Politik

Gewerkschafter im In der Regierung und in der Opposition

Rund ein Drittel der Abgeordneten im Bundestag sind Mitglied einer DGB-Gewerkschaft. Weder bilden sie einen monolithischen Block noch ein einheitliches Lager. Aber die Konstellation zwischen SPD, Linkspartei und Arbeitnehmern in der CDU/CSU-Fraktion könnte den politischen Spielraum für die Gewerkschaften vergrößern.

Von Herbert Hönigsberger

Der Autor arbeitet als Sozialwissenschaftler und Politikberater in Berlin.

Die Fotos zeigen die 14 haupt- . Nach jeder Bundestagswahl fahnden Medien und gliederlisten unterschiedlich. Die Öffentlichkeit ist auf das amtlichen Gewerkschafter im Unternehmerverbände nach den Abgeordneten mit Ge- angewiesen, was die Abgeordneten im maßgeblichen Volks- Bundestag, mit denen der Autor werkschaftsbuch. Der DGB und die Einzelgewerkschaften handbuch Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, dem gesprochen hat. Die Sternchen müssen sich dabei regelmäßig des Verdachts erwehren, „Kürschner“, offenbaren. Darin bekennen sich 178 der hinter dem Namen zeigen – wie im Bundestag gäbe es einen starken, zentral gesteuerten insgesamt 614 Mitglieder des Bundestages zu einer DGB- im „Kürschner“ – die Zahl der „Gewerkschaftsblock“. Neu ist der Vorwurf nicht. Schon Gewerkschaft. Die Selbstauskünfte einiger Abgeordneter Wahlperioden. 1957 sah sich ein Autor in den „gewerkschaftlichen Mo- wecken zudem leise Zweifel. So behaupten einige, immer natsheften“ genötigt, darauf hinzuweisen, dass es „vor- noch Beiträge an die ÖTV, HBV oder die Gewerkschaft eilig“ sei und „die Realität nicht treffen“ würde, „wenn Bau-Steine-Erden (IG BSE) zu entrichten. Strammes Ge- von einem einheitlichen ‚Gewerkschaftsblock‘ oder ‚Ge- werkschaftertum jedenfalls signalisiert das nicht. werkschaftsflügel‘ gesprochen würde“. Und heute? „Es Die tatsächlichen Zahlen sind höher als im „Kürsch- gibt weder einen DGB-Block noch gemeinsame Positio- ner“ ausgewiesen. So kennt die Redaktion des DGB-Infor- nen der Funktionäre und Mitglieder zu den großen He- mationsdienstes „einblick“ rund 40 Gewerkschaftsmit- rausforderungen unserer Gesellschaft. Wer einen mono- glieder mehr als der „Kürschner“ – und Wolfgang Pege, lithischen Block unterstellt, weiß nicht um die Wirklich- der ausgewiesene Fachmann, auf dessen Recherchen auch keit“, sagt Ex-Arbeitsminister . Der muss das „Datenhandbuch des Deutschen Bundestages“ zurück- es schließlich wissen. greift, weiß von weiteren zehn. Ein realistischer Näherungs- Doch wie viele Gewerkschafter sitzen überhaupt im wert für die 16. Wahlperiode sind 221 Abgeordnete mit Bundestag? Ihre genaue Zahl zu ermitteln ist gar nicht so DGB-Gewerkschaftsbuch. Das entspricht 36 Prozent aller leicht. Die meisten Fraktionen sperren sich gegen Auskünf- Abgeordneten, so viel wie in den vier Jahren zuvor und te, und die Einzelgewerkschaften verfahren mit den Mit- ein Anteil ähnlich wie während der 60er Jahre.

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Walter Riester** Andreas Steppuhn* Anton Schaaf** Franz Thönnes****

„Die Wirklichkeit wahrzunehmen, „Opposition ist Mist. Beim Ver- „Mir ist lieber, dass Sozialdemo- „Mit der größte Erfolg der wie sie sich radikal verändert: – treten der Arbeitnehmerinteressen kraten verantwortlich sind in Koalitionsverhandlungen ist: Die das vermisse ich bei Teilen von sind mir die Wege erst mal egal.“ diesem Lande als andere.“ Tarifautonomie bleibt gewahrt.“ Politik und Gewerkschaft.“

62, Fliesenleger, bis 1998 Zweiter 44, Stahlbetonbauer, hauptamtli- 44, Maurer, Mitglied bei ver.di und 51, Industriekaufmann, Mitglied Vorsitzender der IG Metall, Bun- ches Mitglied im Bundesvorstand seit 2000 Betriebsratsvorsitzender der IG BCE, bis 1994 Geschäftsfüh- desminister a. D. der IG BAU der Mülheimer Entsorgungsgesell- rer der IG CPK, parlamentarischer schaft mbH Staatsekretär beim Bundesministe- rium für Arbeit und Soziales

Eine DGB-Mehrheit gab es nie. Selbst in der legendären auf ein Viertel. Nur in zwei der fünf Fraktionen gibt es ei- 7. Wahlperiode von 1972 bis 1976 waren 49 Prozent der ne Mehrheit gewerkschaftlich Organisierter. Wenig über- Parlamentarier Mitglied einer DGB-Gewerkschaft und raschend sind auch die Kräfteverhältnisse der Gewerk- damit ganz knapp in der Minderheit – der Anteil war zu- schaften untereinander. Im Bundestag dominieren die Ge- gleich der höchste aller Zeiten. Zusammen mit den Mit- werkschaften des öffentlichen Dienstes: Auf ver.di, die gliedern von CGB, Beamtenbund und kleineren Verbänden Lehrergewerkschaft GEW und die Polizeigewerkschaft waren damals immerhin 54 Prozent der Abgeordneten GdP entfallen 66 Prozent der organisierten Bundestags- Teil eines fiktiven Arbeitnehmerflügels. mitglieder, auf die klassischen Industriegewerkschaften IG Metall und IG BCE knapp 30 Prozent. Über den Einfluss der Gewerkschaften im Parlament In zwei Fraktionen ist die Mehrheit hat freilich noch nie die pure Masse entschieden. Politik gewerkschaftlich organisiert machen Personen, die persönliches Ansehen und Glaub- würdigkeit einbringen – Vorstände, Hauptamtliche, die Von den DGB-Gewerkschaftern im aktuellen Bundestag ihrer Gewerkschaft besonders verpflichtet sind, Gewerk- konzentrieren sich 73 Prozent (161 Abgeordnete) auf die schafter, die in Parlament und Regierung an Schalthebeln SPD-Fraktion: Die Linke stellt 16 Prozent (36 Abgeord- platziert sind. Doch gerade mal um die 30 Hauptamtli- nete) – die restlichen elf Prozent verteilen sich auf die che sitzen im Parlament – fast die Hälfte sind oder waren Grünen (13 Abgeordnete), die CDU (10) und die FDP (ein Funktionäre oder freigestellte Betriebsräte der IG Metall. Abgeordneter). Damit sind noch immer fast drei Viertel der Die ranghöchsten Gewerkschafter im aktuellen Bundes- SPD-Fraktion Mitglied einer DGB-Gewerkschaft, in der tag sind der ehemalige zweite Vorsitzende der IG Metall, Linksfraktion sind es zwei Drittel, die Grünen kommen Walter Riester, und Andreas Steppuhn, hauptamtliches Z

Mitbestimmung 4/2006 49 Politik SPD-Fraktion

Josip Juratovic* * Klaus Brandner*** *

„Als Strategie zu lancieren, wir „In der letzten Periode hat es „Die Novelle der Betriebsverfassung „Die PDS hat ihre Seele zugunsten sind für eine gerechte Umvertei- Gewerkschafter und Sozialdemo- war eine große Reform. Sie bleibt, einiger Leute verkauft, die politisch lung, reicht heute nicht mehr.“ kraten innerlich zerrissen.“ wie sie ist.“ abgeschrieben waren.“

47, Kfz-Mechaniker, Mitglied der 41, Beamter, Gewerkschaftssekretär 57, Elektromechaniker, Erster 59 Jahre, Koch, ver.di-Mitglied und IG Metall und bis 2005 Betriebsrat bei Transnet Bevollmächtigter und Geschäfts- bis 2003 Mitglied des Gesamtbe- bei Audi Neckarsulm führer der IG Metall Gütersloh triebsrats der Mitropa AG

Z Mitglied des IG-BAU-Bundesvorstandes. Zwei Hauptamt- im Bundestag saß, war Klaus Wiesehügel von der IG BAU. liche, die es weit gebracht haben, sind die beiden parla- Er schied 2002 aus dem Parlament aus. mentarischen Staatssekretäre im Ministerium für Arbeit Wiesehügel ist ein Exempel für die Dialektik von Äm- und Soziales: , der frühere Sekretär beim terzuwachs und Machtverlust. Womöglich haben die Vor- Hauptvorstand der IG CPK, der Vorläuferorganisation der sitzenden gelernt, dass das Bundestagsmandat ihre Durch- IG BCE, und Franz Thönnes, der für diese Gewerkschaft setzungskraft eher mindert und kaum zusätzliche Gestal- Bezirkssekretär und hauptamtlicher Geschäftsführer in tungsmöglichkeiten zu gewinnen sind. Jedenfalls begnügen Hamburg war. Gewerkschaftsmitglieder laut „Kürschner“ sich selbst die Gewerkschaften aus den staatsnäheren Bran- sind auch die Minister Gabriel, Müntefering, Schmidt, chen und mit höherem politischem Interventionsbedarf Steinbrück, Wieczorek-Zeul und Zypries. mit weniger Vorstandspräsenz im Parlament als früher. Doch das ist kein Vergleich zum machtpolitischen Gewerkschaftsfunktionären, die heute über die SPD in Höhepunkt während der sozialliberalen Koalition in der den Bundestag wollen, werden keine Girlanden mehr ge- 7. Wahlperiode, in der unter anderem das 76er Mitbe- flochten. Sie müssen sich Autorität und Ansehen in örtli- stimmungsgesetz verabschiedet wurde. Zwei amtierende chen Parteistrukturen erarbeiten wie alle anderen. Und die Vorsitzende saßen damals im Plenum – Adolf Schmidt für Machtkonstellationen von der lokalen Kür der Kandidaten die IG BE, und Philipp Seibert für die Eisenbahnergewerk- bis zur Besetzung von Posten in den Fraktionen sind für schaft GdED – dazu drei ehemalige: Heinz Frehsee für die eine zentrale Steuerung aus den Gewerkschaftszentralen Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft viel zu komplex. Auch die Verhältnisse im DGB selbst und (GGLF), Georg Leber, bis 1966 IG-BSE-Chef, und Walter zwischen den Einzelgewerkschaften sind so diffizil, dass Arendt, der frühere Vorsitzende der IG BE. Zusätzlich eine systematische Verständigung über die strategische Plat- drückten zwei Vorsitzende in spe schon die Bundestags- zierung von Kandidaten schwer fällt. Anrufe, wie früher bänke, der Eisenbahner Ernst Haar und der Chemie-Ge- bei Brandt und Vogel, funktionieren auch nicht mehr. Da werkschafter Hermann Rappe. Leber und Arendt waren ist die WASG übersichtlicher. zugleich auch Minister, wie auch Kurt Gscheidle, der zu- So schälen sich bei SPD und Linksfraktion zwei Grund- vor stellvertretender Vorsitzender der Postgewerkschaft muster des Marsches durch die Institutionen heraus. Lang- war. Der letzte Vorsitzende einer Einzelgewerkschaft, der jähriges Engagement in den Kommunen, oft auch in der

50 Mitbestimmung 4/2006 Arbeiterwohlfahrt, wie es 60 Prozent der SPD-Abgeord- drängen sich in der Opposition geradezu auf. Die Sozial- neten vorweisen können, gehört zur sozialdemokratischen demokraten allerdings dürften diese Entlarvungsversuche Ochsentour, der sich auch Gewerkschafter wie Volker Blu- auf Dauer nicht als Beitrag zu gemeinsamer Interessen- mentritt, Martin Burkert oder Anton Schaaf unterzogen vertretung deuten. haben. Gewerkschafter in der Linksfraktion, wie den Düs- Die Logik der Politik, des allgemeinen Interessenaus- seldorfer IG-Metall-Funktionär Hüseyin-Kenan Aydin gleichs, mit der Logik der Vertretung besonderer Interessen oder den ehemaligen Thüringer DGB-Vorsitzenden Frank in Einklang zu bringen war ohnehin seit jeher ein Pro- Spieth dagegen haben Widersprüche zwischen Gewerk- blem aller Gewerkschafter, die die parlamentarische Bühne schaftsprogrammatik, betrieblichem Alltag und sozialde- betreten haben. Das Mandat zur Interessenvertretung mokratischer Regierungspraxis in die Gründung der WASG stammt von den Mitgliedern, das Mandat im Bundestag hinein, manche auch aus der Sozialdemokratie heraus ge- stammt vom Volk. Abgeordnete sind laut Artikel 38 GG trieben. Die DGB-Regionsvorsitzende Sabine Zimmer- Abgeordnete des ganzen Volkes. Gewerkschafter vertreten mann saß noch 2004 für die SPD im sächsischen Landtag, die Interessen eines Teils. Als Interessenvertreter speisen sie der IG-Metall-Bevollmächtigte war 30 Jahre besondere Interessen in den politischen Prozess ein. Als Teil in der SPD. Für viele sozialdemokratische Gewerkschaf- der politischen Klasse gleichen sie diese besonderen Inte- ter ist der Weg in den Bundestag zwingende und folgerich- ressen mit anderen ab, schreiben sie in einem Kompromiss tige Fortsetzung ihres Engagements in Gewerkschaft und fest und verteidigen das Resultat. Man steht als Interes- Kommunalpolitik. Für die Gewerkschafter der WASG ist senvertreter quasi sich selbst als Volksvertreter gegenüber. der Weg in die Linksfraktion oft ein massiver Bruch mit Die alten Hasen Brandner, Thönnes oder Romer haben je- der eigenen politischen Vergangenheit und der Versuch, der für sich einen Pfad entdeckt, auf dem sie diese konträ- an einer konsistenten Biografie zumindest als Gewerk- ren Logiken ausbalancieren können. Die Neuen fahnden schafter festzuhalten. Andere, wie Ulla Lötzer, haben schon noch nach einem Weg. früher für die PDS optiert. Die konträren Biografien und Wege ins Parlament erklä- ren das teilweise abgrundtiefe Misstrauen, die Bitterkeit, Die Koalitionäre suchen die gerade zwischen den Gewerkschaftsmitgliedern der nach Gemeinsamkeiten Linksfraktion einerseits und der SPD-Fraktion andererseits herrscht. Da werfen sich die Kontrahenten im Hinter- Mehr als ein fiktiver Gewerkschaftsblock über die Regie- grundgespräch wechselseitig Verrat an der Gewerkschafts- rungs- und Oppositionsgrenzen hinweg lockt pragmati- programmatik und der Einheit der Arbeiterbewegung vor. sche SPD-Gewerkschafter die Chance auf einen realen Ar- Da wird an lange zurückliegende und jüngst vergangene beitnehmerflügel in den Regierungsfraktionen. Allerdings Z Geschichte erinnert: Utopismusvorwurf hier, Opportunis- musverdacht dort. Die politische Konkurrenz verschärft die Tonlage zusätzlich. Doch wurde der Metaller und Audi-Betriebsrat auch schon mal im eige- nen Verbandsorgan des Neoliberalismus verdächtigt. Trotz Unterschiedlich starke Bande alledem grüßt man sich in den Fluren des Reichstages, spricht in den Ausschüssen miteinander, hält man in Abgeordnete im 16. Deutschen Bundestag Sachfragen gemeinsame Aktivitäten für möglich, ja kann in absoluten Zahlen sich sogar vorstellen, unter Regie des DGB gewerkschaft- Fraktionen Abgeordnete davon Mitglieder in liche Strategien zu Einzelthemen zu besprechen. einer DGB-Gewerkschaft Doch ein Gewerkschaftsblock sieht so nicht aus. Die Konstellation im Parlament hilft auch nicht, Gräben zuzu- CDU/CSU 226 10 schütten. Die SPD-Gewerkschafter vertreten soziale Inte- SPD 222 161 ressen in der Regierungskoalition, die der Linkspartei in der FDP 61 1 Opposition. Kalküle in der Linkspartei, die SPD und ihre Die Linke 54 36 Gewerkschaftsabgeordneten durch Anträge in Glaubwür- Bündnis 90/Die Grünen 51 13 digkeitsnotstände zu bringen, die Gewerkschaftsprogram- 614 221 matik eins zu eins in Bundestagsanträge zu übersetzen, Quelle: Kürschner, eigene Recherche

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Fraktion Die Linke

Frank Spieth* Sabine Zimmermann* Ulla Lötzer** Klaus Ernst* Hüseyin-Kenan Aydin*

„1998 bestand im Osten die „Ich bin nicht aus der SPD „Wir brauchen Mitbestimmung „Der neoliberale Regierungskurs „Die Gewerkschaften haben Hoffnung, die Situation zu drehen. ausgetreten, sondern die SPD hat für Beschäftigungssicherung und hat die Durchsetzungsfähigkeit geglaubt, sich gegen die Agenda Eine große Enttäuschung war, mich verlassen. Und sie hat ihre eine Genehmigungspflicht für der Gewerkschaften geschwächt.“ 2010 mit Gesprächen mit der dass das nicht geschah.“ Wurzeln verloren.“ Massenentlassungen.“ Regierung durchsetzen zu können.“

59, Technischer Zeichner, bis An- 45, Baustofftechnologin, Vorsit- 56, Buchhändlerin und Betriebs- 52, Elektrotechniker, Erster 43 Jahre, Stranggießer, seit 2003 fang 2006 DGB-Landesvorsitzender zende der DGB-Region wirtin, ver.di-Mitglied und Bevollmächtigter der IG Metall Gewerkschaftssekretär der IG Thüringen Vogtland/Zwickau Gewerkschaftssekretärin Schweinfurth Metall Düsseldorf

Z sind die Abgeordneten mit Gewerkschaftsbuch auch da antagonistische Kooperation, über Verhandeln und Kom- mit 38 Prozent eine Minderheit. Selbst zusammen mit promiss in Konstellationen struktureller Dauerkonfron- rund 50 Abgeordneten aus CGB, DBB etc. werden es nicht tation und darüber wie man gemeinsam mit Konfliktpart- mehr als 49 Prozent. Das ist etwas mehr als zu Zeiten der nern Win-win-Situationen erzeugt. Über vergleichbare ersten großen Koalition. Erst wenn man die zahlreichen Erfahrungen aus dem gesellschaftlichen Alltag verfügen CDA- und CSA-Mitglieder ohne irgendeine gewerkschaft- längst nicht alle Abgeordneten. Urplötzlich kommt dieses liche Bindung hinzurechnet, ergibt sich rechnerisch eine Know-how der Großen Koalition zugute. So wird allent- Mehrheit für einen Arbeitnehmerflügel. Von den großen halben spekuliert, ob sich der Ausschuss für Arbeit und Arrangements und historischen Kompromissen, die die Soziales zusammen mit dem Haus des Vizekanzlers zu ei- neue Koalition bewerkstelligen könnte, sind viele Gewerk- nem Hort der Arbeitnehmerinteressen entwickeln kann. schafter in der SPD fasziniert. Es lassen sich aber auch Von den 36 Mitgliedern des Ausschusses sind 16 in einer nüchterne Gründe für die großkoalitionäre Präferenz an- DGB-Gewerkschaft, darunter vier Hauptamtliche: Klaus führen. Die Sicherung und Stabilisierung von Betriebsver- Brandner, Anton Schaaf und Andreas Steppuhn für die fassung und Mitbestimmung, wie Klaus Brandner, Franz SPD, Werner Dreibus für die Linkspartei. Zehn Gewerk- Thönnes und andere betonen, das Aus für ein neolibera- schafter gehören der SPD an, einer der CDU. Auch alle les Projekt vom Zuschnitt von Schwarz-Gelb. drei Ausschussmitglieder der Linkspartei und zwei der Vor allem den hauptamtlichen Gewerkschaftern hilft, Grünen sind Gewerkschaftsmitglieder. Je ein Abgeordne- was sie über den Alltag in Betrieben, Städten und Familien ter von CDU und SPD ist Mitglied im Beamtenbund, und wissen. Ihre Erzählungen stecken voller Einsichten über ein CSUler kommt vom CGB. Neun weitere CDU/CSU-

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Franz Romer*****

Fraktionen, gibt den Mai-Empfang und bietet den „Sup- pentermin“ für Mitarbeiter der Parteien und Fraktionen an. Die Einzelgewerkschaften laden zu parlamentarischen Abenden ein. Die SPD-Fraktion organisiert umgekehrt Be- triebsratskonferenzen. Aber auch die AfA-Treffen dienen der Verständigung. Immerhin sitzt der Vorstand dieser SPD-Arbeitsgemeinschaft zu dritt in der Fraktion. Viele Gewerkschaftsabgeordnete organisieren sich in der par- lamentarischen Linken der SPD. Die Art der Vernetzung erinnert an klassischen Lob- „Das Klima im Ausschuss für byismus. Und in der Tat: Die Gewerkschaften sind auf dem Arbeit und Soziales ist gut.“ Weg zu einem normalen Interessenverband, der allerdings noch von seinen traditionellen Positionen im Korporatis- mus der Bundesrepublik zehrt. Doch selbst die mythische Beziehung zwischen Gewerkschaften und Sozialdemo- 64, Mechaniker, Mitglied der IG kratie unter dem Dach der Arbeiterbewegung verwandelt Metall und der CDA, bis 1998 sich in normale, wenngleich besonders intensive Lobby- Betriebsratsvorsitzender der kontakte. Die Gründe sind nicht nur Mitgliederschwund Lindenmaier AG in Laupheim und Machterosion, sondern auch eine stärkere Ausdif- ferenzierung der Aufgaben von Parteien und Interessen- vertretung und mehr spezialisierte Professionalität auf beiden Seiten. Die erfahrenen Lobbyisten der Gewerkschaften wissen, Vertreter kommen von CDA und CSA. Die personifizier- dass der Kontakt zu den maßgeblichen Fachabgeordne- te Schnittmenge ist Franz Romer, CDU, Ex-Betriebsrat, ten, zu den Vorsitzenden der Ausschüsse, die bei interes- IG-Metall- und CDA-Mitglied. sierenden Gesetzen federführend sind, entscheidender ist als der Rückgriff auf einen minoritären Gewerkschafts- block. Immer noch kommt es für gewerkschaftliche Inte- Mehr spezialisierte Professionalität ressenvertretung auf eine Mehrheit von Abgeordneten des Regierungslagers an. Umgekehrt zwingt die neue Konstel- Erstmals seit 40 Jahren regiert eine große Koalition – und lation auch die Kanzlerin, ihre Beziehungen zu den Ge- erstmals seit dem Verschwinden der KPD sitzen wieder zwei werkschaften zu prüfen. Über schlechtere Kontakte als zu Fraktionen im Bundestag, die ihr Verhältnis zu den Ge- Schröder beklagt sich niemand. Wohl dosiert allerdings werkschaften von links her definieren: Gewerkschafter im könnte auch ein abgeklärtes Bandenspiel nicht nur einige Regierungslager und in der Opposition. Für DGB und Ein- Gewerkschaftsabgeordnete, sondern auch die Strategen in zelgewerkschaften bieten diese neuen Konstellationen eine den Gewerkschaftszentralen reizen. Hinweise in parlamen- beträchtliche Erweiterung des Handlungsspielraums. Die tarischen Drucksachen der Opposition, dass es auch anders Vorsitzenden jedenfalls touren in diplomatisch wohlgeord- geht, als es aus den Ministerien kommt, könnten den Ko- neter Abfolge durch Fraktionsvorstände und Fraktionen. alitionsgewerkschaftern mitunter durchaus weiterhelfen. . Die DGB-Spitze frühstückt regelmäßig mit gewerk- schaftlich interessierten Abgeordneten der SPD-Fraktion, Fotos: Aktion Mensch, CDU, Deutscher Bundestag, Lissy Gröner, Linkspartei, sie führt den „Sozialen Dialog Berlin“ mit Mitgliedern aller picture alliance, plhage, privat, SPD

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