilt nach 1, 2, 3 zu lebenslanger Haft. Angeklagt nach den Punkten (1903–1946) 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Rechtsanwalt, Dr. 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1943 Chef des Reichssicherheitshauptamts und 3 (Kriegsverbrechen), Chef der Sicherheitspolizei und des SD 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 1945 verhaftet Verurteilt nach 3, 4 zumTod durch den Strang. 16.10.1946 Hinrichtung. Walther Funk (1890–1960) Angeklagt nach den Punkten Wirtschaftsjournalist 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Wirtschaftsberater Hitlers 3 (Kriegsverbrechen), Reichswirtschaftsminister 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 1945 verhaftet Verurteilt nach 3, 4 zumTod durch den Strang. 1957 vorzeitige Haftentlassung.

Albert Speer (1905–1981) Angeklagt nach den Punkten Architekt, Professor 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 1937 Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt 2 (Verbrechen gegen den Frieden), 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition 3 (Kriegsverbrechen), 1943 Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 1945 verhaftet Verurteilt nach 2, 3, 4 zu lebenslanger Haft.

Angeklagt nach den Punkten Robert Ley (1890–1945) 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), Chemiker, Dr. 2 (Verbrechen gegen den Frieden), Führer der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) 3 (Kriegsverbrechen),

40 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

1945 verhaftet Angeklagt nach den Punkten: 25.10.1945 Selbstmord vor Prozessbeginn. 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 2 (Verbrechen gegen den Frieden), Angeklagt nach den Punkten 3 (Kriegsverbrechen), 1 (Gemeinsamer Plan oder Verschwörung), 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit). 3 (Kriegsverbrechen), Verfahren ausgesetzt. 4 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit).

Gustav Krupp von Bohlen und Halbach (1870–1950) Industrieller Deutscher Rüstungsmagnat

sentation der Anklage, die sich v.a. aus den jeweils eigenen verübten Morde an rund 4.400 polnischen Soldaten, nationalen Erfahrungen mit dem NS-Regime und dem Offizieren und Intellektuellen im Wald von Katyn. Zweiten Weltkrieg ableiteten. Während der amerikanische Chefankläger Robert Im Verlauf des 218 Tage dauernden Verfahrens hörte das H. Jackson die strafrechtliche Verfolgung der Verschwö- Gericht 139 Zeugen, darunter auch die Angeklagten, die rung zur Einleitung eines Angriffskriegs (Anklagepunkt 1) sich im Zeugenstand dem Kreuzverhör stellten. Zu den zum Grundmotiv machte, trug die sowjetische Anklage- rund 4.000 vorgelegten Beweisdokumenten zählten neben behörde unter der Leitung von Roman Rudenko vor allem Urkunden, Besprechungsprotokollen, Briefen und Notizen Beweise zu den Anklagepunkten 3 und 4 („Kriegsverbre- auch eidesstattliche Versicherungen von nicht anwesenden chen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) vor. Zeugen (Affidavits) sowie Fotografien. Frankreich vertrat die gleichen Anklagepunkte wie die sow- Besonderes Grauen riefen die Bilder der vorge- jetische Delegation, jedoch geographisch auf den westeuro- führten Beweisfilme hervor, die mit Aufnahmen von der päischen Raum bezogen. Großbritannien verlegte seine An- Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager ver- klageschwerpunkte auf den Nachweis der Entfesselung und suchten, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen und dem Durchführung eines Angriffskriegs gemäß Anklagepunkt 2 von den Nationalsozialisten inszenierten Selbstbild eines (Verbrechen gegen den Frieden). fürsorglichen deutschen „Volksstaats“ das Bild des staatli- Von März bis Juli 1946 kam die Verteidigung zu chen verordneten Massenmordes entgegenzusetzen. Wort. Jedem Angeklagten stand es frei, sich durch einen Am 30. September und 1. Oktober 1946 verkünde- Verteidiger vor Gericht vertreten zu lassen oder sich selbst te das Gericht die Urteile. Drei Freisprüche, sieben teils le- zu verteidigen. Die Übernahme eines solchen Mandats ver- benslängliche Haftstrafen und 12 Todesurteile, die am 16. sprach in wirtschaftlich unsicheren Zeiten ein sicheres Ge- Oktober 1946 in der Turnhalle des Nürnberger Gefängnis- halt: Das Gericht zahlte ein Honorar von monatlich 3.500 ses vollstreckt wurden. Hermann Göring gelang es, nur we- Reichsmark, bei der Vertretung von zwei Mandanten gar nige Stunden vor der geplanten Hinrichtung Selbstmord zu 5.200 Reichsmark.4 begehen. Die Leichen der Hingerichteten wurden zum Mün- Den Verteidigern gelang es, sich in manchen Punkten chener Ostfriedhof gebracht, dort verbrannt und ihre Asche trotz ihres eingeschränkten Handlungsspielraums im Conwentzbach, einem Seitenarm der Isar, verstreut. Die gegen die oft besser vorbereiteten Ankläger durchzuset- zu Haftstrafen Verurteilten blieben zunächst in Nürnberg zen. Zu den bedeutendsten Erfolgen der Verteidigung und wurden im Sommer 1947 in das alliierte Kriegsverbre- zählen der Freispruch für den deutschen U-Boot-Krieg chergefängnis in Berlin-Spandau verlegt. Der nach der hinsichtlich der Versenkung ziviler Schiffe, die Einbrin- Entlassung Albert Speers und Baldur von Schirachs im Jahr gung des geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowje- 1966 einzige verbliebene Häftling Rudolf Heß beging 1987 tischen Nichtangriffspakts sowie das Fallenlassen der Selbstmord. Anklage wegen der angeblich von Nationalsozialisten

4Vgl. Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 38.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 41 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Der Dachstuhl des Schwurgerichtsbaus vor dem Umbau für das Memorium Nürnberger Prozesse, 2005 Foto: museen der stadt nürnberg, Herbert Liedel

Die „Nürnberger Nachfolgeprozesse“ tionsträgern des NS-Staates (Mediziner, Juristen, Militärs, Politiker) das verbrecherische System dieses Regimes offen- Im Anschluss an den Hauptkriegsverbrecherprozess began- legten und so der deutschen Gesellschaft vor Augen führ- nen an gleicher Stelle zwölf Folgeverfahren vor ausschließ- ten, dass diese Verbrechen alle Bereiche des Staates und sei- lich amerikanischen Militärgerichten, denen die gleichen ner Gesellschaft betrafen. Dabei beschränkten sie sich kei- Rechtsgrundsätze wie dem IMT zugrunde lagen. Im Gegen- neswegs auf militärische und politische Gruppen. Allein satz zum ersten Nürnberger Prozess waren die angeklagten drei der zwölf Nachfolgeprozesse stellten Führungskräfte Verbrechen jedoch nicht zeitlich auf die Kriegsjahre be- bedeutender Wirtschaftsunternehmen (Krupp, IG-Farben, schränkt. Lange Zeit fiel die Würdigung dieser Verfahren Flick) vor Gericht, die sich in erster Linie wegen der rück- nur allzu leicht der übermächtigen Bedeutung des „Haupt- sichtslosen Ausbeutung von Zwangsarbeitern zugunsten kriegsverbrecherprozesses“ zum Opfer. Ihr Verdienst liegt des eigenen ökonomischen Profits verantworten mussten. nicht primär in der Schaffung neuer Rechtsgrundsätze, son- So heterogen die einzelnen Verfahren auf den ers- dern in der Aufdeckung der Strukturen des von Profiteuren ten Blick auch wirken mögen – ihnen allen ist bei genauerer und Befehlsempfängern durchzogenen NS-Regimes. Die- Betrachtung eines gemeinsam: Sie verdeutlichen die ideolo- sem Umstand aber ist gerade in Deutschland auch die an- gische Durchdringung des NS-Staates und legen den welt- fängliche Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit ihnen anschaulich und rassenbiologisch geprägten Kern seines geschuldet, waren doch die Nachkriegsjahre vor allem von Wesens frei. Das klingt aus heutiger Perspektive vielleicht Mechanismen der Verdrängung geprägt. Die Nürnberger banal, damals jedoch musste diese Erkenntnis nicht nur Nachfolgeprozesse wirkten dem entgegen, indem sie in mühsam erarbeitet, sondern auch belegt werden. In Vielem ihrer Systematik der Anklage von Gruppen von Funk- stand man erst am Anfang und Vieles von dem, was wir

42 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Das Dachgeschoss nach dem Einbau der neuen Dauerausstellung (Aufnahme mit Fischaugenobjektiv), 2010 Foto: museen der der stadt nürnberg, Erika Moisan

heute als selbstverständliches Wissen über den NS-Staat der getrennte Eingänge mit eigenen Treppenhäusern besitzt, und seine Struktur voraussetzen, verdanken wir genau jenen von denen im Zuge der Umbaumaßnahmen eines dem Verfahren und ihrer akribischen Dokumentation. Memorium „abgetreten“ werden konnte. Während der eineinhalbjährigen Bauzeit des Me- Der Ort moriums wurde das Treppenhaus bis in den Dachboden ver- längert, ein Aufzug eingebaut sowie alle für einen Besucher- Die Ausstellungsräume betrieb nötigen infrastrukturellen Einbauten vorgenom- men. Das Herzstück der Baumaßnahmen war jedoch der Das Memorium Nürnberger Prozesse befindet sich im Ausbau des zuvor weitgehend ungenutzten Dachbodens Dachgeschoss des Ostbaus des im September 1916 durch und sich daran anschließender Büroräume. Insgesamt ver- den letzten bayerischen König Ludwig III. eröffneten fügt das Memorium nun über rund 700 Quadratmeter, von Nürnberger Justizpalastes. Konzipiert als eigens für das denen etwa 600 als tatsächliche Ausstellungsfläche zur Schwurgericht errichteter Baukörper, setzt sich der Ostbau Verfügung stehen. deutlich vom restlichen Gebäudekomplex ab. Grund dafür war die weitgehende Trennung der Geschworenen vom Ein Saal mit wechselvoller Vergangenheit restlichen Gerichtsbetrieb, um eine mögliche Einflussnah- me auf das Urteil von außen so gering wie möglich zu hal- Ein Stockwerk tiefer befindet sich der Schwurgerichts- ten.5 Dem besonderen Stellenwert des Schwurgerichts ist es saal. Dort sind es entgegen der Erwartung Erich Käst- zu verdanken, dass der Ostbau zwei vollständig voneinan- ners nicht nur staunende Touristen, die auf den unbe-

5Bis 1924 tagten in Deutschland „echte“ Schwurgerichte, bei denen Geschworenen als Laien die Entscheidung der Schuldfrage oblag, wäh- rend Berufsrichter über die Rechtslage und damit das Strafmaß entschieden. Erhalten hat sich die Bezeichnung „Schwurgerichtskammer“ an Landgerichten, an deren Verfahren heute Schöffen beteiligt sind.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 43 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Die Nürnberger Nachfolgeprozesse Fall 8: Prozess gegen das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt In den von Dezember 1946 bis April 1949 vor ausschließ- 1. Juli 1947 bis 10. März 1948 lich amerikanischen Militärgerichten abgehaltenen sog. Angeklagte: Mitarbeiter des SS-Rasse- und „Nürnberger Nachfolgeprozessen“ erhielten 24 von insge- Siedlungshauptamts sowie zwei weiterer samt 177 Angeklagten dieTodesstrafe, die in 13 Fällen SS-Organisationen tatsächlich vollstreckt wurde. Neben 25 Freisprüchen wur- den 118 Angeklagte zu teils lebenslänglichen Haftstrafen Fall 9: Einsatzgruppenprozess verurteilt. Der Großteil der Verurteilten wurde aber bis 15. September 1947 bis 10. April 1948 Mitte der fünfziger Jahre bereits aus der Haft entlassen. Angeklagte: Befehlshaber und Mitglieder der SS-Einsatzgruppen Fall 1: Ärzteprozess 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947 Fall 10: Krupp-Prozess Angeklagte: SS- und Lagerärzte, Wehrmachtsmediziner 8. Dezember 1947 bis 31. Juli 1948 und hohe Beamte im Gesundheitsbereich Angeklagte: Konzernchef Alfried Krupp sowie Mitglieder der Firmenleitung Fall 2: Prozess gegen Erhard Milch 20. Dezember 1946 bis 17. April 1947 Fall 11:Wilhelmstraßenprozess Ein Angeklagter: Generalfeldmarschall Erhard Milch 4. November 1947 bis 14. April 1949 Angeklagte: Reichsminister, hohe Ministerialbeamte sowie Fall 3: Juristenprozess Vertreter von Banken, meist mit Dienstsitz in der Berliner 17. Februar 1947 bis 14. Dezember 1947 Wilhelmstraße Angeklagte: Richter, Staatsanwälte und hohe Beamte im Justizministerium Fall 12: OKW-Prozess 30. Dezember 1947 bis 27. Oktober 1948 Fall 4: Prozess gegen das SS-Wirtschafts- und Angeklagte: Mitglieder des Oberkommandos und Verwaltungshauptamt Truppenbefehlshaber der Wehrmacht 13. Januar 1947 bis 3. November 1947 Angeklagte: Oswald Pohl, Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, sowie führende Mitarbeiter des Amts

Fall 5: Flick-Prozess 18. April 1947 bis 22. Dezember 1947 Angeklagte: Konzernchef Friedrich Flick sowie Mitarbeiter der Unternehmensführung

Fall 6: IG-Farben-Prozess 14. August 1947 bis 30. Juli 1948 Angeklagte: Führungskräfte des IG-Farben-Konzerns

Fall 7: Prozess gegen Süd-Ost-Generäle 15. Juli 1947 bis 19. Februar 1948 Angeklagte: Wehrmachtsgeneräle des Zweiten Weltkriegs in Südosteuropa

44 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Blick auf die eigens für den Hauptkriegsverbrecherprozess über dem Pressebereich installierte Besuchertribüne, an deren Stelle heute Fenster einen Blick von der Ausstellung in den Saal ermöglichen, 1945/46 Foto: National Archives, College Park, MD, USA

quemen Holzbänken im Zuschauerbereich einen Hauch ger, ein Nürnberger Kaufmann und zeitweiliger Vorsitzen- der Geschichte zu verspüren hoffen, sondern nach wie der der jüdischen Gemeinde, war aufgrund eines angebli- vor gehen dort Richter, Staatsanwälte und Verteidiger chen Verhältnisses mit seiner Mieterin Irene Seiler der „Ras- ihrer Arbeit nach. Als größter Saal des gesamten Justiz- senschande“ angeklagt und am 13. März 1942 durch das gebäudekomplexes und Hauptverhandlungssaal des Nürnberger Sondergericht zum Tode verurteilt worden. Landgerichts Nürnberg-Fürth ist der Schwurgerichts- Der Prozess gilt bis heute als einer der spektakulärsten Jus- saal auch heute noch ein Ort der Rechtsprechung, in tizmorde im „Dritten Reich“.6 der Regel sogar mehrmals in der Woche. Als Schauplatz der Nürnberger Prozesse erfuhr der Saal zahlreiche Umbauten. Um Platz für die große Anzahl Errichtet für Schwurgerichtsprozesse, urteilten im Saal 600 von Prozessbeteiligten zu schaffen, wurde die gesamte in den letzten Jahres des Kaiserreichs bis in die Weimarer Rückwand herausgenommen. Über dem dadurch erweiter- Republik hinein Geschworene als Volksvertreter über ten und ausschließlich Journalisten vorbehaltenen Zuschau- Schuld und Unschuld der Angeklagten. Mit dem Machtan- erbereich entstand eine zusätzliche Tribüne für weitere Be- tritt der Nationalsozialisten verwandelte sich der Justizpa- sucher. Mehrere neu geschaffene Wanddurchbrüche über last Nürnberg wie die Gerichte vielerorts zu einer Stätte der und in der Holzvertäfelung dienten zusätzlich als Einsichts- Rechtsbeugung und Entrechtung. Prominentestes Beispiel und Aufzeichnungsmöglichkeiten für Berichterstatter und der Unrechtsprechung im Schwurgerichtssaal ist der Schau- Kameraleute. Die Richterbank wurde um 90 Grad gedreht prozess gegen Leo Katzenberger im März 1942. Katzenber- und vor den Fenstern des Saales installiert. An ihre ur-

6Selbst nach damals geltendem Recht hätte Katzenberger nicht zum Tode verurteilt werden dürfen. Der damalige Landesgerichtsdirektor und Leitende Richter des Verfahrens, Oswald Rothaug, saß sechs Jahre später im Nürnberger „Juristenprozess“ an gleicher Stelle selbst auf der Anklagebank.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 45 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Sekretärinnen bei der Vervielfältigung der Urteile des Hauptkriegsverbrecherprozesses, 2. Oktober 1945 Foto: Stadtarchiv Nürnberg

sprüngliche Stelle traten Dolmetscherkabinen und der Zeu- Kultusgemeinde Nürnbergs, Shlomo Lewin, und seiner genstand. Lediglich die Tische der Verteidigung und die Lebensgefährtin in Auftrag gegeben zu haben. Anklagebank blieben, wenn auch etwas vergrößert, an ihrer Eine Verurteilung wegen Anstiftung zum Mord alten Stelle. blieb aus. Hoffmann wurde jedoch wegen anderer Delikte Nach dem Ende der Nürnberger Prozesse blieb der zu einer Freiheitsstrafe von neuneinhalb Jahren verurteilt, Saal zunächst weiterhin in der Hand der Amerikaner. Kurz aus der er schon 1989 vorzeitig entlassen wurde. nach seiner Übergabe an den Nürnberger Oberlandesge- richtspräsidenten am 30. Juni 1961 begann der Rückbau des Der gesellschaftliche Umgang mit dem Saal als histori- bis dahin weitgehend im Zustand von 1945 erhaltenen Rau- schem Ort spiegelt auch den gesellschaftlichen Umgang mes.7 Die in weiten Teilen bis heute genutzte Möblierung mit den NS-Verbrechen wider. Lange Zeit tat man sich der sechziger Jahre zeugt davon ebenso wie das überdimen- nicht nur in Nürnberg schwer mit der Differenzierung sionierte Kreuz, das hoch über der Richterbank verkünde- zwischen den Reichsparteitagen und „Nürnberger te, dass in diesen Saal nunmehr wieder „zivilisiertes“ Recht Gesetzen“ auf der einen Seite und den Nürnberger Einzug gehalten hatte. Prozessen als dem Beginn einer Aufarbeitung national- Rechtsextremes Gedankengut wurde erneut im sozialistischer Verbrechen auf der anderen Seite. Saal verhandelt, als hier 1984 über einen antisemitisch moti- vierten Mord verhandelt wurde. Dem deutschen Neonazi Allzu oft wurden sie in einem Atemzug genannt, ohne dabei und Gründer der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (WSG), die trotz der engen thematischen Verbundenheit wichtige Karl-Heinz Hoffmann, wurde vorgeworfen, 1980 die Unterscheidung zwischen den Verbrechen selbst und dem Ermordung des ehemaligen Vorsitzenden der israelitischen aus ihnen resultierenden Lernprozess, eines Aufbruchs zu

7Der Justizpalast wurde schrittweise an die bayerische Justizverwaltung übergeben. Die ersten Räume konnten 1957 wieder genutzt werden, die vollständige Übergabe erfolgte im Dezember 1969.

46 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Zwei Teile der originalen Anklagebank in der neuen Dauerausstellung des Memoriums Nürnberger Prozesse, 2010 Foto: museen der stadt nürnberg neuen Ufern, vorzunehmen. Die jahrelange stille Existenz tiz“ an. Erst die seit Mitte der achtziger Jahre einsetzende des Schwurgerichtssaals und Nicht-Erinnerung an die Abwendung von dieser ablehnenden Haltung machte eine Prozesse lassen die Schmerzhaftigkeit erkennen, die mit der Annäherung an das Thema fern von Verdrängungsme- Aufdeckung und lange Zeit verweigerten Auseinander- chanismen möglich. Sichtbares Zeichen dieses Sinneswan- setzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen verbun- dels war eine von dem Nürnberger Bildhauer Walter den war und ist. Insofern verkörpert der Saal, auch wenn Ibscher entworfene Gedenktafel, die 1986 als erste sichtba- nur noch wenig von seinem Zustand von 1945 erhalten ist, re Erinnerung am Schwurgerichtssaal angebracht wurde. trotz all seiner Rück-, Um- und Einbauten ein Stück Zeit- Gleichzeitig sorgte die tatsächliche Wiederaufnah- geschichte. me internationaler Strafgerichtsbarkeit Mitte der neunziger Jahre für ein vermehrtes öffentliches Interesse an der „Wie- Die Ausstellung ge“ dieser völkerrechtlichen Entwicklung. Unterstützt wurde dies durch Veranstaltungen und Fachsymposien an- Entstehung eines neuen Erinnerungsortes lässlich der Jubiläumsjahre des Nürnberger Hauptkriegs- verbrecherprozesses 1995 und 2005. Diese Entwicklung Im Mai 2000 öffneten die Museen der Stadt Nürnberg ge- mündete in Überlegungen, wie die bestehende Lücke in der meinsam mit den Bayerischen Justizbehörden den Schwur- deutschen Erinnerungslandschaft geschlossen werden kön- gerichtssaal erstmals an den Wochenenden für öffentliche ne. Nachdem das Kuratorium des Dokumentationszen- Führungen. In den folgenden Jahren stiegen die Besucher- trums Reichsparteitagsgelände 2005 ein erstes Konzept für zahlen von anfänglich gut 3.000 rasant auf fast 20.000 Be- eine neue Einrichtung vorgestellt hatte, folgten bis Sommer sucher pro Jahr (2007). Die Gründe hierfür mögen vielfäl- 2007 mit einem Beschluss der Stadt Nürnberg und den tig sein: Den Nürnberger Prozessen lastete insbesondere in Finanzierungszusagen von Bund und Land die notwendi- Deutschland über Jahrzehnte der Vorwurf der „Siegerjus- gen Weichenstellungen, um mit dem Ausbau zu beginnen.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 47 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Fenster ermöglichen von der Ausstellung einen Blick in den Schwurgerichtssaal. Ein Modell erläutert die 1945 eigens für den Prozess vorgenommenen Umbaumaßnahmen. Foto: museen der stadt nürnberg

Das Ausstellungskonzept aus München eine Ausstellungsarchitektur, deren knapp 70 von innen beleuchteten Ausstellungsrahmen sich in ver- Die Konzeption einer Ausstellung über den „Jahrhundert- schiedene Richtungen neigen. Bei Durchschreiten des ho- prozess“ und seine Nachfolger bedeutet sowohl inhaltlich hen Dachraumes scheinen sich die hinterleuchteten Paralle- als auch gestalterisch eine Herausforderung. Bei der Suche logramme fast zu bewegen wie einzelne Papierblätter aus nach den möglichen Darstellungsformen einer Gerichtsver- den Prozessakten. Insgesamt bleibt der Raum weitgehend handlung stößt man vor allem auf eine Art von Material: im Dunkeln. Licht spenden ausschließlich die Ausstellungs- Papier. Auf unzähligen Seiten von Anklage- und Urteils- tafeln, die über den dunklen Terrazzoboden gleichsam zu schriften, Beweisdokumenten und Prozessprotokollen ent- schweben scheinen. blätterte sich in den Nürnberger Verfahren der NS-Staat in seiner Gesamtheit. Der lange Zeit v.a. juristisch geprägte Fo- Die Ausstellung hat einen deutlichen dokumentari- kus auf Nürnberg hatte zudem dazu geführt, dass ein schen Charakter. Eine sachliche Darstellung soll dem Großteil der Objekte, die eine anschauliche Darstellung der Besucher die Möglichkeit geben, sich selbst ein „Urteil“ Prozessumgebung ermöglicht hätten, längst in Vergessen- zu bilden. heit geraten oder vernichtet worden war. Museumsobjekte gibt es nur wenige: zwei Teile der ori- Die Gestalter machten hier aus der Not eine Tu- ginalen Anklagebank, eine Kiste zum Transport von gend. Inspiriert von einem Foto, das Sekretärinnen in einer Dokumenten und der elektrische Schaltschrank, der die Papierflut bei der Vervielfältigung der Urteile vom 1. Okto- Stromversorgung im Saal steuerte. Das wichtigste Ex- ber 1946 zeigt, entwarf das Ausstellungsbüro Müller-Rieger ponat ist der Schwurgerichtssaal. Außerhalb von Ge-

48 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Die große Wirkkraft der Nürnberger Prozesse bis in die Gegenwart ist auch an den hochrangigen Gästen der Eröffnung abzulesen gewesen: Hans-Christian Täubrich, Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände, erläutert Dr. Beate Merk, Bayerische Staatsministerin der Justiz und für Verbraucherschutz, Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland, Sergej Wiktorowitsch Lawrow, Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation, Bernd Neumann, Beauftragter der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien, und Dr. Ulrich Maly, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg, die Ausstellung. Darüber hinaus sprachen bei der Eröffnung der frühere französische Außenminister Roland Dumas, der Sonderbotschafter des US-Außenministeriums für Kriegsverbrechen, Stephen Rapp, der britische Generalstaatsanwalt Dominic Grieve sowie der Zeit- zeuge Benjamin Ferencz. Foto: Christine Dierenbach / Stadt Nürnberg

richtsverhandlungen ist seine Besichtigung Teil des geklagten: Hier saßen 1945 die Männer, die so Undenkbares Ausstellungsrundgangs. zu verantworten hatten, dass ihre Verurteilung eine neue Rechtsprechung begründete und um deren Strafbarkeit Die inhaltliche Konzeption stellte das Ausstellungsteam vor dennoch auch Jahre nach ihrem Tod noch gestritten wurde. ganz andere Aufgaben: Die Nürnberger Prozesse waren ein Es waren diejenigen, die mit ihrer Kriegs- und Vernich- juristischer Quantensprung, dessen Folgen die Rechtsge- tungspolitik die politische Weltkarte nachhaltig verändert lehrten bis heute intensiv beschäftigen. So war eine der zen- hatten und denen wie niemandem sonst die Frage nach der tralen Herausforderungen die auch für ein Laienpublikum persönlichen Verantwortung für diese Verbrechen gestellt nachvollziehbare und interessante Darstellung komplexer werden musste. juristischer Sachverhalte. Gleichzeitig spiegeln die Nürn- berger Prozesse eine politische Situation wider, bei der es Ausstellungsrundgang um nicht weniger ging als um die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Zuletzt ist es die ethisch-mo- Die Ausstellung gliedert sich in drei Bereiche. Der erste und ralische Ebene, die Frage nach persönlicher Schuld und Ver- mit gut 300 Quadratmetern größte Ausstellungsraum erläu- antwortung, die sich gerade im heutigen Blick immer wie- tert die Vorgeschichte, die Beteiligten und den Verlauf des der in den Vordergrund schiebt. Diese drei Aspekte setzen Hauptkriegsverbrecherprozesses. Die zentralen Elemente sich mit unterschiedlicher Intensität als zentrale Frage- sind hier neben der Darstellung der Angeklagten rund um stellungen in der gesamten Ausstellung fort. Sie gipfeln vor die Anklagebank eine in den Boden eingelassene Grafik, die der Anklagebank bei der Auseinandersetzung mit den An- in Korrespondenz mit den umliegenden Ausstellungswän-

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 49 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse

Die Nürnberger Prinzipien a) Verbrechen gegen den Frieden: 1. Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung Wenige Wochen nach dem Nürnberger Prozess beschlos- eines Angriffskriegs oder eines Krieges unter Verletzung sen die Vereinten Nationen, die Rechtsprinzipien der internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherun- Londoner Charta und des Nürnberger Urteils als allgemein gen. verbindliches Völkerrecht zu kodifizieren. Im Juli 1950 2. Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer einigte sich die „Völkerrechtskommission“ der Vereinten Verschwörung zur Ausführung einer der unter Ziffer 1 Nationen auf folgende Grundsätze: genannten Handlungen.

Grundsatz I. b) Kriegsverbrechen: Jede Person, die eine Handlung begeht, welche nach dem Verletzungen der Kriegsgesetze oder -gebräuche, darun- Völkerrecht ein Verbrechen darstellt, ist hierfür verantwort- ter, ohne darauf beschränkt zu sein, Ermordung, Miss- lich und unterliegt der Bestrafung. handlung oder Deportation zur Sklavenarbeit oder zu einem anderen Zweck von Angehörigen der Grundsatz II. Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten, DieTatsache, dass das innerstaatliche Recht keine Strafe Ermordung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen für eine Handlung vorsieht, die nach dem Völkerrecht ein oder Personen auf hoher See,Tötung von Geiseln, Verbrechen darstellt, befreit die Person, welche diese Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums, mut- Handlung begangen hat, nicht von ihrer Verantwortlichkeit willige Zerstörung von Städten oder Dörfern oder jede nach dem Völkerrecht. durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung. Grundsatz III. DieTatsache, dass eine Person eine nach dem Völkerrecht c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit: als Verbrechen geltende Handlung als Staatsoberhaupt Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder ande- oder staatlicher Verantwortungsträger begangen hat, re unmenschliche Handlungen, begangen an einer befreit diese Person nicht von ihrer Verantwortlichkeit nach Zivilbevölkerung, oder Verfolgung aus politischen, rassi- dem Völkerrecht. schen oder religiösen Gründen, wenn diese Handlungen oder Verfolgung in Ausführung eines Verbrechens gegen Grundsatz IV. den Frieden oder eines Kriegsverbrechens oder in DieTatsache, dass eine Person auf Befehl ihrer Regierung Verbindung mit einem Verbrechen gegen den Frieden oder eines Vorgesetzten gehandelt hat, befreit die Person oder einem Kriegsverbrechen begangen werden. nicht von ihrer Verantwortlichkeit nach dem Völkerrecht, vorausgesetzt, sie hatte tatsächlich die Möglichkeit einer Grundsatz VII. moralischen Entscheidung. DieTeilnahme an der Begehung eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Ver- Grundsatz V. brechens gegen die Menschlichkeit im Sinne des Grund- Jede Person, die eines Verbrechens nach dem Völkerrecht satzes VI ist ein Verbrechen nach dem Völkerrecht. angeklagt ist, hat das Recht auf ein faireres Verfahren nach Maßgabe derTatsachen und des Rechts. Hinweis: Es gibt verschiedene deutscheTextvarianten. Die hier verwendete ist eine Übersetzung des Auswärtigen Grundsatz VI. Amtes und stammt vom deutschen Übersetzungsdienst Die folgenden Verbrechen sind als Verbrechen nach dem bei den Vereinten Nationen. Völkerrecht strafbar:

50 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Am Ort eines Weltgerichts –das Memorium Nürnberger Prozesse den die beteiligten Prozessparteien vorstellt, sowie eine sich über sechs Tafeln erstreckende Zeitachse mit den wich- Im Überblick tigsten Ereignissen des Verfahrens. Im hinteren Ausstellungsbereich widmet sich der Das Memorium Nürnberger Prozesse ist eine zweite Themenkomplex der juristischen Verfolgung von Einrichtung der museen der stadt nürnberg und unter- NS-Verbrechen nach 1946. Neben einer Gesamtdarstellung steht der Leitung des Dokumentationszentrum der Nürnberger Nachfolgeprozesse und ihrer Einordnung Reichsparteitagsgelände. in das politische Gefüge des aufziehenden Kalten Krieges vermitteln Tafeln zu weiteren wichtigen Prozessen einen Memorium Nürnberger Prozesse Überblick über den Umgang mit NS-Verbrechen im In- Bärenschanzstraße 72 und Ausland. Dazu zählt neben dem Frankfurter Ausch- 90429 Nürnberg witz-Prozess z.B. der Eichmann-Prozess in Jerusalem. Tel: 0911 / 321-79372 / Fax: 0911 / 321-79373 Im dritten Teil schließt sich die Auseinanderset- [email protected] zung mit dem Erbe von Nürnberg bis hin zum Internationa- www.memorium-nuernberg.de len Strafgerichtshof in Den Haag an. Filmbeiträge lassen Öffnungszeiten: Zeitzeugen der Nürnberger Prozesse zu Wort kommen, die Mittwoch bis Montag 10-18 Uhr sich Zeit ihres Lebens für die Weiterführung der von Nürn- berg ausgehenden Ideen eingesetzt haben und somit in ihrer Person den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart Das Memorium bietet Führungen für Gruppen an. Ein spannen. pädagogisches Begleitprogramm wird derzeit in Am Ende des Rundgangs steht – an verhandlungs- Kooperation mit der Bayerischen Landeszentrale für freien Tagen – die Besichtigung des Schwurgerichtssaals politische Bildungsarbeit erarbeitet. selbst. Bevor der Besucher jedoch die Treppenstufen in den zweiten Stock hinabgeht, eröffnen ihm Fenster eine unge- wohnte Perspektive von oben in den Saal. Die Beschrän- kungen während laufender Verhandlungen greifen aller- ten. Bis heute berufen sich Juristen auf der ganzen Welt auf dings auch hier. Tagt das Gericht, müssen die Fenster abge- die Protokolle von Nürnberg, was zuweilen auch daran lie- dunkelt werden. Die Besucher erhalten dann an anderer gen mag, dass es nach wie vor nicht allzu viele internationa- Stelle die Möglichkeit, zumindest einen virtuellen Blick in le Referenzverfahren gibt. Die mit dem Nürnberger Prozess den Saal zu werfen. aufgeworfene Frage, ob Recht Frieden schaffen kann, ist bis heute von brennender Aktualität. Die von den Vereinten Das Erbe von Nürnberg Nationen geschaffenen Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) knüpfen Der „Hauptkriegsverbrecherprozess“ schrieb Geschich- an diesen Gedanken ebenso an wie der seit 2003 als dauer- te. Er stellte erstmals die persönliche Einzelverantwor- hafte und UN-unabhängige Einrichtung in Den Haag ange- tung der Angeklagten in den Mittelpunkt, die sich nicht siedelte Internationale Strafgerichtshof (IStGH). mehr hinter der Immunität politischer Entscheidungs- Vor dem Hintergrund dieses Erbes besitzt das trägerschaft verstecken konnten. So entwickelte er sich Memorium Nürnberger Prozesse das besondere Potenzial, zu einem Synonym für den Kampf gegen die Straflosig- nicht nur Wissen über die Vergangenheit zu vermitteln, son- keit von Menschheitsverbrechen. dern eine Brücke in die Gegenwart zu schlagen, auf deren Basis eine Gestaltung der Zukunft möglich ist. Denn das Bereits im Dezember 1946 hatte die Generalversammlung entscheidende Moment ist der allgemeinverbindliche Cha- der Vereinten Nationen den Auftrag gegeben, die in Nürn- rakter über die Anklagen von Nürnberg hinaus. Das er- berg geschaffenen Rechtsgrundsätze zu kodifizieren. Die kannte auch Willy Brandt, der 1946 für eine norwegische daraufhin von der UN-Völkerrechtskommission entwik- Zeitung aus Nürnberg berichtete: „ Die Charta der UNO kelten „Nürnberger Prinzipien“ verliehen ihnen universel- enthält gewisse Rechte, die für die Menschen in allen Län- le Gültigkeit auch über die Verfolgung von NS-Verbrechen dern grundlegend sind. Die Charta des IMT erlegt den hinaus. Staaten gewisse Verpflichtungen auf. Das ist weit wichtiger Die Bedeutung Nürnbergs als erstes Kapitel in der als alle Erzählungen darüber, wie Göring und Heß vor ihre Geschichte des modernen Völkerstrafrechts ist unbestrit- Richter traten.“8

8Willy Brandt: Verbrecher und andere Deutsche. Ein Bericht aus Deutschland 1946, Bonn 2006, S. 65.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 51 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“ Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Von Elke Thiel

Blick von der Donau auf den Budaer Burgberg mit Matthiaskirche und Fischerbastei Alle Fotos: Elke Thiel

52 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Ungarn betrachtet sich als einzigartig in Europa: ein west- In der Europäischen Union mit derzeit 27 Mitgliedsstaaten, europäisch geprägtes Land mit innerasiatischer Herkunft und möglicherweise bald noch mehr, hat jeder Mitglieds- und einer „einmaligen“ Sprache. staat seine durch die Erfahrungen der Geschichte geprägten Nationen definieren sich gerne über ihre Erfolge. „Besonderheiten“. Allein schon die Anzahl bringt es mit Im Jahr 1896 feierte Ungarn sein eigenes Millennium, die sich, dass man über die Einzelnen oft nicht allzu viel weiß – tausendjährige Landnahme. Es war eine Zeit des Aufbruchs ganz abgesehen von den Sprachbarrieren. Als Gastprofesso- und der wirtschaftlichen Blüte. Im nationalen Gedächtnis rin an der Andrássy Universität hatte ich das Privileg, fast haben sich aber vor allem auch die gemeinsam erlittenen ein Jahr –von September 2009 bis Juli 2010 –in Budapest „Niederlagen“ eingeprägt. Nicht vergessen sind die verlo- zu sein und im Land zu reisen. Es war für mich ein großes rene Schlacht von Mohács gegen die Türken (1526), die von Erlebnis, Ungarn etwas näher kennenzulernen. Habsburg niedergeschlagene 1848er Revolution, der Frie- densvertrag von Trianon (1920), durch den Ungarn zwei Andrássy Gyula Deutschsprachige Drittel seines ehemaligen Königreiches verlor (1920), und Universität Budapest die Niederschlagung der Revolution von 1956 durch sowje- tische Panzer. So lautet der volle Titel meiner Gastuniversität, kurz AUB. Die Universität wurde 2001 von der Republik Ungarn, der Ungarn ist stolz darauf, das erste Land gewesen zu sein, Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz das 1989 den eisernen Vorhang öffnete, und war „Mus- sowie dem Freistaat Bayern und dem Land Baden-Würt- terknabe“ bei der Integration in die EU. Der Begeiste- temberg gegründet. Sie ist ein deutschsprachiges Pilotpro- rung folgte die Enttäuschung und Reformmüdigkeit jekt der europäischen Bildungs- und Forschungskoope- der „Nachbeitrittskrise“. ration. Angeboten werden Masterstudiengänge in den

Blick über die Kettenbrücke auf Pest: Im Mittelpunkt das Parlamentsgebäude, das 1884 bis 1902 für den ungarischen Reichstag erbaut wurde, der von Pressburg hierher verlegt worden war. Im Hintergrund die Margaretheninsel

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 53 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Fachrichtungen dreier Fakultäten: Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften, Internationale Beziehungen und Mitteleuropäische Studien. Angeschlossen ist die sogenann- te Doktorschule mit einem dreijährigen interdisziplinären Ph.D.-Programm. 2010 wurde an der AUB das Donau- institut für interdisziplinäre Forschung gegründet.

Die AUB ist eine relativ kleine Universität mit derzeit etwa 200 Studenten aus über 20 Staaten. Anders als in den großen Massenuniversitäten ist es hier noch mög- lich, auf den Einzelnen einzugehen.

Die Studenten der AUB kommen nicht nur aus Ungarn und den Förderländern, sondern insbesondere auch aus den ost- und südosteuropäischen Nachbarstaaten. Damit wächst der Andrássy-Universität eine Art „Mittlerfunktion“ zu. Meine Studenten aus Kasachstan und Kirgistan erzählen, dass ihre Großeltern Wolgadeutsche waren. Deutsch haben sie erst im Germanistikstudium lernen können; sie sprechen es recht gut. Der Namensgeber der Universität, Gyula Graf An- drássy (1823–1890), hat in der 1848er Revolution gegen Habsburg gekämpft. Er wurde 1850 zum Tode verurteilt, ging ins Exil, wurde begnadigt und hat dann maßgeblich am Ausgleich mit Österreich von 1867 mitgewirkt. Er wurde Ministerpräsident von Ungarn und später gemeinsamer Au- ßenminister der österreich-ungarischen Monarchie. Ihren Sitz hat die AUB am Pollak Mihály tèr im ehemaligen Palais Das römische Acquincum: Militärbad und Ausgrabungen der des Grafen Festetics. Das denkmalgeschützte Gebäude Zivilstadt gehört heute dem ungarischen Staat.

In Buda oder in Pest? Jahrhundert –im Stil der damaligen Zeit –wieder aufgebaut. Die deutsche Wehrmacht hatte 1944/45 in den Höhlen des „Wo wirst Du wohnen?“, fragten mich Eingeweihte sofort, Burgbergs ihr Hauptquartier und ließ beim Anmarsch der als sie von meinem Vorhaben hörten. Budapest entstand Russen die Donaubrücken sprengen. Die Burg wurde im 1872/73 –nach dem Ausgleich mit Österreich –aus den drei Februar 1945 von der Roten Armee erstürmt und erlitt er- bis dahin selbstständigen Städten: Buda, Pest und Óbuda neut schweren Schaden. (Ofen). Bei der Wiederherstellung der Burg stieß man in den sechziger Jahren auf unerwartete Funde. Unter dem Óbuda, das „alte Buda“, ging aus der Römerstadt Schutt, auf dem der „neue“ Palast nach der Rückeroberung Aquincum hervor und verlor an Bedeutung, als König von den Türken erbaut worden war, wurden die Fragmente Bela IV. –nach dem Einfall der Mongolen (1241/42) – der alten Königsburg freigelegt. den höher gelegenen und damit besser zu verteidigen- Die von König Bela IV. errichtete „kleine Festung“ den Budaer Burgberg als Standort wählte. wurde von seinen königlichen Nachfolgern zu einem immer größeren, prächtigen Palast ausgebaut. Zu besichtigen sind Heute ist das Stadtbild von Plattenbauten und Schnellstra- die Reste der Árpáden-Befestigung, der gotische Palastteil ßen geprägt. Unter einer Straßenbrücke findet man die der Anjou-Könige sowie die Renaissancebauten von König Überreste des römischen Militärbades. Weiter nördlich sind Matthias Corvinus. Die prunkvolle Ausstattung und Hof- die Ausgrabungen der Zivilstadt Acquincum mit Museum haltung wurde von zeitgenössischen Chronisten hoch ge- zu besichtigen. rühmt. Sultan Süleyman soll so beeindruckt gewesen sein, Buda, die mittelalterliche Burg, wurde in den dass er seinem Statthalter verbot, in diesem Schloss zu woh- Kämpfen gegen die Türken zerstört und dann im 18. und 19. nen.

54 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Blick von Süden auf den Budaer Burgpalast

Pest entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum haupt- in Betrieb genommen werden. Sie führt zum Heldenplatz, städtischen Zentrum des ungarischen Königreichs in auf dem die monumentalen Standbilder der Árpáden-Fürs- der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und ten und ungarischen Könige an die tausendjährige Ge- wurde zum geistig-kulturellen Mittelpunkt des wieder- schichte erinnern. erwachenden Magyarentums. Rund um die Synagoge Die ungarischen Reformer und Modernisierer des 19. Jahr- hunderts entschieden sich ganz bewusst für die alte Han- Ich wohne in Pest, im Bezirk Erzsebetváros (Elisabeth- delsstadt Pest und nicht für die Königsstadt Buda, die Sitz stadt), nicht weit von der Großen Synagoge. Ihr gegenüber der Habsburger Herrschaft war. Das Parlament, das als un- steht das Geburtshaus von Theodor Herzl, Begründer der garischer Landtag in Pressburg tagte, wurde –ab 1861 dau- zionistischen Bewegung für eine Heimstatt der Juden in erhaft –nach Pest geholt. Dort wurden die großen „Natio- Israel. nalbauten“ errichtet, darunter die Ungarische Akademie In Erzsebetváros liegt das jüdische Viertel. Am der Wissenschaften, die Redoute als Ball- und Konzerthaus Sabbat haben die kleinen Geschäfte und das freundliche und die Stephansbasilika. Café geschlossen. Orthodox gekleidete Väter streben mit Pest erlebte einen raschen wirtschaftlichen Auf- ihren Kindern zur Synagoge. „Sie sind zugewandert“, schwung: Banken, Versicherungen, Verlage und elegante erklärt mir ein Gemeindemitglied, „die Budapester Juden Hotels siedelten sich in der Stadt an. Große Markthallen haben sich im 19. Jahrhundert assimiliert.“ wurden gebaut, um die Bevölkerung zu versorgen. Pünkt- Die junge Dame, die durch die Große Synagoge1 lich zum ungarischen Millennium konnte die erste U-Bahn führt, erklärt: Der mächtige Kirchenraum und seine Auf-

1Die Große Synagoge trägt diesen Namen, doch sie ist in meinem Viertel nur eine von drei prächtigen Synagogen. Ähnlich prachtvolle Synagogen wurden damals auch in vielen anderen ungarischen Städten erbaut.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 55 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Große Synagoge in Pest, 1854–1859 mit maurisch-byzantinischen Stilelementen erbaut

teilung passen eigentlich nicht zu den Riten unserer versucht. Die „Pfeilkreuzler“, die im Oktober 1944 die Dik- Religion. Aber das reiche jüdische Bürgertum wollte es so tatur errichteten, beteiligten sich an den Deportationen und prächtig und engagierte die besten Architekten. setzten in Kollaboration mit den Nationalsozialisten die Ermordung der ungarischen Juden ins Werk. Die Große Synagoge und andere Bauten Eine Gedenkstätte im Hof der Großen Synagoge belegen den damaligen Wohlstand und erinnert an die Opfer des Holocaust und an Raoul Wallen- das Selbstbewusstsein des jüdischen berg. Der schwedische Diplomat hat viele Juden vor der De- Bürgertums. portation bewahrt. Nach der Kapitulation wurde er in die Sowjetunion verschleppt. Sein Schicksal wurde nie aufge- Mit dem Emanzipationsgesetz von 1867 wurden die unga- klärt. rischen Juden rechtlich gleichgestellt. Sie konnten Berufe ergreifen, die ihnen bis dahin verboten waren. Mit diesen Ein Blick in die Geschichte neuen Möglichkeiten trugen sie wesentlich zur Entwick- lung des modernen Ungarns bei. Sie sprachen ungarisch, Um die Herkunft der Magyaren ranken sich Mythen und nahmen ungarische Namen an und viele traten dem Chris- Sagen. Nach den finno-ugrischen Ursprüngen ihrer Sprache tentum bei. soll ihre Urheimat der südliche Ural gewesen sein. Sie sind Unter dem Horthy-Regime (ab 1920) sah sich die von dort –im Laufe vieler Jahrhunderte –nach Westen ge- jüdische Bevölkerung (wieder) diskriminiert, unter ande- wandert. Fürst Árpád führte die sieben Magyarenstämme, rem beim Zugang zum Bildungswesen. Viele Intellektuelle, von denen die Ungarn ihre Abstammung herleiten, ins namhafte Wissenschaftler und Künstler wanderten in dieser Karpatenbecken. Die „historische“ Landnahme (896) er- Zeit aus. Wie stets betont wird, hat Miklòs Horthy die Juden folgte in Ópuszta –nördlich von Szeged –mit der vor den von Hitler verlangten Deportationen zu schützen Verteilung des Landes an die Stammesfürsten.

56 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Unter den Völkern, die aus dem asiatischen Raum nach Westen „eingefallen“ sind –Hunnen, Awaren und spä- ter Tartaren –sind die Magyaren das einzige Volk, das dauerhaft im Karpatenbecken sesshaft wurde. Dies ist einer „strategischen“ Entscheidung des Staatsgründers, Großfürst Géza (972–997), zu verdanken.

Nach der Landnahme stießen magyarische Reiterscharen – in sogenannten Abenteuerzügen –weiter nach Westeuropa vor, bis sie in der Schlacht auf dem Lechfeld (955) von Otto dem Großen besiegt wurden. Um die Existenz des Magya- renreiches im Karpatenbecken zu sichern, suchte Großfürst Géza nach der Niederlage den Anschluss an die westeuro- päischen „Mächte“. Er führte den römisch-katholischen Glauben ein –wohl ganz bewusst in Abgrenzung zu By- zanz –und verheiratete seinen Sohn und Nachfolger, König Stephan, mit der bayerischen Herzogstochter Gisela. Dynastische Verbindungen durch Eheschließun- gen haben in der ungarischen Geschichte eine wichtige Rol- le gespielt: Nachdem das Árpádengeschlecht in der männli- chen Linie mit König Andreas III. (1290–1301) erloschen war, trat das Haus Anjou –durch die weibliche Linie mit den Árpáden verwandt –die Erbfolge an.2 1387 wurde Sigis- König Stephan und Königin Gisela auf der Burgmauer der mund von Luxemburg3 von den ungarischen Ständen zum „Königinnenstadt“ Veszprém König von Ungarn gewählt. Er wurde 1411 zugleich rö- misch-deutscher König und ab 1433 Kaiser. Ludwig II. (1516–1526), der in der Schlacht von Mohács Das Recht der Königswahl sicherte die Eigenständigkeit ums Leben kam.5 Kaiser Maximilian I. hatte 1515 mit dem Ungarns. Durch „verzwickte“ Verwandtschaftsverhält- Haus der Jagiellonen einen Erbfolgevertrag abgeschlossen nisse und Erbansprüche kam es jedoch zu häufigen (sog. „Wiener Doppelhochzeit“). Unter Berufung auf die- Thronfolgestreitigkeiten. sen Vertrag erhob Ferdinand I. von Habsburg6 Anspruch auf die ungarische Krone. Streitig gemacht wurde ihm die Nach dem Tod König Sigismunds stritten die Habsburger Thronfolge von Fürst Johann Zápolya von Siebenbürgen – Linie und die polnisch-litauischen Jagiellonen um die der ebenfalls Erbansprüche anmeldete. Zápolya gewann die Krone. Beide konnten Erbansprüche geltend machen.4 Gunst von Sultan Süleyman, der ihn als König von Ungarn König Wladislaw I. Jagiello wurde ungarischer König, fiel anerkannte. Nach der Teilung Ungarns (1540) verblieb das jedoch 1444 in der Türkenschlacht bei Warna. Johann nördliche Ungarn unter Habsburger Herrschaft, die sich Hunyadi wurde zum Reichsverweser für den unmündigen nach der Türkenbefreiung auf ganz Ungarn erstreckte. Habsburger Thronanwärter, Ladislaus Posthumus (Ladis- laus V.), gewählt. Vielfalt der Nationen Sein Sohn, Matthias Corvinus, setzte sich als König von Ungarn (1458–1490) gegen Habsburger Thronansprü- Das Königreich Ungarn war ein Zuwanderungsland. che durch. Nach ihm ging die Krone wieder an die Ja- Ungarische Könige unterstützten die Einwanderung giellonen über: zunächst an Wladislaw II. (1490), dann an von Siedlern, um es gegen eine ständige Bedrohung aus

2Karl I. Robert von Anjou (1308–1342) und Ludwig I. der Große von Anjou (1342–1382). 3König Sigismund (1387–1437) –Sohn des römisch-deutschen Königs und Kaisers Karl IV. –hatte die zweite Tochter von Ludwig I. von Anjou geheiratet, die elfjährige Maria von Ungarn. 4Der Anjou-König Ludwig I. hatte von Kasimir dem Großen das Königreich Polen geerbt. Seine Tochter Hedwig übernahm den polnischen Thron und heiratete Großfürst Jagiello von Litauen. Albrecht von Habsburg hatte König Sigismunds Tochter Elisabeth geheiratet und übernahm 1437 für zwei Jahre den ungarischen Thron. Nach dessen Tod beanspruchte Königin Elisabeth die Krone für ihren minderjähri- gen Sohn, den „Säugling“ Ladislaus Posthumus, später Ladislaus V. 5Ludwig II. hinterließ keinen Erben. 6Er war von 1558–1562 auch römisch-deutscher Kaiser.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 57 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Serbenkirche in Ráckeve aus dem 15. Jahrhundert

dem Osten zu verteidigen, das Land zu entwickeln und bis in die heutige Slowakei, im Osten bis an den Karpaten- nach den Verwüstungen durch die Mongolen wieder rand (Siebenbürgen) und im Westen bis ins Burgenland. aufzubauen. Hier lebten Ungarn und benachbarte Völker gemeinsam unter der Stephanskrone.8 Die Siedler –Handwerker und Händler –kamen aus den verschiedenen Teilen Europas, viele aus dem deutschspra- Identität der Magyaren chigen und bayerischen Raum. Auch asiatische Reitervölker wurden in der ungarischen Tiefebene sesshaft. Im 18. Jahr- Ich frage ungarische Freunde: Ihre Vorfahren waren – hundert holten die Habsburger Siedler herbei, um das unter soweit sie das feststellen können –teils deutscher, teils pol- der Herrschaft der Osmanen verödete Land zu kultivieren. nischer, serbischer und anderer Abstammung. Irgendwann Oftmals wurden ganze Bevölkerungsgruppen angeworben, haben diese „Ahnen“ beschlossen, Ungarn zu sein. Sie wie die Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert und die haben ihre Namen dem Magyarischen angepasst, sie woll- Schwaben unter Maria Theresia.7 Nach der verlorenen ten dazu gehören, was sicher auch gesellschaftliche Vorteile Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld (1389) bot der versprach. ungarische König den Serben Zuflucht. Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai erzählt Das ungarische Königreich reichte im Süden bis die Geschichte seiner Familie: Sie waren Zipser aus dem zur Adria –mit der Hafenstadt Fiume (Rijeka) –im Norden nordungarischen Kaschau, Bergwerksbesitzer und in Wien

7Die Siebenbürger Sachsen wurden von König Géza II. (1141–1161) ins Land gerufen und bauten im südöstlichen Karpatenbecken –im heu- tigen Rumänien –ihre Städte und Verteidigungsburgen. Die Schwaben siedelten im Gebiet von Sathmar (im Nordosten Ungarns und Nordwesten Rumäniens) sowie im Banat (im Grenzdreieck zwischen Ungarn, Serbien und Rumänien). Im Norden des ungarischen Königreiches siedelten die deutschsprachigen Zipser. 8Eine besondere Stellung hatte das Königreich Kroatien, das mit dem Königreich Ungarn ab Anfang des 12. Jahrhunderts in Personalunion verbunden war.

58 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Árpád-Denkmal im Nationalpark Ópusztaszer –ein beliebtes Mohács –Gedenktafeln erinnern an die Gefallenen. Ausflugsziel

hochgeachtet. Im ungarischen „Freiheitskampf“ hielt es die niedergebrannt. Der junge ungarische König Ludwig II. er- Familie mit den „Aufständischen“ und sie wurden aus trank auf der Flucht in den umliegenden Sumpfgebieten. „Überzeugung“ ungarische Patrioten.9 Ungarischen Königen und Feldherrn war es im 15. Jahrhundert gelungen, die Türkenheere aufzuhalten oder Was alle Ungarn verbindet, ist die Erinnerung an die auch zurückzuschlagen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts Landnahme, die Abstammung von den Árpáden, die – war das Königreich durch Adelsfehden, den Bauernauf- nach meiner Beobachtung –gerade auch für junge stand von 1514 und Thronfolgestreitigkeiten in sich zerris- Ungarn Anziehungskraft hat, sowie die Einmaligkeit sen. Auch Verrat „soll“ im Spiel gewesen sein: Fürst Johann der magyarischen Sprache. Zápolya von Siebenbürgen zögerte zu lange, seine Truppen in die Schlacht zu führen. Insgeheim paktierte er mit Sultan Die Assimilation mit dem Ungarntum war allerdings nicht Süleyman, dem Prächtigen, um dessen Unterstützung für nur freiwillig. Die Magyarisierungspolitik des 19. Jahrhun- seinen Anspruch auf die ungarische Krone zu erlangen.10 dert hat kräftig nachzuhelfen versucht und damit letztlich Die Türken zogen zunächst wieder ab, kehrten die Konflikte zwischen den „Nationen“ verstärkt. dann 1540 zurück und eroberten Budapest. Fast 150 Jahre war das Königreich dreigeteilt: Ein Streifen im Nordwesten Die verlorene Schlacht von Mohács mit der Hauptstadt Pressburg (Bratislava) blieb bei Habs- burg. Das Kernland zwischen Raab und Theiß wurde osma- Die Stadt Mohács –im Süden Ungarns an der Donau nische Provinz. Siebenbürgen konnte sich als „unabhängi- nahe der serbischen Grenze –hat für Ungarn eine ähn- ges“ Fürstentum behaupten. Es war der Hohen Pforte tri- liche Bedeutung wie für die Serben das Amselfeld. Der butpflichtig, die sich jedoch nicht in die inneren Angelegen- Name steht für Tapferkeit gegenüber der türkischen heiten einmischte. Übermacht, Vaterlandstreue und für eine fast 150 Jahre Die Befreiung von den Türken begann 1683 mit der währende türkische Besatzung. türkischen Niederlage vor Wien: 1686 wurde Buda zurück- erobert; 1687 schlug Herzog Karl vom Lothringen –wie- Am 29. August 1526 wurde das ungarische Heer vernich- derum in Mohács –das türkische Heer; 1697 besiegte dann tend geschlagen. Gefangene wurden enthauptet, der Ort Prinz Eugen die Türken entscheidend in der Schlacht von

9Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Erinnerungen, München 2009, S. 24 10 Vgl. den Abschnitt „Ein Blick in die Geschichte“ auf S. 56f.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 59 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

In Pécs erinnert die Innerstädtische Pfarrkirche noch an die Osmanen. Die 1585 aus Steinen einer romanischen Kirche erbaute Moschee ist heute ein christliches Gotteshaus. In Eger ist nur das Minarett der Moschee erhalten geblieben.

Zenta. Nach der Befreiung von Buda durch kaiserliche erstmals wieder ein Ungar13 die Königskrone. Sie fiel nach Truppen „verzichtete“ der ungarische Reichstag auf das seinem Tod zunächst an die Jagiellonen und dann an die Recht der eigenen Königswahl. Ungarn verlor damit seine Habsburger zurück. frühere Sonderstellung in der Habsburger Monarchie.11 Im 16. Jahrhundert breitete sich die Reformation in Siebenbürgen rasch aus. Die Ungarn folgten zumeist der Das Fürstentum Siebenbürgen Lehre Calvins, während die Siebenbürger Sachsen sich zum Luthertum bekannten. Die von Habsburg betriebene Ge- Aus Deutschland kommend erreicht man Ungarn von Wes- genreformation konnte in Siebenbürgen weit weniger Fuß ten, so wie ich auch. Aber eigentlich habe ich mich Ungarn fassen als in den übrigen Teilen des Landes. vom Osten genähert, nämlich von Klausenburg (Siebenbür- gen), wo ich 2007/2008 als Gastprofessorin an der Babes- In Siebenbürgen formierte sich der Widerstand gegen Bolyai-Universität tätig war.12 Die Beschäftigung mit Sie- das absolutistische und gegenreformatorisch wirkende benbürgen hat meinen Blick auf Ungarn „erweitert“. Habsburg-Regime. Siebenbürgen war für Ungarn eine Art „Alternati- ve“ zur Habsburger Herrschaft: König Matthias Corvinus Siebenbürger Fürsten versuchten –mit Unterstützung der (1458–1490) wurde in Klausenburg geboren. Mit ihm über- Osmanen und unter ihrer Oberherrschaft –, Ungarn durch nahm –seit dem Tode des letzten Árpádenkönigs (1301) – einen „nationalen“ Herrscher zu vereinigen. Istvan (Ste-

11 Durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich gewann Ungarn dann 1867 seine Eigenständigkeit zurück. 12 Elke Thiel: „Wie finden Sie es bei uns, in Rumänien?“ Als Gastprofessorin in Cluj-Napoca / Klausenburg. In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Einsichten und Perspektiven 04 (2007) München 2007, S. 286–303, vgl. auch http://192.68.214.70/blz/eup/04_07/5.asp. 13 Matthias Corvinus kam aus dem Geschlecht der Hunyadi. Sein Vater, Johann Hunyadi, hatte dem ungarischen König Sigismund gedient, als Feldherr die Türken geschlagen und wurde 1445 zum Reichsverweser gewählt. Ursprünglich entstammen die Hunyadi einer Kleinadelsfamilie aus der Walachei (Rumänien).

60 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“ phan) Bocskai, Calvinist und Großgrundbesitzer, führte 8. Januar 1919 verkündete die sächsische Nationalversamm- 1604 –mit Hilfe der Haiduken14 –den Aufstand gegen lung den Anschluss des sächsischen Volkes an den rumäni- Habsburg an und erreichte für Siebenbürgen die Anerken- schen Staat. nung der Religionsfreiheit. Als er 1605 von den Ständen zum Fürsten von Siebenbürgen gewählt wurde, schickte Der Verlust Siebenbürgens im Frieden von Trianon ihm der Sultan eine Königskrone. wird in Ungarn besonders „schmerzlich“ empfunden Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges unterstütz- und belastet –nach meiner Beobachtung –auch heute te der protestantische Siebenbürger Fürst, Gabór Bethlen noch die Beziehungen der beiden Nachbarstaaten. (1580–1629), mit seinen Feldzügen den Kampf der böh- misch-mährischen Stände gegen das katholische Habsburg. Zu den Prioritäten der ungarischen EU-Präsidentschaft – Anfang des 18. Jahrhunderts (1703–1711) führte Fürst im ersten Halbjahr 2011 –gehört die Entwicklung des Do- Ference Rákóczi II. den letzten Kuruzzenkrieg15 gegen nauraums durch eine grenzüberschreitende regionale Ko- Habsburg. Wenn Straßennamen etwas bedeuten –in Buda- operation (sog. „Donaustrategie“). Die ungarisch-rumäni- pest trägt eine der großen Hauptstraßen seinen Namen. schen Grenzregionen bieten sich für die Kooperation gera- Bis in die Neuzeit gab es in Siebenbürgen drei pri- dezu an. Gegensätze durch eine für beide Seiten vorteilhaf- vilegierte „Stände“: den ungarischen Adel, die Sachsen und te Zusammenarbeit zu überwinden, ist die Grundidee euro- die Szekler. Die Szekler werden häufig der ungarischen päischer Integration. Minderheit im heutigen Rumänien zugerechnet. Sie beto- nen aber selbst ihre „Andersartigkeit“. Ihre Sprache ist Un- Die 1848er Revolution garisch. Sie sollen etwa zur gleichen Zeit wie die Magyaren ins Karpatenbecken gekommen sein, siedelten in der Ge- Das 19. Jahrhundert war –nicht nur in Ungarn –eine gend nördlich von Kronstadt (Bras¸ov) und wurden von den Zeit der nationalen „Wiederbesinnung“. Sie ist in ungarischen Königen mit der Verteidigung des Landes Ungarn vor allem auch mit zwei Namen verbunden: betraut. Dafür erhielten sie als „Nation“ eigene Privilegien. István (Stephan) Graf Széchenyi und Lajos (Ludwig) Im ungarischen Königreich zählte nur der Adel: Kossuth. Die ungarischen Landarbeiter, die nicht-sächsischen Zu- wanderer aus dem deutschen Raum sowie die in Sieben- Graf Széchenyi (1791–1860) war der große Reformer, „der bürgen lebenden Rumänen hatten so gut wie keine Rechte. Mann, der das (moderne) Ungarn schuf“.16 Er stammte aus Seit Ende des 18. Jahrhunderts kämpften die Rumänen – dem reichen westungarischen Hochadel, mit engen Bezie- vergeblich –um Gleichberechtigung. Viele Freiheitskämp- hungen zu Wien. Als junger Mann hatte er auf der Seite fer wurden hingerichtet. Habsburgs gegen Napoleon gekämpft. Er war weit gereist, Es gibt einen Historikerstreit darüber, ob die Ru- hatte in London den Aufstieg Englands zu einem „moder- mänen als Nachfolger der Dako-Romanen gewissermaßen nen“ Industriestaat beobachten können und empfand umso die „Urbewohner“ Siebenbürgens sind oder ob sie sich zu mehr die Rückständigkeit seines eigenen Landes. Beginn der Völkerwanderung mit den Römern über die Große Projekte verbinden sich mit seinem Namen: Donau nach Süden zurückgezogen haben. Seit es Volkszäh- die Gründung der Akademie der Wissenschaften zur Förde- lungen gibt, liegt der Anteil der rumänischen Bevölkerung rung der ungarischen Sprache, der Bau der Kettenbrücke als in Siebenbürgen bei gut 50 Prozent. Wie viele schon vor den erste feste Verbindung zwischen Buda und Pest, die Dampf- Magyaren dort waren und wie viele erst später in das unga- schifffahrt auf der Donau und auf dem Plattensee, die Re- rische Königreich eingewandert sind, lässt sich nicht fest- gulierung von Donau und Theiß, die Schiffswerft in Óbuda stellen. sowie in Pest der Bau der ersten ungarischen Dampfmühle. Nach dem für Österreich-Ungarn verlorenen Ers- ten Weltkrieg erklärte die rumänische Nationalversamm- István Graf Széchenyi wollte einem modernen Ungarn lung –am 1. Dezember 1918 –den Anschluss an das König- im Habsburger Reich Eigenständigkeit verschaffen. Er reich Rumänien, das 1859 durch den Zusammenschluss der suchte die Zusammenarbeit mit Wien, da er befürchtete, Fürstentümer Moldau und Walachei entstanden war. Am dass sich Ungarn –auf sich gestellt –im aufkommenden

14 Die Haiduken waren verarmte Kleinbauern und Viehtreiber. Sie wurden von Fürst Bocskai angeworben und später auf seinen Gütern in der Hortobágy-Puszta angesiedelt, wo viele Ortsnamen daran erinnern. 15 Ein Freiheitskampf der Bauern und niedrigen Stände. 16 Andreas Oplatka: Graf Stephan Széchenyi. Der Mann, der Ungarn schuf, Wien 2004.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 61 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Ungarische Akademie der Wissenschaften: Der Neorenaissancebau von 1864 wurde von Friedrich August Stüler errichtet.

Slawentum schwer würde behaupten können. Er warn- zwei Tage früher ausgebrochen war. Sie wollte die Zustim- te daher vor den revolutionären Ideen Lajos Kossuths, mung zu den „Märzgesetzen“ einholen, die der Landtag in der die Unabhängigkeit von Habsburg anstrebte. Pressburg –unter dem Eindruck der Revolution –verab- schiedet hatte. Der etwas jüngere Lajos Kossuth (1802–1894) kam aus einer kleinadeligen Familie im Komitat Zemplén, im Nordosten Eine der Forderungen war die Wahl einer ungarischen Ungarns. In ganz Ungarn bekannt wurde er durch seine Regierung, die mit weitgehenden Zuständigkeiten aus- „Landtagberichte“17 und Berichte aus den Komitaten (Graf- gestattet sein sollte, vergleichbar der späteren k.-u.-k.- schaften). Später schrieb er regierungskritische Leitartikel Monarchie. für den Pesti Hírlap, das Pester Nachrichtenblatt. Mit sei- nem radikalen Auftreten provozierte Kossuth das Misstrau- Unter dem Druck der Ereignisse gab Wien nach. Die unga- en der Regierung in Wien, die Széchenyi gerade für seine rische Regierung, geleitet von Ministerpräsident Lajos Graf Reformen zu gewinnen suchte. Batthyány, wurde im April 1848 in Pressburg vereidigt und Während die ungarische Märzjugend (gewaltfrei) verlegte ihren Sitz anschließend sofort nach Pest.18 Die demonstrierte, begab sich eine Delegation des ungarischen „neuen“ Kompetenzen waren jedoch nicht genau definiert Landtags –zu der auch Széchenyi und Kossuth gehörten – und wurden von Habsburg bald wieder in Frage gestellt.19 am 15. März 1848 nach Wien, wo die Revolution bereits

17 Kossuth nahm als Vertreter verhinderter Hochadeliger im ungarischen Herrenhaus an den Sitzungen des Pressburger Landtags teil, für die er Berichte schrieb, die er breit verteilte. 18 Kossuth erhielt das Finanzressort und Széchenyi wurde Verkehrsminister. 19 Oplatka (wie Anm. 16), S. 381.

62 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Große Kirche der Reformierten in Debrecen: Hier rief Lajos Kossuth die Unabhängigkeit Ungarns von Habsburg aus.

Zu wenig beachtet hatte die politische Führung Un- Kossuth –er hatte im September 1848 das Amt des garns das Freiheitsstreben der anderen im Königreich Ministerpräsidenten übernommen –am 14. April 1849 lebenden Nationen. Die Märzgesetze galten zum gro- die Unabhängigkeit von Habsburg. ßen Teil nur für die Magyaren. Während die im April 1848 erlassene österreichische Verfassung allen „Völ- Im Sommer 1849 wurde die ungarische Revolution von kai- kern“ die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und serlichen, kroatischen und russischen Truppen niederge- Sprache zugesichert hatte, gab es Vergleichbares in schlagen. Zar Nikolaus, der ein Übergreifen der Revolution Ungarn nicht.20 Zu den Zugeständnissen, die Ungarn auf Polen befürchtete, hatte Verstärkung geschickt. Die un- den Habsburgern abgerungen hatte, gehörte insbeson- garische Armee erlag dieser Übermacht. Viele Freiheits- dere auch die Einführung des Ungarischen als Amts- kämpfer wurden hingerichtet, darunter auch der erste unga- sprache, was die anderen Nationen diskriminierte. rische Ministerpräsident, Lajos Graf Batthyány. Für ihn brennt am Budapester Szabadság tér (Freiheitsplatz) ein Es kam zu Aufständen und zu kriegerischen Auseinander- ewiges Licht. setzungen im Königreich und bald zum Krieg mit Öster- reich. Im Januar 1849 besetzten österreichische Truppen mit Die ungarische „Blütezeit“ Unterstützung kroatischer Einheiten Buda und Pest. Der Niederwerfung der Revolution folgte zunächst ein Der ungarische Reichstag und die Regierung flohen absolutistisches, kaiserliches Regime. Dies änderte sich, als nach Debrecen (Ostungarn). Dort verkündete Lajos das Habsburgerreich von außen in Bedrängnis kam: Die

20 Ebd.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 63 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Bauten des „ungarischen Millenniums“ in Pest und anderen Städten –mit oft einzigartigen, phantastischen Stilelemen- ten. Große Namen der Wissenschaft, der Kunst, der Musik verbinden sich mit dem Ungarn des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt das emanzipierte, jüdische Bür- gertum trug dazu bei. Kati Marton geht dem Lebensweg von neun unga- rischen Juden nach, die das Land in den zwanziger Jahren verlassen haben, weil sie angesichts der Diskriminierungen im Horthy-Regime keine Chancen sahen, ihre Talente wei- ter zu entwickeln. Zu ihnen gehören der Wegbereiter der Spieltheorie, John von Neumann, die Atomphysiker Leó Szilárd, Edward Teller und Eugene Wigner, der Schrift- steller Arthur Koestler, die Pioniere der Fotographie, André Kertész und Robert Capa, sowie die Produzenten so be- kannter Filme wie „Casablanca“ (Michael Curtiz) und „Der dritte Mann“ (Alexander Korda).21

Das „Trauma“ vonTrianon

Die ungarische Blütezeit ging mit dem ersten Weltkrieg jäh zu Ende. Die k.-u.-k.-Monarchie löste sich auf. Ungarn musste im Frieden von Trianon (Juni 1920) zwei Drittel des Trianon-Gedenktafel, aufgenommen in Hajdúböszörmény, nord- Landes an die Nachbarstaaten abgeben: Oberungarn an die westlich von Debrecen damalige Tschechoslowakei, Siebenbürgen und einen Teil des Banats an Rumänien, das Gebiet südlich der Donau an Jugoslawien und das Burgenland an Österreich. In diesen Schlacht von Solferino (1859), durch die die Lombardei und Gebieten war die Bevölkerung der Staaten, denen sie nun- Venetien an Italien „verloren“ gingen, und 1866 die Nie- mehr zugesprochen wurden, in der Mehrheit. derlage gegen die Preußen bei Königgrätz. Um das Reich Trianon kehrte die Situation um: Im ungarischen zusammenzuhalten, zeigte sich Wien zu Zugeständnissen Königreich lebten viele Völker unter ungarischer Herr- bereit. schaft. Heute leben größere ungarische Minderheiten in den Nachbarstaaten, unweit der Grenzen zu Ungarn.22 Sie leben Nach zähen Verhandlungen gelang 1867 der Ausgleich in eigenen Gemeinden, pflegen ihr „Magyarentum“ und mit Österreich. In der österreichisch-ungarischen orientieren sich in wichtigen Lebensfragen nach Ungarn. Doppelmonarchie erhielt das Königreich Ungarn eine eigene Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung. Für Ungarn ist Trianon –auch nach 90 Jahren – ein Über die auswärtige Politik, die Verteidigung und die „Trauma“ geblieben, ein Unrecht, das ihrem Volk ange- dafür notwendigen Finanzen wurde „gemeinsam“ ent- tan worden sei. Tafeln, die Ungarn in den Grenzen des schieden. Es gab eine gemeinsame Währung und ein ehemaligen Königreiches zeigen, erinnern daran. gemeinsames Zollgebiet. Der österreichische Kaiser war zugleich König von Ungarn. Am 8. Juni 1867 wurden Trianon-Gedenktafeln sieht man überall im Land. Unga- Kaiser Franz Josef und Kaiserin Elisabeth in der rische Freunde versichern mir: „Damit wollen wir einfach Matthias-Kirche in Buda als König und Königin von nur unsere Solidarität mit den ungarischen Minderheiten Ungarn gekrönt. zum Ausdruck bringen.“ Man kann sich allerdings vorstel- len, dass ungarische Nachbarn dies anders verstehen. Die Mit dem Ausgleich begann für Ungarn eine Blütezeit. Das rechtsradikale Jobbik fordert ganz offen eine Revision der demonstrieren nicht nur die großen Boulevards, Plätze und Grenzen und will damit Wähler gewinnen. In der ungari-

21 Kati Marton: Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt. Frankfurt am Main, 2010 22 Eine Ausnahme sind die in Ostsiebenbürgen lebenden Szekler.

64 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Ungarisches Rathaus von 1875 auf der slowakischen Donauseite von Komárom/Komárno

schen Verfassung steht: „Die Ungarische Republik fühlt Mitgliedern ist das Staatsbürgergesetz eigentlich nicht mehr sich verpflichtet für das Schicksal der außerhalb der Grenze „zeitgemäß“. Alle Bürger der Europäischen Union haben lebenden Ungarn und fördert die Pflege der Verbindungen eine Unionsbürgerschaft; sie genießen die damit verbunde- mit Ungarn.“ ne Freizügigkeit und haben Minderheitenrechte. Das von der Fidesz-Regierung erlassene neue Staatsbürgerschaftsgesetz23 polarisiert die Beziehungen mit Sprache und Minderheiten den Nachbarstaaten, insbesondere das durch den Sprachen- streit ohnehin gespannte Verhältnis zur Slowakei. In Un- Als das ungarische Königreich durch den Ausgleich mit Ös- garn ist das neue Gesetz populär und hat auch bei der sozia- terreich seine Eigenständigkeit erhielt, blieb die Nationali- listischen Opposition Zustimmung gefunden. Unter EU- tätenfrage „ungelöst“. In großen Teilen des Landes waren

23 Nach diesem Gesetz können ethnische Ungarn auf Antrag die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen. Die Slowakei hat bereits reagiert: Wer eine andere Staatsbürgerschaft annimmt, verliert die slowakische Staatsbürgerschaft.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 65 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Deutsches Theater in Szegzárd, nordöstlich von Pécs Deutsche Selbstverwaltung in Györ (Raab)

die Ungarn in der Minderheit. Es begann eine Magyarisie- In der Deutschen Botschaft werde ich zu einem „Mittler- rungspolitik, die insbesondere auch über die Sprache durch- treffen“ eingeladen. Ich bin erstaunt, wie viele deutsche gesetzt wurde. Lehrer es gibt, die an ungarischen Schulen –mit deutschen Unterrichtszweigen –unterrichten, oftmals weit entfernt Im ungarischen Vielvölkerstaat war die Amtssprache auf dem flachen Land. Einige bezeichnen sich als „Wieder- lange Zeit Latein, was für eine gewisse Gleichberech- holungstäter“; sie waren schon mehrmals da. Landesweit tigung sorgte. Nun wurde Ungarisch zur „Pflicht- nehmen 42 ungarische Schulen an der Initiative „Schulen: sprache“. Partner der Zukunft“ (PASCH) teil.25 Ich lerne junge Menschen kennen, die ihr „soziales Jahr“ in einer deutsch- Im ehemaligen Komitat Sathmar, das heute teils zu Ungarn ungarischen Einrichtung verbringen. Das Interesse scheint und teils zu Rumänien gehört, habe ich –auf beiden Seiten beiderseits groß zu sein. der Grenze –schwäbische Gemeinden besucht. Es gibt wie- der deutsche Schulen, aber die Schüler müssen die „Mutter- Faschismus und Kommunismus sprache“ neu lernen. Zuhause, mit den Eltern und Großel- tern, sprechen sie ungarisch. Das Erstaunliche ist: Wenn ich Die Terrorregime des 20. Jahrhunderts –Faschismus nachfrage, wieso die Schwaben ihre Sprache verlernt haben, und Kommunismus –Ungarn hat beide erlebt. Nach kann mir das in Ungarn niemand so richtig erklären –man einigen Monaten der kommunistischen Räterepublik spricht nicht darüber. unter Bèla Kun folgte ab 1920 das autoritäre, nationa- listische Regime unter Miklòs Horthy. Ungarn hat heute ein Minderheitenrecht, das als vor- bildlich gilt. Es gibt 13 anerkannte Minderheiten; sie Die ungarische Regierung hatte gerade den Friedensvertrag haben Selbstverwaltungen und Mitspracherechte in von Trianon unterzeichnen müssen, und Ungarn „hoffte“ Fragen der Bildung und Kultur. Die größte nationale auf die Gelegenheit, die Gebietsverluste rückgängig machen Minderheit (62.000) sind die Ungarndeutschen.24 zu können. Mit dieser Erwartung verbündete sich Horthy mit Hitler. Durch die von Hitler und Mussolini verfügten Auf meinen Reisen durch Ungarn treffe ich immer wieder Wiener Schiedssprüche erhielt Ungarn 1938 das Gebiet der auf deutsche Gemeinden. Auf Grabsteinen und Denkmalen südlichen Slowakei zurück; 1940 musste Rumänien große für die Gefallenen der beiden Weltkriege finde ich deutsche Teile Siebenbürgens –mit dem Szeklerland –wieder an Un- Namen, oft auch in ungarischer Schreibweise. Nach 1945 garn abgeben. Nach dem Einmarsch der ungarischen Armee wurden viele Deutsche, wie auch viele Ungarn, deportiert. soll es zu schweren Übergriffen der dort lebenden ungari- In ihre Wohnungen und Häuser zogen Ungarn ein, die aus schen Bevölkerung auf die Rumänen gekommen sein. den Nachbarländern vertrieben worden waren.

24 Die Roma bilden die größte ethnische Minderheit. 25 Information der Deutschen Botschaft in Budapest.

66 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Volksaufstand 1956: Gedenk- stätte in Kecskemét

Als sich die Rote Armee näherte, zogen im März 1944 friedlichen Großdemonstration vor das Rundfunkge- deutsche Truppen in Ungarn ein. Ihre Anwesenheit bäude, um über das Radio die Forderung nach demo- sollte verhindern, dass Ungarn die „Seite wechselte“. kratischen Veränderungen zu verbreiten: Abzug fremder Truppen, Austritt aus dem Warschauer Pakt, Horthy, der mit den Alliierten einen Separatfrieden schlie- Neutralität, freie Wahlen und Wiedereinsetzung des ßen wollte, wurde am 15. Oktober gestürzt. Die Regie- liberalen Ministerpräsidenten Imre Nagy. rungsführung übernahm die faschistische Pfeilkreuzler- Partei. Die russischen Truppen erreichten Ungarn im Ok- Die Regierung ließ auf die Demonstranten schießen. Am tober 1944, eroberten Budapest im Februar 1945 und hiel- Ort des Geschehens erinnert eine Gedenktafel –mit Blumen ten Anfang April das ganze Land besetzt. und Kränzen –an die Opfer. Die ungarische Armee hatte Im schon „befreiten“ Debrecen –dort, wo Lajos sich auf die Seite der Revolution gestellt. Der Aufstand wur- Kossuth 1849 die Unabhängigkeit von Habsburg erklärt de von sowjetischen Panzern niedergeschlagen. Die vom hatte –wurde am 22. Dezember 1944 ein demokratisches Westen erhoffte Unterstützung blieb aus. Imre Nagy und Übergangsparlament gewählt. Im November 1945 fanden viele andere wurden hingerichtet. Über 200.000 Ungarn in ganz Ungarn Parlamentswahlen statt. Wahlsieger waren verließen 1956–57 das Land. Sie fanden in Westeuropa und die konservativ-bürgerlichen Parteien. Nordamerika Aufnahme. Viele der damaligen Emigranten Unter dem Schutz der Roten Armee, die im Lande bzw. deren Nachkommen kehren heute nach Ungarn zu- blieb, gelang es den Kommunisten unter Mátyás Rákosi, die rück. junge Demokratie zu unterlaufen. Am 20. August 1949 Der ungarische Volksaufstand wurde 1989 als „Re- wurde die Volksrepublik Ungarn ausgerufen. volution“ anerkannt.26 Die Rehabilitierung der Freiheits- kämpfer von 1956 und die feierliche Neubestattung von Volksaufstand 1956 Nagy und vier seiner Mitstreiter im Juni wurden „in Ungarn als ein Wendepunkt empfunden, als ein unmissverständli- Der 23. Oktober ist Nationalfeiertag. An diesem Tag – ches Zeichen dafür, dass die Tage des Einparteienstaates im Jahr 1956 –zogen Budapester Studenten in einer gezählt waren“.27

26 In der kommunistischen Zeit durfte nur von „Konterrevolution“ gesprochen werden, einer Revolte, die sich gegen die kommunistische Revolution gerichtet hatte. 27 Andreas Oplatka, Neubestattung Imre Nagys in Budapest. In: Neue Zürcher Zeitung v. 16. 6. 2009

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 67 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Mehr als 30 Jahre lang –von 1956 bis 1988 –herrschte in Der Bericht führte aus: Das Signalsystem sei unhaltbar ge- Ungarn das Kádár-Regime. János Kádár schien zunächst worden. Ständige Fehlalarme machten die Grenzkontrolle der „Gefolgsmann Moskaus“ zu sein, schlug dann jedoch – zeitraubend und unwirksam. „Diese Art der Grenzbewa- ab 1968 –einen (wirtschaftlichen) Liberalisierungskurs ein, chung sei auch moralisch und technisch überholt.“31 Wenn der im damaligen Ostblock einmalig war. man sie beibehalten wollte, mussten die Sperranlagen mo- dernisiert werden –mit hohen Kosten, die Ungarn nicht Der sogenannte „Gulaschkommunismus“ verbesserte aufbringen konnte und wollte. Ungarische Staatsbürger be- die Versorgungslage und gewährte der Bevölkerung kamen ab dem 1. Januar 1988 einen „Westpass“, der überall persönliche Freiheiten. Dafür „akzeptierte“ sie den galt. Die Sperranlagen dienten also praktisch nur noch dazu, kommunistischen Führungsanspruch und die Partei- ein Schlupfloch für Flüchtlinge aus der DDR sowie aus Ru- linie. mänien zu schließen. Im Innenministerium –ab Dezember 1987 unter Durch die Reformen des Kádár-Regimes war Ungarn nach der Leitung von István Horvát –setzte sich relativ schnell der Wende in einer günstigen Startposition: Es bestanden die Auffassung durch, dass die Aufrechterhaltung der bereits gute Verbindungen zum Westen. Die Transforma- Sperranlagen nicht im Interesse Ungarns sei. Die Entschei- tion und die Integration in das EU-System kamen rasch dung musste von der Staatsspitze getroffen werden, von voran; Ungarn galt als „Musterknabe“. Der Rückzug in die Parteisekretär Károly Grósz, der János Kádár im März 1988 „privaten Nischen“ des Gulaschkommunismus hat –nach abgelöst hatte, und von Miklós Németh, seit November Meinung von Beobachtern –aber auch dazu beigetragen, 1988 ungarischer Ministerpräsident. dass viele Ungarn das Interesse an der Politik verloren Während Grósz noch vom alten Kádár-Regime ge- haben. prägt war, gehörte Németh zu den Reformern der Nachfol- gegeneration und machte den Abbau der Grenzsperren zu Der „Riss in der Mauer“ seiner Sache. Im Mai 1989 ernannte er Gyula Horn zum Au- ßenminister –bis dahin Staatssekretär –mit guten Kontak- Beim „Paneuropäischen Picknick“ –in der Nähe von So- ten nach Bonn, für Ungarn ein wichtiger Partner. pron –wurde am 19. August 1989 die österreich-ungarische Ungewiss war vor allem, wie die Verbündeten, und Grenze für einige Stunden geöffnet. Die Bilder gingen um insbesondere die Sowjetunion, reagieren würden. Minister- die Welt: Annähernd 700 Bürger der damaligen DDR, die in präsident Németh informierte bei einem Arbeitsbesuch im Ungarn auf eine Ausreisegelegenheit gewartet hatten, nah- März 1989 in Moskau Generalsekretär Gorbatschow über men den Weg über Österreich in die Bundesrepublik.28 In die ungarischen Absichten. Gorbatschow zeigte sich über- vielen Reden wird –mit großer Dankbarkeit –an dieses rascht, wendete sich aber nicht dagegen –was als „Zustim- Ereignis erinnert. Es ist –gerade auch aus ungarischer mung“ gewertet wurde.32 Sicht –ein „Symbol“ für die Freundschaft, die beide Länder verbindet. Nachdem die Angelegenheit durch den Grenzschutz- In seinem Buch „Der erste Riss in der Mauer“ geht bericht ins Rollen gekommen war, entwickelte sie eine Andreas Oplatka den Entscheidungen nach, die zum unga- Eigendynamik. Die volle Tragweite war den Beteiligten rischen „Mauerfall“ führten.29 –in Ungarn und auch in den sozialistischen Bündnis- staaten –anfänglich gar nicht bewusst. Die Grenzanlagen waren total veraltet. Der Oberbe- fehlshaber der Grenzwache –Janós Székely, seit 1986 Mit dem großen Ansturm der DDR-Flüchtlinge beim in diesem Amt –legte Mitte 1987 dem zuständigen Grenzpicknick hatte zunächst niemand gerechnet. Selbst Innenministerium einen Bericht30 vor: Er empfahl, das die Regierung in Ostberlin, die den Reformkurs der Ungarn Signalsystem nicht zu erneuern, sondern durch eine mit Misstrauen sah, erkannte die unmittelbare Bedrohung „moderne Grenzordnung“ abzulösen.

28 Zum 20. Jahrestag des „ungarischen Mauerfalls“ ist ein Erinnerungsband mit Zeitzeugenberichten erschien. Norbert Lobenwein: „89–09“ - Momente, die die Welt bewegten, mit Aufnahmen von Tamás Lobenwein. Budapest 2009. Herausgeber der deutschen Ausgabe ist Hans Kaiser, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest, 29 Andreas Oplatka: Der erste Riss in der Mauer. September 1989 –Ungarn öffnet die Grenze. Wien 2009 30 Der Bericht fasste die Ergebnisse einer Meinungsumfrage unter den Grenzoffizieren zusammen. 31 Oplatka, ebenda, S. 24 32 Oplatka (wie Anm. 29), S. 66–70.

68 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Im Januar 2011 lud Victor Órban zu einer informellen EU-Ministerratssitzung auf Schloss Gödöllo˝ ein – der bevorzugten Sommerresi- denz von Königin Elisabeth. des eigenen Regimes erst, als die Demontage der Sperranla- sicherheitsbehörde in Ostberlin sollen bis zum 5. Novem- gen bereits begonnen hatte.33 ber –d.h. bis unmittelbar vor der Öffnung der Berliner Der ungarische „Mauerfall“ erfolgte in Etappen. Mauer –50.000 DDR-Bürger über Ungarn in die Bundes- Im April 1989 gab es einen „Probeabbruch“. Am 2. Mai republik gelangt sein. begannen die Abrissarbeiten an den Grenzsicherungsanla- In Ungarn stand die „Wende“ nun unmittelbar be- gen. Das Grenzpicknick im August –eine Initiative der vor: Am 23. Oktober 1989 –der ungarische Volksaufstand Zivilgesellschaft –war für die ungarische politische Füh- jährte sich zum 33. Mal –wurde die demokratische und par- rung auch ein Test dafür, wie Gorbatschow darauf reagieren lamentarische Republik Ungarn ausgerufen. Am 25. März würde. Der Grenzübergang wurde dann zunächst wieder 1990 fanden freie Wahlen statt. für Ausreisende aus dem „Ostblock“ geschlossen, um ins- besondere mit Bonn zu klären, wie mit dem zu erwartenden Die „Nachbeitrittskrise“ Flüchtlingsstrom umzugehen sei. Endgültig geöffnet wurde die Grenze am 11. Sep- Ungarn gehörte zu den vier Visegrád-Staaten,34 mit denen tember 1989 um null Uhr. Bürger aus den „Ostblockstaa- die EU bereits im Dezember 1990 Assoziierungsverhand- ten“ wurden nicht mehr zurückgewiesen. Wer wollte, lungen aufnahm. Zwischen den Parteien und in der Bevöl- konnte in den Westen reisen. Nach Angaben der Staats- kerung bestand eine breite Übereinstimmung, die Mitglied-

33 Ebd., S. 74–76. 34 Ungarn, Polen sowie die beiden Nachfolgerstaaten der damaligen Tschechoslowakei werden so bezeichnet.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 69 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“ schaft Ungarns in der Europäischen Union anzustreben. Die administrierten Preise –Gas, Strom, Wasser etc. –sind Am 31. März 1994 reichte Ungarn als erstes Land des ehe- vergleichsweise hoch mit steigender Tendenz. maligen Ostblocks den Beitrittsantrag ein. Um EU-Mitglied zu werden, müssen die Beitritts- Das Parteiensystem ist stark polarisiert. Zwischen der kandidaten35 die Kopenhagener Kriterien erfüllen: (1) Eine von Victor Órban geführten Fidesz, die bei den Wahlen institutionell abgesicherte demokratische und rechtsstaatli- im April 2010 eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament che Ordnung. (2) Eine funktionsfähige Marktwirtschaft gewann, und den Sozialisten (MSZP) –die die Regie- und die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Binnen- rung verloren haben –gibt es keine Verständigungs- markt. (3) Die Fähigkeit, die Rechte und Pflichten der Mit- basis. Das bedeutet unter anderem, dass in Ministerien gliedschaft zu übernehmen und die Rechtsvorschriften der und Ämtern die Positionen –teilweise bis in die mittlere EU voll anzuwenden. Die Übernahme der Rechtsvorschrif- Ebene –ausgetauscht werden. ten beinhaltet die Ausrichtung der Systemreformen am System der EU und wird durch begleitende Partnerschaften Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit kann Fidesz die Verfas- und Evaluierungen seitens der EU unterstützt, die dadurch sung ändern. Einige Beobachter weisen darauf hin, dass dies zu einer Art „Anker“ für die Reformen werden kann. eine Reformchance sein könnte. Allerdings muss man auch feststellen, dass viele der inzwischen rasch durchgezogenen Der bevorstehende EU-Beitritt war für Ungarn ein Gesetze in erster Linie die Position der Fidesz stärken sol- „Reformantrieb“ und –da alle den Beitritt anstrebten – len. Als das ungarische Verfassungsgericht im Oktober 2010 auch ein „Konsensbilder“. Nachdem Ungarn im Mai ein Fidesz-Gesetz37 für verfassungswidrig erklärte, wurde 2004 EU-Mitglied geworden war, verlor beides seine das Grundgesetz geändert: Künftig wird das ungarische Wirkung. Verfassungsgericht nicht mehr für Gesetze zuständig sein, die das Budget und die Renten betreffen.38 Wie Jürgen Dieringer, Kollege an der Andrássy Universität, Ungarn hat im ersten Halbjahr 2011 die EU-Präsi- konstatiert: „Den Akteuren des Systemwechsels gelang es dentschaft übernommen,39 für das damit betraute Mitglieds- zunächst gut, auf der Basis eines gewissen Grundkonsenses land immer auch eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Die [...] die neue Demokratie zu institutionalisieren.“ Und wei- ungarische Präsidentschaft übernimmt ein umfangreiches ter: „Die Reform war auf einen gesellschaftlichen Grund- Programm, das sie voranbringen will, und setzt eigene konsens ausgelegt, der heute nicht mehr besteht.“36 Akzente. Eines ihrer Anliegen sind die „Nachbarschaftsbe- Die Bevölkerung ist enttäuscht: Sie hatte erwartet, dass mit ziehungen“: die Aufnahme Kroatiens in die EU, der Beitritt dem Beitritt alles besser werden würde, eine Erwartung, die Rumäniens und Bulgariens zum Schengenraum, die EU- die Europäische Union gar nicht erfüllen kann. In den Jah- Politik der „Östlichen Partnerschaft“, die Donaustrategie ren der Transformation wurden notwendige Strukturrefor- sowie die Integration der Roma als gesamteuropäische men vernachlässigt. Aufgabe. Ungarn steht heute vor ähnlichen Problemen, wie Überschattet wurde der Beginn der Präsidentschaft viele der „alten“ EU-Staaten. Die staatlichen Sozialsysteme dann allerdings durch den Streit um das ungarische Medien- sind auf Dauer nicht finanzierbar, das Rentensystem über- gesetz, das zeitgleich am 1. Januar 2011 in Kraft trat. Dabei lastet: Wer nach der Wende keinen Arbeitsplatz mehr fand, geht es nicht um einzelne Bestimmungen, die eventuell auch hat sich in den Ruhestand versetzen lassen. in diesem oder jenem anderen Mediengesetz enthalten sind. Die schon reformmüde Bevölkerung sieht neue Es geht darum, dass mit diesem Gesetz jede Regierung, die „Belastungen“ auf sich zukommen. Das monatliche Durch- irgendwann an die Macht kommt, die Meinungsfreiheit aus- schnittseinkommen liegt bei 250 bis 300 Euro, was heißt, schalten kann.40 dass viele Menschen mit weniger Geld auskommen müssen.

35 Die Kopenhagener Kriterien, die im Juni 1993 vom Europäischen Rat festgelegt wurden, gelten auch für alle zukünftigen Beitrittskandidaten. 36 Jürgen Dieringer: Ungarn in der Nachbeitrittskrise. In: APUZ, Aus Politik und Zeitgeschichte, 29–30 (2009), S. 6–11, hier S. 6. 37 Für Abfindungszahlungen ab einer Höhe von ca. 7.000 Euro sollte eine Steuer von 98 Prozent erhoben werden, was vor allem gering Verdienende getroffen hätte, die ihre Arbeitsstelle mit einer Abfindung verlassen. 38 Dies ist nur ein besonders eklatantes Beispiel für die Vorgehensweise der Fidesz. 39 Nach den institutionellen Reformen des Lissabon-Vertrags gilt die halbjährlich rotierende Präsidentschaft nur für die Fachräte. 40 Im Februar 2011 folgte Ungarn der Aufforderung der EU-Kommission, die Kompatibilität des Mediengesetzes mit der EU-Richtlinie für audiovisuelle Dienstleistungen zu prüfen. Einige Bestimmungen wurden modifiziert, nicht jedoch die einseitige Besetzung des Medienrates mit Angehörigen der Regierungspartei, die der Hauptanlass der Befürchtungen ist, die Meinungsfreiheit könnte ausgeschaltet werden. Das EU-Recht bietet hierfür keine Handhabe. Das äußerste Mittel, das die EU hätte, ein Verfahren nach Artikel 7 EUV (Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte), wurde noch nie angewandt.

70 Einsichten und Perspektiven 1 | 11 Ungarn: ein europäisches Land mit „einzigartiger Herkunft“

Innensicht und Außensicht sen: Ich lasse es nicht zu, dass hier das ungarische Volk belei- digt wird! Angegriffen wurde ein Gesetz der Fidesz-Regie- Was mir aufgefallen ist: Die „Außensicht“ ist anders als die rung, gegen das auch in Ungarn opponiert wird. Aber dass „Innensicht“. Ausländische Beobachter und auch Ungarn, sich Ungarn „beleidigt“ fühlen könnten, weil man gerade die im Ausland leben oder länger dort gelebt haben, sehen ihnen, die als erste die Mauer geöffnet und die Demokratie das Land oftmals kritischer als die „Ungarn in Ungarn“. eingeführt haben, ein „undemokratisches“ Gesetz zutraut, Ein Beispiel geben die Parlamentswahlen vom scheint nicht „aus der Luft gegriffen“ zu sein. April 2010: Das Wahlergebnis wurde in den Auslands- medien –besorgt – als „Rechtsruck“ registriert.41 Die große Ungarn fühlen sich leicht missverstanden. Sie haben Mehrheit der Ungarn, die für die konservative Fidesz ge- eine Sprache, die „keiner“ versteht. Sie waren in der stimmt hatte, schöpfte Hoffnung; sie erwartet von der Ór- Geschichte immer wieder starken Einflussnahmen von ban-Regierung bessere Lebensverhältnisse. Die sozialisti- außen ausgesetzt: in der Türkenzeit, unter den Habs- sche Vorgängerregierung gilt als korrupt und hat sich durch burgern, im Bündnis mit Hitler und mit der Sowjet- die Lügenrede Ference Gyurcsánys diskreditiert.42 union. Sie sehen sich als „Opfer“, gedenken der Nieder- lagen und denken weniger darüber nach, inwieweit sie Weniger Sorgen scheinen sich die Fidesz-Wähler dar- vielleicht selbst dazu beigetragen haben. Die Neigung über zu machen, dass Victor Órban seinen Wahlsieg zur „Innensicht“ resultiert –in meinen Augen –aus als „Revolution“ feiert und für Fidesz eine dauerhafte den Erfahrungen der Vergangenheit. Machtposition in einem „Ein-Parteien-System“ voraus- sieht. Zumindest für „ausländische Ohren“ klingt das Die Republik Ungarn ist heute ein anerkanntes, gleichbe- sehr befremdlich. Auch dass die rechtsradikale Jobbik in rechtigtes Mitglied der Europäischen Union. Es kann in der Wählergunst kontinuierlich zugenommen hat und Eintracht mit seinen Nachbarn leben und lebt in Eintracht nun erstmals und gleich mit 47 Mandaten ins Parla- mit seinen nicht-magyarischen Minderheiten. Sie genießen ment einzog, scheint Ungarn kaum zu „erschrecken“. Minderheitenrechte, die –weit mehr als die Magyarisie- Man beruhigt sich damit, den Stimmengewinn von rungsversuche der Vergangenheit –dazu beitragen, dass sie Jobbik dem Versagen der Sozialisten zuzuschreiben, sich Ungarn zugehörig fühlen. und geht davon aus, dass sich die in sich zerstrittene Ungarn ist ein attraktives Land, für seine vielen Partei ohnehin nicht lange halten kann. Gaststudenten und Gastdozenten wie auch für ausländische Investoren. Viele leben mit ihren Familien in Ungarn, auch Ungarn reagieren „empfindlich“ auf Kritik von außen, ganz viele Deutsche. Sie fühlen sich in Ungarn wohl und sie ler- besonders, wenn sie von so „prominenten“ Emigranten wie nen sogar die magyarische Sprache, die so lange als „unlern- dem Nobelpreisträger Imre Kertész kommt oder von Paul bar galt. Lendvai, der in seinem gerade erschienenen Buch „Mein Ungarn kann sich –vielleicht zum ersten Mal in sei- verspieltes Land“,43 Ungarn vor einem neuen „Totali- ner wechselvollen Geschichte – als „ganz normaler Staat“ tarismus“ warnt, den er aufziehen sieht. fühlen, was den Magyaren selbstverständlich nicht die „Ein- Victor Órban hat in einer erregten Debatte die zigartigkeit“ ihrer Herkunft nimmt, auf die sie stolz sind scharfe Kritik am ungarischen Mediengesetz aus den Reihen und die auch von „Außenstehenden“ mit Sympathie geach- des Europäischen Parlaments mit den Worten zurückgewie- tet wird.

41 Hierzu insbesondere auch Karin Bachmann: Seismograph Ungarn. Die Rechte, die Wahlen und die Folgen. In: Osteuropa, 60 (Juni 2010) 6, S. 13–18. 42 Der damalige sozialistische Ministerpräsident hatte in einer geschlossenen Parteisitzung zugegeben, das „ungarische Volk“ mit Blick auf die katastrophale Haushaltslage belogen zu haben. Als die Rede bekannt wurde, kam es 2006 zu anhaltenden Protestdemonstrationen. 43 Paul Lendvai: Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch. Salzburg 2010.

Einsichten und Perspektiven 1 | 11 71 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Publikationen der Landeszentrale zu den Schwerpunktthemen dieser Ausgabe

Geschichte des modernen Tschechien Europa Bayern – Eine Nachbarschaftskunde Ideen, Institutionen, Königreich und Freistaat für Deutsche Vereinigung

507 Seiten, 2000 236 Seiten, 2008 750 Seiten, 2010 (A 95)

Wandzeitung: Neues EU-Mitglied Ungarn

2004 (700504)

Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen. Praterinsel 2, 80538 München, Fax: 089 - 21 86 - 21 80, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de Ein kostenloses Abonnement von Einsichten und Perspektiven können Sie innerhalb Bayerns unter folgender Internetadresse bestellen: http://192.68.214.70/blz/publikationen/bestellung/eup_abo.aspx.