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Ästhetik des Gemachten

Ästhetik des Gemachten

Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung

Herausgegeben von Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina und Jan-Noël Thon Wir danken der VolkswagenStiftung für die großzügige Förderung des Symposiums „Zur Ästhetik des Gemachten in Animation und Comic: Interdisziplinäres Symposium deutschsprachiger Animations- und Comicforschung“ (9. bis 11. November 2016 im Tagungszentrum der VolkswagenStiftung, Schloss Herrenhausen, Hannover) sowie des vorliegenden Bandes, der ausgewählte Symposiumsbeiträge dokumentiert.

ISBN 978-3-11-053871-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053872-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053887-8

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution- NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.

Library of Congress Control Number: 2018956511

Bibliografische der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com.

Einbandabbildung: © Julia Eckel Erstellung der Druckvorlage: Jan-Noël Thon Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhalt

Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina, Jan-Noël Thon Zur Einführung: Ästhetik des Gemachten ! 1

Malte Hagener Digital/digitus: Die Geste in den -Animationsfilmen ! 11

Matthias C. Hänselmann Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes: Produktive und rezeptive Dimensionen von Materialität und Materialtransparenz im Film ! 27

Jaqueline Berndt Hand in Hand: Kouno Fumiyos Mangaserie Kono sekai no katasumi ni (In This Corner of the World) im Vergleich zur -Adaptation durch Katabuchi Sunao ! 53

Nicola Glaubitz Der Prozess als Performance: Zur Geschichte des Schnellzeichnens ! 85

Lukas R.A. Wilde Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz: Zu den medienwissenschaftlichen Potenzialen des japanischen kyara-Begriffs ! 109

Christina Meyer „Noch besser, bunter und mehr davon“: Comicproduktion und Comicästhetik im 19. Jahrhundert ! 151

Nina Heindl Opazität und Transparenz: Überlegungen zum poietischen Potenzial in Chris Wares und Animationen ! 177

Bettina Papenburg Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus für bildgebende Verfahren und digitale Animationen in den Lebenswissenschaften ! 203 VI 1 Inhalt

Maike Sarah Reinerth Entirely (Self-)Made Up! Animierte Imaginationsdarstellungen in Realspielfilmen ! 231

Christine Gundermann Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird ! 257

Jeff Thoss Der Comic als Archiv der Populärkultur: und Kevin O’Neills ‚Materialsammlung‘ Black Dossier ! 285

Andreas Rauscher Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise und die Gemachtheit von Gotham City ! 305

Personenregister L 335

Werkregister L 341

Autor_innenverzeichnis L 345

Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina, Jan-Noël Thon Zur Einführung

Ästhetik des Gemachten

Abstract: In dieser Einführung zum Sammelband Ästhetik des Gemachten: Inter- disziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung fragen die Heraus- geber_innen nach produktiven Schnittmengen zwischen Animations- und Co- micforschung mit Blick auf die je spezifische Qualität, Materialität und Ästhetik von Animation und Comic.

Zur Medienästhetik von Animation und Comic

Animation und Comic weisen in ihren Ästhetiken offenkundige Parallelen auf, denen jedoch bislang in der jeweils einschlägigen Forschung kaum angemessene Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Beide basieren auf künstlerischen Praktiken, die unter Einsatz spezifischer Techniken Bilder generieren, welche wiederum die- se Techniken ihrer Entstehung in einer besonderen Art und Weise mit-ausstellen. So verweisen die gezeichneten Linien des Comics oder des Cartoons auf den Akt des Zeichnens selbst, die Knetfiguren im Stop-Motion-Animationsfilm auf den Akt ihrer händischen (Ver-)Formung oder die hyperrealistischen, überhöhten Fi- guren des Superheld_innen-Comics und VFX-Kinos auf ihren Status als Arte- fakte. Animation und Comic erscheinen dabei – im Vergleich etwa zu Fotografie oder Realfilm – als grafische, ‚handgemachte‘ Medienformen, die die Künst-

 Dr. Hans-Joachim Backe, IT University of Copenhagen, Center for Computer Games Research, Rued Langgaards Vej 7, 2300 Copenhagen, E-Mail: [email protected] Dr. des. Julia Eckel, Ruhr-Universität Bochum, Institut für Medienwissenschaft, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, E-Mail: [email protected] Dr. Erwin Feyersinger, Eberhard Karls Universität Tübingen, Institut für Medienwissenschaft, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen, E-Mail: [email protected] Dr. Véronique Sina, Universität zu Köln, Institut für Medienkultur und Theater, Meister-Ekkehart-Str. 11, 50937 Köln, E-Mail: [email protected] Dr. Jan-Noël Thon, University of Nottingham, Department of Cultural, Media and Visual Studies, Trent Building, University Park, Nottingham NG7 2RD, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 H.-J. Backe, J. Eckel, E. Feyersinger, V. Sina, J.-N. Thon, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-001

2 G Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina, Jan-Noël Thon lichkeit ihrer Entstehung tendenziell stärker offenlegen und dadurch besonders eindrücklich reflektieren. Diese Thematisierung der eigenen Gemachtheit bildet den Hauptgegenstand des vorliegenden Bandes, in dessen Rahmen die Paralle- len, Schnittstellen und Unterschiede herausgearbeitet werden, die sich im Kon- text von Animations- und Comicforschung im Hinblick auf die analytische, äs- thetische und methodische Erfassung ihrer jeweiligen Gegenstände ergeben. Wie lässt sich also die spezifische Qualität, Materialität und Ästhetik von Animation und Comic wissenschaftlich erfassen? Wie gehen Comicforscher_innen und Ani- mationsforscher_innen aus unterschiedlichen Disziplinen mit dieser besonderen Beschaffenheit ihrer Gegenstände um? Welche Themen und Konzepte werden ak- tuell innerhalb der Forschungsfelder im Hinblick auf die genannte Fragestellung bearbeitet und sind dabei produktive Kontaktpunkte auszumachen? Visuelle und audiovisuelle Medien ermöglichen es auf vielfältige Arten in- dexikalische und ikonische, (hyper)realistische und abstrahierende Bilder zu ge- nerieren; gleichzeitig aber sind sie – gerade im narrativen Kontext – meist darum bemüht, sich selbst als mediales Setting möglichst ‚unsichtbar‘ zu machen. Diese Ambivalenz gilt dabei grundsätzlich für Fotografie und Realfilm ebenso wie für Comic und Animation – allerdings mit tendenziell medienspezifisch variierender Gewichtung. So ist das Spannungsverhältnis von Transparenz und Opazität für Animation und Comic ein umso symptomatischeres, bewegen sich doch beide aufgrund ihrer spezifischen, eben nicht oder nur partiell fotorealistischen Visua- lität besonders eindrucksvoll auf dem schmalen Grat zwischen Illusionsschaf- fung und deren Bruch.1 Die „graphische Sprache“ (Groensteen 1988, 4) beider Medien bzw. ihre „self-evident principles of construction“ (Wells 1998, 25) lenken unweigerlich die Aufmerksamkeit auf ihren künstlerischen Herstellungsprozess und damit ebenfalls auf den artifiziellen Status ihrer Bilder und derer Inhalte. So ermöglichen beispielsweise die Repräsentationslogiken des Comics und des Zeichentrickfilms die Kombination verschiedener Zeichenstile sowie die Va- riation unterschiedlicher Realismus- und Abstraktionsgrade innerhalb eines Werkes oder sogar innerhalb eines einzelnen Panels bzw. einer einzelnen Einstel- lung. Und obwohl keineswegs von einem einheitlichen bzw. einzigen, konse- quent durchgehaltenen Comic- oder Cartoon-Stil die Rede sein kann, sind Zei-

JJ 1 In diesem Zusammenhang ließe sich auch grundsätzlicher auf die darstellungstheoretische Diskussion um die ‚Transparenz‘ und ‚Opazität‘ von (fotografischen vs. nicht-fotografischen) Bil- dern (vgl. z.B. Currie 1991; Friday 1996; Walton 1984), auf die von Jay David Bolter und Richard Grusin im Rahmen der „double logic of remediation“ (2000, 5) beschriebenen Strategien der im- mediacy und hypermediacy sowie auf das aus verschiedenen Perspektiven theoretisierte Wech- selspiel von Immersion und Immersionsbruch in verschiedenen Medien (vgl. z.B. Curtis 2008; Thon 2008; Wolf 1993) verweisen.

Zur Einführung G 3 chenstile im Allgemeinen als Formen der (Über-)Codierung und Vereinfachung zu verstehen (vgl. hierzu etwa Furniss 1999 und Feyersinger 2013; sowie McCloud 1994; Sina 2016; Wilde 2018). Im Falle des Comics ist es dabei nicht nur die grafische Qualität, sondern auch das komplexe Zusammentreffen von Bild und Text, das zu einer zwangsläu- figen Offenlegung seines Gemachtseins führt. Denn aufgrund der zahlreichen Kombinationsformen schriftlicher und bildlicher Zeichen handelt es sich beim Comic um ein multimodales, hybrides Medium, welches sein produktives Poten- zial aus der Spannung bzw. dem vielschichtigen Wechselspiel verbaler und pik- torialer Elemente bezieht.2 Zusätzlich ist auch das Verhältnis von Einzelbild und starrer Bildfolge bzw. die von Leerstellen durchzogene sequenzielle Struktur des Comics durch das Zusammenspiel von Einheit und Diskontinuität gekennzeich- net, da die Panelsequenz bzw. die Comicseite durch die gleichzeitige Sukzessivi- tät und Simultanität ihrer Bilder in der Rezeption kontinuierlich zwischen Illusi- onsschaffung und -störung oszilliert. Ähnliche Ausgangsvoraussetzungen gelten für die Animation, deren grund- sätzliche Definition als „medium of expression“ (Wells 1998, 8) vielfach genau an der graduell unterschiedlichen Sichtbarkeit ihrer Illusionshaftigkeit festgemacht wird. So werden animierte Werke meist vom Live-Action-Film unterschieden und entlang eines Kontinuums zwischen hyperrealistischen auf der einen und expe- rimentellen Formen auf der anderen Seite (vgl. Wells 1998, 35–67) bzw. zwischen Realismus und Abstraktion (vgl. noch einmal Furniss 1999; sowie Feyersinger 2013) eingeordnet. Methoden wie Lege- oder Puppentrick, Cel- oder Flash-Anima- tion, Silhouetten- oder Brick-Film, Pixilation oder 3D-Computergrafik bieten da- bei – analog zum Comic – jeweils unterschiedliche Ästhetiken, die wiederum durch unterschiedliche Stile weiter variierbar sind.3 In der Vielfalt ihrer Realisa- tions-Techniken sind Animation und Comic folglich immer auch ein Statement für oder gegen ein anderes mögliches Verfahren der Visualisierung.

JJ 2 So wird der Multimodalität des Comics – vielleicht mehr noch als der nicht weniger gegebenen Multimodalität der Animation – sowohl in frühen Theorieentwürfen (vgl. z.B. Carrier 2000; Gro- ensteen 1999; Peeters 1991) als auch in der gegenwärtigen Comicforschung (vgl. z.B. Cohn 2013; Grennan 2017; Postema 2013; sowie die Beiträge in Abel/Klein 2016; Dunst et al. 2018; Stein/Thon 2015) einige Aufmerksamkeit geschenkt. 3 Für eine Übersicht verschiedener Animationsverfahren vgl. z.B. Reinerth 2013. Als animati- onsspezifische Basisoperationen werden dabei vielfach das ‚In-Bewegung-setzen‘ (vgl. Bruckner et. al. 2016) und die Metamorphose (vgl. Eckel et al. 2018) angesehen. Ein Beispiel für eine ani- mationsspezifische Ästhetik wäre zudem etwa das Morphing (siehe dazu exemplarisch die Bei- träge in Bruckner et al. 2016; sowie Sobchack 2000).

4 G Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina, Jan-Noël Thon

Der Grad der vermeintlichen Realitätsnähe bzw. -ferne und die Abgrenzung vom Live-Action-Film als Maßstab sind dabei ein potenziell produktiver Ver- gleichs- und Kontrastpunkt der animatorischen gegenüber der comicspezifi- schen Gemachtheit. So liefern die verschiedenen Animationstechniken einerseits die Möglichkeit hochgradig abstrakte und artifizielle Bewegtbilder zu generieren, die ihre Künstlichkeit bewusst als solche ausstellen, während auf der anderen Seite – vor allem im Bereich der 3D-Computeranmation – der illusionäre (Nach-) Bau realistisch anmutender Figuren und Settings das Ziel sein kann, deren Arti- fizialität gerade verschleiert werden muss. Während also im Falle des Comics die Künstlichkeit stets Teil seiner medialen Beschaffenheit bleibt, stellt das Hervor- scheinen des Gemachten für die Animation eine ambivalente Herausforderung dar, gilt es sie doch entweder als solche zu betonen und ästhetisch produktiv zu machen oder aber diametral entgegengesetzt in der perfekten Illusion zu über- winden.4 Weil Animation und Comic aber dennoch – aufgrund ihrer spezifischen Her- stellung – vom Anspruch der unmittelbaren bzw. transparenten Darstellung be- freit sind, stellen sie in der illusionären Verschleierung und gleichzeitigen Refle- xion ihrer eigenen Medialität und Materialität das Realitätsversprechen konven- tioneller Repräsentationsformen in Frage. Für Animation wie Comic als Kunst- form gilt somit: „it prioritises its capacity to resist ‚realism‘ as a mode of represen- tation and uses its various techniques to create numerous styles which are fun- damentally about ‚realism‘“ (Wells 1998, 25; Herv. im Original). Gängige, auf Naturalisierung setzende Ästhetiken werden so als artifizielle „Konstruktion[en] von Kohärenz“ sichtbar und erfahrbar gemacht, was letztlich „die Unmöglichkeit einer (ab-)schließenden, eindeutigen und endgültigen Aussage über Realität“ (Lummerding 2011, 335) thematisiert. Animation und Comic ist somit stets eine Ebene der Medienreflexivität inhärent,5 die es möglich macht, traditionelle Wahr-

JJ 4 Besonders interessant ist dieses Spannungsverhältnis z.B. dann, wenn offenkundig fiktive Fi- guren möglichst ‚realistisch‘ inszeniert werden (z.B. im Falle der Haar-Animation der in MONSTERS INC. [2001] oder in Bezug auf die Animation der blauen Na’vi in AVATAR [2009]; vgl. z.B. Giralt 2017; Wagner 2017; Whissel 2014) oder aber wenn diese Ambivalenz der Animation für im weitesten Sinne dokumentarische Zwecke und die Schilderung subjektiven Erlebens oder Erin- nerns verwendet wird (z.B. in RYAN [2004] oder WALTZ WITH BASHIR [2011]; vgl. z.B. DelGaudio 1997; Honess Roe 2013; Thon 2019). Letzteres gilt dabei aber natürlich auch für den Bereich des ‚dokumentarischen‘ Comics (z.B. im Falle von MAUS [Spiegelman 1986; 1991] oder Persepolis [Satrapi 2003; 2004]; vgl. z.B. Adams 2008; Chute 2016; Mickwitz 2015; sowie Heindl/Sina 2018b). 5 Zum Reflexionspotenzial des Comics siehe u.a. die Beiträge in Heindl/Sina 2018a. Zum Ver- hältnis von Materialität und Medienreflexivität der Animation siehe z.B. Tomkowiak 2018.

Zur Einführung G 5 nehmungsmodelle und darstellerische Konventionen auszutesten, aufzubrechen und Wege für experimentierfreudige Repräsentationsformen zu ebnen.6

Zu den Beiträgen im vorliegenden Band

Aus den genannten Gründen erscheinen Animation und Comic – als einerseits omnipräsente mediale Formationen innerhalb gegenwärtiger Medienumwelten und gleichzeitig in hohem Maße abstrahierende Reflektionsinstrumente eben dieser Umwelten – als für die gegenwärtige Medienkultur und -gesellschaft in be- sonderer Weise relevante Phänomene, die einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedürfen. Der vorliegende Band lässt sich als erster Schritt in Richtung eines interdisziplinären Abgleichs beider Medien und der umfassen- deren Etablierung einer intermedial vergleichenden Perspektive verstehen, die innerhalb der Animations- und Comicforschung bislang weitgehend unbeachtete Aspekte der spezifischen Medialität und Ästhetik von Animation und Comic stär- ker in den Fokus der medienwissenschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken ver- spricht. Die Beiträge des Bandes schlagen dabei einen weiten Bogen: von theore- tischer Grundlagenarbeit und werkhistorischen Analysen über Diskussionen des Digitalen und Materiellen im Zusammenhang mit Authentifizierungsstrategien bis hin zu Analysen von selbstreferenziellen ästhetischen Praktiken. Malte Hagener eröffnet den Band mit einem theoretisch ausgerichteten Beitrag, in dem er, auf Agamben aufbauend, die Denkfigur der Geste anhand der PIXAR TITELSEQUENZ (1995) als Alternative zu etablierten Medientheorien der Selbstreferenz vorschlägt. Matthias Hänselmann führt die Theoriebildung fort und entwirft ein Beschreibungssystem für selbstreferenzielle Materialitäten im Zeichentrickfilm. Das Gestische ebenso wie Materialität und Selbstreferenz ste- hen auch in den beiden folgenden Beiträgen im Fokus. So diskutiert Jaqueline Berndt die Verhaftetheit von und Anime im Bereich der Handzeichnung und betont analoger Ästhetik, um dann exemplarisch zu zeigen, wie diese Kon- ventionen durch Darstellungen von Händen im Manga Kono sekai no katasumi ni (In This Corner of the World; Kouno 2008a; 2008b; 2009) explizit gemacht werden.

JJ 6 Die mit der Medialität von Animation und Comic verbundene allgemeine ‚Basis-Reflexivität‘ lässt sich entsprechend von spezifischeren Formen und Strategien der Metareferentialität unter- scheiden (vgl. z.B. den umfassenden Überblick in Wolf 2009), wobei Animation und Comic etwa in besonderer Weise zu metaleptischen Erzählformen neigen (vgl. z.B. Feyersinger 2017; Limoges 2011 zur Animation; Kukkonen 2011; Schuldiner 2002 zum Comic; und aus transmedialer Per- spektive Wolf 2005; sowie Thon 2016; Thoss 2015).

6 G Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina, Jan-Noël Thon

Noch stärker in der Inszenierung von Praktiken verortet ist Nicola Glaubitz’ Ana- lyse der häufig marginalisierten künstlerischen Tradition des Schnellzeichnens, in der sie einen Bogen von Joseph Mallord William Turner über die Anfänge der filmischen Animation bis zu Jackson Pollock schlägt. Die Bewegung hin zu sozi- alen Praktiken wird in Lukas Wildes Untersuchung des kyara Phänomens in Ja- pan vollendet, an dem er Gemachtheit nicht nur in Hinblick auf grafische Kunst, sondern auch im Kontext des Designs sozialer Konventionen thematisiert. Eine stärker an Werksgeschichten, Einzeltexten und einzelnen Comic- und Animationsfilmschaffenden orientierte Gruppe von Beiträgen beginnt mit Chris- tina Meyers Diskussion der Selbstreferenzialitätsstrategien in Outcaults und Luks gattungsbegründenden Funnies. Der anschließende Beitrag von Nina Heindl wendet sich von den Anfängen des Comic-Mediums seiner Gegenwart zu, um am Beispiel von Chris Wares Verschmelzung seines ausgesprochen material- bewussten Stils mit digitaler Technologie nach Schnittmengen zwischen Comic und Animation zu fragen. Bettina Papenburg führt die Beschäftigung mit dem Digitalen fort, wenn sie das Spannungsverhältnis von Computeranimationen und Dokumentarfilm im Bereich des Wissenschaftsfilms erörtert. Eine ähnliche Vermischung von Gattungen diskutiert Maike Sarah Reinerth in ihrem Beitrag zu den ästhetischen Verfahren, die das ‚Handgemachte‘ von Animationssequen- zen in Realfilmen als Indiz individuellen, subjektiven Schöpfer_innentums her- vorheben. Authentifikationsstrategien sind auch der Gegenstand von Christine Gundermanns Text, der sich der historisierenden Beglaubigungsgeste von in Comics integrierten Quellen, Referenzen und Reproduktionen widmet. Dieses Thema setzt sich, wenn auch ironisch gewendet und auf Fiktion bezogen, in Jeff Thoss’ Untersuchung des Archivcharakters und der Simulation von Materialitä- ten in Moore und O’Neill’s The League of Extraordinary Gentlemen (1999; 2003; 2008; 2014) fort. Andreas Rauscher nimmt abschließend eine vergleichbar iro- nisch gelagerte Selbstreferenzialität in den Blick, die er in der multimodalen Ge- machtheit von Gotham City im Batman-Universum nachweist. Trotz der großen Bandbreite der analysierten Werke und der unterschiedli- chen theoretischen und methodologischen Perspektiven der einzelnen Beiträge ergeben sich dabei eine Reihe aufschlussreicher Querverbindungen etwa im Hin- blick auf Fragen nach den durch Animation und Comic eingesetzten Authentifi- kationsstrategien und Formen von Selbstreferenzialität ebenso wie nach ihrer Materialität und ihrem Verhältnis zum Gestischen. Dabei zeigt sich, dass gerade das Spannungsfeld der spezifischen Eigenheiten von Animation und Comic und die Schnittmenge der unterschiedlichen Traditionen der Animations- und Co- micforschung besonders produktiv sind, um medienübergreifende Phänomene wie die Ästhetik des Gemachten beider Medienformen zu untersuchen.

Zur Einführung G 7

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Malte Hagener Digital/digitus

Die Geste in den Pixar-Animationsfilmen

Abstract: Die Filme der Produktionsfirma Pixar stellen ihre eigene Gemachtheit auf eine besondere Art und Weise zur Schau. Unter Rückgriff auf die Theorie der Geste, die von Giorgio Agamben entworfen wurde, diskutiert der Beitrag, welche Konsequenzen daraus für den Film im Zeitalter digitaler Netzwerke entsteht. Die Analyse der Studiologo-Sequenz zeigt exemplarisch die gestische Selbstveror- tung der digitalen Animation.

Einleitung

Das Interesse an ästhetischen Formen, die die eigene Gemachtheit, also den Akt der eigenen Herstellung, narrativ oder ästhetisch präsentieren, ist keineswegs neu. War dieses Interesse ursprünglich noch auf die formale Lösung der darin aufscheinenden Paradoxien gerichtet,1 so ist seit der Romantik – und noch ein- mal verstärkt seit der Moderne – unter Stichworten wie ‚Selbstreferenz‘, ‚Reflexi- vität‘, ‚Metareferenz‘ oder ‚Metafiktion‘ die Aufwertung und vertiefte Diskussion derartiger Formen des rekursiven Verweises zu beobachten. In der Postmoderne wurde eine derartige metadiegetische Haltung gar zum Signum einer ganzen Epoche erhoben, so dass die Vervielfachung der einschlägigen Publikationen dazu seit den 1980er Jahren wenig erstaunt.2 Dabei haben sich auch die theoreti- schen Angebote vermehrt, mit denen man dieser Phänomene habhaft zu werden hoffte: Der russische Formalismus oder die Brecht’sche Kunsttheorie begreifen mit Konzepten wie ‚Ostranenie‘ (vgl. Beilenhoff 2005) oder ‚Verfremdung‘ (vgl. Brecht 1967 [1949]) den Akt der Selbstreferenz als produktive Verunsicherung in

 Prof. Dr. Malte Hagener, Philipps Universität Marburg, Institut für Medienwissenschaft, Wilhelm-Röpke-Straße 6, 35032 Marburg, E-Mail: [email protected]

II 1 Siehe etwa eine Reihe von Beiträgen in Hagenbüchle/Geyer 2002. 2 In Bezug auf Medien sind Beispiele etwa Stam 1992; Wolf 2009; Kirchmann/Ruchatz 2014; Krautschick 2014; Mann 2015; Metten/Meyer 2016.

Open Access. © 2018 Malte Hagener, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-002

12 ? Malte Hagener der ästhetischen Erfahrung, während ein Ansatz wie die Systemtheorie sogar die Selbstkonstitution von Systemen aller Art über die rekursive ‚Autopoiesis‘ (vgl. Luhmann 1984) postuliert. Was aber ist eigentlich ‚das Gemachte‘? Das Gemachte bezeichnet ein Arte- fakt, also etwas künstlich Hergestelltes. Insofern setzt die Rede von der Gemacht- heit voraus, dass der entsprechende Gegenstand als ein absichtsvoll hervorge- brachtes Objekt erkennbar ist, die Intentionalität der Herstellung im Ergebnis dieses Aktes ansichtig wird. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Grundprin- zip des Medialen – Medien vermitteln stets einen Inhalt, aber auch sich selbst im Akt der Mitteilung. Weder verschwindet das Medium transparent hinter der Bot- schaft noch deckt die Medialität das Vermittelte gänzlich zu, sondern beide Ebe- nen sind untrennbar miteinander verklammert.3 Insofern hat man es beim Ge- machten nicht automatisch mit etwas zu tun, das als mediale Reflexion im Sinne eines kritischen Abstands zu sehen wäre. Dieser Begriff der Reflexion impliziert eine Form der modernistischen Distanzierung, wie es sich prototypisch etwa in solchen Theorieangeboten wie Verfremdung oder ‚Ostranenie‘ findet. Der Alltag in einer Welt der Medienimmanenz (vgl. Hagener 2011), in der wir inzwischen le- ben, ist aber längst schon ein anderer, nämlich die unvermeidliche Einbeziehung der Medialität in den Übermittlungs- und Übertragungsakt der medialen Inhalte. Statt also einmal mehr eine Medientheorie der Selbstreferenz zu bemühen, for- muliert der vorliegende Beitrag mit dem Begriff der Geste ein alternatives Ange- bot, bei dem die Gleichzeitigkeit und Verklammerung von Inhalt und Medium als Zweck und Ziel impliziert ist. Dies soll im weiteren Verlauf im Hinblick auf den Akt der (Computer-)Animation bei Pixar bestimmt werden.

Geste – zwischen Körper und Ausdruck

Laut Giorgio Agamben deutet das obsessive Interesse am Gestischen um 1900 da- rauf hin, dass eben dieses Ausdrucksmittel sich zu jener Zeit in der Auflösung befand: „Ende des 19. Jahrhunderts hatte das abendländische Bürgertum schon endgültig seine Gesten verloren“ (Agamben 1992, 97). Erst in ihrem Verschwin- den wird also die Geste als Kultur- und Körpertechnik sichtbar. Das Kino bildet dann eine Art Schutzraum, in dem sich diese expressive Ausdrucksweise des

II 3 Man könnte sagen, dass die (Über-)Betonung dieser Unterscheidung beziehungsweise ihr weitgehendes Ignorieren der Trennung von Medien- und Kommunikationswissenschaft zu- grunde liegt.

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Körpers noch als residuale Form einige Zeit gehalten hat – so hat es die frühe Filmtheorie gesehen (vgl. Kessler 2009), so hat es auch Agamben selbst diagnos- tiziert. Wenn nun also das Kino insgesamt durch die Geste charakterisiert werden kann, wie Agamben in seinem kurzen Text behauptet, durch eine Ausdruckstech- nik des Körpers, die sich der unmittelbaren (narrativen) Funktionalisierung ent- zieht, was geschieht dann im Zeitalter der digitalen Netzwerke in Filmen, in de- nen der Körper nur noch sehr indirekt im Film präsent ist? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst das Konzept der Geste selbst noch einmal näher zu betrachten. Die Geste wird gemeinhin verstanden als eine nicht-sprachliche Körpertech- nik, als eine Bewegung, die irgendwo zwischen bewusster Zeichenhaftigkeit und unbewusstem Ausdruck von innerer Befindlichkeit steht. So findet sich dies etwa bei Béla Balázs, der in Der sichtbare Mensch die Geste zum Kern seiner theoreti- schen Betrachtungen zum Stummfilm erklärt: „der Urstoff, die poetische Sub- stanz des Films ist die sichtbare Gebärde. Aus dieser wird der Film gestaltet“ (Balázs 2001 [1924], 26). Besondere Aufmerksamkeit schenkt Balázs dem Spre- chen im Stummfilm, das er als Sprachgeste bezeichnet. Insbesondere beschwört er eloquent die produktive Ausdruckkraft des Gesichts, das immer wieder flie- ßende Übergänge und überraschende Momente der Simultaneität hervorbringe: „Der Gesichtsausdruck ist überhaupt polyphoner als die Sprache. Das Nachei- nander der Worte ist wie das Nacheinander der Töne einer Melodie. Doch in ei- nem Gesicht können die verschiedensten Dinge gleichzeitig erscheinen wie in ei- nem Akkord, und das Verhältnis dieser verschiedenen Züge zueinander ergibt die reichsten Harmonien und Modulationen. Das sind die Gefühlsakkorde, deren We- sen eben in der Gleichzeitigkeit besteht. Diese ist aber mit Worten nicht auszu- drücken“ (Balázs 2001 [1924], 45). Mit musikalischen Metaphern, typisch für die 1920er Jahre (vgl. Bordwell 1980), beschreibt er also die vielgestaltige Gleichzei- tigkeit des expressiven Gesichts. Ein wichtiger Teil dieser Polyphonie resultiert dabei aus der untrennbaren Einheit, aber eben auch offenen Dualität von Schau- spieler_in und Rolle. Beide sind in jedem Moment vorhanden, beide ergänzen und überlagern sich, können aber auch in unterschiedliche Richtungen streben (vgl. Taylor/Tröhler 1999; sowie Hagener 2012). Die Co-Präsenz von Vermitteltem und Vermittlungsakt, von Mittel und Zweck, ist es, um die es Agamben dabei geht. Die Person wohnt der Geste inne, der Geste wohnt die Person inne, die diese ausführt, aber beides geht nicht völlig ineinander auf. Dieser, wenn man so will, Chiasmus steht für die Zusammengehörigkeit von Subjektivität und Ausdruck, von Handeln, Hervorbringen und Ausführen, aber impliziert auch schon die von Agamben diagnostizierte Krise des modernen Subjekts um 1900, denn wenn die

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Selbstverständlichkeit von Identität (durch moderne Vorstellungen der mensch- lichen Subjektivität, wie sie beispielhaft in Psychoanalyse und Marxismus zum Ausdruck kommen) in Frage gestellt wird, dann kann auch die Geste nicht länger als direkte – und vollständige – Übersetzung von inneren Inhalten in äußere Zei- chen gesehen werden. Hier ließen sich auch Zweifel an Agamben anmelden, denn dem anfänglichen Zug zur Historisierung der Geste wohnt eine Tendenz zum Schematismus inne, wenn er die Zeit vor 1900 als eine des selbstverständli- chen und natürlichen Selbstausdrucks idealisiert. Insofern wäre es auch proble- matisch, das Verschwinden der Geste zu diagnostizieren, weil es sich dabei doch um etwas zutiefst Menschliches handelt. Man sollte eher von Transformationen des Gestischen sprechen und die Veränderungen im Zeitalter des Digitalen als eine weitere Etappe dieser Entwicklung ansehen (vgl. Lemke 2013). Dieser historischen Spur zu folgen, wäre jedoch ein gänzlich anderes Projekt als das, um das es in diesem Beitrag gehen soll; mich interessiert hier der Zusam- menhang von körperlichem Ausdruck, Subjektivität und Medientechnik. Die Geste als Spur des Gemachten, als Residuum des Prozesses der Hervorbringung, findet sich klassischerweise in körpernahen expressiven Kulturtechniken, also paradigmatisch im Tanz,4 der seine Bestimmung (vermeintlich) in sich selbst fin- det, oder auch in der Handschrift, aus der die Unterschrift als Akt der Beglaubi- gung durch eine bestimmte Person entstanden ist. In der Animation ist es am ehesten die Zeichentechnik – der Stil oder Pinselstrich – der Animator_innen, in der sich Individualität, also Autor_innenschaft, manifestiert. Wohl nicht zufällig haben so viele Filme die Hand selbst zum Teil der Animation gemacht – und da- mit den Herstellungsakt der Bilder in Szenen eingeschrieben.5 Mir geht es jedoch primär gerade nicht um derartig offensichtliche Selbstverweise, wenn alle „Selbstreflexion!“ rufen, sondern eher um deren potenziellen Überschuss und um die inhärente Spannung, die diesen Momenten innewohnt. Neben dem Gesicht als äußerem Sitz der Subjektivität ist es vor allem die Hand, die zumindest in westlichen Kulturen als individuell gesehen wird; die bü- rokratische Geste des Authentifizierens in der Unterschrift findet seinen Wider- hall in der (künstlerischen) Signatur und dem handgeschriebenen Brief, der im Zeitalter von Chat und SMS noch einmal an Wert gewonnen hat. Auch der Finger- abdruck als Identifikationsmerkmal gehört in dieses Feld von Körper und

II 4 Zu einer wichtigen historischen Epoche in diesem Zusammenhang von Tanz und Film siehe Köhler 2017. 5 Ansätze zur Erforschung dieses Phänomens finden sich etwa in Crafton 1979 und, unter dem Stichwort der Genette’schen ‚Metalepse‘, in Feyersinger 2007. Siehe auch Siebert 2005 und Daenschel 2004.

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Erkennung. Auch in diesem Sinne ist die Geste zu verstehen – als individueller Akt der Identifikation, vielleicht gerade deshalb so sehr Ausdruck einer Inner- lichkeit, weil weniger kontrolliert als die Sprache. In der Geste bricht sich, nicht zuletzt unter Umgehung der bewussten Kontrollmechanismen, scheinbar eine in- nere Wahrhaftigkeit Bahn, DER AUSDRUCK DER HÄNDE (1997), wie ein Filmtitel von Harun Farocki eindrücklich annonciert (vgl. Becker 2003). Dies bezieht sich auf den Pinselstrich der Maler_innen, die Art, einen Akkord auf einer Gitarre anzu- schlagen, aber eben auch auf all die alltäglichen Gesten und Bewegungen der Hände und Finger. Die Geste bewegt sich damit stets an der Grenze zwischen Zei- chenhaftigkeit und ihrer Auflösung, weil sie zumeist spontan, ungeplant oder unbemerkt ausgeführt wird, aber eben darum auch eine tiefere Wahrheit enthal- ten kann. Die Geste, diese These ließe sich in Umkehrung von Agambens historischem Argument vertreten, ist heute mehr denn je präsent: als Wischbewegung des Zei- gefingers zum Entsperren des Smartphones, als vom Computer registrierte und auf den Avatar transponierte Geste im leeren Raum beim Spielen mit der Nin- tendo Wii, als Mausbewegung zur Steuerung von Programmen, als Vergrößerung und Verkleinerung durch Kontraktion zweier Finger auf dem Touchscreen eines mobilen Geräts oder als rasche Wischbewegung zum Werfen eines Balles in POKÉ- MON GO, um einige populäre Beispiele zu nennen, die auch von außen für uns identifizierbar sind, auch wenn wir selbst gar nicht sehen, was auf dem Display gerade abgebildet ist. Dabei handelt es sich allerdings weniger um Gesten im nor- malen Wortsinne, also um Bewegungen, die Ausdruck einer wie auch immer ge- arteten Innerlichkeit sind, sondern vielmehr um ein eingeübtes und zweckge- richtetes Handeln in Bezug auf die Funktionsweise digitaler Apparate. Solche Gesten – man denke auch an Tom Cruises dirigierende Hände in MINORITY REPORT (2002) – sind konstitutiver Bestandteil des Interface in haptisch-gestischen Schnittstellen und damit immer schon praxeologisch an der Grenze zwischen dem Analogen und dem Digitalen verortet. Auch in diesem Sinne sind wir unauf- löslich mit der Medientechnologie verbunden: Nachdem die Ingenieur_innen ihre Arbeit getan haben, müssen wir uns der Logik der (digitalen) Geste anpassen und unterwerfen, wollen wir die Schnittstelle der Programme in unserem Sinne bespielen. Dabei wird die Geste reduziert auf ihre reine Zeichenhaftigkeit, auf et- was, das vom Rechner eindeutig erkannt werden kann. Es gibt noch eine weitere Ebene, die sich hier anführen ließe und die über die im kurzen Text von Agamben aufgeführte Dimension hinausgeht, nämlich der ökonomische Aspekt des Gestischen. Tatsächlich kommt die derzeitige Restruk- turierung der Ökonomie – von einer industriellen zu einer postindustriellen – der Geste entgegen, denn es geht in der heutigen Wirtschaft primär nicht länger um

16 ? Malte Hagener die Produktion und den Verkauf von materiellen Objekten mit einem bestimmten Nutzwert (also Waren), sondern um die Zirkulation und den immateriellen Besitz von Bedeutung, Images oder Zeichen, die dann als entkörperlichte Entitäten in immer wieder neuen Zusammenhängen auftreten können. Wenn es also um die Kontrolle von Daten, Markenschutzrechten und Vorstellungen geht, dann korres- pondiert die Geste einerseits mit einer Logik der entkörperlichten Bedeutungs- produktion, andererseits erzeugt sie aber auch immer einen Überschuss, ein Sur- plus, das sich nicht gänzlich auf Copyright und Branding reduzieren lässt. In diesem Sinne steht sie an der Grenze zwischen einer postmodernen Markenlogik und ihrem ästhetischen Exzess, der darin immer schon impliziert ist, aber nor- malerweise nicht zum Vorschein kommt.6 Die Frage nach dem Zusammenhang von Geste (auch als ökonomischem Faktor) und Animation lässt sich entlang der angedeuteten Linien nun anhand des Beispiels Pixar nachzeichnen.

Pixar – am Anfang war die Geste

Die Filmproduktionsfirma Pixar steht wie kein anderes Studio für den Übergang, den das Mainstreamkino vom Analogen ins Digitale vollzogen hat.7 Spätestens seit dem Erfolg des ersten komplett im Rechner hergestellten, abendfüllenden Spielfilms TOY STORY (1995), bietet Pixar Filme und Produkte, Figuren und Motive, die immer wieder aufs Neue ihre eigene Position spielerisch zum Thema machen. Die Geste als direkter Ausdruck der Hände, aber auch als Index der Individualität – in der Signatur wie im Pinselstrich der Maler_innen oder der subjektiven Hand- schrift – wird in andere Formen des Ausdrucks transformiert und reflektiert, ebenso wie unsere Verwobenheit und Verbundenheit mit den Dingen der Welt, die in zunehmenden Maße an der Digitalität partizipieren. Tatsächlich, so könnte man im Anschluss an Agamben argumentieren, sind diese Filme insgesamt als Geste aufzufassen, die ihre eigene Positionalität in der Medienkultur zum Thema macht. Es werden Dinge und Bilder animiert, also ganz buchstäblich in Bewe- gung versetzt und belebt; auch darin sieht Agamben, im Anschluss an Deleuze, eine grundlegende gestische Antinomie des Kinos. Diese Operation bleibt aber kein reiner Selbstzweck, der sich in dieser Frage erschöpft und darauf reduzieren

II 6 Damit ließen sich auch Spuren zur Popularität von einstudierten Jubelchoreographien im Fußball (und ihrer Repetition auf Youtube) oder zur ‚gebrandeten Jubelpose‘ bei Usain Bolt oder Christiano Ronaldo verfolgen. 7 Zur Firmengeschichte siehe Price 2009 und für eine theoretische Einordnung der Filme Her- huth 2017. Siehe auch die Aufsätze in Wende 2014.

Digital/digitus ? 17 ließe, sondern es geht um die Spannung zwischen Zweck und Mittel, die dabei immer wieder in Szene gesetzt wird. Man sollte stets am Anfang beginnen, in diesem Fall also beim Akt des (Be-) Leuchtens, mit dem nicht nur die Bibel, sondern alle Pixar-Filme beginnen. Zu Beginn jeden Pixar-Films, im Titelvorspann, sieht man die Lampe Luxo Jr.– fiat lux, ohne Licht kein Bild, ohne Bild kein Film. Der seit 1995 unveränderte Vor- spannfilm beginnt mit den fünf Buchstaben des Firmennamens, deren Räumlich- keit durch die leichten Schatten, die sie werfen, angedeutet wird, während von rechts die bereits erwähnte Lampe hüpfend in den Bildrahmen kommt. Der Ge- genstand wirft bei seinem Weg an den Buchstaben vorbei einen Lichtkegel wie eine Taschenlampe, stoppt vor dem zweiten Buchstaben des Namens, also dem „I“, und leuchtet diesen intensiver an. Nach dieser ‚Musterung‘ oder ‚Überprü- fung‘ springt die Lampe mehrfach von oben auf den Buchstaben, der zunächst durch kräftige, gummiartige und federnde Rückstöße Widerstand leistet, ehe er schließlich nachgibt und geplättet wird. Unterstrichen wird diese Rückverwand- lung von der Drei- in die Zwei-Dimensionalität von quietschenden Tönen. Die Lampe hat nun die Stelle des Buchstabens eingenommen, schwenkt noch einmal ihren Lichtkegel über den Boden, ehe sie ihren Schirm zur Kamera hin wendet und direkt auf die Zuschauer_innen leuchtet (siehe Abb. 1–6).

Abb. 1–6: Screenshots aus der PIXAR TITELSEQUENZ (Pixar Animation Studios, 1995).

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Dieser Vorspannfilm veranschaulicht zunächst eine mehrfache Selbstverortung. Das animierte Studiologo8 markiert nicht nur eine paratextuelle Schwelle des Übergangs in den filmischen Text, sondern ist auch ein herausgehobener Ort in Bezug auf die Artikulation von Ästhetik, Ökonomie und Recht: Das Logo markiert erstens industrielle Besitzverhältnisse in einer Zeit, in der die Transformation der Medienindustrie in eine Copyright-Industrie (vgl. Decherney 2012; Dommann 2014), die tendenziell immer schon angelegt war, aber immer stärker in den Vor- dergrund rückt. Das Studiologo ist zweitens eingebettet in einen spielerischen Minifilm, der es auf Markenerkennbarkeit (‚brand recognition‘) abgesehen hat. Und drittens handelt es sich um hochgradig kondensierte Symbole des Selbstver- ständnisses dieser Unternehmen, die sich sowohl nach innen an die eigenen Mit- arbeiter_innen wie nach außen an die breite Öffentlichkeit wenden.9 In der Ver- gangenheit haben die Studiologo-Sequenzen mit ihrem ornamentalen Historis- mus und den triumphalen Symbolen des unaufhaltsamen Fortschritts zumeist auf den Ursprung des Kinos im späten 19. Jahrhundert verwiesen. Paradigma- tisch dafür sei an den brüllenden Löwen von MGM oder an die pompöse Art-Deco- Fanfare von 20th Century Fox erinnert. Pixar setzt dagegen auf einen ‚nostalgi- schen Modernismus‘, der für die Babyboomer-Generation charakteristisch ist. Das Objekt im Zentrum des Films ist ein Klassiker des modernen Designs, die Ästhetik mit Funktionalität verbindet. Es hat seinen Ursprung im frühen Pixar- Kurzfilm LUXO JR. (1986), in der zwei zum Leben erweckte Tischlampen mit einem Ball spielen. Im Vorspann ersetzt diese von einem norwegischen Designer in den 1930er Jahren gestaltete Lampe das „i“ des Namens, das in diesem Fall auch das „I“ der Identität ist, das Ich also, das spricht und Subjektivität beansprucht. Es ist ein kanonisiertes Objekt der klassischen Moderne, das die Kontrolle über die Beleuchtung des (virtuellen) Sets übernimmt und in diesem Zuge die geschrie- bene Sprache ersetzt, wie auch den Platzhalter der Identität einnimmt. Auf mate- rieller wie auf semiotischer Ebene manifestiert sich also die Verschiebung vom Mensch zum Ding, und damit wird auch der Abschied vom traditionellen Zei- chentrick zur Computer-Animation sinnfällig markiert, denn es ist nicht länger die Hand des Zeichners oder der Zeichnerin, sondern der algorithmisch funktio- nierende Rechner, der für Linie, Farbe und Fläche sorgt, vor allem aber die sicht- bare Beleuchtung regelt. Dieses Spannungsfeld von Fläche und Raum, von

II 8 Zum Thema Studiologos siehe z.B. Grainge 2004; sowie Stanitzek 2009; siehe auch zum MGM- Vorspannlogo in den 1970er Jahren Levaco/Glass 1980. 9 In diesem Sinne einer Aushandlung zwischen unterschiedlichen Ansprüchen, Interessen und Bedürfnissen ließen sich die Logos und Vorspannsequenzen auch als Bestandteil einer Produk- tionskultur im Sinne von John T. Caldwell (2008) verstehen.

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Zeichen und Körper, von Objekt und Subjekt entfaltet die kurze Studio-Sequenz, die uns auf die Filme einstellt, in denen derartige Konfigurationen ausführlicher durchgespielt werden. Und damit kommen wir auch zurück zu Agamben (1992), der die Geste eben nicht nur als eine rein körperliche Ausdrucksbewegung sieht, sondern sie als eine spezifische Form von Medialität konzeptualisiert: Mit einer Reihe von Kron- zeugen (Tourette, Muybridge, Charcot und Warburg als die prominentesten) setzt er diese Kategorie sehr viel allgemeiner an. Die Geste führt zwischen die Begriffe praxis und poeisis, also Handeln und Hervorbringen, ein weiteres Element ein, um so die „falsche Alternative zwischen Zweck und Mittel“ (Agamben 1992, 102) zu sprengen. Wie bei Peirce und Deleuze tritt ein Drittes hinzu, das die binäre Logik aufbricht und erweitert: „Eine Zweckhaftigkeit ohne Mittel ist ebenso ab- wegig wie eine Mittelbarkeit, die sich nur im Hinblick auf einen Zweck definiert“ (Agamben 1992, 103). Auf den Punkt gebracht lautet das bei Agamben folgender- maßen: „Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen. Sie bringt das In-einem-Medium-Sein des Menschen zur Erscheinung und eröffnet ihm die ethische Dimension“ (Agamben 1992, 103; Herv. im Original). Ganz ähnlich der Philosophie geht es also um grundsätzliche Dinge, es geht darum, „die Unmöglichkeit des Sprechens zu überbrücken“, darin findet sich die „Darstellung des in-der-Sprache-Seins des Menschen: reine Ges- tik“ (Agamben 1992, 104). Die Medialität erstarrt hier nicht zur modernistischen Selbstreflexion, sondern wird zur Präsenz und Sichtbarkeit. Was also im Pixar-Vorspann geschieht, könnte man im Sinne von Agamben als Geste verstehen: Es lässt sich weder ganz dem Handeln zuschlagen, also einer nur selbstbezüglichen Aktion, die in sich selbst ihren Zweck hat, wie etwa der Tanz oder andere hochgradig ästhetizistische Akte, noch bewegt es sich verortbar auf der Skala zwischen Hervorbringung und Ausführung, nach der etwa der_die Dichter_in ein Schauspiel hervorbringt, aber es wiederum andere (Schauspie- ler_innen, Kostümbildner_innen etc.) ausführen. Die Geste zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie weder dem Handeln noch dem Ausführen und Hervorbrin- gen ganz zuzurechnen ist, sondern etwas „an- und übernimmt“ (Agamben 1992, 102). Was wird im Fall der Computer-Animation angenommen und übernom- men? Wer macht etwas, wer handelt hier eigentlich? Welche Instanz bringt etwas hervor, welche Instanz führt etwas aus, wer nimmt an, wer übernimmt? Welche Geste bringt etwas hervor, wer bringt eine Geste hervor: Ist es die Person, die eine Figur (zunächst auf dem Papier) entwirft, der_die Story Artist, der_die einzelne Sequenzen skizziert, der Algorithmus, der Oberflächenreflektion oder Haarbewe- gungen berechnet, der_die IT-Spezialist_in, der_die ein Programm für Kamerabe- wegungen im Raum schreibt, der Computer, der all das ‚rendert‘?

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Es ist die Gemachtheit der Computer-Animation, die einerseits auf traditio- nelle Prozesse des Filmemachens rekurriert (klassische Dramaturgie, Story- boarding, Beleuchtung), andererseits aber auch in Bezug auf ehemals physikali- sche Vorgänge (Kamera, Lichtgebung, Schnitt) auf einzelne Programme oder Module zur Erstellung des fertigen Produktes zurückgreift. Dies wäre in ästheti- scher oder – wenn man dem überstrapazierten Begriff geneigt ist – ontologischer Hinsicht die Geste, die der Film ausführt, nämlich die eigene Gemachtheit nicht mehr auf einen bestimmten Zeitpunkt des Drehens, in dem alles gleichzeitig vor der Kamera stattfindet, zu reduzieren, sondern diesen Moment, in dem die Ka- mera läuft, auf ganz unterschiedliche Beteiligte und Momente zu verteilen – dass also die Beleuchtung in einem anderen Schritt als die Animation der Haare oder die Bewegung der Figur geschieht, dass es also nicht mehr den einen Akt des Dre- hens gibt, in dem alles zusammen findet und gipfelt (vgl. Flückiger 2008). Dieser zeichnete sich ja bei traditionellen Dreharbeiten noch durch Rituale wie das War- ten auf das richtige Licht, den Hinweis auf die Stille am Set, das Schlagen der Klappe und die allgemeine erwartungsvolle Spannung aus. Stellvertretend dafür steht eben die Lampe, die allegorisch die Beleuchtung des Sets über-, aber auch die Position eines Buchstabens einnimmt – also zwischen Materialität und Zei- chenhaftigkeit, zwischen Selbst und Anderem, zwischen Zweck und Mittel oszil- liert, ja beide Positionen zugleich besetzt. Dabei sind eben stets die materiell- praktische und die narrative Ebene verklammert. Die Pixar-Filme zeigen Dinge, die handeln – solche, zu denen wir ein libidinöses Verhältnis eingehen wie Spiel- zeuge und Autos, aber auch Schwarmwesen wie Ratten, Insekten und Fische, die wir kaum als individuell wahrnehmen, ebenso wie Rechner und Algorithmen, die als Handelnde an der Herstellung der Filme beteiligt sind.10 Sowohl auf der Ebene der Herstellung wie auf derjenigen der Geschichten, die erzählt werden, lassen sich die Filme als Gesten verstehen, die sich eben nicht in der Dichotomie von Zweck und Mittel fassen lassen, sondern etwas dazwi- schen – oder jenseits dieser Unterscheidung – meinen. Weder ist die Computer- Animation ein transparentes Mittel, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen, noch ist sie Zweck, der sich in sich selbst erschöpft.11 Die Pixar-Filme sind nicht deshalb ‚selbstreflexiv‘, weil sie immer wieder auf sich selbst verweisen oder die

II 10 Diese Perspektive ließe sich natürlich mit Ansätzen der Actor-Network-Theorie akzentuieren oder im Hinblick auf Vorschläge der Medienarchäologie ausbauen. Vgl. etwa Parikka 2010; Tischleder 2016. 11 Natürlich gibt es Verwendungen, die stärker zur einen oder zur anderen Seite tendieren wie die abstrakte Animation oder Stile, die es auf Transparenz abgesehen haben, aber in ihrer Diffe- renz zum realfilmischen ähnelt die (Computer-)Animation grundsätzlich dem Gestischen.

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Populärkultur zum Thema haben. Dies wäre ein Trugschluss, denn sie sind not- wendigerweise in einer ganz bestimmten Weise auf sich selbst bezogen, weil man bei Pixar verstanden hat, dass es zwischen der reinen Zweckmäßigkeit der Nut- zung der digitalen Animation und der puren Mittelbarkeit des Digitalen einen dritten Weg geben muss, den Agamben mit dem Terminus der Geste beschrieben hat. Es ist also eine Anerkennung der Mittelbarkeit, ohne diese aber zu verabso- lutieren, also eine Geste der Selbsteinschreibung des Digitalen in die erzählte Ge- schichte, in der das Mittel des Erzählens und die Mittelbarkeit des Erzählens – jeweils in Wechselwirkung mit den Technologien, die sie bedingen – immer wie- der aufscheinen, ohne allerdings als absolut gesetzt zu werden (wie dies in den metaleptischen Konstruktionen der Postmoderne der Fall war). Das Digitale ist also weder purer Zweck, der sich in sich selbst erschöpft, noch reines Mittel, mit dem etwas gänzlich anderes hergestellt werden soll. Und im Kant’schen Sinne, bei dem Zweck und Mittel ja zwei zentrale Begriffe des kategorischen Imperativs sind, wäre man damit auch auf dem Feld der Ethik. Nochmals anders, nämlich etymologisch, lässt sich die Geste in Beziehung setzen zu Körpern und Gesten, zu Programmen und Algorithmen. Wenn nämlich der Finger, der im Lateinischen ‚digitus‘ heißt, das ist, womit man eine Geste aus- führt, dann besteht eine Verbindung zwischen dem Digitalen und dem Akt des Zeigens, im Sinne der Geste als einem Handeln, das sich nicht in sich selbst er- schöpft, sich aber auch der Zweck-Mittel-Dichotomie entzieht. Damit wäre zu- mindest etymologisch das Digitale mit dem Indexikalischen, dem Zeigen und Hinweisen verbunden. Und den Pixar-Filmen ist diese Spannung im Akt der Her- vorbringung ihrer eigenen Gestalt eingeschrieben, sowohl auf der Ebene des Bil- des selbst wie auch narrativ in der Thematik der Filme. Tatsächlich ist die Geste beides, wie sich noch auf andere Weise argumentie- ren lässt – wenn man die viel beschworene Indexikalität wörtlich nimmt als eine Geste des Zeigens (vom lateinischen ‚indicare‘). Ein Film, erinnert sei hier etwa an die von André Gaudreault (1987) in Bezug auf das frühe Kino vorgeschlagene ‚monstration‘, beinhaltet immer eine derartige Präsentationsgeste, selbst in vor- nehmlich erzählenden Filmen. Auch in diesem Sinne, der Agamben nicht inte- ressiert, hätte Film eine Affinität zur Geste. Und nicht zufällig heißt im Engli- schen der Zeigefinger „index finger“: Es sind also die vielfältigen Gesten, die Akte des Zeigens, die zugleich Mittel und Zweck sind. Und es ist eben auch der Film selbst, der sich und etwas anderes zeigt, wobei sich mit dem Übergang zum Digi- talen auch die Referentialität verlagert. War im klassischen Film in der Regel noch die Realwelt das denotierte Objekt, auf das hingewiesen wurde, so verwei- sen die digital animierten Filme – stärker auch als analog animierte, die mit dem Einsatz von Materialitäten (Knete, Tusche, Objekte) die Realwelt mit im Bild

22 ? Malte Hagener führen – auf die Indexikalität des Films selbst. Die Entwicklung führt also von der Indexikalität des Bildes (auf etwas außerhalb Stehendes) zur Indexikalität im Bild.12

Fazit

Natürlich ist der Titelvorspann von Pixar, gerade einmal gut zehn Sekunden lang, ein denkbar kurzes Stück Film, um damit etwas Allgemeines über die Produktio- nen dieser Firma oder gar den Film im Zeitalter digitaler Netzwerke zu sagen. Doch ließe sich diese Analyse, in der das digital Animierte an die Stelle des le- bendig fotografierten tritt, auf die Filme insgesamt ausdehnen. So entfaltet bei- spielsweise die Titelsequenz des ersten Teils von TOY STORY ein ganz ähnliches Argument, wie ich (mit Thomas Elsaesser) argumentiert habe:

not only does the narrative of the film dramatize the transition from to non-human agency (from acting body and drawing hand to generated pixel and computing processor); it also allegorically represents the shift from analog to digital, from photographic to graphic film, from representation to presentation. (Elsaesser/Hagener 2010, 170)

Das Spiel mit Anwesenheit und Abwesenheit im Bildrahmen, die Stimme aus dem direkten Off, die Hand, die immer wieder von außen eingreift, ohne dass wir den ganzen Körper sehen – all diese Elemente thematisieren auf ähnliche Weise das Spannungsfeld von Mittel, Medium und Zweck.13 Das Kino, verstanden als Geste, ist ja immer zweierlei – Festhalten und Ein- balsamieren, das Einfrieren und Aufbewahren der Zeit, aber zugleich auch die Bewegung und Dynamik der Bewegung, ein sich Ausfalten der Zeit in beide Rich- tungen, ein Zeigen und ein Erzählen, ein Dokumentieren und ein Inszenieren. Zeit und Bewegung sind also, und hier sind wir bei Deleuzes Filmtheorie ange- langt (Deleuze 1989 [1983]; 1991 [1985]), ebenso zwischen Zweck und Mittel anzu- siedeln, wie die Geste als Körpertechnik. Oder, mit Josef Früchtl gesprochen: „Eine Geste macht sichtbar, dass sie ein Mittel ist, und ist eben deshalb kein blo- ßes Mittel. Sie verweist auf etwas, aber auch auf sich selbst“ (2011, 6). Die Geste hält die Spannung zwischen Referenz und Selbstreferenz, zwischen Handeln und

II 12 Dank an Julia Eckel für weiterführende Ideen an dieser Stelle. 13 Ebenfalls unter dem Begriff der Geste, allerdings mit Rückgriff auf Flusser statt auf Agamben, fasst Volker Pantenburg (2016) seine Überlegungen zum Schwenk der Kamera; auch wenn sein Ansatz in vielem anders gelagert ist, scheint er mir doch in der Konsequenz auf ähnliche Gedan- ken zuzulaufen.

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Herstellen, zwischen Mittel und Zweck. Deshalb halte ich es für produktiv, die Geste als eine Technik in Erwägung zu ziehen, wenn wir über das Gemachte in Bezug auf Animation und Comic nachdenken, denn – zumindest in dem hier skiz- zierten Fall – ist die digitale Animation ein Mittel, das sich als solches zu erken- nen gibt und gerade deswegen seine eigene Mittelbarkeit übersteigt.

Literaturverzeichnis

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Matthias C. Hänselmann Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes

Produktive und rezeptive Dimensionen von Materialität und Materialtransparenz im Film

Abstract: In der medientheoretischen Auseinandersetzung erhielten die Aspekte der Materialität und des Gemachten in den vergangenen Jahren eine zunehmend größere Bedeutung. Der vorliegende Aufsatz versucht, diese Begriffe in Bezug auf filmische Erzeugnisse näher zu spezifizieren. Besonderes Interesse gilt dabei der Interdependenz zwischen materiell-produktionellen Aspekten von Filmen und deren rezeptiver Wirkung. So geraten einerseits die narratologischen Konzepte von Discours und Histoire und andererseits die daran geknüpften unterschied- lich gelagerten Wahrnehmungsformen von Materialsehen und Immersionssehen in den Blick. In Anlehnung an Wahrnehmungsmodelle aus der Filmmusiktheorie und unter Einbezug von Erkenntnissen aus der formalistischen und neoformalis- tischen Filmtheorie wird mittels eines zweistufigen Rezeptionsmodells versucht, die mentalen Prozesse zu beschreiben, die für die Verarbeitung des materiellen Aspekts von Filmen relevant erscheinen. Daran anknüpfend werden zuletzt Zei- chentrickfilmbeispiele behandelt, die auf unterschiedliche Weise mit einem Fore- grounding ihrer eigenen Materialität arbeiten.

Einleitung

Wendet man den Begriff des ‚Gemachten‘ unspezifiziert auf Medienprodukte wie beispielsweise Animationsfilme an, so ergibt dieser Begriff zunächst keinen be- sonderen Mehrwert. Sagt man, dass ein Medienprodukt, ein Film, ein Animati- onsfilm ‚gemacht‘ sei, beschreibt man damit eine Selbstverständlichkeit, eine In- variante: etwas, wozu es überhaupt keine Alternative gibt, und was deshalb auch keinen medientheoretischen Erkenntnisgewinn bringt. Denn grundsätzlich ist

 Dr. Matthias C. Hänselmann, Westfälische Wilhelms-Universität, Germanistisches Institut, Schlossplatz 34, 48143 Münster, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Matthias C. Hänselmann, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-003

28 : Matthias C. Hänselmann jeder Film, ist jedes Medienprodukt, ist jedes menschliche Artefakt ‚gemacht‘. Von der ‚Gemachtheit‘ eines Filmes zu sprechen ist daher tautologische Rede. Um den Begriff des ‚Gemachten‘ als Arbeitsbegriff produktiv zu machen, muss er spezifiziert werden, wenn er nicht tautologisch sein soll. Ich möchte da- her versuchen, ihn im Zusammenhang dieses Beitrags mit dem Begriff des ‚Be- wusst-Gemachten‘ präziser zu fassen, und verorte ihn damit als relevanten Fak- tor der Medienkommunikation sowohl im Bereich der Filmrezeption als auch der Filmproduktion. Auf Grundlage einer formalistischen Theoriebasis, die bei der Erfassung ästhetischer Gesetzmäßigkeiten gerade den materiellen Aspekt reflek- tiert und so fruchtbare Anknüpfungspunkte für das hier unternommene Vorha- ben einer theoretischen Modellierung des ‚Gemachten‘ als Textfaktor bereitstellt, sowie unter Rückgriff auf zwei Konzepte der Filmmusikforschung, die sich in analoger Weise mit der Wahrnehmung, dem (Un-)Bewussten und der Wirkung filmischer Komponenten befassen, entwickle ich ein Modell, mit dem es möglich ist, die zentralen Wirkprinzipien des Gemachten in der wissenschaftlichen Ana- lyse zu erfassen und zu beschreiben. Die Ergebnisse werden dabei in Auseinan- dersetzung mit Animationsfilmen gewonnen, haben aber prinzipiell allgemein filmtheoretische Gültigkeit und können daher, zur Analyse der kommunikations- relevanten Aspekte des Materiellen, auch auf andere Filmformen wie insbeson- dere den sogenannten Realfilm übertragen werden.

Das Gemachte als ‚Bewusst-Gemachtes‘

Der Arbeitsbegriff des ‚Bewusst-Gemachten‘, durch den der vage und tendenziell tautologische Begriff des ‚Gemachten‘ im Folgenden ersetzt wird, ist absichtlich polysemisch gebildet, denn er soll die zwei Dimensionen des Gemachten zusam- menführen, die ich für die zentralen halte und die sich in Bezug auf ihre kommu- nikationstheoretische Relevanz und Funktion klar bestimmen lassen. Diese Di- mensionen des Gemachten als ‚Bewusst-Gemachtes‘ betreffen a) die Produktionsdimension und b) die Rezeptionsdimension eines Medienprodukts.

Die Produktionsdimension des ‚Bewusst-Gemachten‘ betrifft den intentionalen Aspekt des ‚Gemachten‘. Das heißt, dass das Gemachte unter dieser Perspektive stärker hinsichtlich des Gesichtspunkts betrachtet wird, dass es bewusst gemacht ist. Im Vordergrund stehen also die Intentionalität, die Absichtlichkeit und Ziel- gerichtetheit des Produkts, seine Herstellung und der Umstand, dass es so in die- ser besonderen Weise, die sich letztlich in der Erscheinung des Produkts nieder-

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 29 schlägt und die dieses seinerseits in gewissem Umfang zu erkennen gibt, herge- stellt wurde. Der Begriff des ‚Gemachten‘ bezieht in dieser Hinsicht das Produkt zugleich auf die Herstellenden eines Produkts und auf den intentional gelenkten Herstellungsprozess. Im Zusammenhang dieser Schwerpunktsetzung, bei der die Absichtlichkeit des Gemachten hervorgehoben wird, ist das ‚Gemachte‘ als eine Qualität des Medienprodukts zu beschreiben, die sich infolge einer gezielten Wahl aus äquivalenten Alternativen ergibt – und im konkreten Fall infolge einer gezielten Wahl aus dem Paradigma der zur Verfügung stehenden Produktions- verfahren. Das ‚Gemachte‘ hat, so verstanden, unbedingt semiotische Relevanz, da es eben als jene Form erscheint, die in einem Selektionsprozess unter den Be- dingungen der Inkompossibilität1 infolge der Ablehnung und dem Ausschluss anderer möglicher Optionen resultierte. Die Produktionsdimension des ‚Bewusst- Gemachten‘ tritt demnach als ein bedeutungsvoller Aspekt des Produkts auf, ein Aspekt, der selbst mit in die Gesamtbedeutung der durch ein bestimmtes Medi- enprodukt getragenen Mitteilung hineinspielt. Am Entstehungsprozess eines Animationsfilms expliziert, bedeutet das, dass bei jeder Herstellung eines Animationsfilms zunächst eine bestimmte Technik der Herstellung gewählt werden muss. In aller Regel wird dabei eine spezifische Animationstechnik gewählt und zwar unter Ausschluss bestimmter anderer, prinzipiell ebenfalls möglicher und auch zur Verfügung stehender Animations- techniken. Diese exklusive Wahl der Animationstechnik hat im Weiteren deshalb durchaus bedeutungstragenden Charakter für das konkrete Endprodukt, da es einen Unterschied macht, ob ein bestimmtes Thema beispielsweise in traditionel- ler Tuschezeichnung oder auf Basis computererzeugter Gitternetz-Grafik umge- setzt wird. Je nach der gewählten Technik ergeben sich stilistische Besonderhei- ten, die als solche die Gesamtbedeutung des Filmkommunikats beeinflussen. So ergibt eine herkömmliche Tuschezeichnung beispielsweise eine schlichte Schwarz-Weiß-Ästhetik, die an die Optik des traditionellen Zeitungscomics be- ziehungsweise des frühen amerikanischen Cartoon gemahnt, während eine ein- fache 3D-Netzgrafik zu einer opaken, geschlossenen, geradezu plastikhaften Äs- thetik führt, die etwa Assoziationen an Kunststoffpuppen wachrufen kann. Dabei mag eine bestimmte Technik je nachdem für eine bestimmte Thematik ange-

CC 1 Inkompossibilität (gelegentlich auch ‚Inkompassibilität‘) tritt in Ausschlussverhältnissen und damit in Wahlsituationen auf, wenn zwei oder mehrere prinzipiell mögliche Optionen tatsäch- lich nicht gleichzeitig realisiert werden können; vgl. zu diesem auf Leibniz zurückgehenden Konzept bspw. Bender 2016, 164–170; siehe auch Deleuze 1991, 173–175. Für die Entstehung von semiotischer Relevanz bzw. grundsätzlich von Bedeutung gilt dabei, dass „jede semiotische Äu- ßerung […] auf dem Prinzip einer Wahl aus Alternativen [basiert]“ (Titzmann 2003, 3045).

30 : Matthias C. Hänselmann brachter, adäquater, passender erscheinen – beziehungsweise geeigneter sein, durch eine gezielt eingesetzte Kontrastierung von Thematik und Technik einen bestimmten Effekt zu erzielen. Zugleich sind bestimmte Darstellungstechniken zweifelsohne hinsichtlich ihrer Materialität, Konventionalität und Verwendung auffälliger als andere und lenken die Aufmerksamkeit deshalb stärker und zuver- lässiger auf den Aspekt der produktionellen Gemachtheit eines Medienerzeugnis- ses.2 Die relevanten Unterschiede dürften deutlich werden, wenn man etwa einen Mainstream-Film wie den unter der Regie von Chris Buck und Jennifer Lee ent- standenen Disney-Animationsfilm FROZEN (2013) mit einem eher als alternativ zu bezeichnenden Zeichentrickfilm wie Piotr Dumałas FRANZ KAFKA (1992) ver- gleicht. Anders als bei der Produktionsdimension, die den Faktor der Intentionalität ins Zentrum rückt, wird bei der Rezeptionsdimension des ‚Bewusst-Gemachten‘ der Aspekt der Wahrnehmbarkeit einer bestimmten Materialqualität eines Medi- enprodukts akzentuiert. Das ‚Gemachte‘ als ‚Bewusst-Gemachtes‘ bezeichnet in dieser Hinsicht, dass konkret die materielle Verfasstheit eines Medienprodukts explizit deutlich, erfahrbar und wahrnehmbar gestaltet ist und deshalb auch re- zeptiv besonders auffällt. Etwas ist in dieser Hinsicht ‚bewusstgemacht‘, weil es auffällig, sinnlich wahrnehmbar gemacht wird. In den Mittelpunkt gerückt wird bei dieser Dimension des Gemachten also eine bestimmte Wirkung des Gemach- ten: nämlich die Qualität des Medienprodukts, die dessen Künstlichkeit (mit) in den Vordergrund stellt, zu einem relevanten Faktor der Filmkommunikation hy- postasiert und – zumindest theoretisch – durchgehend im Bewusstsein der Rezi- pierenden wachhält. Gerade diese zweite Dimension des Gemachten als ‚Bewusst-Gemachtes‘ wurde bereits relativ früh theoretisch erfasst. Sie taucht schon in einigen Texten der russischen Formalisten auf und hier besonders bei Viktor Šklovskij und des- sen Aufsatz „Die Kunst als Verfahren“ (1971), der sich darum bemüht, das spezi- fische Charakteristikum künstlerischer Texte gegenüber ästhetisch wirkungslo- sen, sozusagen ‚prosaischen‘ Texten zu eruieren.3 Im Verlauf seiner Unter- suchung findet Šklovskij dieses entscheidende Moment in dem Verfahren der

CC 2 Siehe dazu auch die illustrativen Ausführungen von Odin 1983, 127–128, zu seinem Konzept der ‚mise en phase‘. 3 Šklovskij konzentriert sich in seiner Untersuchung auf literarische Texte unterschiedlicher Art, wobei allerdings das Verfahren der Verfremdung, das er auf diesem Wege herausarbeitet, im Grunde medienunabhängig ist und daher auch eine Übertragung auf andere Texttypen im weiten strukturalistischen Sinne erlaubt. U.a. Ėjchenbaum hat den Gedanken bekanntlich auf das Kino übertragen (vgl. besonders Ėjchenbaum 2005, 22–23). Vgl. dazu auch Striedter 1971, XXI–XXVII.

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 31

Verfremdung und formuliert als zentrale These, dass „die Kunst […] ein Mittel [ist], das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig“ (Šklovskij 1971, 15). Der Unterschied, den Šklovskij hier zwischen ‚Machen‘ und ‚Gemachtem‘ zieht, ist dabei nicht in eins zu setzen mit der Diffe- renzierung zwischen der Produktionsdimension und der Rezeptionsdimension eines Medienprodukts, wie ich sie eingeführt habe. Šklovskijs Unterscheidung läuft vielmehr teilweise auf das hinaus, was die strukturalistische Narratologie später mit dem Begriffspaar von Discours und Histoire unterschieden hat.4 Unter ‚Discours‘ ist dabei die (materielle) Oberflächendimension eines Medienprodukts zu verstehen, also alle materiellen Aspekte eines Films von den konkreten Ein- zelbildern, der Farbigkeit, der Darstellungstechnik, den Inszenierungsverfahren etc. bis zu den Prinzipien der Bildabfolge, Montage und Einstellungskonjunktion. Als ‚Histoire‘ wird dagegen die (medienunabhängige) chronologische Abfolge ei- ner bestimmten Handlung bezeichnet, d.h. die Geschichte beziehungsweise die Fabel, die sich auf Basis der Discoursschicht in Gestalt der Bewegung in den ma- teriellen Filmbildern entfaltet und von den Zuschauer_innen aus dieser abstra- hiert und als dargestellte Handlung rezipiert werden kann. Für Šklovskij – und die Formalisten allgemein, die ja insgesamt ein „relativ geringe[s] Interesse an Fragen der Thematik“ (Striedter 1971, XXIV) zeigten – ist die Histoire im Grunde theoretisch und insbesondere für die Bestimmung des ‚Künstlerischen‘ belanglos, denn sie kann sich in unterschiedlichen Medien ent- falten und in ein und demselben Medium in unterschiedlicher Art und Weise. Re- levant vor allem für die Bewertung des Künstlerischen ist für Šklovskij nur die Discoursebene, denn diese bereitet eine bestimmte Geschichte in ganz spezifi- scher Art und Weise auf und lässt deshalb anhand der individuellen Gestaltung und des Gemachtseins der Geschichte analytische Rückschlüsse auf die Wir- kungsweise der Kunst insgesamt zu. Dennoch lässt sich die Einteilung, die Šklovskijs Theorie zugrunde liegt, mit der Unterscheidung, wie ich sie eingeführt habe, in Beziehung setzen. Versucht man, die Begriffe der Produktionsdimension und der Rezeptionsdimension des ‚Bewusst-Gemachten‘ sowie jene von Discours und Histoire miteinander zu ver- netzen, kann man zunächst eine starke Interdependenz zwischen der Produk-

CC 4 Zur theoretischen Entwicklung dieser Begriffe ausgehend von den russischen Formalisten siehe Schmid 2005, 236–241, und dort besonders das Schaubild auf S. 241, das die gesamte Breite der diachronen Veränderung der Konzeptionen und Begrifflichkeiten von Tomaševskij bis García Landa aufführt. Die beiden Begriffe, die sich inzwischen auch in der deutschsprachigen Erzähl- und Filmforschung etabliert haben, werden im Folgenden – in Orientierung etwa an Gräf et al. 2011, 35 – als Fachbegriffe ohne typographische Auszeichnung und wie deutsche Worte zu Kompositabildungen („Discoursebene“ etc.) verwendet.

32 : Matthias C. Hänselmann tions- und der Rezeptionsdimension feststellen (siehe Abb. 1). Diese ergibt sich aus dem Umstand, dass, wenn der Aspekt des Gemachten, also das Materielle, rezeptiv bewusstgemacht werden soll, man das bereits bei der Filmherstellung (also produktionell) berücksichtigen muss. Zugleich wirkt sich eine bestimmte Produktionstechnik immer auch in rezeptiver Hinsicht aus, da sie – wie auch im- mer sie verfährt – eine bestimmte Wirkung erzeugen und eine Auffälligkeit des Materiellen hervorrufen kann. Die Produktionsdimension wie auch die Rezeptionsdimension stehen dabei im Weiteren in unmittelbarem Zusammenhang zur Discoursebene. Je nachdem, welche produktionellen Vorentscheidungen für eine bestimmte Darstellungs- technik getroffen werden, resultiert daraus eben ein ganz bestimmter Discours – und dieser ganz bestimmte Discours bedingt seinerseits (im Wesentlichen in Ab- hängigkeit zu den dominanten Darstellungs- und Sehkonventionen sowie in Ab- hängigkeit zur jeweils filmtextspezifisch erzeugten rezeptiven Erwartungshal- tung) eine auffällige beziehungsweise weniger auffällige Materialität. Gleich- zeitig trägt und vermittelt der Discours die eigentlich inhaltliche Kategorie der Histoire, also konkret gesagt: die mit dem Medium des Animationsfilms gestal- tete ‚Geschichte‘ – und erweist sich in dieser Hinsicht als interdependent zur His- toire.

Abb. 1: Der Zusammenhang von Produktions- und Rezeptionsdimension und Discours und Histoire (Matthias C. Hänselmann).

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 33

Materialsehen und Immersionssehen

Da mit der terminologischen Spezifikation des ‚Gemachten‘ die zentralen theore- tischen Koordinaten ausgewiesen sind und der systematische Zusammenhang zwischen den einzelnen relevanten Begriffen geklärt ist, können die Begriffe im Folgenden im konkreten Kontext der Filmrezeption betrachtet werden. Ich greife dafür auf ein Wahrnehmungsmodell zurück, das für diesen Zweck recht geeignet erscheint, nämlich das Modell der Bewusstseinsebenen der Filmwahrnehmung, das Anselm Kreuzer im Zusammenhang seiner holistisch konzipierten Theorie zur Filmmusik erarbeitet hat (siehe Abb. 2; vgl. dazu besonders Kreuzer 2009, 85– 88).

Abb. 2: Das Drei-Dimensionen-Modell nach Anselm Kreuzer (vgl. Kreuzer 2009, 87).

Abb. 3: Das Schema zu den Bewusstseinsebenen bei der materiellen/immersiven Filmrezeption (Matthias C. Hänselmann).

34 : Matthias C. Hänselmann

Kreuzer unterscheidet in diesem Modell, ausgehend von einer_einem bestimm- ten Rezipierenden, die_der sich mit einem Film auseinandersetzt, drei Bewusst- seinsebenen der Filmwahrnehmung. Er betrachtet dabei 1. die Lebenswelt der Rezipierenden, 2. den durch den Film vermittelten virtuellen Raum sowie 3. eine Tiefendimension des Bewusstseins.

Unter ‚Lebenswelt‘ versteht er dabei in Anlehnung an Siegfried Kracauer „das physisch erlebbare Umfeld eines Menschen samt der [sic] daraus resultierenden Wahrnehmungen und Erinnerungen“ (Kreuzer 2009, 86). Der „virtuelle Raum ist eine über die Wahrnehmung der physischen Realität hinausgehende Bewusst- seinssphäre“ (Kreuzer 2009, 85), die in Form von Imagination durch die Film- handlung hervorgerufen wird, und bildet den „Gegenpol“ (Kreuzer 2009, 86) zur Lebenswelt. Die Tiefendimension des Bewusstseins hingegen stellt eine Art Ver- mittlungsebene dar, über die Lebenswelt und virtueller Raum miteinander in Verbindung stehen und durch die ein Wechsel zwischen den beiden Bereichen möglich ist. Auf der Bewusstseinsebene der Lebenswelt ist den Rezipierenden klar, dass sie sich gerade im Kino auf einem Sessel neben anderen Kinobesuchern befinden. Dabei können sie zwar durchaus auf den Film achten, der gerade läuft, aber sie nehmen „die Bilder und Töne nicht so sehr im Sinne einer Filmhandlung wahr, sondern eher als Teile der audiovisuellen Kulisse des Kinosaals“ (Kreuzer 2009, 87). Vertiefen sich die Rezipierenden hingegen in die Filmhandlung, wobei sie die durch den Film geschilderten Geschehnisse intensiv miterleben und sich in gewissem Umfang mit den Figuren und ihren Motiven identifizieren, befinden sich die Rezipierenden nach Kreuzer auf der Bewusstseinsebene des virtuellen Raums. Charakteristisch für diesen Zustand ist, dass sie die Bilder und Töne des Films primär in ihrer illusionistischen Wirkung wahrnehmen,5 d.h. im Sinne ei- ner Filmhandlung. Auf dieser Ebene verhalten sie sich dann zu den Aspekten der Lebenswelt analog wie auf der Ebene der Lebenswelt zu den Filmbestandteilen: Geräusche der neben ihnen sitzenden Personen, körperliche Empfindungen, das Bewusstsein, gerade im Kino zu sitzen, etc. sind zwar gegeben, erhalten jedoch nicht den dominanten Apperzeptionsstatus, der im Gegenteil der Filmillusion zu- fällt. Die Tiefendimension des Bewusstseins verknüpft, wie gesagt, diese ver- schiedenen Bewusstseinssphären und beinhaltet damit auch stärker analytische,

CC 5 Der Begriff der ästhetischen Illusion, wie er in den 1960er-Jahren in erster Linie durch Ernst Gombrich popularisiert wurde (vgl. Gombrich 2002) wurde inzwischen weitgehend durch den der Immersion ersetzt. Vgl. dazu grundlegend in kritischer Anknüpfung an Ernst Gombrich Brin- ker 1977; sowie Wolf 1993; 2008; 2013; und den Sammelband von Burwick/Pape 1990.

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 35 kognitive Verarbeitungsprozesse wie insbesondere Betrachtungen und Überle- gungen hinsichtlich des Verhältnisses und der Verbindung der akustischen und visuellen Aspekte des Films. Kreuzer begreift insbesondere die Ebene der Tie- fendimension als Kontinuum, innerhalb dessen es zu einer ständigen Fluktua- tion des Bewusstseins kommt beziehungsweise kommen kann. Gerade dieser As- pekt lässt das Modell so operativ erscheinen, da es eben nicht mit Dichotomien und scharfen Grenzen, sondern mit fließenden Übergängen arbeitet und theore- tisch auch Mischungen oder eine Simultanität der verschiedenen Bewusstseins- zustände erlaubt. An dieses Modell lassen sich die bisher erarbeiteten Begriffe zudem sehr gut anknüpfen (siehe Abb. 3). Tauchen die Rezipierenden ganz in den virtuellen Raum des Films ein und fiebern mit der dargestellten Handlung mit, als sei es ein reales, aktuelles Geschehen, rezipieren sie den Film primär in Hinsicht auf die illusionierte Geschichte, d.h. in Hinsicht auf dessen Histoire. Kennzeichnend für diese Form der Rezeption ist der Begriff der Immersion.6 Ursprünglich primär mit Erklärungskonzepten der virtuellen Realität verknüpft, wird der Begriff ‚Immersion‘ inzwischen in den verschiedenen Kulturwissenschaften allgemein zur Beschreibung von Zuständen der graduellen „imaginative[n] Verschmel- zung der Rezipient/innen mit dem von ihnen wahrgenommenen Kunstwerk“ (Benthien/Weingart 2014, 575) verwendet. Immersiv wirkt ein Film immer dann, wenn das Medium ‚Film‘ als Vermittlungsinstanz aus dem Bewusstsein der Rezi- pierenden verschwindet und die spezifisch-medial beziehungsweise spezifisch- materiell getragene Filmdarstellung der Tendenz nach rein als solche wahrge- nommen und für wahr gehalten wird. Es lässt sich in Bezug auf diesen Aspekt der Filmrezeption deshalb auch von Immersionssehen sprechen.7 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Immersion umso rascher und nachhaltiger gelingt, je weni- ger deutlich wird beziehungsweise je besser kaschiert werden kann, dass die

CC 6 Als Immersion, die „keine genuine Spezifität der digitalen Bildräume ist“ (Münker 2005, 248), sondern sich auch bereits bei der Lektüre eines Buches einstellt, wird die „medial transformierte Wahrnehmung des Rezipienten“ (Pietschmann 2015, 24; siehe insgesamt dort S. 24–25) bezeich- net, bei der – nach der inzwischen mehrheitlich verwendeten Definition von Murray – die Emp- findung entsteht „of being surrounded by a completely other reality […] that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus“ (Murray 1997, 98). Siehe dazu neben den bereits Ge- nannten auch Ryan 2015 (besonders S. 61–114) sowie Buchan 2013 und Ehrlich 2013. Auf den Umstand, dass „transparency is [...] the precondition for total immersion in a medium-created world“, weist besonders Ryan (2015, 43) ausdrücklich hin. 7 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Roger Odin (1983; besonders auch 1988; 2000) zu ‚mise en phase‘ und ‚déphasage‘. Tan bezeichnet „the illusion of being present in the fictional world“ auch als „diegetic effect“ (1996, 52).

36 : Matthias C. Hänselmann mitgeteilte Geschichte von einem Medium materiell vermittelt wird. Gestört oder gar ganz verhindert wird eine solche Immersion dagegen insbesondere dann, wenn Effekte zutage treten, die deutlich machen, dass das Gezeigte in irgendei- ner Weise nur illusioniert, fingiert, vermittelt, erfunden – d.h.: ‚gemacht‘ ist. Solche Effekte entstehen in erster Linie auf der Ebene des Discours und zwar vornehmlich – besonders wenn man die Produktionsdimension des ‚Bewusst- Gemachten‘ und den Faktor der Intentionalität stärker berücksichtigt – durch ge- zielt eingebaute materielle Störungen beziehungsweise durch gezielt genutzte Auffälligkeit hinsichtlich der Materialität. Treten solche Effekte auf, überlagern sie tendenziell die Histoire, was – in den Worten Šklovskijs – „die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert“ (Šklovskij 1971, 15) und bis dahin gehen kann, dass die Rezipierenden auf ihre Lebenswelt zurückverwiesen werden, da solche kontra-immersiven Effekte immer auch bewusst werden lassen, dass der Film nur ein materielles Konstrukt ist, etwas ‚Gemachtes‘ und damit, in Hinblick auf diese seine artefaktische Natur, Element der Lebenswelt. Deshalb lässt sich in Bezug auf diesen Aspekt der Filmrezeption auch von Materialsehen sprechen, da primär die materiellen Qualitäten und Faktoren des Films wahrgenommen werden.8 Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass, genauso wenig wie das Bewusstsein der Lebenswelt vom Bewusstsein des virtuellen Raums dichotom abgetrennt ist, die Dimensionen von Discours und Histoire voneinander abgetrennt sind oder angesichts eines jeden Films überhaupt zwei isolierte Bereiche darstellen. Dis- cours und Histoire sind vielmehr zwei sinnvolle analytische Konzepte, die aber an jedem Film immer gemeinsam, gleichzeitig, synergetisch und interdependent auftreten. Um die Histoire kognitiv erschließen zu können, bedarf es einer intel- lektuellen Auseinandersetzung mit dem konkreten Discours, der ja gewisserma- ßen Träger der Histoire ist. Eine Handlungsabfolge auf Grundlage eines bestimm- ten Einstellungssyntagmas mit bestimmten Einstellungsgrößen und Montage- verfahren, in dem Figuren in bestimmter Gestaltung erscheinen, muss als solche zunächst gelesen werden und gelesen werden können, ehe infolge einer kogniti- ven Abstraktionsleistung die mit diesem Einstellungssyntagma kommunizierte Handlung erschlossen werden kann.9 Die Wahrnehmung und Deutung des

CC 8 Abermals sei auf die Unterscheidung von ‚mise en phase‘ und ‚déphasage‘ hingewiesen, die Odin 2000 zieht. Ähnlich differenziert schon Tan (1996, 32–33), in seiner Untersuchung zu emo- tional wirksamen Aspekten im Spielfilm zwischen einer ‚fiction emotion‘ (der Film als Fiktion) und einer ‚artefact emotion‘ (der Film als Artefakt). 9 Entsprechend konstatiert auch Bordwell: „A film’s fabula is never materially present on the screen or soundtrack“ (1985, 49).

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 37

Discours und die Rekonstruktion und das Verstehen der Histoire verlaufen in der konkreten Rezeptionssituation jedoch nicht getrennt, sondern simultan und mit wechselweiser Referenz aufeinander.10 Ich stelle dies deshalb so deutlich heraus, weil eine totale Immersion in eine filmisch etablierte Diegese genauso wie eine (filmtextuell provozierte) völlige Distanzierung vom Film als Handlungskommu- nikat die absolute Ausnahme sind und zwischen diesen beiden Extremen eine kontinuierliche Skala anzunehmen ist. Bei jeder Filmbetrachtung nimmt man in der Regel mit wechselnder Dominanz in Abhängigkeit zur produktionellen Film- gestaltung mal stärker die Discoursschicht, mal stärker die Histoireschicht wahr – für gewöhnlich jedoch beide Dimensionen gleichzeitig. Materialsehen und Immersionssehen begleiten einander, ergänzen sich und interagieren.11 Das bedeutet im Weiteren, dass, selbst wenn ein Film immer wieder ostentativ ‚stö- rende‘ Materialaspekte aufweist, die Aufmerksamkeit der Rezipierenden mitun- ter deutlich auf die Discoursschicht gelenkt werden kann, ohne dass dadurch die rezeptive Abstraktion und Verarbeitung der Histoire völlig verloren gehen muss. Auf Grundlage dieser unmittelbaren und äußerst stabilen Interdependenz von Discours und Histoire ist es möglich und erklärbar, dass der Faktor des Gemach- ten als ästhetische Komponente im narrativen Prozess eines Films produktiv, in- formativ und kommunikativ eingesetzt werden kann. Andernfalls würde die Ak- zentuierung der Discoursschicht, also die Exponierung des Gemachten als ‚Bewusst-Gemachtes‘ mehr oder minder einen harten, unüberwindlichen Bruch in die Filmrezeption einbauen und die Rezipierenden würden ständig vom Be- wusstsein des virtuellen Raums zum Bewusstsein der Lebenswelt hin- und her- wechseln. Das aber entspricht weder dem Funktionsprinzip eines narrativen Films noch dürfte es durch eigene Rezeptionserfahrungen bestätigt werden kön- nen.

CC 10 Ansätze zu dieser „Implikationslogik“ (Metz 1972, 73) bzw. „spontane[n] Interpolation“ (Metz 1972, 186), wie sie Metz nennt, finden sich auch bei Balázs, der von einem „psychische[n] Reflexvorgang“ (1976, 111) sprich. Ausführlicher äußert sich dazu dann Mitry (z.B. 1990, 66). In der kognitivistischen Filmtheorie geht Bordwell (1985, 29–47) erstmals stärker darauf ein und weist darauf hin, dass „die histoire (‚fabula‘) […] kein vorfilmisches Ereignis [ist], das durch die Darstellung ([…] discours) repräsentiert wird, sondern [sie] entsteht erst im Prozess der kogniti- ven Verarbeitung des Zuschauers“ (Kuhn 2011, 33; siehe insgesamt Kuhn 2011, 32–38). 11 Dies ist in Abweichung zur eher isolierenden Konzeption von Tan 1996 zu sehen, der in der Forschung gerade deshalb wiederholt Widerspruch erfuhr. So geht etwa auch Schick, der seiner- seits einen Beschreibungsansatz mit drei ‚aktiven Feldern‘ (vgl. besonders Schick 2018, 226–280) vorschlägt, davon aus, „dass ein formales Element […] als solches sichtbar werden kann, also potentiell zu Artefaktemotionen führt, und dabei gleichzeitig entscheidend zur fiktionalen Welt und die in ihr verhandelten Themen beiträgt“ (Schick 2018, 237).

38 : Matthias C. Hänselmann

Materialtransparenz

Bestimmte Studios – und hierbei ist in erster Linie an das am ‚Illusion of Life‘- Konzept12 orientierte Disney-Studio zu denken13 – wollen die genannten kontra- immersiven Effekte gezielt vermeiden und entscheiden sich daher bei der Pro- duktion für eine Form, die ein Minimum an materialästhetischem Eigenwert be- sitzt. Die drei zentralen Punkte einer entsprechenden Discoursvariante sind: 1) eine völlig glatte, geschlossene, opake Oberfläche, die keinerlei Anzeichen ei- ner Fertigung oder Manipulation erkennen lässt (in der Regel Computer- animationen mit entsprechend optimalem Shading, aber auch klassische Cel- Animationen mit Acrylfarben); 2) ein stringenter, ereignisreicher und bruchloser Erzählverlauf mit einer (oft einzigen) zentralen narrativen Linie; und 3) der Ver- zicht auf beziehungsweise die gezielte Vermeidung von jedem inhaltlich medien- reflexiven Hinweis auf die formal-materielle Verfasstheit des Filmes. Das Materielle der Discoursschicht fungiert in solchen Animationen nur als Trägersubstanz und tritt nicht in seiner Eigenwertigkeit in den Vordergrund. Ganz deutlich liegt der Hauptakzent also auf der Histoire und das wird – quasi als Resultat aus den genannten drei Punkten – durch etwas erreicht, was ich Ma- terialtransparenz nenne.14 Materialtransparenz meint in diesem Zusammenhang, dass die materiellen Aspekte, speziell vom Standpunkt der Produktionsdimen- sion des ‚Bewusst-Gemachten‘ aus beurteilt, rein mediale Funktion haben und ihnen in der Informationsvermittlung selbst kein expliziter Eigenwert zugedacht ist. Das Material, der Discours ist, wie gesagt, nur Trägersubstanz für einen be- stimmten Inhalt, für eine bestimmte Histoire. Da sich die Materialität eines Medi- ums aber nicht per se tilgen lässt, bemüht man sich beim Versuch, Materialtrans- parenz als Faktor der Rezeptionsdimension des ‚Bewusst-Gemachten‘ zu erreichen, natürlich zentral um die Entwertung beziehungsweise Neutralisierung des materiellen Aspekts in der Wahrnehmung der Rezipierenden und zwar hin- sichtlich der Produktionsdimension des ‚Bewusst-Gemachten‘.

CC 12 Siehe dazu die immer noch maßgebliche Monographie von Thomas/Johnston 1981. 13 Seit den 1930er-Jahren und mit den SILLY SYMPHONIES als Versuchsplattform bemühte sich das Disney-Studio um eine stetige Steigerung der perzeptiven Realistik und der Materialtranspa- renz in seinen Animationsfilmen; vgl. dazu besonders Wells 1998, 21–24; sowie Crafton 2005. Diese Bestrebungen halten bis heute an; vgl. Telotte 2008, 159–178. 14 Ich orientiere mich hierbei an der schon 2001 eingeführten Begrifflichkeit „transparency of the medium“ (Ryan 2015, passim, siehe besonders Ryan 2015, 42–44).

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 39

Abb. 4: Das Modell zum Aufmerksamkeitsschwerpunkt als Funktion auditiver/visueller Kongru- enz bei Filmmusik nach Lipscomb und Kendall (vgl. Lipscomb/Kendall 1994, 91).

Um die Wirkungsweise von Materialtransparenz besonders vor dem Hintergrund der verschiedenen Dimensionen des Gemachten besser theoretisieren zu können, bietet es sich an, das bisher Gesagte in ein Funktionsmodell zu übersetzen. Hierzu bediene ich mich der Struktur eines Schemas, das Scott David Lipscomb und Roger Kendall zur Beschreibung des Inferenzverhaltens von Musik und Bild im Spielfilm entwickelt haben (siehe Abb. 4; vgl. Lipscomb/Kendall 1994 und Lip- scomb 1995, 15–25). Dieses Schema eignet sich in seinem Aufbau und seiner for- malen Gestaltung deshalb so gut für eine konzeptionelle Kontrafaktur, weil es mit Musik und Bild ebenfalls zwei interdependent verknüpfte und simultan rezi- pierte Komponenten aufweist, die zudem in ganz ähnlicher Weise wie die Dis- cours- und die Histoireschicht interagieren und die rezeptive Aufmerksamkeit durch bestimmte Akzentuierungen punktuell dominant auf sich vereinen kön- nen. Lipscomb und Kendall gehen davon aus, dass von den Rezipierenden im Prozess der Filmrezeption zwei implizite Urteile hinsichtlich Bild und Musik ge- fällt werden, nämlich: 1. ein Assoziationsurteil („association judgment“; Lipscomb/Kendall 1994, 90) und 2. ein Urteil bezüglich der Akzentstrukturen („mapping of accent structures“; Lipscomb/Kendall 1994, 90).

40 : Matthias C. Hänselmann

Das Assoziationsurteil basiert im Wesentlichen auf dem generellen Erfahrungs- schatz der Rezipierenden hinsichtlich der filmspezifischen Darstellungskonven- tionen im Umgang mit Musik und Bild im Allgemeinen.15 Infolge einer wiederhol- ten Konfrontation mit ähnlichen Bild-Musik-Korrelationen, über die weitgehend konstante semantische Informationen vermittelt werden, und der damit einher- gehenden mentalen Konzeptualisierung dieser konventionellen audiovisuellen Schemata besitzen die Rezipierenden gewisse Vorstellungen und in der Konse- quenz auch eine gewisse Erwartungshaltung hinsichtlich der Verknüpfung be- stimmter Bildinhalte mit einer bestimmten musikalischen Begleitung. Lipscomb und Kendall nennen hierzu unter anderem als Beispiel eines der klassischen „Musikklischees“ (Großmann 2008, 297), nämlich die musikalische Unterma- lung von ‚romantischen‘ Szenen mit Legato-Streichermelodien (vgl. Lipscomb/ Kendall 1994, 90). Beim Assoziationsurteil überprüfen die Rezipierenden folg- lich, ob die visuellen und akustischen Reize eines Filmes mit ihren entsprechen- den mental konzeptualisierten Filmerfahrungen übereinstimmen oder ob sie im Gegenteil davon abweichen. Im Urteil bezüglich der Akzentstrukturen prüfen die Rezipierenden hingegen das allgemeine Verhältnis von visuellen und akustischen Filminformationen mit Konzentration auf die betonten, akzentuierten Punkte und Segmente im Bildbe- reich und im Musikbereich. Bild und Musik können dabei in einem Verhältnis metrischer Konsonanz, Dissonanz oder phasenverschobener Konsonanz stehen. Im Gegensatz zum Assoziationsurteil handelt es sich beim Urteil bezüglich der Akzentstrukturen nicht um einen Rezeptionsprozess, bei dem mental konzeptu- alisierte Schemata abgerufen werden, sondern um eine immer aktuell am jewei- ligen Film und seiner spezifischen metrischen Strukturierung ansetzende Kogni- tionsleistung. Lipscomb und Kendall vermuten, dass bei angemessener Zuordnung von musikbezogenen Assoziationen und einem ‚konsonanten‘ Verhältnis von auditi- ven und visuellen Akzentstrukturen die Wahrnehmung der Musik auf einer un- bewussten Ebene bleibt beziehungsweise, dass der „attentional focus [… is] maintained on the symbiotic composite, rather than on either modality in

CC 15 Diese Annahme deckt sich mit der in der kognitiven Filmwissenschaft vertretenen Hypo- these, dass – man könnte mit Metz (1972, 109) sagen, aufgrund der ‚perzeptiven Genauigkeit‘ bzw. Ähnlichkeit beider Wahrnehmungsformen – „die perzeptuellen und kognitiven Ressour- cen, auf die Zuschauer bei der Filmwahrnehmung zugreifen, weitgehend dieselben sind wie bei der Wahrnehmung der Alltagswelt“ (Eder 2008, 54). Schwan beispielsweise berücksichtigt in seiner Theorie jedoch stärker den Umstand, „dass Zuschauer im Film mit (aufgezeichneten) Wirklichkeitsausschnitten konfrontiert werden, die in einer Weise gestalterisch überformt sind, dass sie in wichtigen Aspekten von der unmittelbaren Alltagserfahrung differieren“ (2001, 5).

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 41 isolation“ (Lipscomb 1995, 16–17). Hingegen kommt es bei einem unpassenden Verhältnis (einer Interferenz) zwischen auditiven und visuellen Akzentstruktu- ren oder bei einer unangemessenen Verbindung einer bestimmten Bildhandlung mit einer bestimmten musikalischen Untermalung zu einer Verlagerung des Wahrnehmungsschwerpunkts und die Rezipierenden werden, „in an explicit an- alytical attempt to determine a reason for the incongruence“ (Lipscomb/Kendall 1994, 91), mit recht großer Gewissheit dazu veranlasst, Bild und Musik isoliert voneinander zu perzipieren.

Abb. 5: Das Modell zum Aufmerksamkeitsschwerpunkt von Material- und Immersionssehen (Matthias C. Hänselmann).

Übernimmt man die Struktur dieses Modells zur Schematisierung von Material- transparenz, können zunächst die beiden Perzeptionsfaktoren des ‚aural stimu- lus‘ und des ‚visual stimulus‘, wie sie das Erklärungskonzept von Lipscomb und Kendall aufweist, durch die interdependenten Komponenten des Discours und der Histoire ersetzt werden (siehe Abb. 5). Wie ausgeführt, treten diese gewisser- maßen gleichzeitig in die Wahrnehmung der Rezipierenden ein. Die beiden nach- geordneten Stufen der impliziten Urteilsbildung können weitgehend beibehalten werden und sind lediglich an die neuen Referenzaspekte von Discours und His- toire anzupassen. So ist durchaus auch bei der gesamten Filmrezeption zunächst

42 : Matthias C. Hänselmann eine Stufe des Assoziationsurteils anzunehmen, auf der die wahrgenommenen Sehreize vor der Folie konzeptualisierter Seherfahrungen bewertet werden.16 Da- bei können zwei verschiedene Konzeptualisierungsformen unterschieden wer- den, die sozusagen auf die ‚phylogenetische‘ und die ‚ontogenetische‘ Formen- entwicklung des Films referieren und sich entsprechend sowohl in einem allgemeinen Verständnis filmischer Darstellungsformen als auch in einem spezi- fischen Verständnis der Darstellungsformen eines ganz konkreten Einzelfilms niederschlagen. Das allgemeine Verständnis filmischer Darstellungsformen betrifft – um ih- rer Anschaulichkeit wegen eine alte Metapher zu gebrauchen – die ‚Filmspra- che‘. Dabei gilt, dass „[d]ie Filmsprache […] nicht weniger konventionell als jede andere Sprache“ (Ėjchenbaum 2005, 49) ist und in der Folge „wie die Mutterspra- che im Vorschulalter erlernt [werden muss], allerdings nicht bei der Mutter, son- dern vor dem Bildschirm“ (Knilli 1971, 7). Durch wiederholte ähnliche Seherfah- rungen wird man darin geschult, die Bilderfolgen, Darstellungskonventionen und Montagetypen des Films zu ‚lesen‘, wodurch sie – infolge mentaler Konzep- tualisierungsleistungen – in hohem Maße selbstverständlich werden, sofern und solange sie sich im Rahmen einer konventionellen Kinematografie bewegen.17 Auf dieser grundlegenden filmrezeptiven Kompetenz baut das spezifische Verständnis der Darstellungsformen eines ganz konkreten Einzelfilms auf. „Jeder Film schafft seine eigene Ästhetik“ (Lissa 1965, 299) und „[d]ie kleinste Innova- tion auf diesem Gebiet [des Films] überrascht uns nicht weniger als das Auftreten eines neuen Wortes in der Sprache“ (Ėjchenbaum 2005, 30), was insbesondere für den Animationsfilm entscheidende Bedeutung hat, da hier die filmische Auf- zeichnung nicht ein in gewissem Umfang visuell eher homogenes Ausgangsma- terial festhält, wie das im Realfilm der Fall ist, sondern ein je nach gewählter Dar- stellungstechnik und verfolgtem Gestaltungsstil eine von Film zu Film alternie- rende und zum Teil stark differierende Optik wiedergibt. Ein_e im Figurendesign des westlichen Zeichentrickfilms geschulte_r Zuschauer_in wird so beispiels- weise beim ersten Kontakt mit traditionellen japanischen Anime Schwierigkeiten

CC 16 Vgl. die elementare Auffassung bereits bei Ėjchenbaum: „Die Grundlage der Filmsemantik bildet jener Vorrat mimischer und gestischer Ausdrucksfähigkeit, den wir uns im Alltag ange- eignet haben und der deswegen auf der Leinwand ‚unmittelbar‘ verständlich ist“ (2005, 49). Siehe dazu auch Bordwell 1985, 30–33; sowie Buckland 2000, 30–51; und speziell zum Zeichen- trickfilm Hänselmann 2016. Zum Zusammenhang der Wahrnehmung von ‚Realität‘ und ‚Film‘ siehe auch Rushton 2011, 140–143. 17 Entsprechend weist Bordwell zu Recht darauf hin, dass „[l]ike all inferences, perceptual ex- perience tends to be a little risky, capable of being challenged by fresh environmental situations and new schemata“ (1985, 31).

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 43 haben, die nach einem eher stereotypen Figurenkonzept gestalteten Handlungs- träger_innen unterscheiden zu können.18 Entsprechend muss er_sie sich bei der Betrachtung eines traditionellen Anime, eines Kohlestifttrickfilms oder einer Pinscreen-Animation immer neu auf den gewissermaßen neutralen Materialas- pekt des jeweiligen Filmes einstellen, ein Gefühl, ein Verständnis und eine Er- wartungshaltung gegenüber dem Film und seiner Darstellungsweise entwickeln und sich sozusagen in seine Gemachtheit ‚einsehen‘. Sobald dies geschehen ist – und es geschieht, wie bereits gesagt, umso rascher und nachhaltiger, je deutli- cher sich der Film in seinem Discours an konventionellen, breit bekannten und den bereits genannten drei zentralen Aspekten der Oberflächengestaltung orien- tiert –, tritt auf der Stufe des Assoziationsurteils Materialtransparenz ein. Wann und wie es zum Eindruck von Materialtransparenz kommt, lässt sich jedoch nicht definitiv und vor allem nicht allgemeingültig sagen. Es trifft hierbei dasselbe zu, was Lipscomb und Kendall in Bezug auf das visuell-musikalische Assoziations- urteil konstatieren: „This decision will be determined by the subject’s past expe- rience and is, as a result, individual-specific“ (Lipscomb/Kendall 1994, 91). Die Entstehung von Materialtransparenz ist auf dieser Stufe jedoch eng mit dem ver- bunden, was Šklovskij und seine Nachfolger_innen in dem dialektischen Ver- hältnis von Verfremdung und als Kausalzusammenhang beschrie- ben haben.19 Zentral ist dabei, „daß Handlungen, wenn man sich an sie gewöhnt hat, automatisch werden. So geraten z.B. alle unsere Angewohnheiten in den Be- reich des Unbewußt-Automatischen […]. Mit dem Prozeß der […] Verautomatisie- rung einer Sache wird die größte Ökonomie der Wahrnehmungskräfte erreicht; die Dinge bieten sich entweder nur mit einem ihrer Merkmale dar, zum Beispiel als Nummer, oder sie werden gleichsam nach einer Formel ausgeführt, ohne überhaupt im Bewußtsein zu erscheinen“ (Šklovskij 1971, 11–13). Auf einen

CC 18 Während das amerikanische Studiosystem traditionell auf studioeigene, stark individuali- sierte Zeichentrickfiguren mit großem Wiedererkennungswert setzte, ist für japanische Anime- Produktionen ein standardisiertes isomorphes Figurendesign maßgeblich, da hier die eigentli- che Fertigung ausgehend von Schlüsselzeichnungen meist in billigere Länder wie Korea und die Philippinen ausgelagert wird, was eine schematische Figurengestaltung erfordert, um Einheit- lichkeit zu garantieren. Entsprechend festigte sich eine Standardanimefigur: diese „is the one most often used in anime because it’s easy to animate, it’s easy to convey to in betweeners in Korea and China, and in the computing world it saves memory“ (Clements 2009, 359). Hinzu kommen für den Anime u.a. die ebenfalls eher entindividualisierend wirkenden Faktoren der ‚kulturellen Geruchslosigkeit‘ (siehe dazu Iwabuchi 2002, 23–50; Napier 2005, 24; Nash 2009, 286) sowie der Androgynität (siehe dazu Clements 2009, 342; Cooper-Chen 2011, 89; Nash 2009, 286; Napier 2005, 196). All das führt häufig dazu, dass „[c]asual observers of manga [and anime] may claim that ‚all manga [and anime] characters look the same‘“ (Crilley 2017, 6). 19 Vgl. neben Šklovskij 1971 vor allem auch Tynjanov 1971, 411–413.

44 : Matthias C. Hänselmann

Animationsfilm und sein Gemachtsein, seine spezifische materielle ‚Faktur‘ über- tragen bedeutet das, dass sofern der Film nach den konventionellen Darstel- lungsverfahren erzeugt wurde20 beziehungsweise sobald wir uns in den indivi- duellen Discours des Films ‚eingesehen‘ haben, der Discours „aus unserem Be- wußtsein verschwindet“ (Šklovskij 1971, 35). Wir sehen dann nicht mehr die Dis- coursschicht in ihrer (um an Kreuzers Begrifflichkeit anzuknüpfen: sozusagen ‚lebensweltlichen‘) akustisch-visuellen Textualität, die eine bestimmte Histoire transportiert, sondern nehmen vorrangig die Histoire als solche wahr. Das Mate- rielle der Darstellung wird neutralisiert, es sinkt auf die Stufe des Selbstverständ- lichen herab und wird an sich überhaupt nicht mehr gesehen. Da das Gemachte als ‚Bewusst-Gemachtes‘ in seiner Rezeptionsdimension damit weitgehend aus dem effektiven Kommunikationszusammenhang getilgt, die Discoursschicht also unter Verzicht auf ihr spezifisch semiotisches Potenzial sowie unter Verlust ihrer besonderen ästhetischen Attraktivität und Auffälligkeit weitgehend durchsichtig wird, wird das Materielle transparent: es herrscht Materialtransparenz. Die zweite Stufe, die im Modell von Lipscomb und Kendall für das Urteil be- züglich der bildlich-musikalischen Akzentstrukturen reserviert ist, kann bei der Übertragung ihres Modells zur Schematisierung der zu Materialtransparenz füh- renden Prozesse zwar beibehalten werden, sie ist dann aber inhaltlich neu zu be- setzen – und zwar durch eine Stufe der Urteilsbildung bezüglich Aspekten der expliziten Selbstreflexivität. Stellte sich beim Betrachten eines Films auf der Stufe des Assoziationsurteils Materialtransparenz ein, so wird diese wieder un- terminiert, sobald im Film – etwa in Form von autoreferenziellen oder material- akzentuierenden Strukturen – die Gemachtheit des Films als solche thematisiert wird.21 Eine Publikumsansprache einer diegetischen Figur in Richtung ‚Kamera‘; tendenziell metaleptische Äußerungen einer Figur über die Geschichte, in der sie auftritt;22 die Zurschaustellung von Produktionsapparaten und Bestandteilen der Produktion für die Herstellung des Films; die Inszenierung von Materialstörun- gen im visuellen oder akustischen Bereich etc. – all das führt, wenn auch auf ei- ner anderen Ebene, ebenfalls dazu, dass die Discoursschicht eines Films

CC 20 Hierbei gilt in besonderer Weise, was Šklovskij zum konventionsbedingten Zustandekom- men von automatisierter Wahrnehmung feststellte: „Dinge, die man mehrere Male wahrnimmt, beginnt man durch Wiedererkennen wahrzunehmen; der Gegenstand befindet sich vor uns, wir wissen davon, aber wir sehen ihn nicht“ (Šklovskij 1971, 15). 21 Wolf spricht von einem „self-reflexive foregrounding […] of the means of transmission“, was dazu führt, dass „the reader’s focus shifts from the represented diegetic world as the centre of aesthetic illusion to the conditions and limitations of its construction and opaque transmission, thereby activating distance and endangering immersion“ (2013, 49). 22 Siehe hierzu grundlegend auch Feyersinger 2017.

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 45 akzentuiert und ausgestellt, das Gemachte des Films bewusstgemacht und eine etwaig vorausgehende Materialtransparenz aufgelöst wird. Dient der Discours hingegen im Weiteren ausschließlich dem Transport einer bestimmten Histoire und interferiert das Materielle also nicht mit dem Illusionierten, so erhält sich der immersive Effekt der Materialtransparenz.

Zur Zerstörung und Überwindung von Materialtransparenz

Mit Šklovskij muss man Materialtransparenz allerdings als etwas Problemati- sches ansehen, denn sie reduziert das Ausdrucksvermögen eines Mediums künst- lich, ohne künstlerischen Mehrwert daraus zu ziehen. Materialtransparenz ist in dieser Hinsicht das Ergebnis einer Standardisierung der Produktion sowie einer Automatisierung des Sehens, in deren Konsequenz der Film gewissermaßen ein- dimensional auf die Kommunikation eines histoiredominierten Inhalts limitiert wird, ohne dass der Discoursschicht als semiotischer Kategorie größere Relevanz zufallen würde. Gerade der produktionelle Aspekt des ‚Bewusst-Gemachten‘ und konkret die semiotisch wirksame Bedeutungsdimension, dass gezielt eine ganz bestimmte Darstellungstechnik für die Wiedergabe eines bestimmten Inhalts ge- wählt wurde, wird auf diesem Wege tendenziell kommunikativ und perzeptiv aus dem Film getilgt.23 Für Šklovskij gilt zudem auch, dass „das Verfahren der Kunst […] das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwer- ten Form [ist], ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden“ (Šklovskij 1971, 15). Um also ein spezifisch künstlerisches Po- tenzial zu entfalten – und das heißt: um eine eingetretene Automatisierung zu- rückzunehmen, Materialtransparenz zu vermeiden beziehungsweise aufzuhe- ben, Immersion zu erschweren und der Discoursschicht eines Films in Gestalt des Gemachten als ‚Bewusst-Gemachtes‘ zu einer eigenständigen ästhetischen Gel- tung zu verhelfen – kann und sollte ein Film, nach Šklovskij, gezielt das Materi- elle betonen.

CC 23 In Anknüpfung an die Gedanken von Jean Baudrillard zur Simulationstheorie und zum Si- mulacrum formuliert Ryan allgemein den Gedanken, dass „immersion in a virtual world leads to a virtualization of the experiencer“ (2015, 22), d.h. zur Angleichung der Sinnesorgane bzw. – weniger pointiert formuliert – zur Angleichung der Rezeptionsweise der Rezipierenden an die immersive Umwelt und damit letztlich zu einer Habitualisierung in Relation zum Rezipierten.

46 : Matthias C. Hänselmann

Dies kann bereits auf der Stufe des Assoziationsurteils geschehen, wobei es dann im Wesentlichen zwei Möglichkeiten gibt. Bei der einen, die gleichsam auf eine totale Materialwirkung ausgelegt ist, wird gezielt eine Darstellungstechnik gewählt, die in ihrer Discoursschicht zu ausgeprägt beziehungsweise illusionis- tisch zu schwach ist, um vordergründig dominant die Histoire zu tragen. Ein ein- drückliches und zugleich extremes Beispiel dafür ist etwa die experimentelle Ani- mation INTERGALACTIC ZOO (196?) von Mort und Millie Goldsholl. Dieser Film verwendet Kugelketten, die in Gestalt ‚außerirdischer‘ Fantasiewesen gelegt und lediglich minimal animiert werden. Der sehr auffällige materielle Charakter der Ketten einerseits und andererseits der Umstand, dass die dargestellten Fantasie- wesen nur durch ihren Umriss bestimmt sind, führt rezeptiv dazu, dass die Auf- merksamkeit und der Wahrnehmungsfokus der Rezipierenden sehr stark – und besonders wenn die Fantasiewesen ihre Form verändern – zwischen Materialse- hen und Immersionssehen oszillieren. Zusätzlich tritt infolge der äußerst redu- zierten Histoire die Discoursschicht in ihrer ganzen Plastizität deutlich in den Vordergrund. Auf diese Weise wird jede stärkere Immersion verhindert, jedoch gleichzeitig eine Perzeptionssituation hergestellt, in der die Rezipierenden an der Umbruchkante zwischen Materialität und Immersion entlanggeführt werden. Ge- rade die Schwäche der Histoire und die Dominanz der Discoursschicht führen zu einer fortgesetzten Aufrechterhaltung des Gemachten als ‚Bewusst-Gemachtes‘ im Bewusstsein der Rezipierenden. Zweifelsohne ist es gerade diese perzeptive Grenzsituation, deren Struktur und Wirkungszusammenhang Mort und Millie Goldsholl bei ihrer Animation auszutesten und wiederzugeben suchten. Auch die den Film einleitende Widmung „this film is dedicated to the men, women & chil- dren... of mars!“ spricht dafür, dass der Film primär auf die in gewöhnlichen Mainstream-Animationen vernachlässigten Potenziale der Verfremdung hinwei- sen und diese erschließen möchte. Eine ähnlich illusionistisch schwache, mate- riell hervorstechende Discoursschicht verwendet auch Bettina Maylone in ihrer Stickanimation DISTANT ISLANDS (1981), in der es ebenfalls zu einem fortgesetzten Changieren zwischen Materialsehen und Immersionssehen kommt. Theoretisch folgt aber, wie gesagt, nach einer bestimmten Phase des ‚Einse- hens‘ bei jeder Auseinandersetzung mit einem Film eine Phase, in der das Mate- rielle weitgehend aus dem Bewusstsein der Rezipierenden verschwindet und die Histoire als der zentrale und eigentliche Aspekt eines Filmkommunikats wahrge- nommen wird. Um die damit eintretende Materialtransparenz auf der Stufe des Assoziationsurteils zu überwinden und das Gemachte eines Films abermals zu reetablieren und zu aktualisieren, gibt es noch eine zweite Möglichkeit, nämlich das, was man mit Šklovskij im eigentlichen Sinne als Verfremdung bezeichnen könnte. Dabei werden gezielt Akzentpunkte in der Discoursschicht installiert, die

Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes : 47 immer wieder aufs Neue die materielle Seite des Films hervorkehren und diese beim Publikum als relevanten Faktor der Gesamtkommunikation wachhalten. Dieses Verfahren erfordert natürlich, dass es tendenziell unausgesetzt und mit hoher Variationsdichte zum Einsatz kommt, da im Prinzip davon auszugehen ist, dass, da das Gemachte als ‚Bewusst-Gemachtes‘ eben „nur durch Verfremdung wirksam wird und wirksam bleibt, […] die auf diese Weise entstandenen neuen Formen, sobald sie ihrerseits kanonisiert und damit automatisiert worden sind, selbst wieder verfremdet werden [müssen]“ (Striedter 1971, XXIV). Die in ihrer Optik eher konventionelle Animation TWO SISTERS (1990) von Caroline Leaf kann in diesem Zusammenhang als Beispiel angeführt werden, denn in ihr unterbricht die Imperfektion der Darstellung immer wieder den immersiven Effekt und lenkt Aufmerksamkeit auf die konkrete Oberflächenschicht des Filmes. Auf andere Weise (nicht aber weniger) effektiv sind auch Brüche, die sich aus der Kontras- tierung verschiedener Animationstechniken ergeben und damit gezielt mit der rezeptiven Erwartung einer materiellen Konstanz oder Homogenität konfligieren. So treten beispielsweise in Michèle Cournoyers LA BASSE COUR (1992) in einer nor- malen Bildanimation plötzlich gegenständliche Aspekte auf: echte Wassertrop- fen fließen aus gemalten Augen, eine echte Flüssigkeit rinnt aus einem gezeich- neten, zerbrochenen Ei, eine Figur rupft eine andere huhnartige Figur, wobei echte Vogelfedern abgebildet werden etc. Es kommt dadurch zu einer Interferenz der Darstellungstechniken von Bildanimation und Objektanimation, wodurch die Materialität beider Animationsmethoden plastisch hervortritt. Eine ähnliche Unterminierung der Materialtransparenz erreicht auf anderem Wege auch Kathy Rose, die in PENCIL BOOKLINGS (1978) die stark schematische und cartoonhafte Zeichnung der Fantasiefiguren mit der exakten, rotoskopisch erzeugten Selbst- darstellung der Animatorin konfligieren lässt. Ähnlich verhält es sich bei Shane Koyczans TROLL (2014), einem Animations- film, der auch deshalb von größerem Interesse ist, da hier eine bestimmte Mate- rialität lediglich künstlich generiert und zur Anschauung gebracht wird, ohne dass der Film bezüglich seiner Herstellungstechnik eine solche Materialität über- haupt besitzen würde. Tatsächlich wurde die Animation von TROLL rein compu- tergrafisch erzeugt und dabei künstlich mit einem Leinwand-Effekt ausgestattet, gerade so, als wäre die Animation nicht im Computer entstanden, sondern im re- alen Raum auf konkretem Malmaterial. Die aufmerksamkeitswirksamen Aspekte des Gemachten sind in diesem Film damit lediglich Effekte und gerade deshalb besonders effektiv, eben weil sie nicht erwartbar sind. Die Materialität, die mit der Discoursschicht aufscheint und diese als ‚Bewusst-Gemachtes‘ markant wahrnehmbar werden lässt, muss also keine tatsächliche, vorfilmisch faktisch gegebene sein, sondern sie kann auch lediglich suggeriert beziehungsweise illu-

48 : Matthias C. Hänselmann sioniert werden. Zugleich wirkt dieser Film in gewissem Umfang sogar sowohl auf der Ebene des Assoziationsurteils als auch auf der Stufe der Urteilsbildung bezüglich Aspekten der expliziten Selbstreflexivität. Da er eine Materialität aus- stellt, die er eigentlich nicht besitzt, instanziiert er implizit die Frage nach der adäquaten Materialität und nach Materialität überhaupt – und wirkt damit in un- gewöhnlicher Weise zusätzlich medienreflexiv. Natürlich gibt es, was die Stufe der Urteilsbildung bezüglich Aspekten der expliziten Selbstreflexivität anbelangt, auch einfache Verfahren zur Unterminie- rung von Materialtransparenz. Dazu gehören sämtliche Formen der Auto- und Medienreflexivität, bei denen gezielt Störungen, Darstellungsfehler, Kontinui- tätsbrüche etc. inszeniert werden, um explizit auf den materiellen Aspekt eines Filmes hinzuweisen. Als Musterbeispiel für diese Möglichkeit, die Materialtrans- parenz eines Filmes zu zerstören, kann sicher Osamu Tezukas BROKEN DOWN FILM (1985) dienen, der Medienreflexivität im Exzess betreibt. Dabei gilt auch auf die- ser Stufe der impliziten rezeptiven Urteilsbildung, dass die Verfahren der Selbst- reflexivität kontinuierlich und variationsreich angewendet werden müssen, um einen anhaltenden materialitätsinszenatorischen Effekt erzielen zu können. Es genügt eben nicht, einen selbstreflexiven Faktor in einen Film einzubauen, um einen bestimmten Verfremdungseffekt bei den Zuschauer_innen hervorzurufen, da sich auch Selbstreflexivität – und das zeigt sich nirgends deutlicher als an den durchaus originellen, aber letztlich doch zum Schematismus neigenden Cartoons Tex Averys – als Verfahren des rezeptionsorientierten Bewusstmachens automa- tisieren kann und ab einem gewissen Konventionalisierungsgrad vorhersehbar24 und damit wirkungsästhetisch letztlich wiederum geradezu unsichtbar wird.

CC 24 Die besonders für den amerikanischen Zeichentrickfilm der 30er- und 40er-Jahre typischen medien- und selbstreflexiven Verfahren wirken in der Folge wie Genrespezifika, die bei der_dem Rezipierenden zu „an expectation or inference on transtextual grounds“ (Bordwell 1985, 36; Herv. im Original) führen und letztlich von vornherein erwartet werden, wodurch ihr material- akzentuierendes Potenzial tendenziell verblasst. Siehe dazu auch die Ausführungen von Wuss zu den filmischen „priming patterns“ (2009, 48) und ihren Einfluss auf Rezeptionserwartung und Filmverstehen.

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Resümee

Ziel des vorliegenden Aufsatzes war es, den Begriff des Gemachten in seiner be- sonderen medientheoretischen Anwendung auf Filmtexte zu spezifizieren sowie die elementaren mentalen Prozesse zu modellieren, denen bei der rezeptiven Ver- arbeitung des materiellen Aspekts von Filmen größere Bedeutung zukommt. Zu diesem Zweck wurde zunächst der Begriff des Gemachten durch den des ‚Bewusst-Gemachten‘ ersetzt. Dieser Hilfsbegriff diente dazu, die beiden zentra- len Aspekte des Gemachten stärker zu profilieren und einer größeren analyti- schen Klarheit wegen systematisch voneinander zu trennen: nämlich die beson- ders semiotisch relevante Produktionsdimension sowie der Faktor der rezeptiven Wirkung materieller Oberflächenaspekte. Diese Unterscheidung ermöglichte es zudem, die Produktionsdimension und die Rezeptionsdimension eines Medien- produkts mit den in der allgemeinen Narratologie etablierten Konzepten von Dis- cours und Histoire zu korrelieren, um auf diesem Wege einen Anschluss an das Modell der Bewusstseinsebenen der Filmwahrnehmung von Anselm Kreuzer zu schaffen. So ließen sich die Discoursebene mit der Lebenswelt und die Histoire- ebene mit dem virtuellen Raum der individuellen Filmrezeption nach Kreuzer verknüpfen und die zwischen diesen beiden Polen fluktuierenden Rezeptions- prozesse des Materialsehens und des Immersionssehens als interdependente und interaktive Kognitionsleistungen modellieren. In einem weiteren Schritt wurde dann der Versuch unternommen, unter Rückgriff auf einen Beschreibungsansatz von Scott David Lipscomb und Roger Kendall das Inferenzverhalten von Discoursebene und Histoireebene sowie die davon determinierte Möglichkeit einer filmisch erzeugten Immersionserfahrung zu formalisieren. Auf Grundlage der These, dass „transparency is […] the precon- dition for total immersion in a medium-created world“ (Ryan 2015, 43), kam der Materialtransparenz dabei eine zentrale Rolle zu. In Orientierung an formalisti- schen wie neoformalistischen Auffassungen wurden als Hauptfaktoren für die Entstehung von Materialtransparenz einerseits eine in Bezug auf die Rezipieren- denerfahrung konventionelle und damit unauffällige Gestaltungsweise sowie an- dererseits die Vermeidung expliziter Selbstreflexivität angesehen und in ein Zweistufenmodell integriert. Auf Grundlage dieser theoretischen Überlegungen wurden abschließend an- hand konkreter Beispiele aus dem Bereich des Zeichentrickfilms unterschiedli- che Verfahren in den Blick genommen, mittels derer Materialtransparenz gezielt vermieden werden kann, um die materielle Dimension des Gemachten als rele- vanten Aspekt der Medienkommunikation zu aktivieren und auszustellen.

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Jaqueline Berndt Hand in Hand

Kouno Fumiyos Mangaserie Kono sekai no katasumi ni (In This Corner of the World) im Vergleich zur Anime- Adaptation durch Katabuchi Sunao

Abstract: Die Charakterisierung von Manga und Anime als superflach tendiert dazu, die materiale Dimension ihrer Gemachtheit zu übersehen. Während Ge- machtheit im Sinne von Stilisierung, Hypermedialität und parodischer Intertex- tualität zunehmend Aufmerksamkeit findet, sind die Beharrlichkeit des Hand- werks, die Rolle der Handzeichnung und die Vorliebe für ein analoges Erscheinungsbild bislang kaum hinsichtlich ihrer medienästhetischen Konse- quenzen diskutiert worden. Am Beispiel von In This Corner of the World wird in diesem Beitrag verfolgt, wie sich die Handlung der Geschichte und die Darstel- lung der Hand mit dem comicspezifischen Einsatz von freihändiger Zeichnung, papiernem Seitenraum und seriellem Publikationsformat verschränken. Die pragmatische Ausrichtung auf greifbare Nähe zwischen Vergangenheit und Ge- genwart sowie Figuren und Leser_innen ist dabei vordergründiger als die Auffor- derung, die Konstitutiertheit des Mediums Comic zu reflektieren.

Einleitung

Manga und Anime werden gern als superflat charakterisiert. Dieses Schlagwort geht auf den Künstler Murakami Takashi1 zurück, der Ende der 1990er Jahre da- mit drei Merkmale der ästhetischen Kultur Japans aufzuwerten versuchte: flache

!! Prof. Dr. Jaqueline Berndt, Universität Stockholm, Department of Asian, Middle Eastern and Turkish Studies, Roslagsvägen 101, Kräftriket 4 B, 104 05 Stockholm, E-Mail: [email protected]

:: 1 Japanische Personennamen erscheinen hier mit Ausnahme des Literaturverzeichnisses in der japanischen Reihenfolge, d.h. Familienname vor Vorname ohne Trennung durch ein Komma. Die Transkription japanischer Wörter folgt dem auf dem Englischen beruhenden Hepburn- System (https://en.wikipedia.org/wiki/Romanization_of_Japanese; letzter Zugriff: 1. Dezember 2017).

Open Access. © 2018 Jaqueline Berndt, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-004

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Hierarchien (oder Gleichartigkeit), oberflächliches Denken (oder sinnlich-affek- tive Leistungen) und flächige Bildkompositionen (oder 2D) (vgl. Berndt 2005). Be- zog Murakami den ersten Aspekt auf die damals noch weit geteilte Annahme ei- ner Mittelstandsgesellschaft in , also die angebliche Abwesenheit von Klassenunterschieden, so treten Modularität und Konventionalität im bildlichen wie narrativen Sinn in den Vordergrund, wenn es heute um die Identität von Anime und Manga geht (vgl. Suan 2017). Außergewöhnlich individuelle Erzäh- lungen scheinen sich beim japanischen Comic vornehmlich in der Vergangenheit zu finden (etwa dem ),2 beim Zeichentrick in künstlerischen Kurzfilmen, die selten unter dem Namen Anime zirkulieren. Das Reservoir an Modulen, das mittlerweile als globales Erkennungsmerk- mal mangaesker Comics and anime-esker Zeichentrickfilme gilt, bezeichnet man im Gefolge des Kritikers Azuma Hiroki gern als Datenbank (vgl. Azuma 2009; Kacsuk 2016); gemeint ist das fankulturell geteilte Archiv, welches sich seit den 1970er Jahren herausbildete und mit dem Internet schließlich vergegenständ- lichte. Aus einer Datenbank von Versatzstücken zu schöpfen anstatt auf indivi- duelle Innovation zu zielen, ist zu allererst ein produktionsseitiges Erfordernis gewesen: Es hat Arbeitsteiligkeit sowie das Einsparen von Zeit und Kosten er- laubt. Rezeptionsseitig haben wiedererkennbare Elemente und zur Gleichartig- keit stilisierte Figuren als Immersions- und Projektionsflächen gedient sowie als Ansatzpunkt für fankulturelle Kreationen und um diese herum gebildete Gemein- schaften. Nicht in der kritischen Beobachtung und tiefgründigen Bedeutung und auch nicht in der Reflexion von Gemachtheit liegt das ästhetische Potenzial von ‚superflachen‘ Anime und Manga, sondern in der mehr oder weniger unmittelba- ren, affektiven Verbindung, die sie vermitteln. Wenn Gemachtheit bei den regu- lären Nutzer_innen von Manga und Anime Beachtung findet, dann vor allem als Parodie, als intertextuelle Vernetzung verschiedener medien- und genrespezifi- scher Elemente, weniger als moderne künstlerische Selbstreflexivität, die zu tie- feren Einsichten in das Medium und die Welt führen mag, indem sie das Vertraute aufstört und ästhetisch-narrative Transparenz unterläuft. Im Unterschied zu die- sem zweiten Aspekt ist es vor allem der dritte, die Flächigkeit der Bilder betref- fende, welcher oft als konstitutiv für die Ästhetik von Anime, und in geringerem

:: 2 Gekiga (wortwörtlich ‚dramatische Bilder‘) verbreitete sich im Japan der 1960er Jahre als Be- zeichnung für grafische Erzählungen, die sich an eine nichtkindliche, vor allem männliche Le- serschaft richten. Heute verstehen viele Comics-Aficionados außerhalb Japans gekiga in Bezug auf Zeichner wie Tatsumi Yoshihiro und Tsuge Yoshiharu als sozialkritischen und/oder literari- schen Comic, der auf mangaesken Humor, Niedlichkeit und Parodien verzichtet und sich der Kulturindustrie verweigert, wohingegen Manga-Fans gekiga auf einen (veralteten) Stil reduzie- ren.

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Maße Manga, verstanden wird. So stellt Alistair D. Swale als einer von vielen fest: „The overwhelming majority of Japanese-based productions maintain an attach- ment to 2D or hand-drawn character design within a backdrop and texturing that is aided by 3D design and digital imaging“ (2015, 39). Insbesondere TV-Anime- Serien (die Swale zugunsten der in sich geschlossenen Kinofilmwerke vernach- lässigt) nehmen nach wie vor mehrheitlich ihren Ausgang vom Zeichnen auf Pa- pier: Im Jahre 2016 sollen nur 3% aller TV-Anime ausschließlich digital generiert worden sein und nur maximal ein Fünftel in einer Kombination von Handzeich- nung und 3D CGI (vgl. kVIN 2017). Die Filmwissenschaftlerin Mitsuyo Wada-Mar- ciano erklärt die japanische Zurückhaltung gegenüber CGI mit Medienformaten: „The industry’s high affinity with television and OVA () has configured the characteristics of anime primarily as 2-D, or a style evoking cel (celluloid) animation“ (2012, 75). Die Verschränkung von 2D (heute oft mit der Handzeichnung gleichgesetzt) und 3D (heute hauptsächlich als CGI verstanden) war bereits vor dem Zeitalter der Digitalisierung charakteristisch für Anime (vgl. Fujitsu 2016a) und hat sich – von TV-Serien bis hin zu Studio-Ghibli-Filmen – als eine stilistische Konvention etabliert, die man selbst noch mit digitalen Mitteln zu erhalten sucht, nicht zu- letzt der Distinktion von US-amerikanischen Produktionen wegen.3 Doch so sehr man am Anime die Kombination von analoger (oder analog erscheinender) Zeich- nung und CGI auch schätzt, die ästhetischen Effekte, die sich aus der materialen Dimension solcher Gemachtheit ergeben, werden kaum angesprochen.4 Norma- lerweise gerät im Namen des ‚Superflachen‘ ins Zentrum, was eine bestimmte Er- zählung darstellt und welche ideologische Orientierung sich damit verbindet, nicht jedoch die Gemachtheit (craftedness) als Teil der Bedeutung von Geschich- ten, als Verschränkung von Bedeutungsinhalt, ästhetischen Qualitäten und Techniken (vgl. Brushwood Rose/Low 2014, 30–31). So versteht beispielsweise die Japanologin Deborah Shamoon (2015) den Wechsel der Materialität in PUELLA MAGI MADOKA MAGICA (ab 2011) – von der domi- nierenden cel-look animation des Studio zu den in Stopmotion animierten Papiercollagen des Gekidan Inu Curry – ausschließlich als Darstellung zweier in- tradiegetischer Domänen: derjenigen der Mädchen und derjenigen der ihnen feindlich gesonnenen (erwachsenen) Hexen. Und genau dieser Fokus verleitet sie zu einer Bewertung der Serie als ‚superflach‘ im negativen Sinne: Anders als in

:: 3 Zur späten Durchsetzung der Digitalisierung im Anime vgl. Russo 2017. 4 Symptomatisch: https://de.wikipedia.org/wiki/Puella_Magi_Madoka_Magica (letzter Zu- griff: 1. Dezember 2017). Hier wird nicht einmal das Trickfilmstudio Gekidan Inu Curry er- wähnt, das mit Papiercollagen arbeitet.

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der Anime-Serie GENESIS EVANGELION (1995) – „[which] radically challenged the otaku audience to detach from their fantasies and go out into the real world“ –, bleibe MADOKA MAGICA im Raum der Fan-Erwartungen, gehe nicht hin- aus über „the superflat, database-driven aspect of anime“ (Shamoon 2015, 105). Dem lässt sich aus zwei verschiedenen Perspektiven widersprechen. So hat For- rest Greenwood in Bezug auf textbasierte Adventure Games bzw. Visual Novels demonstriert, in welchem Maße die Anime-Serie PUELLA MAGI MADOKA MAGICA die „remediation of game time“ (2015, 202) in ihrer narrativen Struktur praktiziert und eben damit die Erwartungen an den einen richtigen Pfad zur Lösung des zentralen Problems – der Wiederbelebung Madokas – unterläuft. Aber eine Ori- entierung auf vertraute ‚Datenbankelemente‘ wird auch dadurch irritiert, dass die Hexen in ihrem Erscheinungsbild nicht nur von der anime-typischen Charak- terontologie abweichen, sondern erst gar nicht als konturierte Figuren mit einem eigenen Gesicht und einer eigenen Stimme auftreten: Sie sind bedrohliche Um- gebungen, die den Mädchen als zerstreute Rosen und Schmetterlinge oder als scharfkantige Schattenrissgebilde entgegentreten. Zeichnet sich Anime ohnehin durch „hypermediacy“ (Greenwood 2015, 203) bzw. eine hochgradige Vermittelt- heit, mithin Gemachtheit, aus, so wird diese hier durch die unterschiedliche Ma- terialität der Mädchen (cel-look CGI) und der Hexen (Buntpapier u.a.) noch ge- steigert. Schon die Verschränkung zweier verschiedener Formen von Animation in ein und derselben Szene ist unkonventionell, denn Anime zeigt tendenziell eine „consistency of style within scenes but not always between them“ (Warren- Crow 2014, 141). Anime von Spielfilmlänge können nicht so weit gehen wie TV-Serien. Welche Erweiterungen möglich sind, zeigt IN THIS CORNER OF THE WORLD (KONO SEKAI NO KATASUMI NI).5 Diese Adaption des gleichnamigen Manga von Kouno Fumiyo6 (2007–2009 serialisiert in Manga Action) wurde von der renommierten Filmzeit- schrift Kinema Jumpo zum besten japanischen Film des Jahres 2016 gekürt. Sie hatte sich in der Gunst von Publikum und Kritik nicht nur gegen Realfilme durch- gesetzt, sondern auch gegen die beiden anderen erfolgreichen Animationsfilme,

:: 5 Für die erste deutschsprachige Aufführung – auf dem Tricky Women Festival in Wien, März 2017 – wurde der Titel mit IN MEINEM WINKEL DER ERDE übersetzt. Da dieser die Bedeutung sowohl des japanischen als auch des englischen Titels knapp verfehlt (indem er die soziale Welt des Krieges durch Erde ersetzt und die Unsicherheit der Protagonistin hinsichtlich ihrer Zugehörig- keit durch Gewissheit), verwende ich hier den englischen, von der japanischen Seite autorisier- ten Titel. 6 Die korrekte Transkription ist Kōno, aber durch die englischen Übersetzungen hat sich Kouno eingebürgert. Sie wurde 1968 in Hiroshima geboren und lebte dort, bis sie mit Anfang Zwanzig nach Tokyo zog. Seit 1995 publiziert sie als professionelle (kommerzielle) Mangaautorin.

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die 2016 herausgekommen waren: . (KIMI NO NA WA.) sowie SILENT VOICE (KOE NO KATACHI). Nach MEIN NACHBAR TOTORO (TONARI NO TOTORO) ist damit zum zweiten Mal ein Zeichentrickfilm geehrt worden, und wie bei Miyazakis Werken handelt es sich um einen, der zusammenbringt, was im Diskurs tendenziell streng geteilt bleibt: Anime und Animation. Miyazaki ist bekannt für seine Ableh- nung der Bezeichnung Anime zugunsten von Animation (oder manga eiga [Mangafilm]), zielt er doch – neben der erkennbaren individuellen Autor_innen- schaft – auf Geschichten, die über geopolitische wie subkulturelle Grenzen hin- weg kommunikabel sind, also ohne Vorkenntnisse bestimmter Codes funktionie- ren. Anime beruht demgegenüber auf Konventionen, oder ‚Datenbankreferen- zen‘, die wiederholt und variiert werden und gerade dadurch, dass sie fankultu- relles Gemeingut sind, andere Gestaltungs- und Gebrauchsweisen eröffnen als in sich geschlossene Erzählungen, nämlich hochgradig kontextuelle und partizipa- tive. Den Filmen Miyazakis und Katabuchis ist Vieles gemeinsam.7 Neben dem Einsatz von full wie limited animation,8 der Vorliebe für unetablierte voice actors und dem Verzicht auf chibi,9 fällt aus dem Blickwinkel von Gemachtheit vor allem die Privilegierung der Handzeichnung auf. Zumindest Miyazakis bisherige Arbei- ten haben zu Interpretationen geführt wie: „the resistance to the dispossession of experience by the machine is expressed in his work by the decision to design each shot by hand before feeding it into the computer“ (Lucken 2016, 192). Auch Katabuchis IN THIS CORNER OF THE WORLD bestand zunächst zu 80% aus Zeichnun- gen von Hand auf Papier (vgl. Fujitsu 2016b, 83). Im Unterschied zu Miyazaki adaptiert Katabuchi allerdings einen Manga, und ebendieser Vorlage sowie der Treue zu ihr verdankt sich ein Ausstellen von Gemachtheit, wie man es bislang in Animationsfilmen von Spielfilmlänge kaum gesehen hat. Dieses tritt insbeson- dere im Nebeneinander von industriell geformter cel animation und experimen- teller cine-calligraphie zutage. Im Folgenden soll aber nicht der Animationsfilm, sondern der Manga im Zentrum stehen, denn seine Geschichte vom Arbeiten und Zeichnen mit der Hand, die sich wiederum in verschiedenen Formen der Handgemachtheit mate- rialisiert, bildet den Ausgangspunkt für Katabuchis Film. Der Beitrag zeigt, wie

:: 7 Bekanntermaßen hat Katabuchi (geb. 1960) in verschiedener Weise für Miyazaki und sein Stu- dio gearbeitet. 8 Katabuchi hat z.B. darauf verwiesen, dass der Eindruck flüssiger Bewegung sich nicht allein Intervallen bzw. der Anzahl der pro Filmsekunde verwendeten Bilder verdankt (vgl. Hosoma 2017, 118–119). 9 Chibi (‚Zwerg‘, ‚Winzling‘) bezeichnet im Manga-Anime-Kontext die geschrumpfte, oft bis zur Unkenntlichkeit deformierte Version einer Figur, die Affekte verbildlicht.

58 < Jaqueline Berndt die Darstellung der Hand mit dem comicspezifischen Einsatz von freihändiger Zeichnung und papiernem Seitenraum in einer Weise verschränkt wird, die ma- terielle Nähe und ästhetisch-sinnliche Multiperspektivität evoziert und eben da- mit über vereinseitigend kritische Lesarten im Zeichen des ‚Superflachen‘ hin- ausführt. Anstatt also über das Motiv der Hand die beiden Medien als ebenbürtig miteinander zu vergleichen, dient der Animationsfilm hier vielmehr als Kontras- tiv, um die Besonderheiten von Kounos Manga als Comic auszuleuchten.

Handlung

Kouno Fumiyos grafische Erzählung erstreckt sich über 430 Seiten und besteht in der japanischen Buchausgabe aus drei Bänden (vgl. Kouno 2008a, 2008b, 2009).10 Deren Struktur folgt der ursprünglichen Magazinserie: auf drei prologar- tige unnummerierte Kapitel folgen insgesamt 44 nummerierte sowie ein Schluss- kapitel, und jedes bildet eine mehr oder weniger in sich geschlossene kurze Epi- sode, die mit einer Pointe endet.11 Für den Animationsfilm von 129 Minuten Länge wurde ein Entwicklungsstrang entworfen, der zum Teil andere Akzente setzt. Was als Gemeinsamkeit der beiden Versionen bleibt, lässt sich wie folgt zusam- menfassen. In This Corner of the World erzählt von Suzu, einer genügsamen jungen Frau, die im Delta von Hiroshima aufwächst, wo ihre Familie essbaren Seetang gewinnt – ca. 3 Kilometer entfernt vom späteren Epizentrum der Atombombe. Die eigent- liche Handlung setzt im Februar 1944 ein, als die 19-jährige Suzu anlässlich ihrer arrangierten Ehe in die etwa 20 Kilometer entfernte Nachbarstadt Kure zieht. Zu- nächst ist sie vor allem Haushaltshilfe: Sie kocht, schrubbt und pflegt die kranke Schwiegermutter, während die Männer auf der Arbeit sind, ihr Mann Shūsaku als Sachbearbeiter am Militärgerichtshof und ihr Schwiegervater als Ingenieur auf der Werft des damals größten Marinestützpunkt Japans. Fremd „in dieser Ecke der Welt“ und ständig bekrittelt durch ihre Schwägerin Keiko, bleibt Suzu nur eine Zuflucht: das Zeichnen. Schon als kleines Mädchen kompensierte sie die Herrschsucht ihres älteren Bruders dadurch, dass sie ihn in ihren Comicstrips zum Teufel machte. Als Schwiegertochter in Kure hilft ihr das Zeichnen, sich die neue Umgebung zu erschließen und gleichzeitig die Realität des Krieges vom

:: 10 Die englische Übersetzungsausgabe bei Seas (November 2017) besteht aus einem ein- zigen Band. 11 Meistens nur acht Seiten lang, gelegentlich aber auch 12, 14 oder 16. Das 45. Kapitel ist nicht nummeriert, sondern mit „Schlusskapitel“ betitelt.

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Leibe zu halten: die Lebensmittelknappheit, die Pflichtaktivitäten im Nachbar- schaftsverein und die Einberufung der jungen Männer. Ihr Bruder fällt im Krieg; ihr Schulfreund Mizuhara bittet sie während eines letzten Besuchs, seiner la- chend zu gedenken. Vom Frühjahr 1945 an erlebt Kure massive amerikanische Luftangriffe. Durch eine verzögert zündende Bombe verliert Suzu im Juni sowohl ihre Nichte Harumi als auch die rechte Hand, mit der sie die Kleine hielt. Ende Juli wird Kure fast vollständig zerstört, Anfang August die Atombombe über Hi- roshima abgeworfen. Erst Wochen später erfährt Suzu vom Tod ihrer Eltern und der Strahlenkrankheit ihrer jüngeren Schwester. Schlussendlich nehmen Suzu und Shūsaku eine Hiroshima-Waise mit zu sich, in ihre „Ecke der Welt“. Die Anime-Adaption von 2016 hat vor allem zwei Lesarten Vorschub geleis- tet: zum einen als Kriegsfilm, zum anderen als „a period drama about female for- bearance“ (Collin 2017, o.S.). Während in amerikanischen Kritiken eine angemes- sene Auseinandersetzung mit der japanischen Kriegsverantwortung vermisst wurde,12 äußerte die Mangazeichnerin in einem Gespräch mit ihrem Kollegen Nishijima Daisuke, dass sie Hiroshima aus einer anderen als der in Japan natura- lisierten Perspektive zeigen wollte: „Irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, Atombombengeschichten zu betrachten oder zu zeichnen. Ich kann mich nicht damit anfreunden, dass man das Wort ,Atombombe‘ so schnell mit ,Frieden‘ zu- sammenbringt. Als ob die Bombe uns Frieden gebracht habe!13 [...] Ich hatte auch das Gefühl, es reiche nicht aus, immer nur anhand der Atombombe vom Krieg zu erzählen, und deshalb entschloss ich mich, die Bombenschäden an einem ande- ren Ort [als Hiroshima] zu schildern“ (Kouno/Daisuke 2016, 39–40; Übersetzung aus dem Japanischen JB). Doch weder im Manga noch im Animationsfilm ist der Krieg die treibende narrative Kraft, auch wenn der Film den Männerfiguren mehr Raum gibt und über deren Arbeitsstellen das soziale Spektrum der Geschichte erweitert. Im Zentrum stehen die Frauen, vor allem Suzu und – als deren Gegenbild – Keiko, die einst ein modern girl14 mit eigenem Arbeitseinkommen war und aus Liebe geheiratet

:: 12 Schilling (2016) hält den Film für stark idealisierend, gegenüber dem tatsächlichen Grauen und der Kriegsverantwortung auf verharmlosende Distanz gehend. In ähnlicher Weise haben japanische Historiker_innen den Diskurs feminisierender Selbstviktimisierung Japans in Kou- nos Manga wiederentdeckt und beanstandet (vgl. zu Kounos Manga Takeuchi 2016; zur Erinne- rungskultur ohne Mangabezug Yoneyama 1999; sowie Okuda 2011). 13 In dieser Hinsicht unterscheidet sich Kounos Manga grundlegend von Barfuß durch Hiro- shima, Band 1 (vgl. Berndt 2013, 70). 14 Japanischer Anglizismus der Vorkriegszeit – Kurzform moga –, der am urbanen westlichen Lebensstil orientierte, unverheiratete, eigenständige junge Frauen bezeichnete, vergleichbar den amerikanischen flappers.

60 < Jaqueline Berndt hat, nach der Verwitwung aber ihren Sohn den Schwiegereltern überlassen muss und zudem auch noch ihr Haus in Kures Innenstadt an den Brandschutz verliert. Den dritten historischen Frauentyp verkörpert die Kurtisane Rin, mit der Suzu sich anfreundet, als sie sich einmal in der Stadt verirrt, und die im Juli 1945 zu- sammen mit dem Rotlichtviertel von Kure im Feuersturm untergeht. Der Film marginalisiert Rin und verschweigt die voreheliche Beziehung, die Suzus Mann Shūsaku zu ihr hatte. Diese Auslassung macht es u.a. möglich, ihn außerhalb Ja- pans als Geschichte einer wachsenden Liebe zu bewerben. Eine solche Lesart kann aber kaum den Zuspruch erklären, den der Film im Inland bei Männern mittleren Alters gefunden hat. Regisseur Katabuchi Sunao erklärte in einem In- terview, dass er und sein Team sich auf keine der drei normalerweise in Frage kommenden Zielgruppen ausrichten wollten: Anime-Fans (wie sie von den Se- rien produzierenden Fernsehsendern angepeilt werden), Cineasten (die Aus- nahmeerscheinungen wie den Ghibli-Film DIE LEGENDE DER PRINZESSIN KAGUYA [KAGUYAHIME NO MONOGATARI] privilegieren) oder das Familienpublikum (welches vor allem Miyazaki-Hayao-Filme sieht) (vgl. Fujitsu 2016c, 93). Vielmehr für gele- gentliche Kinobesucher_innen gedacht, hat der Animationsfilm in Japan dank Twitter und anderer sozialer Netzwerke eine Popularität erlangt, die mit nur 63 dezentral gelegenen Aufführungsstätten landesweit zu Beginn niemand für mög- lich gehalten hätte. Damit weckte der Animationsfilm Aufmerksamkeit für die Manga-vorlage in einem Maße, wie es die gleichnamige Fernsehfilmadaption von 2011 nicht vermochte.

Hand

Den Manga wie den Animationsfilm kann man auch als Geschichte einer zeich- nenden Hand lesen.15 Im Manga legt das allein schon die Vielzahl jener Panels nahe, die ausschließlich eine Hand vor leerem Grund zeigen. Zum ersten Mal ge- schieht das in der dritten Prologepisode, die von Suzus Schulzeit handelt. Im letz- ten kleinen Panel auf der linken Seite unten (der japanischen Leserichtung ge- mäß kurz vor dem Umblättern) erscheint eine Hand, die einen Bleistiftstummel hält (siehe Abb. 1). 18 Seiten weiter wird das Panel wiederholt, nur dass sich nun Esstäbchen anstelle des Stifts nach links neigen (siehe Abb. 2).

:: 15 Hosoma (2017, 160) zufolge erzählt der Animationsfilm im Unterschied zum Manga konse- quent aus der Perspektive der rechten Hand und nicht Suzus.

Hand in Hand < 61

Abb. 1: Die rechte Hand Suzus zu Grundschulzeiten (Kouno 2008a, 37 [linke Hälfte der Doppelseite]).

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Abb. 2: Suzus rechte Hand bei einem Gespräch mit der Großmutter und der Schwester darüber, dass sich an der Halteweise der Stäbchen erkennen lässt, ob man zum Heiraten weit weg zieht (Kouno 2008a, 55 [linke Hälfte der Doppelseite]).

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Sehr viel später, auf der letzten Seite des 32. Kapitels, explodiert die Zeitbombe (vgl. Kouno 2009, 36), und kurz darauf wird klar, dass Suzu nicht nur ihre Nichte, sondern auch ihre Zeichenhand dabei verloren hat. Von hier an beginnt die Hand ein Eigenleben zu führen, zunächst als Vorstellungsbild: Auf ein Panel mit dem verbundenen Armstumpf folgt eines mit der vollständigen Hand, und diese skiz- ziert ein Kleeblatt, welches zu einem Paradiesgarten anwächst, in dessen Mitte Harumi spielt (siehe Abb. 3).

Abb. 3: Die Wiederkehr der verlorenen rechten Hand (Kouno 2009, 42–43).

Im 39. Kapitel senkt sich die Hand von oben herab und streicht Suzu tröstend über den Kopf, als diese nach der Radioansprache des Kaisers am 15. August 1945 von einem Weinkrampf geschüttelt in ihrem Gemüsebeet kniet (vgl. Kouno 2009, 96). Ganz am Ende des Manga erlangt die Hand sogar eine eigene Stimme. Einen Stift haltend, eröffnet sie zunächst bildlich das letzte Kapitel (siehe Abb. 4), und nachdem sie in Form eines Briefes, bestehend aus Panels und handschriftlichen Monologzeilen, zu Suzu gesprochen hat, erscheint sie noch einmal im Bild, plat- ziert im freien Raum und diesmal einen Pinsel haltend, mit dem sie die verblei- bende Seitenfläche einfärbt und vom manga-üblichen Schwarzweiß abhebt.

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Abb. 4: Der Beginn des mit „Glücksbrief (Januar 1946)“ überschriebenen Schlusskapitels. Glücks- oder auch Unglücksbrief nannte man im damaligen Japan eigentlich Kettenbriefe (Kouno 2009, 141 [linke Seite]).

Hand in Hand < 65

Die Hand ist in Kounos Manga aber weit mehr als ein Motiv, das daraufhin gele- sen werden will, was es repräsentiert. Vor aller Symbolik hat sie eine pragmati- sche Funktion. So wie es sonst im Manga die Gesichter der Figuren in ‚Großauf- nahme‘ sind, die die Lesenden in die Geschichte hineinziehen, so führt hier die Hand in eine andere Welt. Das zeigt sich schon in der dritten der vorangestellten Episoden: Mizuhara schenkt Suzu einen Bleistift und bittet sie dann, eine Schul- aufgabe an seiner Statt zu erledigen, nämlich ein Bild des Meeres zu malen, in dem sein Bruder vor kurzem ertrunken ist (siehe Abb. 5). Während dies auf der rechten Hälfte der Doppelseite über sieben, mit dem Lineal umrandete Panels er- zählt wird, erscheinen auf der linken Hälfte nur zwei handgezeichnete und na- hezu leere Rechtecke, die unten links jeweils leicht schattiert sind. Das obere ent- hält eine Sprechblase ohne Dorn mit Suzus Worten; auf dem unteren zieht ihre Hand, von weiteren Sprechblasen flankiert, einen Pinselstrich nach rechts. Der dazugehörige Unterarm aber ist Teil des Rahmens, der sich an dieser Stelle von außen in das Panel hineinwölbt. Im Unterschied zum Anime wird durch die Ein- rahmung die Hand zum Eintrittspunkt in eine leere Fläche, die sowohl das Zei- chenpapier der Protagonistin als auch die Mangaseite in der Hand der Leserin ist.

Abb. 5: Suzu zeichnet für ihren Schulfreund Mizuhara (Kouno 2008a, 44–45).

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Michael Taussig versteht das Zeichnen als Mittel des Anthropologen, einem Ge- genstand nahezukommen: „A line drawn is important not for what it records so much as what it leads you on to see“ (2009, 271). Dabei lässt er sich von John Bergers Beschreibung des Zeichnens leiten, der bemerkte: „Each confirmation or denial brings you closer to the object, until finally you are, as it were, inside it: the contours you have drawn no longer marking the edge of what you have seen, but the edge of what you have become“ (Berger 2007, 3). Während Berger aber die Zeichnung vor allem als autobiografische Notiz versteht, stellt Kounos Manga – und der Animationsfilm mit ihm – den persönlichen Akt des Zeichnens in den Dienst der Teilhabe: zwischen den Figuren, zwischen der Zeichnerin und ihrer Protagonistin und darüber hinaus den Leser_innen. In This Corner of the World wird so zu einer Geschichte des Hand-in-Hand-Gehens. Die Beständigkeit des auf Papier gedruckten Comics im digitalen Zeitalter er- klärt Katalin Orbán u.a. mit der spezifischen Materialität des Mediums als „print text experienced as permanently integrated with its material base“ (Orbán 2014, 171), und im Rekurs auf Alois Riegls haptische Visualität als nahgesichtige An- schauung beobachtet sie: „the sense of materiality is thus established primarily through a tactile relationship, in which hand–book contact and haptic visuality mutually inform each other“ (Orbán 2014, 173). Kounos Manga lenkt in der hier besprochenen Sequenz die Aufmerksamkeit auf das Papier als dargestelltes und zugleich haptisch erfahrbares Material, was auf der folgenden Doppelseite noch dadurch verstärkt wird, dass sich das gezeichnete Papier an den Rändern hebt. Der Manga schiebt also die Perspektiven von Hauptfigur und Leser_in übereinan- der und hebt historische Distanz auf, indem er die Vergangenheit nicht einfach nur betrachten, sondern regelrecht berühren lässt (vgl. Takeuchi 2016). Mit der Herstellung einer solchen Nähe hatte die Zeichnerin bereits in der sechsseitigen und durchgehend kolorierten Kurzgeschichte „Eine unzeitgemäße Frau“ („Furui onna“, 2006) experimentiert: Auch hier steht eine junge Frau, die sich der patriarchalischen Tradition scheinbar lautlos unterordnet, im Zentrum, und auch hier ist sie eine Hobbyzeichnerin, nur dass sie diesmal die blanke Rück- seite von ausgedienten Handzetteln verwendet. Als handle es sich um ebensol- ches Material, ist die Grundfläche des Manga mit blassen Mustern spiegelver- kehrt bedruckt, was allerdings beim ersten Lesen nicht unbedingt ins Auge fällt (siehe Abb. 6).

Hand in Hand < 67

Abb. 6: Die Protagonistin muss als Mädchen im Haushalt helfen und sich beim Essen mit einem Fischschwanz begnügen; das Zeichnen ist ihr einziges Vergnügen (Kouno 2006, 10 [rechte Hälfte der Doppelseite]).

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Der monochrome Manga In This Corner of the World setzt demgegenüber auf die Linie, etwa wenn eine von Suzus Hand gezogene die Bucht von Kure mit ihren Schlachtschiffen und deren Abbildung im Skizzenbuch zusammenbringt (vgl. Kouno 2008b, 6; Kapitel 12). Der Animationsfilm behält zwar die schon im Manga diskontinuierlichen Konturen der Figurengesichter bei sowie die Striche auf Wangen und Armen, doch kontrastiert er die verschiedenen Ebenen der Wahr- nehmung vor allem über den Unterschied von Grafischem und Malerischem: stark konturierte Figuren oder Körperteile wie die Hand lässt er auf weich inein- ander übergehende Farbflächen treffen, und gelegentlich werden zum Zwecke der intermedialen Übersetzung auch neue Sequenzen erfunden. Das betrifft z.B. die amerikanischen Markierungsbomben, die im Manga nicht als solche in Er- scheinung treten. Im Animationsfilm zeigen sich zu Detonationslärm als erstes Farbflecken auf blauem Grund, bis sich eine Hand ins Bild schiebt, die mit einem Pinsel ebensolche Farbtupfer auf den Himmel setzt – und damit die Gefahr in eine andere, ästhetische Dimension rückt. Im Manga wird die Hand nicht zuletzt durch die Art der Zeichnung selbst zum Thema – und wieder eher pragmatisch darauf ausgerichtet, Nähe herzustellen, als dazu aufzufordern, die Konstitutiertheit des Mediums Comic zu reflektieren. Das zeigt sich besonders eindrücklich im letzten Fünftel der Erzählung. In der Mitte des 35. Kapitels – 16 Seiten nach der verzögert explodierenden Bombe – monologisiert Suzu angesichts der zerstörten Innenstadt von Kure, dass es ihr vorkommt, „als sei alles mit links gezeichnet“ (Kouno 2009, 60). In der Tat nimmt die Zeichnerin ihre Hauptfigur beim Wort: „Auf halbem Wege entschloss ich mich, die Hintergründe konsequent mit meiner linken Hand zu zeichnen. Norma- lerweise würde man Seiten von dermaßen schlechter Qualität nicht gedruckt be- kommen“ (Fukuma et al. 2012, 380; Übersetzung aus dem Japanischen JB). So zeigt eine Doppelseite Suzu im Futon sitzend und rekapitulierend, was ihre rechte Hand alles getan hat: im Juni noch Harumi gehalten, im Juni davor Samen in die Erde gesetzt, und vor zehn Jahren für die jüngere Schwester ein Bild der Mutter in den Meeressand gezeichnet (vgl. Kouno 2009, 56–57; Kapitel 35). Die Balken und Streben des Zimmers bestehen, der Linkshändigkeit wegen, aus zitt- rigen Strichen, die der Hintergrundkünstler des Animationsfilms, Hayashi Kō- suke, in breite, pastose Pinselstriche verwandelte, ebenfalls mit links aufgetra- gen (vgl. Fujitsu 2016b, 83).

Hand in Hand < 69

Handzeichnung

In ihrer Einleitung zum ImageTexT-Themenschwerpunkt Mixing Visual Media in Comics ruft Nancy Pedri (2017) dazu auf, der verbalen und der visuellen Spur von Comics nicht nur in ihrer Verschränkung, sondern auch in ihrer jeweiligen Diffe- renz Beachtung zu schenken. Die visuelle Spur von Kounos Manga bietet die un- terschiedlichsten Bildformate. Einige Kapitel enthalten schematische Darstellun- gen von Bahnlinien und Zeittafeln; andere wechseln zwischen Panels, die Suzu beim Nähen oder Kochen zeigen, und Panels, die als bildliche Anleitung (oder educational comics) für ebendiese Arbeitsgänge daherkommen.16 Was die Frauen in den Luftschutzlektionen lernen, vermittelt Suzus Notizheft im 29. Kapitel auf der jeweils oberen Hälfte von sechs aufeinander folgenden Seiten. Und wie der Nachbarschaftsverein funktioniert, erzählt der Manga anhand eines kriegszeitli- chen Liedtextes, dessen Zeilen von gleichförmigen, wortlosen Bildkästen beglei- tet werden (vgl. Kouno 2008a, 81–88; Kapitel 4). Im 20. Kapitel ahmen die Panels mit ihren durchweg gestrichelten Rändern sogar Kleiderflicken nach. Aber all diesen Formaten ist gemeinsam, dass sie als freihändige Zeichnung ausgeführt sind, womit sie – abgesehen von der mühseligen Handarbeit, die den kriegszeitlichen Frauenalltag prägte – nicht nur die jeweiligen ‚originalen Kon- texte‘ der zitierten Medien (vgl. Pedri 2017) assoziieren, sondern auch deren Fik- tionalisierung durch Suzu, genauer gesagt, deren Hand. Nicht einmal städtische Räume und deren Gebäude nehmen ein fotorealistisches, scharfkantiges Ausse- hen an, sondern erscheinen in unkonturierten weichen Schraffuren, ohne jene Grauraster (screen tone), die im Manga, insbesondere dessen weiblichen Genres, mittels Folie oder Photoshop ausgiebig eingesetzt werden.17 Schilder, Plakate oder Kalenderblätter, die im intradiegetischen Raum eigentlich Druckschrift tra- gen müssten, sind in Kounos Manga gleichfalls von Hand ausgeführt ebenso wie die extradiegetischen zeitgeschichtlichen Erklärungen, die auf Japanisch als ver- tikale Zeilen neben dem Panelrand stehen. Beides muss erfahrenen Manga-

:: 16 Z.B. wird vorgeführt, wie man zu Kriegszeiten einen Frauenkimono zerlegte und zu einer Art Hosenanzug mit Gummizug (monpe) umarbeitete (vgl. Kouno 2008a: 91–92) oder was sich aus den wenigen zur Verfügung stehenden Lebensmitteln alles kochen ließ – wobei Kouno in einem Interview mit der Verfasserin erzählte, all diese Gerichte selbst erfunden zu haben, bis auf die historisch belegte Technik des Kriegergenerals Kusunogi Masashige, Reis durch lange Wässe- rung zu strecken (vgl. Kouno/Berndt 2017; sowie Kouno 2008a, 117–120). 17 Manga ist – in stärkerem Maße als Anime – durch geschlechtsspezifische Genres geprägt, die sich heutzutage allerdings nicht mehr mit den tatsächlichen Leser_innen decken. Vgl. zur Bin- nendifferenzierung des Manga Berndt 2016b.

70 < Jaqueline Berndt konsument_innen als ungewöhnlich auffallen, werden doch sonst, der besseren Lesbarkeit ebenso wie der ästhetischen Transparenz wegen, gedruckte Schrift- zeichen bevorzugt. Handlettering findet im Manga – außer bei Onomatopöien – für extradiegetische, nicht selten komische Kommentare über Figuren und Situ- ationen Verwendung, und dieses Mittel der Charakterisierung kommt vor allem im Mädchen- und Frauenmanga zum Einsatz. Kouno aber unterläuft eine solche Genrebindung, zum einen mit dem Publikationsort ihrer Serie – einem Magazin, das sich in erster Linie an eine männliche Leserschaft richtet –, und zum anderen indem sie das, was die verbalen Kommentare außerhalb von Sprechblasen für gewöhnlich per Handschriftlichkeit evozieren, nämlich persönliche Nähe, in die Dimension bildlicher Materialität verlagert. Anders als die meisten Mädchen- und Frauenmanga füllt sie zudem ihre Sprechblasen mit nahezu gleichmäßiger Druckschrift; die Fonts variieren nicht. Die handschriftlichen Onomatopöien, zu Beginn äußerst sparsam und zurückhaltend verwendet, gewinnen im letzten Drittel jedoch eine nahezu physische Präsenz: Wenn die Sirenen nicht mehr zum Stillstand zu kommen scheinen, legen sie sich wie Seile oder Schlangen über die Bilder, und zwar in gegenläufiger und also unalltäglicher Leserichtung, nämlich von links nach rechts. Doch bei aller Freihändigkeit, die Materialität des Strichs selbst wechselt. Nach dem ersten Prologkapitel tauscht die Zeichnerin die manga-übliche Feder gegen einen Pinsel, um mit wassergesättigter schwarzer Tusche die Schwüle ei- nes Sommertags im Watt zu suggerieren. Die eingeschobenen Comicstrips, die den Bruder karikieren (insgesamt fünf Einzelseiten), sind mit dem Bleistift aus- geführt ebenso wie der wiederholt auftauchende Reiher, nur wurde dessen Blei- stiftzeichnung erst kopiert und dann in die Druckvorlage hineingeklebt, wie um ihn von der intradiegetischen Alltagsrealität abzuheben (vgl. Hosoma 2017, 55). Für die Erinnerungen an Rin werden Lippenpinsel und Lippenrot verwendet, das Symbol der Kurtisane und ihr Geschenk an Suzu (siehe Abb. 7)18 – „damit sie eine schöne Leiche abgibt, die man [nach einem Bombenangriff] zügig wegräumt“ (Kouno 2008b, 135; Übersetzung aus dem Japanischen JB).

:: 18 Genau genommen ist die Lippenschminke die Hinterlassenschaft einer anderen, an Lungen- entzündung gestorbenen Prostituierten und damit eines der vielen Motive, die das Thema Ge- dächtnis anreißen.

Hand in Hand < 71

Abb. 7: Erinnerungen an Rin, die bei der Bombardierung Kures gestorbene Kurtisane, werden durch die Materialität der Panelrahmen von der Gegenwart der Überlebenden abgehoben (Kouno 2009, 110–111).

Am häufigsten ist der Wechsel zwischen Feder und Buntstift, auch wenn dessen Farbigkeit – ebenso wie die des Lippenrots – im Druck nicht wiedergegeben wird, abgesehen vom Schutzumschlag der Buchausgabe. Markiert der Federstrich die Gegenwartsebene, so der blassere Strich des Bunt- bzw. Bleistifts Suzus Vorstel- lungswelt. Zu Beginn findet sich letzterer noch in Denkblasen – etwa wenn die kleine Suzu sich ausmalt, welche Süßigkeiten sie sich kaufen könnte –, doch im Hauptteil des Manga wird der Stift vor allem in zweierlei Hinsicht eingesetzt: zum einen bei informierenden Einschüben – auf Postkarten, dem nachbarschaftli- chen Informationsbrett oder altertümelnden Querrollen –, zum anderen bei Pa- nelrahmen, die Rückblicke oder aber eine gleichzeitig bestehende, zweite Ebene von Realität umschließen. Das repräsentativste Beispiel ist die Sequenz, die sich unmittelbar an die Explosion der Zeitbombe anschließt (vgl. Kouno 2009, 37–44, 48; 33. Kapitel).

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Abb. 8: Die Explosion der Bombe – rechts die letzte Seite von „Kapitel 32 (Juni 1945)“, links die erste Seite von „Kapitel 33 (Juni 1945)“ (Kouno 2009, 36–37).

Nach einem großen schwarzen Panel, mit dem das Kapitel beginnt (siehe Abb. 8), erscheinen kleine Panels mit einem freihändig gezeichneten Rand, zunächst nur gelegentlich unterbrochen von Panels mit dem kräftigeren und geraden Stan- dardrahmen. Allmählich wird klar, dass erstere Erinnerungsfragmente wiederge- ben, die durch Suzus Fiebertraum zucken: das gemeinsame Nähen mit der Groß- mutter, die Begegnung mit Rin, Harumi, wie sie die in der Bucht liegenden Schlachtschiffe beim Namen nennt oder den kleinen Stoffbeutel unter Suzus Händen entstehen sieht. Die starken Panelrahmen – und mit ihnen die äußere Realität – gewinnen allmählich die Oberhand, bis auf Seite 41 unten das Wort „Mörderin“ aus dem Mund der Schwägerin kommt. Auf der folgenden Seite fin- den sich dann die zwei bereits erwähnten kleinen Bilder der Hand: zuerst stark umrandet als verbundener Stumpf, dann schwach umrandet als gesunde Hand mit Stift, ein Kleeblatt zeichnend (siehe Abb. 3). Das große schwarze Panel, welches im Manga das 33. Kapitel einleitet, weitet der Film zu einer ganzen Sequenz, in der er – einer handschriftlichen Notiz des Regisseurs im Storyboard zufolge – von cel animation zugunsten von „so etwas wie cine-calligraphie“ (Kono sekai no katasumi ni seisaku iinkai 2016, 487;

Hand in Hand < 73

Übersetzung aus dem Japanischen JB) abrückt, d.h. dem Etching-Stil des direkten Gravierens auf Filmstreifen, wie ihn Norman McLaren mit BLINKITY BLANK (1955) entwickelt hat. Von knisternden Geräuschen begleitet, blitzen weiße Striche auf. Die Stimme der Großmutter ist zu hören und Suzus Monolog. Dann wechselt der Grund von schwarz zu weiß. Die cel-animierte farbige Figur Suzus rennt den Küs- tenweg hinab, der in grauen Linien angedeutet wird, bis sich ein Blick auf die in Buntstiften ausgeführte Bucht eröffnet und Harumi zu sehen und zu hören ist.

Handhabung

Dass In This Corner of the World die Geschichte einer Hand ist, wird auch auf einer dritten Ebene deutlich: der des Druckerzeugnisses, welches die Leser_innen in die Hand nehmen. So nimmt beispielsweise der Schutzumschlag des dritten Ban- des die narrativen Ereignisse vorweg, indem er Suzu auf dem Rücken liegend zeigt, mit nach oben gereckten Armen, die rechte Hand jedoch nach innen ‚weg- faltet‘ (siehe Abb. 9 und 10). Kouno selbst erklärte in einem Interview, „dass es von hier an ja die Geschichte der Hand ist“ (Kouno/Kayama 2017, 189; Überset- zung aus dem Japanischen JB). Nun wurde der Manga aber nicht als Buch konzipiert, sondern als Magazin- serie, was sowohl wegen der eingangs erwähnten episodischen Struktur als auch der Indifferenz der Zeichnerin gegenüber den durch die Magazine geschlechtlich definierten Genres Aufmerksamkeit verdient, darüber hinaus jedoch wegen ihrer Reflexion auf die Materialität des Publikationsmediums selbst. In This Corner of the World erschien von 2007 bis 2009 in Manga Action,19 einem Magazin, das sich mit seinen Coverfotos und Serien primär an männliche Leser zu wenden scheint (siehe Abb. 11). Zumindest im japanischen Kontext warf das die Frage auf, an wel- che Leser_innenschaft sich Kounos Manga eigentlich wendet, ob denn die nied- liche Protagonistin für den männlichen Blick zugerichtet sei, um einmal mehr Ja- pans Kriegsverantwortung in Selbstviktimisierung zu verschieben.20

:: 19 1967 als Wochenmagazin für gekiga begonnen, erlebte es 2004 einen Neustart als 14-tägig erscheinendes Periodikum. Manga Action ist bekannt für Serien wie Lupin III. von Monkey Punch, Kozure ōkami (Lone Wolf and Cub) von Koike Kazuo und Kojima Gōseki sowie Usui Yo- shitos Crayon Shin-chan. 20 Zur Selbstviktimisierung im Zeichen von Femininität vgl. Fußnote 12.

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Abb. 9: Der Schutzumschlag von Band 3 in ausgeklappter Form (Kouno 2009). Die Illustration, die als Druckvorlage diente, wird – in Verkennung des narrativen Bezugs – gern für Ausstellungen verwendet, so z.B. bei der vom Japan Media Arts Festival (JMAF) organisierten Galerieausstellung im März 2017 in Wien.

Abb. 10: Der Schutzumschlag von Band 3 in Leser_innenhand.

Hand in Hand < 75

Abb. 11: Vorderseite von Manga Action, Nr. 2, erschienen am 23. Januar 2007 (Futabasha). Rechts wird in grüner Schrift der Start von drei neuen Serien angezeigt, mit Kouno Fumiyos Kono sekai no katasumi ni als oberster.

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Abb. 12: Die letzte Seite des 32. Kapitels, erstveröffentlicht im Magazin Manga Action, Nr. 13, 2008 (Futabasha). Rechts unten eine magazintypische Randbemerkung, die auffordert, auch das nächste Heft zu lesen; links eine an Männer gerichtete Werbung für eine Dating-Seite.

Abb. 13: Die erste Seite des 33. Kapitels, erstveröffentlicht im Magazin Manga Action, Nr. 14, 2008 (Futabasha). Rechts das Inhaltsverzeichnis mit Kounos Titel unten rechts (ab S. 311); links unten die Ankündigung der Redaktion, dass der zweite Buchband der Serie ab 11. Juli in den Handel kommt, und am linken Rand: „Suzu zwischen Traum und Wirklichkeit ...“.

Hand in Hand < 77

Doch Kounos Manga eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, der sich den her- kömmlichen Zuschreibungen im Spektrum geschlechtsspezifischer Diskurse ent- zieht, und zwar indem das Medium des Mangamagazins in den Dienst der Erzäh- lung gestellt wird. Das beginnt mit der Zeitangabe: Für Kapitel 1 lautet sie „Dezember 18“, was dem Jahr 1943 entspricht, wenn man den Namen der dama- ligen kaiserlichen Regierungsperiode, nämlich Shōwa, hinzufügt. Aber das Jahr 18 kann sich gleichermaßen auf die Heisei-Ära beziehen und damit auf 2007, den Erscheinungszeitpunkt des Mangakapitels. Im anscheinend konservativen Bezug auf die imperiale Zeitrechnung – die z.B. das Ende des expansionistischen Kai- serreichs 1945 nicht als Zäsur erscheinen lässt (die Shōwa-Zeit währte von 1926 bis 1989) – schließt der seriell publizierte Manga die Vergangenheit mit der Ge- genwart gleich, rückt sie in greifbare Nähe. Serielle Publikationen sind ihrer Natur gemäß diskontinuerlich, und so lagen ursprünglich zwei Wochen Wartezeit zwischen der Explosion der Zeitbombe und Suzus allmählichem Erwachen aus der Ohnmacht (siehe Abb. 12 und 13). In der Buchausgabe rücken die beiden Momente auf einer Doppelseite zusammen (siehe Abb. 11) und lassen die Randständigkeit verschwinden, die bereits der Titel signalisierte und die sich in der Magazinfassung dann so materialisierte, dass die Folgen der Serie ans äußerste Ende rückten, platziert zwischen dem Inhaltsver- zeichnis (siehe Abb. 13), welches eigentlich die letzte Seite belegt, und der Innen- seite des rückseitigen Einbands (siehe Abb. 12). Während populäre Serien weit vorn in einem Mangamagazin erscheinen, verzog sich In This Corner of the World in die letzte Ecke, und das begann mit dem zweiten Kapitel, in dem Suzu nach Kure zieht, eine aus Sicht der Atombomben- abwürfe randständige „Ecke“ der Weltgeschichte.21 Von hier aus zeigte sich auch die atomare Wolke von Hiroshima nicht als Pilz (vgl. Kouno 2009, 78).22 Das Publikationsmedium des Magazins war seit den 1950er Jahren für die Mangaästhetik prägend, und nicht nur hinsichtlich der Techniken seriellen Er- zählens an sich, sondern gerade auch der comicspezifischen. Die Anzahl der re- gelmäßig zu füllenden etwa A4-großen Seiten hat, im Sinne von Erfordernis wie Gelegenheit, ein betont visuelles Erzählen begünstigt, welches stark auf die

:: 21 Der Titel des Manga paraphrasiert übrigens denjenigen einer Sammlung von nonfiktionalen Texten, die anlässlich des 20. Jahrestages der Atombombe von Hiroshima erstmals erschien (vgl. Yamashiro 2017). Während dieser allerdings den Ort betont (Kono sekai no katasumi de: „in die- ser Ecke“), verwendet Kouno eine Partikel, die auch als Richtung interpretiert werden kann (Kono sekai no katasumi ni: „in diese Ecke“), was sich auf den Umzug der Protagonistin ebenso beziehen lässt wie auf die erinnernde Zuwendung zur Vergangenheit. 22 Yoshimura (2012) nationalisiert den Atompilz als durch amerikanische Fotos etabliertes Ikon und die nicht pilzförmige Wolke als japanische Perspektive.

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Lenkung des Leser_innenblicks setzt und nicht nur die Abfolge von Panels, son- dern auch deren Verhältnis zur Seite bzw. Doppelseite entsprechend organisiert. Der Manga In This Corner of the World gibt die Leserichtung zunächst behutsam durch vertikale Zwischenräume (gutters) vor, die von Bildzeile zu Bildzeile leicht versetzt sind (siehe Abb. 1 und 2). Nur bei Parallelmontagen – Tätigkeiten von verschiedenen Figuren in zwei oder drei vertikalen Panelreihen nebeneinander – ist das Seitengitter geometrisch exakt. Gerade solche Gleichzeitigkeit, übersetzt in comicspezifische Räumlichkeit, deutet auf ein Augenmerk für die Doppelseite als Gestaltungsmittel, welches selten vordergründig wird. Ein Beispiel ist die Stelle, wo sich die amerikanischen Bomber Kure nähern, diejenigen, die im Ani- mationsfilm Farbtupfen auf den Himmel setzen: Während auf fünf kleinen Panels in der oberen Zeile die Flieger heranrücken, erstreckt sich über die unteren zwei Drittel der Doppelseite ein horizontales menschenleeres Landschaftspanorama der Bucht von Kure (vgl. Kouno 2008b, 118–119). Oder um noch einmal auf die Zeitbombe zurückzukommen: Kurz vor der Katastrophe sitzen Suzu und Harumi in einem Luftschutzbunker (vgl. Kouno 2009, 34), und um ihre Nichte abzulen- ken, zeichnet Suzu die Gesichter der Familienmitglieder in den staubigen Boden. Während eine Abfolge von sound words sowohl den Krach als auch das Andauern des Bombardements ins Bild bringt, suggeriert das darunter liegende Panelraster weniger einen Ablauf als einen Stillstand der Zeit: Der Blick der Figuren, und der Leser_innen, wird weniger von rechts nach links als von oben nach unten ge- lenkt, was das Bedrückende der Situation verstärkt. Abschließend sei als Aspekt von comicspezifischer Gemachtheit die gele- gentliche materiale Gegenläufigkeit von Bild und Schrift erwähnt. Als Suzu auf dem Krankenlager die Wirklichkeit noch nicht genau ausmachen kann, zieht sich in der Mittelzeile plötzlich ein horizontales Bild über die gesamte Doppelseite (siehe Abb. 14). Es wiederholt ein ursprünglich vertikales Panel, das Suzu und Shūsaku auf einer Brücke sowie deren Spiegelung zeigt (vgl. Kouno 2008b, 33; 2009, 40–41), dreht dieses jedoch um 45 Grad nach links.23 Während sich die sichtbare Welt also verkehrt hat, verbleiben die Stimmen allerdings in der medi- alen ‚Normalität‘: Die Sprechblasen zeigen die japanischen Dialogzeilen in ge- wohnt vertikaler Anordnung. Ein solches Gegeneinander von Seh- und Leserich- tung findet sich bereits in Kounos erstem Hiroshima-Manga, der 29-seitigen Geschichte Town of Evening Calm (Yūnagi no machi, 2004). Die Hauptfigur, eine junge Frau, die sich schuldig fühlt, den Abwurf überlebt zu haben, rennt darin

:: 23 Kouno selbst nennt als Anregung für die Wiederholung von Panels Tezuka Osamus frühe Arbeiten, z.B. dessen Dostojewski-Adaption Schuld und Sühne (Tsumi to batsu, 1953) (vgl. Kouno/Kayama 2017, 187).

Hand in Hand < 79 mit einem Mal ein vertikales Panel hoch, weg von den Toten im Boden (siehe Abb. 15). Doch die Schriftzeilen ihres Monologs, die von oben nach unten zu lesen sind, ziehen den Blick nach jeder Aufwärtsbewegung wieder abwärts und neh- men schließlich ihren Fall vorweg. Eine solche Art von Gemachtheit ist eng mit der bislang analogen Materialität von Manga verbunden, dem unbewegten Raum der Druckseite. Wie sich in den letzten Jahren zeigt, betrifft die Digitalisierung das Verhältnis zur Doppel/seite sehr viel grundlegender als beispielsweise den freihändigen Strich.24

Abb. 14: Suzu erwacht allmählich aus der Ohnmacht. Im vorletzten Panel (S. 41, links unten) erscheinen der Kopf von Suzus Schwägerin und eine Sprechblase: „... Mörderin“ (Kouno 2009, 40–41).

:: 24 Die Publikationen der Zeichnerin Kyō Machiko, die 2004 mit dem Comic-Blog Sennnen gahō begannen, zeigen beispielhaft, wie computer-generierter Manga und freihändiger Strich (ein- schließlich Panelrahmen) zusammengehen können.

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Abb. 15: Materiale Gegenläufigkeit von Bild und Schrift in Kounos erstem Hiroshima-Manga Town of Evening Calm (Kouno 2004, 24–25).

Schlussbemerkung

Oft wird die deutliche Handgemachtheit in Comics oder aber das In-den-Vorder- grund-Treten der Materialität im fiktionalen Animationsfilm mit einem Kunstan- spruch verbunden. Das zeigte sich beispielsweise auf dem Internationalen Comicsfestival von Angoulême im Januar 2014, wo eine südkoreanische Ausstel- lung Original- zum Thema der Zwangsprostitution während des Pazifi- schen Krieges zeigte (vgl. Berndt 2016). Eines dieser staatlichen Auftragswerke – Butterfly Song (2014) von Autor Jeong Ki-young und Zeichner Kim Gwang-sung – erzählte seine Geschichte mittels manga-naher Konventionen, wie z.B. car- toonesken Mädchengesichtern mit großen Augen und affektiv modifizierenden Piktogrammen, aber es tat dies auf handgeschöpftem traditionellen Papier (und später, in der [nicht handelsüblichen] Druckfassung, auf Glanzpapier). Außer- dem waren alle Linien, bis hin zu den Panelrahmen, mit dem Pinsel ausgeführt.

Hand in Hand < 81

Das schien im ersten Moment dem Manga In This Corner of the World nahezukom- men, doch die Handzeichnung ebenso wie das ungewöhnliche Material dienten anders als bei diesem dazu, eine Trennlinie zu ziehen: zwischen Kunst und po- pulärem Medium, ernsthaftem Inhalt von nationaler politischer Relevanz und ‚superflacher‘ mangaesker Leichtigkeit. Ebenfalls mit dem Blick auf die moderne Kunst, wenngleich nicht nationalisierend, wird dagegen argumentiert, die anhal- tende Neigung zum Handgemachten und zur flächigen Stilisierung auf ökonomi- sche Zwänge oder kulturelle Besonderheiten zurückzuführen: „the focus of our consideration should be the imaginative dimension of both the creative process and the viewers’ engagement“ (Swale 2015, 59). Hier ist die Imagination des_der Einzelnen angesichts eines Werks gemeint, nicht die globale Kultur der Teilhabe, die Anime und Manga auszeichnet. In This Corner of the World bietet sich nicht vordergründig zu einer Partizipation in Form von Fan Art oder Cosplay an. Aber sowohl im Manga als auch im Animationsfilm dient das von Hand Gemachte nicht dem Ausstellen von Originalität oder individueller Autor_innenschaft, sondern der Nähe, dem Teilen von Affekten, Emotionen und Erfahrungen, und eben dafür wird auf medienspezifische Konventionen zurückgegriffen. Das Handgemachte, das Fehlen berechneter Perfektion, die Flächigkeit sind Teil die- ser Konventionen. Sie erlangen allerdings heute, da sich die Mangakultur, zu- mindest in Japan, vom traditionellen Magazinformat und von dem traditionell jugendlichen Publikum fortbewegt (vgl. Berndt 2017), eine neue, keineswegs nur nostalgische Relevanz. Gemachtheit, und insbesondere die von Hand, erweist sich damit als Thema, welches neben den materiell-technischen und künstleri- schen Dispositionen der jeweiligen Medien auch deren kulturelle und ökonomi- sche Dispositionen betrifft.

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Nicola Glaubitz Der Prozess als Performance

Zur Geschichte des Schnellzeichnens

Abstract: Das schnelle Zeichnen vor Publikum ist eine marginale, aber kulturhis- torisch durchaus aufschlussreiche Praxis – von Joseph Mallord William Turners öffentlichen Malperformances im frühen 19. Jahrhundert über das Schnellzeich- nen als Jahrmarktsattraktion und Vorläufer der filmischen Animation um 1900 und Hans Namuths Aufzeichnung von Jackson Pollocks action painting in action bis hin zum Schnellzeichnen als Visualisierungstechnik in der Gegenwart. Der Beitrag wirft anhand dieser Beispiele die Fragen auf, welche Semantiken und Dis- kurse, welche Inszenierungsdispositive und Ästhetiken sich um das schnelle Zeichnen vor Publikum konfigurieren und wie die Zurschaustellung des Machens bewertet wird. Im Bereich der Kunst geraten Vorstellungen von Kunst, Künst- ler_in, Virtuosität und Spektakel in Konflikt, im Bereich der Populärkultur etab- liert sich mit dem frühen Animationsfilm eine Ästhetik des Machens, die auch die technische Gemachtheit mit einschließt.

Einleitung

Schnellzeichnen – was ist das eigentlich? Man begegnet Schnellzeichnenden meist in Fußgängerzonen und vor Touristenattraktionen: Maler_innen und Zeichner_innen, die sich bei der Arbeit über die Schulter schauen lassen oder rasch ein Porträt oder eine Karikatur anfertigen. Dass es sich beim Schnellzeich- nen keineswegs um eine marginale Tätigkeit oder nur um eine Gelegenheits- beschäftigung handelt, wird klar, wenn man die Webseite der Bundesagentur für Arbeit aufsucht. Hier findet sich eine ziemlich detaillierte Berufsbeschreibung:

Schnellzeichner/innen bzw. Porträtzeichner/innen fertigen Zeichnungen für unterschiedli- che Zwecke an, z.B. zur Unterhaltung oder in Situationen, in denen nicht gefilmt oder

 PD Dr. Nicola Glaubitz, Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Goethestraße 31, 45128 Essen, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Nicola Glaubitz, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-005

86 : Nicola Glaubitz

fotografiert werden darf. Sie stellen ihr Können in Fernseh- Unterhaltungsendungen, auf Kleinkunstbühnen, bei Empfängen oder Messen zur Schau.1

Das schnelle Skizzieren vor Publikum ist, wie die Bundesagentur für Arbeit ganz richtig hervorhebt, im Bereich der Kleinkunst und der Varietés zuhause, jedoch auch in der Berichterstattung über Gerichtsverhandlungen und beim Anfertigen von polizeilichen Phantombildern gefragt. In den letzten Jahren ist das Schnell- zeichnen bei Firmenpräsentationen und auf Messen als Alternative zu nervtötend eintönigen PowerPoint-Präsentationen wieder in Mode gekommen: Firmen enga- gieren Grafiker_innen, die zum Gesagten rasch eine humorvolle Mindmap zeich- nen. Und auf Videoportalen wie YouTube finden sich ebenfalls zahllose Clips, in denen in kurzer Zeit zeichnend ein komplexer Sachverhalt erklärt oder eine Ge- schichte erzählt wird. Wie vieles, über das man auf YouTube und in Fußgängerzonen stolpert, ist das Zeichnen in Echtzeit und vor Publikum eine zwar attraktive und verbreitete, aber kulturell randständige ästhetische Praxis. Das Schnellzeichnen ist seit dem 19. Jahrhundert als Jahrmarkts- und Touristenattraktion dokumentiert und wird als ein wichtiger Vorläufer des Animationsfilms gehandelt – es ist aber dennoch ohne einen nennenswerten Begleitdiskurs, ohne Archiv und fast ohne Forschung geblieben. Man kann sich durchaus fragen, warum das Zeichnen vor Publikum niemals zu einer wirklichen Kunstform geworden ist – ist doch das ebenfalls mit einer gewissen Geschwindigkeit verbundene Skizzieren in der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte keineswegs unbekannt. Bei näherem Hinsehen ist die öffentliche Performanz des Zeichnens oder Malens vor Publikum auch nicht so selten, wie man angesichts der musealisierten Kunstgeschichte und -vermitt- lung vermuten könnte. Allerdings ist schnelles und öffentliches künstlerisches Arbeiten, wie die bei- den ersten Fallstudien in diesem Beitrag (William Turner, Jackson Pollock) zei- gen, ein neuralgischer Punkt: Aus diskurshistorischer und kultursoziologischer Perspektive fällt auf, dass sich an Schnelligkeit und Öffentlichkeit Debatten um das Verhältnis von Kunst und Handwerk, Materialität und Genie, Klasse und Gen- der entzünden. Vor allem aber läuft die Zurschaustellung einer Ästhetik des Machens, das heißt eine Inszenierung und Ästhetisierung der Herstellung eines Kunstwerks, einer Ästhetik des Fertigen zuwider, die in Kunstdiskursen seit der Renaissance etabliert wurde (vgl. Busch 2007, 121). Eine spektakuläre Ästhetik des Machens gibt aber im 19. Jahrhundert entscheidende Impulse für die Ent-

FF 1 Bundesagentur für Arbeit – Berufenet, Stichwort: „Schnellzeicher/in, Porträtzeichner/in“. https://berufenet.arbeitsagentur.de/berufenet/faces/index (letzter Zugriff: 1. August 2017).

Der Prozess als Performance : 87 stehung des Animationsfilms: James Stuart Blackton, der in den frühen 1900er Jahren unter den Pionier_innen des Animationsfilms war, begann als Schnell- zeichner, der auf Vaudeville-Bühnen auftrat. Obwohl er nicht der erste war, der seine Nummern abfilmen ließ (auch George Méliès und Émile Cohl nahmen die- sen Weg), war er einer der ersten, der sie zum Animationsfilm weiterentwickelte. Wenn ich im Folgenden von Prozess und Performance spreche, geht es mir nicht um die grundlegende Prozessualität und Performativität von Zeichnungen: Zeichnungen sind immer in Handlungsketten und Praktiken eingebunden, von den materiellen und technischen Dispositiven ihrer Herstellung und Konzeption bis hin zu ihrem Gebrauch, ihrer Rezeption und ihrer Archivierung oder Ausstel- lung. Sie haben performative Aspekte (im Sinne von John L. Austins Sprechakten, vgl. Austin 1962), etwa wenn sie als Vorlagen für Konstruktionen oder als Vorstu- dien für Gemälde verwendet werden. Zeichenstile sind nur als Resultate von Ite- ration und Differenz (im Sinne Judith Butlers, vgl. Butler 1993, 12, 14–15) erklär- bar. All dies gehört immer schon zur Zeichnung, und gerade deswegen interessiert mich hier, warum die Prozessualität und Performanz von Zeichnun- gen dennoch ‚stillgestellt‘ werden muss (vgl. Busch 2007, 121) und warum Pro- zessualität und Performanz daher kaum kulturelle Stilisierung und Stabilisie- rung erfahren. Den Begriff Performanz verwende ich hier für eigens hervorgehobene, inszenierte und ästhetisierte Handlungssequenzen – einer Thea- ter-Performanz ähnlicher als den Mikroperformanzen zeichnerischer Handlungs- ketten. Der hier unmittelbar anschließende Definitionsversuch der Zeichnung und der Überblick über ihre historischen Diskurse soll zunächst einen Überblick über systematische Positionen zur Zeichnung geben, die dann nachfolgend in drei Fallstudien – aus der künstlerischen Romantik und der Moderne sowie dem frühen Animationsfilm – vertieft werden. Ein abschließender Teil liest frühe filmisch-animierte Inszenierungen des Schnellzeichnens als eine Ästhetik des Machens.

Ästhetik des Gemachten: Die Zeichnung in der Kunsttheorie

Zeichnungen sind Objekte, deren Hauptzweck die Präsentation artifizieller Sicht- barkeit ist (vgl. Wiesing 2005) – es sind Gegenstände, die zu sehen geben, und zwar vorwiegend Linien, die Flächen umreißen und gliedern. Im Unterschied dazu gibt Malerei farbige Felder und Flächen zu sehen, die mitunter Volumina

88 : Nicola Glaubitz sichtbar machen. Die Sichtbarkeit von Bildobjekten resultiert immer aus Form- bildungen auf Bildträgern – manuellen, technischen und stilistischen Manipula- tionen (vgl. Wiesing 2000, 15–18). Daher werden Bildobjekte immer als spezifi- sche Sichtweise oder Ansicht in einem bestimmten Darstellungsstil sichtbar und ebenso in einem bestimmten Abstraktions- und Differenzierungsgrad (vgl. Barthes 1990 [1964], 28–46; vgl. dazu und zum Folgenden Glaubitz 2007, 43–44). Zeichnungen geben daher zugleich ein Bildobjekt und einen Bildstil zu sehen, und sie beruhen auch auf der gleichzeitigen Sichtbarkeit von Bildobjekt und Bild- material. Gottfried Boehm hat dies als „ikonische Differenz“ (2001, 29–30) be- zeichnet: Eine Linie ist eine Kontur, aber auch immer eine Linie auf Papier. Für Konstruktionszeichnungen und Diagramme gilt dies ebenfalls, nur gelten Bildstil und Bildmaterial hier als vernachlässigbare Größen: Solche Zeichnungen lassen sich vergrößern, verkleinern oder farblich verändern, ohne dass die Funktion der Darstellung verloren geht. An solchen Formen der Zeichnung lässt sich überdies gut zeigen, dass Objektreferenz keine grundlegende Leistung von Zeichnungen und anderen Bildern ist (vgl. Wiesing 2005, 61): Sie machen schlichtweg etwas sichtbar, und im Falle einer Konstruktionszeichnung ist dies eher ein Programm (vgl. Acheson 2013, 4–5), eine Anweisung statt einer Referenz, während es beim Diagramm um die Veranschaulichung einer abstrakten Beziehung geht. Phänomenologisch betrachtet ist die Ansicht, die eine Zeichnung von einem Bildgegenstand gibt, reduzierter und weniger informationsreich als die eines Ge- mäldes oder Fotos. In der westlichen Kulturgeschichte sind der Zeichnung auf- grund dieser Selektivität und Reduktion zum Teil widersprüchliche Eigenschaf- ten und Leistungen zugesprochen worden. Selektivität wird als Abstraktions- leistung verstanden und der Zeichnung daher eine besondere Affinität zur Refle- xion, zur Idee und zur Wissenschaft nachgesagt (vgl. Wittmann 2009, 8). Wenn Aristoteles in der Poetik die Handlung als das eigentliche Wesen des Dramas be- zeichnet, zieht er die Zeichnung als Analogie heran – während die Analogie der Malerei für die Aufführung, seiner Ansicht nach das bloß schmückende, also ent- behrliche und sekundäre Beiwerk, bemüht wird (vgl. Aristoteles 1982, 1450a 23). In der traditionellen Gattungshierarchie der Künste ist die Zeichnung meist der Malerei untergeordnet: Sie gilt als bloße, unvollständige Vorstudie für das sorg- fältig ausgeführte Gemälde, kaum als eigenständige Kunstform. Auch als Praxis und Medium des Ausprobierens, Findens und Antizipierens wird die Skizze ge- schätzt (vgl. Wittmann 2009, 9). Schließlich gilt die Zeichnung mitunter auch als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit der Künstler_innen, als expressive Darstellungsform; ihre Selektivität ist lesbar als unmittelbare Wiedergabe einer persönlichen Weltsicht. Diese Zuschreibungsmuster haben zwar historische Kon- junkturen, sind aber nicht im Sinne einer historischen Abfolge zu verstehen.

Der Prozess als Performance : 89

Die schon in der Antike vermerkte Nähe zur Reflexion und zur Idee hat die Zeichnung jedoch in ernsthafte Konkurrenz zur Malerei treten lassen. Wie Hein- rich Wölfflin beobachtet, gilt die Zeichnung hier als Abbildung des Wesens der Dinge, während die Malerei nur ihr Erscheinen veranschaulicht (vgl. Wölfflin 1963 [1915], 35). Auch in der italienischen Renaissance gilt die Zeichnung als Vi- sualisierung einer immateriellen Idee, die dann als Entwurf und Vorlage für ein materiell realisiertes Gemälde oder eine Skulptur fungiert. Ein zentraler Begriff der italienischen Kunsttheorie der Renaissance und des Barock, der disegno, bringt dies zum Ausdruck: Die Grundbedeutung von disegno ist „Plan“ oder „Zeichnung“. Dieser Begriff umfasst Theorie und Praxis gleichermaßen – schließt also auch das Machen ein: Giorgio Vasari definiert disegno als „nichts anderes [...] als eine anschauliche Gestaltung und Klarlegung jenes Bildes, das man im Sinn hat und das man im Geist sich vorstellt und in der Idee hervorbringt“ (Vasari, Opere; zitiert nach Panofsky 1960, 33). Das Zeichnen ist aber auch eine Körpertechnik, die Werkzeuge und Materialien involviert. Vasari merkt an, es müsse sichergestellt sein, dass

die Hand sich durch jahrelange Übung geschult und geeignet erweist, mit Feder, Zeichen- stift, Kohle, mit Tinte oder irgendeinem anderen Werkzeug auszudrücken und nachzu- zeichnen, was die Natur geschaffen hat. Denn wenn der Intellekt gereinigte und ausge- wählte Concetti [Konzepte, Ideen, NG] hervorgebracht hat, hängt es von den Händen ab, die sich jahrelang im Zeichnen geübt haben, daß man die Vollkommenheit und die hervor- ragenden Qualitäten der Kunst und zugleich des Künstlers erkennt. (Vasari, Opere; zitiert nach Panofsky 1960, 33)

Vasari hebt vor allem die intellektuellen Anteile des disegno hervor – er vergleicht ihn mit der scienzia, dem präzisen, wissenschaftlichen Wissen. Der handwerk- lich-körpertechnische – und man kann sagen: der performative – Anteil beim Zeichnen ist allerdings nicht unproblematisch. Die Auffassung der Zeichnung als concetto oder Idee beinhaltet auch die Vorstellung, dass sich das auf Basis der Zeichnung realisierte Kunstwerk von den Künstler_innen ablöst und so eine ei- genständige Objektivität erlangt (vgl. Busch 2007, 121). In der frühen Neuzeit gehört das Zeichnen – wie das Verfassen und Lesen von Literatur und die Kultivierung der Handschrift – zur umfassenden humanis- tischen Erziehung und es wird in Ratgeberbüchern für angehende Höflinge wie Baldassare Castigliones Il libro del Cortegiano (1528) oder Henry Peachams The Compleat Gentleman (1622) empfohlen (vgl. Acheson 2013, 107). Zeichnen und Schreiben, so Acheson, werden ähnlich behandelt und als techne und Material- beherrschung dargestellt (vgl. Acheson 2013, 91). Eben diese materielle Dimen- sion – das Anmischen von Tinte und Farben, das Zurichten der Federn und Stifte, das notwendigerweise zum Zeichnen gehörte – versah das Zeichnen mit einem

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Klassenindex: Es rückte das Zeichnen in die Nähe des niederen Ständen vorbe- haltenen Handwerks (vgl. Kemp 1979, 57, 59). Dass Zeichner_innen auf Hilfsin- strumente angewiesen sind, wird daher vielfach kritisch gesehen, und Peacham empfiehlt daher dem wahren gentleman, es mit möglichst wenigen technischen Hilfsmitteln zu praktizieren (vgl. Acheson 2013, 94). Vasari findet für das Problem des Handgemachten eine Lösung, indem er die körperlich-handwerklichen Aspekte des Zeichnens als Ausdruck geistiger Bil- dung nobilitiert: wie gesehen, hängt es „von den Händen“ ab, „daß man die Voll- kommenheit und die hervorragenden Qualitäten der Kunst und zugleich des Künstlers erkennt“ (zitiert nach Panofsky 1960, 33; Herv. NG). Die Hand des Zeich- ners dokumentiert und verbürgt also die Qualität des Künstlers,2 sie wird bei Va- sari ein Index von Persönlichkeit, von umfassender ästhetisch-intellektueller Bil- dung. Die Handzeichnung gilt also wie die Handschrift als Index und Spur einer Person, die tatsächlich anwesend war – weshalb sie später auch pathetisch zur Spur der direkten Präsenz von Genie hochstilisiert werden kann, wie es Joseph Meder noch 1919 für Michelangelo, Leonardo da Vinci oder Raphael tut (vgl. Meder 1919, 16–30). Noch 1998 beobachtet der Kunsthistoriker Richard Woll- heim: „the hand adds value [...] It gives unity to the work, and it carries the im- print of personality“ (Wollheim 2005, 9). An diese Zuschreibungstradition, die ihre Hochkonjunktur in der Romantik hat – wie das erste Fallbeispiel im nächsten Abschnitt detaillierter ausführt – knüpfen selektiv die Einschätzungen der Zeichnung im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert an. Hier sieht man in der Zeichnung einen Index, nämlich die Spur des Unbewussten bzw. dessen, was rational nicht vollständig kontrollierbar ist und was sich der Verbalisierung entzieht. In den Diskursen von Experimental- und Tiefenpsychologie, Graphologie und Pädagogik ist man nun zwar daran in- teressiert, den Prozess des Zeichnens aus Spuren zu rekonstruieren; aber diese Rekonstruktion ist nur ein Mittel zum Zweck, nämlich zum Rückschluss auf ver- borgene psychische oder physische Ursachen und Motivationen.3

FF 2 Es ist sehr fraglich, dass hier auch Frauen gemeint gewesen sein könnten, da Genie und künst- lerische Persönlichkeit männlich codiert waren. 3 Eine ganze Reihe neuerer Publikationen zur Zeichnung hat diese Formation eingehender un- tersucht und dabei das Hauptaugenmerk auf nichtkünstlerische Zeichnungen gerichtet. Witt- mann rekonstruiert, wie Zeichnungen im Rahmen der experimentellen Psychologie, der Päda- gogik und der Psychiatrie zu „Instrumente[n] der Diagnose, der Therapie und des Experiments“ (2009, 9) werden. Der Band von Krauthausen und Nasim zu Notieren, Skizzieren: Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs (2010) thematisiert die Zeichnung als Instrument des Expe- rimentierens, Entwerfens und Findens. Die Beiträge in Fliescher et al. (2014) erstrecken sich von der Graphologie über die Vermessung von Schriftgrößen und Druck des Bleistifts auf Papier bis

Der Prozess als Performance : 91

Auf ähnliche Weise stilisiert die Kunsttheorie der Avantgarde und der Mo- derne die Linie zum Ausdruck des Empfindens. Der englische Avantgarde- künstler und -theoretiker Roger Fry schreibt 1920: „a line is always at least a rec- ord of a gesture, indicating a good deal about its maker’s personality, his tastes and even probably the period in which he lived“ (Fry 1981 [1920], 171). Frys Defi- nition verweist allerdings symptomatisch auf einen inhärenten und keineswegs modernetypischen Widerspruch der Annahme, die gezeichnete Linie sei ein un- mittelbarer Index subjektiver Innerlichkeit: Die Zeichnung ist, wie anfangs gese- hen, immer auch eine eigenlogische materielle Manifestation eines Bildträgers (und wird, selbst im Dispositiv ungegenständlicher Kunst, selbst zum Ikon), aber sie ist zudem immer auch Symbol. Dies wird daran deutlich, dass Zeichnen kul- turell konventionalisiert ist und Künstler_innen sich einen bestimmten Stil an- eignen. Dieser ist von einem überindividuellen Epochenstil geprägt, zu dem sich ein Individualstil immer irgendwie verhält – iterierend oder in Differenz. Auch ein Individualstil beruht auf Wiederholungen, sogar auf erlernten Automatis- men, die in jeder noch so spontanen Zeichnung mit am Werk sind (vgl. Wittmann 2009, 7). Rembrandt etwa übte systematisch mit seinen Schülern – die in seiner Werkstatt lernten und an seinen Bildern mitwirkten – das Zeichnen, um ihnen einen unverwechselbaren Rembrandt-Stil beizubringen. Dieser Stil musste einer- seits typisch, andererseits kopierbar sein. Rembrandt entwickelte zu diesem Zweck ein Kürzelsystem z.B. für Gesichter, Falten oder Hände (vgl. Busch 2007, 131). Das erklärt, so Busch, „warum es so schwer ist Rembrandt- und Rembrandt- Schülerzeichnungen voneinander zu unterscheiden“ (2007, 131). Die Entwick- lung eines wiedererkennbaren, aber dennoch kopierbaren Stils ist ein Ziel, das sich in den ebenfalls arbeitsteilig organisierten Studios für Animationsfilme, z.B. bei Walt Disney, wiederfindet.

„Like chaos before the creation“: Joseph Mallord William Turner, 1832

Die dominante Auffassung der Zeichnung als Fixierung wird Werner Busch zu- folge seit der Renaissance von einer Alternativtradition der nicht-fixierenden Linie begleitet. Tizian, Rembrandt und Thomas Gainsborough etwa fassten das Skiz- zieren als Teil des künstlerischen Prozesses auf, nicht so sehr als dessen

FF hin zur Interpretation von Kinderzeichnungen und den Zeichnungen psychisch beeinträchtigter Personen.

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Vorbereitung. Sie zeichneten während des Malens, um Figurenpositionen oder Nuancen in Gesten auszuprobieren oder zum Zwecke der Selbstkorrektur (vgl. Busch 2007, 127–128). Auch in Rembrandts System von zeichnerischen Kürzeln finden sich, so Busch, solche, die „vom besonderen Tempo des Zeichenvorgangs Zeugnis ablegen“ (Busch 2007, 131). Busch zufolge stellt diese Alternativtradition das Zeichnen in seiner Prozessualität in den Vordergrund. Wenn es stimmt, dass die Performativität und Prozessualität des Zeichnens immer gegeben ist und durch Zuschreibungen, Dispositive und kodifizierte Praktiken gebändigt oder so- gar ‚stillgestellt‘ wird – warum und unter welchen Umständen kann sie dennoch zum Sichtbarkeitswert, zum Attraktor werden? Wie geht das Feld der Kunst4 da- mit um, wenn die Geschwindigkeit des Skizzierens und seine performative Dimen- sion in den Vordergrund treten? Die drei Beispiele, die Busch für die Tradition der prozesshaften Linie nennt, sind nur bedingt aussagekräftig – bleibt die Prozessualität bei Tizian und Remb- randt doch nur für diejenigen nachvollziehbar, die Zeichnungen und fertige Ge- mälde neben- oder nacheinander betrachten können und das entsprechende Wissen über die Arbeitsprozesse mitbringen. Gainsborough hingegen, ein briti- scher Maler aus dem 18. Jahrhundert, praktizierte zuweilen sowohl Zeichnen vor Publikum als auch schnelles Zeichnen. Gainsborough soll „abends nach des Tages lästiger Porträtarbeit, die das Geld brachte, zu Musik im Freundeskreis mit Kreide auf Papierbögen halb automatisch, jedenfalls nicht nach Plan, Landschaftsstruk- turen, kaum mehr als Massenverteilungen“ gezeichnet haben, „am Ende des Abends die in schneller Folge entstandenen Zeichnungen auf dem Boden“ (Busch 2007, 135) ausgebreitet und die guten als Vorlage für Landschaftsbilder genommen haben. Auch hier ist der Prozess des Zeichnens noch eindeutig dem fertigen Gemälde vor- und untergeordnet. Ähnliches gilt noch für den französi- schen Maler Eugène Delacroix (1798–1863) und seine Wertschätzung des schnel- len Skizzierens. Delacroix empfahl allen angehenden Künstler_innen, ständig und überall Skizzen zu machen, um im Falle eines Falles schnell reagieren zu können: „Wenn du nicht fähig bist, einen fallenden Mann in der Zeit zu zeichnen, die er vom fünften Stockwerk bis zum Boden braucht, dann wirst du niemals ein monumentales Werk hervorbringen“ (zitiert nach Kemp 1979, 309). Auch diese Bemerkung Delacroix’ ist noch der traditionellen Auffassung des vorbereitenden Skizzierens verhaftet: Die schnelle Skizze ist eine reine Wahrneh- mungs- und Fingerübung, die der Vorbereitung auf monumentale Werke dient.

FF 4 Ich verwende den Begriff hier im Sinne von Pierre Bourdieu (1974; 1993) als soziales Feld, das von Zugangs- und Verhaltensregeln, Rollen und Positionen, Wertungen und Diskursen sowie praktischem Wissen geprägt ist.

Der Prozess als Performance : 93

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie stark J.M.W. Turner (1775–1851) – 23 Jahre älter als Delacroix – von den üblichen Wahrnehmungen des Zeichnens und Malens abwich. Er integrierte das dauernde Skizzieren und Aquarellieren (das im anglophonen Sprachraum dem Zeichnen zugeschlagen wird) nicht nur in seinen Arbeitsprozess, sondern inszenierte seine Schnelligkeit und Virtuosität strate- gisch in der Öffentlichkeit – bei den Jahresausstellungen der Royal Academy of Arts. Der öffentliche Malprozess stand überdies nicht am Anfang, sondern am Ende des künstlerischen Prozesses und inszenierte daher das Ausprobieren und die Flüchtigkeit – Qualitäten, die nur der Zeichnung zugeschrieben wurden – als integralen Bestandteil des Malens.5 Turner ist bekannt für farbstarke Bilder, die ihre oftmals nur andeutungs- weise erkennbaren Gegenstände im Spätwerk durch Lichtbrechungen und Licht- diffusionen durch Nebel, Regen, Rauch oder Wolken zeigen. Er interessierte sich, wie in einem seiner bekanntesten Bilder – die Darstellung einer Dampflokomo- tive mit dem Titel Rain, Steam and Speed: The Great Railway (1844) – zu sehen, auch für das Phänomen der Geschwindigkeit. Turner war seit den 1800er Jahren ein angesehenes Mitglied der britischen Royal Academy of Arts, die 1768 von König Georg III. gegründet worden war, um der bis dahin unbedeutenden englischen Kunst auf die Beine zu helfen. Ihr Anspruch war, eine genuin britische Nationalkunst hervorzubringen, und das bedeutete für die Mitglieder einerseits eine Auszeichnung, andererseits aber auch eine Festlegung auf konservative Kunstideale (vgl. Parker 1998, 296). Die jährlichen Ausstellungen der Akademie waren publikumswirksame Veranstaltungen; sie wurden von potentiellen Käu- fer_innen und Mäzen_innen besucht, in der Presse besprochen und fungierten als Verkaufsbörsen. Turner nun zweckentfremdete die Jahresausstellungen der Akademie zum Schauplatz für spektakuläre, öffentliche Malaktionen. Die Ausstellungsräume im Somerset House in London waren schon einige Tage vor der eigentlichen

FF 5 Strenggenommen exemplifizieren sowohl Turner als auch Pollock nicht öffentliches Schnell- zeichnen, sondern schnelles Malen. Instruktiv sind beide Maler vor allem deswegen, weil ihre Inszenierungen im Rahmen eines malereizentrierten Kunstbetriebs so kontrovers aufgenommen wurden: Turner, weil seine öffentlichen Malperformances eigentlich die zeitgenössischen Dis- kurse zur Skizze in die Praxis umsetzen; Pollock, weil in seiner Malweise sowohl die Linie als auch die indexikalische Geste im Vordergrund stehen und daher eine Nähe zur Zeichnung gege- ben ist. Pollock selbst bestätigt eine solche Nähe in einem Interview mit William Wright von 1951: „I approach painting in the same sense as one approaches drawing; that is, it is direct. I don’t work from drawings, I don’t make sketches and drawings and color sketches into a final paint- ing“ (zitiert nach Frank 1983, 111; vgl. auch Frank 1983, 87). Die Übertragung ‚zeichnerischer‘ Qualitäten in die Malerei ist an sich bereits ein Konventionsbruch.

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Eröffnung für Teile des Publikums zugänglich: die Maler_innen kümmerten sich um die Hängung der Bilder und nahmen letzte Korrekturen vor; Kritiker_innen und Käufer_innen waren während der Varnishing Days, wörtlich übersetzt: ‚Fir- nis-Tage‘, häufig schon zugegen. Turner veränderte seine Bilder in diesen letzten Tagen und Stunden vor der Eröffnung noch stark – meist, um beispielsweise mit leuchtenderen Farben unliebsame Konkurrent_innen in den Schatten zu stellen. 1807 berichtet ein Zeitgenosse, eines von Turners überarbeiteten Gemälden habe mit seinem Farbglanz das daneben gehängte Gemälde von David Wilkie förmlich ausgelöscht (vgl. Butlin 2001, 355). Ausführlicher beschreibt Edward Villiers Rippingille die Varnishing Days. Sein Bericht wurde erst 30 Jahre später veröffentlicht und ist Teil der zeitgenössi- schen Turner-Hagiographie – deshalb ist zwar sein dokumentarischer Wert zwei- felhaft, seine diskursgeschichtliche Symptomatik aber umso interessanter. Die Schilderung der Publikumsreaktionen spiegeln zeitgenössische und kontroverse Positionen zum öffentlichen Malen wider.

Turner was there, and at work, before I came, having set-to at the earliest hour allowed. [...] the picture when sent in was a mere dab of several colours, and ,without form and void‘, like chaos before the creation. The managers knew that a picture would be sent there, and would not have hesitated, knowing to whom it belonged, to have received and hung up a bare canvas, than which this was but little better. Such a magician, performing his incan- tations in public, was an object of interest and attraction. [...] he never ceased to work, or even once looked or turned from the wall on which his picture hung. All lookers-on were amused by the figure Turner exhibited in himself, and the process he was pursuing with his picture. (Rippingille, Turner; zitiert nach Butlin 2001, 357)6

Rippingille streicht die beinahe magische Art und Weise heraus, auf die Turner ein unfertiges Bild ohne erkennbaren Bildgegenstand in ein fertiges Gemälde ver- wandelt, und hebt die staunenden und amüsierten Reaktionen des Publikums hervor. Er verzeichnet Turners in sich gekehrte, schweigende, nur auf sein Bild konzentrierte Haltung und hebt seine Selbstgenügsamkeit und Distanz zum stau- nenden Publikum hervor. Ein Verweis auf die wenigen Hilfsmittel, die Turner be- nötigt, fehlt nicht: „A small box of colours, a few very small brushes, and a vial or two, were at his feet ... [...]“ (Rippingille, Turner; zitiert nach Butlin 2001, 357). Dieser Fokus auf das einsame Ringen des Malers mit dem Bild entspricht der romantischen Genieästhetik, ebenso wie der Vergleich des Bildes mit dem leeren und formlosen Chaos der Welt vor dem biblischen Schöpfungsakt. Und wie der

FF 6 E.V. Rippingilles Beitrag in The Art Journal (1860) ist in Auszügen in Butlin (2001, 357) wieder- gegeben.

Der Prozess als Performance : 95 frühneuzeitliche Gentleman malt Turner freihändig, ohne geometrische Instru- mente, Quadratnetz und viel technischen Aufwand. Sein handwerkliches Ge- schick schließt hier allerdings an den zeitgenössischen Kult um Virtuosität an: In der Zeitung Morning Chronicle wurde Turner 1832 bewundernd mit dem Geigen- virtuosen Niccolò Paganini verglichen, der zwischen 1831 und 1834 in London Konzerte gab:

Mr. T. has six pieces of various merit, but all evincing the hand of the master, and with all of his genius a very fantastical one ... [He] is a sort of Paganini, and performs wonders on a single string – is as astonishing with his chrome [Chromgelb, NG] as Paganini is with his chromatics. (o.A. 1832; zitiert nach Costello 2012, 124)7

Weniger vorteilhaft ist jedoch Rippingilles Vergleich Turners mit einem Zauberer, der öffentliche Beschwörungen aufführt und das Publikum in Bann schlägt. Diese Bezeichnung rückt ihn in die Nähe der Scharlatanerie und zeugt von der Ambivalenz, mit der die Performanz des Malprozesses aufgenommen wurde. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch war es zwar durchaus üblich, die Ausstellun- gen der Royal Academy als ‚performances‘, also als Aufführungen, zu bezeichnen und mit dem Theater zu vergleichen (vgl. Costello 2012, 124) – es waren schließ- lich soziale Ereignisse, bei denen es der reichen Elite darum ging, gesehen zu werden. Doch das Theater hatte in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen schlechten bis anrüchigen Ruf, und Vergleiche mit Theater und Jahrmarkt bein- halteten daher auch den Vorwurf der Effekthascherei, der Publikumsanbiede- rung und eines vordergründig kommerziellen Interesses. Leo Costello beobachtet außerdem, dass Turners Zurschaustellung seines Talents auf unliebsame Weise die marktförmige Konkurrenz mit anderen Maler_innen und damit die Marktför- migkeit von Kunst insgesamt sichtbar machte (vgl. Costello 2012, 112) – also die ungeschriebene Regel durchbrach, dass Kunst einem höheren Zweck als dem Kommerz diene. Ein weiterer Grund dafür, dass Turners Aktionen in den Verdacht der Effekt- hascherei gerieten, war seine Schnelligkeit. Schnelligkeit wiederum wurde mit der populären Kultur des Zeichnens assoziiert. Ann Bermingham (2000) und Wolfgang Kemp (1979) haben die Kultur des Laienzeichnens detailliert rekonstru- iert, und beide verzeichnen einen Popularitätszuwachs des Amateurzeichnens im 18. Jahrhundert. Nicht nur verbilligten sich Papier und Zeichenstifte, es kamen auch zahlreiche Zeichenratgeber und an Amateur_innen gerichtete Lehrange- bote auf den Markt. Frauen wurden als Kundinnen entdeckt und pflegten das

FF 7 Der Artikel erschien ohne Autor_innen-Angabe im Morning Chronicle vom 7. Mai 1832, S. 4, Spalte 2 und wird hier zitiert nach Costello 2012, 124.

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Zeichnen und Aquarellieren, was dem Ansehen dieser Techniken im männlich dominierten Kunstbetrieb nicht zuträglich war. Die Zeichenschulen überspran- gen vielfach die an Akademien gepflegte langwierige Ausbildung: Anstelle die angehenden Künstler_innen im sorgfältigen Abzeichnen von geometrischen Fi- guren, Gipsabgüssen oder Vorlagen zu schulen, ging es darum, schnell zu pas- sablen Resultaten zu gelangen. So propagierte der englische Zeichenlehrer Alexander Cozens in seinen sechs sehr erfolgreichen Lehrbüchern zwischen 1759 und 1786 die Technik des blotting – übersetzt: Tupfen (vgl. Bermingham 2000, 97–98). Es ging darum, Landschaf- ten zunächst durch Pinselabdrücke grob auf Papier zu skizzieren und dann mit diesen Farbflecken weiterzuarbeiten (Gainsboroughs Vorgehen ähnelt dieser Technik durchaus). Anstelle der genauen, getreuen Abbildung einer gesehenen Landschaft tritt das kreative Spiel mit dem, was sich mehr oder weniger zufällig auf dem Blatt befindet. Diese Technik sollte es auch ungeübten Laien erlauben, rasch zu virtuos anmutenden Resultaten zu gelangen. Das schnelle Skizzieren und Tupfen war daher um 1800 als künstlerische Laienpraxis konnotiert. Was Turner inszenierte, wenn er halbfertige Leinwände in die Akademie bringt und sie in kurzer Zeit fertigstellt, stand daher in gefährlicher Nähe zum Dilettantis- mus. Schnelligkeit im Skizzieren ist daher ein Phänomen, das im Kontext der Ma- lerei und des Zeichnens grundlegend ambivalent bleibt – ebenso ambivalent wie der Prozess des Zeichnens mitsamt seinen handwerklichen und körpertechni- schen Momenten. Beides kann aufgrund der widerstreitenden Diskurskonstella- tionen sowohl als Ausdruck des genialen Geistesblitzes als auch als Resultat geduldigen Lernens betrachtet werden; es kann der glückliche Zufallsfund dilet- tierender Laien ebenso wie die virtuose Geste von Künstler_innen sein. Turners öffentliches schnelles Malen brachte genau diesen Zwiespalt ans Licht. John Par- ker (1998, 369–370) betont in seiner kunstsoziologischen und historisch-praxeo- logischen Studie zu Turner, der Künstler habe bei den Varnishing Days den Über- gang vom Prozess zum fertigen Werk sichtbar gemacht und ihn zum Teil des Werks deklariert. Die zeitgenössische Prämierung des ‚finished picture‘, das keine Spuren des Gemachten mehr tragen sollte, erweitert Turner durch eine Äs- thetik des Machens. Das war skandalös aufgrund des ambivalenten Status des Theatralischen, aufgrund der Ambivalenz der Schnelligkeit, aber auch aufgrund der Tatsache, dass das Handwerkliche und Körpertechnische nun ostentativ sichtbar gemacht wurden. Die spektakuläre Inszenierung konkurrierte mit der Sichtbarkeit des Bildes und eignete sich nur begrenzt zur bürgerlich-kontempla- tiven, intellektualisierenden Betrachtung. Turners Versuch blieb wohl gerade wegen seiner Publikumstauglichkeit im Feld der elitären Hochkultur, die sich auf

Der Prozess als Performance : 97 fertige Werke kaprizierte, folgenlos.8 Erst im 20. Jahrhundert gab es im Feld der hohen Kunst mit der performance art einen neuen Versuch, ausstellbare Kunst- objekte zugunsten der Ausstellung von Prozessualität und Performanz zurückzu- lassen. Als eine Art Katalysator fungierte dabei eine Filmaufnahme des amerika- nischen Malers Jackson Pollock, eines Hauptvertreters des amerikanischen high modernism.

„NO CHAOS DAMN IT“: Jackson Pollock, 1951

Entscheidend für die zeitgenössische und spätere Rezeption der Werke Pollocks (vgl. Kalb 2012, 4) – und für die Begriffsprägung action painting, die neben der Bezeichnung des Abstrakten Expressionismus verwendet wurde – waren der etwa zehnminütige Film JACKSON POLLOCK 51 (1951) und eine Reihe von Fotogra- fien, die Hans Namuth von Pollocks Malprozess aufnahm. Pollock hatte sich mit seinen sogenannten Drip Paintings seit 1946 von der Gegenständlichkeit gelöst (zu der er in seinen späten Werken zurückkehrte) und ersetzte Pinselstriche durch Spuren von Malgesten, die mit flüssiger Farbe gespritzte, getröpfelte oder gegossene Linien ergaben (vgl. Frank 1983, 63). Viele Kritiker_innen in den Vereinigten Staaten und Europa standen dem Abstrakten Expressionismus von Pollock und Künstler_innen wie Robert Mother- well, Franz Kline, Lynne Mapp Drexler, Gretna Campbell oder Willem de Kooning skeptisch gegenüber. Das renommierte Life Magazine bezeichnete Pollocks Werke 1949 als drooling, Gesabber (vgl. Frank 1983, 75). Ein italienischer Kritiker, Bruno Alfieri, wurde 1950 im Time Magazine mit der Aussage zitiert, die Bilder seien ein ungeordnetes und bedeutungsloses Chaos. Der Artikel trug den Titel „Chaos, Damn it“. Auch Rippingille hatte von Chaos gesprochen, als er be- schrieb, was auf Turners wenig bearbeiteten Leinwänden zu sehen war – bei Pol- lock fehlte aber offenbar die ordnende Hand des Künstlers. Solche Einschätzun- gen gefährdeten nicht nur Pollocks Reputation (vgl. Kalb 2012, 1), es stand der Ruf des Abstrakten Expressionismus als einer genuin amerikanischen Kunstform insgesamt auf dem Spiel: Dass die großformatigen, häufig von staatlichen

FF 8 Man kann in Turners Inszenierung allerdings die Strukturformel populärer Kultur erkennen, wie sie etwa von der Comiczeichnung eingelöst wird: „Ist in der traditionellen realistischen Zeichnung die zeichnerische Geste vor allem das Medium der Referenzbildung, wird sie in der Comiczeichnung tendenziell zum Gegenstand der Darstellung. Das Virtuosentum des fehlerlo- sen, gestisch vollständig beherrschten Zeichnens, das offenbar ohne Korrekturbedarf eine Szene lässig aufs Papier wirft, steigert die spektakuläre Anmutung“ (Venus 2013, 67).

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Museen angekauften Bilder des Abstrakten Expressionismus eine wichtige Rolle in der Kulturpolitik der Vereinigten Staaten in der heißen Phase des Kalten Kriegs spielten, ist in einer Reihe von Studien belegt (vgl. Guilbaut 1983; Saunders 2000). Pollock dementierte die Unterstellung chaotischer Kleckserei in einem Te- legramm an Time, das mit den Worten „NO CHAOS DAMN IT“ (zitiert nach Frank 1983, 79) begann. Außerdem nahm er das schon länger stehende Angebot Hans Namuths an, ihn bei der Arbeit zu fotografieren und zu filmen. Im Sommer 1950 entstanden eine Reihe von Fotos, im Herbst dann die Aufnahmen für den 10- minütigen Film, der 1951 im Museum of Modern Art gezeigt wurde. Namuths Film prägte die öffentliche Rezeption Pollocks entscheidend (vgl. Kalb 2012, 5) und stellte den langwierigen und intellektuell geprägten künstleri- schen Prozess (vgl. Frank 1983, 79) als schnelle, intuitive, körperliche Aktion dar. Unter dem Eindruck der Aufnahmen prägte der Kritiker Harold Rosenberg schließlich den Ausdruck action painting, der die Prozessualität hervorhob (vgl. Frank 1983, 85). Namuths Film hatte allerdings ganz andere Ziele verfolgt: er sollte den Prozess der Bildentstehung als einen überlegten, intentionalen Prozess darstellen. Das leistet in der Tat das Voiceover, in dem Pollock seine langen Pha- sen des Überlegens beschreibt und die Unterstellung auszuräumen sucht, in sei- nen Arbeiten regiere der Zufall (vgl. Frank 1983, 83; Schreyach 2012, 2). Die visu- elle Ebene des Films – wie die Fotos – konterkarieren diese Zielrichtung aller- dings. Der Film arbeitet mit zahlreichen Close-ups auf Pollocks Gesicht und kon- zentriert sich auf den Maler und seine Bewegungen. Die Bilder selbst werden kaum sichtbar (vgl. Schreyach 2012, 5). Ganz ähnlich wie Turners Varnishing Days verschoben die Filmaufnahmen den Schwerpunkt „from the art to the artist, and tended to ignore the role of de- cision and thinking in his working process“ (Frank 1983, 83). Kritiker feierten den Pollock der Film- und Fotoaufnahmen als Schamanen oder als maskulin-existen- zialistischen Helden, der unbewussten Trieben zum Ausdruck verhalf und freie Spontaneität walten ließ (vgl. Frank 1983, 83). Pollocks Malerei rückte damit in einen diskursiven Raum ein, der die künstlerische Geste als Ausdruck des Unbe- wussten, des rational Nicht-Kontrollierten zu verstehen erlaubte.9 Die gestische Abstraktion und der abstrakte Expressionismus treten zusätzlich in einen media- len Raum ein, der den kreativen Produktionsprozess als Performance inszeniert und für die Öffentlichkeit sichtbar macht (vgl. Reckwitz 2013, 90, 93). Film und

FF 9 Pollocks (nicht immer widerspruchsfreie) Selbstauskünfte kamen den Deutungsangeboten von Psychologie und Psychiatrie durchaus entgegen. Obwohl er betonte, den Malprozess zu kon- trollieren und nicht dem Zufall zu überlassen, bestätigte er 1957, aus dem Unbewussten heraus zu malen (vgl. Frank 1983, 111).

Der Prozess als Performance : 99

Fotografien zitieren nicht nur „Versatzstücke aus dem genieästhetischen Künst- lermodell des 19. Jahrhunderts“ (Reckwitz 2013, 92), sondern präsentieren Pol- lock (in Jeans, T-Shirt und mit Zigarette im Mundwinkel) auch in Analogie zu po- pulären Ikonen einer sowohl sensiblen als auch gewalttätigen Männlichkeit, wie sie im Kino zeitgleich von Marlon Brando und James Dean verkörpert wurden. Für Pollock und die moderne Malerei blieb die Schwerpunktverschiebung vom Werk auf die Künstler_innen in Aktion problematisch: Für Skeptiker_innen nährte der Film den Verdacht der zufallsabhängigen Kleckserei, für Kunstkriti- ker_innen blieb die Entgrenzung der Bildfläche hin zur Ateliersituation (wie schon bei Turner) schwierig, da sich nicht mehr allein das fertige Bild als auto- nomes Werk der ästhetischen Bewertung anbot (vgl. Greenberg 1993 [1962], 136, 141). Die filmische und fotografische Dokumentation von Pollocks Arbeitsweise eröffnete allerdings die Möglichkeit, von nun an die Performance selbst zum Kunstwerk zu machen. Allan Kaprow soll über Namuths Pollock-Aufnahmen das happening als Kunstform entdeckt haben (vgl. Frank 1983, 85). Die Performance- kunst, die den Prozess gegenüber dem Resultat privilegiert und ein Konzept im Akt der Aufführung realisiert, hat sich seitdem im Kunstfeld etabliert – freilich nur, weil die Aufzeichnungstechnologien von Film und Video, die Performanz konservierbar und ausstellbar machen, an die Stelle von gemachten Kunstwer- ken treten konnten. Die Ästhetisierung der Herstellung eines Kunstwerks, wie sie in Namuths Film im Mittelpunkt steht, bleibt jedoch eine Ausnahme. Der französische Infor- mel-Maler Georges Mathieu, der eine mit Pollock vergleichbare Maltechnik pflegte, malte tatsächlich vor Publikum und ließ sich dabei filmen. Weitere Mal- und Zeichenperformances finden sich seit den 1960er Jahren bei Yves Klein oder bei Rebecca Horn, deren Videoarbeit DIE BLEISTIFTMASKE (1972) einen direkten Kurzschluss zwischen Blick und Zeichnen inszeniert. Aber das Zeichnen oder Ma- len vor Publikum und Kamera hat sich nicht zu einer Strömung oder gar Unter- gattung der Performancekunst entwickelt. Ähnliches gilt für die Populärkultur: hier mündet eine kurze Phase der Popularität des filmisch festgehaltenen Schnellzeichnens in den Animationsfilm, während sich das rasche, öffentliche Zeichnen daneben als Kleinkunstpraxis bis heute hält und vielleicht mit Video- portalen wieder eine neue Verbindung zur Animation eingeht.

100 : Nicola Glaubitz

Schnellzeichnen und Animation: James Stuart Blackton, 1896

In der Populärkultur wurde das schnelle und effektive – d.h. virtuos anmutende – Zeichnen schon in Hand- und Lehrbüchern des 18. Jahrhunderts gelehrt, und die Beispiele Turner und Pollock zeigen, dass schnelles Arbeiten sowohl Skepsis als auch Bewunderung hervorrufen konnte, je nachdem welche Legitimations- oder Delegitimationsdiskurse angelegt wurden. Solche Diskurse sind im Feld der Populärkultur kaum zu rekonstruieren. Sicher ist, dass das Schnellzeichen im 19. Jahrhundert auf Jahrmärkten und im Zuge des beginnenden Tourismus auch an beliebten Reisezielen – dem Markusplatz in Venedig, dem Montmartre-Viertel in Paris – praktiziert wurde.10 Bis zur Jahrhundertwende war das Schnellzeichnen zudem auf Jahrmärkten, in Varietés und Vaudeville-Theatern und in Music Halls zu Hause (vgl. Crafton 1982, 50). Jahrmärkte und Varietés sind die populärkultu- rellen Kontexte, in denen das Kino erstmals als Attraktion präsentiert wird und ein Publikum findet. Kurze Filme von wenigen Minuten Dauer gehören erst zum Programm von reisenden und dann von ortsfesten Varietés und Shows, bevor sie in spezialisierten Kinematheken gezeigt werden (vgl. Garncarz 2009, 141–144). In diesem Kontext verbinden sich schließlich auch das schnelle Zeichnen und der Animationsfilm. Donald Crafton, einer der wenigen Forscher, die das Schnellzeichnen als Vor- läufer des Animationsfilms thematisieren, sieht für die Entwicklung der Anima- tion nicht so sehr das Abfilmen eines Zeichenprozesses als ausschlaggebend an, sondern die Erwartungen und die visuellen Stereotype, die man mit dem Schnell- zeichnen verband und dann auf den Animationsfilm übertrug (vgl. Crafton 1982, 36–37). Diese Erwartungen an eine Varieténummer im Schnellzeichnen lassen sich anhand von Berichten und auch frühen Filmen in Bruchstücken rekonstru- ieren. Der Brite William Mecham zum Beispiel trat Ende des 19. Jahrhunderts un- ter dem Künstlernamen Tom Merry im bekannten Londoner Alhambra auf.11 Er

FF 10 Vgl. die Ausstellung Autour du Chat Noir, Arts et plaisirs à Montmartre, 1880–1910 im Musée de Montmartre, Paris, 13. September 2012 bis 2. Juni 2013 (vgl. Steward 2008, 261–262; Weisberg 2001, 4). 11 Vgl. Crafton 1982, 50; 1990, 138; Houfe 1978, 222. Wie der Homepage des British Film Institute zu entnehmen ist, fertigte Mecham zur Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals Karikaturen von Kai- ser Wilhelm II. und Kanzler Bismarck an, die abgefilmt wurden. Zwei weitere, ebenfalls nicht erhaltene Filme von 1896 zeigen ihn beim Karikieren von Premierminister Gladstone und Lord Salisbury. Diese ersten Filme waren etwa je eine Minute lang – demnach muss Mecham die Zeichnungen in dieser Zeitspanne zu Papier gebracht haben.

Der Prozess als Performance : 101 zeichnete mit hoher Geschwindigkeit Zuschauer_innen aus dem Publikum auf der Bühne oder brachte bekannte Persönlichkeiten aus dem Gedächtnis aufs Pa- pier. Vier dieser Performances wurden 1895 von Birt Acres gefilmt – ein Jahr bevor Georges Méliès eine Serie von vier kurzen Filmen mit dem Obertitel DESSINATEUR EXPRESS aufnahm. Auch diese Filme sind leider nicht erhalten, zeigen aber Be- schreibungen zufolge, wie Méliès innerhalb einer Minute eine Karikatur anfertigt. Mechams spätere Kurzfilme TOM MERRY LIGHTNING ARTIST DRAWING MR GLADSTONE (1896) and TOM MERRY SKETCHING LORD SALISBURY (1896) liefen dann ihrerseits wie- der als Teil des Music-Hall-Programms des Alhambra.

Abb. 1: „The Lightning Sketcher“ (Lutz 1897).

102 : Nicola Glaubitz

Andere Künstler_innen verbanden das Zeichnen mit humorvollen Geschichten oder Spottreden. Der Schnellzeichner Edwin G. Lutz gibt 1897 in einer Ausgabe des Life-Magazins (15. April) eine Impression des Ablaufs einer typischen Schnell- zeichnen-Nummer in einer Bildsequenz wieder – fünf Zeichnungen, die jeweils eine Zeichnung in der Zeichnung beinhalten (vgl. Abbildung in Crafton 1982, 49). Zu sehen ist im ersten Bild ein Zeichner, der neben einer leeren Leinwand steht (siehe Abb. 1). Auf dem zweiten Bild hat er eine Landschaftsansicht mit hohem Horizont gezeichnet, in die er einen Kreis – wohl eine untergehende Sonne – ein- fügt. Bild drei skizziert mit wenigen Strichen den Umriss eines Hauses, der aber in Bild 4 zu einem Fahrradrahmen weitergezeichnet wird, während die vermeint- liche Sonne im letzten Panel den Kopf des Radfahrers abgibt. Der gezeichnete Schnellzeichner weckt durch nur grob skizzierte Elemente Erwartungen, die dann auf phantasievolle und überraschende, völlig alogische Art und Weise an- ders eingelöst werden. Die Geschichte, welche die Bildsequenz erzählt, ist nicht das, was sie repräsentiert, sondern der Prozess des Zeichnens, die Interaktion mit den Formen auf Papier selbst. Die Zeichnung in der Zeichnung ist keine Illustra- tion, sondern entwickelt eine Eigenlogik. Diese Eigenlogik nun greift der frühe Trickfilm mit der Illusion einer lebendig werdenden Zeichnung auf. Crafton spricht hier von „self-figuration“ (Crafton 1982, 347). Das Schnellzeichnen vor Publikum wurde ab 1895 nicht nur in Frankreich von George Méliès als abgefilmte Music-Hall-Nummer aufgegriffen, sondern auch in England und in den USA. Der Schnellzeichner James Stuart Blackton ließ sich 1896 von Thomas Edisons Arbeitsgruppe beim Zeichnen filmen – auch diese ersten Aufnahmen sind nicht erhalten (vgl. Crafton 1990, 128). Doch Blackton be- ließ es nicht beim Abfilmen seiner Nummer: er entwickelte das Schnellzeichnen im Film zum Animationsfilm weiter und gilt gemeinsam mit seinem Kompagnon Albert E. Smith als Erfinder der Stop-Motion-Technik, die wiederum von Méliès’ Stopptrick-Technik beeinflusst ist (vgl. Crafton 1990, 138).12 Blackton nun filmte

FF 12 Beim Stopptrick wird die Kamera angehalten, während ein Objekt oder eine Person aus der Szenerie entfernt wird; im laufenden Film scheint das Bildobjekt urplötzlich zu verschwinden oder einen anderen Platz einzunehmen. Die Stop-Motion-Technik bezeichnet das Filmen in Ein- zelbildern, d.h. die Kamera wird vor einem Objekt platziert und nach jedem Einzelbild angehal- ten; das Objekt vor der Kamera wird leicht verschoben und im projizierten Film scheint es sich von selbst zu bewegen. Die sogenannte Stop-action-substitution-Technik wurde 1895 zum ersten Mal in Alfred Clarks von Thomas Edison produzierten THE EXECUTION OF MARY, QUEEN OF SCOTS verwendet; Georges Méliès perfektionierte sie und machte sie zur Grundlage ganzer Kurzfilme (vgl. Crafton 1990, 128). Die Stop-Motion-Technik probierten Blackton und Albert E. Smith zum ersten Mal in einem Animationsfilm aus, der Spielzeugtiere in Bewegung versetzt (THE HUMPTY DUMPTY CIRCUS, 1898). Ein weiterer Film in dieser Technik von Edwin S. Porter ließ eine Ton-

Der Prozess als Performance : 103

Zeichnungen in Stop-Motion-Technik, wie etwa in dem Kurzfilm THE ENCHANTED DRAWING von 1900 und HUMOROUS PHASES OF FUNNY FACES von 1906. In dem frühe- ren Film zeichnet Blackton rasch ein Gesicht aufs Blatt, darüber eine Flasche Wein und ein Glas – so weit bewegt sich der Film noch im Rahmen einer abge- filmten Schnellzeichnen-Nummer – und nimmt schließlich die gezeichneten Ge- tränke von der Staffelei und schenkt sich ein. Hier wurde der Film angehalten, die realen Gegenstände vor der Staffelei befestigt und die Kamera weiterlaufen gelassen. Doch auch das gezeichnete Gesicht bewegt sich in den Passagen, die im Stop-Motion-Modus entstanden. Blackton hatte vorher Zeichnungen mit den einzelnen Veränderungsphasen angefertigt, die nun nacheinander fotografiert wurden und später, als Filmstreifen, das sich empört verzerrende Gesicht zeigten (vgl. Crafton 1990, 128).

Abb. 2: James Stuart Blackton, Einstellung aus THE ENCHANTED DRAWING (1900).

FF plastik wie von selbst entstehen (FUN IN A BAKERY SHOP, 1902). Blacktons 1907 veröffentlichter Kurzfilm THE HAUNTED HOTEL wurde zu einem großen Erfolg.

104 : Nicola Glaubitz

Abb. 3: Émile Cohl, Einstellung aus FANTASMAGORIE (1908).

Blackton drehte mehrere Filme dieser Art und reduzierte nach und nach die Prä- senz des Zeichnenden (vgl. Crafton 1990, 138). Man sah ihn in THE ENCHANTED DRAWING noch vor der Staffelei agieren – die Einstellung zeigt ihn von den Ober- schenkeln an aufwärts (siehe Abb. 2). HUMOROUS PHASES OF FUNNY FACES hingegen zeigt nur seine Hand, bevor die Zeichnung ein Eigenleben anzunehmen und sich von selbst zu verändern scheint. Eine Sequenz mit gezeichneten Clowns, die da- rauf folgt, ist bereits reine Animation. Der französische Animationsfilmer Émile Cohl verwendete 1908 eine ganz ähnliche Kombination von Realfilm und Anima- tion: In FANTASMAGORIE taucht anfangs die zeichnende Hand auf, dann scheint sich die Skizze von selbst zu vervollständigen und zu bewegen (siehe Abb. 3). Im Gegensatz zu Blackton, der den Stopptrick mit Schnellzeichnung bald wieder aufgab, entwickelte Cohl die Technik zum reinen Animationsfilm weiter. Das Publikum interessierte sich, wie Crafton darlegt, offenbar besonders für die Mo- mente, in denen die Zeichnung sich unter der Hand des Zeichnenden zu verselb- ständigen schien, in dem also der Übergang vom Realfilm zum Animationsfilm stattfand (vgl. Crafton 1990, 131).

Der Prozess als Performance : 105

Selbstfiguration und Ästhetik des Machens

Wie ist nun diese Entwicklung von der abgefilmten Varieténummer zum reinen Animationsfilm ohne Realfilmelemente zu bewerten? In der historischen Abfolge der Kurzfilme scheint die Mischform zwischen Realfilm und Animation ein blo- ßes Übergangsstadium zu sein: Zuerst wird der Prozess des Zeichnens realfil- misch dokumentiert, dann treten Animationsfilmelemente hinzu, die aufgrund des unerwarteten Isotopiebruchs zwischen Real- und Trickfilm auf Interesse sto- ßen, und schließlich etabliert sich der reine Zeichentrickfilm als Illusion einer sich selbst bewegenden Zeichnung. Diese Entwicklungslinie stellt Donald Craf- ton in seiner Monografie zu Émile Cohl in den Vordergrund: Er spricht für die Jahre zwischen 1896 und 1908 von einer ‚evolutionären Entwicklung‘ von den Schnellzeichenfilmen zum animierten Cartoon:

Throughout the evolutionary change from the ‚lightning ‘ films to the true ani- mated cartoon, there was a noticeable shift of emphasis from the performer to the drawings. [...] With FANTASMAGORIE, the artist’s hand is seen in extreme close-up only a few seconds. When it withdraws, the graphic work springs to life on its own. In the finale of the film the little clown rides away, as though asserting his liberation from the artist-creator. The draw- ings are now of primary importance and the hand is secondary – a mere vestige of the old vaudeville tradition that would completely disappear in Cohl’s next films. (Crafton 1990, 138)

Ob die Selbstfiguration, die ‚Befreiung der Zeichnung von den Zeichner_innen‘, allerdings als Telos der Filmgeschichte anzusehen ist, kann man bezweifeln. Der Purismus des reinen Animationsfilms ist eine Entwicklungslinie, neben der sich der Mischfilm keineswegs als Übergangsphänomen, sondern als eigenes Genre etabliert hat (vgl. Glaubitz 2007). Und auch der Attraktionswert des Mischfilms liegt wohl nicht im Vorausweisen auf die reine Animation. In der realfilmischen Präsenz der Hand hat man es mit einer Ästhetisierung und Medialisierung des Machens als Eigenwert zu tun, vergleichbar den Mal-Aufführungen Turners, wel- che virtuoses Zeichnen an die vertraute und konventionalisierte Figur virtuosen Künstler_innentums knüpft. Der Mischfilm bricht im Gegensatz zu Turner und im Gegensatz zur Jahrmarktsnummer die vertraute Kombination aus Präsenz der Künstler_innen und ihren Spuren auf, und zwar in Richtung der filmischen Tech- nik. Der überraschende und witzige Isotopiebruch zwischen Schnellzeichnen und Selbstfiguration verweist auf die Grenze des menschlichen Machens und den Beginn des technisch Möglichen. In Geschichten des Animationsfilms wird viel- fach argumentiert, es sei das Magische, das Imaginäre, das Illusionistische, das

106 : Nicola Glaubitz seine Faszinationskraft ausmachte. Schaut man aber in die Frühgeschichte der Animation, dann üben auch die Technik und die Machart selbst eine Faszination aus: Nicht die visuelle Illusion, sondern auch die Frage ‚wie ist das gemacht?‘ trieb die Leute ins Kino. In Fachzeitschriften, in der Presse und einigen Quellen zufolge auch im Publikum wurde darüber erregt diskutiert (vgl. Crafton 1982, 16– 17). Es ging um das Ergründen des technischen Geheimnisses dieser Filme. Und während die Filmunternehmen Vitagraph und Gaumont anfangs peinlich darauf achteten, ihre Geschäftsgeheimisse zu bewahren, wurde später in der Fachpresse offen dargestellt, wie die Tricks zustande kamen. Genau diese Rezeptionshaltung entspricht nicht dem, was man Liebha- ber_innen von Populärkultur zu dieser Zeit und auch später gern unterstellte, nämlich das naive Staunen und die unkritische Akzeptanz kulturindustrieller Produkte. Das Interesse am Making-of – an der technischen Gemachtheit – war Teil der ästhetischen Wertschätzung des Trickfilms. Und Trickfilme, nicht allein die frühen Exemplare, bieten selbst die Affordanzen für eine solche Wertschät- zung an: Die Reflexion auf das Medium und die eigene Medialität ist Teil ihrer Ästhetik. Der kursorische Überblick über kulturelle Momente, in denen schnelles Zeichnen und Malen vor Publikum kontrovers und produktiv geworden ist – von Turner über Pollock und zurück zu Blackton – zeigt, dass das Offenlegen des Ar- beitsprozesses beim Zeichnen problematisch, aber daher auch produktiv wurde: Es machte einen Prozess sichtbar, der widersprüchliche Interpretationen gera- dezu provozierte. Genialität und Dilettantentum konnten bei Turner auf den Pro- zess als Performance projiziert werden; bei Pollock forderte die filmische und fo- tografische Popularisierung des Malaktes die Zuschreibung reflektierten, konventionsüberschreitenden Künstlertums oder der Kunst als eines Ausdrucks unbewusster Triebe heraus. Im frühen Trickfilm stehen die Faszinationen an Il- lusion und technischer Machbarkeit nebeneinander. Das Schnellzeichnen mag zwar eine wenig bedeutende marginale Kleinkunst sein, historisch gesehen hat sie sich aber als ästhetischer Katalysator für überraschende Neuausrichtungen in der Kunst- und Animationsfilmgeschichte erwiesen.

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Lukas R.A. Wilde Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz

Zu den medienwissenschaftlichen Potenzialen des japanischen kyara-Begriffs

Abstract: Im Zentrum des Beitrags steht die Konturierung eines spezifischen Fi- gurenbegriffs aus dem japanologischen Diskurs, der in weiten Medienbereichen zur Anwendung kommen kann, welche als prä- oder non-narrativ einzustufen wären. Als kyara, キャラ, lassen sich reine product placement- und Merchandise- ‚Figuren‘ wie Hello Kitty bezeichnen, ebenso wie die Maskottchen von Firmen, Ämtern und Ministerien, bis hin zu virtual idols à la Hatsune Miku. Zugleich adressiert der Begriff die Rekontextualisierungspraxen von Manga- und Anime- Figuren innerhalb der Partizipationskultur. Die These ist, dass die konzeptuelle Schnittmenge all dieser Gegenstandsbereiche medienwissenschaftlich von höchster Bedeutsamkeit ist, da die dadurch adressierten Figurenkonzepte mit in- ternational gängigen Begrifflichkeiten noch kaum erfassbar sind. Im Japanischen schlugen etwa Itō Gō und Azuma Hiroki vor, derlei Wesen als Knotenpunkte par- tizipatorischer (‚meta-narrativer‘) Vorstellungsspiele aufzufassen. Der Beitrag macht ein Angebot für eine genauere theoretische Fundierung eines solchen Konzepts entlang von Kendall L. Waltons kursorisch entwickelten Ausführungen zu reflexiven Requisiten der spielerischen Imagination. Abschließend wird ge- zeigt, inwiefern ein solcher kyara-Begriff mit einer spezifischen Semiotik – einer ‚Ästhetik des Gemachten‘ – in engem Zusammenhang steht und auch über den japanischen Bereich hinaus großes analytisches Potenzial birgt.

 Dr. Lukas R.A. Wilde, Eberhard Karls Universität Tübingen, Institut für Medienwissenschaft, Wilhelmstraße 50, 72074 Tübingen, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Lukas R.A. Wilde, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-006

110 @ Lukas R.A. Wilde

Zum Hintergrund des kyara-Begriffs: Manga, Medienkonvergenz und Partizipationskulturen

In den Jahren und Jahrzehnten seit der Jahrtausendwende fand in Japan eine in- tensive theoretische Auseinandersetzung mit Figurenkonzepten statt, die über keinerlei diegetische Einbettung verfügen, sondern nur auf den Oberflächen ma- terieller Objekte oder in Form mediatisierter Aufführungssituationen zirkulieren. Solche werden häufig unter dem Begriff kyara von ‚eigentlichen‘, also narrativ kontextualisierten Figuren (kyarakutā) unterschieden. Der Phänomenbereich kyara umfasst einerseits ‚virtuelle Idole‘ und ‚fiktive celebrities‘, Firmen-Maskott- chen und Kommunikationsfiguren von Ämtern und Behörden und reine product placement-Wesen wie Hello Kitty; zugleich adressiert er aber auch die Rekontex- tualisierung von Manga- und Anime-Figuren innerhalb der japanischen Partizi- pationskultur. Im folgenden Beitrag soll dieser Zusammenhang genauer be- stimmt werden, indem zunächst einige Spezifika des japanischen Manga in den Blick genommen werden. Dabei wird insbesondere deutlich, dass es häufig eine bestimmte semiotische Qualität leicht reproduzierbarer Linien-Bilder (senga) ist, die als Ermöglichungsbedingung beider Phänomenbereiche fungiert. Sowohl die ubiquitäre Rekontextualisierung von Figuren bestehender Franchises als auch die Prominenz prä-narrativer Wesen ist oft auf eine besondere Ästhetik des Ge- machten zurück zu führen, welche eng mit dem kyara-Begriff verbunden ist. Da- her muss gefragt werden, inwiefern der Zusammenhang zwischen der besonde- ren Figuren-Konzeption des kyara zu einer bestimmten, handgezeichneten Qualität auch über den japanischen Bereich hinaus über höchste Relevanz ver- fügt.1 Mit anderen Worten: kulturalistische Deutungsmuster möchte ich gerade vermeiden, um die folgenden Phänomene stattdessen von ihrer Medialität her zu denken. Wie könnte dies nun aussehen? Stephan Köhn eröffnete seine jüngste Über- sichtsdarstellung zu mit dem wichtigen caveat, dass diese häufig „zum Resultat bestimmter kultureller Praktiken und Traditionen stilisiert, nicht aber als Produkt eines ausgeklügelten und hochkomplexen Produktions- und Wirt- schaftssystem näher in Betracht gezogen [werden]“ (Köhn 2016b, 248). In diesem

NN 1 Der vorliegende Aufsatz geht auf meine Monografie Im Reich der Figuren (Wilde 2018b) zurück, welche japanische Maskottchen- und Kommunikationsfiguren im öffentlichen Raum zum Ge- genstand hat. Hier möchte ich die Gelegenheit nutzen, einige Gedanken in Bezug auf Comic, Manga und Animation weiter zu entwickeln. Für wertvolle Anmerkungen zu Übersetzungen aus dem Japanischen danke ich Christopher Bischof.

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 111

Beitrag soll ‚Manga‘ daher nicht als insulärer Gegenstand, sondern als mediale Konfiguration verstanden werden (vgl. Wilde 2018b).2 Insbesondere die Hand- lungs- und Akteursbereiche des japanischen Manga haben zweifellos bemer- kenswerte Eigenarten gegenüber dem europäischen oder US-amerikanischen Co- mic aufzuweisen. Manga muss zunächst unbedingt als ein partizipatorisches Medium verstanden werden, wie Jaqueline Berndt immer wieder betont hat:

[V]iele Jugendliche [gehen] heutzutage eher als user denn als klassische Leser mit Mangas um. […] Bereits die cartoonesken Gesichter der Charaktere und der Verzicht auf detaillierte Hintergründe, die ,organisierte Leere‘, laden zum imaginativen wie zum wortwörtlichen Ausmalen ein: Leser schreiben Geschichten um beziehungsweise weiter und werden mit- tels fan art, Online-Kommentaren und Cosplay (Mangarollenspiel) zu Mitgestalterinnen und Mitgestaltern. (Berndt 2014, 49–50; Herv. im Original)

Zwar existiert in Japan ein strenges Urheberrecht, das geistiges Eigentum bis 50 Jahre nach dem Tod der Autor_innen schützt.3 Dennoch werden im japanischen dōjinshi (Fan-Manga-)Bereich zum größten Teil Figuren aus Franchises aufgegrif- fen, die bereits existieren: „Today’s dojin […] consist almost entirely of derivative works, generally derived from a single series“ (Tamagawa 2012, 116), schließt

NN 2 Ein ‚Einzelmedium‘ wird hierbei als eine rein relationale (medienvergleichende) Größe be- trachtet, deren Medialität multidimensional konzipiert ist, insofern sie nicht nur technisch-ap- parative, sondern auch semiotisch-formale sowie kulturell-institutionelle Ebenen umfasst (vgl. ausführlicher die Beiträge in Thon/Wilde 2016, sowie Wilde 2015; 2018b; zum Manga etwa Berndt 2016). ‚Comic‘ oder ‚Manga‘ wären dann (ebenso wie ‚Animatiomsfilm‘ oder ‚Anime‘) als „con- ventionally distinct means of communicating cultural content“ (Wolf 2005, 253; vgl. Rajewsky 2002, 13; Rippl/Etter 2013) aufzufassen. Eine solche Medienkonfiguration meint zunächst nichts Anderes als – so etwa Dieter Mersch mit Niklas Luhman – ein „Ensemble von Elementen“ (Mersch 2006, 215; vgl. Wilde 2014) oder ein „technisch-mediale[s] Dispositiv“ (Packard 2016, 58; vgl. Schmidt 2008, 147–150; Wirth 2008, 224). Es umfasst auch sozialsystemische Institutionen und partizipatorische Netzwerke. Überblicke über japanische Theoriebildungen, Strömungen und Ausrichtungen von ‚Medien‘-Begriffen geben etwa Fabian Schäfer (2017) und die Autor_in- nen in Steinberg/Zahlten 2017. 3 Aufschlussreiche Übersichten über den japanischen dōjin-Markt und seine Rechtelage(n) bie- ten neben Yonezawa 2001 in internationalen Publikationen Noppe 2010; 2014; sowie Thiel 2016; Hülsmann 2016. Übersichtliche frühe Vergleiche zwischen japanischen dōjinshi und westlichen ‚Fanziness‘ finden sich bereits bei Berndt 1995, 157–174 oder Kinsella 1998; einen viel beachteten journalistischen Beitrag liefert Pink 2007. Dōjinshi machen nur einen Teil des dōjin-Marktes aus, zu dem etwa auch selbst produzierte Filme und Musikstücke zählen. Erwähnenswert sind au- ßerdem Social Networking Services (SNSs) wie Pixiv (vergleichbar mit der englischsprachigen Plattform DeviantART), auf der täglich bis zu 30.000 selbsterstellte Artworks und Fan-Manga hochgeladen werden – zumeist ebenfalls zu bereits bestehenden Figuren (vgl. Noppe 2013).

112 @ Lukas R.A. Wilde etwa Tamagawa Hiroaki4 seinen Überblick. Offiziell spricht man hier seit den spä- ten 1970er Jahren von parodi dōjinshi, パロディ同人誌, also ‚Parodien‘, was aber viele falsche Schlüsse zulässt: „Sie sind jedoch eher selten tatsächliche Parodien im westlichen Wortsinn und stellen vielmehr das Gegenstück zu eigens erdach- ten Geschichten dar“ (Thiel 2016, 120). Bereits im Jahr 2005 sprach der Manga- Theoretiker Itō Gō daher davon, dass niji sōsaku, 二次創作 (wörtlich: Zweitpro- duktionen) gerade nicht als Parodien, sondern eher als eine Art des phrase sam- plings wie im Hiphop (furēzu sanpuringu, フレーズ・サンプリング, Itō 2005, 136) angesehen werden müssten. Mit Nele Noppe ließen sich die in Zweitproduktionen aufgegriffenen Figuren so auch als „open source cultural goods“ (Noppe 2014, 335; vgl. auch Noppe 2014, 211–317) auffassen. Marc Steinberg geht in seiner monumentalen Untersuchung der japanischen Medienkultur sogar soweit, dass die Unterscheidung zwischen ‚Original‘ und ‚Derivat‘ durch die Bedeutung von Zweitproduktionen faktisch ir- relevant geworden sei (vgl. Steinberg 2012, 179). Ito Mizuko hat dies unter der Be- zeichnung der „hypersozialen Aspekte“ (Ito 2008, 397: vgl. auch Ito 2006; 2007), Ian Condry unter jener der „collaborative networks“ (Condry 2013, 35; vgl. bereits Condry 2009) herausgearbeitet. Für Manga und Anime dürfte so gleichermaßen gelten: „[C]ompared with viewing anime as a collection of texts, the form can be interpreted somewhat differently if we conceive of anime as an approach to crea- tive production – that is, a way to define and put into practice particular pro- cesses of world making“ (Condry 2013, 56). Wichtig ist damit auch, dass Manga nicht abgekoppelt von der restlichen Medienlandschaft zu denken ist, sondern stattdessen als „open to congeneric media cultures such as fanfiction and fan art, TV anime, and video games“ (Berndt/Kümmerling-Meibauer 2013, 2). Es geht also um die Begriffe ‚Medienkonvergenz‘ und ‚transmediales Erzäh- len‘ (vgl. zur Übersicht etwa Sánchez-Mesa et al. 2016). Es ist insbesondere das Verdienst von Henry Jenkins, mit seinem Buch Convergence Culture (2006; vgl. bereits Jenkins 2003) eine weitgreifende medienwissenschaftliche Diskussion hierum angestoßen zu haben. Im Kern geht es dabei um zwei miteinander ver- bundene, aber durchaus zu unterscheidende Prozesse, wie etwa Carlos A. Sco- lari, Paolo Bertetti und Matthew Freeman historisierend festgehalten haben: „[M]any contemporary works are characterised by expanding their narrative

NN 4 Japanische Personennamen erscheinen hier mit Ausnahme des Literaturverzeichnisses in der japanischen Reihenfolge, d.h. Familienname vor Vorname ohne Trennung durch ein Komma. Die Transkription japanischer Wörter folgt dem auf dem Englischen beruhenden Hepburn- System (https://en.wikipedia.org/wiki/Romanization_of_Japanese; letzter Zugriff: 1. Dezember 2017).

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 113 through different media (e.g. film, television, comics, books, etc.) and other plat- forms (blogs, forums, wikis, social networks, etc.)“ (Scolari et al. 2014, 2). Zudem aber – dies mag dem ersten Moment zuspielen, muss es aber nicht – geht es um partizipatorische Aspekte, also um „the creation of user-generated content“ (Sco- lari et al. 2014, 2). Beide Aspekte lassen sich durchaus mit Hinblick auf weit zu- rückliegende Gegenstandsbereiche untersuchen, wie viele Ansätze zu einer ‚transmedialen Archäologie‘ gezeigt haben (vgl. auch Freeman 2014b; Scott 2009). Eine Fülle von Publikationen hat diese Fragen zudem bereits mit japani- schen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht.5 Spätestens seit Anfang der 1980er Jahre stehen japanische Mediensysteme in einem hochkomplexen Netz aus Vermarktungsketten innerhalb einer Medienökologie, die Steinberg als ein „all-consuming, character-driven media environment“ bezeichnet (Steinberg 2012, 19; Herv. LW). Obgleich ‚Medienkonvergenz‘ also zunächst überwiegend auf ‚westliche‘ (v.a. nordamerikanische) Franchises, Produkte und Konsumwei- sen bezogen war, ist das begriffliche japanische Äquivalent, media mix, メディ アミックス, nicht nur bereits seit den 1980er gang und gäbe, sondern auch seit damals Gegenstand ausgefeilter Theoriebildungen. Die Bezeichnung media mix wird daher zumeist auch mit transmedia storytelling übersetzt. Dennoch haben japanische Modelle ihre eigenen (Vor-)Geschichten und Ausprägungen. Für Ja- pan ist insbesondere die Bedeutung von ganz bestimmten Figurenkonzepten zentral, wie Steinberg festhielt: „[T]his particular history of the media mix sheds some light on the very analog beginnings of transmedia movement, as well as on the material and immaterial entity of the character that supports it“ (Steinberg 2012, viii). Dieser Umstand lässt sich durch eine medienwissenschaftliche Basis- beobachtung von Rainer Leschke genauer beschreiben. Er versteht Figuren als „mediale Formen, die durch das Mediensystem migrieren“ (Leschke 2010, 12). Solche stünden als „Kategorien mittlerer Größe […] quer zu den Ordnungsstruk- turen von Medium, Werk und Zeichen“ (Leschke 2010, 13), ermöglichen aber zu- gleich Vermittlung und Transferierbarkeit, fast wie eine Art „Geld der Medien, […] jene universale Tauschinstanz“ (Leschke 2010, 11). Steinberg spricht bei der Figur

NN 5 Zu nennen wären zunächst die bereits erwähnten Arbeiten von Steinberg 2012 und Condry 2013 sowie die Sammlung Media Convergence in Japan von Patrick W. Galbraith und Jason G. Karlin (2016a). Zur Orientierung eignen sich auch Allison 2006, Lamarre 2009, Steinberg 2010, die Dialoge in Jenkins 2013, die Beiträge in Lunning 2014 (insb. Saito 2014) sowie in Schön- bein/Stein 2016. Im japanischen und japanologischen Diskurs müssen diese Fragen häufig in- nerhalb eines Forschungsfeldes verortet werden, das Zoltan Kacsuk (vgl. 2016, 275) als AMO, Anime-, Manga- und Otaku-Forschung identifiziert hat. Zum Zusammenhang japanischer Otaku- und westlicher Fandom-Forschung vgl. insbesondere auch die Mechademia-Ausgabe Fanthro- pologies (Lunning 2010) sowie Berndt 2006, Brienza 2012 und die Beiträge in Okabe et al. 2012.

114 @ Lukas R.A. Wilde von „an entity that […] both supports the transmedia movement and environmen- tal diffusion of the character and refuses to be pinned down in any one medial incarnation“ (Steinberg 2012, 44). Durch eine (gleich zu problematisierende) ‚Identität‘, die eine erfolgreiche Figur oft alleine auf visueller Ebene aufrechter- hält, werden die verschiedensten medialen Artefakte aneinander gekoppelt, um zur weiteren Rezeption anzuregen. Derlei transmediale Figuren, so Berndt,

halten die sekundärverwertenden Eingriffe der Fans (niji sōsaku) aus, ebenso wie den Wechsel ihrer Trägermedien. Ob sie in Manga, Anime oder Games auftauchen – entschei- dend ist nicht ihre Verbundenheit mit einem ganz bestimmten Kontext, sondern ihre Wie- dererkennbarkeit über verschiedene Texte und Kontexte hinweg. (Berndt 2006, 40; Herv. im Original)

Obgleich derlei Rekontextualisierungspraxen von Produzent_innenseite her zu- meist durchaus beabsichtigt sind, entwickeln manche Wesen auch sehr unerwar- tet ein partizipatorisches Eigenleben. Selbst didaktisch konzipierten Figuren von educational manga (gakushū manga) oder Lehrbüchern kann es widerfahren, eine unintendierte virale Existenz auf Fan-Seiten, in sozialen Netzwerken oder in Fan-Produktionen zu entwickeln, wie etwa im Jahr 2016 die gezeichnete Lehrerin Ellen Baker (エレン・ベーカー先生) des Englisch-Schulbuchs New Horizon von Tokyo Shoseki (vgl. Baseel 2016). Daran schon kann man sehen: es existiert ein großer Unterschied zum Worldbuilding wie es Jenkins vorschwebte, und wie es in der transmedialen Narratologie zum Paradigma erhoben wurde (vgl. Ryan/ Thon 2014; Thon 2015a; 2016, 35–70; Wolf 2012):

In the media mix, the emphasis is not on a coherent narrative or world unfolding across media forms – the ‚transmedia storytelling‘ that Jenkins identifies in The Matrix – but rather the franchising of characters, which can exist simultaneously in diverging narratives and worlds. (Galbraith/Karlin 2016b, 18–19; vgl. Anm. 7)

Manche ‚Figuren‘ – und hierauf möchte ich hinaus – kommen sogar ganz ohne narrative Trägermedien im eigentlichen Sinne aus. Typisch hierfür wäre etwa Hatsune Miku, ein virtual idol (siehe Abb. 1).

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 115

Abb. 1: Vocaloid 2-Software mit Hatsune Miku-Illustrationen; https://matome.naver.jp/odai/ 2138727630601129501/2142350217692027203 (letzter Zugriff: 21. Januar 2018).

Miku ‚existierte‘ zunächst nur als künstliche Gesangsstimme des Vocaloid2-Syn- thesizers von Crypton Future Media. Der Manga-Künstler KEI verlieh ihr schließ- lich einen gezeichneten Körper, woraufhin sie eine schnelle Karriere als Popkul- tur-Ikone, als ‚fiktive celebrity‘, durchmachte. Im Laufe von Mikus Karriere haben sich die verschiedensten, teils kollaborativ entstandenen Medienangebote‚ um sie herum entwickelt.6 Galbraith and Karlin halten daher fest: „No one person is Miku’s producer, since anyone with the Vocaloid software can produce music with her“ (Galbraith/Karlin 2016b, 20). Miku besitzt auch unzählige ‚Kolleg_in- nen‘ (wie Luka, Meiko, oder die Kagamine-Zwillinge Rin und Len), die realen

NN 6 Beispielsweise existiert MikuMikuDance, eine von Fans entwickelte Software, mit der sich durch Miku-3D-Modelle eigene Musikvideos entwickeln und später auf Plattformen wie Nico Nico Dōga laden lassen, oder die Crypton-Webseite Piapro.jp für Fan-Kunstwerke jeglicher Art (vgl. Annett 2014; Leavitt et al. 2016; Yoshida 2016).

116 @ Lukas R.A. Wilde

Prominenten zunehmend den Rang ablaufen. Dies erinnert an die inflationär ein- gesetzten Maskottchen-Figuren von Provinzen, Ämtern und Institutionen (yuru- kyara, ゆるキャラ, ‚schwache Figuren‘, oder gotōchi-kyara, ご当地キャラ, Regi- onalmaskottchen, vgl. hierzu Inuyama/Sugimoto 2012; Köhn 2016a; Maynard 2015; Occhi 2012; 2014; 2018; Wilde 2016; 2018a). Exemplarisch für die kulturelle Zäsur im Medienkonsumverhalten, die mit solch veränderten Figurenkonzepten einhergegangen ist, dürfte sicherlich San- rios Franchise (Hello) Kitty sein (vgl. Belson/Bremner 2004; McVeigh 2000; Peil 2010; Peil/Schwaab 2013; Toratani 2013; Uyehara 1998; Yano 2006).7 Nähert man sich Wesen wie Kitty von Storyworlds und narratologischen Annahmen aus an, sind sie sicherlich von begrenztem Interesse: Ihre „uniqueness exists within de- nial of any specific stories“ (Murakami 2003, 3; vgl. Peil/Schwaab 2013, 226). Den- noch kommen Itō und zahllose andere Beobachter_innen nicht umhin, solchen phantasmatischen und narrativ dekontextualisierten Wesen – trotz oder gerade wegen einer kategorialen Differenz zu ‚eigentlichen‘ Figuren – eine einzigartige „Lebenskraft“ (seimeikan, 生命感, Itō 2005, 95), eine „Präsenz“ (sonzaikan, 存在 感, Itō 2005, 95) zuzugestehen, die reine Markenzeichen oder Logos weit über- steigt (vgl. auch Aihara 2007, 122; Aoki 2014, 72). Diese faszinierende Paradoxie wurde von Corinna Peil und Herbert Schwaab auf den Punkt gebracht, wiederum Kitty gewidmet: „Die Katze ist einfach da, sie hat keinen Charakter, weil sie keine Psychologie und kein Narrativ hat. Sie ist aber Charakter, sie bekommt Präsenz durch ihre Sichtbarkeit“ (Peil/Schwaab 2013, 351).

Auf dem Weg zum kyara-Begriff: Zum Desiderat einer transmedialen Figurentheorie

Die medienwissenschaftliche Bedeutsamkeit all solcher Figurenphänomene be- steht meines Erachtens nach darin, dass sie international noch kaum begrifflich fassbar sind. Zwar lassen sich insbesondere innerhalb der Narratologie Figuren- begriffe ausmachen, die transmedial angelegt sind, insofern sie gleichermaßen in Romanen, Filmen, Comics oder auch Videospielen zur Anwendung kommen können.8 Die so beschriebenen Wesen sind damit nicht unter der Annahme eines

NN 7 Azuma Hirokis Lieblingsbeispiel ist hingegen Dejiko, das gezeichnete Maskottchen einer La- denkette aus Akihabara (vgl. Azuma 2001, 62–70; 2007b; 2012). 8 Überblicke und Orientierungen bieten neben Eder 2008a, 39–130 die Aufsatzsammlungen Eder et al. 2010b und Leschke/Heidbrink 2010.

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 117 ausschlaggebenden Ursprungsmediums erfassbar und somit dezidiert transme- dial (vgl. zu diesen Begrifflichkeiten Thon 2014 sowie in historisierender Perspek- tive Packard 2015). Jens Eders im Jahr 2008 entwickeltes Figurenmodell (vgl. Eder 2008a; 2008b) bietet sich als Ausgangspunkt einer genaueren Modellierung und Problematisierung an. Eder knüpft hier unter anderem an Uri Margolins literatur- wissenschaftliche Studien zur Figur an, in denen Margolin selbst Elemente des Strukturalismus, der kognitiven Rezeptionstheorie und der Theorie möglicher Welten in verschiedenen, wegweisenden Essays zu einem ausgewogenen und umfassenden Figurenmodell verbunden hatte (vgl. zur Übersicht Margolin 2007; sowie Jannidis 2014). ‚Figuren‘ (characters) müssen sich demnach in dreifacher Weise konzipieren lassen: basierend auf Artefakten, die von einer Autor_in zu einem bestimmten Zweck angefertigt wurden; als mentale Konstrukte, die im an- schließenden Rezeptionsprozess entstehen; sowie schließlich als „non-actual but well-specified individual presumed to exist in some hypothetical, fictional domain – in other words, character as an individual within a possible world“ (Margolin 2007, 66). Eders detaillierte Ausarbeitung und Erweiterung dieses Modells hat sich im Zuge der kognitionswissenschaftlichen Wende der postklassischen Narratologie auch als auf Protagonist_innen anderer medialer Provenienzen anwendbar er- wiesen (vgl. etwa Eder/Thon 2012; Schröter/Thon 2014). In den wenigen vorhan- denen Ansätzen zu einer Theoretisierung der gezeichneten Manga- und Comicfi- gur wird ebenfalls betont, dass „[w]hile comic books use the verbal and visual narrative device to create characters, the cognitive process by which we as reader-viewers identify an entity with a character is cross-medial and founda- tional“ (Aldama 2010, 319; vgl. aber Klar 2011; 2013; sowie Meinrenken 2010). In jedem Fall wären nach diesem Dafürhalten „Figurenvorstellungen und ihre Ge- halte […] – ebenso wie Figurendarstellungen – von den Figuren selbst zu unter- scheiden“ (Eder 2008b, 30; Herv. im Original), da Figuren selbst (ebenso wie an- dere Bestandteile dargestellter Welten) als normative Abstraktionen zu rekonstruieren wären, d.h. als intersubjektive Approximation verallgemeinerba- rer Rezeptionsprozesse. Das hypothetische kognitive Konstrukt einer Modell-Re- zipient_in und deren Figuren-Vorstellungen „wird offenbar von denjenigen rea- len Rezipienten gebildet, die auf der Grundlage von Texthinweisen, Vorwissen und kontextuellen Informationen Annahmen über das ,richtige‘ […] Textver- ständnis und Figurenmodell machen und sich in einem metafiktionalen Diskurs […] darüber verständigen“ (Eder 2008b, 50). Dies öffnet die Figur gegenüber Se- rialität und Transmedialität. Paolo Bertetti weist etwa darauf hin, dass

instead of considering the fictional character an entity inscribed in the text itself, we see it as a semio-pragmatic effect produced by texts, the result of an interaction between text and

118 @ Lukas R.A. Wilde

receiver (reader or viewer) […]. A character can be the overall result not only of a single text, but also of a diverse series of texts, producing a semiotic object. (Bertetti 2014a, 16)

Unter diesen Annahmen lässt sich womöglich auch Steinbergs folgender Befund etwas besser einordnen: „[W]e should think of the character as something de- fined not only by its visual characteristics and name but also by its im/material attributes: a concrete thing and an abstract something that travels between things, holding converging and diverging series together“ (Steinberg 2012, 194; Herv. LW). Der reklamierte Geltungsanspruch all solcher Figurenkonzepte ist je- doch explizit auf narrative Medien eingeschränkt, worunter sich – in der womög- lich konsensfähigsten Fassung dieses Begriffs – solche Medienangebote verste- hen lassen, die dargestellte Welten, Storyworlds, repräsentieren; in denen also raumzeitlich, kausal und ontologisch miteinander verbundene Situationen ver- ortet sind (vgl. Wilde 2018a, Kap. 5). Auf Hatsune Miku, (Hello) Kitty oder Ellen Baker wäre eine solche Konzeption, die den Fokus a) auf kohärente Storyworlds sowie b) auf intersubjektive Verbindlichkeit legt, nur unter starken Einschrän- kungen anwendbar. Für Japan müssen diese dennoch als absolut typisch für Me- dienkonvergenz-Strategien angesehen werden: „Hatsune Miku is one of the most successful cases of convergence, at least in the Japanese media industry, in the twenty-first century“ (Leavitt et al. 2016, 202). Nun haben insbesondere eine Reihe von historischen Untersuchungen ge- zeigt (vgl. etwa Meyer 2016; Scolari et al. 2014; Scott 2009), dass ein Storyworld- zentriertes Figurenverständnis, wie es soeben mit Eder anskizziert wurde, ohne- hin nur eingeschränkte Gültigkeit und Anwendbarkeit besitzt; zumindest, wenn man als Identitätskriterium ein „sharing or not of a common fictional universe (intended as a single course of events)“ heranzieht (Bertetti 2014b, 2358; vgl. dazu auch Rosendo 2016). In seinem Entwurf einer transmedialen Figurentypologie betont Bertetti etwa immer wieder folgenden Umstand: „This world-centred logic [of characters] is typical of the more recent transmedia productions, to which – not surprisingly – Jenkins (2006) only refers“ (Bertetti 2014a, 17). Er weist dem- gegenüber an ‚Transwelten-Figuren‘ wie Disneys Goofy sowie an der kollaborati- ven Genese von Conan dem Barbar einen gegenläufigen Befund nach:

Under this logic […], transmedial fictional coherency and consistency are less central. What is instead more important is the recognisability of the character and his identity, which must be ensured even if the character’s features, in passing from one text to another and from one medium to another, are not always unequivocally defined. (Bertetti 2014a, 36)

Dies führt Bertetti mit Bezug auf Jason Scotts (2009) Analysen der Stummfilmzeit zu dem Schluss, dass „[w]e could say that older forms of transmedia franchises were constructed on character sharing rather than on the logics of a particular

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 119 world“ (Bertetti 2014a, 17). Anders gesagt: die ‚Identität‘ einer transmedialen ‚Fi- gur‘ darf nur prototypisch und skalierbar aufgefasst werden: „The identity of characters is a fuzzy concept, and some of its occurrences are more typical than others“ (Bertetti 2014a, 30). Auch Jenkins gesteht ein, dass man eine ‚moderne‘ transmediale Figur („who carries with him or her the timeline and the world de- picted on the ‚mother ship‘, the primary work which anchors the franchise“; Jen- kins 2009, o.S.) deutlich differenzieren müsse von gezeichneten Akteur_innen wie Felix the Cat, „a character who is extracted from any specific narrative con- text“ (Jenkins 2009, o.S.). Eine ‚Transwelten-Identität‘ von gezeichneten Prota- gonist_innen ist durchaus nichts Ungewöhnliches: Schon der legendäre Zeichner und Autor Tezuka Osamu übernahm von Walt Disney die Konzeption, seine Fi- guren wie – fiktive! – Schauspieler_innen in verschiedene Rollen ganz unverein- barer Storyworlds auftreten zu lassen, als besäßen sie „a body produced (that of the character) and a body producing (that of the actor)“ (Steinberg 2012, 68; vgl. dazu umfassend DeCordova 2001; Hagener 2012; Riis 2012).9 Begriffe wie die des ‚fiktiven Schauspielers‘ oder des ‚mediierten Performers‘ (vgl. Maynard 2015, 377) scheinen mir einen Schlüssel zum Verständnis dieser Figurenkonzeptionen zu bieten. Glaubt man, zusammenfassend, all diesen Befunden der transmedialen Archäologie, so ist der für Japan so typische Übergang, nicht nur vom Storytelling zum Wordbuiling, sondern auch vom Worldbuilding zum Character Sharing (vgl. Condry 2013, 57) eher aufgrund disziplinärer Traditionen und Vorlieben noch kaum theoretisch fundiert. Dieser Überblick ist selbstredend stark verkürzend (vgl. umfassender Wilde 2018a, Kap. 7). Die transmediale Narratologie modelliert für ‚Figuren‘ ebenso, dass sie sich über ihre kontextuelle Verortung in einer Storyworld hinaus auch aus transmedial dargestellten Welten lösen (vgl. Thon 2015b) und eine Transwel- ten-Identität annehmen können. Margolin spricht davon, dass wir es dann mit einem transtextuellen „second level-original“ (Margolin 1996, 116) zu tun haben, wenn eine Art kulturelle Synthese von Kerneigenschaften und -merkmalen ihrer verschiedenen (partiell widersprüchlichen) Versionen entstünde: „[T]hey un- dergo a process of culturization, where they finally become common cultural property, such that many or even most participants in the culture do not even

NN 9 Zu Comic- und Zeichentrickfiguren, die wie Schauspieler_innen auf der Bühne wechselnde Rollen in miteinander ganz unvereinbaren Kontexten annehmen können, vgl. auch Meinrenken 2010, 242; Nielsen 2009, 354 sowie zur Übersicht Crafton 2013. Mit Ian Condry ließe sich anschlie- ßen: „In this sense, characters operate like celebrities“ (Condry 2013, 62) – und nichts anderes als eine fiktive, medial zirkulierende celebrity ist schließlich auch Hatsune Miku. Auch yuru- kyara (Maskottchen-Figuren) lassen sich als „social beings of a sort who replace human celebri- ties in endorsements“ (Occhi 2012, 120) verstehen.

120 @ Lukas R.A. Wilde know which ist he first text in which they occur“ (Margolin 1996, 116; vgl. auch Margolin 2007, 70). Beispiele wären ,der Quixote‘ oder ,der Sherlock Holmes‘, die nicht in all den unterschiedlichen Versionen ihrer selbst aufgehen, welche in ver- schiedenen unvereinbaren Storyworlds hunderter Filme und Romane verstreut sind (vgl. dazu Rosendo 2016).10 Nun mag es zutreffend sein, dass ein genauerer historischer Blick bestätigen könnte, dass eine solche Transwelten-Identität generell für ‚Figuren‘ viel häufi- ger vorliegt, als man annehmen würde. Es erscheint mir dennoch sinnvoll, solche Wesen, die als Teile dargestellter Welten eine singuläre ‚diegetische Biografie‘ besitzen, begrifflich von anderen zu unterscheiden, bei denen dies nicht der Fall ist. Eine Option hierzu bieten Shane Denson und Ruth Mayer, die serielle Figuren (serial figures) streng von Serienfiguren (series characters) differenzieren. Letz- tere – dies entspräche noch einer Eder’schen Konzeption – wären solche, die „in einer fortlaufenden Inszenierung (beispielsweise einer Soap Opera, einem Seri- enroman oder einer Saga) entwickelt werden und dabei durchaus so etwas wie psychologische Tiefe gewinnen“ (Denson/Mayer 2012b, 90). ‚Serielle‘ Figuren hingegen müssten demgegenüber (wie second level-originals) wesentlich außer- halb (bestimmter) diegetischer Kontexte untersucht werden: „Die ,wahre‘ Exis- tenz der seriellen Figur ankert schließlich nicht in der Diegese einer einzelnen Erzählung, sondern wird durch die Kumulation der Inszenierungen immer wie- der neu erzeugt“ (Denson/Mayer 2012b, 93; vgl. 2012a). All diesen Ansätzen zu- folge gehen kontextualisierte Storyworld-Figuren der Konstitution eines second level-originals, einer seriellen Figur oder auch einer Transwelten-Figur, notwen- digerweise voraus. Japanische und japanologische Beobachter_innen hingegen beschreiben den umgekehrten Vorgang. Die kontextualisierte, in einer Storyworld verortete Figur kann ein Epiphänomen sein: eine kontingente Nutzung einer bestimmten Zeichenfiguration. Für eine solche Figuration wurde von Itō Gō bereits im Jahre 2005 die Bezeichnung kyara vorgeschlagen: Dargestellte Wesen, die sich in ei- nem „Proto-Figuren-Status“ (puroto kyarakutā-tai, 前キャラクター態, Itō 2005, 150) befinden. Ein kyara existiert damit notwendig bereits vor jeder kontextuell- diegetischen Einbettung (und Verwendung), vor seiner Existenz als Figur (als kyarakutā). Er kann sich zudem auch ganz ohne ,Serialitäts-Reihen‘ und deren

NN 10 Vgl. dies zu Maria E. Reichers Unterscheidung von ‚maximalen‘ vs. ‚sub-maximalen‘ Figuren (vgl. Reicher 2010, 130). Die transtextuelle Meta-Figur erscheint Reicher als ‚sub-maximal‘, da ihr nur noch bestimmte Kerneigenschaften und -merkmale aller kontextualisierten Einzelfigu- ren zukommen. Zur Bedeutung von Kerneigenschaften bzw. Kernmerkmalen, die dafür sorgen, dass noch von ‚derselben‘ Figur die Rede sein kann, vgl. auch Eder et al. 2010a, 19.

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 121

Synthesen – im Extremfall bereits anhand einer einzigen Darstellung – konstitu- ieren. Stephan Köhn spitzt dies so zu: „Itōs Ansatz weitergedacht bedeutet, dass kyara als Sembündel einer vornarrativen Stufe der Figurenkonzeption entspre- chen, während kyarakutā das Resultat einer narrativen Einbettung der kyara dar- stellen“ (Köhn 2016a, 94). Eine genaue medienwissenschaftliche Modellierung solcher ‚pränarrativer Figuren‘ ist damit das Versprechen, das der kyara-Begriff trägt. Der vorliegende Beitrag möchte einige theoretische und methodologische Konsequenzen, die Beobachter_innen aus der neueren ‚Kyara-isierung‘ Japans gezogen haben (vgl. Aihara 2007), in die medienwissenschaftliche und figuren- theoretische Begriffsbildung überführen. Dazu werden zunächst kurze Überbli- cke über Herkunft und Fundierung des Konzepts geboten.

Die Entwicklung des kyara-Begriffs: Von der Umgangssprache zum terminus technicus

Die dem Englischen entliehene Bezeichnung ‚kyarakutā‘ fand in den 1950er Jah- ren Einzug in den japanischen Sprachgebrauch, als erste Kooperationen zwi- schen dem Disney-Konzern und örtlichen Lizenznehmern stattfanden. Da noch keine japanische Entsprechung für fiktive Protagonist_innen von Animationsse- rien und -filmen zur Verfügung stand, die unter ein Urheberrecht fallen konnten, wurde ein Terminus aus dem Englischen übertragen: fanciful characters (vgl. Aihara 2007, 14–17, 120–123; Kayama 2001, 186; Kuresawa 2010, 2–5; Odagiri 2010, 108; Steinberg 2012, 40). Zunächst ein Fachbegriff unter Jurist_innen und Marketing-Expert_innen hielt er doch schon bald Einzug in den täglichen Sprach- gebrauch. Kyarakutā hat dabei stets die Konnotation von fiktiven und ‚phantas- tischen‘ Figuren (vgl. Rikukawa/Nishioka 2006, 2), was eine Abgrenzung gegen- über (von Schauspieler_innen verkörperten) Figuren aus Realfilmen zumindest stets nahelegt.11 Ein dergestalt realisierter kyarakutā besitzt eine weitaus größere Freiheit, sich zwischen verschiedenen Mediensystemen (Manga, Anime, Maga- zine, Videospiele, Sticker usw.) zu bewegen als eine fotografisch realisierte Figur, welche auf Abbildungen (alternder) menschlicher Darsteller_innen basieren, die nicht einfach von Hand reproduziert werden können. „[T]he same character, in the same drawing style and in the same poses, now inhabited manga, and anime

NN 11 Bei Letzteren verwendet man eher die literatur- bzw. theaterwissenschaftlichen Bezeichnun- gen shujinkō, 主人公, Hauptfiguren, oder tōjō jinbutsu, 登場人物, auftretende Personen bzw. dra- matis personae.

122 @ Lukas R.A. Wilde alike – not to mention the other media forms to which the character image mi- grated“ (Steinberg 2012, 109; vgl. Wilde 2016). Obgleich es sich bei der Kurzform kyara zunächst bloß um eine Bezeichnung „aus der jüngsten Abkürzungsmode heraus“ handelt (kindai no shōryakugo ryūkō no naka de, 最近の省略語流行の中で, Aihara 2007, 121), hat sie eigene Konnota- tionen angenommen und wird selbst zur Kennzeichnung sozialer Rollen (eines „situation-based self“, Sadanobu 2015, 13; vgl. Aihara 2007, 63–89, 119–137) so- wie auch als Terminus technicus eines speziellen medialen Figurentyps einge- setzt (vgl. zur Übersicht Itō et al. 2007; Nozawa 2013; Kacsuk 2016). Wie bereits angeführt, entwickelte der Manga-Theoretiker Itō 2005 in seiner wegweisenden Monografie Tezuka isu deddo: Hirakareta manga hyōgenron he (etwa: Tezuka Is Dead: Zu einer aufgeklärten Theorie der Manga-Ausdrucksmittel, vgl. auf Englisch auch Itō 2006; Itō/Nakamura 2011) eine kategoriale Differenzierung zwischen den zwei Figurentypen kyarakutā und kyara. Itōs Differenzierung umfasst zahl- lose Aspekte, in deren Interpretation sich seine Leser_innen durchaus nicht im- mer einig sind. Sein Argument, das in einer wahren Flut von Publikationen wei- terentwickelt wurde, läuft meines Erachtens nach aber darauf hinaus, dass ein kyara als eine (selbst bereits fiktive) Schauspieler_in oder Performer_in angese- hen werden kann, die in jede beliebige (ebenfalls zu allermeist fiktive) kyarakutā- Rolle schlüpfen kann, die ihr innerhalb partizipatorischer Praxen zugeschrieben wird: Ein dekontextualisiertes, merkwürdig essenzialistisch gedachtes ‚transme- diales Substrat‘, das in Gestalt der heterogensten Instanzen und Kontexte identi- fiziert werden kann.12 So tritt Hatsune Miku in manchen Fan-produzierten Musikvideos als Prinzes- sin, in anderen als Zirkusfreak auf (vgl. Annett 2014, 169). Offizielle, d.h. für alle Inkarnationen bindende ‚fiktive Fakten‘ existieren quasi keine. Regionale Tourismus-Artikel mit Kitty können nicht nur die ‚Masken‘ typischer Ortsver-

NN 12 Takekuma Kentararō brachte im Gespräch mit Azuma, Itō und Natsume Fusanosuke den Punkt vor, dass die kyara/kyarakutā-Differenz exakt dem Unterschied zwischen einem_einer Filmdarsteller_in gegenüber der von ihm_ihr verkörperten Figur entspräche. Itō zweifelt zwar daran, dass ein_e ‚reale_r‘ Schauspieler_in (wie etwa Leonard Nimoy) sinnvoll mit einem kyara zu vergleichen sei. Azuma hingegen hält fest, dass sich dies alleine aus der kulturellen Verwen- dungslogik erschießen ließe: es könnte durchaus produktiv sein, zu überlegen, inwiefern US- Schauspieler_innen (wie etwa Harrison Ford) für viele Japaner_innen tatsächlich wie ‚imaginäre kyara‘ fungieren, wenn diese ebenso auf Produktoberflächen zirkulierten und für ihre Fans le- diglich phantasmagorische Projektionsflächen darstellen (vgl. Itō et al. 2007, 152–159). Dass kyara auch in non-fiktionale, historische Rollen schlüpfen können, hat etwa Matthew Penney anhand der Geschichts-Enzyklopädie Moe moe eiyū jiten von 2008 gezeigt, in denen Richard Lö- wenherz oder Karl der Große von kyara verkörpert werden (vgl. Penney 2013).

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 123 treter_innen und historischer Persönlichkeiten anlegen, sondern selbst in Gestalt von Mount Fuji erscheinen – was sich in keiner möglichen Welt mehr narrativ plausibilisieren ließe (vgl. Toratani 2013). Die wiedererkennbare Kitty ‚dahinter‘ muss also etwas ontologisch anderes sein als ihre jeweiligen (kontextualisierten) Instanzen. Der Begriff kyara kann es daher womöglich leisten, auch weit über den Manga-Bereich (und Itōs eigene Überlegungen) hinauszugehen und gänzlich auf das Postulat von originären narrativen Kontexten zu verzichten (vgl. Aihara 2007, 123; Köhn 2016a, 93). Ich möchte die These vertreten, dass sowohl die Frage nach dem fraglichen ‚Naturalismus‘ als auch jene nach dem ‚Innenleben‘ von kyara (z.B. ‚runde‘ vs. ‚flache‘ Figuren) eher nachgeordnet ist. Stattdessen soll im Folgenden gezeigt werden, dass bei einem kyara zum einen ein besonderes Ver- hältnis von Darstellung zu Kontext vorliegt, welches zum anderen nicht ohne ein besonderes Verhältnis von Autorschaft zu Rezeption – genauer: von imaginativer Partizipation – zu denken ist. Dieser Unterschied, so möchte ich abschließend zeigen, wird durch eine bestimmte Manga-Bildlichkeit zwar nicht determiniert, aber doch entscheidend begünstigt, die bereits in Itōs Grunddefinition des kyara genannt wird: die ikonographische Qualität einer vergleichsweise simplen Lini- enzeichnung (vgl. Itō 2005, 126). Zunächst aber wird zu zeigen sein, inwiefern der besondere Einsatz von Figuren als kyara in vielen Fällen als ein integraler Teil von japanischen Produkt- und Franchise-Strategien angesehen werden muss.

Möglichkeitsdenken und spielerische Aushandlung: Der kyara-Begriff und seine Verbindung zur possible world-theory

Ōtsuka Eijis Monogatari shōhiron (etwa: Eine Theorie des narrativen Konsums, 2001 [1989]) schien die Idee des transmedia storytelling bereits um 20 Jahre vor- wegzunehmen (vgl. Steinberg 2010; 2012, 176–183; 2014). Ein wesentlicher Unter- schied wurde bereits genannt: Ōtsuka legte hier einen wesentlich stärkeren Fo- kus auf jenen Aspekt, dass die ‚Aktualisierung‘ tatsächlicher Ereignisfolgen bestenfalls ganz der jeweiligen Rezipient_innenschaft überlassen bleiben sollte.13 Michael Ebersberger fasst diesen Unterschied so zusammen:

NN 13 Das Hauptkapitel des Werkes, das den bezeichnenden Titel „Sekai to shukō: Monogatari no fukusei to shōhi“ (etwa: „Welt und Variation: Reproduktion und Konsum von Geschichten“) trägt, ist der Analyse einer ‚viralen‘ Aufkleberkampagne der Jahre 1987–88 gewidmet. Es er-

124 @ Lukas R.A. Wilde

Ein wichtiger Faktor des World Building [bei Jenkins] ist, dass die beteiligten Werke kano- nisch, also offiziell sein müssen. Aus diesem Grund können von Fans erarbeitete Geschich- ten […], zwar transmedial sein, aber nie ein Teil der einheitlichen diegetischen Welt der Hauptnarrative. (Ebersberger 2016, 26)

Für den japanischen Kontext gilt dies nicht unbedingt. Steinberg geht soweit, zu behaupten: „The serial fragments produced by the fan become as valid or legiti- mate as the original works“ (Steinberg 2012, 179). Oder um erneut Berndt zu zitie- ren: „Magazine versuchen ohnehin schon länger, die fankulturelle Zweitverwer- tung in ihre Planung einzubeziehen. Angesichts dieses Wechselverhältnisses kann bei Manga […] nicht mehr säuberlich zwischen Verlags- und Eigenproduk- tionen unterschieden oder gar hierarchisiert werden“ (Berndt 2014, 52–53). Diese Produktstrategie, lediglich die „narrativen Rahmenbedingungen“ (mo- nogatari no wakugumi, 物語の枠組み, Doi 2009, 22) für mögliche Geschichten zur Verfügung zu stellen, deren Aktualisierung aber ganz der Rezipient_innenschaft und ihren Imaginationsspielen (gokko asobi, ごっこ遊び, vgl. Kuresawa 2010, 25–28) zu überlassen, erinnert an Rollenspiele (RPGs), welche einen weiteren wichtigen Bezugspunkt veränderter Produzent_innenrollen einnehmen sollten:

In the 1980s conceptual shift, the role of media producers became closer to this game master who provides a game world and mediates players’ interaction. […] The rising fan activities in the 1980s marked the gradual rise of consumers who create consumable stories by their own hands based on the world and the characters provided by media producers. (Saito 2014, 150)

Japanische Produzent_innen – allen voran Ōtsuka selbst – begannen bereits in den 1980er Jahren, narrative Welten wie die partizipatorischen und interaktiven Elemente von Videospielen anzusehen. Azuma ging in seinen späteren Konzep- tionen noch darüber hinaus: In Gēmu-teki riarizumu no tanjō (2007a, etwa: Die Geburt eines videospiele-artigen/ludischen Realismus) schließt er zunächst eben- falls an Ōtsukas Beobachtungen an, insbesondere an dessen Light Novel-Theorie Kyarakutaa shōsetsu no tsukurikata (2003, etwa: Die Erstellungsweise von Figuren- Romanen). Azuma verband diese mit Gedanken zur zunehmenden Bedeutung des Videospiels als neuem ästhetischen Leitmedium (vgl. hierzu umfassend Kacsuk 2016; Schäfer 2017, 198–209; Steinberg 2014). Die daraus hervorgehende Konzeption von ,intermedialem Realismus‘ ist einer möglichst getreuen Nachah- mung von Videospiele-Erfahrungen verschrieben. Solche aber zeichneten sich insbesondere durch einen ,Reset-Button‘ aus, der die immerwährende Möglich-

NN schien unter dem Titel „World and Variation“ auch in englischer Übersetzung in der Zeitschrift Mechademia (vgl. Ōtsuka 2010).

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 125 keit der unabschließbaren Modifikation böte, in der jede Festschreibung einer Er- eignisfolge ein zwangsläufig revidierbarer Vorschlag bleiben muss. Dadurch hät- ten Figuren auch medienübergreifend, so Azumas Pointe, eine zunehmend meta- narrative Qualität erhalten. Jede ,Version‘ ihrer selbst werde als immer wieder anders spiel-, erleb- und aushandelbar vorausgesetzt (vgl. Azuma 2007a, 125–131).14 Auf diesem bewusst geförderten Phänomen fußen mittlerweile auch lange strategische Überlegungen von Autor_innen: „Abstrakt gesprochen“, ar- beitet Azuma im Gespräch mit Itō und Natsume heraus, „ist eine Figur [kyara- kutā] die Existenz eines nur einmaligen Menschenlebens. Im Gegensatz dazu ha- ben wir es mit einem kyara zu tun, wenn sich eine Existenz imaginieren lässt, in der dieser viele unterschiedliche Leben führt“ (in Itō et al. 2007, 153).15 Zusam- mengefasst läge also der Kern der Unterscheidung zwischen beidem, so Azuma weiter, „in der Vorstellungskraft möglicher Welten“ (in Itō et al. 2007, 153).16 Die Bezeichnung gokko asobi, make-believe games, wird heute auch für alle Arten von Zweitproduktionen und kyara-Spielen verwendet, die nicht an ver- pflichtende Storyworlds (monogatari sekai) gebunden sind (vgl. Galbraith 2009b, 90). Während für die Analyse von Storyworlds in den letzten Jahren umfangrei- che Methodiken entwickelt worden sind, gilt dies (im ‚Westen‘) für Spielwelten, die mit und durch kyara erzeugt werden, nur sehr eingeschränkt. Dies muss aber aus Sicht der Medienwissenschaften als äußerst unbefriedigend angesehen wer- den, da es sich dabei weiterhin um autorisierte und auch intendierte Verwen- dungspraxen für kyara-Artefakte handelt, ohne die viele Bereiche der Medienkul- tur nur unzureichend erfasst werden können. Nicht nur, da bereits das Stichwort make-believe games gefallen ist, scheinen mir einige weniger beachtete Passagen aus Kendall L. Waltons rezeptionsästhetischer Darstellungstheorie Mimesis as Make-Believe ein geeignetes Fundament zu bieten, um Figurenkonzeptionen von Itō, Azuma oder Ōtsuka genauer beschreibbar und analysierbar zu machen.17

NN 14 Mit Steinberg lässt sich diese Form des ‚ludischen Realismus‘ als ein intermedialer Trans- kriptionsprozess verstehen (vgl. Steinberg 2014, 296). Forest Greenwood 2014 ordnet diesen me- dientheoretisch als eine remediation im Sinne Jay D. Bolters und Richard Grusins (2002) ein und setzt sich dafür auch ausführlich mit Jesper Juuls (2004) Konzept der game time auseinander, die von immer mehr remediiert werde. 15 Im Original: „抽象的に言えば、キャラクターとは一回しか人生がない存在のことなんで す。それに対して、もっといろんな人生があるかもしれないと想像させる存在が、キャラな んです“ (Übersetzung aus dem Japanischen LW). 16 Im Original: „つまり、キャラクターとキャラの区別の本質は、可能世界の想像力に関係 している“ (Übersetzung aus dem Japanischen LW). 17 Zugleich ließen sich damit auch Anschlussstellen zu make-believe-Konzepten innerhalb von Theorien der ‚gamification‘ herstellen (vgl. zur Übersicht die Beiträge in Turner/Harviainen 2016,

126 @ Lukas R.A. Wilde

Meta-narrative Knotenpunkte für reflexive Imaginationsspiele: Ein Vorschlag zum konzeptuellen Kern des kyara-Begriffs

Nicht umsonst eröffnet Walton seine gesamte Studie mit den Worten: „In order to understand paintings, plays, films, and novels, we must look first at dolls, hob- byhorses, toy trucks, and teddy bears“ (Walton 1993, 11). Jedes denkbare Artefakt könne so als ein „prop in a make-believe game“ (Walton 1993, 35) untersucht wer- den, also als eine Requisite in einem sozial konstituierten Imaginationsspiel. Zunächst differenziert Walton zwischen „fictionality in work worlds and fiction- ality in games of make-believe“ (Walton 1993, 204). ‚Werkwelten‘ (bei Walton ein Synonym für Storyworlds) konstituieren sich aus solchen Annahmen, die in jeder an ein Artefakt anschließenden Imagination vorhanden sein müssten (vgl. Wal- ton 1993, 58 sowie auch Thon 2016, 46–56; Wilde 2018a, Kap. 5). Interessant an Waltons Ansatz sind im Zusammenhang mit kyara insbesondere zwei Faktoren: zum einen seine (nur skizzenhaft entwickelten) Überlegungen zu reflexiven Re- quisiten, welche die Rezipient_innenschaft dazu ermuntern (sollen), sich selbst als Teil der aktualisierbaren narrativen Imagination aufzufassen. Zum anderen bietet Walton auch einen grundlegenden theoretischen Rahmen für solche Ima- ginationsspiele, in denen von keinerlei Storyworlds mehr die Rede sein kann: „Not all props have their own fictional worlds, apart from the worlds of games played with them“ (Walton 1993, 61). Wie also lässt sich ein kyara konzipieren, wenn nicht von dargestellten mög- lichen Welten her? Trotz der starken Differenz, die Walton zwischen Werkwelten und Spielwelten macht, zeigen seine eigenen Rahmenüberlegungen, dass auch Spielwelten keinesfalls rein subjektiv und analytisch unzugänglich bleiben müs- sen. Zur Initiierung einer narrativen Imagination bedarf es, in beiden Fällen, ‚Vorstellungsregeln‘ (principles of generation), die auf ‚Requisiten‘ (props)

NN insb. Deterding 2016 sowie Seaborn/Fels 2015), die durch ‚augmented reality-Figuren‘ wie in POKÉMON GO (Nintendo 2016) mit ähnlichen performativen und interaktiven ‚Figuren‘-Phänome- nen konfrontiert sind. Eine weitere interdisziplinäre Schnittstelle bestünde zu Konzepten des „fictional thinking“ (Rozik 2009, 1) innerhalb der Theaterwissenschaften. Bedauerlich ist, dass trotz der kaum mehr überschaubaren Literatur zu Maskottchenfiguren und virtuellen Idolen keine theaterwissenschaftlich-semiotischen Beschäftigungen zu tatsächlichen Aufführungslo- giken, Interpretationsprozessen und anschließenden Diskursivierungen existieren, also: zu Aushandlungen und Stabilisierungen von kulturellen Imaginationsregeln in performativen Fi- gurendarstellungen.

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 127 angewandt werden. In seinem Ausgangsbeispiel eines Kinderspiels im Wald neh- men etwa Baumstümpfe (für die Dauer des Spiels) die Rollen von Bären an, vor denen die Kinder davonlaufen, sich verstecken usw. (vgl. Walton 1993, 37–43). Mit anderen Worten: auch Spielwelten basieren auf jener Struktur, die John Se- arle als den Kern sozialer Tatsachen herausgearbeitet hat: „X zählt als Y im Kon- text K“ (Searle 2013, 38). Unter dem Terminus Y versteht Searle dabei die Über- nahme von Statusfunktionen oder Verwendungsfunktionen (vgl. Searle 2013, 52– 66). Die Beteiligten, die diese akzeptieren und dadurch zugleich konstituieren, werden dadurch zu bestimmten Verhaltensweisen berechtigt oder sogar ver- pflichtet. Die Teilnehmer_innen müssen sich dessen nicht einmal reflexiv be- wusst sein, solange sie ein entsprechendes Verhalten an den Tag legen (vgl. Searle 2013, 137–157). Den Kontext von Waltons Kinderspiel könnten wir etwa durch eine Statusfunktion gegenüber allen Baumstümpfen beschreiben, welche darin besteht, Situationen zu imaginieren, in denen anstelle dieser eben Bären existieren. Diese (‚deontische‘, d.h. verpflichtende) Regel umfasst, sich entspre- chend zu verhalten und dies auch gegenseitig erwarten zu können. Dadurch, dass eine solche Regel im Kontext des Spiels einmal als akzeptiert vorausgesetzt werden kann, erhält sie eine intersubjektive, soziale Qualität. Wichtiger noch: Die Beteiligten können sich nun sogar täuschen und ‚falsche‘ Imaginationen ent- wickeln (wenn sie etwa einen moosbewachsenen Stein irrtümlich für einen Baumstumpf und damit auch irrtümlich für einen Bären hielten).18 Viele kyara-Produkte können nun als solche props verstanden werden, für die eine besondere Reflexivität – eine reflexive Statusfunktion – ausschlagge- bend ist (Walton selbst hat eine solche nur kursorisch angedacht). Eine gewöhn- liche Spielzeugpuppe beispielsweise lässt sich nicht nur dazu einsetzen, sich (ir- gendwo) ein Baby vorzustellen, sondern sich die Puppe als Baby vorzustellen (vgl. Walton 1993, 117). Die Puppe ermöglicht narrative Imaginationen über sich selbst, oder genauer: über das lokale Material ihrer Darstellung: „If the doll is in

NN 18 Obgleich auch explizit vereinbarte Vorstellungsregeln existieren, beruhen solche doch zu- meist auf impliziten sozialen Übereinkünften, Konventionen und Traditionen, oder zumindest auf Erwartungen an solche (vgl. Walton 1993, 38–41): „[T]here are certain more or less standard patterns of implication, even when the implied games are not authorized ones“ (Walton 1993, 410). Als zwei der wichtigsten Regulationen wird häufig das minimal depature-Prinzip (bei Wal- ton: das reality principle) und das Nachsichtigkeitsprinzip (principle of charity) stark gemacht, die oftmals als Korrektive gegeneinander wirksam sein können (vgl. Thon 2016, 60). Diese bei- den Prinzipien steuern unter anderem ganz grundlegend die Darstellungskorrespondenz (re- presentational correspondence, vgl. Currie 2010, 58) zwischen Eigenschaften und Merkmalen des Darstellungsmaterials und Eigenschaften und Merkmalen des Dargestellten (vgl. dazu umfang- reich Thon 2017 sowie mit Bezug zum kyara-Komplex Wilde 2016; 2018b, Kap. 7).

128 @ Lukas R.A. Wilde

Decatur, Georgia, fictionally the baby is there. If Chris cuddles the doll, then fic- tionally Chris cuddles the baby“ (Walton 1993, 118). Dies ist nicht nur narratolo- gisch, sondern auch bildtheoretisch einigermaßen kurios: „It might be said that paintings (many of them anyway) create their own ‚fictional spaces,‘ whereas dolls operate in ‚real space,‘ in Heather’s playroom, for instance“ (Walton 1993, 62). Dadurch aber, dies ist für das Argument entscheidend, werden Rezipient_in- nen, die mit der Puppe spielen, zu reflexiven Requisiten ihrer eigenen Vorstellun- gen. Sie generieren narrative Imaginationen über sich selbst: „Children are al- most invariably characters in their games of make-believe; the imaginings they engage in are partly about themselves“ (Walton 1993, 209). Ebenso lassen sich Aufführungssituationen von kyara (sei es in kigurumi-Ganzkörperkostümen oder bei Hatsune Miku-Shows) vielleicht am treffendsten beschreiben. Als Kumamon, fiktiver Repräsentant der Präfektur Kumamoto, am 28. Oktober 2013 auf den ja- panischen Tennō (Kaiser) Akihito und die Kōgō (Kaiserin) Michiko traf (vgl. Ma- ynard 2015, 372; siehe Abb. 2), beteiligten sich diese an der Inszenierung einer Spielwelt, in welcher Kumamon tatsächlich existiert. Die Teilnehmer_innen einer solchen Aufführungssituation sind damit zugleich Autor_innen, Requisiten (Dar- stellung), und Gegenstände (Dargestelltes) ihrer narrativen Imaginationen (vgl. Walton 1993, 212).19 Doi Takayoshi sieht in Licca-chan (einem mit der Barbie-Puppe vergleich- baren Spielzeug der 1980er Jahre) genau darum eine frühe Blaupause der heutigen kyara-Industrie, weil sie ebenfalls durch einen rudimentären Erzähl- rahmen gokko asobi-Imaginationsspiele ermöglichte, ohne bestimmte davon vor- zuschreiben (vgl. Doi 2009, 22; Kuresawa 2010, 25–28). Handy-Anhänger, Figuri- nen, Tassen oder T-Shirts von kyara haben diesen Rahmen spätestens seit der Jahrtausendwende systematisch in alle Bereiche der Lebenswelt getragen. Wie

NN 19 Marie-Laure Ryans minimal-departure-Prinzip scheint dabei bemerkenswerterweise eine be- sonders große Rolle zuzufallen: „[T]he imagination will consequently conceive fictional story- worlds on the model of the real world, and it will import knowledge from the real world to fill out incomplete descriptions“ (Ryan 2014, 35). Die von den Beteiligten imaginierte und zugleich performativ aktualisierte Storyworld scheint der ‚unseren‘ ja in allen Punkten exakt zu entspre- chen – bis auf den einen Unterschied: In der aufgeführten, dargestellten und imaginierten Situ- ation sind kyara wie Kumamon eben nicht nur fiktive Maskottchen sondern ‚reale‘ Prominente. Sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht entsprechen sie den tatsächlichen Parametern ihrer Darstellung. Kumamon tanzte am 28. Oktober 2013 im Erdgeschoss des Regierungsgebäu- des der Präfektur Kumamoto für den Tennō, berichteten die japanischen Medien, vgl. etwa http://www.huffingtonpost.jp/2013/10/28/kumamon_n_4168883.html (letzter Zugriff: 7. Juni 2017).

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 129

Abb. 2: Eine Kumamon-Aufführungssituation für den (und mit dem) Tennō; http://www.huffingtonpost.jp/2013/10/28/kumamon_n_4168883.html (letzter Zugriff: 7. Juni 2017).

Theresa Schmidtke und Martin Stobbe anhand von Actionfiguren gezeigt haben, ist die „performative Aktualisierung“ (Schmidtke/Stobbe 2014, 89) ein Aspekt der narrativen Partizipation, „der in bisherigen Forschungsbeiträgen zu transmedia- len Storyworlds noch kaum beachtet worden ist“ (Schmidtke/Stobbe 2014, 89). Der Einschätzung, dass es sich dabei aber lediglich um „Satelliten“ der jeweiligen Franchises handelt (Schmidtke/Stobbe 2014, 96), sollte – mindestens im japani- schen Kontext – skeptisch begegnet werden; schon alleine, da hier vielfach oh- nehin nicht (bestimmte) Storyworlds im Vordergrund stehen. Wie Ito Mizuko in vielen Aufsätzen herausgestellt hat, ist es eben diese Instrumentalisierung von alltäglichen Spiel- und Vorstellungspraxen, in der die Besonderheit japanischer media mix-Franchises gesehen werden kann: „mobilizing the imagination in eve- ryday play“ (Ito 2008, 397). Kyara-Produkte dienen damit nicht nur dem inten- dierten Zweck, als private Imaginationsobjekte zu fungieren. Sie sind sogar „ex- plicitly designed to allow for user-level reshuffling and reenactment“ (Ito 2008, 404). Das Argument, dass solche medialen Artefakte zu einer „Entkoppelung von der Aufgabe der Repräsentation“ (Peil/Schwaab 2013, 336), oder in Azumas Terminologien, zu einem „großen Nicht-Narrativ“ (ōkina hi-monogatari, 大きな

130 @ Lukas R.A. Wilde

非物語, Azuma 2001, 54; vgl. Azuma 2009) führten,20 ist somit zwar attraktiv, wenn man sich den fraglichen Gegenständen aus der Perspektive der Narratolo- gie annähert. Doch als Requisiten der Imagination stellen kyara-Produkte sogar in besonderem Maße (meta)narrative Benutzeroberflächen dar. Von einem ‚Weg- fallen‘ der narrativierenden Rezeption kann insofern gerade nicht die Rede sein, als dass eine Erweiterung der Imagination auf den Alltag der grundlegende Zweck dieser Objekte ist. Sie erfüllen diesen durch ihre materiellen und vor allem durch ihre lokalen, deiktischen Qualitäten, die sich unmittelbar auf die situativen Kon- texte beziehen (lassen), in denen das Darstellungsmaterial zum Einsatz kommt: „As children stickered their surroundings with the image of Atomu, they incor- porated or transposed an Atomu world into their environment […]. The world of Tetsuwan Atomu was overlaid unto the environment of its child consumers“ (Steinberg 2012, 81–82). Man kann in einem Kitty-Schlafzimmer aufwachen, in einer Küche voller Kitty frühstücken, mit einem Kitty-Computer an einem Kitty- Schreibtisch arbeiten und mit einem Kitty-Motorroller an den Strand fahren (vgl. McVeigh 2000; Peil/Schwaab 2013, 345; Tracey 1999). Auf dieser Ebene ist ein kyara also lediglich eine Art Katalysator, ein „meta-narrativer Knotenpunkt“, wie sich Azuma erneut treffend ausdrückt (meta-monogatari-teki na kessetsuten, メタ物語的な結節点, Azuma 2007a, 125). Der meta-narrative kyara öffne sich, wie an Ellen Baker erfahren wurde, „wie von selbst“ (jidō-teki ni, 自動的に, Azuma 2007a, 125) der Imaginationskraft, um alle nur denkbaren Geschichten und Welten zu generieren (vgl. Saitō 2000, 204; Steinberg 2012, 190). Ich möchte daher dafür plädieren, dass es sich bei einem kyara um eine spe- zielle Rezeptionshaltung oder besser: um eine besondere Mediennutzungsweise handelt. Sie liegt dann vor, wenn für die Rezipient_innenschaft eine transfiktio- nale Figurenidentität, ein ‚meta-narrativer‘ oder partizipatorischer Knotenpunkt, zentraler ist als jede (bereits vorhandene oder gerade noch nicht vorhandene) einzelne narrative Kontextualisierung. Der intersubjektive kyara ist damit ledig- lich die Schnittmenge (der kessetsuten) aller denkbaren Spielwelten, und diese Schnittmenge besteht häufig alleine in einer visuellen Figuration, anhand derer eine Darstellung noch als der gleiche kyara identifizierbar bleibt. Hier scheint mir eine Nähe zu Jan-Noël Thons Konzept eines ‚transmedialen Figuren-Templates‘ zu bestehen (vgl. Thon 2019). Bei typischen transmedialen Figuren (wie etwa

NN 20 In diesem Zusammenhang wird häufig auf Scott Lashs und Celia Lurys thingification of me- dia hingewiesen, da die Grenzen von Alltag und ‚Repräsentation‘ dadurch gänzlich diffundiert erscheinen. Kitty ziehe eine Flut von materiellen Objekten nach sich, deren Repräsentationscha- rakter allenfalls nachgeordnet sei (vgl. Lash/Lury 2007, 8; sowie Peil/Schwaab 2013, 343; Stein- berg 2012, 132).

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 131

Batman) würde dieses Template auch zahlreiche narrative Informationen enthal- ten, die zur Identifizierung des jeweiligen Wesens (als kontextualisierte Figuren- Instanz) bestimmend sind (für Batman etwa gewiss, dass seine Eltern ermordert wurden). Bei solchen Wesen hingegen, die üblicherweise als kyara bezeichnet werden und deren dominante Darstellungsmedien non-narrativ sind (wie Kitty oder Hatsune Miku), würde das Set an Identifizierungsmerkmalen auf rein visu- elle Attribute reduziert bleiben, an welche allenfalls rudimentäre Rollen- und Verhaltensdispositionen geknüpft sein können. Zur Funktionslogik von kyara ge- hört ganz entscheidend eine spielerische Aushandlung dessen, was jeweils als Teil ihrer diffundierenden Identität angesehen werden sollte, und worüber – im Gegenteil dazu – gerade keinerlei bindende Imaginationsregeln etabliert werden dürfen. Oder erneut in Azumas Worten: „Aus diesem Grund denke ich, dass ein kyara notwendigerweise keine starke Identität besitzen darf, damit er hervorste- chen kann, seine grundlegende Identität muss vielmehr sehr gering sein, damit er eine hohe Toleranz aufweist, sich beliebigen Änderungen anzupassen“ (zitiert nach Itō et al. 2007, 155).21 Sandra Annett zeigt dies etwa anhand von Hatsune Miku:

[I]t is possible for fans to engage with the structures that kyara create and destratify them. They can find ways to experiment with kyara by producing their own programs of desiring. Kyara can become the focus of dōjinshi, songs, videos, and artworks that have very little to do with the organized uses of kyara and more to do with the desires of smaller collectives. Hatsune Miku is a key example of a kyara that encourages such collective creation. (Annett 2014, 173)

Obgleich es sich bei solchen Nutzungen um individuell erzeugte ‚Spielwelten‘ handelt, sind sie durchaus von Autor_innenseite intendiert, keineswegs kulturell unnormiert und keineswegs unanalysierbar. Im Gegenteil lässt sich anhand exemplarischer Verwendungsweisen untersuchen, wie die als zentral angesehe- nen Rollenzuweisungen für den jeweiligen kyara aktualisiert, oft aber auch iro- nisch und subversiv umgedeutet werden: „schwankend zwischen Verehrung und Aneignung, zwischen Gefolgschaft und Selbstbehauptung“ (Berndt 1995, 164).

NN 21 Im Original: „というわけで、キャラが立つために必要なものは、同一性の強さではなく 、むしろ同一性の徹底した少なさ、どの変化へも対応する許容度の高さだと思いま“ (Über- setzung aus dem Japanischen LW).

132 @ Lukas R.A. Wilde

Die Relevanz der Ästhetik des Gemachten: Ein Argument für eine semiotische Dimension des kyara-Begriffs

Für all diese Möglichkeiten der imaginativen und partizipatorischen De- und Re- kontextualisierungen von ‚Figuren‘ ist eine bestimmte semiotische Ebene – eine Ästhetik des Gemachten – von größter Bedeutung. Kyara-Darstellungen beruhen in den allermeisten Fällen „auf der Ikonographie einer vergleichsweise simplen Linienzeichnung“ (Itō 2005, 95).22 Damit muss es nicht bei bloßen kyara-Imagi- nationen bleiben, denn um diese in ganz konkrete Artefakte zu überführen, „[braucht] es im Grunde nur Stift, papierne Unterlage und einfache Vervielfälti- gungstechnik“ (Berndt 1995, 159). Für Itō hängt die Präsenz von kyara ganz grundlegend mit dieser Art der Bildlichkeit zusammen, die von klaren „Konturli- nien“ (kyōkaisen, 境界線, Itō 2005, 122) begrenzt ist, aus denen sich „ikonische Symbole, die auf einfachen Linienbildern basieren“, zusammensetzen lassen (Itō 2005, 145).23 An anderer Stelle habe ich mit Rückgriff auf Stephan Packards Kon- zept des ‚dritten Zeichenraums‘ (vgl. Packard 2006, 137; 2009; 2017a; 2017b) be- reits darauf aufmerksam gemacht, warum die ‚Cartoon-Ästhetik‘ von kyara-Dar- stellungen ein besonderes imaginäres Potenzial entfalten kann (vgl. Wilde 2016; 2019): Obgleich die ikonographischen Darstellungen eine hohe Wiederkennbar- keit aufweisen, lassen sie sich keinesfalls auf die Wahrnehmbarkeit der so darge- stellten Wesen festlegen. Sie besitzen eine viel diskutierte „Ausdruckslosigkeit“ (muhyōjō, 無表情, vgl. z.B. Aoki 2014, 26). Nicht nur das Seelenleben von ‚Figu- ren‘ wie Kitty bleibt aber eine Projektionsfläche, sondern ebenfalls die Körper- lichkeit solcher „bodies without organs“ (Annett 2014, 163; vgl. Galbraith 2009a). Die Comic- und Manga-Semiotik ist aber in einer noch grundlegenderen Hin- sicht zentral für die Konstitution eines kyara. Dadurch, dass sich derselbe kyara (zumeist nur!) durch die Aufrechterhaltung seiner visuellen Charakteristik (einer koyūsei, 固有性, Itō 2005, 147) identifizieren und reproduzieren lässt, ist er in der Lage, große Darstellungsdifferenzen auszuhalten, solange diese codierten Merk- male erkenntlich bleiben. Mit Searles Formel könnten wir sagen: ‚Jede Darstel- lung X, die eine bestimmte Ikonographie Z aufweist, gilt im Kontext der Imagi-

NN 22 Im Original: „比較的に簡単な線画を基本とした図像で描かれ[る]“ (Übersetzung aus dem Japanischen LW). 23 Im Original: „あくまでも「簡単な線画を基本とする図像」による表現なのである“ (Über- setzung aus dem Japanischen LW). Zur Bedeutung von Konturlinien im Manga (manchmal auch als rinkaku, 輪郭, oder sakaime, 境目 bezeichnet) vgl. auch Natsume 1997, 66–96; Wilde 2018c.

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 133 nation als kyara Y‘.24 Diese Codierung lässt sich erlernen, sozial schulen und re- produzieren: sie verweist auf die agency der Leser_innenschaft (vgl. Berndt 2013, 365; Cohn 2013, 153–172). Eine kyara-Ikonographie wird im Japanischen zuzō, 図像, genannt, und auf deren Attraktionsmomenten (den moe yōso, 萌え要素, Azuma 2001, 75) basiert auch für Azuma die Konstituierung eines kyara.25 Durch eine implizit erschließbare piktoriale Codierung (wörtl.: kōdo-ka, コード化, Itō 2005, 147), so Itō zusammenfassend, stelle der kyara-zuzō eine Re- lation zu dem „integrierten Subjekt eines Protagonisten“ her (tōjō jinbutsu toiu tōgō-teki shutai to musubitsuki, 登場人物という統合的主体」と結びつき, Itō 2005, 147) und bringe dieses gleichzeitig zu einer transmedialen Existenz.26 Ulrich Krafft buchstabierte dieses Set bereits 1978 wegweisend als ‚Konturen‘ und ‚Anzeichen‘ aus: „Im Vergleich von Panel zu Panel erweist sich ‚Donald‘ also als eine Einheit, die charakterisiert ist durch einen feststehenden Set [sic!] von in be- stimmter Art angeordneten Elementen und durch eine charakteristische Form“ (Krafft 1978, 30). Die nachfolgende Abbildung 3, welche an ein Modell der Manga-

NN 24 In Searles Begriffen hätten wir es gerade nicht mit einer Codierung bzw. einer „Kodifizie- rung“ (Searle 2013, 96) zu tun, da all diese Vorstellungsspiele kaum institutionalisiert sind. Es würde sich damit zwar nicht um ‚institutionelle Fakten‘ handeln, durchaus aber um gesell- schaftliche. Sie sind ontologisch subjektiv (es bedarf bestimmter Akteur_innen, die diese durch ihr Handeln erzeugen, damit sie überhaupt existieren), epistemisch aber durchaus objektiv (sie sind ohne Rückgriff auf das willkürliche Gutdünken oder das Urteil Einzelner beschreibbar), vgl. Searle 2013, 14–22 sowie umfassender Wilde 2018b, Kap. 5, Kap. 7. 25 Itōs kyara/kyarakutā-Unterscheidung wurde später auch auf literarische Medien wie die Light Novel angewandt, wo stereotype ‚narrative Datenbank-Fragmente‘ ebenfalls die Funktion der piktorialen Ikonographie übernehmen können (vgl. Itō et al. 2007, 136). Azuma gesteht zu (vgl. Azuma 2001, 65–70; 2007b, 182), dass die meisten moe-Elemente zwar „graphischer Natur“ seien (gurafikaruna mono, グラフィカルなもの, Azuma 2001, 67), andere aber durchaus auch auf Ebene der dargestellten Figur und der mit ihr imaginierbaren Situationen liegen können: „[E]s werden je nach Genre auch verschiedene andere Dinge zu moe-Elementen, wie etwa spezi- fische Redeweisen, Settings, [stereo]typische narrative Entwicklungen oder auch spezifische Kurvenführungen von Figurinen“ („ほかにも、特性の口癖、設定、物語の類型的な展開、あ るいはフィギュアの特定の曲線など、ジャンルに応じてさまざまなものが萌え要素になって いる“, Azuma 2001, 67; Übersetzung aus dem Japanischen LW). An anderer Stelle räumt Azuma ein, dass es vermutlich besser wäre, „Persönlichkeits-Stereotype“ (seikaku-ruikei, 性格類型) und „stereotypische Design-Elemente“ (dezain no yōso no ruikei, デザインの要素の類型) deutlicher voneinander zu unterscheiden (in Itō et al. 2007, 157). Zum Komplex moe vgl. umfassender Galbraith 2009a; 2014. 26 Bertetti belegt ganz vergleichbare Prozesse an Goofy, „whose variations involve not only his thematic identity […] but also his figurative identity, which preserves only some essential prop- erties (in particular, his physical appearance), accompanied by changes in several other traits“ (Bertetti 2014b, 2355).

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Rezeption von Itō angelehnt ist, zeigt, wie auf der horizontalen Achse eine kon- textualisierte Figur, ein kyarakutā, entsteht, indem die Rezipient_innenschaft eine Synthese der verschiedenen Einzelbilder auf eine Storyworld hin vollzieht (vgl. zur Übersicht hierzu Horstkotte 2013; Wildfeuer/Bateman 2014).

Abb. 3: Die kyarakutā/kyara-Konstitution; angelehnt an Itō 2005, 149, hier von Kilian Wilde.

Zugleich aber kann auf der vertikalen Achse ein kyara entstehen, wenn die Ima- gination der Rezipient_innenschaft dazu angeregt wird, eine Existenz ‚außerhalb des Textes‘ zu imaginieren, durch die der kyara in völlig unvereinbaren Kontex- ten auftaucht, solange er nur als der gleiche kyara – nicht aber als die selbe Figur (kyarakutā) – erkennbar bleibt.

For we are not talking about the absolute condition of sameness and difference but the suf- ficient condition of character malleability across different contexts. People must be suffi- ciently convinced in the semiotic event of character-encounter: “Ok, the way this character behaves and looks in this context, I’m ok with that”. (Nozawa 2013, o.S.)

Insbesondere ermöglicht es die besondere zuzō-Bildlichkeit, dass die imaginative Rezeption einfach in die konkrete Produktion von Artefakten, von Sekundärwer- ken, übergehen kann. So merkt Itō in einer Schlüsselstelle an:

Meta-narrative Knotenpunkte der Medienkonvergenz @ 135

Was also Aussagen über die ‚Stärke‘ [… eines kyara] anbelangt, dürfen wir uns diese nicht alleine als eine Autonomie gegenüber einem Text denken, sondern als die Stärke einer Identitätspräsenz [dōitsusei sonzaikan], eine Vielzahl von Texten zu durchqueren und den Unterschieden im individuellen Zeichenstil der jeweiligen niji sōsaku-Schöpfer_innen, den Kode-Unterschieden, gewachsen zu bleiben. Gerade diese Transferierbarkeit [ōdansei] ist ein ganz entscheidender Punkt. (Itō 2005, 139)27

Ermöglicht wird diese ‚Transferierbarkeit‘ und ‚Identitätspräsenz‘ somit durch die besondere Bildlichkeit des ikonographischen Linienbilds, das (anders als fo- tografische, malerische oder computergerenderte Bildlichkeit) tatsächlich auch physisch leicht reproduziert – und vermittels aller nur denkbaren Materialitäten imitiert – werden kann (vgl. Wilde 2016). Dies reicht bis zu kyara-Kochrezepten, durch die kyara bentō (kyaraben, キャラ弁), Speisen im spezifischen ‚kyara- Look‘, hergestellt und als solche wiedererkannt werden können. Auf Tausenden von Internetseiten und YouTube-Channels lassen sich entsprechende Rezepte finden (vgl. Occhi 2018, siehe Abb. 4). Auch hier ‚gilt‘ jeder zuzō X immer noch als kyara Y.

Abb. 4: Einer von unzähligen Blogs, der dem Herstellen von kyaraben, Speisen im ‚Figuren- Look‘ gewidmet ist (hier von Kumamon, dem Maskottchen der Präfektur Kumamoto): http://harry63.exblog.jp/20594052 (letzter Zugriff: 7. Juni 2017).

NN 27 Im Original: „つまり、『NANA』に対して「キャラが弱いといった少女のいう「キャラの 強度」とは、テクストからの自律性の強さというだけではなく、複数のテクストを横断し、 個別の二次創作作家に固有の描線の差異、コードの差異に耐えうる「同一性存在感」の強さ であると考えることができる。この「横断性」こそが、重要な点なのである“ (Übersetzung aus dem Japanischen LW).

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Viele Maskottchen-Figuren gehen sogar unmittelbar aus kommunalen oder lan- desweiten Wettbewerben heraus, an denen sich tausende von Kindern und Ju- gendlichen beteiligen. Die „collaborative networks“ (Condry 2013, 35) treten so- mit oftmals nicht erst nachgelagert auf, sondern bestimmen sogar initiale Schöpfungs- und ,Taufakte‘ vieler kyara. Im Cosplay kann schließlich sogar der eigene Körper zum lokalen Darstellungsmaterial für kyara werden. Nicolle Lamerichs merkt etwa an: „[P]erhaps the most important body of the cosplayer is a character body – a referential body that is closely related to the source text where its design, meaning and narrativity are based“ (Lamerichs 2014, 121). Wie zentral dieser Aspekt ist, wurde für Hatsune Miku immer wieder heraus- gearbeitet: „For many creator-fans, it is this ,becoming‘ that is a central appeal of Miku: she is a means of self-expression, access to a network of peers, and ability to become a in a novel type of media collective“ (Leavitt et al. 2016, 207). Der Philosoph Okamoto Yūichirō weitete diesen Ansatz (in einer auf Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari gegründeten Analyse einer fortschrei- tenden ‚Dislozierung des Subjekts‘) weiter aus und erinnerte an die Zusatzbedeu- tung des kyara-Begriffs als kontextualisierte soziale Rolle, als „situation-based self“ (Sadanobu 2015, 13). Okamoto führt aus: „Kurz gesagt, als ‚Figur‘ [kyara- kutā] bezeichnet man zwar eigentlich die Rollen der dramatis personae von Ro- manen, Bühnenstücken, Mangas usw., aber wenn man in zwischenmenschli- chen Beziehungen in gleicher Weise ‚Rollen‘ als Fiktion spielt, dann wird dies als ‚kyara‘ bezeichnet“ (Okamoto 2009, 56–57).28 Anhand der affektiven Elemente der jeweiligen Ikonographie werden demnach bestimmte Eigenschaften oder Merkmale exemplifiziert, die als Verhaltensdispositionen für soziale Rolle (seikaku, 性格, also ganz wörtlich: ihren ‚Charakter‘) interpretiert, aufgegriffen und ‚nachgespielt‘, vom jeweiligen Individuum dargestellt werden können: „Character is a sign that a part of self can ‚become‘“ (Maynard 2015, 381; vgl. Saitō 2011, 231).29

NN 28 Im Original: „つまり、「小説や演劇やマンガなどの登場人物やその役柄」を「キャラク ター」と呼ぶのですが、それと同じように人間関係のなかで「役柄」をフィクションとして 演じるとき、「キャラ」が語られます“ (Übersetzung aus dem Japanischen LW); vgl. Aihara 2007, 124; Kuresawa 2010, 26; Maynard 2015, 381; Saitō 2011, 230. 29 Auf den hier nur angedeuteten etymologischen Zusammenhang zwischen character [Figur] und Charakter (über das griechische charaktér, χαρακτήρ, eine Art Prägestempel) berufen sich auch japanische Beobachter, vgl. etwa Kuresawa 2010, 2; Odagiri 2010, 109.

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Fazit: Die medienwissenschaftlichen Potenziale des kyara-Begriffs

Auch wenn die Bezeichnung kyara ein recht idiosynkratischer japanischer Aus- druck ist (und, wie ich hier zumindest andeuten konnte, alles andere als kohä- rent verwendet wird), halte ich es für wichtig zu betonen, dass die damit ge- troffene begriffliche Unterscheidung keineswegs auf gegenwärtige japanische Kontexte beschränkt bleiben muss. Natürlich ist es richtig, dass es in Europa oder den USA „bisher kein dem dōjinshi entsprechendes Medium [gibt] und die Gege- benheiten für die Tolerierung eines entsprechenden Marktes […] nicht vorhanden zu sein“ scheinen (Thiel 2016, 145).30 Auch viele Comic- und Animationsfilm-Pro- tagonist_innen können und müssen aber, wie eingangs bereits mit Jenkins (2009) bemerkt wurde, ganz generell unter einer Transwelten-Identität betrachtet wer- den, da sie wie fiktive Performer_innen in verschiedene, narrativ kontextuali- sierte (aber einander gänzlich widersprechende) kyarakutā-Rollen schlüpfen können. Micky Maus etwa tritt in FANTASIA (1940) ebenso leicht als Zauberlehrling auf wie in anderen Cartoons als Soldat im 2. Weltkrieg. In Disneyland-Themen- parks wird Micky von Vorneherein wie ein fiktiver Schauspieler, wie ein mediati- sierter Performer aufgeführt, ohne dass damit eine bestimmte Storyworld-Rolle (ein bestimmter kyarakutā) im Vordergrund stünde. Für Manga-, Comic- und Ani- mationsfiguren aller Kulturkreise – handgezeichnete Figuren in ikonographi- scher Linien-Ästhetik – ist es demnach generell nicht unüblich „to ,live a reality outside the text‘“ (Freitas Cardoso/dos Santos 2015, 550; vgl. Gordon 2016). Chris- tina Meyer (2016) wies etwa eindrucksvoll nach, dass bereits die erste US-ameri- kanische Comicfigur, Richard F. Outcaults Yellow Kid, nicht nur insofern eine se- rielle Figur war, als dass sie in zyklischer Wiederkehr über Zeitungsdruck- erzeugnisse zirkulierte. Auch Yellow Kid erfuhr unmittelbar ein partizipatori- sches Eigenleben in Theater-Shows, Pop-Songs und Vaudeville-Aufführungen, ebenso wie in wahren Merchandising-Produktkriegen (vgl. auch Freeman 2014a). Dass Comicfiguren durch die Prägnanz ihrer Ikonographien (ihrer zuzō) ein solches Eigenleben außerhalb narrativer Serien und der davon repräsentierten Storyworlds entfalten, dürfte seither durchgängig eher Regel als Ausnahme

NN 30 Dies gilt selbst innerhalb der enorm produktiven deutschen ‚Germanga-Szene‘, obgleich hier sonst ein Imitieren als japanisch empfundener Stilmerkmale als verpflichtend gilt (vgl. etwa Ma- lone 2010). Gerade dieser Aspekt der Popularität von Comic- bzw. Manga-Figuren (und ihrer Me- dialität) bleibt aus heimischen Produktionen zumeist eher ausgeschlossen (vgl. dazu Decomain 2014, 100).

138 @ Lukas R.A. Wilde darstellen: „Animated characters do not simply ,move‘ on a screen; they must be able to move out of the frame, and enter into other media forms and other narra- tive contexts. […] Characters’ life is maintained through processes of ,decontex- tualization‘ and ,recontextualization‘“ (Nozawa 2013, o.S.). Im US-amerikani- schen Kontext spielte auch die Möglichkeit der Aneignung und Rekontextua- lisierung von Disney-Figuren eine wichtige Rolle, für die - Szenen der 1960er und 1970er Jahre (wo ‚Figuren‘ wie Micky und Donald in sexu- ell expliziten tijuana bibles zum Einsatz kamen, vgl. Adelman 1997; Levin 2003), ebenso wie für Street Art-Künstler von Banksy bis zu CEET (vgl. Schnurrer 2018). Oder um in den frankobelgischen Raum zu springen: in seiner faszinierenden In- terpretation des Œuvres von Hergé (Tim und Struppi) formuliert Tom McCarthy eine ganz zentrale Erkenntnis seiner Lektüre im abschließenden Kapitel Pirates! wie folgt: „Hergé’s work has been ‚détourned‘ so many times that a thorough sur- vey of this would take up a whole book itself. Generally speaking, though, détour- nements of Tintin break down into three categories: pornographic ones […], polit- ical ones […], and ‚art‘ ones“ (McCarthy 2006, 186). Dies sind ganz unterschiedliche kulturelle Register und Kontexte, gewiss – womöglich sind sie aber thematisierbar als unterschiedliche Formatierungen desselben semioti- schen Potenzials. Auf dessen Irritation von Identität hat nicht zuletzt Ole Frahm immer wieder treffend hingewiesen (vgl. Frahm 2010, 61–113). Im gleichen Maße aber, wie die Identität eines kyarakutā diffundiert, scheint seine Identität als kyara an Präsenz gewinnen zu können: als Transwelten-Wesen ‚hinter‘ seinen jeweiligen Instanzen, als merkwürdige Essenzialisierung des Templates bzw. des Knotenpunkts. Auch wenn eine genauere Ausarbeitung der Zusammenhänge von prä-narrativen, kontextualisierten und meta-narrativen ‚Figuren‘ (sowie zwi- schen Instanz, Prototyp und Regel) noch aussteht: Itō, Azuma und Ōtsuka stellen mit der kyara/kyarakutā-Differenz – und der damit einhergehenden Fokussie- rung auf die meta-narrativen und partizipatorischen Potenziale der gezeichneten Figur – ein erstes Werkzeug für eine Fülle an medienwissenschaftlich kaum be- achteten Phänomenen rund um Rainer Leschkes ‚Geld der Medien‘ zur Verfü- gung. „The character-centric perspective helps us better understand the logics of contemporary media ecology on which, I argue, the life of characters depends“ (Nozawa 2013, o.S.), ließe sich mit Nozawa schließen. Mit dem Begriff des kyara können narratologische Figurenkonzepte so komplementär ergänzt werden, um sich einer transmedialen kulturwissenschaftlichen Figurentheorie weiter anzu- nähern, die nicht auf narrative Medien eingeschränkt bleiben muss.

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Christina Meyer „Noch besser, bunter und mehr davon“

Comicproduktion und Comicästhetik im 19. Jahrhundert

Abstract: Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Gemachtheit populärer Comics, die in den Sonntagsbeilagen amerikanischer Zeitungen im späten 19. Jahrhundert entstanden sind, aufzufächern, und zwar mit Blick auf Produktions- und Rezeptionsprozesse. Anhand der beiden erfolgreichsten Zeitungscomicse- rien aus den Jahren 1895 bis 1897 – Hogan’s Alley und McFadden’s Row of Flats – werden zentrale Aspekte der Comicproduktion nachgezeichnet, wie z.B. die Ar- beitsbedingungen der Künstler, der den Zeichnern für die Comicgestaltung be- reitgestellte Raum einer Zeitungsseite, oder andere an der Produktion beteiligte Personen, und ästhetische Mechanismen, mit denen die Serien arbeiten, unter- sucht. Es wird argumentiert, dass Hogan’s Alley und McFadden’s Row of Flats eine Ästhetik des Seriellen entfalten, die drei miteinander verbundene Darstel- lungsoperationen beschreibt: das Gestaltungsprinzip der variierenden Wieder- holung, expansive Präsentationsverfahren der Dopplung und Verzweigung, und die Rekursivität, d.h. die wiederholte Offenlegung der eigenen ästhetischen Ope- rationen und medialen Bedingtheit in den wöchentlichen Comicseiten. Die durch diese ästhetischen Verfahren ermöglichten Konsumtionspraktiken möchte dieser Beitrag exemplarisch durchleuchten.

Einleitung

Populäre Zeitungscomicserien, die in der amerikanischen Massenpresse in den 1890er Jahren entstanden sind, unterlagen Wettbewerbsbedingungen zum einen als ein Angebot der Zeitungen und zum anderen als ein Angebot im Netzwerk anderer Medienoptionen und zeitgenössischer kultureller (Freizeit-)Angebote (wie z.B. Film, Vaudeville-Shows oder Freizeitparks wie Coney Island in New

 PD Dr. Christina Meyer, Universität Hamburg, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Überseering 35, 22297 Hamburg, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Christina Meyer, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-007

152 9 Christina Meyer

York).1 Die Wettbewerbssituation setzte die Zeitungscomics, wie Frank Kelleter und Daniel Stein zusammenfassen, „unter erhöhten Distinktions- und Innovati- onsdruck“ (2009, 98). Die Comicserien, die in den Sonntagsbeilagen erschienen sind, konkurrierten nicht nur mit anderen Beiträgen in den Zeitungen und mit anderen Kulturangeboten, sondern auch mit sich selbst (in diesem Zusammen- hang siehe auch Jahn-Sudmann/Kelleter 2012, 215). Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag am Beispiel der beiden populären und konkur- rierenden Zeitungscomicserien Hogan’s Alley und McFadden’s Row of Flats, die den Leser_innen von Joseph Pulitzers World und William Randolph Hearsts Sonntagausgabe des New York Journal von 1895 bis 1897 präsentiert wurden, die Produktionsprozesse der Serien und ihre ästhetischen Gestaltungsprinzipien dis- kutieren.2 Ziel der Untersuchung ist es, die Gemachtheit der populären Comics im 19. Jahrhundert aufzufächern. Nach einigen allgemeinen Beobachtungen zu den Fertigungsweisen der farbigen Zeitungscomics ab 1892 werden anhand von Bei- spielseiten aus den Comicserien Hogan’s Alley und McFadden’s Row of Flats die ästhetischen Mechanismen und die durch sie generierten Konsumtionsoptionen erklärt.3 Es wird argumentiert, dass die Zeitungscomics eine Ästhetik des Seriel- len entfalten, die hier verstanden wird als drei miteinander verknüpfte Darstel- lungsoperationen: 1) das Gestaltungsprinzip der variierenden Wiederholung; 2) die expansiven Verfahren der Dopplung, Mutation, Ausweitung und Verzwei- gung – damit sind z.B. Comicfiguren gemeint, die aus den jeweiligen Ursprungs- serien hinaustreten und in andere Serien proliferieren und/oder als Zentralfigu- ren in einer neuen Serie etabliert werden; 3) die Markierung der eigenen ästhetischen Präsentationsverfahren sowie medialen Beschaffenheit als Mittel der Selbstbeschreibung der eigenen Fortsetzbarkeit (vgl. Kelleter 2012, 14; siehe auch Jahn-Sudmann/Kelleter 2012, 207).

KK 1 Die Massenpresse ist eine Presse, die nicht nur schneller, billiger und massenhaft produziert und verteilt wurde, sondern auch ein größeres (heterogenes) Lesepublikum erreichte. Zu den Änderungen im Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt im 19. Jahrhundert siehe Gossel 2010; Lehuu 2000; Spencer 2007. 2 Es ist einigen wenigen Sammler_innen und Comicliebhaber_innen zu verdanken, dass diese kulturellen Artefakte des ausgehenden 19. Jahrhunderts überlebt haben, denn die Lebensdauer der Comicseiten war relativ kurz. Sie wurden nach dem Lesen zum Beispiel zweckentfremdet und zum Einwickeln von Lebensmitteln genutzt (vgl. Allen 1993, 108; Baker/Brentano 2005). 3 Ein Teil der Hogan’s Alley- und der McFadden’s Row-Serien, die hier besprochen werden, ist online über die Bibliothek der Ohio State University zugänglich: http://cartoons.osu.edu/ digital_albums/yellowkid/1895/1895.htm (letzter Zugriff: 29. Mai 2017).

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 153

Rahmenbedingungen

Die Geschichte der amerikanischen Zeitungscomics, die in den farbigen Sonn- tagsbeilagen der Massenpresse gedruckt wurden, beginnt in der Progressive Era, einer Phase, die als Höhepunkt der Industrialisierung und als Umbruchphase be- zeichnet werden kann (vgl. Brands 2002). Ferner waren die letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine, wie Joseph Campbell schreibt, „fiercely competitive, and intolerant time“ (Campbell 2001, 8). Die zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften konkurrierten nicht nur miteinander, sondern auch mit Produkten, Artefakten und Praxen aus anderen Kulturfeldern – in erster Linie mit Angeboten aus der Unterhaltungsindustrie und mit Freizeitaktivitäten „from nickelodeons to vaude- ville shows to professional sporting events“ (Juergens 1966, 48) wie Pulitzers Biograf George Juergens bemerkt. Die Zeitungen mussten also etwas Neues/ Anderes anbieten, wenn sie Gewinn machen und konkurrenzfähig bleiben woll- ten. Ein, wenn nicht der, entscheidende Erfolgsfaktor der New York World von Joseph Pulitzer war die 1893 eingeführte farbige Wochenendbeilage.4 Mit dem Ge- danken, neue Leser_innen an die Zeitung zu binden und die Auflagenhöhe zu steigern, entwarf Morrill Goddard, damaliger Chefredakteur für die Sonntags- ausgabe von Pulitzers World, die Idee, wöchentlich eine kolorierte Beilage zu publizieren.5 Am 21. Mai 1893 wurde das erste – vierseitige – Colored Supplement auf den Markt gebracht.6 Es zeigte eine Illustration (in Farbe) über das New Yor- ker Stadtleben auf der Titelseite und bestand aus Cartoons mit zwei oder mehr Panels, aus kurzen Geschichten, Gedichten und Sprichwörtern, und aus

KK 4 Zeitungsverleger haben schon früher Extrabeilagen herausgegeben, doch in Farbe und regel- mäßig jedes Wochenende erschienen die Beiblätter erst in den 1890er Jahren. Bereits ab 1892, ein Jahr vor Eröffnung der Weltausstellung in Chicago, druckte die Chicagoer Zeitung Inter Ocean ein farbiges Illustrated Supplement (vgl. hierzu West 2012). 5 Joseph Pulitzer kann als Wegbereiter moderner Massenkommunikation bezeichnet werden; er hat das amerikanische Zeitungwesen bedeutend verändert. In Biografien über Joseph Pulitzer wird immer wieder betont, dass die World innerhalb kürzester Zeit zu einem gewaltigen Erfolg wurde (vgl. Brian 2001; Juergens 1966; siehe auch Gossel 2010). 1893 erreichte die Zeitung eine Auflage von 600.000 und ließ damit die bis dahin dominierenden billigen Tageszeitungen wie New York Herald, die Sun und die Tribune weit hinter sich. Der Zeitungsbaron William Randolph Hearst kam 1895 nach New York und übernahm die Zeitung von Pulitzers Bruder Albert. Kurz nach der Übernahme begann Hearst, Ideen der World zu kopieren; u.a. führte er farbige Beilagen für die Sonntagsausgabe des Journal ein. 6 Die erste Ausgabe ist vollständig erhalten und liegt im Archiv der Billy Ireland Cartoon Library and Museum in Columbus, Ohio. Einen Überblick über die Sammlung der Zeitungscomics aus den Jahren 1893–1900 findet sich online unter: http://ead.ohiolink.edu/xtf-ead/view?docId= ead/xOhCoUCR0001.xml (letzter Zugriff: 26. Mai 2017).

154 9 Christina Meyer reißerischen Skandalberichten. Drei Jahre später hatte Pulitzers Sonntagsaus- gabe der World drei Extrabeilagen: das Sunday Magazine, die Woman’s World und das Comic Weekly. Das Comicsupplement diente als Umschlag, in den die ande- ren Sektionen der Zeitungen eingefügt wurden. So war das erste, auf das die Le- ser_innen am Sonntagmorgen stießen, die bunt bebilderten Comicseiten.7 In Tom De Havens fiktionalem Bericht über die Zeitungslandschaft des späten 19. Jahr- hunderts – Funny Papers (1985) –, fasst die Erzählerfigur die (Aus-)Wirkungen der Sonntagscomicbeilage zusammen. The Comic Weekly, erklärt der Erzähler,

was the paper’s latest kicker, an eight-page Sunday wrapper full of text jokes, punks, and limericks swiped from local music halls, plus large crowded line drawings that burlesqued city life in wishy-washy pastels. The funny papers. Something new, something different and easy to swallow, like minute tapioca and the Hershey bar. (De Haven 1985, 23)

Pulitzers Comic Weekly war riesig (ca. 46x55cm) –, und es war grell und farben- froh und günstig (die Sonntagsausgaben waren für 5¢ erhältlich). Die Frontseiten zeigten meist ein satirisches Comictableau mit tagespolitischer Relevanz.8 For- malästhetisch bot die Comicbeilage in Pulitzers Zeitung aber nicht nur ganz- oder halbseitige Comictableaus an, sondern darüber hinaus Einzelcartoons (in Farbe oder monochrom) sowie ein- oder mehrzeilige Comicsequenzen in gerahmten oder nicht gerahmten Panels (die vertikal, horizontal oder diagonal arrangiert bzw. kreisförmig, L-förmig oder puzzle-artig ineinander verschränkt waren); fer- ner enthielt es Songs, kurze illustrierte Gags (manchmal in Versform) und so ge- nannte Children’s Corner-Spalten. Es gab Comics mit Tieren, Kindern, Flugma- schinen und anderen Fortbewegungsmitteln, abstrakten Gegenständen und fan- tastischen Wesen, u.v.m. Das Ziel war, etwas für jeden Geschmack anzubieten. Die Comics – zumindest die großformatigen farbigen Tableaus – wurden zu- nächst auf Papier oder auf glattem Karton gezeichnet, und gingen dann, nach- dem sie graviert wurden, für die massenmediale Vervielfältigung in den Druck- raum zu den Farbpressen. Diese pre-prints (von denen nicht viele erhalten sind)

KK 7 Schon in den 1870er Jahren experimentierten die Zeitungen mit Farbtafeln und boten zu den Feiertagen spezielle „colored wrappers“ (Anon. 1876, 10) an. Diese Beilagen zeigten Nachdrucke von Bildern, deren Qualität ich aber leider nicht beurteilen kann, da mir während meiner Re- cherchen nur schwarz-weiß Kopien vorlagen. 8 Ich benutze den Begriff Tableau immer dann, wenn ich auf eine Komposition einer ganzen oder halben Zeitungscomicseite hinweisen möchte, die ohne offensichtliche Panelrahmungen und gezielte Sequenzleser_innenführung operiert; die Comictableaus der Hogan’s Alley- und McFadden’s Row-Serien, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, zeichnen sich durch ein „überquellendes Simultangeschehen“ (Kelleter/Stein 2009, 95) aus, wie Frank Kelleter und Da- niel Stein es nennen (zur Zerstreuungsästhetik der Serien vgl. auch Balzer 2010b, bes. 28–31).

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 155 zeigten häufig Instruktionen für die Verantwortlichen im Druckraum, damit diese wussten, was in welcher Farbe erscheinen und wo Platz für Änderungen oder Hinzufügungen gelassen werden sollte. Ein pre-print einer Comicseite aus der McFadden’s Row-Serie zeigt zum Beispiel sowohl den Hinweis „Please rub out the lead pencil lines“ als auch die Ankündigung „AN INITIAL LETTER WILL GO IN HERE IT WILL BE DONE MONDAY MORN“ (Outcault, 1896d, o.S.) – mit dem „letter“ sind die die Illustration begleitenden Narrativkolumnen gemeint, die im Comicendprodukt, das am Sonntag in der Zeitung gezeigt wurde, in Form von Tagebucheinträgen verfasst sind.9 Abgesehen davon, dass solche pre-prints im direkten Vergleich mit der in einer Sonntagsbeilage gedruckten Endversion einer Comicseite die vorgenommenen (kompositorischen oder inhaltlichen) Änderun- gen erkennbar machen, zeigen sie das Prozesshafte der Comicproduktion und verdeutlichen, dass die farbigen Comicseiten nicht allein das Produkt eines ein- zelnen Zeichners waren. Mit dem Erscheinen von Comics in den farbigen Beila- gen der Stadtzeitungen (Einzelcomics und Comicserien) entwickelten sie sich zu einem kommerziellen Massenmedium, das kapitalistischen Wettbewerbsbedin- gungen unterlag. Comicproduktion war Ende des 19. Jahrhunderts ein hartes Ge- schäft. Die Zeichner mussten schnell arbeiten und immer wieder neue Ideen aufs Papier bringen, bevor die Maschinen die Arbeit der Vervielfältigung übernah- men. In seinem Werk In the Shadow of No Towers (2004) hat sich der Comickünst- ler Art Spiegelman mit der Frage beschäftigt wie die Zeichner der Jahrhundert- wende unter dem enormen Zeit- und Innovationsdruck, dem sie ausgesetzt waren, arbeiten konnten. In selbstironischer Weise schreibt Spiegelman: „How did the newspaper of the early twentieth century manage it [sprich, jede Woche und später jeden Tag, eine neue Comicfolge zu produzieren]? Was there amphetamine in Hearst’s water coolers“? (Spiegelman 2004, o.S.; zur Form- kondensierung des Erzählformats zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe Brin- ker/Meyer 2017). 1902 reflektierte der Journalist George Clark über die Arbeitsbe- dingungen von Zeitungszeichnern:

Hasty and necessarily coarse engraving, stereotyping on the eightminute-per-plate order, cylinder presses run at high speed, poor paper, and cheap, gray ink are the bugbears of the newspaper artist’s existence. These are the factors over which he has no control. They are determined by the very nature of the newspaper business, and the artist is forced to bow to the inevitable and adapt himself to the conditions imposed upon him. (Clark 1902, 70)

KK 9 Die Kapitalisierungen sind aus der schwarz-weiß Vorzeichnung für eine McFadden’s Row- Episode übernommen. Eine digitalisierte Version des pre-prints findet sich online unter: http://www.loc.gov/pictures/item/2003674039/ (letzter Zugriff: 28. Mai 2017).

156 9 Christina Meyer

In ähnlicher Weise argumentierte der Journalist und Kritiker Ralph Bergengren, indem er schrieb, dass die Comics in der Massenpresse nicht nur „hastily pro- duced“, sondern auch von den Redakteuren „hastily accepted“ wurden (Bergen- gren 1906, 270). Anders formuliert: „quickness predominates“ (Bergengren 1906, 270). Bergengren und Clark setzten sich kritisch mit den Arbeitsbedingungen von Zeitschriften- und Zeitungsillustrator_innen der Presse am Ende des 19. Jahrhun- derts auseinander. Sie waren besorgt und warnten vor den Konsequenzen, die die Produktionsbedingungen auf das Leben der Künstler_innen haben könnten. Deadlines regulierten die Arbeitszeiten und -weisen. Jede Woche mussten zu- nächst vier-, später achtseitige Sonntagscomicbeilagen gefüllt werden (ganz zu schweigen von den anderen Seiten in den Zeitungen). Künstlern wie Charles Saal- burg, Edward T. , John B. Lowitz, Richard F. Outcault, George B. Luks und Edward Kemble (und anderen), die alle ab 1895/96 Comicserien etablierten (und die über mehrere Monate oder Jahre liefen), standen halbe oder ganze Zeitungs- seiten zur Verfügung, die jede Woche mit neuen Aspekten zu ihren Serien gefüllt wurden, ohne dabei den Wiedererkennungswert zu verlieren. Ab Mittwoch, spä- testens Donnerstag warb Pulitzer, und später auch Hearst, mit den Wochenaus- gaben der Zeitung für die Inhalte der nächsten Sonntagscomicbeilage (die Wer- beanzeigen waren selbst meist eine halbe Seite groß und wurden von Künstlern wie Saalburg oder Luks gezeichnet; vgl. Meyer 2019). Ganzseitige Panelcomics oder Comictableaus zu zeichnen, war eine kreative, aber auch anstrengende Arbeit; die fertigen Seiten zu reproduzieren und dann zu verbreiten war hingegen eine schnelle und relativ kostengünstige Angelegenheit, dank der neuen Vielfachfarbpressen und der Syndizierung. Einmal produziert konnten die Comicseiten dupliziert und in der Stadt und über die Stadtgrenzen hinaus verkauft werden, und zwar in exakt derselben Form. In seinem Essay für den Atlantic Monthly schrieb Ralph Bergengren, dass die Comicbeilagen der Mas- senzeitungen „a total circulation of several million readers“ erreichten (Bergen- gren 1906, 271). Populäre Comicseiten wurden syndiziert und in anderen Zeitun- gen abgedruckt; war Rudolph Dirks’ 1897 ins Leben gerufene Katzenjammer Kids- Serie die erste, die auch nach Kanada syndiziert wurde, so gab es bereits 1896 überregional verbreitete Comicserien.10 Die erste Episode der McFadden’s Row of Flat-Serie, die am 18. Oktober 1896 in der Sonntagscomicbeilage American Humo- rist in Hearsts Zeitung erschienen ist, wurde wenige Tage später in leicht abgeän- derter Form in der Denver Evening Post gezeigt. Die Serie (ebenso wie Hogan’s

KK 10 Vgl. Gabriele und Moore (2009), die über die Syndizierung von amerikanischen Comics nach Kanada schreiben. Zu den amerikanischen Zeitungssyndikaten des 19. Jahrhunderts als Distri- butionsweg und Zirkulationsmittel siehe Johanningsmeier 1997.

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 157

Alley) war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und bei den Zeitungsleser_in- nen äußerst beliebt (vgl. Meyer 2019). Mit den Zeitungscomics in den Sonntagsblättern haben die zwei prominen- testen New Yorker Zeitungsverleger der Zeit, Joseph Pulitzer und William Ran- dolph Hearst, eine neue Form der Unterhaltung geschaffen und damit Zugangs- bedingungen, die eine breite Käufer_innenschicht anlockten (vgl. Kelleter/Stein 2009); das Leser_innenreservoir dieser Populärprodukte setzte sich aus einem diffusen Adressatentum zusammen: aus Leser_innen der Mittelschicht, aber vor allem aus Leser_innen der Arbeiterklasse, die die billigen Zeitungen auf der Straße kauften. Leser_innenbriefe der Zeit, Tagebucheinträge und (Auto-)Biogra- fien belegen darüber hinaus, dass die Sonntagszeitungen mit Nachbar_innen und Freund_innen geteilt wurden und dass die Zeitungscomics jung bis alt an- sprachen (vgl. Meyer 2019).11 Für Nichtmuttersprachler_innen waren die Seiten schon aufgrund des visuellen Spektakels ein rhythmisch wiederkehrendes Lese- vergnügen. Abgesehen davon, dass die sonntäglichen Comics groß und bunt wa- ren und sie zu einem sehr günstigen Preis verkauft wurden, generierten und för- derten sie verschiedene Medienkompetenzen und gewährten zahlreiche Vergnü- gungsmöglichkeiten. Von Beginn an standen die Comics in den Sonntagsbeilagen unter einem ständigen Innovations-, oder anders gesagt, Überbietungsdruck. Dieser Druck, d.h. permanent „noch besser, bunter und mehr davon“ (Balzer 2010b, 15) zu pro- duzieren und damit die Leser_innen bei Laune zu halten und potenzielle Käu- fer_innen anzulocken – und das wöchentlich –, zeigt sich nicht nur in der anstei- genden Seitenzahl der Comicbeilagen (von 4 auf 8 Seiten), den vielen Farbvariationen (ermöglicht durch stetig weiterentwickelte Farbdrucktechniken) und dem größeren Anteil von Seiten, die vollständig in Farbe gedruckt wurden (1893 waren es lediglich die Frontseiten, später dann auch die centerspreads, und allmählich alle Comics), sondern auch in der Ästhetik der Comics. Vor diesem Hintergrund möchte ich am Beispiel der beiden konkurrierenden Comicserien Hogan’s Alley und McFadden’s Row das Gestaltungsprinzip der variierenden Wie- derholung erklären, um anschließend einerseits die expansiven Darstellungsver- fahren, mit denen die Serien operieren, zu erläutern, und andererseits die wie- derholte Offenlegung der eigenen ästhetischen Mechanismen in den wöchentli- chen Comicseiten herauszuarbeiten.

KK 11 Wie viele Leser_innen die Zeitungscomics konsumiert haben, ist nicht zu bestimmen. Die da- malige Fachpresse dieser Zeit (wie z.B. Ayer & Son’s American Newspaper Annual, beispielhaft N.W. Ayer & Son 1896), Statistiken und Eigenangaben der Zeitungen geben lediglich einen Ein- druck über mögliche Verkaufs- und Abonnent_innenenzahlen.

158 9 Christina Meyer

Comicästhetik

Ab Mai 1895 lieferte der Zeichner und Karikaturist Richard Felton Outcault halb- oder ganzseitige Comictableaus mit einem glatzköpfigen Jungen in einem langen Hemd, der ein Vagabundleben in den tenements von Manhattan in New York City führt und dabei allerlei Schabernack betreibt. Im Frühjahr 1896 entwickelte sich aus den zunächst unregelmäßig erscheinenden Folgen eine Serie im Wochen- rhythmus. In den ersten Comics variierte das Hemd des Protagonisten farblich noch, und auch das Setting schien noch nicht festzustehen. Dies zeigt sich in den unterschiedlichen Überschriften, mit denen die Seiten ausgestattet waren (mal wurde das namenlose Kind in einem Tableau gezeigt, das mit „Shantytown“ be- titelt war, dann gab es Comictableaus ohne Ortsangabe, und mal erschien die Be- zeichnung „Hogan’s Alley“, um den Schauplatz der Geschehnisse zu markieren). Ab 1896 wurde dann das kahlköpfige Kind regelmäßig mit einem Hemd in der Farbe Gelb gezeigt, auf dem Sätze in Umgangssprache (und in – orthografisch – nicht korrektem Englisch) zu sehen waren. Die Abenteuer wurden außerdem mit dem immer wiederkehrenden Überschriftteil „Hogan’s Alley“ ausgestattet (vgl. Balzer 2010a). Mitte des Jahres 1896 wurde das Kind Mickey Dugan getauft, doch besser bekannt war (und ist) die Figur unter dem Namen Yellow Kid. Die Yellow Kid-Geschichten waren eine der ersten populären Comicserien in Farbe.12 Im Ok- tober übernahm ein anderer Zeichner die populäre Hogan’s Alley-Serie (George Benjamin Luks), da Outcault von Pulitzers Konkurrent, William Randolph Hearst, abgeworben wurde, um für die Sonntagscomicbeilage seiner Zeitung eine neue/andere Yellow Kid-Serie zu entwickeln.13 Ab Mitte Oktober 1896 fand man zwei konkurrierende Versionen des Yellow Kid in den zwei führenden New Yor- ker Zeitungen des späten 19. Jahrhunderts: die eine lief weiter unter dem bekann- ten Titel Hogan’s Alley (in Pulitzers World); die andere Yellow Kid-Serie war mit McFadden’s Row of Flats betitelt (in Hearsts Journal). Die McFadden’s Row-Serie entstand in Kollaboration mit dem Schriftsteller Edward Waterman Townsend,

KK 12 Zur Entstehungsgeschichte der Yellow Kid-Comics siehe Balzer/Wiesing 2010; vgl. auch Kel- leter/Stein 2009; zu den Gründen für die Popularität der Yellow Kid-Comicfigur vgl. Meyer 2019. 13 Outcault hat jedoch nicht aufgehört, Comics für Pulitzers Comic Weekly zu produzieren. Er beendete lediglich die Arbeit an der Hogan’s Alley-Serie, da Hearst ihm für eine neue Yellow Kid- Serie mehr Geld geboten hatte (vgl. Meyer 2019). Outcault hat aber weiterhin Zeichnungen für Pulitzers Zeitung geliefert. In selbst-ironischer Weise hat Outcault in einem Comic, der in Fourth Estate gedruckt wurde, über die doppelte Arbeitsbelastung reflektiert (siehe Outcault 1896e, 8–9). Zu den Machtkämpfen zwischen Pulitzer und Hearst und zu den Streitigkeiten bezüglich der Yellow Kid-Comicfigur siehe Gordon 1998.

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 159 der die begleitenden Narrativkolumnen für die Yellow Kid-Comics lieferte; die Narrativkolumnen dienten klar als Abgrenzungsmerkmal zur Hogan’s Alley-Serie in Pulitzers Zeitung, die ohne Begleittext operierte (vgl. Meyer 2019).14 Im Januar 1897 schickte Outcault den Jungen dann für ein halbes Jahr auf Reisen, und zwar in Around the World with the Yellow Kid (diese Serie lief bis Mai 1897 in Hearsts Journal). Begleitet wurden die Illustrationen von Outcault von einem in Briefro- manform geschriebenen Text von Rudolph Edgar Block, verantwortlicher Her- ausgeber der Sonntagsbeilage zu der Zeit. Die Yellow Kid-Zeitungscomicserien sind gleichzeitig kommerzielles Produkt und Ausdruck ästhetischer Erfahrung der Progressive Era. Sie sind kulturell be- dingte und Kultur stiftende Textformen, die politische Auseinandersetzungen ebenso reflektieren wie historische Veränderungsprozesse. Die Comictableaus sind nicht nur eingebunden in die Zeit, sondern diese Zeit ist zugleich auch ihr Thema. Nicht nur Wahlkämpfe und politische Korruption werden visuell-verbal dokumentiert (und kommentiert), sondern auch gesellschaftspolitische Themen wie z.B. Immigration, Erziehung und Bildung, Familie, Klassenzugehörigkeit und Diskriminierungen; auch Freizeitaktivitäten und amerikanische Feiertage werden in den Seiten thematisiert. Die Großstadt New York dient als Folie für die visuell-verbalen Darstellungen von gesellschaftlichen Missständen und Span- nungen (ohne diese jedoch zu lösen; vgl. Meyer 2019). Die Bezugnahmen auf die außer-textuelle Wirklichkeit hat die Funktion, den Leser_innen ‚Situationsbilder‘ bereitzustellen, auf die sich die zeitgenössischen Erfahrungen projizieren lassen. Und dies wiederum steigert das Lesevergnügen. Dass die Yellow Kid-Zeitungscomics im Geflecht kultureller Diskurse wirk- sam wurden und neue Konfigurationen von Wissen vermitteln konnten, liegt in ihrem Gestaltungsprinzip begründet. Um mit Kelleter und Stein zu sprechen, es ist ein Prinzip der „Variation und Improvisation innerhalb eines festen Hand- lungsgerüstes“ (Kelleter/Stein 2009, 103–104; vgl. auch Gardner 2012, bes. S. 1–28). Es geht um die Etablierung von Mustern und Erwartungshaltungen, die mit der nächsten Episode erfüllt werden. Jede Woche wurde das Lesepublikum mit einem vertrauten Figurenensemble vor der Kulisse New Yorks konfrontiert (die serielle Struktur der Comics ergibt sich selbstverständlich auch aus der Peri- odizität des Trägermediums – die Zeitung, die jede Woche erscheint). Allerdings

KK 14 Als Pulitzer und Hearst ab Oktober 1896 konkurrierende Yellow Kid-Comicserien publizier- ten, waren die beiden Künstler der jeweiligen Yellow Kid-Comicserien (Richard Outcault und George Luks) damit beauftragt, nicht nur ganz- und/oder halbseitige Tableaus zu zeichnen, son- dern auch andere Yellow Kid Arbeiten anzufertigen, von denen einige auch in den Wochentag- ausgaben der Zeitungen oder samstags erschienen sind.

160 9 Christina Meyer zeichnet sich eine populäre Serie nicht nur durch „die wiederholte Aufführung lieb gewonnener Figurenkonstellationen und gekannter Handlungsmuster aus“, denn es kann „nicht immer dieselbe Geschichte in gleicher Form [erzählt wer- den], wenn sie populär bleiben [...] möchte“ (Kelleter 2012, 23). In Anlehnung an die von Umberto Eco 1985 vorgelegte Arbeit zur Ästhetik von Serialität halten An- dreas Jahn-Sudmann und Frank Kelleter fest, „dass Serien einerseits von Sche- matisierung und Verlässlichkeit leben, andererseits konstant unter Variations- druck stehen“ (Jahn-Sudmann/Kelleter 2012, 206). Dies möchte ich am Beispiel von drei Nebenfiguren in den Yellow Kid-Serien diskutieren und zeigen, dass sich die serielle Ästhetik der Yellow Kid-Comictableaus nicht nur in Form von Darstel- lungsverfahren der Wiederholung zeigt, sondern auch in Form von expansiven Verfahren wie zum Beispiel Dopplungen und serienübertretende Wucherungen sowie durch die Offenlegung der eigenen medialen Beschaffenheit. Während seiner Arbeit an der Hogan’s Alley-Serie in Pulitzers World entwi- ckelte Richard Outcault neben der zentralen Figur des Yellow Kid einige andere Elemente, wie zum Beispiel Tiere (eine Katze, ein Papagei, eine Ziege) und wei- tere Anwohner_innen der Hogan’s Alley (Kinder und Erwachsene), die neben dem Yellow Kid jeden Sonntag zu finden waren. Zu den wiederkehrenden – und leicht erkennbaren – Figuren zählen: „Kitty Dugan and her theatre hat; Liz, whose beauty has captivated the Dugan kid; little Molly Brogan, whose face al- ways wears an expression of astonishment“, und einige andere. Alle diese „funny little people“ (Outcault 1896c, 27) sind aufgrund des einfachen Erscheinungs- bilds für die Leser_innen leicht identifizierbar, oder wie Outcault schrieb: „at a glance“ (Outcault 1896c, 27). Als George Luks ab Oktober 1896 die populäre Ho- gan’s Alley-Serie in Pulitzers World weiterzeichnete, übernahm er einige der Ori- ginalmitglieder der Besetzung (unter anderem behielt er Liz und Kitty und Tiere wie den Papagei, die Ziege und die Katze), fügte aber auch neue Figuren hinzu und etablierte sie als Wiederholungselemente der Serie. Dazu zählen zum Bei- spiel ein namenloser Junge in einer Flugmaschine, der Handstandakrobat na- mens Alfy, ein Polizist namens Nelse, ein Säbel schwingender Bandit namens Buster, und einige mehr. Diese und andere Figuren in den jeweiligen Folgen zu suchen ist Teil des Konsumvergnügens der wöchentlichen Yellow Kid-Comic- serien. Die auffälligsten Figuren in diesem Ensemble dürften die Zwillinge na- mens George und Alex sein, die hier als Beispiel für die Analyse von expansiven Darstellungsverfahren dienen sollen. George und Alex sind quasi Klone des Yel- low Kid – sie tragen ebenfalls gelbe, lange Hemden, sind glatzköpfig und haben ein breites Grinsen auf ihren Gesichtern (siehe Abb. 1 und 2). Sie entwickeln sich langsam zu zentralen Figuren der Hogan’s Alley-Serie, bis sie schließlich heraus- treten und eine eigene Comicserie erhalten (Little Nippers, ebenfalls von Luks

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 161 gezeichnet). Gleichzeitig fungieren sie als Überleitungsfiguren für die von Luks ab Ende 1897 ins Leben gerufene neue Comicserie mit dem Titel Mose’s Incubator – in dieser Serie betreibt ein Huhn eine magische Maschine, in der jede Woche neue Zwillingspaare (tierisch, menschlich, pflanzlich oder abstrakt) entstehen (vgl. Luks 1898, 5).15

Abb. 1: Alex und George (Luks 1896c, 5 [Detail]).

KK 15 Die Leser_innen dieser Serie wurden dazu animiert, sich Namen für die jeweils neuen Paare auszudenken und ihre Vorschläge an die Zeitung einzusenden – man konnte ein Preisgeld ge- winnen.

162 9 Christina Meyer

Abb. 2: Alex und George (Luks 1896g, 4 [Detail]).

Outcault hat die Entwicklung der Hogan’s Alley-Serie, die er ursprünglich für Pu- litzers Zeitung zeichnete, sehr wohl verfolgt und Luks Änderungen und Neuerun- gen wahrgenommen, vor allem die Einführung der Yellow Kid-Zwillinge George und Alex (siehe Abb. 3 und 4). In mehreren seiner Comics, die in Hearsts Zeitung gedruckt wurden, kopiert er diese Zwillingsfiguren und integriert sie in seine Co- mics zum Zweck der Parodie (vgl. Outcault 1897a, 4; Outcault 1897b, 4). Bei Out- cault werden Alex und George auf jede nur erdenkliche Weise malträtiert (über Feuer gehangen, erhängt, plattgewalzt, usw.). Die Art und Weise, wie die Zwil- linge in Outcaults Comics gequält werden, mag lustig anzuschauen sein, und die Figuren sind unterhaltsam, weil sie auch die in den Episoden dargestellten Sze- nen sarkastisch kommentieren. Dass sie auch als ‚interserielle‘ Elemente der ge- genseitigen Beobachtung fungieren ist nur dann erkennbar, wenn man die

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 163

Comictableaus in beiden Sonntagsbeilagen konsumiert und man mit der Entste- hungsgeschichte des Yellow Kid und dem Wettstreit zwischen den konkurrieren- den Zeitungen mit ihren jeweiligen Yellow Kid-Comicserien vertraut war. Dass sie darüber hinaus sowohl ironischer Verweis auf die Strahlkraft und das Eigenleben der Yellow Kid-Comicfigur sind, die sich außerhalb des Trägermediums Zeitung in allerlei zwei- und dreidimensionalen Formen vervielfacht hat, und selbstironi- scher Verweis auf die sich ausbreitendenden Figuren Alex und George in Theater und Werbung, ist nur dann verständlich, wenn zum einen die transmediale Ex- pansion des Yellow Kid und zum anderen die Proliferationen von Alex und George bekannt waren.

Abb. 3: Alex und George (Outcault 1897a, 4 [Detail]).

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Abb. 4: Alex und George (Outcault 1897b, 4 [Detail]).

Neben diesen Zwillingsfiguren werden durch ‚Requisiten‘ wie z.B. Nebenfiguren oder Tiere, die um das Yellow Kid herum platziert sind, weitere Konsumtions- praktiken ermöglicht. Am Beispiel der oben genannten Comicfiguren Alfy und des namenlosen Flugmaschinenjungen möchte ich die Frage, wie diese Neben- darsteller_innen in den Episoden und zwischen den Episoden der Hogan’s Alley-

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 165

Serie operieren, beantworten. In der Forschung wird üblicherweise der Fokus auf den Protagonisten der Comicserie(n) gelegt: Mickey Dugan, das Yellow Kid. Wie Jens Balzer notiert, hat dieser Junge im langen Hemd

die Aufgabe [...], zwischen den einzelnen Szenen einen Zusammenhang herzustellen, der die Leser an die Serie bindet, ohne dass bei dessen Unkenntnis das Verständnis der einzel- nen Seiten erschwert wäre – also ohne die Szenen als Episoden einer Geschichte zusam- menzuschließen, die das Publikum vollständig wahrzunehmen hätte. (Balzer 2010b, 23)

Balzer schreibt weiter: „Den Zusammenhang stiftet der Yellow Kid als Über- schneidung zwischen den einzelnen Bildern, die man wahrnehmen kann aber nicht muss“ (Balzer 2010b, 23; siehe auch Balzer 2010a). Ähnlich wie die Erkenn- barkeit des Yellow Kid werden die ‚Requisiten‘ in Luks’ Hogan’s Alley-Serie in ei- ner Weise geschaffen, die es den Leser_innen leicht macht, sie in jeder Episode zu identifizieren. Sowohl der glatzköpfige Mickey Dugan mit Sprüchen auf sei- nem gelben Hemd als auch die Nebenfiguren wie Alfy und der namenlose Flug- maschinenjunge sind Darstellungsverfahren der variierenden Wiederholung. Beide Nebenfiguren stellen spielerische Referenzpunkte dar, um Verknüpfungen zu früheren und/oder zu zukünftigen Episoden der Serie zu schaffen; die einzel- nen Folgen der Serie sind aber auch weiterhin als Einzelvergnügungsprodukt ge- nießbar. Was genau tun Alfy und der Flugmaschinenjunge? Vom 25. Oktober 1896 an erscheint die Handstand-Figur Alfy in Luks Hogan’s Alley-Serie; Alfy be- schreibt sich selber als „DE HARLEM ACTUR“ (Luks 1896c, 5). Mittels Sprechbla- sen, seiner Kleidung oder der ihn direkt umgebenden Gegenstände und Häuser- wände erläutert Alfy sein eigenes Tun in der jeweiligen Szene sowie das der anderen, sein außergewöhnliches akrobatisches Talent und seine Aufgabe inner- halb der Comicserie. In der Folge „A Hot Election Day in Hogan’s Alley“ sieht man Alfy sagen: „SAY! I’VE BEAN IN DIS SAME POSISSHUN EVER SINCE LAST SUNDAY“ (Luks 1896b, 4). In der Episode eine Woche zuvor, die auf der Titelseite der Sonntagscomicbeilage abgelichtet wurde, gab es in der Tat einen Handstand- Jungen, der in exakt der gleichen akrobatischen Pose an exakt derselben Stelle auf der Zeitungsseite (am oberen linken Rand) platziert ist – so als ob Luks die Figur von einer in die nächste Folge einfach abgepaust hätte; während Alfys Po- sition die gleiche ist, ist das Setting der beiden Folgen leicht verändert und auch die Tageszeit ist eine andere. In „The Great Baby Show in Hogan’s Alley“ (25. Ok- tober 1896) ist es Tag, in „A Hot Election Day in Hogan’s Alley“ (1. November 1896) ist es Nacht. Aufgrund der Wortkommentare, die in der Nähe seines Kopfes in die Seite eingeschrieben sind, ist dieses Element auch für die Leser_innen, die die vorherige Episode nicht kennen/nicht gelesen haben, verständlich, als impli- ziter Rückbezug, der die Vorstellung, dass Alfy sich für 7 Tage/Nächte nicht be-

166 9 Christina Meyer wegt hat, erlaubt. Alfy kommentiert damit gleichzeitig sein Tun in einer einzel- nen Folge und seine Daseinsfunktion in der gesamten Hogan’s Alley-Serie (näm- lich, im Handstand zu existieren und durch die Serie zu turnen). In der „Horse Show“-Episode deuten die Worte von Alfy zukünftige Ereignisse an: „WAIT TILL YOU SEE ME IN ME SAILOR SUET!“ (bis dahin hat Luks die Figur in einem rot- weiß karierten Hemd, einer kurzen Hose und braunen Schuhen gezeigt). Die Ver- wirklichung der Ankündigung eines zukünftigen Ereignisses (die Ausstattung mit neuer Kleidung) findet zwei Episoden später in der Folge „Thanksgiving Day in Hogan’s Alley“ statt; ab da wird Alfy in seiner blauen Segleruniform gezeigt (Luks 1896e, 4) (siehe Abb. 5).

Abb. 5: Alfy, der Handstandakrobat (Luks 1896f, 4 [Detail]).

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 167

Ich benutze Alfy hier exemplarisch, um die Darstellungsverfahren der variieren- den Wiederholung aufzuzeigen und die unterschiedlichen Lesearten, die durch diese Figur ermöglicht werden, zu veranschaulichen: Alfy funktioniert sowohl auf der strukturellen Ebene der ganzen Serie als auch als Einzelelement auf der Handlungsebene einer Folge, indem er seine Kleidung und seine akrobatische Aufführung diskutiert (z.B. sagt er über den Effekt seines Kopfstands in der schneebedeckten Winterlandschaft: „DIS IS A NEW WAY UF PUTTIN ICE ON YER HED“, Luks 1896h, 4). In einer anderen Episode („Snowball Battle in Hogan’s Al- ley“) wird diese doppelte Funktion explizit: Dort präsentiert sich Alfy statt in der Handstandstellung in einer aufrechten, an einen Holzbalken geklammerten Po- sition; mit Hilfe einer Sprechblase adressiert er die Zeitungsleser_innen und in- formiert sie einerseits über seine Arbeit als Segler und andererseits über den ‚Feh- ler‘ der Darstellung seiner selbst: „SAY! I OUTER BE STANDIN ON ME HED, BUT I KUDNT RESIST DIS TEMTASHUN IT MAKES ME TINK I’M AT SEE, EN I’M IN A STORM GOIN UP DE MAST TU PULL IN DE TOP SEL“ (Luks 1896g, 4). Indem er betont, dass er ‚eigentlich‘ auf dem Kopf stehen müsste, markiert Alfy die Abwei- chung von der typischen Handstandposition im Comictableau. Somit stellt Alfy seine eigene Rolle als wiederkehrendes (variierendes) Handstand-Akrobatik-Ele- ment in der Hogan’s Alley-Serie selbstreflexiv dar. Als zweites Beispiel möchte ich die Darstellungsmechanismen von Luks Flugmaschinenjungen analysieren – diese wiederkehrende Figur funktioniert et- was anders als Alfy, wie ich zeigen werde. Nachdem die „NEW FLYIN’ MACHINE“ eines namenlosen Jungen in der Folge „The Great Baby Show in Hogan’s Alley“ vorgestellt wurde (am 25. Oktober 1896), minimierte Luks die Größe des Jungen und der Flugmaschine in der nächsten Episode, die mit „A Hot Election Day in Hogan’s Alley“ betitelt ist (vom 1. November 1896). Während die Größe des Hand- stand-Akrobaten Alfy in jeder einzelnen Episode gleich bleibt (und damit auch eine Arbeitserleichterung für Luks darstellte), scheint sich der Junge mit seiner Flugmaschine von einer Episode zur nächsten zu bewegen. Alfy ist ein überwie- gend statisches, der Junge mit seiner Flugmaschine dagegen ein bewegliches Ele- ment, was allein schon durch das Fortbewegungsmittel, in dem er sich befindet, impliziert wird. Der Flugmaschinenjunge macht die zeitliche Qualität der seriel- len Comictableaus sichtbar, die auch durch die deiktischen Äußerungen in den Sprechblasen oder Kommentarboxen neben dem Jungen (wie z.B. „since“, „till“ oder „dese days“ u.ä.) deutlich wird. In der Folge „A Genuine Horse Show in Ho- gan’s Alley“ (vom 8. November 1896) wird der Junge mit der Flugmaschine etwas weiter im Vordergrund der Seite gezeigt, mit der Ankündigung: „I’M IMPROVIN DIS FLYIN MASHIN ALL DE TIME“ (Luks 1896c, 5) (siehe Abb. 6).

168 9 Christina Meyer

Abb. 6: Namenloser Junge-mit-Flugmaschine (Luks 1896c, 5 [Detail]).

Die Maßnahmen zur Verbesserung der Flugmaschine werden seit seiner ersten Einführung durch den stetigen Zuwachs von Ballons von Folge zu Folge visuali- siert; allerdings scheinen sie nicht besonders wirkungsvoll zu sein, denn in einer der nächsten Episoden ist die Flugmaschine kaputt, und der Junge ist im freien Fall (suggeriert durch Bewegungslinien sowie durch die lockeren Ballonseile, an denen der Junge zum Teil noch hängt); er verspricht aber: „I’LL PERFEKT DIS MACHINE ONE UV DESE DAYS YET“ (Luks 1896d, 4). In der darauffolgenden

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 169

Episode der Hogan’s Alley-Serie ist der Junge mit einer Flugmaschine in der obe- ren rechten Ecke der Zeitungsseite zu finden, so als wenn er sich vom Geschehen entfernen würde – am 20. Dezember 1896 ist er verschwunden, um eine Woche später wieder in Form eines winzigen schwarzen ‚Flecks‘ im Hintergrund der Szene zu erscheinen; in „New Year’s Celebration in Hogan’s Alley“ sieht man den Jungen in einer v-förmigen Flugmaschine vor dem gelbglänzenden Mond; er scheint sich wieder stärker in den Vordergrund zu bewegen, doch es dauert noch eine ganze Weile, bis die regelmäßigen Leser_innen der Serie das Resultat der zuvor angekündigten Verbesserungsmaßnahmen tatsächlich sehen. Erst am 16. Mai 1897 wird der Junge mit seiner neuen, veränderten Flugmaschine in groß ge- zeigt – sie ist so fortschrittlich stabil, dass sie in der Lage ist, eine kleine Gruppe von Kindern zu halten, die der Junge irgendwo aufgelesen hat. Der Junge in sei- ner Maschine, mit der er durch den Raum und durch die Zeit der jeweiligen Comicseite und -serie navigiert, und der Handstand-Akrobat Alfy sind sowohl in- traseriell als auch interseriell operierende Darstellungskomponenten (vgl. Meyer 2019; in diesem Zusammenhang siehe auch Jahn-Sudmann/Kelleter 2012, zu in- traserieller und interserieller Überbietung in populären Serien). Diese und an- dere Nebenfiguren laden die Leser_innen zu multiplen und unterschiedlichen Beschäftigungen mit den Comictableaus ein. Als drittes und letztes Beispiel der serienästhetischen Darstellungsverfahren in Hogan’s Alley möchte ich auf die Figur ‚Fatty‘ hinweisen (der Name taucht zum ersten Mal auf in Luks 1896c, 4). In George Luks’ „New Year’s Celebration in Ho- gan’s Alley“-Folge vom 27. Dezember 1896 ist am unteren rechten Zeitungsrand eine pausbäckige, korpulente, männliche Person platziert – bekleidet mit einem gelben Hut und einem gelben Mantel –, die nur zur Hälfte für die Leser_innen sichtbar ist. Die andere Körperhälfte fehlt. In der zugehörigen Sprechblase setzt sich die Person mit ihrem Halb-Dasein auseinander, indem sie sagt: „I’M SO FAT DEY KUD ONEY GIT HAF OF ME ON DIS PAGE“ (Luks 1896h, 4) (siehe Abb. 7). Diese visuell-verbale Darstellung soll lustig sein, weil der abgeschnittene Körper den verbalen Kommentar illustriert, aber das ist nicht alles. Durch das mündliche Sprechblasennarrativ und die Halbkörperpräsentation dieser Figur wird die Auf- merksamkeit auf die Größe und das Randgebiet der Zeitungsseite gelenkt – oder anders formuliert: die materiellen Abgrenzungen der Zeitungen werden in den Vordergrund gerückt (vgl. Meyer 2017). Durch die Figur werden ästhetische Me- chanismen als eben solche markiert; das Medium Comic beschreibt oder beob- achtet sich in diesem Fall selbst (hierzu auch Kelleter 2012).

170 9 Christina Meyer

Abb. 7: ‚Fatty‘ (Luks 1896h, 4 [Detail]).

Hinzugefügt sei, dass diese Figur in jeder Hogan’s Alley-Folge anders operiert und durch sie stets neue Andockmöglichkeiten angeboten werden. Manchmal spricht die Person, manchmal nicht; in einer Episode dient sie dazu, ihr eigenes Erschei- nungsbild zu thematisieren (vgl. Luks 1897, 4). In einer anderen Folge kommen- tiert Fatty die Ereignisse in der diegetischen Welt von Hogan’s Alley und/oder

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 171 adressiert in selbstreflexiver Weise seinen Platz innerhalb des Zeitungslayouts und Seitendesigns; und manchmal dient er dazu, eine extra-textuelle Person zu repräsentieren (u.a. Charles F. Bates, auch „Fatty“ Bates genannt). Jede Wieder- holung dieser voluminösen Figur in der Hogan’s Alley-Serie bringt eine Variation oder eine konzeptionelle Neukonfiguration, so dass die Bedeutung und Funktion von Fatty immer wieder neu betrachtet werden muss. Durch Fatty und die ande- ren Nebendarsteller_innen wird deutlich, dass die Gemachtheit der Yellow Kid- Comictableaus nicht allein durch serienästhetische Verfahren (wie z.B. wieder- kehrende Darstellungselemente in – leicht – abgewandelter Weise) beschrieben ist, sondern sich auch durch rekursive Strategien auszeichnet, durch die die me- diale Beschaffenheit der Serie(n) – und der einzelnen Comicseiten – selbstrefle- xiv offengelegt wird (zu recursive seriality siehe Gardner 2012, 21). Dies beinhaltet auch die wechselseitigen Beobachtungen der konkurrierenden Yellow Kid-Co- micserien zum Beispiel durch den Hauptdarsteller in beiden Serien, aber auch mittels der Nebenfiguren wie Alex und George.

Ausblick

Der Fokus in diesem Beitrag lag auf den Produktions- und Rezeptionsprozessen von populären Comics, die in den Sonntagsbeilagen amerikanischer Zeitungen im späten 19. Jahrhundert entstanden sind. In meinen Ausführungen zur seriel- len Ästhetik der Zeitungscomicserien Hogan’s Alley und McFadden’s Row of Flats und die durch die Darstellungsoperationen ermöglichten Konsumtionspraktiken bin ich auch auf den Protagonisten Mickey Dugan zu sprechen gekommen, doch hier bedarf es weiterer Analysen. Es ist zum Beispiel zu überlegen, inwiefern das Yellow Kid die Wettbewerbsbedingungen ‚verkörpert‘ und als zentrales, standar- disiertes, wiederkehrendes Darstellungselement eingesetzt wird, um zum einen die Konkurrenz- oder Überbietungsstrategien der beiden Comicserien zu visuali- sieren und kommentieren, und zum anderen um die eigene mediale, serielle Be- schaffenheit zu verhandeln. In diesem Zusammenhang wäre es auch spannend, die narrativen Strategien der Begleittexte in der McFadden’s Row-Serie wie z.B. oszillierende Fokalisierungen und die ‚instabile‘ Erzählerfigur genauer zu be- trachten. Dies würde es erlauben, die Gemachtheit der Comicserien noch weiter zu entfalten und die Konsumtionspraktiken, die in den Yellow Kid-Comic- tableaus ermöglicht werden, genauer zu bestimmen. Auch wäre es interessant zu schauen, wie die hier nur angedeuteten expansiven Verfahren weiter funktionie- ren – ich denke hier zum Beispiel auch an die zahlreichen inter- und extra-

172 9 Christina Meyer textuellen Bezüge, mit denen die Yellow Kid-Comicserien (und andere Comics aus der Zeit) arbeiten. Zum Schluss dieses Beitrags möchte ich noch einmal auf das „mediale Selbst- bewusstsein“ (Kelleter/Stein 2009, 95–96), das für alle sichtbar in die Comic- tableaus eingeschrieben und eingezeichnet ist, zurückkommen. Nicht nur die Ne- benfiguren wie Alfy oder Fatty weisen auf die – mediale – Beschaffenheit ihrer selbst und der Comicseiten hin. Auch formal-kompositorische Grenzübertretun- gen steuern dazu bei, diese hervorzuheben, denn häufig vermischten sich die Beiträge in den Sonntagsbeilagen, mit dem Resultat, dass es interessante Über- lappungen gab. In Richard Outcaults „The Residents of Hogan’s Alley Visit Coney Island“ vom 24. Mai 1896 wird das Geschehen von Schlagzeilen wie „The Poor Conductor“, „Baseball in 1896“ und „How To Find Murderers“ oder Kurzartikeln zu anderen Themen und Lokalnachrichten flankiert, und diese wiederum werden von Elementen der Yellow Kid-Episode durchkreuzt bzw. überlagert (vgl. Outcault 1896a, 6). In einer weiteren Folge mit dem Titel „The Great Bull Fight in Hogan’s Alley“ übertreten die Eskapaden des Yellow Kid und die Streiche seiner Freund_innen gar die eigene Seite und ragen in die gegenüberliegende Seite der Zeitungsdoppelseite hinüber (vgl. Outcault 1896b, 6–7). Diese Übertretungen werden in den Comicseiten selbst exponiert, und zwar in doppelter Weise: zum einen als in Klammern gesetzte Information im Titel der Überschrift – „(conti- nued on page 7)“ – und zum anderen in der dargestellten Szene der Folge, in Form eines Sprechblasenkommentars: „HULLY CHEE LOOK AT CHIMMIE ON DE ODDER PAGE“ (Outcault 1896b, 6–7). Die Blickrichtung des Jungen, der diese Worte spricht, trägt darüber hinaus dazu bei, die Rezipient_innen zu einer sei- tenübergreifenden Lesart einzuladen.16 Ob solche Seitenübertretungen von vorn- herein so geplant waren und wie viel Gestaltungsspielraum den Mitarbeiter_in- nen des Druckraums gelassen wurde, ist nicht mehr nachweisbar. Es ist auch gut möglich, dass der ‚fliegende‘ Chimmie nachträglich auf die andere Seite der Zei- tungsdoppelseite eingezeichnet wurde, denn wie oben angedeutet, durchliefen die Comics der Massenpresse verschiedene Prozesse bis sie in einer Sonntagsbei- lage erschienen. Fest steht, dass die amerikanischen Zeitungscomics der Jahr- hundertwende die eigene Gemachtheit mit ausgestellt haben bzw. durch ihre

KK 16 Auch in anderen Seiten der Comicbeilage wurden Querverweise zu anderen Teilen der Zei- tung eingefügt, so zum Beispiel in Walt McDougalls The Checkered Game of Life für die World am 4. August 1895; dort ist der kreis(el)-förmig angelegte Titelseitencomic mit einer Zusatzinfor- mation versehen – „See accompanying article in one of the supplements“ –, so dass der_die Leser_in eingeladen wurde, in anderen Sektionen der Zeitung nach weiteren Ausführungen zu dem Thema des Comics zu suchen.

„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 173

Darstellungsverfahren selbst-beobachtend markierten. Die interessanten Rei- bungspunkte, die hierdurch sowie durch die repetitive Redundanz von formel- hafter Einfachheit und ästhetischer Komplexität entstehen, gilt es nun weiter zu analysieren.17

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KK 17 Dieser Aufsatz basiert auf Ergebnissen meines Buchprojekts zur Comicfigur des Yellow Kid, das voraussichtlich 2019 erscheinen wird. Dank der mir gewährten Fördermittel durch die Deut- sche Forschungsgemeinschaft (DFG) war es mir möglich, weitere Archive in den USA zu besu- chen (z.B. die Billy Ireland Cartoon Library and Museum in Columbus, Ohio) und Original- comicseiten zu sehen. Mein Dank gilt auch den Mitgliedern der DFG Forschergruppe „Ästhetik und Praxis populärer Serialität“.

174 9 Christina Meyer

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„Noch besser, bunter und mehr davon“ 9 175

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Nina Heindl Opazität und Transparenz

Überlegungen zum poietischen Potenzial in Chris Wares Comics und Animationen

Abstract: Chris Ware ist bekannt für seinen reflektierten Umgang mit gedruckten Comicheften und -büchern. Doch auch digitale Comics und Animationen sind ein wiederkehrender und ein immer größeren Raum einnehmender Bestandteil sei- nes Œuvres. In diesem Beitrag wird der These nachgegangen, dass sich in Wares Comics und Animationen ein poietisches Potenzial zeigt, das in der gleichzeiti- gen Transparenz und Opazität der Werke liegt. Einerseits eröffnen sich in ihnen in scheinbarer Durchlässigkeit transparente Sichten auf eine andere Welt; ande- rerseits kommen ihnen auch opake Qualitäten zu, die ihre materielle Erschei- nung und dingliche Präsenz betonen. Anhand des gedruckten Comics Building Stories (2012), des digitalen Comics Touch Sensitive (2011) und der Animation MO- VING IMAGES (2015) wird herausgestellt, wie durch verschiedene (inter)mediale Strategien das Gemachtsein der Comics und Animationen reflektiert und durch Verweise auf die Entstehungsvorgänge im späteren Rezeptionsprozess erfahrbar gemacht wird. Das Ausstellen des Ins-Werk-Setzens steht jedoch nicht losgelöst für sich, sondern wird für die zu erzählende Geschichte fruchtbar gemacht.

Chris Wares Comics und Animationen

Chris Ware ist bekannt für seine aufwendig gestalteten Comicbücher und seinen bedachten Umgang mit dem gedruckten Werk. Immer wieder spielen hier The- matisierungen des Gemachtseins auf unterschiedlichen Ebenen eine große Rolle. Ähnliches gilt für den Bereich der Animation, mit dem sich Chris Ware bereits während seiner Studienzeit an der University of Texas in Austin beschäftigt (vgl. Ware 2017, 32) und der Anfang der 1990er Jahre auch Eingang in seine Reihe ACME Novelty Library findet. Diese Comicreihe hat Ware 1993 begonnen, und sie

 Nina Heindl, Universität zu Köln, a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Nina Heindl, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-008

178 : Nina Heindl umfasst mittlerweile 20 reguläre Nummern in unterschiedlichen Formaten und Größen. Vor allem in den frühen Nummern bis ACME Novelty Library #15 inte- griert Ware Gimmicks zum Selbstbasteln. In dem Heftformat ACME Novelty Library #3 von 1994 ist etwa eine Moving Picture Machine beigefügt. Dieses Muto- skop umfasst die zusammenzusetzenden Einzelteile mit einer Bastelanleitung. Werden die gefalteten Bilderstreifen in der fertig gebastelten Moving Picture Ma- chine in Bewegung gesetzt, rammt sich der Potato Guy, eine der frühen Comicfi- guren Wares, immer wieder eine Schere in sein Gesicht. Ein weiteres Beispiel aus ACME Novelty Library #15 von 2001 umfasst ein Daumenkino, bei dem Quimby the Mouse versucht, den Katzenkopf Sparky the Cat mit einem Hammer zu er- schlagen. Beiden händisch generierten Animationen liegt ein Gewaltakt zu- grunde, den die Figur ein Mal gegen sich selbst, ein anderes Mal gegen einen Ge- genspieler richtet. Die Thematik dieser Bewegtbilder steht damit in direktem Widerspruch zur Art der Aufmachung als zu bastelnde Beilage, wie sie in den supplements der Sonntagszeitungen Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. Black- beard/Williams 1977, 199–215) bzw. in paper activity books für Kinder zu finden sind (vgl. Ware 2017, 108) und die einen spielerisch-tüftlerischen Anreiz und spa- ßige Unterhaltung in Aussicht stellen. Gleichzeitig ist in diesem Gewaltakt auch ein Verweis auf die Slapstick-Ästhetik der frühen Comicstrips und Animationen angelegt. In diesem Spannungsverhältnis entfalten Wares Gimmicks wie ebenso die ganzen Comichefte und -bücher ihr reflexives Potenzial (siehe hierzu Heindl 2013). In derartigen Bildmaschinen und Daumenkinos zum Selbstbasteln ist Wares Interesse an der Verschränkung von Comics und Bewegtbildern – und darüber hinaus an den mehrfachen und unterschiedlichen Anfängen der Animationsge- schichte (vgl. Leslie 2014, 25) – bereits ablesbar. Seit 2000 entstehen zudem ver- mehrt digitale Comics,1 animierte GIF-Dateien2 sowie Kurzfilme,3 die Ware unter

JJ 1 Hier wäre beispielsweise ein digitaler Comic zu nennen, der zur Veröffentlichung von Jimmy Corrigan: The Smartest Kid on Earth (2000) bei Pantheon entstanden ist. Dieser war über das Internet zugänglich und ist heute im ACME Novelty Archive archiviert und abrufbar: http://acmenoveltyarchive.org/media/video/159.swf (letzter Zugriff: 29. August 2017). 2 Im Jahr 2016 wurde beispielsweise die Reihe This American Vote auf der Webseite der Radio- sendung This American Life im Rahmen der Wahlen in den USA veröffentlicht. Die zwanzig GIF- Dateien zeigen „a cross section of American voters on the big day“ (https://www.thisamerican life.org/vote/ letzter Zugriff: 29. August 2017) – nicht ohne einen humorvollen Wink, da neben verschiedenen Generationen und Figuren verschiedener ethnischer Herkunft und Berufsfelder auch ein Superheld, ein Gespenst und ein Monster die Wahlkabine besuchen. 3 Die Animationen entstehen gemeinsam mit dem Animator John Kuramoto und vor allem in Zusammenhang mit der Radioshow This American Life, wobei die erste am 12. April 2007 als

Opazität und Transparenz : 179

Mitwirkung von Animator_innen umsetzt. Das Verhältnis von Comic und Anima- tion fasst Ware selbst folgendermaßen zusammen: „Put bluntly, the two are tan- gentially, but only distantly related: though they both appear to move, one is a passive experience, the other requires active mental engagement to come to life (aka ‚reading‘). One accompanies music, the other creates it. One makes pictures move, the other uses pictures as words. And, lastly, storyboards are not comics, any more than grocery lists are dinner“ (Ware 2017, 228). Und weiter beschreibt Ware: „though it was always satisfying to see one’s characters come to life for a few seconds, the effort it required was overwhelming and tedious. Animation is the only art form I can think of that makes comics seem breezy and efficient“ (Ware 2017, 32). Auch wenn Animationen im Vergleich zu Comics weniger positiv besetzt sind, gilt Wares Interesse bei digitalen Bewegtbildproduktionen ebenso der Kombination aus der Vermittlung der zu erzählenden Geschichte sowie dem Ausstellen des Ins-Werk-Setzens seiner Comics. Dadurch kommt Wares Werken ein besonderes poietisches Potenzial zu. Der Begriff Poiesis findet sich im philosophischen Kontext begrifflich als zweckgebundenes Handeln bzw. bei Aristoteles als „produktives Schaffen“ (von Rosen 2013, 12), wie es die Kunsthistorikerin Valeska von Rosen formuliert.4 Von Aristoteles’ Bestimmung ausgehend erläutert von Rosen in Bezug auf die Bil- dende Kunst den Begriff näher als „prozessuale[n] Akt und Produkt desselben und das damit verknüpfte Denken und Reflektieren über die Bedingungen der jeweiligen Medien und Gattungen“ (2013, 26). 5 Damit verbunden ist die Betonung des „prozessualen Charakter[s] schöpferischen Arbeitens“ und ein „besonderes Bewusstsein für die Medialität und Materialität des Werks“ (von Rosen 2013, 26). Dies ist dann der Fall, wenn etwa Spuren des Arbeitsprozesses am Werk sichtbar bleiben, Unfertigkeit in der Ausführung suggeriert wird und das Material durch-

JJ Visualisierung eines Interviews zwischen Jeff Potter und dem Radiohost Ira Glass unter dem Titel The Cameraman (https://www.thisamericanlife.org/tv-archives/season-one/cameraman; letz- ter Zugriff: 29. August 2017) erschienen ist. 4 Valeska von Rosen bezieht sich hier auf einen Abschnitt des sechsten Buches von Aristoteles’ Nikomachische Ethik (vgl. Nickel 2007, 1140a–1140b, 242–247). 5 Wie Valeska von Rosen möchte auch ich den Begriff der Poiesis in diesem Zusammenhang als heuristisch genutzt verstanden wissen. Die Autorin macht die Überlegungen Aristoteles’ zu dem antiken Terminus für das Kunstschaffen der Frühen Neuzeit fruchtbar und zeigt, inwiefern dadurch „die den Bildkünsten eigene, nicht sprachlich-diskursiv gegebene Theoriehaltigkeit und Reflexivität“ (von Rosen 2014, 2) erfasst werden kann. In dieser theoretischen Orientierung sehe ich direkte Bezugsmöglichkeiten zu gegenwärtiger bildkünstlerischer Produktion, speziell zu Chris Wares Comics. Verschiedene Beiträge des Bandes Poiesis: Über das Tun in der Kunst zeigen zudem, wie der Begriff der Poiesis auch in Bezug auf moderne und zeitgenössische Kunst Verwendung finden kann (vgl. Beyer/Gamboni 2014).

180 : Nina Heindl scheinen lässt. In der Thematisierung des Gemachtseins werden dadurch Ver- weise auf Entstehungsvorgänge im späteren Rezeptionsprozess erfahrbar. Bei Chris Wares Comics und Animationen zeigt sich dieses poietische Poten- zial in der gleichzeitigen Transparenz und Opazität der gedruckten bzw. digitalen Werke. Einerseits eröffnen sich in ihnen für die lesend Betrachtenden6 in schein- barer Durchlässigkeit transparente Sichten auf eine andere Welt, wie es bereits prägnant 1435/36 bei Leon Battista Alberti als „finestra aperta“ (Bätschmann/ Gianfreda 2010, 92) formuliert ist; andererseits kommen ihnen auch opake Qua- litäten zu, die ihre materielle Erscheinung und dingliche Präsenz betonen. Wares Ausstellung des Ins-Werk-Setzens steht jedoch nicht losgelöst für sich, sondern wird für die zu erzählende Geschichte fruchtbar gemacht. Dieser Zusammenhang von Opazität und Transparenz sowie die damit einhergehende Thematisierung von Gemachtheit werden im Folgenden an Beispielen aus Building Stories von 2012, dem digitalen Comic Touch Sensitive von 2011 und der Animation MOVING IMAGES von 2015 anschaulich gemacht.

Gemachtheit in Building Stories (2012)

Das Comic-Konglomerat Building Stories von 2012 besteht aus insgesamt 15 Kom- partimenten in teils unterschiedlichen Publikationsformaten, innerhalb derer die Geschichten von fünf Bewohner_innen eines Chicagoer Mietshauses erzählt wer- den: eine junge Frau, ein Paar mittleren Alters, eine ältere Dame, der das Haus gehört sowie Branford die Biene. Ein wiederkehrendes Gestaltungsmoment Wares, in dem sich die Gemachtheit des Comics ausdrückt, ist das Weglassen der Panelrahmung, wobei zudem die panelinterne Strichzeichung und die Farbfül- lung an unterschiedlichen Stellen auslaufen, sodass das Panel an den Rändern wie ausgefranst wirkt. Dies fällt besonders in Seitengestaltungen auf, in denen gerahmte neben rah- menlosen Panels situiert sind. Wie Jakob Dittmar formuliert, macht „ein Rahmen […] alles, was innerhalb des Rahmens abgebildet ist, zu einem Bild. Zugleich thematisiert er. Er wählt aus, umgrenzt und definiert“ (2008, 58). Doch auch

JJ 6 Der Ausdruck ‚lesend Betrachtende‘ wird verwendet, um die Rezipierenden und die Mecha- nismen der Rezeption genauer zu fassen: Die Rezipierenden sind beim Aufschlagen eines Comics Betrachtende, indem sie die gesamte Doppelseite und die Einzelseiten wahrnehmen. Erst dann wenden sie sich dem sukzessiven Nachvollzug der einzelnen Panels zu, der aber immer wieder von der simultanen Erfassung von Einzel- und Doppelseite unterbrochen bzw. angereichert wird.

Opazität und Transparenz : 181

„‚rahmenlos‘“, so Dittmar, „ist ein Bild begrenzt“ (Dittmar 2008, 58). Diese Fest- stellung kann für Wares ausgefranste Panels in der (raster)losen Anordnung der Comicseite nicht geltend gemacht werden: Wird eine Panelkontur imaginiert, reicht die Strichzeichnung dennoch darüber hinweg. Über die formale Feststel- lung und Beschreibung der Panelrahmungen hinaus wird dadurch an diesem De- tail, das sich durch mehrere der 15 Publikationsformate zieht, das poietische Po- tenzial der grundlegenden Darstellungsmodi Chris Wares thematisiert.7 Im Heftformat aus Building Stories, das dem Paar aus dem mittleren Stock des Mietshauses gewidmet ist, werden die rahmenlosen Panels vor allem dazu ver- wendet, um verschiedene zeitliche Ebenen voneinander abzugrenzen. Auf einer Doppelseite aus diesem Heftformat (siehe Abb. 1) wird in losen Panelarrange- ments die Beziehung des Paares aus Perspektive der Frau thematisiert. Die na- menlose weibliche Figur wird gezeigt, wie sie sich in zu enge Hosen quetscht und über die Beziehung zu ihrem Lebensgefährten nachdenkt. Dabei (siehe Abb. 2) muss sie auch an die frühe Zeit ihrer Beziehung denken und an die Art, wie sie diese Erinnerung abgespeichert hat – und zwar als „corny movie montages… except no one moves“ (Ware 2012, Heftformat Paar, o.S.). Die frühe Phase des Verliebtseins verklärt sich damit in ihrer Erinnerung als kitschige Filmklischees, die ihr zudem wie stillgestellt bzw. eingefroren erscheinen, also eine direkte Re- ferenz zur Fotografie aufmacht. Diese Erinnerungsbilder heben sich in den Panelarrangements durch das Fehlen von Panelrahmen von dem gegenwärtigen Handlungsstrang ab. Darin laufen die Strichzeichnung und das Farblayer – mal mehr, mal weniger sichtbar – an den Panelrändern auseinander. Auf diese Weise werden die Schritte des Ar- beitsprozesses – die Tuschezeichnung und die digital hinzugefügte Colorierung – an den Panelrändern voneinander getrennt, wodurch der prozessuale Gestal- tungsakt des Comics markiert wird. In den rahmenlosen Panels wird damit – stär- ker als in den umgebenden weiteren Bildfeldern – die Papierseite mit themati- siert. Die Suggestion eines dreidimensionalen Tiefenraumes, durch den man wie durch ein offenes Fenster in die Welt von Building Stories eintauchen kann, wird in diesen Panels ohne Rahmung zugunsten einer Betonung der planimetrischen, das heißt der flächigen, Bezugssysteme der Papierseite aufgelöst.

JJ 7 Diese Differenzierung von Panelrahmungen nutzt Ware bereits in ACME Novelty Library #16 (2005) und #20 (2010) teils um Erinnerungen zu markieren, teils um unterschiedliche Panelse- quenzen voneinander zu separieren. Die Arbeit an Teilen von Building Stories hatte Ware zu die- sem Zeitpunkt bereits seit längerem aufgenommen, vgl. bspw. Vorabpublikationen einzelner Seiten in Zeitschriften wie etwa NEST und Chicago Reader sowie speziell in Kramer’s Ergot Nr. 5 (vgl. Ware 2004) und im Paper Sculpture Book (vgl. Ware 2003).

182 : Nina Heindl

Abb. 1: Doppelseite im Heftformat aus Chris Wares Building Stories (2012). © Chris Ware 2018.

Abb. 2: Detail (Erinnerungen) der Doppelseite aus dem Heftformat zum Paar aus Chris Wares Building Stories (2012). © Chris Ware 2018.

Opazität und Transparenz : 183

Damit ergibt sich ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen der gleichzeiti- gen Transparenz, oder, wie es der Philosoph und Kunsttheoretiker Stefan Ma- jetschak formuliert, der „Fähigkeit, Durchblick auf etwas in ihm Sichtbar-Wer- dendes zu eröffnen“ (2005, 179), und der Opazität, dem Sich-Selbst-Zeigen, in dem die „medialen Eigenschaften als solche in den Blick“ (2005, 179) rücken. Diese beiden Pole, die der Philosoph Bernhard Waldenfels (2006, 238) als Fremdbild (es zeigt etwas anderes) und Selbstbild (es zeigt sich selbst) bezeich- net, sind laut Majetschak (2005, 179, 182) sich bedingende Eigenschaften, die al- ler Bilderfahrung gemein sind. Gleichzeitig stellt dieser nicht-bündige Abschluss zum Panelrand hin eine Reminiszenz an frühe Comicproduktionen, etwa den sonntäglichen Zeitungsco- mics oder den Geschichten in den comic books im 4-Farb-Druck, dar. Dabei wur- den die Farben Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz (CMYK) in einem Druckraster auf das Papier aufgetragen, sodass sich in gewisser Distanz im Auge der Rezipie- renden die einzelnen Farbpunkte durch die Überlagerung der vier Farben sowie die Dichte der gesetzten Rasterpunkte zu der jeweils gewünschten Farbe zusam- mensetzten.8 Oftmals wurden die unterschiedlichen Farbschichten der farbigen Sonntagscomics sowie der frühen comic books nicht passgenau übereinander ge- druckt, sodass sich so genannte Passerfehler ergaben – also die einzelnen Schichten an den Panelrändern und entlang der Konturen sichtbar verschoben abgedruckt wurden (vgl. Farmer 2006, 343). Spätere Comicproduktionen etwa – ob nun in Zeitungen oder in Comicheften – konnten aufgrund der technischen Weiterentwicklung der Druckmaschinen diese Passerfehler einfacher vermeiden oder greifen seit den 1990er Jahren aufgrund digitaler Produktionsprozesse nicht mehr auf eine händische Trennung der einzelnen Farbschichten zurück (vgl. Far- mer 2006, 330). In dem Comic The Three Paradoxes (2007) rekurriert Paul Hornschemeier eben auf diese charakeristischen Passerfehler früher Zeitungsstrips und comic books. In der Geschichte um den Comiczeichner Paul, der an dem Comic Paul and the Magic Pen arbeitet, durchziehen immer wieder frühe Kindheitserinnerungen des Protagonisten die Jetztzeit der Figuren. Diese Erinnerungen werden im (simu- lierten) stark gerasterten 3-Farb-Druck (ohne Cyan)9 mit Figurendarstellungen,

JJ 8 Für detailliertere Ausführungen zum 4-Farb-Druckverfahren von Comics in Zeitungen und Magazinen sowie die verschiedenen Drucktechniken siehe Eaton 1948; http://facweb.cs. depaul.edu/sgrais/comics_color.htm (letzter Zugriff: 29. August 2017). 9 Sebastian Bartosch beschreibt den Vorgang der Simulation des frühen Druckprozesses nach Aussage Hornschemeiers wie folgt: „Die Bestimmung dieser historischen Charakteristika erfolgt auf der Grundlage einer Digitalisierung im Produktionsprozess, welche die gezeichneten Panels und Seiten des Comics als Dateien am Computer verrechen- und bearbeitbar macht. Dabei wur-

184 : Nina Heindl die an Comicfiguren der 1950er Jahre erinnern (vgl. Bartosch 2018, 82; Kuhn/Veits 2015, 249), wiedergegeben. In einem beispielhaft ausgewählten Panel (siehe Abb. 3), in dem der junge Paul mit seinen Freunden in einer Bibliothek steht, sind die simulierten Passerfehler deutlich zu erkennen: Entlang der linken Konturlinie schließt die gelbe Farbfüllung der Panels direkt an, die rote Rasterung ist jedoch um einen Millimeter nach rechts versetzt, wodurch sich auch innerhalb der Pa- nels an den Umrisslinien der Versatz deutlich abzeichnet und in detailreichen Panels die Erkennbarkeit einzelner Figuren oder Gegenstände stark beeinträch- tigt wird. Hornschemeier setzt durch diese Simulation technischer und medialer Charakteristika von frühen Comicproduktionen den erzählerischen Inhalt – die Kindheitserinnerungen – in einen direkten Bezug zur des Mediums, das er für die zu vermittelnde Erzählung nutzt.

Abb. 3: Panel aus der Episode Summer School in Paul Hornschemeiers The Three Paradoxes (2007).

JJ den die […] Panels per Bildbearbeitungssoftware koloriert und anschließend in einzelne Farb- kanäle zerlegt, deren jeweilige Helligkeitswerte anschließend in schwarz-weiße Halbtonraster umgerechnet, einer bestimmten Primärfarbe zugewiesen und mit den schwarzen Konturlinien übereinander angeordnet, wobei schließlich die unterschiedlichen Ebenen intendiert gegenei- nander verschoben wurden“ (Bartosch 2018, 83).

Opazität und Transparenz : 185

Ähnlich wie in Hornschemeiers Gestaltung der Kindheitserinnerung in The Three Paradoxes werden auch die rahmenlosen Panels im Heftformat des Paares aus Wares Building Stories vornehmlich für Vergangenes bzw. Erinnerungsfragmente eingesetzt. Doch referieren die Erinnerungen des Protagonisten bei Hornsche- meier ganz offensichtlich durch die Suggestion technischer Produktionsprozesse auf frühe Comicproduktionen, findet sich der comichistorische Bezug in den Er- innerungspanels bei Ware dagegen nur als Reminiszenz wieder: Ware nutzt in seinen digital eingefärbten Comics ein umfassendes Farbspektrum, das nicht im Entferntesten mit dem frühen Zeitungsdruck in Verbindung gebracht werden kann.10 Zudem betrifft die Verschiebung nicht einzelne Farbschichten, sondern die gesamte farbliche Fassung der Panels und die den Panels inhärenten Kontur- linien, die bei einer flüchtigen Rezeption nicht weiter ins Auge fallen. Dennoch schwingt die comichistorische Komponente in diesen Panels mit und baut ein vergleichbares Verhältnis von zu vermittelnder Erinnerung und Historizität des Mediums auf (wenn auch in abgeschwächter Form). Ein anderer Aspekt kommt in der Gestaltung der rahmenlosen Panels dage- gen stärker zum Tragen: Im direkten Vergleich mit den nebenstehenden Panels mit dickem Panelrahmen wirken die losen Panels fragiler, weniger greifbar und stärker mit der weißen Papierseite verbunden. Dadurch kommt ihnen in ihrer Ge- staltungsweise auch eine bildlich-metaphorische Dimension zu (vgl. hierzu auch Heindl 2017), indem Erinnerungen als ‚ausfransende‘, nicht mehr fest umrissene und fixierte Felder gestalterisch umgesetzt werden.

Gemachtheit in Touch Sensitive (2011/2016)

Teile des Heftformates mit dem Paar aus dem mittleren Stock aus Building Stories wurden bereits 2011 im Rahmen der McSweeney’s iOS App als digitaler, von John Kuramoto animierter Comic mit dem Titel Touch Sensitive publiziert. Kuramoto hat bis heute diverse Animationsprojekte mit Chris Ware realisiert und arbeitet unter anderem auch mit Comickünstlern wie Ivan Brunetti und Daniel Clowes zusammen. Seit 2013 ist Wares digitaler Comic nicht mehr zugänglich, da die

JJ 10 Chris Ware arbeitet vornehmlich am Zeichentisch – lediglich die Farbe wird am Computer hinzugefügt, ansonsten bedient Ware sich traditioneller Produktionsabläufe in der Erstellung seiner Comics (Vorskizzen, Blaupausen, Tuschen), siehe hierzu die Dokumentation Comic-Kunst des Erinnerns: Chris Ware von Benoît Peeters, die 2008 erstmals bei ARTE ausgestrahlt wurde, http://www.youtube.com/watch?v=mvpBNj6PMA8&feature=relmfu (ab 7:00 min., letzter Zu- griff: 29. August 2017)

186 : Nina Heindl

McSweeney’s iOS App nicht länger im iTunes-Store angeboten wird. Der Pub- lisher Sudden Oak hat den digitalen Comic 2016 neu und unabhängig von McSweeney’s iOS App aufgelegt und kostenlos verfügbar gemacht. Auch wenn die Panel- und Textinhalte im Heftformat aus Building Stories sowie in Touch Sen- sitive weitestgehend übereinstimmen, differieren die Anordnungen und die Ab- folge kleinerer Panelarrangements: Durch Wischen mit dem Finger auf dem Dis- play des iPads wird die weiße querformatige Grundfläche nach und nach mit weiteren Panels gefüllt, die panelintern teilweise mit kurzen Bewegungssequen- zen animiert sind oder vorhergehende Panels überdecken, bis die ganze Fläche nach links weitergeschoben wird und sich die weiße Grundfläche unter der Wischbewegung des Fingers erneut mit Panels füllt. Auf diese Weise entsteht die Suggestion eines fortlaufenden Comicbandes (im Sinne von ‚strip‘), das auf wei- ßem Grund immer neue Panelkonstellationen mit und ohne animierte Teilberei- che hervorbringt. Die Rezipierenden werden damit wiederkehrend durch jedes Wischen vor die Aufgabe gestellt, die neu ergänzten Bereiche zu den bereits vor- handenen Panels in Beziehung zu bringen und sich mit den immer wieder unter- schiedlichen Panelarrangements auseinanderzusetzen. Die Erzählung in Touch Sensitive umfasst lediglich einen Ausschnitt aus dem Heftformat11: Die bereits fokussierte Heftdoppelseite bildet den Beginn des digi- talen Comics. Auf das Zurückerinnern an den Anfang ihrer Beziehung und die Reflexion der heutigen, schroffen Art ihres Partners hin, verlässt die Protagonis- tin die Wohnung und nimmt die Hochbahn. Dort trifft sie auf einen Arbeitskolle- gen, an den sie in letzter Zeit öfter denken musste. Sie werden dadurch aufeinan- der aufmerksam, dass beide gleichzeitig die Haltestange über ihnen umgreifen, und ihr Arbeitskollege eröffnet ihr „I was just, like, thinking about you!“ (Ware 2012, o.S.; Ware/Kuramoto 2016, o.S.; Herv. im Original), bevor sich die Türen der Hochbahn schließen und die Rezipierenden außen vorgelassen werden. Daran schließt sich eine Zukunftssequenz an, in der sich der bisherige Handlungsver- lauf als Erinnerungsfragment der „area’s consciousness cloud“ (Ware 2012, o.S.; Ware/Kuramoto 2016, o.S.) auf dem Bildschirmhelm einer weiblichen Figur er- weist. Gerade in dem Moment, in dem die Tür der Hochbahn schließt, hat die Er- innerung Ladeschwierigkeiten, weswegen die Zuschauerin genervt einen reload versucht. In dem Heftformat sowie dem digitalen Comic liegt der Fokus immer wieder auf den Händen der Protagonist_innen, auf sanften Berührungen bis schroffem Anpacken, körperlicher sowie emotionaler Nähe und deren Verwehrung oder wie

JJ 11 Die Geschichte aus Touch Sensitive umfasst lediglich 6 Seiten des 16-seitigen Magazinformats aus Building Stories.

Opazität und Transparenz : 187

Aaron Kashtan formuliert: „[Touch Sensitive] is ultimately about how the longing for satisfying, unmediated touch is never fulfilled“ (Kashtan 2015, 442). Nicht von ungefähr trägt die iPad-Version des Comics die Thematik des Berührens auch im Titel: Touch Sensitive. Durch das Wischen mit dem Finger wird die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Tastsinn zudem mit der Anwendung des digitalen Comics und damit auch den Rezipierenden verknüpft (vgl. Kashtan 2013; Whitson 2012)12. Wie Kashtan formuliert: „[T]ouch causes panels to appear and vanish, as well as producing changes in existing panels. ‚Touch Sensitive‘ turns touch into a way of shaping and producing the comic, rather than just a way of accessing a static text“ (Kasthan 2015, 444). Diese Engführung von Benutzung und inhaltlicher Ausgestaltung geschieht ebenso auf kritische Weise, wie Aaron Kashtan ausführt: „[Touch Sensitive] critiques the very technology with which it was created, pointing out the inability of digital devices to permit tactile interac- tion“ (Kashtan 2015, 442). Ähnlich wie in der Verschränkung der randlosen Pa- nelgestaltung mit Eigenschaften von Erinnerungen wird hier die grundlegende Thematik des Comics mit den Bedienmöglichkeiten der Rezipierenden zusam- mengedacht. Auffälliger Unterschied zwischen der gedruckten und der digitalen Version der bereits vorgestellten Panelarrangements ist der Gebrauch der weißen Fläche. Während bereits viele Weißflächen mit lose darauf arrangierten Panelsequenzen den gedruckten Comic dominieren,13 ist das Weiß in der digitalen Variante noch stärker inszeniert. Nach Weiterwischen des Startbildes mit einer weiblichen und einer männlichen Hand und dem dazwischen situierten Titel des Comics sowie der Nennung des Urhebers (C. Ware)14 folgt eine gestufte Panelsequenz, die Ähn- lichkeiten zur treppenartigen Panelkonstellation aufweist, die Scott McCloud (2000, 223) in Reinventing Comics: How Imagination and Technology Are Revolu- tionizing an Art Form zur Erklärung der durch die Digitalisierung des Comics neuen Möglichkeiten, der sogenannten infinite canvas, nutzt. Das Konzept der in- finite canvas beschreibt die Expandierung der gedruckten Comicseiten hin zu ei- ner digitalen, (nahezu) unendlichen Leinwand bzw. Comicfläche. In Wares Touch

JJ 12 Vgl. auch McSweeney’s eigene Aussage hierzu: http://www.spacesofplay.com/2011/09/ touch-sensitive-by-chris-ware/ (letzter Zugriff: 29. August 2017). 13 Allein auf sechs Seiten des 16-seitigen Magazinformats nutzt Ware den ganzen Seitenbereich ausfüllende Panelarrangements mit einem nur sehr schmalen gutter. 14 Auffällig ist, dass Ware die Signatur, ein nicht unerhebliches Ausweis- und Erkennungs- merkmal von sogenannten Autor_innencomics, in seiner Reihe ACME Novelty Library auf den Buch- und Heftcovern ausspart. Lediglich ab 2006 mit ACME Novelty Library #17 fügt Ware sei- nen Namen mit dem Copyright-Schutzzeichen im Impressum auf den ersten Seiten der jeweili- gen Nummer ein.

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Sensitive lässt sich das ‚Comicband‘ als eine Variante der McCloud’schen infinite canvas verstehen. Mit jedem Wischen, das einen neuen Part dieses ‚Comicban- des‘ zeigt, füllen immer weniger Panels schon zu Beginn die Weißfläche aus, und der Hintergrund dominiert zusehends die jeweils neue Ansicht des ‚Comicban- des‘. Die Gemachtheit dieses digitalen Comics bietet durch das fortlaufende ‚Co- micband‘ auf zwei Weisen Reflexionspotenzial – in Bezug auf den Produktions- prozess eines Comics sowie auf die Auseinandersetzung der Rezipierenden mit dem Comic. Die Produktion wird in der Anlage des Comics nicht etwa dadurch thematisiert, dass die klassischen Arbeitsschritte – Skizze, Blaupause, Tuschen, Colorierung – sichtbar werden, sondern dadurch, dass sich die ‚Seite‘ erst all- mählich aufbaut, bis eine gefüllte Gesamtansicht des aktuellen Parts des ‚Co- micbandes‘ entstanden ist. Im gedruckten Comic gerät immer erst die gesamte Comicseite in den Blick der lesend Betrachtenden, erst dann können einzelne Pa- nels fokussiert und in eine Abfolge gebracht werden. In Wares digitalem Comic wird der Lese- und Betrachtungsfluss dagegen portioniert und somit die Entste- hung einer Comicseite, die ebenfalls (wenn auch nicht unbedingt in der späteren Rezeptionsabfolge) unweigerlich erst im Produktionsprozess arrangiert und ge- bildet werden muss. Es bleibt aber nicht bei der alleinigen Thematisierung des Aufbaus einer Co- micseite bzw. des ‚Comicbandes‘. Der Bestimmung des Fortgangs von Touch Sen- sitive durch das Wischen mit dem Finger ist ein spielerisches Moment inhärent, indem sich die lesend Betrachtenden die Frage stellen, was nach dem nächsten Fingerwisch folgen wird. Die animierten Panelsequenzen werden nur kurz wie- dergegeben, bevor auch diese zu unbewegten Panels erstarren. Hinzu kommt, dass sich die Rezipierenden nach dem Fingerwisch erst einmal orientieren müs- sen, welche Kompartimente nun neu hinzugekommen sind. Daher ist auch das Zurück-Wischen auf dem Display ein wichtiger Teil des Rezeptionsvorgangs, um im Vor, Zurück und wieder Vor die animierten Details sowie die Überlagerungen von Panels überhaupt wahrnehmen zu können. Diesem spielerischen Aspekt wohnt gleichermaßen auch ein horror vacui inne, der erfordert, die ungewohnte Leere der Comicseite zu füllen. In Touch Sensitive ergeben sich andere Strukturierungsmöglichkeiten für die bereits in der gedruckten Version thematisierten Panel-Text-Zusammenstellun- gen der Erinnerungsbilder: Nach der Startsequenz, die gleichzeitig die Rahmen- handlung für die aufkommenden Erinnerungen vorgibt – das Anziehen einer zu klein gewordenen Hose vor dem Spiegel im Schlafzimmer – startet man mit den drei rahmenlosen Erinnerungspanels, einer Spiegelansicht der unglücklich dreinblickenden weiblichen Figur in einer anderen, ebenfalls zu eng anliegenden

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Hose sowie begleitenden Textfeldern auf der weißen Grundfläche. Nach und nach werden weitere Bildfelder durch das Fingerwischen ergänzt, die einerseits den Beziehungsbeginn mit ihrem Freund, andererseits eine zufällige Berührung des Knies eines Arbeitskollegen zeigen. Doch dieser flüchtige Moment des kör- perlichen Kontakts wird durch das nächste Wischen durch weitere, vermeintlich schöne Erinnerungen an die Zeit, in der sich das Paar noch emotional und kör- perlich nahestand, überschrieben. Die beiden Panels am rechten unteren Dis- playrand stellen die frühere, schlankere Version der Protagonistin (rahmenlos) ihrem heutigen, molligeren Körper (gerahmt) gegenüber. Anders als im gedruckten Comic werden die in die Weißfläche eingefügten Erinnerungsbilder in der digitalen Variante einerseits von weiteren Erinnerungs- fragmenten komplett verdeckt (siehe Abb. 4), andererseits überlappen diese sich auch gegenseitig (siehe Abb. 5). Die umrandeten Panels des aktuellen Hand- lungsstranges bilden aber immer die vordergründigste Ebene. Über das Zusam- menspiel von Transparenz und Opazität wird dadurch in der Panelrahmung, -anordnung und -abfolge neben der Gemachtheit des Comics auch der Status als Vergangenes und damit buchstäblich als In-den-Hintergrund-Tretendes oder gar Verdrängtes bzw. Verschwindendes zusätzlich mitreflektiert, was so nur in der digitalen Variante des Comics möglich ist.

Abb. 4: Erinnerungsbilder 1 aus Chris Wares und John Kuramotos Touch Sensitive (2016). © Chris Ware 2018.

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Abb. 5: Erinnerungsbilder 2 aus Chris Ware und John Kuramotos Touch Sensitive (2016). © Chris Ware 2018.

Abb. 6: Laden von Erinnerungsfragmenten (Zukunftsszene) aus Chris Ware und John Kuramotos Touch Sensitive (2016). © Chris Ware 2018.

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In der Schlusssequenz von Touch Sensitive wird über die aufgeführten Möglich- keiten des Digitalen hinaus noch einmal im Speziellen das poietische Potenzial der digitalen Animation herausgestellt. Die weibliche Figur aus der Zukunft ver- sucht das Erinnerungsfragment neu zu laden (siehe Abb. 6) und ist sichtlich ge- nervt, dass es zu Wartezeiten kommt. Das ‚Comicband‘ endet an dieser Stelle mit dem Blick auf die weibliche Figur, ihrem futuristischen Helm und der Berührung des Displays an der Stelle, an der das Abspielen hakte – der Ansicht der Hoch- bahn von außen. Diese Ansicht, die auf dem Helm nur schemenhaft wahrgenom- men werden kann, wird links neben der Figur noch einmal als rahmenloses Panel und mit der Aufschrift „Loading“ aufgegriffen. Rechts neben der Figur ist ein Drit- tel des Weißraumes nicht ausgefüllt, weswegen lesend Betrachtende versuchen, den verbliebenen Weißraum zu füllen und die Geschichte noch weiter voranzu- treiben. Doch vergebens – an dieser Stelle hilft kein Fingerwischen mehr – die Geschichte scheint zu einem Ende gekommen zu sein. Die Striche des „Loading“- Zeichens im Panel mit dem Waggon sind fast unmerklich animiert und verändern sich nach kurzer Ladezeit in ein „Play“-Zeichen, das nur aufmerksame Rezipie- rende wahrnehmen dürften. Die weibliche Figur macht es mit ihrem Helm vor: Die Rezipierenden müssen auf das rahmenlose Panel mit dem Play-Zeichen kli- cken, um zur letzten Weißfläche des Comics und damit zurück in die Gegenwart der Protagonistin aus dem Chicagoer Mietshaus zu gelangen. Hier sieht man die Hochbahn abfahren und den abgehetzten Partner der Frau aus dem Mietshaus, der sich für sein Fehlverhalten ihr gegenüber entschuldigen möchte, dafür aber zu spät am Gleis ankommt. Der Comic könnte auch problemlos mit der vorhergehenden Zukunftsszene enden (vgl. Kashtan 2015, 442–443) – doch das Ladezeichen markiert in einem Überschlag von diegetischer Ebene zur Nutzungsoberfläche eines digitalen de- vices nochmals die mediale Distinktion dieses Comics, indem ein Ladeprozess eingebaut wird, der auf das digitale Medium verweist. Wie Ramón Reichert zu ausführt, greifen „[m]edienreflexive Comics“ – zu denen meines Er- achtens Touch Sensitive durch die letzte Szene gehört – „Meta-Diskurse zu elek- tronischen Texten auf und erinnern uns daran, dass digitale Comicerzählungen auch Prozesse von Datenverarbeitung sind“ (2011, 136). Im Ladezeichen treffen sich opake und transparente Qualitäten: Einerseits wird auf die Digitalität und das genutzte device verwiesen, andererseits wird die Geschichte durch das Tip- pen der lesend Betrachtenden voran und zu einem Ende getrieben. Gleichzeitig beschreibt dieses Spannungsverhältnis von Opazität und Transparenz auch das Beziehungsgefüge zwischen Comic und Animation bei Chris Ware. Der digitale Comic transportiert neben den sehr kurzen animierten Panelinhalten sowie den sich nach und nach aufbauenden Panelarrangements vor allem statische Panels;

192 : Nina Heindl doch in der Ladesequenz am Ende von Touch Sensitive werden die zusätzlichen Möglichkeiten der Animation betont ausgestellt.

Abb. 7: The New Yorker-Cover Mirror vom 7. Dezember 2015 (Ware 2015). © Chris Ware 2018.

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Gemachtheit in MOVING IMAGES (2015)

Auch die Animation MOVING IMAGES,15 die 2015 im Zusammenhang mit dem Maga- zin The New Yorker und der Radiosendung This American Life entstand, ist – wie bereits Touch Sensitive – gemeinsam mit dem Animator John Kuramoto ko-pro- duziert. Zu der The New Yorker-Ausgabe vom 7. Dezember 2015 hat Chris Ware die Covergestaltung unter dem Titel Mirror beigesteuert (siehe Abb. 7). Darauf sind eine mit hochgezogenen Augenbrauen leicht skeptisch blickende Frau und ein mit weit geöffneten Augen staunendes Mädchen zu sehen, die sich roten Lippen- stift aufgetragen haben und diesen jeweils noch in den Händen halten. Die Be- trachtenden schauen den weiblichen Figuren mittig über die Schulter, wodurch sich der Blick auf die beiden frontal im Spiegel ergibt. Die Position der Figuren und ihr Spiegelbild stimmen nicht gänzlich überein – sie müssten sehr viel enger, fast Schulter an Schulter, nebeneinanderstehen, um die spiegelbildliche Haltung generieren zu können. Durch die stärkere räumliche Trennung der beiden Figu- ren vor dem Spiegel wird den Betrachtenden aber die freie Sicht auf den Spiegel gewährt und zudem wird das hochformatige Cover durch die beiden halb ange- schnittenen weiblichen Figuren gerahmt. Am Spiegel ist mit Klebestreifen ein schemenhaftes Foto, das eine Frau mit Kleinkind zeigt, befestigt – durch diese Fotografie sowie die normativ und affektiv aufgeladene Thematik des Schmin- kens liegt die Vermutung nahe, dass das Titelbild Mutter und Tochter zeigt. Dieses Thema ist insofern irritierend, da Wares Titelgestaltungen für den New Yorker meist einen kritischen und zum Nachdenken anregenden Impetus in sich bergen, die sich erst in näherer Auseinandersetzung mit dem Cover erschließen lassen. So zeigt die New Yorker-Ausgabe mit dem Titel Happy Mothers’ Day vom 13. Mai 2013 beispielsweise zwei Mütter, die sich gemeinsam über die Muttertags- karte ihrer drei Kinder freuen;16 auf dem Cover vom 10. November 2014 namens Protocol sind besorgte Eltern mit ihren Kindern zu sehen, wie sie im Wartebereich der angeschlossenen ‚Klinik‘ eines Supermarktes zwischen leeren Chipstüten und anderen Utensilien für die Grippeschutzimpfung ausharren und versuchen, das eigene Kind von den anderen Anwesenden abzuschirmen.17 Bei Mirror er- scheint diese wesentliche Nuance zu fehlen – eine Mutter schminkt sich gemein-

JJ 15 Gestaltung: Chris Ware, Animation: John Kuramoto, Musik: Nico Muhly, musikalische Um- setzung: Nathan Schram (Violine), Fritz Myers (Klavier). 16 Online verfügbar unter http://www.newyorker.com/culture/culture-desk/cover-story- happy-mothers-day (letzter Zugriff: 29. August 2017). 17 Online verfügbar unter http://www.newyorker.com/culture/culture-desk/cover-story-2014- 11-10 (letzter Zugriff: 29. August 2017).

194 : Nina Heindl sam mit ihrer Tochter. Lediglich der nachdenklich gestimmte Blick der Mutter verrät vermeintliche Besorgnis oder Skepsis. Unter Einbezug der Coverstory, in der Ware auf der Webseite des New Yorkers die Hintergründe zu seiner Titel- gestaltung darlegt, erklärt sich jedoch der persönliche Bezug des Künstlers zum Thema. Er berichtet von seiner Tochter Clara, die sich in diesem Jahr in Ergän- zung ihres Halloweenkostüms schwarzen Lippenstift und grünen Lidschatten aufgetragen hatte, was Ware als „,scary/sexy‘ makeup“ (Ware 2015, o.S.) kom- mentiert. Hintergrund für diese Kostümidee war, so Ware, dass seine Tochter das Tragen von Lippenstift austesten wollte: „But now, dear God, she wanted to see what it looked and felt like herself—the first application of a fiction to mask her remaining few months of childhood“ (Ware 2015, o.S.). Diese Episode aus der Vater-Tochter-Beziehung, in der der Vater der zehnjährigen Tochter das Schmin- ken ausreden möchte, wird zur feministischen Grundsatzdebatte, in der er sich die eigene heteronormative Prägung geschlechtlicher Stereotype vor Augen hält. Der besorgte Blick könnte also dem Bewusstwerden der Mutter geschuldet sein, dass das eigene Kind älter aussehen möchte und sich, auf ihre Erscheinungs- weise bezogen, nun an einem medial vermittelten Frauenbild orientiert. Mit dem Cover geht noch ein weiterer Bestandteil zur Interpretation einher: die Animation MOVING IMAGES . Es handelt sich um die Visualisierung eines Inter- views des Moderators Ira Glass und der US-amerikanischen Journalistin und Au- torin Hanna Rosin, das für die Folge Regrets We Have a Few der Radiosendung This American Life gedacht war, aber nicht verwendet wurde. This American Life ist eine wöchentliche, einstündige Radioshow unter einem speziellen themati- schen Fokus und wird von Chicago Public Radio produziert und ausgestrahlt. Als Podcast und Stream auf der Webseite der Sendung ist sie darüber hinaus auch einem weltweiten Publikum zugänglich. In dem besagten Gespräch berichtet Hanna Rosin von einer Situation mit ihrer 13-jährigen Tochter Noa Rosinplotz, die sie noch heute beschäftigt und beschämt: 2015 wollte Noa sich zu Halloween als Hillary Clinton verkleiden und legte hierfür auch Schminke auf. Als die Mutter das Ergebnis betrachtet, lässt sie sich zu der Bemerkung hinreißen „Wow, you look so much better“, was sie aufgrund der damit einhergehenden Implikationen – etwa dass ihre Tochter nicht hübsch genug sei und durch Schminke bestimm- ten Schönheitsidealen entsprechen sollte sowie der Gefahr, das Selbstbewusst- sein der Tochter zerstört zu haben – sofort bereut und ungeschehen machen möchte. Sie malt sich aus, wie Noa in therapeutischer Behandlung noch immer mit der Aussage zu kämpfen hat und das Gefühl nicht loswird, dass sie das häss- liche Entlein der Familie sei. Auf Ira Glass’ Frage, was Noa auf diese Aussage ent- gegnet habe, antwortet Hanna Rosin, dass sie so etwas vermutlich nicht zu ihrer 13-jährigen Tochter sagen sollte. Auf Glass’ Frage, ob Noa noch über den Fauxpas

Opazität und Transparenz : 195 der Mutter nachdenken würde, stellt Rosin die Vermutung an, dass das Mädchen diesen wohl schnell wieder vergessen hat. Telefonisch dazu geschaltet erklärt die Tochter, dass sie dem Ausspruch der Mutter tatsächlich nicht viel Bedeutung bei- gemessen hat. Zum Abschluss fügt sie jedoch hinzu: „I don’t think it wrecked me, but it might come up in the future, you never know“. Hanna Rosin lacht darauf- hin laut los und Ira Glass fragt nach, ob sie gerade ihre Mutter damit aufziehen würde, woraufhin Noa ebenfalls laut lachen muss. Mutter und Tochter haben also einen humorvollen Weg gefunden, mit der unangenehmen Situation, die un- ter dem Motto Regrets We Have a Few steht, umzugehen. Die dreieinhalb-minütige Animation von Ware und Kuramoto liefert eine an- spielungsreiche Visualisierung zu diesem Radiointerview um die zwei real exis- tierenden Personen Hanna Rosin und Noa Rosinplotz und den Bericht einer Situ- ation in ihrem Leben. Dies wird zum Ausgangspunkt genommen, um auch mit dem transmedialen sowie erzählerischen Potenzial des Covers vom New Yorker, der, wie Ware beschreibt, „arguably the primary venue for complex contempo- rary fiction around“ (2015, o.S.) ist, zu experimentieren. Die Animation beginnt mit dem New Yorker-Cover, wobei der gewählte Ausschnitt für das Titelbild nach wenigen Sekunden zum Fenster hin verbreitert wird und zu einer Raumansicht umschwenkt. Zu sehen sind in dieser kurzen ersten Sequenz ein zweidimensio- naler Halloween-Kürbis, der im Fenster platziert ist, ein leicht geöffneter Kleider- schrank und ein Spiegel, der den Blick auf ein Poster von Hillary Clinton über dem Schreibtisch hängend frei gibt. Die Kostümierung und der Anlass hierfür werden also visuell markiert, auch wenn sie vorerst nicht weiter in die Handlung eingebettet werden. Die beiden Protagonistinnen stehen weiterhin wie eingefro- ren in der Ausgangsposition des Covermotivs, lediglich die Perspektive ändert sich und es wird eine Kamerafahrt durch das Zimmer suggeriert, die mit der Au- ßensicht durch das Fenster endet. Auf diese Startsequenz mit ‚realistischer‘ Figu- rendarstellung folgt die restliche, abstrakter gehaltene Animation mit Figuren, die sich vornehmlich aus einfachen geometrischen, meist runden Formen zusam- mensetzen. Mutter und Tochter werden nebeneinanderstehend gezeigt, während von den Rezipierenden aus gesehen links der Schmink- und Verkleidungsvor- gang vergrößert und weiter stilisiert wird. Die Reaktion der Tochter und die wei- teren Ausführungen Rosins, dass Noa sehr erwachsen, bedacht und rücksichts- voll reagiert habe, um der Mutter nicht ein noch schlechteres Gefühl zu geben, werden durch zwei miteinander verschränkte Bereiche visualisiert: Rechts steht die Tochter mit dem roten Blazer ihres Hillary-Clinton-Kostüms neben der Mutter, links steht sie in eben diesem Blazer im Presseraum des Weißen Hauses und gibt gerade eine Pressekonferenz, bei der sie die anwesenden Personen hintereinan- der zu Wort kommen lässt und deren Fragen beantwortet.

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Darauf folgt eine Sequenz, in der nach und nach der schwarze Hintergrund durch zwölf Bilder mit jeweils für sich animierten Momenten der innigen Mutter- Tochterbeziehung erscheinen. Auf Ira Glass’ Frage, ob die Aussage Noa wohl ver- letzt habe, folgt Hanna Rosins Erklärung, warum es ihr besonders leidtut. Sie denkt nicht, dass es die Tochter getroffen habe, doch sie befürchtet, dass sie die Aussage der Mutter nicht vergessen wird und doch darüber nachdenkt, dass sie etwas an sich verändern müsse, um attraktiver zu werden. Diese Erklärung wird durch eine Szene mit Blick auf das Wohngebäude von Hanna und Noa visuell untermalt. Eine Seite wird umgeblättert – hierbei handelt es sich durch Layout und Gestaltung erkennbar um den New Yorker – und es wird nochmals das Bild der Tochter bei der Therapie aufgerufen, bevor der Fokus auf den Längsschnitt des Wohngebäudes gelegt wird. Noa fährt mit dem Fahrstuhl in die Lobby und geht nach draußen. Vor dem Wohngebäude angekommen, macht eine Gedan- kenblase deutlich, dass sie noch über das Schminken und die Aussage der Mutter nachdenkt – anders als es Hanna Rosin in der Tonspur für ihre Tochter ein- schätzt. Die letzte Sequenz, in der Noa telefonisch zugeschaltet wird, zeigt die Tochter auf einer Parkbank sitzend und Tauben fütternd. Die Mutter setzt sich daneben und beide lehnen sich aneinander, während die Szene zu einem alter- nativen Cover des New Yorkers vom 7. Dezember 2015 transformiert wird. Damit wird der Animation und dem Interview ein glückliches Ende beigegeben, bei dem deutlich wird, dass Mutter und Tochter sich gegenseitig Fehltritte erlauben, sich gegenseitig aufziehen und weiterhin sehr innig miteinander sein können. In dieser Animation ergeben sich einige Bezugspunkte zum Medium Comic sowie zum Heftformat des New Yorkers, wodurch auf die Gemachtheit der ani- mierten Bilder im Kontext ihrer Entstehung sowie gleichermaßen ihrer Erschei- nungsweise als Bewegtbilder verwiesen wird. Eine sehr auffällige formale Analo- gie zwischen der Animation und dem Medium Comic wird bei dem schwarzen Frame gezogen, der sich nach und nach mit zwölf animierten Bildfeldern füllt, die schöne Momente der Mutter-Tochter-Beziehung zeigen (siehe Abb. 8). Die Mutter steht, mit dem Rücken zu den Rezipierenden, zu Beginn noch am rechten Framerand und verschwindet mit der Zunahme der animierten Panels allmählich in einer Überblende. Dadurch, dass diese Bildfelder nacheinander erscheinen, stellt sich eine ähnliche Konstellation ein wie bereits beim sich nach und nach füllenden ‚Comicband‘ in Touch Sensitive. Der Unterschied liegt hier vor allem darin, dass jedes der zwölf Panels animiert ist und durch die Fülle der unter- schiedlichen Bewegteindrücke nicht alles in der kurzen Zeit der Einstellung (ins- gesamt elf Sekunden) wahrgenommen werden kann. Wenn man also die animier- ten Handlungsabfolgen aller Panels in Augenschein nehmen möchte, muss diese Sequenz mehrfach wiedergegeben werden. In diesem Umstand spiegeln sich die

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Abb. 8: Frame mit Bewegtbildern aus MOVING IMAGES (2015). © Chris Ware 2018. opaken und transparenten Qualitäten der Animation an der Schnittstelle zum Co- mic wider. Einerseits werden die spezifischen Möglichkeiten der Animation – die Generierung von Bewegung – ausgestellt und sogar durch die simultanen Bewe- gungsfelder gesteigert, sodass die Rezipierenden die Details gar nicht mehr wahr- nehmen können. Andererseits scheinen in der Animation die formalen Charakte- ristika des Mediums Comic – die Panels mit Gutter (mit Vorgabe der gängigen Rezeptionsreihenfolge von links oben nach rechts unten) – durch. Über diese Verbindung zwischen Animation und Comic hinaus wird auch das Magazin The New Yorker mehrfach in seiner medialen und materiellen Erschei- nungsweise thematisiert, etwa in der Rahmung durch das tatsächliche Covermo- tiv der Ausgabe am 7. Dezember 2015 zu Beginn und der alternativen, nicht reali- sierten Version am Ende. Beim Lesen des New Yorkers auf digitalem Wege, beispielsweise auf einem Tablet oder Smartphone, kann die Animation zudem direkt durch Drücken des Play-Knopfes auf dem Cover der Ausgabe gestartet wer- den. Auch das Innenleben des New Yorkers findet seinen Niederschlag in der Ani- mation MOVING IMAGES. In der Therapieszene wird der typische New Yorker-Car- toon stilistisch adaptiert: ein Bild in Schwarz/Weiß oder Grautönen mit einem begleitenden Textfeld, das Figurenrede und die humorvolle Pointe, die das Bild erklärt, beinhaltet. In MOVING IMAGES findet sich in der Figurenrede des adaptier- ten New Yorker-Cartoons allerdings keine witzige Pointe wieder. Die dargestellte Tochter spricht lediglich das aus, was die Mutter befürchtend im Interview ver- balisiert: „and then there was that moment and, you know, that’s when I realized

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that my mom thought I was the ugly duckling of the family“ (MOVING IMAGES, ab 00:50 min). In der späteren Szene, in der die Therapiesitzung noch einmal vor- kommt – und zwar bezeichnenderweise im Vorgang des Umblätterns einer Seite – wird der Cartoon nicht nur als solches stilistisch adaptiert, sondern in das Lay- out des New Yorkers eingebettet (siehe Abb. 9): Rechts neben dem Cartoon wird ein Auszug des Interviews zwischen Ira Glass und Hanna Rosin verschriftlicht und in der klassischen Typographie des Magazins wiedergegeben. Die Animation greift den New Yorker demnach in der typischen Covergestaltung, in Layout und Charakteristika des (gedruckten) Magazins auf. Darüber hinaus spiegelt sich auch eine inhaltliche Komponente, der Abdruck zeitgenössischer Kurzgeschich- ten, durch die Verschriftlichung des in der Animation gehörten Interviews wider.

Abb. 9: Szene des Umblätterns aus MOVING IMAGES (2015). © Chris Ware 2018.

Neben den Verschränkungen mit dem Medium Comic und den Entlehnungen aus dem (gedruckten) Magazin wird aber auch auf die Gemachtheit der Animation selbst verwiesen, insbesondere in der Schmink- und Verkleidungsszene, die durch ihren Verweis auf das New Yorker-Cover einen zentralen Stellenwert ein- nimmt. Hier wird im Prozess des Schminkens innerhalb des Erzählflusses gleich- zeitig auch das Zeichnen bzw. der Malprozess, der dieser Animation zugrunde liegt, sowie der formale Aufbau der Sequenz mitreflektiert. Zu Beginn ist lediglich ein hautfarbener Kreis im schwarzen Frame zu sehen, der erst durch die nach und nach hinzugefügten Bestandteile der Augen mit Wimpern und dem Mund als Ge- sicht auszumachen ist. Das stark abstrakt gehaltene Gesicht der Tochter, das sich

Opazität und Transparenz : 199 aus flachen, geometrischen Formen zusammensetzt, tritt also erst im Vorgang des Schminkens in Erscheinung. Zudem wird der Lippenstift mit einem Sprühef- fekt ‚aufgetragen‘, was nicht dem konventionellen Vorgehen mit einem Lippen- stift entspricht (siehe Abb. 10). Wie Clark Farmer (2006, 339) feststellt, sind der digital erzeugten Farbe keine Grenzen in der Nachahmung von Materialien und Texturen gesetzt. In der Lippenstiftszene von MOVING IMAGES wird aber ganz im Gegenteil hierzu die Lippenpartie mit dem aus Bildbearbeitungsprogrammen be- kannten Spraypainteffekt gefüllt. Damit wird auf die Gemachtheit der Computer- animation verwiesen – auch im ganz grundlegenden Sinne der Animation, wie sie Esther Leslie als „the inputting of life, or the inputting of the illusion of life, into that which is flat or inert or a model or an image“ (2014, 28) fasst.

Abb. 10: Schminkszene aus MOVING IMAGES (2015). © Chris Ware 2018.

Fazit: Poietisches Potenzial in Chris Wares Comics und Animationen

In Chris Wares Comics und Animationen wird deren Gemachtheit durch verschie- dene Strategien reflektiert und durch Verweise auf die Entstehungsvorgänge im späteren Rezeptionsprozess erfahrbar gemacht. Dieses poietische Potenzial zeigt sich in der gleichzeitigen Transparenz und Opazität der Werke. Einerseits eröff- nen sich in ihnen in scheinbarer Durchlässigkeit transparente Sichten auf eine

200 : Nina Heindl andere Welt; andererseits kommen ihnen auch opake Qualitäten zu, die ihre ma- terielle Erscheinung und dingliche Präsenz betonen. Die Thematisierung der Ge- machtheit steht jedoch nicht losgelöst für sich, sondern wird für die zu erzäh- lende Geschichte fruchtbar gemacht. In Building Stories von 2012 zeigt sich dies etwa in einem immer wiederkeh- renden, aber kleinen Detail, den rahmenlosen Panels, die zur Markierung von Er- innerungen und Vergangenem Verwendung finden. In ihnen wird der prozessu- ale Gestaltungsakt des Comics thematisiert, in dem außerdem comichistorische Bezüge sowie eine metaphorische Dimension angelegt sind. Ähnliche Mechanis- men von Transparenz und Opazität nutzt Ware auch in seinen digitalen Comics und Animationen. Touch Sensitive, der teilanimierte digitale Comic von 2011, ver- schränkt neben den auch im gedruckten Heft in Building Stories verwendeten Er- innerungsbildern außerdem das Grundthema der zwischenmenschlichen Nähe mit der Displayberührung der Rezipierenden und macht durch die subtile panel- interne Animation die medialen Möglichkeiten im Umgang mit Bewegtbildern er- fahrbar. Die Animation von 2015, die in unmittelbarer Beziehung zum Magazin The New Yorker und der Radiosendung This American Life entstanden ist, stellt Bezüge zwischen dem Medium Comic und dem Magazin The New Yorker her. Dar- über hinaus schaffen Chris Ware und John Kuramoto eine diffizile Verschrän- kung zwischen dem Gezeigten, dem formalen Aufbau der animierten Sequenz so- wie dem vorhergehenden Zeichen- und Malprozess.

Literaturverzeichnis

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Bettina Papenburg Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus für bildgebende Verfahren und digitale Animationen in den Lebenswissenschaften

Abstract: Das Dokumentarische ist eine Autorisierungsstrategie (vgl. Rosen 1993; Balke/Fahle 2014) und ein Lektüremodus (vgl. Odin 2012 [1984]). Der vorliegende Beitrag setzt sich mit den Theorien des Dokuments, des Dokumentarischen und des Dokumentarfilms auseinander, um Einsichten in die Autorisierungsstrate- gien und Lektüremodi des bildgebenden Verfahrens des live-cell imaging und ei- nes populärwissenschaftlichen Dokumentarfilms, der überwiegend aus animier- ten Bildsequenzen besteht, zu gewinnen. Neben dem dokumentarischen Anspruch – sprich: dem Erkenntnis-, Wahrheits- und Beglaubigungsanspruch – haben die bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften mehr als nur die computergestützte Herstellungsweise mit dem animierten Dokumentarfilm ge- mein. Der Vergleich der beiden Bildformate rückt einerseits die Probleme der Spur und der Deixis als zwei Dimensionen der Indexikalität in den Mittelpunkt. Andererseits stellen beide Formate das Gemachte aus, verdecken aber zugleich ihre Herstellungsprozesse: Eingeweihten erschließen sich die Erzeugungsmecha- nismen, während die Fabrikationstechniken für Lai_innen verborgen bleiben. Beide Gruppen von Rezipierenden erkennen die verschiedenen Bildformate je- doch als ‚Dokumente‘ an und rezipieren sie im Modus des Dokumentarischen. Das Dokumentarische bleibt also eine offene und kontextgebundene Kategorie, deren Vermögen zur Erkenntniserzeugung und Evidenzproduktion weiterhin auszuloten ist.

 Dr. Bettina Papenburg, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Medienkulturwissenschaft, Werthmannstraße 16, 79085 Freiburg im Breisgau, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Bettina Papenburg, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-009

204 < Bettina Papenburg

Einleitung

Dem Dokument kommt in vielen wissenschaftlichen Disziplinen eine Schlüssel- rolle in Prozessen der Erkenntniserzeugung, der Wahrheitsfindung und der Be- glaubigung wissenschaftlicher Autorität zu. Rezipierende identifizieren Bild-, Ton- und Texterzeugnisse aufgrund einer besonderen Formensprache als Doku- mente. In den Lebenswissenschaften werden Forschungsergebnisse mittels bild- gebender Verfahren wie beispielsweise der Radiografie, der Positronenemissi- onstomografie (PET) und der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) erzeugt und dokumentiert. Die Zellforschung erfasst intra- und interzelluläre Pro- zesse seit den frühen 1990er Jahren mithilfe des live-cell imaging (auch Lebend- Zell-Mikroskopie genannt). Der Begriff live-cell imaging umfasst Verfahren der Zeitraffer-Mikroskopie wie die Fluoreszenzmikroskopie, die Lichtblattmikrosko- pie und die konfokale Laser-Scanning-Mikroskopie, die es ermöglichen, Entwick- lungsprozesse in transluzenten Organismen und die Dynamiken in Zellkulturen und einzelnen Zellen sichtbar zu machen und aufzuzeichnen. Die Bilder, die mit- tels einer komplexen Apparatur erzeugt werden, die aus Computern, Lasern, Scannern und Mikroskopen besteht, fungieren sowohl als Erkenntnismedien wie auch als beweiskräftige Dokumente. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die Live-Cell-Bilder ge- macht sind. Klassische Arbeiten der nordamerikanischen Wissenschaftsphiloso- phie und der europäischen Wissenschafts- und Technikforschung haben für die Herstellung wissenschaftlicher Bilder die unauflösliche Verflechtung zwischen Darstellen und Eingreifen, zwischen Repräsentation und Intervention betont (vgl. Hacking 1983; Latour 1986; Lynch 1994; Lynch/Woolgar 1990). Wissen- schaftliche Vorstellungskraft, so argumentierte der französische Wissenschafts- soziologe Bruno Latour (1986), sei ein Denken mit Augen und Händen, ein „thin- king with eyes and hands“. Neuere Arbeiten heben die Herstellung neben der Verbreitung und dem Gebrauch als eine der drei Schlüsseldimensionen wissen- schaftlicher Bilder hervor (vgl. Burri/Dumit 2008). Wie werden wissenschaftliche Bilder zu Dokumenten? Wie erlangen Bilder Autorität? Welche Rolle spielt dabei das Gemachte? Live-Cell-Bilder, so die hier vertretene These, erlangen ihre wissenschaftliche Autorität im Rezeptionspro- zess. Rezipierende ziehen Rückschlüsse auf die Produktions- und Zirkulations- prozesse der Bilder anhand spezifischer Anhaltspunkte, die den Herstellungspro- zess nachvollziehbar machen und die Aussagekraft der Bilder beglaubigen. Die Kriterien der Reliabilität und der Validität gewährleisten, dass die Herstellung transparenten und expliziten Standards folgt, die von der Fachgemeinschaft fest- gelegt werden. Der Prozess der Herstellung wird dokumentiert und gegenüber

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 205 der Fachgemeinschaft offengelegt. Die verwendete Fachsprache verdunkelt den Herstellungsprozess für Nicht-Eingeweihte. Für Lai_innen gewinnen Live-Cell- Bilder ihre Autorität über den Rezeptionskontext. Lai_innen deuten spezifische Merkmale, die der Rezeptionskontext anbietet, wie der Beitrag ausführen wird, und nehmen über die Interpretation dieser Merkmale eine Einordnung vor. Beide Gruppen schreiben Live-Cell-Bildern das Vermögen zu, Aussagen über natürliche Phänomene zu belegen, ein Vermögen, dass seine Kraft überraschenderweise aus der Ausstellung der Gemachtheit der Bilder bezieht. Jene populärwissenschaftlichen Dokumentarfilme, die zur Veranschauli- chung komplexer sub-mikroskopischer Phänomene animierte Sequenzen integ- rieren, die sich zeichnerischer Verfahren bedienen oder Spezialeffekte aus dem Blockbuster-Kino entleihen, legen gleichfalls ihre Künstlichkeit offen. Wenn- gleich die populärwissenschaftlichen Dokumentarfilme ihre Gemachtheit nicht in ebenso ausdrücklicher Form präsentieren wie die Live-Cell-Bilder, so machen sie doch eine unauflösliche Spannung spürbar, die sich aus dem Zusammen- schluss der artifiziellen Form der Darstellung und der Natürlichkeit der darge- stellten Phänomene speist. Sie stellen natürliche Phänomene dar, die mithilfe na- turwissenschaftlicher Methoden erforscht wurden, bedienen sich jedoch dazu einer Darstellungsweise, die sich als explizit künstlich ausweist. Der vorliegende Beitrag zeichnet zunächst die Auseinandersetzung mit den Begriffen des Dokuments und des Dokumentarischen in der film- und medien- wissenschaftlichen Diskussion nach. Dabei werden insbesondere Fragen nach der Autorität und Indexikalität des Dokuments angesprochen. Sodann werden der Herstellungs- und der Rezeptionsprozess ausgewählter Bewegtbilder analy- siert, die mithilfe des Live-Cell-Imaging-Verfahrens hergestellt wurden, mit dem Ziel aufzuzeigen, wie die Bilder zu Dokumenten avancieren. Die Frage nach dem Gestus des Dokumentarischen wird in einem nächsten Schritt mithilfe des semio- pragmatischen Ansatzes, der die Filmerfahrung über verschiedene Lektüremodi perspektiviert, und des filmphänomenologischen Ansatzes diskutiert. Die Darle- gung der Ergebnisse der filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit klassi- fikatorischen Überlegungen zu den dokumentarischen Modi bindet die rezepti- onsästhetischen Ansätze an klassische Texte der französischen und britischen Dokumentarfilmforschung an. Die Betrachtungen zu Fragen der Filmerfahrung und zu Problemen der Klassifikation spannen den Rahmen für die Diskussion der spezifischen Form des animierten Dokumentarfilms auf, einer Kategorie, die zu- nächst paradox erscheint. Die paradoxe Natur dieser Form wird mithilfe des Be- griffs des subjunctive documentary konturiert, ein Begriff, der für Überlegungen zum Changieren des populärwissenschaftlichen Dokumentarfilms zwischen dem Spekulativen und dem Autoritativen richtungsweisend werden wird. Diese

206 < Bettina Papenburg

Pendelbewegung, so wird anhand der exemplarischen Analyse des Films OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (2012) gezeigt werden, vollzieht sich im Spannungsfeld heterogener Bildformate wie Animation und Realfilm, Spiel- film und Dokumentarfilm und rückt Fragen nach der Ästhetik des Gemachten in den Fokus.

Das Dokument und der Gestus des Dokumentarischen als Autorisierungsstrategie

Der Filmhistoriker Philip Rosen hat zwei Facetten der Bedeutung des Begriffs des Dokuments identifiziert: zum einen stellt Rosen die Funktion des Dokuments zu unterrichten, zu unterweisen und zu warnen heraus. Zum anderen betont Rosen die Beweis-, Aufzeichnungs- und Evidenzfunktion:

According to the 1933 edition of the Oxford English Dictionary (OED), the noun „document“ entered the English language by the mid-fifteenth century with two chief deviations from its Latin and Old French roots, now obsolete. One of these interrelated semantic clusters has to do with teaching and/or warning, and the other with evidence or proof. (Rosen 1993, 65–66)

Rosen hebt die Doppelfunktion des Dokuments hervor: einerseits fungieren Do- kumente als Unterweisungsmedien in Lehr- und Lernkontexten. Andererseits kommt Dokumenten sowohl in professionellen Zusammenhängen – man denke etwa an die Gerichtsverhandlung oder an die medizinische Diagnose- und Be- handlungspraxis – als auch in wissenschaftlichen Kontexten – wie in der Praxis der Verschriftlichung von Forschungsergebnissen – eine Schlüsselrolle als Be- weismittel zu. Präzise nachgewiesen hat Rosen die enge Verbindung zwischen den Begrif- fen der Autorität und der Authentizität in der Etymologie der Substantive document – dt. das Dokument – und documentary – dt. das Dokumentarische, im Englischen seit dem 19. Jahrhundert ein Synonym für Dokumentation, wie Rosen darlegt, ein Modus, der in der Ausgabe des Oxford English Dictionary von 1989 auch den Dokumentarfilm miteinschließt. Rosen hat den Bedeutungswandel von der Referenz auf das geschriebene historische Dokument bis hin zur Einbezie-

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 207 hung des Films klargelegt.1 Die Bedeutungsfacetten des Dokuments, die auf den Dokumentarfilm übergehen, fasst Rosen treffend zusammen:

In the evolution of the idea of document, the connection of authenticity and authority goes beyond etymological kinship. The authority of documenting was first drawn from the power implicit in its denotations, that is, warning, admonishing, or teaching; it then became an evidentiary element in an argument or rhetoric; and currently, within a semantic history that seems linked to film, this authority can exceed even its modes of inscription, as a claim that achieves the authority of the real itself. (Rosen 1993, 67)

Die Medienwissenschaftler Friedrich Balke und Oliver Fahle setzen sich in ihrer Einführung in den Schwerpunkt „Dokument und Dokumentarisches“ der Zeit- schrift für Medienwissenschaft mit der zweiten Hälfte dieses Zitats von Rosen aus- einander. Die Autoren schreiben:

Bereits etymologisch verweist das Dokumentarische (lat. docere) auf eine fundamentale Ambivalenz, die es zwischen dem Versprechen auf ein perfektes Analogon, also eine au- thentische, evidente oder direkte Wirklichkeitswiedergabe auf der einen und einer oft nur schwer greifbaren Mitteilungs- und Zeigeabsicht sowie den damit verbundenen Selek- tions-, Rahmungs- und Signiermechanismen auf der anderen Seite changieren lässt. (Balke/Fahle 2014, 11)

Auf dieses Schillern zwischen der Inskription und der Deixis, das Balke und Fahle hier ansprechen, oder dem Index als Spur und dem Index als Hinweis, hat bereits Mary Ann Doane (2007a; 2007b) hingewiesen. Joshua Malitsky greift den Gedan- ken in seiner Einleitung zum Themenheft „Science and Documentary“ des Jour- nal of Visual Culture auf. Malitsky fordert, die Bedeutung wissenschaftlicher Filme für die dokumentarische Filmtradition anzuerkennen. Denn wissenschaft- liche Filme erlaubten es, einige Schlüsselkonzepte dieser Tradition – wie die In- dexikalität und das Reale – eingehender zu untersuchen:

TT 1 Rosen führt diese Erweiterung des Begriffs des Dokumentarischen auf den Film (und auf die Literatur) auf ein kulturelles Erfordernis zurück, das in den 1950er Jahren aufkam, und das darin bestand, das indexikalisch an seinen Gegenstand rückgebundene Reale zu benennen. Er schreibt: „[A] cultural conjecture requiring some designation of the field he [der Filmemacher und Dokumentarfilmtheoretiker John Grierson, mit dessen Ansatz sich Rosen hier auseinander- setzt, BP] named: an arena of meaning centering on the authority of the real founded in the in- dexical trace, various forms of which were rapidly disseminated at all levels of industrial and now postindustrial culture“ (Rosen 1993, 66; Herv. im Original).

208 < Bettina Papenburg

[T]hese [science] films do deserve consideration as a vibrant part of the documentary tradi- tion, a part that not only expands the bounds of the documentary but that also throws into relief and interrogates certain core concepts of that tradition. (Malitsky 2012, 239)

Insbesondere sehe sich der wissenschaftliche Film, Malitsky (2012, 247) zufolge, zwei Herausforderungen gegenüber: zum einen sei es ein Ziel des wissenschaft- lichen Films, Details zu verdeutlichen. Zum anderen ziele der wissenschaftliche Film darauf ab, Lebensprozesse in Echtzeit zu erfassen, so dass die Lebendigkeit (Malitsky spricht von „aliveness“) der dargestellten Körper für die Rezipierenden der Bilder erfahrbar werde. Die Antwort, die Malitsky für die theoretische Ausei- nandersetzung mit diesen beiden Herausforderungen anbietet, ist der Aufruf, die Doppelbedeutung der Indexikalität zum einen als Spur und zum anderen als Dei- xis zu berücksichtigen:

Conceiving of indexicality as force informed simultaneously by the logic of the trace and the logic of the deictic allows us to understand how isolation and clarification were wedded to animation in a way that was not in opposition to the index but that partook of its promise. (Malitsky 2012, 247)

Das Versprechen des Index, auf das sich Malitsky hier bezieht, liegt in der Vor- stellung von einem „Abdruck“ (Schelling 1806, XXIV)2 des Realen begründet und speist sich aus dem Glauben an den unauflöslichen Zusammenschluss des Rea- len und der physisch-materiellen Spur, die das Reale dem fotografischen oder fil- mischen Bildträger aufprägt – wenn sich beispielsweise im Aufnahmevorgang durch den Lichteinfall eine unauflösliche Veränderung in das Zelluloid des Film- streifens einschreibt. Das indexikalische Bild weist eine Spur von etwas auf, das einmal vor der Kamera anwesend war und jetzt abwesend ist. Die Isolations- und die Verdeutlichungsfunktionen, die Malitsky dem wis- senschaftlichen Film zuschreibt, hat auch der US-amerikanische Filmwissen- schaftler Scott Curtis für Zeichnungen und animierte Bilder in medizinischen Lehrfilmen hervorgehoben, die, als Pendant zu realfilmischen und fotografi- schen Aufnahmen, die relevanten Aspekte des dargestellten Phänomens beton- ten, Nebensächliches beiseite ließen und den betrachtenden Blick anleiteten (vgl. Curtis 2018). Diese Hervorhebung durch die Isolation des Bedeutungsvollen in einem spezifischen Kontext, auf die Curtis hier verweist, macht die deiktische Kraft des Index aus. Das animierte Bild im medizinischen Lehrfilm scheint auf-

TT 2 Über die „Copula“ (Schelling 1806, XXII), das Band zwischen dem Realen und dem Idealen, dem Endlichen und dem Unendlichen, der Materie und dem Universum, schreibt Schelling: „Das Band drückt in dem Verbundenen zugleich sein eignes in der Identität bestehendes Wesen aus. Dieses kann daher insofern als sein Abdruck bezeichnet werden“ (Schelling 1806, XXIV).

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 209 grund seiner spezifischen technischen Herstellungsform – ein mentales Konzept wird in ein gezeichnetes oder computergestützt erzeugtes Bild verwandelt – der Vorstellung vom Index als Spur zuwiderzulaufen. Hier hat sich nichts vor einer Kamera befunden; das animierte Bild im medizinischen Lehrfilm verweist viel- mehr auf etwas Hypothetisches, auf ein Bild im Kopf.

Autorisierung durch Indexikalität: Spur und Deixis im live-cell imaging

Im Unterschied dazu machen sich Filme, die im Labor mittels bildgebender Ver- fahren hergestellt wurden, sowohl den Evidenzaspekt als auch den Zeigeaspekt des Indexes zunutze. Einerseits erheben sie einen Beweisanspruch; im Zusam- menspiel mit Messdaten, Graphen und Diagrammen, die in naturwissenschaftli- chen Veröffentlichungen in den Text eingebettet sind, belegen sie Hypothesen über Phänomene der natürlichen Welt. Andererseits zeigen erst die Darlegung der Herstellungsweise der Bilder und die Verankerung der Bilder im erklärenden Text der Fachpublikation an, welche Bedeutung spezifischen Bildelementen und verschiedenen Bildfolgen zukommt. Ein Testfall für die Funktion wissenschaftlicher Filme als Beweismittel ist das live-cell imaging, ein bildgebendes Verfahren, mit dem die Zellforschung seit den 1990er Jahren arbeitet.3 Dieses Verfahren erlaubt es, lebendige Zellen unter dem Mikroskop über die Zeit hinweg zu beobachten und ihre Entwicklung aufzuzeich- nen. Damit wird es möglich, sowohl die Prozesshaftigkeit des zellulären Lebens zur Anschauung zu bringen als auch die interaktiven und dynamischen Prozesse innerhalb von Zellen herauszuheben und zu untersuchen. Zellen oder Zellorganellen werden mithilfe fluoreszierender Marker einge- färbt. Die Marker werden entweder direkt vor dem Mikroskopiervorgang auf die Zellkultur mittels einer Pipette aufgebracht oder sie werden mithilfe biotechno- logischer Verfahren in das Genom der Zellen eingeschleust. Unter dem Lichtmik- roskop werden die Zellen mit stark gebündeltem Laserlicht beschossen. Dieses Vorgehen, das auch als Aktivierung, Anregung oder excitation bezeichnet wird, veranlasst die Marker zur Photonenemission. Die Spuren der emittierten Photo-

TT 3 Für die technischen Einzelheiten dieses Verfahrens der Bildgebung siehe Goldman et al. 2010. Für eine wissenschaftshistorische Auseinandersetzung mit dem Verfahren des live-cell imaging vgl. Landecker 2012; für eine Erörterung des Verhältnisses von live-cell imaging und Animation am Beispiel der Embryologie vgl. Wellmann 2017.

210 < Bettina Papenburg nen zeichnet ein in das Mikroskop eingebauter Scanner in regelmäßigen Abstän- den als Standbilder auf. Spezielle Software, die auf einem mit dem Mikroskop verschalteten Computer installiert ist, setzt die Standbilder zu einer Filmsequenz zusammen. Die Software erlaubt auch ein ,Durchblättern‘ durch den Z-Stapel, das heißt durch Aufnahmen, die vertikale bildliche Schnitte durch das Objekt wiedergeben. Neben den Aufnahmen werden auf dem Computerbildschirm Mess- daten, Graphen und Diagramme ausgegeben. Alle diese Darstellungsformen zu- sammengenommen ergeben das, was in Fachkreisen als Datenvisualisierung be- zeichnet wird. Live-Cell-Bilder werden in Bildgebungszentren, wie dem Center for Ad- vanced Imaging (CAi) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hergestellt, an dem die Autorin dieses Beitrags im Rahmen einer Laborforschung hospitieren durfte. Der Film, der im Mittelpunkt der folgenden Diskussion steht, stammt al- lerdings aus dem Labor der Population Heterogeneity and Signal Transduction Group der Forschungsgruppe Biotechnologie des Forschungszentrums Jülich, ei- ner weiteren Station der Hospitanz. Die Population Heterogeneity and Signal Transduction Group untersucht Verhaltensvariationen verschiedener Bakterien- kulturen. Zudem erforscht sie die Signalübermittlung zwischen Molekülen in den Genomen von Boden- und Darmbakterien. Der Film mit einer Laufzeit von 35 Se- kunden ist einer naturwissenschaftlichen Fachpublikation im Open-Access On- line-Journal PLOS ONE als Anlage beigegeben (vgl. Mustafi et al. 2014). Der Film dokumentiert das Ergebnis eines biotechnologischen Experiments, das die Produktion einer essenziellen Aminosäure (L-Valin) in mehreren Boden- bakterienkulturen (Corynebacterium glutamicum) vergleichend untersucht. In das Genom der Bakterien wurde ein fluoreszierendes Molekül (eYFP) eingebaut, das als Biosensor fungiert. Ziel des Experiments war es zu zeigen, dass der Bio- sensor ein leistungsfähiges Werkzeug zur Kontrolle der Produktivität einzelner Bakterienzellen sowie zur Untersuchung des phänotypischen Musters von Bak- terienkulturen ist (vgl. Mustafi et al. 2014). Mithilfe eines hochauflösenden Licht- mikroskops werden die Bakterienzellen stark vergrößert dargestellt. Im Falle der Aktivierung gibt der gelb fluoreszierende Marker Photonen ab, die Spuren auf den gescannten Standbildern von der Zellkultur hinterlassen. Die gelben Spuren verweisen auf die aktivierten fluoreszierenden Moleküle, die anzeigen, dass die zu Zellfabriken umgebauten Bodenbakterien die gewünschte Aminosäure produ-

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 211 zieren. Die Anhäufung der gelben Marker lässt eine messbare Aussage über die produzierte Menge der Aminosäure zu.4 Im Verlauf des Experiments wurde eine große Anzahl von Standbildern in fünfzehnminütigen Abständen über einen Zeitraum von 48 Stunden mittels einer in das Lichtmikroskop integrierten Kamera erzeugt. Die Standbilder wurden dann zu der genannten 35-sekündigen Bewegtbildsequenz arrangiert. Sowohl der Entstehungskontext, das Forschungszentrum Jülich, den das Logo auf der mittels Zeitraffer-Fotografie erzeugten Bewegtbildsequenz anzeigt, wie auch der Publikationskontext, das wissenschaftliche Fachjournal, in dem die methodisch- technischen Parameter der Herstellung des Films präzise erklärt werden, verbür- gen die Authentizität des Materials und verleihen ihm Autorität. Die Publikation beschreibt unter der Überschrift „Materials and Methods“ die verwendeten biotechnologisch hergestellten Bakterienkulturen, das eigens in der Jülicher Arbeitsgruppe per Hand angefertigte Mikrochip-System zur Bakteri- enkultivierung sowie das extra für diese Experimentalanordnung konzipierte Set-Up für das live-cell imaging und die Bildanalyse. Das Set-Up besteht aus ei- nem Mikroskop, einer Kamera und einem Computer, der mit einem spezifischen Software-Paket ausgestattet ist. Im anschließenden Abschnitt „Results“ wird so- dann unter der Überschrift „Live cell imaging of L-valin production“ die Zweck- dienlichkeit des Biosensors für die Untersuchung des Wachstums, der Physiolo- gie und der Stoffwechselaktivitäten einzelner Zellen analysiert. An dieser Stelle ist der Verweis auf den Film eingefügt und zwar als Hintergrundinformation zu einer aus vier Elementen bestehenden Bildtafel, die Standbilder aus dem Film zeigt, gerahmt von Informationen zum Maßstab der Filmbilder, einer Kurven- schar und zwei Säulendiagrammen, die die Bilder numerisch auswerten (siehe Abb. 1). Im Anhang der Fachpublikation ist der Film mit der folgenden, für Lai_innen kaum verständlichen Beschreibung versehen:

Growth and production of C. glutamicum ATCC 13032 ΔaceE sensor strain. Upon the switch to the production phase, cells gradually stopped growing and simultaneously exhi- bited progressively increasing eYFP fluorescence. Growth phase: CGXII medium with 154 mM acetate and 222 mM glucose; production phase: CGXII medium with 222 mM glucose as carbon source. (Mustafi et al. 2014, o.S.; Herv. im Original)

TT 4 Diese Erklärungen ergaben meine Nachfragen in einem persönlichen Gespräch mit Alexander Grünberger, Ko-Autor des zitierten Papers, am 9. Juni 2015 im Rahmen eines Gastvortrags an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

212 < Bettina Papenburg

Abb. 1: Bildtafel aus dem Ergebnisteil des Papers von Mustafi et al. (2014).

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 213

Den zeitlichen Ablauf des Films strukturieren drei Bildtafeln. Die erste Bildtafel zeigt den Titel des Films sowie die Logos der Arbeitsgruppe und des Forschungs- zentrums (siehe Abb. 2). Die zweite und dritte Tafel sind als Zwischentitel zu ver- stehen, die das Geschehen in der darauffolgenden mikroskopischen Bewegt- bildsequenz ankündigen: die Wachstumsphase und die Produktionsphase einer Bakterienkultur. Auf einem grauen Bildhintergrund sehen wir dunkle stabför- mige Strukturen, die sich verlängern und teilen und in zügigem Tempo von der Mitte ausgehend über das Bild ausbreiten. In der Bildsequenz, die auf die Ein- blendung des Zwischentitels „Production Phase“ folgt, beginnen winzige gelbe Punkte zu leuchten – zunächst in einigen der dunklen Strukturen (siehe Abb. 3). Im weiteren Verlauf des Films leuchten die gelben Punkte in sämtlichen dunklen Strukturen auf und intensivieren ihre Leuchtkraft (siehe Abb. 4). Eine Markie- rung „10 μm“ am linken unteren Bildrand zeigt die reelle Größe des dargestellten Phänomens an.

Abb. 2–4: Standbilder aus dem Video GROWTH AND PRODUCTION OF C. GLUTAMICUM ATCC 13032 ΔACEE SENSOR STRAIN (2014).

Im Kontext der Fachpublikation fungieren die Bewegtbilder als Beweismittel. Ei- nerseits belegen sie die Durchführung des Experiments. Andererseits veran- schaulichen sie das effiziente Funktionieren des Biosensors. Live-Cell-Bilder be- ziehen ihre Evidenz- und ihre Zeigekraft erst aus dem Veröffentlichungskontext. Doch es liegt bei uns Betrachtenden, wie wir diese Bilder rezipieren, ob wir sie als Dokumente ansehen, sie narrativ oder ikonologisch lesen, ob wir herausarbeiten, inwiefern sie vertraute Genres und Formate beleihen, oder ob wir uns ihnen im Modus der Einfühlung nähern und von ihnen affizieren lassen. Bei der Bildrezep- tion haben wir die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Haltungen einzunehmen.

214 < Bettina Papenburg

Der dokumentarisierende Lektüremodus

Dokumente in strengem Gegensatz zu fiktionalen Formaten definieren zu wollen, führt auf Abwege. Wir Zuschauer_innen treffen die Entscheidung, ob jene Bilder, die sich vor unseren Augen bewegen, dem dokumentarischen Genre oder dem fiktionalen Genre zuzurechnen sind. Anders gesagt: Das dokumentarische Genre konstituiert sich qua einer Entscheidung für einen spezifischen Lektüremodus, für die dokumentarisierende Lektüre, wie der französische Filmwissenschaftler und Semio-Pragmatiker Roger Odin (2012 [1984]) bereits im Jahr 1984 behauptet hat. Die Annäherung an das dokumentarische Genre über die Rezeptionserfah- rung ermöglicht es, die fluiden, flüchtigen und veränderlichen Momente der Filmerfahrung adäquat beschreiben und angemessen erfassen zu können. Vor- nehmlich in der Auseinandersetzung mit solchen Untersuchungsgegenständen, die zwischen den Genres changieren, erlaubt es der Fokus auf den Lektüremo- dus, eine Diskussion über die vielgestaltige, mehrdeutige und unbeständige Form schillernder filmischer Gegenstände einzuleiten. Odin (2012 [1984]) differenziert in genanntem Aufsatz die dokumentarisie- rende Lektüre von der fiktivisierenden Lektüre. Für eine dokumentarisierende Lektüre entschieden sich Zuschauer_innen, Odin zufolge, in Anbetracht des in- stitutionellen Kontexts der Filmerfahrung sowie in Erwiderung auf Regiesignale, auf das stilistische System des Films und auf Hinweise, die der Film zur Verfü- gung stellt – wie zum Beispiel die Lektüreanweisungen im Vorspann. Odin spricht vom dokumentarischen Ensemble – und nicht vom dokumentarischen Genre –, das diverse dokumentarische „Subensembles“ (2012 [1984], 268–270), wie er es nennt, umfasst. Zu diesen Subensembles gehören der ethnografische Film, der Reportagefilm, der pädagogische Film, der Familienfilm und der medi- zinische Film. Die dokumentarisierende Lektüre zeichne sich durch die Annahme einer rea- len Enunziationsinstanz aus (vgl. Odin 2012 [1984]; Odin 1989).5 Odin zufolge wählten die Zuschauer_innen – Odin spricht von „Lesern“ – die Instanz aus, die etwas bezeugt. Die Wahl könne auf den Kameramann oder die Kamerafrau, auf den Regisseur oder die Regisseurin, aber auch auf die Kamera, das Kino oder die Gesellschaft fallen (vgl. Odin 2012 [1984], 264–265). Dabei erkennt Odin eine

TT 5 Der Übersetzer des Textes „Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre“ Robert Riesinger schlägt den Begriff „Äußerungsinstanz“ als deutschsprachige Entsprechung für den französischen Begriff „Énonciateur“ vor, entscheidet sich jedoch für den Neologismus „Enunzi- ator“, da dieser Begriff die Feinheiten des französischen Originals besser wiedergebe (vgl. Odin 2012 [1984], 273, Fußnote 9).

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 215

„Stimmenpluralität“ (2012 [1984], 263), eine Polyphonie oder Heteroglossie, durchaus an und unterstreicht die Vielschichtigkeit der dokumentarischen Aus- sageform. Im Unterschied dazu sei die fiktivisierende Lektüre durch die Fiktivi- sierung der Äußerungsinstanz gekennzeichnet, das heißt, durch die Annahme, dass die_der Diskursverantwortliche eine erfundene Figur sei – Odin spricht von der „Weigerung der Konstruktion eines ‚Ursprungs-Ich‘ durch den Leser“ (2012 [1984], 263). Als weitere Dimensionen der fiktivisierenden Lektüre nennt Odin die Diegetisierung (die Vorstellung eines Raums, den die Filmfiguren teilen), die Nar- rativierung (die Handlungselemente kommen in einer Narration zusammen) und die Mise en Scène (die Inszenierung bindet Zuschauer_innen in den Rhythmus der Erzählung ein) (vgl. Odin 1983; 2000). Odin behauptet, dass Leser_innen zwischen den Lektüremodi nach Belieben wechselten: „Jeder Leser hat in irgendeinem Augenblick der Lektüre des Filmes die Möglichkeit zum Umschalten auf den dokumentarisierenden Lektüremodus“ (Odin 2012 [1984], 266). Innerhalb desselben Films pendelten Leser_innen zwi- schen der fiktivisierenden Lektüre und der dokumentarisierenden Lektüre. Zum einen schwängen sie von Einstellung zu Einstellung und von Sequenz zu Se- quenz zwischen den verschiedenen Lektüremodi hin und her. Zum anderen wechselten sie innerhalb einer Einstellung zwischen den Lektüremodi und näh- men spezifische Bildelemente wie Vordergrund, Hintergrund, konkrete Gegen- stände, Figuren und Texteinblendungen oder Inszenierungsformen wie Farbge- bung, Lichtgestaltung, Kadrierung und Kamerabewegungen nach Belieben im dokumentarisierenden oder fiktivisierenden Modus wahr. Odin führt aus:

Die dokumentarisierende Lektüre kann sich auf einen mehr oder weniger wichtigen Teil des jeweiligen Filmes beziehen. Auf der temporalen syntagmatischen Achse kann die doku- mentarisierende Lektüre zunächst nur ein Filmfragment erfassen. Auf der topischen syn- tagmatischen Achse, d.h. auf der Achse des Simultanen, wird sie in der Folge – angenom- men, daß der Leser einen oder mehrere reale Enunziatoren konstruiert – eine oder mehrere Schichten des Filmes betreffen. (Odin 2012 [1984], 265)

An Formulierungen wie diesen wird Odins sprachwissenschaftlicher Hinter- grund deutlich. Odin greift das Vokabular des Semiotikers Ferdinand de Saus- sure auf und behauptet, dass der Wechsel zwischen den Lektüremodi sich sowohl auf der syntagmatischen Ebene als auch auf der paradigmatischen Ebene voll- ziehe. Den Anlass für die Wahl des Lektüremodus gebe der Film selbst: filmim- manente Signale legten den einen oder anderen Lektüremodus nahe. Dies sei je- doch nicht allzeit der Fall. Odin hat darauf aufmerksam gemacht, dass es „hybride Filme“ gibt – „Filme, die zwei (oder mehrere) Lektüreanweisungen ver- binden“ – sowie „zweideutige Filme“ (2012 [1984], 270) – Filme, die ihre Leser_in- nen im Unklaren darüber lassen, in welchem Modus sie rezipiert werden wollen.

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Die Relevanz der Filmrezeption für die Bestimmung der Kategorie des Doku- mentarischen hebt auch die US-amerikanische Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack (1999) fünfzehn Jahre später ohne Rückbezug auf Odin erneut hervor. Sobchack plädiert für ein dokumentarisches Bewusstsein (sie spricht von „docu- mentary consciousness“; Sobchack 1999, 241). Mit Rückgriff auf die Phänomeno- logie der filmischen Identifikation, wie sie der belgische Psychologe Jean-Pierre Meunier im Jahr 1969 vorgelegt hat, schlägt Sobchack ihr Konzept des dokumen- tarischen Bewusstseins als Alternative zur psychoanalytisch begründeten Theo- rie der filmischen Identifikation vor. Sobchack schreibt:

The term documentary designates more than a cinematic object. Along with the obvious no- mination of a film genre characterized historically by certain objective textual features, the term also – and more radically – designates a particular subjective relation to an objective cinematic or televisual text. In other words, the documentary is less a thing than an experi- ence. (Sobchack 1999, 241; Herv. im Original)

Sobchack betont hier die wichtige Rolle, die der Erfahrung in der Begegnung mit dem Dokumentarfilm zukommt. Sie hebt hervor, dass nicht allein spezifische for- male Charakteristika des ästhetischen Objektes – hier: des Films – bereits fest- legten, welchem Genre der Film angehöre. Vielmehr bezeichne das Dokumenta- rische eine besondere subjektive Beziehung zwischen Zuschauer_innen und dem audiovisuellen Objekt.

Dokumentarische Modi

Die Betonung der Subjektivität der Filmerfahrung, die Odin und Sobchack her- vorheben, steht in einem produktiven Spannungsverhältnis zu jenen Ansätzen innerhalb der Dokumentarfilmforschung, die auf die Bestimmung jener objekti- ven Kriterien, von denen Sobchack spricht, abzielen. In Representing Reality aus dem Jahr 1991, einem Werk, das mittlerweile zu einem Klassiker der Dokumen- tarfilmtheorie avanciert ist, grenzt Bill Nichols den Dokumentarfilm vom fiktio- nalen Hollywoodkino ab und differenziert das Genre des Dokumentarfilms in vier verschiedene Modi aus. Nichols unterscheidet den erklärenden Modus (expository mode), den be- obachtenden Modus (observational mode), den interaktiven Modus (interactive mode) und den reflexiven Modus (reflexive mode). Diese Bezeichnungsweisen sind partiell Selbstetikettierungen, die Filmemacher_innen vorgenommen ha- ben. Partiell handelt es sich um Kategorien, die aus der filmwissenschaftlichen Forschung hervorgegangen sind. Die Typologie hat eine dialektisch-historische

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 217

Dimension: Die späteren Modi entwickeln sich, Nichols (1991, 32–34) zufolge, in Auseinandersetzung mit und als kritische Kommentare zu den früheren Modi. So ist es nur logisch, dass Nichols (2001) seine Typologie zehn Jahre später modifi- ziert und um einen fünften und einen sechsten Modus erweitert: Den interaktiven Modus ersetzt er durch den partizipatorischen Modus (participatory mode). Hinzu kommen weiterhin der poetische Modus (poetic mode) und der performative Mo- dus (performative mode). Damit bietet Nichols ein Klassifikationsschema an, das es einerseits erlaubt, das Feld des Dokumentarischen zu bestimmen; andererseits stellt es Kategorien zur Verfügung, die es ermöglichen, spezifische Charakteristika einzelner Filme auf einer abstrakteren Ebene zu beschreiben. Auf diese Weise lässt das Schema Orientierung in einem sich ausdifferenzierenden medialen Feld zu; es dient der Einordnung individueller Gegenstände in spezifische Repräsentationsmodi und hilft beim systematischen Vergleich einzelner Filme. Der Verwendung ausge- dehnter Animationssequenzen ungeachtet, lässt sich der Film OUR SECRET UNI- VERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL, der im weiterer Verlauf der hier entwickelten Überlegungen analysiert wird, in die Kategorie des erklärenden Dokumentar- films einordnen. Für die Frage, wie bewegte Bilder zu Dokumenten werden, ist das Nichols’sche Klassifikationssystem insofern interessant, als dass es einen Kriterienkatalog anbietet, der einzelne Filme als Dokumentarfilme bestimmbar macht, und dazu gehören auch Filme, die überwiegend aus animierten Sequen- zen bestehen.

Der animierte Dokumentarfilm

In kritischer Weiterführung der Überlegungen von Nichols werden in der Bewegt- bildforschung zahlreiche weitere Modi des Dokumentarischen diskutiert. Ange- regt wird diese Diskussion insbesondere von der Auseinandersetzung mit For- schungsgegenständen, die nicht passgenau in der einen oder der anderen Kategorie verortet werden können oder gar die grundlegende Unterscheidung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm in Frage stellen und deshalb eine Erwei- terung und Ausdifferenzierung des Nichols’schen Schemas erforderlich machen. Eine besonders produktive Diskussion entzündet sich derzeit am animierten Do- kumentarfilm, einer in sich selbst widersprüchlichen Form, die mithilfe von ana- log oder digital animierten Bewegtbildern unter anderem die Vergangenheit re- konstruiert oder das Unsichtbare sichtbar macht. David Bordwell hat das Problem der inhärenten Widersprüchlichkeit des ani- mierten Dokumentarfilms aufgegriffen und provokant bemerkt, der animierte

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Dokumentarfilm sei aufgrund der fehlenden Indexikalität und in Ermangelung aufgezeichneter vorgängiger live-action ein Ding der Unmöglichkeit. Er beginnt seine Überlegungen zum animierten Dokumentarfilm mit der Behauptung: „[I]t would seem impossible to consider an animated film as a documentary“ (Bord- well 2009, o.S.). Diese Eröffnung nimmt Bordwell zum Anlass für eine rhetorische Kehrtwende, wenn er später im Text auf die Wichtigkeit der Stimme, der Position und des Diskurses im Dokumentarfilm hinweist – Dimensionen, die neben dem Indexikalitätsversprechen des live-action footage als Charakteristika des Doku- mentarfilms seit geraumer Zeit diskutiert werden. Vielmehr, so hebt Bordwell hervor, trügen Zuschauer_innen die stillschweigende Erwartung an bestimmte Filme heran, dass diese Dokumentarfilme wären: „[W]e see documentary films as tacitly asserting a state of affairs to be factual, we can see that no particular sort of images guarantees a film to be a doc“ (Bordwell 2009, o.S.). Diese Überlegun- gen Bordwells verweisen auf zweierlei: Zum einen deutet Bordwell implizit auf die Bedeutung der Rezeptionshaltung für die Einordnung eines Films in das do- kumentarische Genre hin: Die Entscheidung, ob es sich um einen Dokumentar- film handelt, liegt bei den Zuschauer_innen. Zum anderen macht er deutlich, dass das Genre des animierten Dokumentarfilms ganz besonders dazu anregt, über eben diese Rezeptionshaltung und über die spezifischen, mit ihr verbunde- nen Erwartungen nachzudenken und diese Erwartungen zu hinterfragen. Annabel Honess Roe (2011, 229) hat die affektive Kraft des animierten Doku- mentarfilms herausgehoben, das erkenntnistheoretische Vermögen dieser Film- form hinsichtlich der Gegenstände des Wissens und der Zugangsweisen zum Wis- sen effektiv zu erweitern. Die affektive Kraft des animierten Dokumentarfilms, so Honess Roe, sensibilisiere uns für die Erkenntnis von Relationen zwischen den animierten Bildern und der Wirklichkeit. In der Einleitung zu einem Themenheft zum animierten Dokumentarfilm der Zeitschrift Animation: An Interdisciplinary Journal hat Jeffrey Skoller die sich ak- tuell auf mehreren Gebieten vollziehenden Grenzverwischungen treffend be- schrieben, deren Symptom und Prisma, wie er konstatiert, der animierte Doku- mentarfilm sei:

Once seen as structuring philosophical and aesthetic antinomies of film history, documen- tary and animation genres defined the lines between fact and fiction, indexical traces of the real and hand-made imaginings, truth and fancy, naturalism and expressionism. Such bi- naries no longer hold the same ontological power they once did for defining cinematic form or lines between the intellectually driven high art of the cinema and the anarchic lowbrow art of mass entertainment. [...] The popular acceptance of recent hybrid forms that integrate animated – whether hand-drawn or digitally generated – imagery into documentary con- texts signals a deepening awareness that the truth claims of non-fiction forms are no longer located in the ,reality effects‘ of the photographic trace. (Skoller 2011, 212)

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Dieser Abschied vom Glauben an die Autorität des fotografisch erzeugten indexi- kalischen Bildes und an die Realitätseffekte des fotografischen Bildes sowie der Zusammenbruch binärer Oppositionen, die lange Zeit die Populärkultur der Hochkultur, die Massenunterhaltung der Kunst, die Fiktion der Tatsache und den Dokumentarfilm dem Animationsfilm gegenübergestellt hatten, wichen derzeit einer Haltung, so Skoller, die dem Spekulativen und der Imagination einen ho- hen Stellenwert in der Bedeutungserzeugung einräumten. Die Einsichten, dass für uns maßgebliche Ereignisse nicht allzeit visualisierbar und dokumentierbar seien und dass der dokumentarische Beweis oft opak bleiben müsse, habe eine Öffnung gegenüber den Verflechtungen zwischen empirischen, spekulativen und virtuellen Aufmerksamkeitsmodi hervorgebracht und eine zunehmende An- erkennung der komplexen Verflechtungen zwischen diesen Modi der Welterfah- rung ermöglicht, wie Skoller weiterhin argumentiert. Die Frage nach dem Realis- mus in der Diskussion zum animierten Dokumentarfilm bringt Skoller auf den Punkt, wenn er anregt zu erforschen, welche Formen von Realismus der ani- mierte Dokumentarfilm ermögliche:

If the animated documentary creates images, that the camera cannot – literally drawing in that which cannot be seen or for which there are no images, or conversely, if animated documentary can selectively exclude images or aspects of images that are not meant to be seen, what kinds of realisms are possible in the animated documentary? (Skoller 2011, 212)

Diese Frage nach dem Realismus im animierten Dokumentarfilm stellt sich ganz vordringlich für den animierten molekular- und zellbiologischen Dokumentar- film. Hier stellen die Bilder Gegenstände dar – beispielsweise Biomoleküle – die weder mit dem bloßen Auge noch mit dem Mikroskop sichtbar gemacht werden können. Zugleich erfüllen animierte Bilder von Zellorganellen und Molekülen, die das Unsichtbare sichtbar machen, – Bilder, die heutzutage vornehmlich mit- hilfe computergestützter Bewegtbildverfahren hergestellt werden – eine Beglau- bigungsfunktion, sie erheben einen Wahrheitsanspruch und gestalten Erkennt- nisprozesse maßgeblich mit.

Subjunctive Documentary

Mark J.P. Wolf hat überzeugend argumentiert, dass die bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften genauso wie Computersimulationen das ins Bild set- zen, was möglich ist, möglich war oder möglich sein wird. Bildgebende Verfahren und Computersimulationen seien daher als „subjunctive documentary“ (Wolf 1999), als Dokumentarfilm in der Möglichkeitsform, zu begreifen. Wolf schreibt:

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Whereas most documentaries are concerned with documenting events that have happened in the past, and attempt to make photographic records of the event, computer imaging and simulation are concerned with what could be, would be, or might have been; they form a subgenre of documentary we might call subjunctive documentary, following the use of the term subjunctive as a grammatical tense. (Wolf 1999, 274; Herv. im Original)

Bildgebende Verfahren und Computersimulationen sind also, Wolf zufolge, Do- kumentarfilme im Konjunktiv. Dabei ist es nicht unwichtig anzumerken, dass der Konjunktiv sowohl die Möglichkeitsform als auch die Unmöglichkeitsform um- fasst. Subjunctive documentaries oszillieren zwischen diesen beiden Formen: wir wissen nicht, ob das, was wir sehen, geschehen ist, geschieht oder geschehen wird; doch es ist oder war möglich oder wird möglich sein. Vergleichbar mit dem Format des Modells inszenierten subjunctive documentaries eine Hypothese; sie indizierten, wie Wolf betont, Verschiebungen vom sinnlich Wahrnehmbaren zum Abstrakt-Konzeptuellen und von der Empirie zur Spekulation: „[C]omputer im- aging and simulation represent a shift from the perceptual to the conceptual, a shift that underscores a willingness to exchange direct experience for abstrac- tions that open up the wide vistas not directly available to the senses“ (Wolf 1999, 289; Herv. im Original). Diese Hervorhebung der Spekulationsfunktion von bild- gebenden Verfahren und Computersimulationen stellt den Autoritätsanspruch des Dokumentarischen auf den Prüfstand.

OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL: Pendelbewegungen zwischen dokumen- tarisierender und fiktivisierender Lektüre

Die bislang diskutierten Überlegungen sollen im Folgenden anhand der Untersu- chung der Autorisierungsstrategien und der Rezeptionserfahrung der BBC-Pro- duktion OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL weitergeführt werden. Der knapp einstündige Fernsehfilm entstand mit finanzieller Unterstützung des britischen Wellcome Trusts und wurde am 21. Oktober 2012 erstmalig und zur bes- ten Sendezeit sowohl auf BBC Two als auch auf BBC HD ausgestrahlt. Die briti- sche Produktionsfirma Wide-Eyed Entertainment hat die ausführlichen animier- ten Sequenzen hergestellt, die den überwiegenden Teil des Films ausmachen. OUR SECRET UNIVERSE zeigt den, wie es sowohl in der Ankündigung des Films auf

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 221 der Webseite von BBC Two6 als auch im Film wiederholt heißt, „Kampf“ einer menschlichen Körperzelle mit einem Grippevirus. Auf der Bildebene verbindet der Film computergenerierte Animationssequenzen, die innerzelluläre Prozesse darstellen, mit Realfilmaufnahmen von Fachleuten. Wie es der Filmtitel bereits vermuten lässt, nehmen sowohl die Bildästhetik als auch die Gestaltung des Soundtracks Anleihen bei Blockbustern, die dem Science-Fiction-Genre zuzuord- nen sind. Die Kombination eines offenkundig als wissenschaftlich gerahmten Kommentars, der die Beweiskraft des Dargestellten verbürgt, mit animierten Bil- dern, die das Innenleben der Zelle als interstellaren Kampfplatz inszenieren und mit einem Science-Fiction-Soundtrack unterlegen, wirft die Frage auf, welche Re- zeptionshaltung der Film einfordert. Der Science-Fiction-Film und der Animati- onsfilm gehören dem Bereich der Unterhaltung an. Der fachwissenschaftliche Kommentar, der narrative Kontinuität erzeugt und Aufklärung verspricht, weist OUR SECRET UNIVERSE hingegen als erklärenden Dokumentarfilm aus. Der Zusam- menprall heterogener Elemente aus separaten Bildtraditionen und unterschied- lichen ästhetischen Domänen lenkt das Augenmerk auf das Gemachte. Auf der Tonspur überlagern die erklärenden Kommentare der Fachleute, die Stimmen der Autorität, die computergenerierten Sequenzen im Wechsel mit der Stimme des Erzählers. Die Erzählerstimme stammt von David Tennant, dem Schauspieler, der den zehnten Doctor Who verkörpert, – die in England allseits bekannte Hauptfigur aus der gleichnamigen Science-Fiction-Fernsehserie. Der Kommentar ist vereinzelt mit elektronischer Filmmusik unterlegt, die mittler- weile klassische Motive und Klänge aus den Soundtracks bekannter Science-Fic- tion-Filme adaptiert und neu arrangiert. Die musikalische Gestaltung der drama- tischeren Passagen greift zum einen die Tonalität der fulminanten Orchestermusik des Fantasy-Science-Fiction-Klassikers 2001: A SPACE ODYSSEY (1968) auf und lässt zum anderen die elektronisch verstärkten Grunge- und Metal-Songs aus THE MATRIX (1999) anklingen. Die ruhigeren Passagen ähneln den bedrohlichen Orchesterklängen, die dem Science-Fiction-Horror-Film ALIEN (1979) seine emotionale Eindringlichkeit verleihen. Animationssequenzen laufen mitunter für einige Sekunden ohne Kommentar, allein mit Musik unterlegt. Es sind diese Sequenzen, die zu einer fiktivisierenden Lektüre einladen. Die fiktivisierende Rezeptionshaltung wird weiterhin durch die computerge- nerierten Bilder begünstigt. Nicht allein musikalisch beleiht die Inszenierung des Aufeinandertreffens von Viren und Körperzellen in OUR SECRET UNIVERSE das Sci- ence-Fiction-Genre. Auch die farbliche Gestaltung der Bilder, der vielschichtige

TT 6 „Secret Universe: The Hidden Life of the Cell“. BBC Two. https://www.bbc.co.uk/program- mes/b01nln7d (Letzter Zugriff: 4. Juli 2018).

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Bildaufbau, der auf eine eindrucksvolle Tiefenwirkung abzielt, sowie die Form- gebung und das Arrangement der Bildelemente rufen Seherfahrungen aus der Begegnung sowohl mit Genre-Klassikern wie BLADE RUNNER (1982) und THE MATRIX als auch mit neuen Fantasy-Science-Fiction-Filmen wie JUPITER ASCENDING (2015) und INTERSTELLAR (2014) auf; die beiden letzteren Filme wurden zeitlich nach OUR SECRET UNIVERSE hergestellt. Mehrschichtige Bilder lassen den Zellkern gleich ei- nem fernen Planeten im Vordergrund aufscheinen (siehe Abb. 5). Feurige Rottöne markieren die DNS im Inneren des Zellkerns, die sich vor einem in leuchtenden Goldtönen gehaltenen Hintergrund windet (siehe Abb. 6). Lichtakzente in der Bildmitte suggerieren einen Sog ins Unendliche (siehe Abb. 7). Die Grippeviren – dargestellt als schwarz glänzende, stachelbewerte, kugelförmige Konglomerate (siehe Abb. 8 und 9), die hyperadaptabel und ultrazielstrebig auf den Zellkern zusteuern – rufen deutlich Assoziationen zu Raumgleitern und den mit künstlich nachgebildeten Tentakeln ausgestatteten Maschinen aus THE MATRIX hervor. Und der Showdown vollzieht sich in einem düsteren, partiell in glänzenden Metalltö- nen illuminierten Szenario. All diese aus dem fiktionalen Genre des Science-Fic- tion-Films entlehnten Inszenierungsmerkmale verorten OUR SECRET UNIVERSE im Genre des subjunctive documentary: Farben, Formen und Klänge des Innenlebens der Zelle gehören dem Bereich der Spekulation an.7

Abb. 5: Visualisierung des Zellkerns im Dokumentarfilm OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (2012).

TT 7 In der Auseinandersetzung sowohl mit US-amerikanischen als auch mit britischen Wissen- schaftsdokumentationen ist in der neueren Diskussion vermehrt der Begriff subjunctive docu- mentary herangezogen worden; siehe z.B. Metz 2008; Campbell 2016.

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 223

Abb. 6: Visualisierung der DNS im Dokumentarfilm OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (2012).

Abb. 7: Visualisierung von Grippeviren 1 im Dokumentarfilm OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (2012).

Abb. 8: Visualisierung von Grippeviren 2 im Dokumentarfilm OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (2012).

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Abb. 9: Visualisierung von Grippeviren 3 im Dokumentarfilm OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (2012).

Diese fiktional-spekulativen Elemente des Films verbinden sich mit ganz klassi- schen Elementen des erklärenden Dokumentarfilms. So organisiert der Kommen- tar die Bilder, gibt uns Zuschauer_innen die Stichworte und verleiht den Bildern als Beweis des Gesagten einen Sinn. Das gesprochene Wort informiert, baut ein Argument auf und strukturiert dieses Argument. Der Kommentar steht in der Tra- dition der „Stimme Gottes“ („‚voice-of-God‘ commentary“), wie Nichols (1991, 32–33, 56) es nennt, – der Sprecher ist hörbar aber nicht sichtbar –, eine Tradition die, Nichols zufolge, den erklärenden Dokumentarfilm kennzeichnet. Die profes- sionell geschulte, tonal reiche, autoritative männliche Stimme sei das Marken- zeichen des erklärenden Dokumentarfilms. Die Stimme des Kommentators be- werte die gezeigten Handlungen, ohne in sie verstrickt zu sein. Der Ton des professionellen Kommentators schaffe Glaubwürdigkeit durch Distanz, Neutrali- tät, Unvoreingenommenheit oder Allwissenheit (vgl. Nichols 2001, 107). In OUR SECRET UNIVERSE fungiert der Kommentar als „Stimme Gottes“, die aus dem Off ertönt, das Gezeigte erklärt und in eine fortlaufende Narration einbindet. Den Bildern kommt bisweilen eine unterstützende Funktion zu – sie illustrie- ren, erhellen und evozieren das Gesagte. Vereinzelt bilden die Bilder aber auch einen Kontrapunkt zum Kommentar – etwa wenn der Biochemiker Nick Lane von der Interdependenz und der Koevolution von Menschen und Viren spricht, die Bilder aber zeigen, wie die Viren den Zellkern von innen aufsprengen. Als ein Film, der sein Publikum informieren und aufklären will, fügt OUR SECRET UNIVERSE dem populären Wissen über die Zellbiologie etwas hinzu und passt in dieser Hin- sicht nahezu mustergültig in Nichols Kategorie des erklärenden Dokumentar- films:

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Expository documentary is an ideal mode for conveying information […] within a framework that pre-exists the film. In this case, a film will add to our stockpile of knowledge but not challenge or subvert the categories by which such knowledge gets organised. Common sense makes a perfect basis for this type of representation about the world since common sense, like rhetoric, is less subject to logic than to belief. (Nichols 2001, 109)

Die interviewten Fachleute – die Molekularbiologin Susanna Bidgood von der Universität Cambridge, der Genetiker Steve Jones und der genannte Biochemiker Nick Lane, beide vom University College London, sowie die Mikrobiologin Bonnie Bassler von der Universität Princeton –, denen eine wichtige Autorisierungsfunk- tion zukommt, sprechen stellvertretend für einen als objektiv vorausgesetzten wissenschaftlichen Diskurs. Der wissenschaftliche Diskurs ist hier, um mit Odin zu sprechen, als Enunziationsinstanz zu verstehen. Auf die Rhetorik des soge- nannten gesunden Menschenverstandes – der ja stets auch das Nicht-Weiter-Hin- terfragbare impliziert – spielt OUR SECRET UNIVERSE zudem auch über den Rekurs auf das populäre Genre des Science-Fiction-Films an. Wir können sogar noch genauere Anleihen an spezifische Genres des Doku- mentarischen erkennen, die Odin nennt. OUR SECRET UNIVERSE verbindet auch Ele- mente des pädagogischen Films mit Elementen des Reportagefilms. Das stilisti- sche System des pädagogischen Films kombiniert 1) die Präsenz der Fachleute vor der Kamera, 2) die direkte Ansprache von Zuschauer_innen in Interview- sequenzen mit 3) dem erklärenden Kommentar und der Einblendung abstrakter Darstellungsformen (vgl. Odin 2012 [1984], 269; Jacquinot 1977).8 OUR SECRET UNI- VERSE lässt vier Fachleute aus England und aus den USA zu Wort kommen, die den wissenschaftlichen Diskurs repräsentieren und direkt in die Kamera spre- chen. Neben den Merkmalen des pädagogischen Films weist OUR SECRET UNIVERSE auch Merkmale des Reportagefilms auf. Odin zufolge umfasst das stilistische Sys- tem des Reportagefilms neben dem Originalton und expliziten Verweisen auf die Präsenz der Kamera – zum Beispiel, wenn sich die Gefilmten an die Kameraleute wenden, in die Kamera schauen oder die Kamera berühren – eine Reihe von wei- teren Merkmalen auf der Bildebene: Das Bild ist „verschwommen, bewegt“ (Odin 2012 [1984], 269). Hinzu kommen „verwackelte Travellings, zögernde Panorama- schwenks, abrupte Zooms, brutale Schnitte im Ablauf der Szenenfolge und die Verbindung der Sequenzen, lange Plansequenzen, mangelhafte Ausleuchtung, grobkörniger Film“ (Odin 2012 [1984], 269). In OUR SECRET UNIVERSE sind die Auf- nahmen der Fachleute häufig von ungünstigen Lichtverhältnissen beeinträch- tigt. Offenkundig mit der Handkamera und mit Originalton aufgenommen, ver-

TT 8 In seinen Ausführungen zum pädagogischen Film stützt sich Odin auf die Präzisierung dieser Kategorie durch Géneviève Jacquinot (1977).

226 < Bettina Papenburg schwimmt das Bild, wenn die Kamera beispielsweise mit den Bewegungen von Bonnie Bassler mitgeht oder mit einem überrissenen Zoom an ihre gestikulieren- den Hände heranspringt. Bassler steht auf dem Dach eines Hochhauses inmitten einer Vielzahl von Wolkenkratzern in der Innenstadt von Philadelphia. Dieser Ort schließt den Kreis zum Science-Fiction-Film über das Motiv des Showdowns auf dem Dach eines Hochhauses. Die textuellen und kontextuellen Mittel, die in OUR SECRET UNIVERSE zum Ein- satz kommen, konterkarieren die Tendenz, dem animierten Film Autorität abzu- sprechen. Der Film adressiert vielmehr ein wesentliches Paradox der Animation. Auf den ersten Blick scheint die Geste der Animation in einem deutlichen Wider- spruch zur Geste des Dokumentarischen zu stehen. Das Dokumentarische ver- bürgt Evidenz, zertifiziert und überträgt Autorität. Die Animation hingegen – so die implizite Bewertung – beweist nichts, beglaubigt nichts und bezeugt nichts. Die genaue Betrachtung der Autorisierungsstrategien und der Rezeptionsweise von OUR HIDDEN UNIVERSE zeigt jedoch, dass der Tendenz, den Animationsfilm auf das Genre der Unterhaltung zu reduzieren, in diesem spezifischen Fall entschie- den widersprochen werden muss. Die Kombination animierter und realfilmischer Sequenzen im populärwissenschaftlichen Dokumentarfilm regt vielmehr zum Nachdenken über Unterscheidungspraktiken an, die den Dokumentarfilm dem fiktionalen Film gegenüberstellen und die das Natürliche und das Gemachte klar voneinander trennen wollen.

Abschließende Überlegungen

Die Gegenüberstellung von Animation und Dokumentation kann also über das Scharnier des Gemachten perspektiviert werden. Sowohl Live-Cell-Bilder als auch populärwissenschaftliche Dokumentarfilme sind gemacht. Die Diskussion der Frage, welche Rolle die Dimensionen des Indexikalischen – Spur und Deixis – im Herstellungs- und Rezeptionsprozess eines Live-Cell-Films spielen und wel- che Strategien der Autorisierung und Evidenzerzeugung zum Einsatz kommen, hat verdeutlicht, wie sehr Bilder, die ein natürliches Phänomen darstellen, einer apparativ vermittelten Herstellungsweise bedürfen. Die Auseinandersetzung mit einem technischen Verfahren, das es ermöglicht Bilder von mikroskopischen Prozessen lebendiger Materie zu erzeugen, hat klar gemacht, dass die Herstel- lungsweise die Darstellung des Phänomens miterzeugt und die Bedingungen sei- ner Wahrnehmung maßgeblich bestimmt. Der Präsentationskontext der Live- Cell-Bilder schafft Anhaltspunkte, die eine dokumentarisierende Lektüre nahele- gen. Wie die rezeptionsästhetische Dokumentarfilmtheorie dargelegt hat, sind es

Das Dokumentarische als Autorisierungsstrategie und als Lektüremodus < 227 eben diese Anhaltspunkte, die Zuschauer_innen dazu bringen, einen Film im fik- tivisierenden oder eben im dokumentarisierenden Modus wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund hebt sich der animierte Dokumentarfilm als ein paradoxer Gegenstand ab: Der animierte Dokumentarfilm vereint eine autoritative Geste mit einer Herstellungsweise, die dem Bereich der Unterhaltung zugeordnet wird. Die- ses Paradox tritt besonders prominent in der Untersuchung jener dokumentari- scher Verfahren wie der Animation hervor, die zur Simulation möglicher Wirk- lichkeiten verwendet werden. In diesem Grenzbereich zwischen Dokumentation und Simulation verortet sich der populärwissenschaftliche Dokumentarfilm OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL. Die Analyse des Zusammenspiels re- alfilmischer und computergenerierter Sequenzen hat gezeigt, dass die Trennung von Dokumentarischem und Animiertem, von Vorgefundenem und Gemachtem nicht aufgehen kann, weil dieser Film vielfach als beides wahrgenommen wird.

Literaturverzeichnis

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Maike Sarah Reinerth Entirely (Self-)Made Up!

Animierte Imaginationsdarstellungen in Realspielfilmen

Abstract: Die populäre Definition von Animationsfilmen als ‚handgemachte‘ Kunstwerke steht in der Tradition literatur-, film- und comictheoretischer Kon- zepte von Autor_innenschaft. Zumindest ‚traditionell‘ z.B. als Zeichen- oder Ob- jektanimation hergestellte Filme, so die dahinterstehende Argumentation, kön- nen als subjektiver Ausdruck singulärer Schöpfer_innen gelten, deren ‚Hand- schrift‘ sie zudem in ästhetischer Hinsicht tragen. Zugleich ist vielfach betont worden, dass sich Animationen in besonderem Maße dazu eignen, das subjektive Erleben diegetischer Figuren darzustellen. Animierte Imaginationsdarstellungen in Realspielfilmen, die im Fokus meines Beitrags stehen, suggerieren dabei oft, dass die Figuren nicht nur mental für die Genese ihrer Imaginationen verantwort- lich, sondern auch an deren medialer Herstellung beteiligt sind. Dies bringt sie, zumindest auf den ersten Blick, in Konkurrenz zu den realen Produzent_innen der Filme. Diesen Nexus scheinbar widerstreitender Autor_innen untersuche ich anhand der Beispiele LA SCIENCE DES RÊVES (2006), IT’S KIND OF A FUNNY STORY (2010) und THE DIARY OF A TEENAGE GIRL (2015).

Einleitung

Medien erschaffen Welten, in denen vieles, wenn nicht sogar alles Erdenkliche möglich erscheint. Dies gilt für Comics und Animationsfilme ebenso wie für die klassische Literatur oder Realspielfilme. Gerade in der Rede vom Animationsfilm wird dabei oft dessen völlige Freiheit bei der visuell-grafischen Umsetzung her- ausgestellt, der anscheinend keine anderen Grenzen gesetzt sind als diejenigen, die ihre Urheber_innen ihnen auferlegen. So schreibt Andreas Friedrich: „Was immer sich zwischen zwei Frames ereignet, bestimmt allein der Wille des Anima- tors, es unterliegt keinerlei Gesetzen oder Konventionen“ (2007, 11) und gibt

 Maike Sarah Reinerth, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, Marlene-Dietrich-Allee 11, 14482 Potsdam, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Maike Sarah Reinerth, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-010

232 : Maike Sarah Reinerth damit eine verkürzende Alltagsdefinition der Animation wieder. Aus ihr lassen sich zwei weitere Thesen ableiten, die in der Animationsforschung ebenfalls viel- fach geäußert wurden: Zum einen bekommt die Rolle der Animator_innen als scheinbar alleinige Schöpfer_innen besonderes Gewicht. Sie bestimmen darüber, was in der Animation auf welche Weise dargestellt wird – ja stellen sie, den „na- hezu grenzenlose[n] gestalterische[n] Freiraum des künstlerischen Zugriffs auf jedes einzelne Bild“ (2007, 11) nutzend, bisweilen sogar selbst von Hand her (vgl. z.B. Bruckner 2010, 42–43; Wells 1998, 10). Zum anderen, aber nicht unabhängig davon, gilt Animation als mediale Ausdrucksform, in der sich gerade nicht äu- ßerlich beobachtbare Phänomene veranschaulichen und mitteilen lassen – da- runter abstrakte Ideen, Daten und Prozesse, mikroskopisch kleine Vorgänge ebenso wie gigantisch große Zusammenhänge (vgl. z.B. Feyersinger 2013; 2017; Wells 2002, 57–59) oder auch exklusiv subjektiv Zugängliches wie das eigene Er- leben, Gefühle, Gedanken und der gesamte Bereich der Imagination (vgl. z.B. Reinerth 2013c; Wells 1998, 27; 2002, 49). Die animierte Darstellung des Subjektiven ist ein interessanter Fall, weil sie anscheinend in zweierlei Hinsicht nur den Gesetzen derjenigen gehorcht, die sie medial und mental erschaffen. Was aber, wenn es sich dabei nicht um dasselbe Subjekt handelt, wenn also ‚jemand‘ – ein_e Animator_in – die Imagination von ‚jemand anders‘ – einer Figur – darzustellen versucht? Kann es sein, dass mehr als ein Subjekt an der Her- und Darstellung einer ja eigentlich exklusiv, privat, intim und persönlich zu denkenden Imagination beteiligt ist? Und wem ist diese Imaginationsdarstellung dann zuzuschreiben – dem, der die Imagination mental erlebt oder der, die die Repräsentation medial erschafft? Welche Rolle spielt es, wenn die beteiligten Akteur_innen auf verschiedenen Ebenen der Medienkom- munikation angesiedelt sind, wie im Fall der realen Animator_innen und der fik- tionalen Figuren? Und wie wirkt es sich aus, dass die Produktion populärer Me- dien in der Regel nicht von Einzelpersonen verantwortet wird, sondern ein kollaborativer Prozess ist, wir aber trotzdem oft z.B. von Filmautor_innen oder Autor_innencomics sprechen? Mein Beitrag nimmt diese und anschließende Fra- gen zum Anlass, sich mit den Besonderheiten animierter Imaginationsdarstellun- gen in realfilmischen Spielfilmen zu befassen, die zusätzlich zu verschiedenen realen Medienproduzierenden – die ihren jeweils eigenen Anspruch auf Urhe- ber_innenschaft an der Darstellung formulieren (können) – auch fiktive Subjekte als potenzielle Schöpfer_innen der visuell und produktionstechnisch vom restli- chen Film abweichenden Animationssequenzen vorsehen. Ich orientiere mich dabei primär an einer (idealen) Rezipient_innenperspek- tive (vgl. Eder 2008, 108), von der ausgehend verschiedene Lesarten durchge- spielt und hinsichtlich ihrer Kompatibilität untersucht werden. Die beiden

Entirely (Self-)Made Up! : 233 bereits genannten Konzepte der Autor_innenschaft und der Subjektivität haben dabei erkenntnisleitenden Charakter, ich werde sie daher im Folgenden kurz skizzieren und hinsichtlich ihrer konkreten Bedeutung für Bewusstseinsdarstel- lungen in Hybridfilmen (vgl. etwa Bruckner 2013) befragen. In drei Case Studies sollen anschließend die animierten Imaginationssequenzen der Filme LA SCIENCE DES RÊVES (2006), IT’S KIND OF A FUNNY STORY (2010) und THE DIARY OF A TEENAGE GIRL (2015) entlang der oben genannten Fragen hinsichtlich ihrer mentalen und medi- alen Autor_innenschaftsverhältnisse befragt werden. Abschließend kontextuali- siere ich die untersuchten Beispiele innerhalb aktueller Tendenzen zur Bewusst- seinsdarstellung in der neueren Filmgeschichte.

Konzeptuelle Vorarbeit: Autor_innen und Subjektivitäten

Autor_innenschaft

Trotz immer wieder heraufbeschworener Krisen ist Autor_innenschaft fraglos ei- nes der zentralen Konzept der Filmwissenschaft, Comicforschung und auch der Animation Studies (vgl. exemplarisch Felix 2002; Thon 2013; Wells 2002). Ausge- hend von der Literaturwissenschaft wurde die Annahme einer für Inhalt und Form eines Textes verantwortlichen Autor_inneninstanz von der Kritik und der Wissenschaft auf andere Medien übertragen und auch in Laiendiskurse über diese Medien übernommen. So prägte der Regisseur und Filmkritiker Alexandre Astruc 1948 den einflussreichen Begriff der caméra-stylo, mit welcher der oder die Filmschaffende als „Autor […] mit seiner Kamera wie ein Schriftsteller mit sei- nem Federhalter“ (Astruc 1992 [1948], 203) direkt auf die Leinwand schreibt und dabei die eigene, persönliche Weltsicht unmittelbar, „ohne […] Umweg“ (1992 [1948], 201) durch das Werk vermitteln könne. Insbesondere die französische Nouvelle Vague griff das Konzept von der Regisseur_in als Autor_in in ihrer zu- nächst vor allem in Kritiken und Essays der Cahiers du Cinéma entwickelten poli- tique des auteurs auf.1 Die Anhänger_innen dieser Idee verfolgten damit zum ei- nen die Aufwertung einer subjektiven Auswahl (zumeist US-amerikanischer) Studioregisseure als ‚Alte Meister‘ mit herausragendem individuellem Stil gegen- über der Massenproduktion Hollywoods.

TT 1 Zur Geschichte der Nouvelle Vague und insbesondere zur Rolle des Autor_innenkonzepts so- wie zu ihrer ideellen und ästhetischen Wirkung bis in die Gegenwart vgl. Frisch 2007.

234 : Maike Sarah Reinerth

Zum anderen wurde die Idee vom Kino „in der ersten Person“ (Truffaut 1999b [1954], 335) auch zum praktischen Credo für die ab der Mitte der 1950er Jahre im Umfeld der Nouvelle Vague entstehenden persönlichen Filme von Regisseur_in- nen wie Agnès Varda (LA POINTE COURTE, 1955), Alain Resnais (NUIT ET BROUILLARD, 1956), François Truffaut (LES QUATRE-CENTS COUPS, 1959) oder Jean-Luc Godard (À BOUT DE SOUFFLE, 1960). Dabei ging es auch um die grundsätzliche Anerkennung der Rolle der Regie, welche die jungen Kritiker_innen und Filmschaffenden nicht nur in Hollywoods Studioindustrie, sondern auch im französischen Nach- kriegskino gegenüber Drehbuchautor_innen und Schauspiel-Stars zum bloßen Handwerk degradiert sahen (vgl. Truffaut 1999a [1954]). Gleichwohl führte die Profilierung der Regie als allein verantwortliche_r Schöpfer_in – zumindest in der extremen, meist jedoch nur rhetorischen Zuspitzung – umgekehrt wiederum zur Abwertung anderer an der Erstellung eines Films beteiligten Personen, indem das Kollaborative der Filmproduktion ignoriert oder wenigstens in den Hinter- grund gedrängt wurde. Obwohl es also „offensichtlich gegen eine Reihe von Evi- denzen [verstößt]“, so Jürgen Felix, „das literarische Modell des Autors auf die Produktionswirklichkeit des Films und zumal auf populäre Spielfilme zu übertra- gen“ (2002, 14), hat die politique des auteurs der Nouvelle Vague jedoch bis heute Einfluss auf unser alltägliches, feuilletonistisches und wissenschaftliches Nach- denken über Film. Im Animationfilm nimmt die Autor_in weniger aufgrund äquivalenter histo- rischer Diskurse2 als wegen seiner spezifischen Produktionsweise, die zumindest im klassisch gezeichneten oder anderweitig händisch gefertigten Trickfilm un- mittelbarer auf eine schöpferische Instanz zu verweisen scheint, eine besondere Rolle ein (vgl. Bruckner 2010, 40–43): Die Belebung und Beseelung unbelebter Bilder, Objekte, Figuren oder Materialien durch Schöpfer_innen – typischerweise Animator_innen – welche die Animation von Hand und Bild für Bild erstellen, ist nach wie vor essenzieller Bestandteil gängiger Begriffsbestimmungen von Ani- mation, obwohl diese Art der manuellen Herstellung gerade im digitalen Zeitalter quantitativ nur einen sehr geringen, vorwiegend dem künstlerischen und expe- rimentellen Spektrum zuzurechnenden Anteil der Animationsfilmproduktion ausmacht (vgl. Bruckner 2010, 13–14; Wells 1998, 10). Paul Wells enttarnt den Reduktionismus dieser – mediengeschichtliche und vor allem technische Ent- wicklungen negierenden – Sichtweise, kommt aber dennoch zu folgendem Schluss: „Arguably, animation may be viewed as the most auteurist of film prac- tices […] and its very process, even when at its most collaborative, insists upon

TT 2 Die allerdings fraglos das Nachdenken über Animationsfilme in ähnlicher Weise geprägt ha- ben, wie den Diskurs um den fiktionalen Spielfilm.

Entirely (Self-)Made Up! : 235 the cohesive intervention of an authorial presence“ (Wells 2002, 73). Am Beispiel der vor allem für Sand- und Glasanimation bekannt gewordenen amerikanisch- kanadischen Animatorin Caroline Leaf führt er die Idee der Autorin im Animati- onsfilm weiter aus:

Leaf enhances the ‚form‘ to enable her to personalise and advance ‚meaning‘, ensuring that both aspects are endemic to her as an individual artist. In this sense Leaf may be viewed as ‚the embodiment and epitome of independent, original and potentially subversive vision in art, in support of the ‚genius‘ myth‘, with some degree of legitimacy in the later claim given the distinctiveness of her work, and as ‚a challenger to corporate, institutional and systemic oppression and coercion‘ by retaining her signature style and vision over a lifetime’s work. (Wells 2002, 103; die Zitate beziehen sich auf Wells’ eigene Kategorien)

Im Animationsfilm ist es, so Wells, also gerade die Wahl einer originellen, per- sönlichen – und im Fall von Leaf auch tatsächlich manuell erschaffenen – ästhe- tischen Form, die als bedeutungsbildendes Element der individuellen Sicht der Künstlerin als Autorin auf einzigartige Weise Ausdruck verleiht und sie so nicht nur von anderen ‚autorialen‘ Perspektiven unterscheidet, sondern auch über die in industrieller Abhängigkeit mainstreamkonform entstandene Massenproduk- tion erhebt. Wie schon Astruc und die Nouvelle Vague in ihrer Rede von der ‚Handschrift des Regisseurs‘, der Kamera als ‚Federhalter‘ oder dem Film als „Tagebuch“ (Truffaut 1999b [1954], 335) setzt auch Wells mit dem Begriff des „signature style“ (2002, 103) auf eine Schriftmetapher, beschreibt die Ästhetik von Animationsfil- men also analog zur persönlichen, eigenhändigen Unterschrift als (potenziell) künstlerisch authentifizierendes Merkmal, das Autor_innenschaft bezeugt. Für die Comicforscherin Hillary Chute verweist die Handschrift, als deren Erweite- rung sie auch den persönlichen Stil eines Comics auffasst, als „subjective mark of the body“ (2010, 11) stets auf Autobiografisches (vgl. Chute 2010, 10) und stellt somit eine unmittelbare, persönliche und – neben der in Autor_innenkonzepten zum Film meist im Vordergrund stehenden geistigen – auch körperlich-materielle Verknüpfung zwischen dem Werk und dessen Schöpfer_in als Autor_in her. Sie deutet damit einen tiefensemantischen Bezugsrahmen an, der die grafische Form sowohl als Ergebnis körperlicher Erfahrung – wie dem Hinterlassen von Spuren oder Markierungen – als auch tradierter kultureller Praktiken – wie dem Signie- ren oder Aufschreiben – kontextualisiert. Besonders deutlich wird dieser persön- liche Bezug zwischen Werk und Autor_in in so genannten graphic memoirs, die autobiografische Inhalte in oft distinkter grafischer (und häufig auch sprachli- cher) Form darstellen (vgl. z.B. Horstkotte/Pedri 2017), allerdings geht Chutes Begriff des Autobiografischen darüber hinaus. Nimmt man an, dass sich Co- mics und Animationsfilme in ihrer Privilegierung oder zumindest Betonung der

236 : Maike Sarah Reinerth grafisch-visuellen, potenziell manuell gestalteten Form ähneln, lässt sich ihre Überlegung auch auf den Animationsfilm übertragen. Jeder (weitgehend manuell gestaltete) Animationsfilm (und Comic) wäre dann in gewisser Weise ein autobi- ografisches und subjektives Werk, das notwendigerweise die Spur eines_einer Autor_in in sich trägt. Die Frage nach Autor_innenschaft in jedem dieser drei Medien bedürfte einer komplexeren Betrachtung, als ich sie an dieser Stelle leisten kann. Allerdings ist der differenzierte wissenschaftliche Diskurs über Autor_innenschaft auch nicht mit dessen implizitem Verständnis gleichzusetzen, das Alltags- und Feuilleton- diskurse dominiert und sich eher aus tradierten, Komplexität reduzierenden und pauschalisierenden Überlegungen sowie ‚intuitiven‘, alltagstheoretischen An- nahmen speist als aus aktuellen wissenschaftlichen Debatten. In dieser alltägli- chen ‚Theorie‘, die Autor_innenschaft als „historische [und ästhetische] Perspek- tive popularisiert“ (Felix 2002, 16), erscheint die These von singulären Au- tor_innen – oft wider besseres Wissen – weit weniger problematisch. In ihrer po- pularisierten Form führt die Autor_innentheorie das medial Gestaltete auf ein schöpferisches Bewusstsein zurück, das mit dem ausführenden Körper identisch ist. Es, das Gestaltete, erscheint dabei ‚medial selbstgemacht‘ und zeugt als auto- biografisches Dokument von seinem_r Schöpfer_in.

Subjektivität

Diese autobiografische Zeug_innenschaft und ‚Selbstgemachtheit‘ konstatiert für das konkrete Medienangebot – den Animationsfilm, den Comic, den Film – eine Einzigartigkeit, welche primär auf die körperlichen und geistigen Voraussetzun- gen seines Autors_seiner Autorin zurückgeführt wird, die sich auch als Subjektivität bezeichnen lassen. Dem Konzept des ‚Autor_innenfilms‘ oder ‚Au- tor_innencomics‘ liegt damit die Idee zugrunde, dass die Schöpfung (das Werk) immer auch die subjektive Perspektive ihres Schöpfers_ihrer Schöpferin, also eei- nes Autors_einer Autorin, ‚enthält‘ und zum Ausdruck bringt, jene spezifische Art und Weise, wie es sich anfühlt (X) zu sein (vgl. Nagel 1974), die grundlegend für eine Vielzahl von Subjektivitätskonzepten ist.3 Mediale Subjektivität vermittelt sich allerdings nicht nur durch die Autor_in- nenschaft der das Medienangebot herstellenden Personen. Vielmehr kann und wird sie auch anderen an medialen Kommunikationsprozessen beteiligten Ak- teur_innen zugeschrieben, die Träger_innen subjektiver mentaler Perspektiven

TT 3 Vgl. neben Nagel 1974 z.B. auch Searle 1999; Smith 2009; Tye 2015.

Entirely (Self-)Made Up! : 237 sein können.4 Zu diesen Perspektivträger_innen gehören nach Jens Eder (2008, 583–585) neben den Medienproduzierenden auch Erzählinstanzen, Figuren und Zuschauer_innen. Die Perspektive der ersten drei Gruppen von Bewusstseinen lässt sich prinzipiell medial repräsentierten, besonders häufig ist dabei die Dar- stellung der Bewusstseinsinhalte von Figuren (die dabei z.T. auch zu Erzäh- linstanzen werden), da der Nachvollzug des Innenlebens dieser fiktiven Wesen5 – zumindest in narrativen Medienangeboten – oft von besonderer Relevanz für die Entwicklung der Handlung ist.6 Diese Darstellungen unterscheiden sich dabei von der mentalen Perspektive selbst und sind, so Eder, als medial überformte, gestaltete „mediale Darstellungsperspektive“ (2008, 574) von ihrem Gegenstand – der „mentale[n] Perspektive“ (2008, 574) – abzugrenzen. Zur mentalen Perspek- tive zählt Eder perzeptuelle und propositionale Phänomene – wie die sinnliche Wahrnehmung, Wissen, Werturteile und Wünsche –, deren imaginative, d.h. quasi-perzeptuelle und, wenn auch nicht explizit erwähnt, quasi-propositionale Äquivalente – z.B. in Erinnerungen, Träumen und Vorstellungen – sowie Emoti- onen (vgl. Eder 2008, 577–578). Multimodale Medien wie (Animations-)Filme oder Comics mit ihren „wahrnehmungsnahen Bilder[n] und Töne[n]“ (Eder 2008, 579) tendieren dazu, sich auf die Darstellung perzeptueller oder quasi-perzeptu- eller Aspekte von Subjektivität zu fokussieren und (Quasi-)Propositionen und Emotionen eher implizit, z.B. narrativ durch eine bestimmte Strukturierung der

TT 4 Wenn im Folgenden von der mentale Perspektive die Rede ist, so umfasst diese dezidiert auch körperliche Aspekte, die als Erfahrungen Teil des Bewusstseins oder vorbewusster Prozesse sind. Eine Vielzahl typischer mentaler Prozesse lässt sich gar nicht ohne den Bezug zum Körper- lichen denken: So setzen autobiografische Erinnerungen in der Regel ein Bewusstsein über die körperliche Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort voraus, beim Träu- men befindet sich nicht nur der Geist, sondern auch der Körper im Zustand des Schlafes und auch Emotionen wie Angst, Trauer oder Freude haben eine körperliche Komponente, die sich in nicht oder nur schwer kontrollierbaren körperlichen Reaktionen – wie Angstschweiß, Herzklop- fen, Muskelspannung und -entspannung – oder auch bewusst ausgeführter Mimik und Gestik äußern kann. Ebenso wie in diesen alltäglichen vermischen sich auch in kreativen Prozessen mentale und körperliche Elemente – besonders augenfällig in dem von Chute und Wells akzen- tuierten ‚manuellen‘ künstlerischen Ausdruck, der zugleich Wiedergabe mentaler Eindrücke und – speziell in handgefertigten Animationsfilmen und Comics – körperlicher Abdruck ist. 5 Zur Konzeption von Figuren als fiktive Wesen sowie grundlegend zu Theorie und Analyse der Figur im Film vgl. Eder 2008, 125–311. 6 Dass Regisseur_innen ganze Filme auf ihrer eigenen mentalen Erfahrung und dabei auch auf konkreten Träumen oder Vorstellungen basieren lassen (oder dies behaupten), ist eher die Aus- nahme. Vgl. allerdings das Werk Federico Fellinis (z.B. AMARCORD, 1973) oder Robert Altmans (3 WOMEN, 1977).

238 : Maike Sarah Reinerth

Informationsvergabe, über das äußere Verhalten (von Figuren) oder als Teil (quasi-)perzeptueller Prozesse zu vermitteln (vgl. Reinerth/Thon 2017, 4). Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Darstellung imaginativer Phä- nomene als Teilbereich mentaler Prozesse, in dem sich (quasi-)perzeptuelle, (quasi-)propositionale und emotionale Aspekte vermischen. Imaginationen, so Gregory Currie und Ian Ravenscroft, sind mentale Akte, die nicht-imaginativen perzeptuellen und propositionalen Akten in gewisser Hinsicht ähneln, aber nicht mit ihnen übereinstimmen (vgl. Currie/Ravenscroft 2002, 5–23). Z.B. benötigen sie typischerweise keinen externen Auslöser und müssen keinen Handlungsim- puls mit sich bringen. Sie sind typischerweise auf ein Bewusstsein zurückzufüh- ren und werden weiter charakterisiert durch spezifische Erlebnisqualitäten oder Qualia, die beschreiben, wie sie sich für dieses Subjekt ‚anfühlen‘.7 In einem über- tragenen Sinn lassen sich Imaginationen als ‚mental Selbstgemachtes‘ verste- hen, dessen Urheber_innen – oder gar Autor_innen? – die Subjekte sind, die sie hervorbringen und erleben. Allerdings sind fiktive Subjekte wie Figuren in Fil- men, Animationsfilmen und Comics eben gerade nicht Urheber_innen der Dar- stellung dieser Imaginationen, die von am Produktionsprozess beteiligten Perso- nen gestaltet und erschaffen werden. Imaginationsdarstellungen unterliegen also einem Paradox: In der fiktionalen Logik der medial repräsentierten Ge- schichte geben sie die mentale Perspektive von Figuren (oder Erzählinstanzen) wieder, sollen also ihre unverwechselbare Weltsicht und exklusive Subjektivität zum Ausdruck bringen und für das Publikum nachvollziehbar und erfahrbar ma- chen. Und zwar häufig nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch durch ihre (Darstellungs-)Form, die oftmals den psychischen, körperlichen und sozia- len Idiosynkrasien ihrer Persönlichkeit angepasst erscheint, also gewissermaßen ihre ‚Signatur‘ oder ‚Handschrift‘ trägt.8 In der realen Logik der Produktion aller- dings können sie das Figureninnere gar nicht mit der suggerierten Unmittel-

TT 7 Curries und Ravenscrofts Konzept der Imagination diskutiere ich ausführlicher in meiner Dis- sertation, wo ich es systematisch für die Analyse medialer, primär filmischer Imaginationsdar- stellungen anschlussfähig mache. 8 Erzählungen, die autobiografische Aufzeichnungen thematisieren – etwa der Film KIND HE- ARTS AND CORONETS (1949) – leisten dies durch den simplen, aber effektiven Trick, die audiovisu- elle Darstellung mit der verbalen, meist schriftlichen Niederlegung der Memoiren durch die Fi- gur und damit sowohl durch den Akt des Aufschreibens als auch durch das sprachliche Idiom der figuralen Erzähler_in kurzzuschließen; raffinierter sind die Anordnung der Erinnerungen in MEMENTO (2000), die Leonards retrograde Amnesie in struktureller Hinsicht simuliert, die ‚selbst- gebastelten‘ Fantasien des kreativen Stéphane in LA SCIENCE DES RÊVES (vgl. Reinerth 2013b, 60–63) oder auch die – von Lukas Etter (2017, 100–101) exzellent beschriebenen – roten ‚Kinder- zeichnungen‘, die den Vater-Sohn-Konflikt in Chris Wares Comic LINT (2010) wiedergeben.

Entirely (Self-)Made Up! : 239 barkeit wiedergeben, da Imaginationsdarstellungen nicht von fiktiven Figuren gestaltet werden, sondern von realen Personen – darunter auch Medienschaf- fende, die ihre subjektive, autobiografische Erfahrung als Autor_innen in die me- diale Repräsentation einschreiben.9

Animation und Imagination: Ein Sonderfall?

Dieses Paradox betrifft keineswegs nur eine wissenschaftliche Auseinanderset- zung mit Imaginationsdarstellungen – für die Feststellung, dass die meisten Filmfiguren unfähig sind, selbst Filme herzustellen (die dann auch noch ihre ei- gene Innerlichkeit darstellen) und diese an ein extradiegetisches Publikum zu adressieren (vgl. auch Kuhn 2009), braucht es maximal alltägliche Medienkom- petenz. Hier, wie von Eder vorgeschlagen, zwischen der medialen Darstellungs- perspektive und der durch erstere überformten und in konkrete Darstellungen übertragenen mentalen Perspektive zu unterscheiden, erscheint also bereits in- tuitiv sinnvoll und spielt vermutlich implizit auch in Rezeptionsprozessen eine Rolle. Animierte Imaginationsdarstellungen in Realspielfilmen, um die es im rest- lichen Teil dieses Beitrags gehen soll, stellen diesbezüglich jedoch in mehrerer Hinsicht Sonderfälle dar: (1) Auch wenn sie im Widerspruch zu den realen Ent- stehungsprozessen der überwiegenden Mehrheit von Animationsfilmproduktio- nen steht, hält sich die bereits skizzierte These von der Animation als hochgradig subjektiver, imaginativer und dabei potenziell ‚auteuristischer‘ Darstellungspra- xis (vgl. Reinerth 2013a; Wells 2002) ebenso beharrlich wie die unhinterfragte Gleichsetzung von filmo-fotografischem Abbildrealismus mit apparativer Objek- tivität. In Hybridfilmen (vgl. Bruckner 2013; 2017), die realfilmische und ani- mierte Segmente verknüpfen, verstärkt sich diese wahrgenommene Opposition durch die unmittelbare Kontrastierung sogar noch. (2) Der Wechsel des Darstel- lungsmodus vom Realspielfilm zur Animation impliziert durch die unterschiedli- che Produktionsweise außerdem einen möglichen Wechsel der für die Gestaltung hauptverantwortlichen Akteur_innen. Tatsächlich gibt es nur wenige Spielfilm- Regisseur_innen, die in Live-Action-Filme eingebettete Animationssequenzen

TT 9 Darüber hinaus unterliegen Imaginationsdarstellungen der generellen Herausforderung, etwas eigentlich nur subjektiv und exklusiv-individuell Erlebbares intersubjektiv verständlich an ein Publikum zu kommunizieren, dessen Imaginationen (und andere Erfahrungen) nicht mit den repräsentierten übereinstimmen (vgl. dazu ausführlich Reinerth 2011; 2013b; siehe auch Reinerth/Thon 2017).

240 : Maike Sarah Reinerth selbst animieren. Auch wenn sie deren Produktion häufig im Sinne der Gesamt- konzeption des Werkes überwachen, liegt die Animation im übertragenen, bei manuell erstellten Animationen sogar im wörtlichen Sinn also häufig in ‚anderen Händen‘. Informiert durch die implizite Logik einer körperlich-materiellen Ver- bindung zwischen (anscheinend) manuell gestalteter Form und Urheber_in, scheint – lokal auf die betreffenden Segmente begrenzt – daher auch eine abwei- chende Autor_innenschaft möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich. (3) Als Schöpfer_in und damit potenzielle_r Autor_in dieser Animationssequenzen kom- men allerdings nicht nur reale, außerfilmische Animator_innen infrage, die in der Regel für die Trickfilmproduktion verantwortlich zeichnen. Im Rahmen der filmischen Erzählung kann vielmehr der Zusammenfall figuraler Imagination und filmischer Animation nahelegen, dass die imaginierende Figur selbst hier für einen Moment nicht nur die eigene Imagination (mental), sondern metaleptisch- transgressiv (vgl. u.a. Feyersinger 2007; Thon 2009) auch deren Darstellung (me- dial) hervorbringt: Das mental Selbstgemachte wird zum medial Selbstgemachten. Begünstigt wird eine solche Interpretation bzw. Rezeptionshypothese vor allem dann, wenn es sich um künstlerisch begabte Figuren handelt, denen kreative Grundfähigkeiten grundsätzlich zuzutrauen sind und die der Film im Akt des Zeichnens, Knetens oder Bastelns zeigt. Und tatsächlich ist dieser Figurentyp ‚mentaler Bastler_innen‘ oder ‚Kopfkünstler_innen‘ in der hier thematisierten Gruppe von Filmen besonders häufig anzutreffen.10 Eine Vielzahl von Bewusstseinen konkurriert also um die Urherber_innen- schaft animierter Imaginationssequenzen. Während eine erzähltheoretische oder produktionshistorische Analyse die realen und (hypo)diegetischen Ebenen frag- los auseinanderdividieren könnte, interessiert mich hier primär, in welcher Weise sie im Rezeptionseindruck miteinander verschmelzen und zwischen ver- schiedenen Subjekten oszillierende, teils dissonante Autor_innenschaftsverhält- nisse hervorbringen, die auch mit der ‚Sichtbarkeit‘ der Akteur_innen hinter bzw. jenseits der Kamera und dem kontextuellen Wissen der Rezipierenden zu tun ha- ben. Solche animierten Imaginationssequenzen in Hybridfilmen sind überdies auch im Kontext gegenwärtiger medienästhetischer Entwicklungen zu sehen, die Regeln von Fiktion und Realität spielerisch außer Kraft zu setzen. Dazu gehört

TT 10 So verfügen die Protagonist_innen in SON OF RAMBOW (2007), LA SCIENCE DES RÊVES, IT’S KIND OF A FUNNY STORY und THE DIARY OF A TEENAGE GIRL über künstlerische Fähigkeiten, die von den Filmen auch explizit thematisiert werden. Häufig handelt es sich dabei zusätzlich um kindliche oder jugendliche Figuren, womit auch das Klischee des Animationsfilms als Kindermedium nar- rativ für die Zuordnung der animierten Sequenzen zu einem kindlichen Bewusstsein genutzt wird (neben den bereits genannten Werken z.B. auch in THE FALL [2006]; vgl. zudem Reinerth 2011).

Entirely (Self-)Made Up! : 241 insbesondere die viel diskutierte Komplexitätssteigerung und Verschachtelung von Erzählperspektiven (zu denen sich die Annahme multipler, ebenenübergrei- fender Urheber_innenschaft durchaus zählen lässt). Ebenso relevant erscheint allerdings auch die aktuelle Tendenz, das menschliche Innenleben als grund- sätzlich veränderbar, d.h. als von außen zu manipulierende oder ‚von innen‘ zu gestaltende Prozesse, zu konzipieren (vgl. Reinerth 2013b). Auf diese kultur- und mentalitätsgeschichtliche Dimension von Imaginationsdarstellungen werde ich in den Schlussbetrachtungen noch einmal zurückkommen.

IT’S KIND OF A FUNNY STORY: Der zeichnende Kranke

Die Coming-of-Age-Geschichte IT’S KIND OF A FUNNY STORY (Regie: Anna Boden und Ryan Fleck) erzählt eine Episode aus dem Leben des 16-jährigen New Yorkers Craig Gilner, der sich wegen anhaltender Suizidgedanken selbst in ein psychiat- risches Krankenhaus einweisen lässt. Dort lernt er im Umgang mit den anderen, großteils als sympathische Spinner_innen inszenierten Patient_innen, wieder Vertrauen zum Leben und in seine persönlichen Stärken zu gewinnen. Er freun- det sich mit der Jugendlichen Noelle an und wird durch kunsttherapeutische Maßnahmen nicht nur zur Auseinandersetzung mit biografischen und familiären Konflikten angehalten, sondern auch in seinem Wunsch bestärkt, entgegen dem Willen seines Vaters eine künstlerische Karriere einzuschlagen. Der Film enthält nur eine animierte Imaginationssequenz, deren Bedeutung für die Handlung al- lerdings zentral ist, markiert sie doch einen therapeutischen Durchbruch, der Craig nicht nur verborgene Familienkonflikte, sondern auch seine Kreativität wiederentdecken lässt. Bei seinem ersten Termin zur (Gruppen-)Kunsttherapie ringt sich Craig, er- mutigt von Noelle, nach erstem Widerstand zur Anfertigung einer Zeichnung durch. Eine Nahaufnahme von Craig, die in eine Fahrt auf den Kopf der Figur übergeht und deren linkes Auge fokussiert, bevor sie schließlich, unmittelbar vor dem Wechsel in die Animation, sogar in dieses einzudringen scheint, leitet die eigentliche Imaginationssequenz ein. Begleitet von Musik erscheinen nach und nach die wie mit Bleistift gezeichneten Konturen von Häusern, Straßen, Autos, Zügen und Bäumen auf hellem Hintergrund – eine imaginäre Stadt, durch die die Kamera scheinbar schwerelos gleitet. Vor einem in Grau-Blau hervorgehobenen Haus verlangsamt sie ihre Fahrt, die gelblichen Gardinen eines Fensters öffnen sich und geben den Blick frei auf eine realfilmische Sequenz, die durch die Ein- blendung „Brooklyn, 1999“ als der Rahmenhandlung zeitlich vorgeordnet und damit – an das bereits etablierte Imaginationsszenario anschließend – als Craigs

242 : Maike Sarah Reinerth

Erinnerung verstanden werden kann. Craig, der hier der zeitlichen Paradoxie des Erinnerungserlebens entsprechend abwechselnd als Jugendlicher und als fünf- jähriges Kind gezeigt wird, befindet sich nach dem gescheiterten Versuch, einen Stadtplan von Manhattan händisch durchzupausen, im Gespräch mit seiner Mut- ter, die ihm rät: „Instead of trying to trace maps of Manhattan, why don’t you make up your own maps, of imaginary places?“ Nach einem Umschnitt auf den lächelnden Jungen setzt die Animation (und mit ihr eine Variation des musikali- schen Themas) erneut ein. Wieder entstehen urbane Straßenzüge, diesmal zu- nächst auf einem (realfilmisch repräsentierten) Papier, wobei in einem hybriden Bild, das Animation und realfilmische Aufnahme in einer Einstellung verbindet (vgl. Bruckner 2013, 64–68), für einige Sekunden auch Craigs Hand im Bild zu sehen ist, die Teile der Zeichnung hervorbringt (siehe Abb. 1). Anschließend durchfliegt die Kamera wieder eine rein animierte, zunehmend auch mit Farbe versehene Welt und erhebt sich abschließend zu einem Top Shot, der die nun unbewegte Stadtlandschaft auf geometrische Formen reduziert, fährt weiter her- aus in eine Nahe, bis sich mit dem Wechsel zurück in die realfilmische Darstel- lung das vormals Animierte als (statisches) Bild im Bild entpuppt, das der 16-jäh- rige Craig der Gegenwart eben mit einem feuchten Pinsel fertigstellt (siehe Abb. 2).

Abb. 1: Hybride Bilder 1: Die Hand des Kindes Craig in IT’S KIND OF A FUNNY STORY (2010).

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Abb. 2: Hybride Bilder 2: Die Hand des Jugendlichen Craig IT’S KIND OF A FUNNY STORY (2010).

Die konventionalisierte Kombination aus (relativ) naher Porträtaufnahme und Fahrt auf bzw. in den Kopf der Figur,11 die zudem in einer kaum wahrnehmbaren Überblendung mit grafischem Match Cut die beiden Ebenen miteinander verbin- det, kennzeichnet gleich zu Beginn das Darauffolgende als mentalen Akt, der sich eindeutig der subjektiven, imaginativen Erlebniswelt der Figur Craig zuord- nen lässt. Fraglos handelt es sich bei der imaginären Stadt also um seine mentale Schöpfung. Mit der zweimal ins Bild gesetzten zeichnenden Hand wird allerdings auch deren mediale Repräsentation als von Craig selbst erschaffen charakteri- siert: Was er sich vorstellt, scheint, zumindest teilweise, mit dem, was er zeichnet bzw. malt zu verschmelzen; nicht nur die Imagination, sondern auch deren Dar- stellung trägt Craigs ‚Handschrift‘; storylogisch ‚zeichnet‘ er nicht nur für die mentale Perspektive, sondern ebenso für die Darstellungsperspektive verant- wortlich. Natürlich können Zuschauer_innen aus einer Artefakt-Perspektive (vgl. dazu grundlegend Eder 2008, 125–152, 312–415) durchaus nachvollziehen, dass die fik- tive Figur Craig von den Schauspielern Keir Gilchrist und Billy McFadden darge- stellt wird und nicht tatsächlich für die realen, zudem digital produzierten Ani- mationssequenzen verantwortlich sein kann. Doch diese – von den Produ- zent_innen höchstwahrscheinlich auch nicht intendierte (vgl. Eder 2008, 108) – Rezeptionsperspektive drängt sich vermutlich nur bei wenigen Zuschauer_innen

TT 11 Zur historischen Genese dieser Darstellungskonventionen vgl. Reinerth 2016.

244 : Maike Sarah Reinerth in den Vordergrund. Der Film selbst stellt Craig als Autor seiner Imagination und Imaginationssequenz dar, auch weil andere potenzielle Urheber_innen wegfal- len oder im Hintergrund bleiben: Die Regisseur_innen Anna Boden und Ryan Fleck – bekannt z.B. für den Film HALF NELSON (2006) – weisen keine offensicht- liche Animationskompetenz auf, ihre ‚Handschrift‘ kann sich also wohl kaum in den animierten Zeichnungen wiederspiegeln und der für diese verantwortliche Animator Brian Drucker bleibt im Kontext der Produktion – wie im Übrigen viele Animator_innen – nahezu unsichtbar: Im PR-Material zum Film wird er gar nicht, im Abspann erst weit hinten genannt, sonstige Bekanntheit hat er nicht. Zwar verweist die Ästhetik der Imaginationssequenz in Teilen auf Abbildun- gen der gleichnamigen und autobiografisch inspirierten literarischen Vorlage des 2013 verstorbenen Ned Vizzini. Die grafische Gestaltung nimmt im Buch je- doch einen vergleichsweise geringen Anteil ein und hat hier vor allem den Status eines kreativ-imaginativ erdachten, dabei aber nicht zugleich imaginativ erleb- ten12 therapeutischen Kunstwerks der Romanfigur Craig (vgl. die entsprechenden Passagen in Vizzini 2006, v.a. Kap. 3 und 32).13 Die filmische Elaboration wirkt als davon weitgehend unabhängiger, primär die Erlebnisqualität und den Erfah- rungsraum des fiktiven Wesens Craig darstellender Einschub, der sich zugleich direkt aus dessen Feder speist – wir werden sogar Zeug_innen dieses Akts meta- leptischer Transgression, wenn wir ihm beim Zeichnen zusehen.

Wer ist hier der Strippenzieher? Reale und fiktive Autoren in LA SCIENCE DES RÊVES

Ein komplexerer Fall ist Michel Gondrys LA SCIENCE DES RÊVES. Der Film erzählt von Stéphane Miroux, einem psychisch labilen und sozial isolierten jungen Mann,

TT 12 Zur Unterscheidung zwischen kreativer und rekreativer Imagination vgl. Currie/Ravenscroft 2002, 2. 13 Der Roman ist weitgehend im Präsens aus der Ich-Perspektive des Protagonisten erzählt und gibt dabei insgesamt – und nicht nur punktuell – tendenziell dessen subjektive mentale Per- spektive wieder. Anders als der Film sind perspektivische Wechsel hier nur graduell vorhanden, z.B. wenn Craig sich im Präteritum an die Vergangenheit erinnert oder bestimmte Aspekte seines Erlebens in den Mittelpunkt der Erzählung rückt. Die in der Verfilmung als Imagination (und Erinnerungsflashback) inszenierte Sequenz kombiniert zwei im Buch weit auseinanderliegende Szenen aus den Kapiteln 3 und 32. Dabei wird zwar deutlich, dass es sich bei Craigs Zeichnungen um von ihm ausgedachte ‚Stadtpläne‘, also um eine mediale Repräsentation handelt, über deren mentale Repräsentation der Roman allerdings im Unterschied zum Film keine Aussage trifft.

Entirely (Self-)Made Up! : 245 der nach dem Tod seines Vaters als Praktikant in einem Verlag für Katastrophen- Kalender in Paris arbeitet. Zwischen ihm und seiner Nachbarin Stéphanie ent- spinnt sich eine vorsichtige Freundschaft, die durch Stéphanes Unfähigkeit, sei- nen Gefühlen adäquat Ausdruck zu verleihen, jedoch immer wieder auf die Probe gestellt wird. Er schafft es nicht, ihr seine Zuneigung zu gestehen, sodass sich das von ihm erträumte gemeinsame Leben nur in seiner Fantasie realisiert. LA SCIENCE DES RÊVES enthält mehrere Imaginationssequenzen unterschiedli- chen Typs, die auf originelle Weise inszeniert werden: als Fernsehtalkshow ge- rahmte Erinnerungen, ‚selbstgekochte‘ psychedelische Träume und per Stop- Motion-Verfahren zum Leben erweckte Fantasievorstellungen. In der den Film abschließenden Sequenz liegt Stéphane nach einem Streit mit Stéphanie kurz vor seiner geplanten Rückreise nach Mexiko in deren Bett. Neben ihm steht ein wei- ßes, filigranes Boot, das er für sie gebastelt hat. Eine Gruppe von aus Draht und Papier gefertigten Bäumen befindet sich im Innern des Bootes und kann mit ei- nem Schalter in Bewegung versetzt werden. Bereits das Rütteln der Blätter ist als Stopptrick innerhalb der hybriden Einstellung umgesetzt. Getragene Klaviermu- sik setzt ein, es folgt ein Umschnitt auf Stéphanie, die ins Bett klettert, um nach Stéphane zu sehen. Die Kamera fährt parallel zur Bettkante und rahmt die beiden in einer Halbnahen, das Boot unscharf aber mittig im Vordergrund. Sie streichelt ihn und mit einer Schärfenverlagerung wechselt der Fokus auf das Boot. Die nächste Folge von Einstellungen zeigt Stéphane und Stéphanie auf einem Pony an der Ruine eines Wohnhauses mit angrenzendem Waldstück vorbeireitend, er mit Tierohren auf dem Kopf, das Pferd in einen Mantel gehüllt – deutliche Anzei- chen einer von der Realität abweichenden Darstellungsebene. Dann erfolgt ein Schnitt auf die weißen Papierbäume, deren Kronen sich im Stopptrickverfahren animiert vor Wolken aus Wattebäuschen hin und her wiegen. Anschließend ist das Boot in der Aufsicht zu sehen, wie es an einem glitzernden, rauschenden Zel- lophan-Meer liegt. Realfilmisch läuft das Pony samt Reiter_innen auf das Ufer zu, verwandelt sich im Umschnitt jedoch in eine Pferdepuppe mit zwei Menschen- puppen, die auf das Boot springen und, wiederum per Stopptrick, dem artifiziel- len Horizont entgegensteuern (siehe Abb. 3 und 4). Als Stéphanes Imagination ist die Sequenz zwar weniger konventionell gerahmt als die in IT’S KIND OF A FUNNY STORY beschriebene, erscheint aber den- noch klar verständlich: Die Annäherung der Kamera an die Figur verbindet sich mit der Musik und plausibilisiert die plötzliche Veränderung des zudem mit fan- tastischen Elementen versetzten Schauplatzes als mental Erdachtes. Auch die „hybride Montage“ (Bruckner 2013, 68; vgl. auch Bruckner 2013, 68–71), also der stete Wechsel zwischen realfilmischen und animierten Aufnahmen, dürfte durch die Rahmung als Imagination, in der prinzipiell alles denkbar ist, kaum irritieren.

246 : Maike Sarah Reinerth

Abb. 3: Traumreisende 1: Stéphane und Stéphanie als Puppen in der Animation (LA SCIENCE DES RÊVES, 2006).

Abb. 4: Traumreisende 2: Stéphane und Stéphanie dargestellt von Gael García Bernal und Charlotte Gainsbourg in realer Kulisse (LA SCIENCE DES RÊVES, 2006).

Ähnlich wie in IT’S KIND OF A FUNNY STORY ist auch diese Fantasiewelt offensicht- lich eine künstlich und künstlerisch erschaffene, auch wenn die Herstellung der Objekte – das Boot, das Meer – der abschließenden Imagination vorausgehen. Sie entstehen also nicht erst im Moment (dieser) Imagination, sind in ihrer

Entirely (Self-)Made Up! : 247 materiellen Erscheinungsweise aber dennoch mit der fiktiven Biografie des ima- ginierenden Stéphane verknüpft, soweit sie im Verlauf des Films präsentiert wird. Allerdings fällt es bei einem Regisseur wie Michel Gondry, der fraglos zu den profiliertesten Filmautor_innen der Gegenwart zählt (vgl. z.B. Krützen 2015, 614–618) und mit zahlreichen Musikclips, Spielfilmen und Dokumentationen sei- nen unverkennbaren Do-it-yourself-Stil gerade auch im Bereich der Animation manifestiert hat, schwer, die außerfilmischen Produktionsbedingungen der kunstvollen Requisiten und, mit ihnen, auch der Imaginationsdarstellungen au- ßer Acht zu lassen. Zwar fertigt Gondry nicht alle seine Puppen, Objekte und Ani- mationen selbst an,14 er gilt aber als Ideengeber für die unverkennbare Gestaltung seiner Filme. Während also die Einbettung der Imaginationssequenz in LA SCIENCE DES RÊVES primär auf die Figur Stéphane als Subjekt verweist, das sie ‚mental‘ her- stellt und erlebt, trägt die Art und Weise ihrer ästhetischen Gemachtheit sowohl Stéphanes als auch Gondrys kreative Handschrift. Diese doppelte Autorschaft, die zum einen – in der Logik der fiktiven Welt – Stéphane nicht nur mental, son- dern auch materiell und medial als selbst-verantwortlich für die Ausgestaltung seiner Innenwelt (und damit prinzipiell auch zu deren aktiver Umgestaltung be- fähigt) darstellt und zum anderen – entsprechend des Autorschaftsanspruchs des Regisseurs – auch Gondry als kreativen Kopf der originellen Umsetzung ins Spiel bringt, ist möglicherweise gewollt, wenn man berücksichtigt, dass er wie- derholt auf autobiografische Bezüge seines Werks hingewiesen hat (vgl. etwa Brenner 2006). Beide Interpretationen schließen sich somit auch nicht aus, sie beflügeln sich eher noch gegenseitig: Das Publikum wird eingeladen, sich die Fi- gur Stéphane analog zu ihrem Schöpfer Gondry als jemanden vorzustellen, der imaginäre Welten erschafft – der eine in der Produktion von Filmen, der andere in der beliebigen Manipulation der eigenen Gedankenwelt, die – wohl kaum rein zufällig – wie aus Filmrequisiten gestaltet erscheint.15 Zugleich wird damit, wie bereits in IT’S KIND OF A FUNNY STORY, die Sphäre des Mentalen zur Spielwiese der

TT 14 Vgl. etwa Warner Bros.’ Behind-the-Scenes-Video mit Lauri Faggioni, die in LA SCIENCE DES RÊVES für die Anfertigung von Puppen verantwortlich war: https://youtu.be/ONdGKv4XLhw (letzter Zugriff: 18. August 2017). 15 Umgekehrt verführt das Postulat des Autobiografischen auch dazu, von Stéphane Rück- schlüsse auf die reale Person Gondry zu ziehen, die sich allerdings in der Regel nicht nachprüfen lassen. Ein in dieser Hinsicht aufschlussreicher und ästhetisch durchaus mit den hier bespro- chenen Werken vergleichbarer Film ist sein teilanimierter Interviewfilm IS THE MAN WHO IS TALL HAPPY? (2013), in dem Gondry den Linguisten und Philosophen Noam Chomsky zu dessen Arbeit und Leben befragt und, parallel zu den Antworten, seine eigenen Gedanken dazu in (eigenhän- dig) animierten Sequenzen ins Bild setzt.

248 : Maike Sarah Reinerth eigenen Kreativität, zu einem mentalen Kunstwerk, an dessen Gestaltung das Be- wusstsein selbst als Schöpfer_in oder Autor_in kontinuierlich beteiligt ist. Wäh- rend Craig im ersten Film aus dieser Erkenntnis die Kraft zieht, auch in der (die- getischen) Realität nach Veränderung zu streben, kann sich Stéphane in LA SCIENCE DES RÊVES jedoch nicht aus seiner idealen Fantasiewelt lösen, hinter der seine Realität fast zwangsläufig zurückbleibt.

Phoebe, Minnie, Marielle und Sara: Multiple Autorinnenschaft in THE DIARY OF A TEENAGE GIRL

Der Widerstreit verschiedener Autor_innen ist für Zuschauer_innen also nur ein vermeintlicher, sofern jene auf verschiedenen Ebenen inner- und außerhalb des Films angesiedelt sind und ihre jeweilige Privilegierung entsprechend unter- schiedliche Perspektiven auf die Darstellung voraussetzt (die allerdings zusam- men- und miteinander wechselwirken können). Während es in den vorigen Bei- spielen dabei stets um eindeutig zu bestimmende Akteur_innen (Figuren, Filmschaffende) und den ihnen zugeschriebenen Anteil an der Gestaltung der animierten Imaginationssequenzen ging, möchte ich mit Marielle Hellers Film THE DIARY OF A TEENAGE GIRL abschließend noch auf ein Beispiel eingehen, das durch die Überlagerung verschiedener möglicher Urheberinnen gewissermaßen ein neues, fingiertes Autorinnensubjekt hervorbringt, welches als Hybrid oder Chimäre zwischen den (zahlreichen) fiktiven und realen Schöpfer_innen ange- siedelt ist und dessen ‚Handschrift‘ die Animationssequenzen letztlich tragen. Der Film basiert auf der gleichnamigen autobiografischen Graphic Novel von Phoebe Gloeckner (2002), die als eine Art Tagebuch vom Alltag der (fiktiven) 15- jährigen Minnie Goetze in San Francisco Mitte der 1970er Jahre erzählt. Der Film konzentriert sich auf eine besonders markante Episode des Buchs, in der Minnie zum ersten Mal Sex hat – und dies ausgerechnet mit Monroe, dem Freund ihrer Mutter, was eine Reihe emotionaler, sozialer und persönlicher Entwicklungen in Gang setzt. Während die Graphic Novel vorgibt, Minnies tatsächliches Tagebuch zu sein, nutzt der Film sowohl die akustische als auch die visuelle Ebene, um die intime Gedankenwelt des teenage girl direkt und aus ihrer eigenen Perspektive zu vermitteln: Auf Audiokassetten spricht Minnie tagebuchähnlich ihre Sorgen und Beobachtungen ein; zugleich ist sie eine talentierte Zeichnerin und malt – für ihre Umwelt z.T. verstörende – Kunstwerke, die durch den Film immer wieder auch in Bewegung versetzt werden und dann ihren Vorstellungen und Gefühlen in besonderer Weise Ausdruck verleihen. Die Wahl dieser unterschiedlichen

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Kanäle ist durchaus interessant: Sie nimmt nicht nur die Multimodalität der Vor- lage auf, wo sich Text und Zeichnungen abwechseln, und überträgt diese im zeit- lich ausgedehnten Medium Film in gesprochene Sprache und bewegte, animierte Bilder. Die trotz ihrer besonderen medialen Form eindeutig in der Tradition des Tagebuchs stehenden Audioaufzeichnungen verankern auch die in dieser Hin- sicht weniger konventionellen Animationen in derselben Praxis (die ja auch der Filmtitel, wie bereits das Buch, erwähnt), zumal sie gleich zu Beginn des Films miteinander in Verbindung gebracht werden.

Abb. 5: „I was a very ugly child“. Die erste Animation in THE DIARY OF A TEENAGE GIRL (2015).

Abb. 6: Mann mit Vogel: Minnies idealisiertes Bild von Monroe (THE DIARY OF A TEENAGE GIRL, 2015).

250 : Maike Sarah Reinerth

Im Bild sehen wir zunächst Minnie, wie sie in ein mit dem Kassettenrekorder ver- bundenes Mikrofon spricht. Während sie die ‚Geschichte‘ ihrer Geburt erzählt, fokussiert die Kamera mehrere lose an die Wand gepinnte und anscheinend selbstgezeichnete Bilder, darunter ein weiblicher Akt, der sich lasziv zu bewegen beginnt, bis sich bei Minnies Worten „I was a very ugly child“ ein kindlicher Kopf aus der Vagina schiebt (siehe Abb. 5). Kurz darauf wechselt die (realfilm)bildliche Ebene, geleitet von Minnies Tagebucherzählung, in die Vergangenheit des Vor- abends, an dem Monroe mit Minnie schläft. In einer Szene sorgt sie sich im Voice- over der Tonaufzeichnung um die Größe ihrer Brüste. Der Film schneidet darauf- hin visuell von einer Situation auf der Couch, Monroes Hand auf ihrer linken Brust, in Minnies Zimmer, wo sie in ihrem Skizzenbuch ein Bild Monroes betrach- tet und liebkost. Erneut beginnt die Zeichnung sich zu bewegen und während die Kamera bis zur Nahen auf seinen Kopf zufährt, adressiert er sie, Blick in die Ka- mera, direkt: „Can I just say, um, t-t-touching your breasts was, um, was uh-uh- uh [kichert], I can’t even say it. They’re really great, Minnie. Fantastic breasts. Just perfect“. Parallel dazu bricht die Bleistiftzeichnung an einigen Stellen auf und in einem hybriden Bild erscheint der realfilmisch aufgezeichnete Kopf des Monroe-Darstellers Alexander Skarsgård vor dem Hintergrund einer animierten, floral-ornamentalen Kulisse (siehe Abb. 6). Dieses kitschig-romantische Bild, das Minnies idealisierende Sicht auf ihren nach moralischen Gesichtspunkten völlig ungeeigneten Sexualpartner wiedergibt, wird gekrönt von einem kleinen blauen Vögelchen, das sich auf Monroes Kopf niederlässt. Ob Monroe diese Worte tat- sächlich gesprochen hat oder nicht, bleibt unklar und ist für den Status als Ima- gination auch irrelevant. Ausgehend von ihrer Zeichnung stellt sie sich vor, das heißt imaginiert, wie er ihr dieses ‚Kompliment‘ macht. Die Animationen leiten dabei den Imaginationsvorgang ein, indem sie Monroes Abbild zum Leben erwe- cken und drücken darüber hinaus auch Minnies emotionale Perspektive aus. Er- neut ist die Protagonistin in den animierten Sequenzen nicht einfach nur Per- spektivträgerin. Die Animationen repräsentieren vielmehr nicht nur Minnies mental selbstgemachte Imaginationen, sondern sind – in der Diegese – gleich- zeitig auch von ihr als fiktivem Wesen medial selbstgemacht und tragen ihre künstlerische Handschrift, die sich sowohl in den formalen Aspekten der Zeich- nungen als auch in der z.T. juvenil-idealisierenden Darstellungsweise äußert. Tatsächlich beruht deren Umsetzung auf den Abbildungen in Phoebe Gloeck- ners Buch, die sie allerdings trotz des autobiografischen Bezugs großteils erst als Erwachsene anfertigte.16 In gewisser Hinsicht tragen sie also auch Gloeckners

TT 16 Die Neuauflage der Graphic Novel von 2015 enthält neben einem Vorwort von Hillary Chute auch Fotos und Zeichnungen aus Gloeckners originalem Tagebuch, die eindeutig Ähnlichkeiten

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Autorinnenhandschrift, die von Animatorin Sara Gunnarsdóttir nach Aussage der Regisseurin Heller allerdings so imitiert wurde, wie sich diese die Gestal- tungskompetenz der 15-jährigen Phoebe Gloeckner vorstellte: „We tried to keep it a little bit in the cruder realm because Minnie’s just learning and developing her artistic style“ (zitiert nach Cusumano 2015, o.S.). Hellers Aussage verdeutlicht in eindrücklicher Weise die Überlagerung der verschiedenen fiktiven und realen Urheberinnen der Animationsästhetik, die letztlich in einer fingierten Hand- schrift verschmelzen: die der (von Gunnarsdóttir und Heller auf Grundlage von Gloeckners Buch imaginierten) 15-jährigen Phoebe, als deren Alter Ego und me- diale Stellvertreterin die fiktive Minnie gilt. Hellers uneitle und offene Themati- sierung der konzeptuellen und praktischen Produktion der Animationssequen- zen enttarnt letztlich auch das Autor_innenkonzept als unzureichend, zeigt sie doch auf, dass an der Herstellung und Gestaltung (massen)medialer Angebote stets eine Vielzahl von Subjekten beteiligt ist und singuläre Autor_innenschaft eine Fiktion bleibt.17 Zugleich legt sie auch nahe, dass multiple, kollektive oder fingierte Autor_innenschaftsverhältnisse auf Seiten der Produktion storylogisch etablierte fiktive Urheber_innenschaft nicht infrage stellen: Im Mittelpunkt von Hellers Aussage steht Minnies persönlicher Stil – und eben nicht der einer ihrer zahlreichen kreativen ‚Mütter‘ –, mit dem sie die gestalterische Hoheit über ihre intime Imaginationswelt reklamiert.

Schlussbetrachtungen: Animation – Imagination – Manipulation

In allen drei hier diskutierten Beispielen regt die im Unterschied zur realfilmi- schen Haupthandlung betont selbst-gemachte Ästhetik der animierten Sequen- zen zum Nachdenken über deren Form und Herstellung an. Zuschauer_innen werden durch diese Art der Selbstreferenzialität angeleitet, die Imaginationsse- quenzen nicht nur als mentale Inhalte fiktiver Wesen zu verstehen, sondern auch als gestaltete Artefakte. Im Unterschied zu den meisten nicht-animierten Imagi-

TT mit den nachträglich angefertigten aufweisen, aber nicht mit ihnen deckungsgleich sind (vgl. Gloeckner 2015, 299–306). 17 Verkompliziert wird das Autor_innenschaftsverhältnis im Übrigen noch dadurch, dass Min- nies Zeichnungen streckenweise bewusst den Stil der Comic-Künstlerin Aline Kominsky-Crumb imitieren, die großen Einfluss sowohl auf die fiktive Minnie als auch auf die reale Gloeckner übt. Auch der Film nimmt Kominsky-Crumbs Ästhetik in der Animation einer nach dem Vorbild von deren Comix entstandenen grafischen Kurzgeschichte auf.

252 : Maike Sarah Reinerth nationsdarstellungen ermöglichen die Filme ihrem Publikum dabei allerdings zwei Arten von Artefakt-Perspektiven: Zum einen kann die reale Produktion der Animation in den Blick genommen und z.B. als ästhetisch oder abstoßend, als passend oder unangemessen bewertet und dabei – je nach Kontextwissen und Einstellung der Rezipierenden – auch mit Urteilen über deren Produzent_innen verbunden werden, deren ‚persönliche Handschrift‘ sich in ihnen ausdrückt (oder nicht). Zum anderen rücken in einer diegetisierenden Artefakt-Perspektive aber auch die Figuren als für die Gestaltung ihrer eigenen Imaginationsdarstel- lungen verantwortliche Subjekte in den Mittelpunkt, ungeachtet des zumindest in rudimentärer Form vorauszusetzenden Wissens um die tatsächlichen Herstel- lungsprozesse. Diese Perspektive kann den Eindruck von Intimität und Exklusi- vität, mit der wir in die Innenwelt der Figuren eintauchen, verstärken, handelt es sich doch anscheinend nicht nur um deren mentale Perspektive, sondern auch um eine von ihnen verantwortete mediale Darstellung. Die angenommenen realen Autor_innen stehen in dieser Interpretation nicht in Konkurrenz zu den fiktiven; die doppelte Urheber_innenschaft wirkt keineswegs paradox. Das Wissen um diese außerfilmischen, real existierenden Subjekte kann unsere Perspektive auf die Figuren vielmehr mit zusätzlichen Informationen und Emotionen anreichern (und umgekehrt). Doch nicht nur über unser Verhältnis zu Figuren und Medienproduzent_in- nen sagt diese spezifische mediale Konstellation etwas aus, sie ist auch Teil eines unter anderem medial geführten Diskurses über Imagination und Subjektivität: Filme wie LA SCIENCE DES RÊVES, IT’S KIND OF A FUNNY STORY oder THE DIARY OF A TEENAGE GIRL thematisieren mentale Prozesse als prinzipiell anfällig für Manipu- lationen. Dabei behalten allerdings die Figuren als Subjekte selbst die Gewalt über ihr Innenleben, indem sie dieses kreativ gestalten, spielerisch verändern und als Freiraum zur Selbstverwirklichung nutzen. Die Filme knüpfen so – mit Bildern wie der zeichnenden Hand in IT’S KIND OF A FUNNY STORY auch motivisch – an den im Animationsfilm verbreiteten Topos der zu eigenem Bewusstsein er- wachten Figur an. Allerdings sind es in Animationsfilmen und -serien wie OUT OF THE INKWELL (1918–1929) oder LA LINEA (1971–1986) eben gerade animierte Figuren, die Kenntnis über ihre Identität als medial erzeugte Figuren erlangen und deren Wunsch nach selbstbestimmter Entfaltung mit den Vorhaben ihrer Schöpfer_in- nen in Konflikt gerät. LA SCIENCE DES RÊVES, IT’S KIND OF A FUNNY STORY und THE DI- ARY OF A TEENAGE GIRL spiegeln dieses Verhältnis von Schöpfer_in und Werk zwar gewissermaßen innerhalb der Diegese, dabei reflektieren allerdings nicht die Fi- guren ihre Gemachtheit, sondern vielmehr der Film die Gemachtheit, genauer die Selbstgemachtheit der Imagination. Darüber hinaus nehmen die Filme jedoch auch implizit zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten Stellung: Auf der einen

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Seite nährt gegenwärtig die Zunahme medizinisch-technischer Verfahren, die nicht nur den menschlichen Körper, sondern vor allem auch sein Gehirn sichtbar, behandelbar und intersubjektiv ‚erfahrbar‘ machen, die Furcht vor einer (medial gestützten) Invasion und Instrumentalisierung mentaler Innenwelten. Auf der anderen Seite steigt im Zeitalter digitaler Bilderstellung und -bearbeitung das Be- wusstsein für die grundsätzliche mediale Gemachtheit und Manipulierbarkeit von (bewegten wie stillen) Bildern. Das Manipulationspotenzial des Mentalen wie des Medialen wird vielfach als Bedrohung erlebt, zumal dann, wenn beide Überlegungen zum Schreckensbild eines medial von außen bearbeitbaren Be- wusstseins verknüpft werden, wie es unter anderem in populären Filmen und Se- rien wie Jonathan Demmes Neuverfilmung von THE MANCHURIAN CANDIDATE (2004) oder der TV-Produktion CHUCK (2007–2012) zum Ausdruck kommt. Umgekehrt gibt es aber auch eine Reihe von Filmen, die sich als eine Art Opposition zu diesen eher verstörenden Szenarien verstehen lassen, zu denen neben den hier behan- delten auch Werke wie LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON (2007), WALTZ WITH BASHIR (2008), IS THE MAN WHO IS TALL HAPPY? (2013), L’IMAGE MANQUANTE (2013) oder A GLIMPSE INSIDE THE MIND OF CHARLES SWAN III (2013) gezählt werden können. Statt des Risikos einer Fremdeinwirkung sehen sie in der Bewusstseinsbearbeitung die Chance auf Selbstgestaltung, statt Gedankenmanipulation eine Rückkehr zum Selbstgedachten, das als (mental wie medial) Selbstgemachtes konzipiert wird und therapeutisches, revolutionäres und vor allem kreatives Potenzial hat.

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Christine Gundermann Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird

Abstract: Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie Comicschaffende Ge- schichte im Comic inszenieren. Welche textuellen und bildlichen Strategien kom- men zum Einsatz, um historische ‚Authentizität‘ zu simulieren? Nach der Einord- nung des Begriffs der historischen Authentizität in den aktuellen geschichts- wissenschaftlichen Forschungsdiskurs werden sieben Modi der Inszenierung von Geschichtlichkeit im Comic vorgestellt. Diese Modi sind immer sowohl als Strategie der Comicschaffenden, wie auch als Erwartungshaltung der Lesenden zu verstehen und geben schließlich darüber Auskunft, wie Geschichte im Comic transformiert wird und welche populären Vorstellungen von Geschichtswissen- schaft sich letztlich in Geschichtscomics widerspiegeln.

Einleitung

Als im Jahr 2005 Pascal Crocis Auschwitz erschien, warb der herausgebende EHAPA Verlag auf der Coverrückseite für den Comic als „erste realistische Graphic Novel“ (Croci 2005). Gleich mehrere Feuilletons (etwa Schleicher 2005) und auch Comicforschende griffen diese werbewirksame Formulierung auf, be- zogen sich aber vor allem auf die Zeichnungen Crocis. So schrieb Martin Frenzel über den „ersten realistisch gezeichneten Shoahcomic“ (Frenzel 2011, 235) und Silke Telaar über eine „direkte, realistische Annäherung“ (Telaar 2012, 57). Diese (Fach-)Urteile sind hoch interessant, denn der Comic erzählt die Geschichte der fiktionalen Holocaustopfer- und Überlebenden Kazik und Cessia, die schließlich kurz vor ihrer Ermordung in einem der Kriege im ehemaligen Jugoslawien 1993 auf ihre Erfahrungen in Auschwitz und den Verlust ihrer (ebenso fiktiven) Toch- ter Ann zurückblicken. Der grafische Stil Crocis ist dabei stark – und in Traumse- quenzen deutlich benannt – an Friedrich Wilhelm Murnaus Horrorfilm NOSFE- RATU: EINE SYMPHONIE DES GRAUENS aus dem Jahr 1922 angelehnt; ebenso deutlich

 Jun.-Prof. Dr. Christine Gundermann, Universität zu Köln, Historisches Institut, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Christine Gundermann, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-011

258 8 Christine Gundermann

verarbeitete der Comickünstler Steven Spielbergs SCHINDLERS LISTE aus dem Jahr 1992. Warum also wird ein auf Text- und Bildebene fiktiver Comic über die Grauen im Vernichtungslager Auschwitz als reale Darstellung des Holocaust gelobt? Was wird unter ‚realer‘ Geschichte im Comic verstanden? In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie Geschichte im Comic gemacht wird. Wie stellen Comickünstler_innen Bezüge zu realen Vergan- genheiten her? Wie kann oder muss die ‚Echtheit‘ der historischen Informationen vermittelt und verhandelt werden, damit die Rezipierenden sie als ‚wahr‘ be- trachten? ‚Echte‘ Geschichte unterscheidet sich von fiktiven Geschichtscomics in ihrem Anspruch, in ihrer jeweiligen medialen Repräsentation eine Entsprechung zur historischen Wirklichkeit darzustellen, welches ein Wissenskollektiv nach (wissenschaftlichen) Regeln intersubjektiv als ‚wahr‘ bezeichnet. Häufig werden zur Kennzeichnung dieses Status’ Adjektive wie wahr, echt und authentisch sy- nonym verwendet. Wie wird also in Geschichtscomics echte oder authentische Geschichte dargestellt, um als solche kenntlich zu sein? Historische Authentizität im Comic, so die hier vertretene These, ist etwas, das nicht als Qualität eines (his- torischen) Objektes verstanden werden kann, sondern etwas gemachtes, insze- niertes, das in der Rezeption seine Wirkung entfaltet. Die Frage nach der Ge- schichte im Comic ist gleichzeitig immer auch eine nach dem Publikum, den Rezipierenden des Comics. Wie also sieht ein „authenticity contract“ (Enli 2015, 16) aus, der die Narration im Comic zur ‚wahren Geschichte‘ macht? Für das Genre des documentary comics und im Besonderen des Comicjour- nalismus‘ ist diese Diskussion bereits fruchtbar geführt worden (vgl. Mickwitz 2016; Weber/Rall 2017). Während hier vor allem die Transparenz und inszenierte Subjektivität Garant einer verlässlichen Information zu sein scheint, gilt dies für den Geschichtscomic nicht. Die Sichtbarkeit der narrativen Re-Konstruktion so- wie die Transparenz der Interpretation haben nur einen geringen Einfluss auf die Wirksamkeit der Inszenierung von Authentizität. Der „authenticity contract“ zwi- schen Lesenden und Comicschaffenden scheint im Geschichtscomic vielmehr ei- nen deutlichen (Neo-)Historismus zu beinhalten, der eine kritische Beschäfti- gung mit der dargebotenen Geschichte nicht fördert. Um diese Hypothese argumentativ zu untermauern, wird zunächst der Au- thentizitätsdiskurs in den Geschichtswissenschaften kurz umrissen und an- schließend für die Comicforschung aufbereitet. In einem dritten Abschnitt wer- den Modi der Konstruktion des Authentischen im Geschichtscomic vorgestellt, um abschließend einen kritischen Blick auf die in den Authentifizierungsstrate- gien sichtbar werdenden Vorstellungen von Geschichtswissenschaft zu werfen.

Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird 8 259

Historische Authentizität und Comic

Historische Genauigkeit scheint in Geschichtscomics erst einmal eine dehnbare Größe zu sein. Meist geht es dabei um ein bekanntes historisches Ereignis als Re- ferenzgröße und Hintergrundnarration, manchmal um Verweise auf historische Persönlichkeiten und Orte, selten auch um gezielt dargestellte Prozesse und Strukturen. Die kritische Haltung der Geschichtswissenschaft und hier besonders der Geschichtsdidaktik gegenüber dem Comic gründete sich lange Zeit auf zwei Vorbehalte gegenüber dem Medium: Kann der Comic überhaupt Geschichte dar- stellen und damit auch vermitteln, und kann er sie seriös darstellen? Die Frage nach dem prinzipiellen Potenzial wurde mit dem Siegeszug von Asterix auf dem deutschen Comicmarkt spätestens seit den 1970er Jahren positiv beantwortet, löste aber erstaunlich wenig Forschung darüber aus, wie denn nun genau Ge- schichte im Comic transformiert wird. Die spätestens seit Art Spiegelmans MAUS: Die Geschichte eines Überlebenden (1989) geradezu mantrahaft gestellte Frage „Darf man das?“ verweist zwar auf ein anscheinend grundlegendes problemati- sches Verhältnis bildungsbürgerlicher Kultur zum vermeintlich populären Ge- schichtscomic (vgl. dazu einführend Gundermann 2007, 44–47). Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese Frage als eine, die im deutschsprachigen Raum fast ausschließlich an Comics gestellt wird, die den Holocaust thematisieren, wobei sie mittlerweile fast durchgängig positiv beantwortet wird und heute zwar immer noch gestellt wird, aber eigentlich eher rhetorischen Charakter zu haben scheint. Gerade weil der Comic nur bedingt als Medium der Geschichtskultur und da- mit als Forschungsgegenstand in der Geschichtswissenschaft wahrgenommen wurde, waren es vor allem Geschichtsdidaktiker_innen, die sich mit der Frage nach der „Echtheit“ der Geschichte im Comic auseinandersetzten und unter dem Schlagwort der „Authentizität“ diskutierten (vgl. Pandel 1993; Munier 2000). Diese zielte vor allem auf die für den Comic verwendeten Quellen, auf Material und historisches Ereignis selbst ab, und damit auf eine empirische Triftigkeit. Da- bei erscheinen die klassischen historiografischen Arbeitsschritte der Comicpro- duktion gegenübergestellt, und so ergibt sich ein eher defizitärer Blick auf den Geschichtscomic, der nie oder nur in seltenen Fällen an den Status der gezeich- neten Historiografie heranreicht (vgl. Gundermann 2017). Hans-Jürgen Pandel hat diese doch geringe ‚Reichweite‘ von Authentizität versucht auszuweiten, in- dem er verschiedene Authentizitätstypen im Comic identifiziert und zwischen Personen- bzw. Ereignisauthentizität, Typenauthentizität, Repräsentations- authentizität und Erlebnisauthentizität unterscheidet (vgl. Pandel 2006). Diese Authentizitätstypen haben sich nicht über die Geschichtsdidaktik hinaus durch- setzen können. Sie sind zwar ein gutes Instrument, um populärkulturelle Ge-

260 8 Christine Gundermann schichtsnarrationen mit fiktionalen Anteilen auf enthaltene empirische Triftig- keiten hin zu analysieren, die Verwendung des Begriffs Authentizität führt hier jedoch eher zu Missverständnissen, denn die Figuren und Ereignisse bleiben auch unter dem Label der Typen- und Repräsentationsauthentizität fiktiv. Die kri- tische Diskussion von Pandels Modell verweist aber auf einen extrem wichtigen Punkt: Wir sind in den meisten Geschichtscomics mit empirisch nicht triftigen, aber auch nicht fiktiven visuellen Narrationen konfrontiert, die jedoch mit Kenn- zeichen des Authentischen versehen werden und so schnell zur „echten Ge- schichte“ werden. Der Begriff und das Phänomen des Authentischen haben in den letzten Jah- ren in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft einen erstaunlichen Auf- schwung erfahren. Authentizität scheint nach Martin Sabrow und Achim Saupe „ein Zauberwort der Gegenwart“ (Sabrow/Saupe 2016, 7) geworden zu sein und so wird sie auch zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Reflexionen, wie vielfältige Veröffentlichungen (vgl. Knaller 2016; Saupe 2017) und nicht zuletzt die Tätigkeiten des Leibnitz-Forschungsverbundes Historische Authentizität zei- gen. Historische Authentizität als „Konstruktion des Authentischen im Umgang mit der Vergangenheit“ (Sabrow/Saupe 2016, 9) verlangt dabei die Konzentration auf mindestens zwei verschiedene Dimensionen: Einerseits geht es um eine Ob- jektauthentizität als Beglaubigung und Verifizierung eines Entstehungszusam- menhangs, die mit wissenschaftlichen Techniken der Authentifizierung Grund- lage von historiografischen Darstellungen ist. Diese kann auch als empirische Triftigkeit verstanden werden. In diesem Sinne kann ein Geschichtscomic nur in- sofern authentisch sein, wenn er als Quelle seiner Zeit fungiert, und als Teil einer Geschichtskultur populäre Vorstellungen von Geschichte in spezifischen Formen zum Ausdruck bringt, ohne dass dabei die dargestellte Geschichte selbst qualifi- ziert wird. Eine zweite Dimension des Authentizitätsbegriffs kreist jedoch um das Subjekt: hier meint Authentizität das Echte als unverstelltes Sein und Verhalten einer Person (vgl. Saupe 2015; Saupe/Sabrow 2016, 8). Pirker und Rüdiger haben pointiert darauf hingewiesen, dass der Fokus auf das Subjekt vor allem das au- thentische Erleben in den Fokus rückt. Authentizität kann in diesem Sinne auch als Erlebnismodus verstanden werden (vgl. Pirker/Rüdiger 2010, 17). Beide Dimensionen sind jedoch immer nur medial vermittelbar. Authentizi- tät wird also gleichermaßen medial als Erwartung erzeugt, vermittelt und gestillt. Pirker und Rüdiger beschreiben dieses Phänomen als die plausible Erzeugung von ‚pastness‘ (vgl. Pirker/Rüdiger 2010, 19), einer gefühlten und erfahrenen Ge- schichte bei den Rezipient_innen. Bezogen auf den Geschichtscomic fragen wir also nicht nach den tatsächlichen Quellenbezügen einer historiografischen Nar- ration, sondern nach den Authentifizierungsstrategien und auch „Authentizitäts-

Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird 8 261 fiktionen“ (Schmidt 2005, 85), die Comicschaffende nutzen, um in Anlehnung an Gunn Enli einen „authenticity contract“ (Enli 2015, 16) zu erfüllen. Auch Weber und Rall haben diese Modi der Repräsentation von Realität für den dokumentari- schen Comic als „authenticity illusion“ oder „authenticity effect“ beschrieben (Weber/Rall 2017, 381). Hans-Joachim Hahn griff dieses Phänomen 2013 als ‚Wirk- lichkeitseffekt‘ auf (vgl. Hahn 2013). Authentizität ist demnach eine mediati- sierte, entsteht als Erlebnis im Moment der Kommunikation und muss bzw. kann nicht länger als Qualität eines Objektes verstanden werden. Authentizität kann damit auch als Teil und Strategie eines Geschichtsmarke- tings (vgl. einführend Kühberger 2012) der jeweiligen Künstler_innen verstanden werden. Gerade weil das ‚Echte‘ und ‚Wahre‘, weil sich die Geschichte gut ver- kaufen lässt, wie uns der seit den 1980er Jahren anhaltende Geschichtsboom zeigt (vgl. Gundermann 2016, 261), kann das Versprechen von Authentizität als Verkaufsstrategie eingesetzt werden. Im Comicmarkt lässt sich dabei eine deutli- che Verschränkung und gegenseitige Verstärkung über das Label der Graphic Novel beobachten, die als Kennzeichen von Seriosität den Anspruch auf Authen- tizität der erzählten Geschichte zusätzlich hervorhebt. Diese Strategien können wiederum als Teil von Authentizitätseffekten untersucht werden. Das ist insofern interessant, als dass das Medium Comic immer noch eines ist, welches mit Fik- tion assoziiert wird (vgl. Weber/Rall 2017, 376; Mickwitz 2016, 1). Der Zugriff oder Rückgriff auf Geschichte als seriöses und anerkanntes Element des bürgerlichen Werte- und Bildungskanons erschließt also über eine Umdeutung des Mediums selbst neue Schichten von Lesenden. Authentizität im Comic hat fast immer etwas mit der Suche oder Sehnsucht nach dem ‚Echten‘ und der ‚wahren Geschichte‘ zu tun. Interessanterweise ver- langt der Gebrauch des Begriffes erst einmal keine Diskussion um historiografi- sche Techniken, also im wissenschaftlichen Diskurs festgelegte Regeln, die aus den als authentisch identifizierten Quellen eine tatsächliche Historiografie ent- stehen lassen. Es scheint so, als dass der ‚Zauber des Authentischen‘ im histori- schen Feld frei nach Leopold von Ranke überwiegend (noch) als ‚Geschichte, wie sie eigentlich gewesen ist‘ ihren Ausdruck findet. Das Versprechen und die Simu- lation des Echten versperrt den Blick auf die tatsächliche Konstruktion – der Zau- ber, die Illusion steht im Vordergrund, nicht der (kritische) Blick auf die Ge- schichte selbst.

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Die Inszenierung historischer Authentizität im Comic: Sieben Modi Operandi

Die hier vorgestellten Modi, historische Authentizität im Comic herzustellen, ver- stehen sich als eine einführende, aber keineswegs abgeschlossene Aufstellung von Authentizitätseffekten im Geschichtscomic. Einige der hier vorgestellten Strategien überlappen dabei einander. Leitend waren folgende Merkmale oder auch Marker als Hinweise auf den historiografischen Anspruch der Comics: Die Nutzung von Signalwörtern wie Geschichte, textuelle und bildliche Verweise auf Quellen und historische Methoden, Verweise auf einen forschenden historiogra- fischen Arbeitsprozess und die Frage, ob es hierfür jenseits konkreter schriftli- cher und bildlicher Umsetzungen auch weitere stilistische Merkmale gibt. Min- destens sieben Modi Operandi zur Authentizitätsgenerierung lassen sich derart vermessen.

Die Behauptung

„Echte“ Geschichte im Comic beginnt meist mit der ganz banalen und höchst wirksamen Behauptung, dass hier Geschichte als wahre Begebenheit erzählt wird. Die Formulierung des Titels oder Untertitels eines Comics ist in diesem Fall meist die erste und wichtigste Strategie zur Erzeugung von Authentizität. Der Splitter Verlag titelte z.B. 1989 für das Album The Nam von Doug Murray und Michael Golden „Splitter präsentiert Zeitgeschichte“, Reinhard Kleists und Alan Scott Hafts Comic Der Boxer (2012) trägt den Untertitel Die wahre Geschichte des Hertzko Haft und Alexander Hogh und Lukas Kummer nannten ihren jüngsten Comic 2017 Gotteskrieger: Eine wahre Geschichte aus der Zeit der Reformation. Die ‚wahre Geschichte‘ hebt den Comic dabei noch einmal von den vielen anderen gängigen Titeln ab, die mit dem Wort Geschichte arbeiten, denn jene präsentie- ren nicht zwangsläufig faktische Geschichte, wie etwa der ebenfalls 2017 erschie- nene der Fantasy-Comic Macha: Eine Geschichte der Insel Errance von Flora Gri- maldi und Maike Plenzke. Manchmal wird diese Behauptung noch verstärkt durch die Zitation von Au- toritäten, wie im Falle der niederländischen und englischen Ausgabe der grafi- schen Biografie von Anne Frank (vgl. Jacobson/Colón 2010a; 2010c), deren Un- tertitel verkünden De Grafische Biografie geautoriseerd door het Anne Frank Huis bzw. The Anne Frank House Authorized Graphic Biography. Die bekannte und an- erkannte Institution und Verwalterin des Erbes Anne Franks fungiert dann gleichermaßen als Wahrheitsbekundung.

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Vom Detail zur Atmosphäre: (Bildliche) Vergangenheitsmarker

Zu den gängigsten Techniken der Vergangenheitssimulation gehört das Verwen- den von Vergangenheitsmarkern. Das sind einerseits bekannte Persönlichkeiten aus der Geschichte, und damit häufig (immer noch) ‚die großen Männer, die Ge- schichte machen‘, meist eng gebunden an zentrale historische Ereignisse, ande- rerseits aber auch Gebäude, die so bekannt sind, dass sie leicht wiederzuerken- nen sind bis hin zu ganzen Settings zeitlicher und geografischer Verortungen, die Zeit und Ort einer Narration vorgeben können. Schließlich können hier ebenso adaptierte Ikonen, also berühmt gewordene Bilder oder Fotografien, die ein his- torisches Ereignis festhalten, zum Einsatz kommen. Einige Beispiele sollen dies kurz erläutern. Caesar und Cleopatra fungieren in verschiedenen Asterix-Abenteuern nicht nur als Protagonist_innen der Erzäh- lungen, sondern markieren durch ihren historischen Status auch die Zeit, in der sich die Geschichte zutragen soll. Die historisch verbürgten und bekannten Per- sönlichkeiten simulieren also historische Authentizität und bürgen so gleichzeitig durch ihre Interaktion mit den Hauptprotagonist_innen für deren vermeintlichen realen Status; gebrochen wird diese Fiktion dann durch den Zeichenstil, der auf die Fiktionalisierung verweist. Ähnlich fungiert auch der Auftritt Zar Peter I. im MOSAIK Abenteuer Zar und Zimmermann (MOSAIK #408). Im MOSAIK reisen die drei Kobolde Abrax, Brabrax und Califax durch die Zeit, treffen immer wieder auf bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten und erleben und beeinflussen die Geschicke aller und damit auch die Geschichte (meist jedoch auf der Ebene der ‚kleinen Leute‘). So lesen sich denn auch hier die Auftritte wichtiger Persön- lichkeiten wie ein ‚Who Is Who‘ der Weltgeschichte. Der Regress auf historische Persönlichkeiten fungiert dabei in verschiedensten Gattungen und Genres. Diese Authentizitätsstrategien wirken unabhängig von den gewählten Zeichenstilen, und die Figuren können entsprechend adaptiert werden. Rückgriffe auf bekannte historische Ereignisse dienen ebenso der Verortung in Zeit und Raum und evozieren gleichzeitig Authentizität, die dann vom bekann- ten historischen Ereignis auf die noch unbekannte erzählte Geschichte übertra- gen wird. Auf der Textebene geschieht dies durch die Verwendung von histori- schen Signalwörtern, wie etwa „Razzia“ in Eric Heuvels Die Suche (2007, 18/3) oder „Sonderkommando“ in X-Men: Magneto Testament von Greg Pak und Car- mine Di Giandomenico (2009, Teil 4, o.S.) oder „KZ“ in Der Boxer (82). Auf bildli- cher Ebene entsteht dieser Effekt vor allem, wenn das Ereignis leicht mit be- stimmten Personen oder Orten zu verknüpfen ist. Die Darstellung des Stauffenberg-Attentats in Das Tagebuch der Anne Frank von Ari Folman und Da- vid Polonsky (2017, 144) ist hierfür ein gutes Beispiel, denn das Ereignis selbst ist zwar aus der imaginierten Perspektive Anne Franks gezeichnet, die zu diesem

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Zeitpunkt nicht wissen konnte, wie Stauffenberg oder aber die Wolfsschanze aus- sah, aber sehr wohl um Hitlers Gesichtszüge wusste. So kann das Ereignis ver- standen werden, ohne dass es bereits in seiner historischen Begrifflichkeit be- nannt werden muss. Ähnliches gilt für die Zitation von bekannten Gebäuden oder Objekten. So ist auf dem Cover von René Goscinnys und Albert Uderzos Asterix als Gladiator (2013) deutlich das Kolosseum in Rom zu erkennen. Auch Simon Schwarz zeigt auf dem Cover von drüben! (2009) einen Abschnitt der Berliner Mauer und einem Grenzturm (siehe Abb. 1). Er zeichnet sie intakt, bewacht und auf der Seite der Lesenden mit Graffiti überzogen und setzt dabei sofort Zeit und Ort seiner Ge- schichte fest, die über den Titel so nicht zu decodieren gewesen wäre.

Abb. 1: Zeitspezifische Darstellung der Berliner Mauer in drüben! (Schwarz 2009, Cover).

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Abb. 2: Der berühmte Focker-Dreidecker in Showcase Presents: Enemy Ace Vol. 1 (O’Neil/Kubert/Kanigher 2008, Cover).

Fast alle Comics, die den Krieg im ehemaligen Jugoslawien thematisieren und deren Handlung in Sarajevo angesiedelt ist, zeigen meist prominent das Holiday Inn Hotel der Stadt, so zum Beispiel Hermann in Sarajevo Tango (1996), Joe Kubert in Fax aus Sarajevo (1997) oder Joe Sacco in The Fixer: A Story from Sara- jevo (2004). In diesem Hotel waren die ausländischen Reporter_innen unterge- bracht, und es ist deswegen sehr wahrscheinlich, dass ein Großteil der Lesenden das Gebäude aus der täglichen Berichterstattung während des Krieges in den Me- dien wiedererkennt. Die Simulation einer historischen Raum-Zeit kann genauso

266 8 Christine Gundermann gut über größere Objekte erfolgen: So zeichnen sich die Abenteuer der Rei- sende[n] im Wind durch eine komplexe und äußerst detailgetreue Darstellung der damals genutzten Segelschiffe aus, während viele Kriegscomics von einer mög- lichst genauen Darstellung zum Beispiel von Flugzeugen, wie dem berühmten Focker-Dreidecker auf dem Cover von Dennis O’Neils, Joe Kuberts und Robert Kanighers Enemy Ace (2008) (siehe Abb. 2), Helikoptern (The Nam) oder etwa ge- panzerten Fahrzeugen profitieren. Jason Lutes hingegen zeichnet in seinem Meis- terwerk Berlin: Steinerne Stadt (2003) den Potsdamer Platz in seinem Zustand der späten 1920er Jahre oder etwa das Reichstagsgebäude in Berlin und verortet so seine (ebenso fiktive) Geschichte auch architektonisch in der Zeit der unterge- henden Weimarer Republik. Ganze landschaftliche und architektonische Settings können ebenso verwen- det werden, um Authentizität zu simulieren. In Operation Fledermaus (vgl. Yann/Schwarz 2010) etwa kämpfen Spirou und Fantasio im besetzen Belgien als Widerstandskämpfer und nehmen die Lesenden in ein Brüssel der 1940er Jahre mit, das über die verwendete Ligne Claire deutlich erkennbar ist. Dabei gilt, dass das gezeigte Ambiente nicht fotorealistisch und auf Grundlage intensiver Recher- che wiedergegeben werden muss, sondern vor allem den Erwartungen der Rezi- pient_innen über die gezeigte Zeit und den Ort entsprechen müssen. So finden sich im Anne Frank-Manhua1 Anni riji/The Diary of a Young Girl aus der Serie Shuangyu mingzhu (Bilingual Classics/Kelly’s English #27)2 von 2009 zwar eine fotorealistische Wiedergabe des Palais op de Dam in Amsterdam, aber eine Sky- line, die eher an eine deutsche denn niederländische Großstadt erinnert (vgl. Park 2009). Hier wurde ein vermeintlich europäisches Bild von Architektur für die Lesenden entwickelt, das nichts mit der Stadtlandschaft Amsterdams in den 1940er Jahren zu tun hat, aber anscheinend die Authentizitätserwartungen im asiatischen Markt erfüllt. Schließlich werden auch Ikonen, also meist Personen, die in einer bestimm- ten Inszenierung für historische Ereignisse aber auch spezifische Werte und Vor- stellungen stehen, im Comic zur Simulation von Vergangenheit verwendet. Je nach inszenierter Zeit können dies etwa Adaptionen von Plastiken, berühmte Ge- mälde oder auch Fotografien sein. Im Falle von Asterix finden sich zum Beispiel Anspielungen auf die griechi- sche und römische Kunst, wie den Diskobolos von Myron oder die berühmte

YY 1 Der Begriff dient als Sammelbegriff für chinesische Comics, ähnlich den japanischen Manga. 2 Ich danke Ralf Palandt für den Einblick in seine internationale Sammlung von Anne Frank- Comics und die Transkription der asiatischen Titel.

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Laokoon-Gruppe. Diese Kunstzitate dienen im Falle von Asterix nicht nur der Si- mulation von Vergangenheit, sondern auch der von Hochkultur. Die im Comic adaptierte anerkannte Kunst wirkte sich dabei äußerst positiv auf die Wahrneh- mung der Serie an sich aus (vgl. Bütow 1994; Gundermann 2009). Adaptionen berühmter Gemälde können ebenso als Kunstzitate dienen und damit eine histo- rische Verortung der Comicnarration bewirken, inwiefern hier Werke der Histori- enmalerei gezielter zur Anwendung kommen, bedarf noch einer genaueren Un- tersuchung. Für frühe Abenteuerserien, die zum Beispiel im Mittelalter ange- siedelt sind, lässt sich dies aber durchaus vermuten; Konzepte zur populären Ge- schichtstransformation sprechen ebenso dafür (s.u.). Jenseits dieser Adaption von Kunst arbeiten Comicschaffende, die ganz gezielt Kunstwerke wegen ihres Inhaltes adaptieren und so eine Analogie zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen bilden, wie dies Michael Kuppermann in seiner Adaption der Radie- rung Der Schlaf der Vernunft von Goya als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 getan hat (vgl. Kuppermann 2002, 73). Die Adaption fotografischer Ikonen aus dem 20. Jahrhundert lässt sich häufig in Comics finden, die ihre Erzählung im nationalsozialistischen Deutschland oder während des Zweiten Weltkrieges entfalten. So zitierten Friedemann Bedürf- tig und Dieter Kalenbach in Hitler (1995) die Fotografie des kleinen Jungen, der mit erhobenen Armen bedroht von deutschen Soldaten aus einem Versteck im Warschauer Ghetto gezwungen wird. Das Foto war Teil einer internen SS-Doku- mentation, des sogenannten Stroop Reports und wurde in einer großen Zahl von Printmedien reproduziert. Für die Rezeption in Deutschland war vor allem die Veröffentlichung in Gerhard Schoenberners Bildband Der gelbe Stern von 1960 ausschlaggebend. Pierre Dupuis wiederum adaptierte für seine Reihe The World at War in Pictures in den 1970er Jahren deutlich erkennbar Portraitfotografien al- ler zentralen beteiligten Politiker_innen und Fotografien und Filmsequenzen be- kannter Großereignisse, wie dem Atombombenabwurf auf Hiroshima. Im Bereich der zeitgeschichtlichen Comicbiografien ist die Verwendung von Fotografien besonders evident. So wurden die berühmten Portraitfotos von Anne Frank und Sophie Scholl auf Covern genutzt, um deren Geschichte zu erzählen, wie bei Sophie Scholl: Die Comic-Biografie von Heiner Lünstedt und Ingrid Sabisch (2015) oder die bereits erwähnte Anne Frank Biografie Das Leben von Anne Frank von Ernie Colón und Sid Jacobson (2010b). Auch hier hilft die fast immer unreflektierte Übernahme solcher weiblicher Ikonen, ein bestimmtes Bild und damit eine bestimmte Deutung der nationalsozialistischen Verbrechen zu

268 8 Christine Gundermann kommunizieren und zu konservieren, wie Marianne Hirsch (2002) und Habbo Knoch (2001) in ihren Studien belegen.3 Wenn im Comic mit realen historischen Persönlichkeiten gearbeitet wird, dann müssen diese für die Lesenden erkennbar sein. Ist das auf Grund der Be- rühmtheit oder Bekanntheit der erzählten Geschichte anzunehmen, können sich die Comicschaffenden relativ weit von der natürlichen Darstellung der Person entfernen und diese in den gewählten zeichnerischen Stil integrieren. Ist dies aber nicht vorauszusetzen, müssen Geschichtscomics ähnlich wie Comicreporta- gen (vgl. Weber/Rall 2017, 386) diesen Wiedererkennungseffekt der physischen Ähnlichkeit zwischen realer Person und gezeichneter Figur selbst herstellen. Meist geschieht dies, indem Fotografien der betreffenden Personen an geeigneter Stelle präsentiert werden. Rein zeichnerisch ist dies aber auch möglich. Moritz Stetter etwa erzeugt diesen Authentizitätseffekt, in dem er in seiner Bonhoeffer- Biografie von 2010 zwar eine Hauptfigur in seinem nicht-realistischen Comicstil auftreten lässt, setzt aber an entscheidenden Momenten immer wieder sehr rea- litätsnahe Zeichnungen der sich über die Jahre verändernden Hauptfigur dage- gen, um sie mit der Vorstellung der Lesenden in Einklang zu bringen und damit historische Authentizität zu erzeugen. Ein weiteres Beispiel verweist auf mögliche Verschränkungen dieser Tech- nik: Osamu Tezuka zeichnet in Adolf (Bd. 1, 66–73) in wenigen Panels den Nürn- berger Reichsparteitag von 1936 nach. Dabei greift Tezuka offensichtlich auf Leni Riefenstahls Propagandafilm TRIUMPH DES WILLENS von 1935 zurück und über- nimmt unter anderem die Supertotale auf das Zeppelinfeld des Reichsparteitags- geländes (siehe Abb. 3). Hier liegen also gleich drei Verschränkungen vor: der Regress auf reale historische Persönlichkeiten, auf ein reales Ereignis und die Verwendung von Propagandabildern, die heute zu den Ikonen des Nationalsozi- alismus gehören. Die Verwendung solcher NS-Propaganda-Bilder ist problema- tisch, weil sie, wie hier gezeigt, oftmals ungebrochen übernommen werden und damit nicht als Propagandamaterial erkenntlich sind. In Comicadaption besteht daher die Gefahr, dass sie so ungebrochen weiter wirken und dies sogar noch ef- fektiver, weil ihr Entstehungszusammenhang verschleiert wird und im Kleid der vermeintlichen Historiografie neutral erscheint.

YY 3 Beide verweisen auf die mit der Reproduktion einhergehende Infantilisierung und Feminisie- rung der (jüdischen) Opfer der Nationalsozialisten, die oftmals einer Hypermaskulinisierung der männlichen Täter gegenüber steht. Siehe auch Gundermann 2014.

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Abb. 3: Der Nürnberger Reichstag in Adolf (Tezuka 2005–2007, 66).

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Diese Beispiele bezogen sich fast alle auf überlieferte Quellen. Es geht aber im Zweifelsfall nicht darum, dass ein authentisches Zeugnis adaptiert wird, sondern es geht vor allem um eines, das bereits so bekannt ist, dass es die Rezipierenden als solches einer bestimmten Zeit oder einem Ereignis zuordnen können. So ließe sich auch erklären, dass Croci für den Comic Auschwitz die Halsabschneider- Geste aus dem Trailer von Steven Spielbergs Film SCHINDLERS LISTE in seinem Co- mic adaptiert hat und nicht etwa die weitaus weniger bekannte Filmsequenz aus Claude Lanzmanns Dokumentation SHOAH (1985). Croci verweist zudem auf SCHINDLERS LISTE explizit als inspirative Quelle im Anhang des Comics. In diesem Sinne erzeugen also auch Fiktionen eine ‚pastness‘, eine gefühlte Vergangenheit. Meist verwenden Comicschaffende diese Techniken, wie kurz im Beispiel von Osamu Tezukas Adolf erläutert, in Kombinationen. Je mehr dieser Elemente ver- wendet werden, desto stärker kann die Authentizitätssimulation wirken. Idealer- weise entsteht dabei eine historische Atmosphäre (vgl. einführend Böhme 1995). Diese umfasst gerade in Comics zur Zeitgeschichte auch die farbige Gestaltung, genutzte (mediale) Stereotype oder etwa die Übernahme von bereits etablierten Blickregimen. So evoziert der Verzicht auf Farbe oder aber die ausschließliche Nutzung von Sepia-Tönen Vergangenheit, weil auf diese Weise an alte Fotogra- fien und Filmaufnahmen erinnert wird. Ebenso reicht die Nutzung von wenigen klischeehaften Darstellungen wie schwarzen Stiefeln oder schreienden Männern in Uniformen, um eine dargestellte Szene in den Bereich der nationalsozialisti- schen Verbrechen einzuordnen. Ähnlich fungieren die Zinnen von Burgen aus der Stauferzeit häufig noch als Inbegriff des Mittelalters. Geschichtsträchtige At- mosphären4 können also auf vielfältigste Arten im Comic inszeniert werden.

Der dokumentarische „Beweis“5

Geschichtlichkeit kann im Comic auch durch das Zeigen von Quellen simuliert werden. Die Art der Quelle wird dabei passend zur erzählten Geschichte gewählt. Geht es um die Biografie einer Person, wird zum Beispiel ein Tagebuch oder etwa eine Chronik gezeigt. So scheinen die Abenteuer von Prinz Eisenherz von Hal Fos- ter (1981) in einer geheimen Pergamentrolle überliefert, die Protagonistin Isabeau in Reisende im Wind (vgl. Bourgeon 1995) führt hingegen ein Tagebuch, welches ihre Abenteuer für die Lesenden aufbewahrt und dessen Ausschnitte als Cliff-

YY 4 Hier in Anlehnung an Bernhard Tschofen (2016). 5 Diese Kategorie wurde von Weber und Rall als eine der wichtigsten Authentizitätsstrategien im Comicjournalismus vorgeschlagen, hier wird sie adaptiert, vgl. Weber/Rall 2017, 389.

Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird 8 271 hanger auf den folgenden Band verweisen. Eine ähnliche Technik nutzten auch Alexander Hogh und Jörg Mailliet im Tagebuch 14/18: Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich (2014), die auf tatsächlichen Tagebucheinträgen und Erinnerungen beruhen. Einerseits werden die Figuren selbst beim Verfassen der Tagebucheinträge gezeigt, andererseits werden immer wieder kleine Einträge farblich abgesetzt in die episodenhaften Erzählungen eingebaut und zusätzlich durch die verwendeten Anführungszeichen markiert (siehe Abb. 4). Die Autorität des Tagebuchs als echte Quelle wird so deutlich inszeniert.

Abb. 4: Verwendung von Quellen in Tagebuch 14/18: Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich (Hogh/Mailliet 2014, 23).

Auch Feldpostbriefe können zur vermeintlichen Quelle werden, wie in Manfred Sommers Frank Cappa: Viet-Song von 1991. Die vermeintlichen Briefe sind hier zudem illustriert mit Soldaten in verschiedenen Uniformen und stellen so gleich- zeitig die figurative Kampffront vor, in der sich die Erzählung danach bewegt. Teilweise werden die Quellen auch nicht bildlich gezeigt, sondern lediglich schriftlich benannt, so auf dem Cover von Hitler und der II. Weltkrieg, erschienen in der Reihe The World at War in Pictures (vgl. Dupuis 1970) auf dem zu lesen ist: „Nach Kriegstagebüchern, Wehrmachtsberichten, Wochenschaureportagen und historischen Analysen auf 90 farbigen Seiten gezeichnet von PIERRE DUPUIS“ (o.S.; Herv. im Original). Fotografien als Quellen sind in vielen Comics zu finden, die zwischen Ge- schichtscomic, Comicreportage und Autobiografie anzusiedeln sind. So baut in Last Day in Vietnam (2000) immer wieder über eine Comicseite gezogene grob verpixelte Fotografien ein, die Kriegsszenen zeigen sollen. Diese sind zwar

272 8 Christine Gundermann nicht weiter beschriftet und werden in den einzelnen Episoden auch nicht refe- riert, sie generieren aber eine Autorität für die Echtheit der erzählten Geschich- ten. Besonders bekannt geworden für die Einbindung von Fotografien ist Der Fo- tograf von Emmanuel Guibert, Frédéric Lemercier und Didier Lefèvre (2008– 2009). Um ein besonders hohes Maß an Authentizität zu generieren, setzen manche Comicschaffenden ganz gezielt die von ihnen verwendeten Primär- und Sekun- därquellen in Szene, das heißt verschiedenste Formen von Schriftstücken wie Briefe oder Akten, Fotografien und Fachliteratur und ganz selten auch Gegen- stände werden entweder in realistischer Darstellungsform gezeichnet, als Foto- grafie in den Comic eingebaut oder aber in einer Auflistung ggf. mit einer Quel- lenkritik versehen in das Vorwort oder den Anhang eines Comics eingefügt.

Abb. 5: Wiedergabe von Korrespondenz in Fax aus Sarajevo (Kubert 1997, 169).

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In Joe Kuberts Comic Fax aus Sarajevo ist ein Großteil des Schriftverkehrs, auf dem die Geschichte beruht, nämlich auf Faxnachrichten zwischen ihm und dem befreundeten Comicagenten Ervin Rustemagić, abgezeichnet, wie in Abb. 5 zu er- kennen ist. Sie fungieren hier als Authentizitätsbeweis und sind gleichzeitig Ele- ment der Erzählung. Die zusätzlich im Anhang zu den einzelnen Kapiteln ange- botenen und kommentierten Fotografien verstärken die vermittelte Authentizität noch. Im Tagebuch 14/18 werden solche Quellen von Alexander Hogh und Jörg Mailliet in der Geschichte im Comicstil aufbereitet und mit der erzählten Ge- schichte kombiniert, die ‚Quelle‘ erscheint dann in der Narration farblich abge- setzt und schließt meist eine Episode ab. Im Anhang sieht man auf jeweils einer Doppelseite zudem die gezeichnete Person in original Fotografien, Abbildungen ihrer Aufzeichnungen, wichtige Gegenstände und weitere öffentlich zugängliche Quellen, die die Person in der Zeit verorten sollen. Hier deuten sich bereits das Darstellen und Nutzen von Techniken an, die deutliche Adaptionen der historisch-kritischen Methode sind und damit anbie- ten, die Quellen der eigenen Forschung offen zu legen und zum anderen so auch die Überprüfbarkeit der Analyse und Interpretation zu gewährleisten, die sich unter folgendem Modus Operandi zusammenfassen lassen.

Inszenierung wissenschaftlicher Historiografie

Die folgenden Authentizitätsstrategien können also als mediale Adaptionen wis- senschaftlicher Historiografien verstanden werden und umfassen verschiedenste bildliche und vor allem schriftliche Elemente. Beginnen ließe sich hier mit der Verortung des Werkes als seriöse Geschichtsschreibung durch autoritative Textelemente. So können zum Beispiel Autor_innen in ihrer wissenschaftlichen Qualifikation einleitend oder im Anhang vorgestellt werden wie Bernd Lindner als Autor von Herbst der Entscheidung (vgl. Lindner/Hoffmann 2014), der als wis- senschaftlicher Mitarbeiter und Ausstellungskurator im Zeitgeschichtlichen Fo- rum Leipzig tätig ist oder aber Alexander Hogh als Autor von Tagebuch 14/18: Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich, dessen Studium der Philoso- phie, Geschichte und Rhetorik als Garant für die Seriosität der erzählten Ge- schichte im Comic angeführt wird. Im gleichen Werk findet sich zudem eine Ein- leitung von Gerd Krumeich, der als ehemaliger Dozent für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ausgewiesen wird und Nicolas Beau- pré, der Moderne und Neuere Geschichte an der Universität Blaise Pascal in Cler- mont-Ferrand unterrichtet. Joe Sacco erweitert diese Technik, wenn er das Lepo- rello Der Erste Weltkrieg: Die Schlacht an der Somme (2013) mit einem Begleitheft drucken lässt, dass eine Erklärung seiner Zeichnung und vor allem einen langen

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Auszug aus Adam Hochschilds Der große Krieg beinhaltet. Hochschild ist hoch- gelobter Journalist, was nicht zuletzt den mitreißenden Schreibstil erklärt. Viele Comicschaffende weisen mittlerweile eine Auswahl von verwendeter oder doch zumindest empfohlener wissenschaftlicher Sekundärliteratur aus, um die Triftigkeit der Narration (im Sinne einer auf Forschung basierenden Rekon- struktion der Vergangenheit) nachzuweisen. Diese Technik findet sich bei fikti- ven Werken wie Greg Paks und Carmine Di Giandomenicos X-Men: Magneto Tes- tament ebenso wie bei Will Eisners Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion (2005). Will Eisner zeichnet sich sogar selbst in seiner Tätigkeit als Forschender und Historiograf und stellt damit eine für Ge- schichtscomics außergewöhnliche Reflexionsebene her (siehe Abb. 6).

Abb. 6: Der recherchierende Autor als Teil des eigenen Comics in Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion (Eisner 2005, 128).

Ab und an verwenden Comicschaffende auch Fußnoten, um die verwendeten Quellen genau auszuweisen. So nutzen Roloff und Dorothée Šimko diese Mög- lichkeit, um in Prisca et Silvanus (1996) die in der ehemals römischen Siedlung Augst gefundenen und im Comic gezeigten Überreste einer genauen Beschrei- bung und dem Fundort zuzuweisen. Im digitalen Zeitalter wird es immer leichter,

Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird 8 275 schriftliche, bildliche, auditive oder gegenständliche Quellen in digitalen oder Onlinecomics direkt im Comic zu hinterlegen und durch einen Klick oder Scroll zugänglich zu machen, wie in der Zeitmaschine 14/18, einer „interaktiven Zeit- reise zum Ersten Weltkrieg“ (Startseite), einem Gemeinschaftsprojekt von ARTE, WDR, SWR, NDR, das Erste, dem Haus der Geschichte Baden-Württembergs und dem Historial de la Grand Guerre, oder in Cordt Schnibbens digitaler Aufarbei- tung zu den nationalsozialistischen Verbrechen seines Vaters in Werwölfe (2014). Weitaus häufiger findet sich folgende Variante: in einem Glossar oder Anhang werden nach Seitenzahlen aufgeschlüsselt Personen, Gegenstände oder Zusam- menhänge erläutert, wie in Alexander Hoghs und Jörg Mailliets Tagebuch 14/18, PM Hoffmanns und Bernd Lindners Herbst der Entscheidung, Will Eisners Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion oder Greg Paks und Carmine Di Giandomenicos X-Men: Magneto Testament. Immer öfter finden sich in solchen Anhängen auch weiterführende Informationen wie Fotografien und kurze inhaltliche Einordnungen der erzählten Episoden in einen größeren historischen Ereigniszusammenhang.

Demonstration des Vermittlungsanspruchs

Ebenso wirkungsvoll sind didaktische Elemente, die im Rahmen einer wissen- schaftlichen Historiografie Verwendung finden, aber auch aus Lehr-Lern-Prozes- sen bekannt sind. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von Geschichtskarten, also keinen historischen, aus der gezeichneten Zeit stammenden, sondern Karten, die historische Strukturen oder Ereigniszusammenhänge aufzeigen, wie Bewe- gungen von Armeen, politische Lagerbildungen, Grenzverlaufsänderungen und Ähnliches, die erst in historischer Rückschau entstehen können (z.B. genutzt von Pierre Dupuis Hitler und der II. Weltkrieg oder von Sid Jacobson und Ernie Colón in Anne Frank: Eine grafische Biografie). Je deutlicher diese Karten mit Signets wie einer Legende ausgestattet sind, desto mehr Autorität strahlen sie aus. Zeitleisten sind ein ebenso beliebtes wie wirksames Stilmittel, um den erzählten Prozess in ‚die Geschichte‘ einzuordnen und über Hervorhebungen besonders wichtige Er- eignisse oder Daten zu markieren – hier wird oftmals deutlich ein Angebot histo- rischen Lernens inszeniert (z.B. genutzt von Enzo Biagi, Milo Manara und Gia- cinto Gaudenzi in Kolumbus von 1992).

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Zeitzeug_innen oder die Präsenz der Autor_innen

Immer wieder finden sich in Comics, die zeitgeschichtliche Themen präsentieren, Figuren, die über das Vergangene und Erlebte im dokumentarischen oder erin- nernden Modus berichten. Im Gegensatz zum Comicjournalismus, wo dies meist als Präsenz des Autors oder der Autorin zu verstehen ist (vgl. Weber/Rall 2017, 385), nehmen diese Figuren jedoch eher den Platz von Zeitzeug_innen ein. Im Gegensatz zur Comicreportage ist es im Geschichtscomic nicht üblich, dass sich die historisch Forschenden selbst bei ihrer Arbeit zeigen, vielmehr wird dann die Hauptquelle in den Fokus der Narration gerückt. Diese Authentizitätsstrategie funktioniert auch, wenn die dargestellten Zeitzeug_innen fiktiv sind, wie der als Lehr- und Lernmaterial für den Geschichtsunterricht konzipierte Comic Die Suche von Eric Heuvel zeigt. Personen stehen als Zeug_innen und Autor_innen im Zent- rum der Geschichte, wenn es sich um Erinnerungen handelt. Diese Nische von Geschichtscomics boomt in Deutschland seit mehreren Jahren und verweist deut- lich auf die ungebrochene Popularität die Auseinandersetzungen mit den natio- nalsozialistischen Verbrechen und ihren Nachwirkungen einnehmen, sowie mittlerweile auch dem Kalten Krieg und der Teilung Deutschlands. Gerade diesen Erinnerungen wird interessanterweise eine große Authentizität zugeschrieben, und zwar nicht nur hinsichtlich der persönlichen Erlebnisse, die die Comicschaf- fenden teilen, sondern auch im Hinblick auf die erzählte Zeitgeschichte, wie etwa Michel Kichkas Zweite Generation: Was ich meinem Vater nie gesagt habe (2014) oder Tante Wussi von Karin Bacher und Tyto Alba (2016). Comicschaffende als Erinnerungsaufzeichner_innen, -speicher und letztlich auch Zeitzeug_innen (je nach Thema der ersten, zweiten und dritten Generation) nehmen in der gegen- wärtigen Rezeption von Zeitgeschichte einen hohen Stellenwert ein. Selten zeigen sich die Comicautor_innen als Historiograf_innen im Comic und inszenieren damit die Metastory ihrer Geschichte im Comic selbst. Will Eis- ner hat dies mit großem Erfolg in Das Komplott: Die wahre Geschichte der Proto- kolle der Weisen von Zion demonstriert. Während also die Comicreportage ihren Wahrheitsanspruch aus der Präsenz des Autors oder der Autorin ableitet und da- mit gleichzeitig die Subjektivität der Narration inszeniert, ist dies offensichtlich kein ausgeprägtes Merkmal von Geschichtscomics, die den Anspruch des faktu- alen Erzählens vertreten. Joe Sacco, der durch seine Comicreportagen berühmt geworden ist, adaptiert diese Technik des Comicjournalismus auch für sein ge- schichtliches Werk Der Erste Weltkrieg: Die Schlacht an der Somme und legt in einem Nachwort nicht nur die verwendete Primär- und Sekundärliteratur offen, sondern auch seinen Rechercheprozess.

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‚Graphiations‘ und grafische Zitate

Der Stil eines Comics gibt wichtige Hinweise auf den Authentizitätsanspruch der erzählten Geschichte. Jan Baetens versteht unter dem Begriff der „graphiation“ (2001, 146) in Anlehnung an Philippe Marion die grafische und narrative Aus- drucksweise im Comic. Diese individuelle Zeichensprache gibt den Lesenden im Bezug zu Geschichtscomics mehrere Hinweise. Zum einen ermöglicht sie eine erste Einordnung. Ist der grafische Stil zum Beispiel für bestimmte Genres be- kannt, wird auch eine so gezeichnete Geschichte eher mit Fiktionalität als mit Faktionalität assoziiert werden, unabhängig davon, auf welchen Quellengrund- lagen die Geschichte beruht. So löste der im Stil der Ligne Claire gehaltene Comic Die Suche großes Unbehagen in Deutschland aus, als er im Geschichtsunterricht eingesetzt werden sollte, weil der Stil hier ausschließlich mit Werken wie Tim und Struppi von Hergé assoziiert wurde und man die Faktualität des Holocaust in Frage gestellt sah (vgl. zusammenfassend Franz/Siegele 2009). Andererseits kann ein grafischer Stil wie im Fall von Joe Saccos einen Wiedererkennungswert auslösen und ruft damit allein durch die nunmehr bekannten hochgelobten Co- micreportagen eine Authentizitätserwartung bei den Lesenden hervor. Im Unter- schied zu Comicreportagen scheinen Geschichtscomics dabei nicht vom Feature des „rigorously handmade“ (Mickwitz 2016, 33; Mickwitz bezieht sich hier auf Hillary Chute) als Authentifizierungsstrategie zu profitieren. Geschichte präsen- tiert sich im Comic überwiegend als eine wohldurchdachte Wahl des Zeichenstils und des Panelaufbaus, die selten durch Spontanität gekennzeichnet ist und eher nicht auf den Status des_der Zeichnenden als Erlebende_n referiert. Schließlich können Comicschaffende einen spezifischen Stil für eine Ge- schichte und ein Projekt schaffen, um gezielt den Authentizitätsanspruch des Er- zählten zu postulieren. Joe Kubert wählte zum Beispiel in Yossel, 19 April 1943 (2003) Bleistiftzeichnungen, die nur geringfügig weiterbearbeitet wurden. Im Zei- chenprozess sind jedoch Bleistiftzeichnungen als Vorzeichnungen zu verstehen. Der Comic suggeriert damit unfertige Bilder. Diese korrespondieren insofern mit der erzählten Geschichte, als dass Kubert zwar intensiv über den im Comic er- zählten Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 recherchiert hat, sich jedoch selbst in diese Geschichte in der Form einer ‚was-wäre-wenn‘-Thematik hineingezeich- net hat – was wäre gewesen, wenn seine Familie nicht rechtzeitig aus Polen hätte emigrieren können? Der Stil gibt damit über den Authentizitätsanspruch der er- zählten Geschichte Auskunft. Der grafische Stil kann jedoch genauso gut die er- zählte Zeit selbst spiegeln, also künstlerische Stile, die in der erzählten Zeit mo- dern oder populär waren und damit eine Art ‚pastness‘ erzeugen, wie Raúl und Felipe Cava in Berlin 1931 (2001) demonstrieren oder etwa Reinhard Kleist mit sei- nen Bildern in Reinhard Osteroths 1914: Ein Maler zieht in den Krieg (2014).

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Das heimliche Erbe des Historismus im Geschichtscomic

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Spielarten des Geschichtscomics, die fak- tuale Geschichte präsentieren wollen, viele Strategien zur Simulation von Ver- gangenheit nutzen, aber die Inszenierung der Echtheit oder Wahrheit einer er- zählten Geschichte nur sehr selten auf Transparenz zurückgreift. Darin unterscheiden sich Geschichtscomics deutlich vom Comicjournalismus bzw. Co- micreportagen. Die Visualisierung geschichtswissenschaftlicher Arbeitsschritte findet kaum statt und die Comicschaffenden treten selbst nur sehr selten als His- toriograf_innen in Erscheinung oder geben gar ihre Thesen oder Forschungspa- radigmen preis. Zwei Hypothesen sollen dies hier erklären: Einerseits wirkt die Geschichtswissenschaft auch heute immer noch im Gegensatz zu anderen Wis- senschaften als allgemeinverständlich (vgl. Nissen 2008). Während sich die Fachwissenschaft hier mit Theorie- und Methodendiskursen von populärkultu- rellen Darstellungs- und Vermittlungsmodi entfernt hat, ist dieses Bild in der öf- fentlichen Wahrnehmung erhalten geblieben bzw. wird es immer wieder in Wel- len aktualisiert. Andererseits wirkt in der Unsichtbarkeit der historiografische Re- Konstruktion der Vergangenheit der Historismus als geschichtstheoretische Strö- mung des 19. Jahrhunderts nach und weiter, deren berühmter Vertreter Leopold von Ranke einst wirkungsmächtig formulierte, er wolle vor allem zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“, und dabei versuchen, das „eigene Selbst gleichsam aus- zulöschen“ (von Ranke 1885, 7; vgl. dazu auch einführend Jaeger/Rüsen 1992). Dieses Ideal der Objektivität ist heute in der Fachwissenschaft längst überholt, dennoch hat sich die Position des Historikers_der Historikerin als gleichsam auk- toriale_r Erzähler_in historischer Ereignisse über lange Zeit erhalten und vor al- lem in den Massenmedien der Populärkultur hartnäckig eingerichtet. So über- nehmen die kommentierenden Texte jenseits von Sprech- und Denkblasen im Geschichtscomic oft die Funktion der Historiker_innen, die die Geschichte erzäh- len ohne deren eigene Perspektivität deutlich zu machen. Die Forschungsleis- tung der theorie- und thesengeleiteten Interpretation historischer Zusammen- hänge bleibt damit nicht nur unsichtbar, sie wird verschleiert und damit auf das Authentische reduziert. Geschichte ist im Geschichtscomic eher eine historisierende, sie zeigt, „wie es eigentlich gewesen ist,“ und dafür nutzen Comicschaffende die oben beschrie- benen Authentizitätsstrategien, die eben genau jene ‚pastness‘ erzeugen und nur selten kritische Fragen an die Historiografie herantragen (wollen). Hier kann ebenfalls diskutiert werden, ob zwar die empirische Triftigkeit im dokumenta-

Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird 8 279 rischen Geschichtscomic anerkannt wird, die narrative Triftigkeit jedoch nicht als eine gesehen wird, die der historisch-kritischen Methode, sondern literarischen Maßstäben unterworfen wird (vgl. Gundermann 2017). Die Unpopularität einer sichtbaren Historiografie ist dabei zwar eine ge- schichtskulturell spezifische, aber keine mediengebundene. Ein Blick zu TV-Ge- schichtsdokumentationen offenbart dies: Während im britischen TV in solchen Sendungen durchaus häufiger Moderator_innen und Expert_innen zu sehen und zu hören sind, war dies in den letzten Jahren im deutschen Fernsehen eher un- populär. Hier übernahmen gerade bei zeitgeschichtlichen Formaten fast aus- schließlich kurze Zitate von Zeitzeug_innen die Funktion der Autorisierung der erzählten Geschichte (vgl. Bösch 2008). Geschichtscomics lassen sich als Geschichtstransformationen begreifen (vgl. einführend Georgi et al. 2015) und damit als ein intentionaler und interpretativer Akt. Erste Studien in diesem Feld legen nahe, dass solche Geschichtstransforma- tionen besonders gut gelingen, wenn auf Inhalte eines kollektiven Wissens einer Gesellschaft zurückgegriffen wird. Je intensiver die zu erzählende Geschichte be- reits medial auf- und verarbeitet wurde, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Transformation nicht nur ein (selektiv interpretiertes) ursprüngliches Ereignis, sondern auch dessen „diskursive Tradierung mitrezipiert“ (Georgi et al. 2015, 21). Die Erfahrungswelten und Erwartungshaltungen der Lesenden müssen dabei ebenso mit einbezogen werden, wie die Absichten der Comicschaffenden. Historiografie im Comic kann heute (immer noch) eher als Verzauberung durch ‚pastness‘ denn kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ver- standen werden. Im Bereich der „leisure history“ (Carlà/Freitag 2015, 134) muss auch kein Comic zu mehr verpflichtet werden. Dennoch zeichnet sich ab, dass immer mehr Geschichtscomics in Lehr- und Lernsituationen genutzt werden. Hier kann es dann nicht um die Frage gehen, ob denn auch mit Fiktionen Ge- schichte gelernt werden könne, sondern wie und welche Formen der Geschichte und letztlich auch Geschichtswissenschaft in unseren Gesellschaften implemen- tiert werden. Fast alle hier vorgestellten Authentifizierungsstrategien zielen im Bereich der Geschichtscomics auf eine Abgrenzung zur Fiktion. Um hier deutlicher das Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität und deren Wechselwirkungen zu verstehen, könnten zukünftige Untersuchungen mit einer Perspektivänderung ansetzen: Denn authentische Fiktionen gelingen häufig (nur) durch Rückbezüge und Verweise auf Reales und damit oftmals auf Historisches, das heißt die Simu- lation der Inszenierung von Geschichte und Kultur beeinflusst die Wirkung von fiktionalen Erzählungen.

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Im Comic wird Geschichte als vergangene Wirklichkeit simuliert. Der analy- tische Blick auf Geschichtscomics zeigt uns so, wie Wissen über die Vergangen- heit popularisiert wird und damit vor allem, mit welchen Techniken und Strate- gien Geschichte überhaupt im öffentlichen Raum inszeniert wird. Diese Stra- tegien und Auffassungen von solchen geschichtlichen Wirklichkeitsstandards sind kulturell geprägt und zeitlichen Veränderungen unterworfen. Die Analyse dieser Strategien lässt wiederum Rückschlüsse auf das populäre Verständnis von Geschichtswissenschaft zu.

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Jeff Thoss Der Comic als Archiv der Populärkultur

Alan Moore und Kevin O’Neills ‚Materialsammlung‘ Black Dossier

Abstract: Black Dossier von Alan Moore und Kevin O’Neill lässt sich als Beispiel für archivarische Comics verstehen, wie sie kürzlich von der Forschung diskutiert wurden. Das Buch versammelt nicht nur Figuren, Schauplätze und Handlungs- versatzstücke aus der populären Kultur insbesondere des 20. Jahrhunderts, son- dern auch zahlreiche mit dieser Kultur verbundene Publikationsformate, die es mit den Mitteln des gewöhnlichen Mainstreamcomicformats reproduziert bzw. in einem Mimikry-Spiel simuliert. Der Comic konfrontiert seine Leser_innen mit ständig wechselnden, aber durchweg fingierten Materialitäten und lädt so zur Reflexion über die Materialität zeitgenössischer wie historischer Comics und an- derer Medien der Populärkultur ein. Im Angesicht der aktuellen Dominanz von Convergence Culture und Transmedia Storytelling, bei denen ein frei schweben- der ‚Content‘ seine materiellen Erscheinungsformen zu transzendieren scheint, insistiert Black Dossier auf der Untrennbarkeit von Trägermedien und Inhalten, die über diese transportiert werden. Auf diese Weise erschaffen Moore und O’Neill mit ihrem Comic einen Ort der Erinnerung an die materielle Basis der Po- pulärkultur.

Eintritt in das Archiv

Das Archiv hat sich über die letzten Jahrzehnte, beeinflusst allen voran durch Ar- beiten von Michel Foucault (1969) und Jacques Derrida (1995), zu einem zentralen Begriff der Geisteswissenschaften entwickelt.1 Auch die Comicforschung hat ihn

 Dr. Jeff Thoss, E-Mail: [email protected]

BB 1 Einen Überblick über diese Entwicklungen bieten Manoff 2004; sowie Ebeling/Günzel 2009. Ich verwende den Begriff Archiv freilich metaphorisch, im Sinne eines Orts, an dem die Vergan- genheit aufbewahrt wird und ihre Materialien gesammelt werden.

Open Access. © 2018 Jeff Thoss, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-012

286 9 Jeff Thoss bereits aufgenommen. Jared Gardner spricht mit Blick auf die zeitgenössische amerikanische Graphic Novel und ihre Fixierung auf Sammler_innen und Samm- lungen gar von einem „archival turn“ (2006, 788). Und auch für das Werk des Briten Alan Moore sei das Archiv, so Tony Venezia, „emblematic“ (2010, 186). Im Fall von Moores zusammen mit Kevin O’Neill erschaffener Serie The League of Extraordinary Gentlemen (1999– ) sieht Venezia das Archiv vor allem im British Museum, das die titelgebende Liga beheimatet, thematisiert (vgl. Venezia 2010, 190). Darüber hinaus lässt sich League jedoch insgesamt als ein in zweifacher Weise archivarisches Projekt beschreiben: Erstens sammelt die Serie Figuren, Schauplätze und Handlungsversatzstücke aus der populären Literatur insbeson- dere des 19. und 20. Jahrhunderts. Nichts wird bei Moore und O’Neill erfunden, alles wird lediglich vorgefunden und in Form eines postmodernen Pastiche2 zu- sammengesetzt. So müssen zum Beispiel im zweiten Band (2003) Mina Murray (aus Bram Stokers Dracula [1897]), Allan Quatermain (aus den Abenteuerroma- nen H. Rider Haggards) und Dr Jekyll/Mr Hyde (aus der Feder Robert Louis Ste- vensons) die Invasion der Marsianer aus H.G. Wells’ The War of the Worlds (1898) aufhalten. Zweitens werden in den ersten beiden Bänden und besonders dem Spin-off Black Dossier, um das es hier gehen soll, zahlreiche mit dieser Literatur verbundene Publikationsformate vom Comic versammelt, zitiert und reprodu- ziert. Die Titelseiten im ersten Band (1999) erinnern etwa an viktorianische Ma- gazine, Zeitungen und Groschenhefte, daneben werden (fingierte) alte Werbesei- ten abgedruckt und auch sonstige Paratexte wie Inhaltsverzeichnisse oder Anhänge in Anlehnung an die Druckmedien vergangener Zeiten gestaltet. Wäh- rend die Charaktere und andere inhaltliche Bestandteile, die der Comic aufnimmt und wiederverwendet, dabei in der Regel auch heute noch bekannt sind, handelt es sich bei den medialen Artefakten meist um vergessene und sozusagen ausge- storbene Medien. In dieser Kopplung aus der Archivierung narrativer Elemente einerseits und der Archivierung von Trägermedien, die diese Elemente (einst) transportier(t)en, anderseits konstituiert sich das medienreflexive Moment von League. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, erinnert Moore und O’Neills Comic zu einer Zeit, in der popkulturelle Erzeugnisse gerne als beliebig verteilbarer ‚Content‘ aufgefasst werden, an die materielle Basis dieser Kultur. Nachdem ich Black Dossier im zeitgenössischen Comicdiskurs situiert habe, werde ich Moore und O’Neills archivarische Materialsammlung anschließend zuerst auf der Ma- kroebene beschreiben, bevor einige der darin enthaltenen Artefakte aus der Mi- kroperspektive genauer analysiert werden.

BB 2 Das Pastiche soll hier nach Fredric Jameson (1984, 64–65) eine neutrale Stilimitation bezeich- nen, die im Gegensatz zur Parodie ihre Quelle nicht aus einer überlegenen Position verlacht.

Der Comic als Archiv der Populärkultur 9 287

Black Dossier und die Materialität des zeitgenössischen Comics

Die Frage des Archivs ist unweigerlich mit der Frage der Materialität verbunden, erzwingt das Archiv doch stets eine Auseinandersetzung mit der Dinghaftigkeit der in ihm aufbewahrten Objekte. Die Materialität von Comics war in den vergan- genen Jahren Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten (vgl. Tinker 2007; Priego 2010; Kashtan 2013; Bachmann 2016; Thon/Wilde 2016), zum Teil mit ex- plizitem Bezug zum Archiv (vgl. Jenkins 2013; Stein 2016). Für diese Verquickung bieten sich mehrere Erklärungsmöglichkeiten an. Man könnte ganz allgemein das postmoderne Verhältnis zu Geschichte und Erinnerung im Zeitalter der Digi- talisierung ins Feld führen, oder aber auf comicspezifische Entwicklungen ver- weisen. Es ist vielfach bemerkt worden, dass die Aufwertung seines kulturellen Status, die der Comic im angloamerikanischen Raum in den 80ern und 90ern er- fährt, mit einem Wandel seiner Materialität einhergeht – aus wegwerfbaren Hef- ten werden aufbewahrungswerte Bücher (vgl. etwa Sabin 1993). Mit der Nobilitie- rung des Comics ist auch eine Institutionalisierung von Sammlungen verbunden, die sich fortan nicht mehr nur bei Privatleuten befinden, sondern auch in öffent- lich geförderten Einrichtungen wie etwa der Billy Ireland Cartoon Library & Mu- seum (seit 1977) in den USA. Diese tiefgreifenden Veränderungen laden Zeich- ner_innen und Autor_innen zur Auseinandersetzung mit der Materialität des eigenen Mediums und seiner Geschichte ein (vgl. vor allem Bachmann 2016).3 Diesem Trend folgt auch Black Dossier, dessen genaue Ausrichtung es aller- dings noch zu charakterisieren gilt. Wie Gardner (2006, 801) und Venezia (2010, 190) betonen, ist der Comic durch seine Form, seine Kombination aus Text und Bild, für Archivarbeit geradezu prädestiniert. Black Dossier treibt dies gewisser- maßen auf die Spitze und überbietet darin auch die ersten beiden Bände von Lea- gue: Zum einen geht es in der Handlung schlicht um die titelgebende Akte, die wichtige Dokumente zur Geschichte der Liga enthält und von den Protagonist_in- nen zuerst gestohlen und dann in Sicherheit gebracht werden muss. Zum ande- ren nimmt der Comic aber auch selbst die Gestalt der Sammelmappe (oder einer Sammelmappe) an und präsentiert seinen Leser_innen in einem Spiel materieller und medialer Mimikry (als Nachahmungsspiel im Sinne Caillois’ [1967]) deren In- halte. Im Gegensatz zu den vieldiskutierten archivarischen Comics eines Art

BB 3 Ich habe versucht, die ersten beiden Bände von League mit Blick auf diese Entwicklungen zu lesen (vgl. Thoss 2015). Der vorliegende Beitrag kann als Fortsetzung jener Arbeit aufgefasst wer- den.

288 9 Jeff Thoss

Spiegelmans oder Chris Wares handelt es sich bei Moore und O’Neills Serie um ein Produkt des Mainstreams, um einen Superheld_innencomic, der (zumindest indirekt) von DC verlegt wird.4 Auch wenn Charaktere wie Mina Murray und Allan Quatermain natürlich keine originären Superheld_innen sind, werden sie hier in Form eines genretypischen Crossovers zu einem Superheld_innenteam à la Jus- tice League of America kombiniert, um gegen Erzschurken wie Professor Moriarty anzutreten. Zum Mainstreamcomic gehört auch ein bestimmtes Publikationsfor- mat: Neben einer gebundenen Ausgabe gibt es von Black Dossier das typische , auf das ich mich hier wegen seiner größeren Verbreitung und leichteren Verfügbarkeit konzentriere.5 Welche Artefakte auch immer Moore und O’Neills Akte archiviert, sie werden – bis auf wenige Ausnahmen – mit den ma- teriellen Gegebenheiten des gewöhnlichen trade paperback (farbiger Offsetdruck auf 168 mal 260 Millimeter großem, halbmattem 100-Gramm Papier) realisiert. Wenn also ein Fünfzigerjahre-Kindercomic im Stile von The Beano (1939− ) oder The Dandy (1938−2012) im Dossier enthalten ist,6 so handelt es sich dabei offen- sichtlich um ein Fake, eine bloße Simulation von Altermedialität und -materiali- tät mit den Mitteln dieses völlig unscheinbaren Publikationsformats. Hierin un- terscheidet sich Black Dossier von den Alternative Comics, die alte Druckerzeug- nisse natürlich auch nur imitieren können, dabei aber gerne auf eine aufwendige und flexible materielle Gestaltung zurückgreifen (man denke nur an Wares seit 1993 erscheinende ACME Novelty Library). Black Dossier erscheint zu einer Zeit, in der die Materialität des Mainstream- comics auch noch von ganz anderer Seite infrage gestellt wird. Seit der Jahrtau- sendwende hat sich der Superheld_innenfilm zu einer Hauptgattung des Holly- woodkinos entwickelt, während Superheld_innenvideospiele wie etwa MARVEL VS. CAPCOM 2: NEW AGE OF HEROES (2000) oder BATMAN: ARKHAM ASYLUM (2009) zu Klassikern ihres Genres avanciert sind. Mit anderen Worten, Superheld_innenco- mics sind Teil der Convergence Culture, jenes Transmedia Storytellings, über das

BB 4 Die ersten beiden Bände sowie Black Dossier erschienen bei America’s Best Comics (ABC), ei- ner von Moore 1999 ins Leben gerufenen Verlagsmarke des ursprünglich unabhängigen Hauses WildStorm. Dieses wurde jedoch noch vor dem Erscheinen des ersten ABC-Hefts an DC verkauft. Moores Aversion gegenüber den Verlagsgiganten Marvel und DC ist hinlänglich bekannt. Spä- tere League-Bände wurden dann auch wieder von kleineren Verlagen veröffentlicht. 5 Der Comic ist als Buch konzipiert worden, eine vorherige serielle Publikation in Heftform gibt es im Gegensatz zu den ersten beiden Bänden nicht. 6 Für die genaue Identifizierung für Moore und O’Neills Vorlagen und Anspielungen waren Jess Nevins’ Annotationen zu Black Dossier (vgl. Nevins 2008) überaus hilfreich, wenn nicht unver- zichtbar. Seitenangaben für den unpaginierten Comic beziehen sich auf Nevins’ Seitenzählung.

Der Comic als Archiv der Populärkultur 9 289 sich die Populärkultur heutzutage bevorzugt artikuliert (vgl. Jenkins 2006).7 Das Transmedia Storytelling weist dabei ein in gewisser Weise paradoxes Verhältnis zu Medialität und Materialität auf: Auf der einen Seite geht es um eine Vervielfäl- tigung von Medien, einen – um die einflussreiche Definition Henry Jenkins’ auf- zugreifen – „flow of content across multiple media platforms“ (Jenkins 2006, 2). Auf der anderen Seite werden diese Medien lediglich als Mittel zum Zweck ange- sehen. So soll sich zwar jedes Medium auf seine eigene, einzigartige Weise ein- bringen, im Vordergrund steht jedoch ganz klar die transmediale fiktionale Welt, zu der die einzelnen Medienprodukte lediglich Eintrittspunkte bieten. Die Mate- rialität der Medien bleibt außen vor; Jenkins beschreibt physische Datenträger als bloße „delivery systems“, bloße technische Kanäle, die keine „cultural sys- tems“ (Jenkins 2006, 14) bilden. Das Comicprojekt Moore und O’Neills verhält sich konträr, wenn nicht sogar invers zur Convergence Culture und ihrem quasi- platonischen Konzept eines ‚Content‘, der seine materiellen Erscheinungsformen transzendiert. Statt den gleichen Inhalt über viele verschiedene Formate zu ver- teilen, versammelt Black Dossier in einem ersten Schritt Inhalte aus verschiede- nen Formaten, ebenso wie diese Formate selbst. Anschließend fließt der versam- melte Inhalt zwar dann auch über verschiedene Plattformen innerhalb des Comics, aber diese werden in ihrer materiellen Gestalt ausgestellt und nicht ein- fach in den Dienst einer gemeinsamen fiktionalen Welt genommen. Die materi- elle Basis der Populärkultur wird also stets beachtet und mitgedacht. Der Comic bietet ihr ein Archiv, wenngleich auch ein bewusst fiktives und fiktionalisiertes Archiv. Es geht nicht um die Authentizität oder Auratizität medialer Artefakte oder gar um eine Fetischisierung von Materialität. Black Dossier ist – trotz gele- gentlicher Verweise auf die ursprüngliche Heimat der Liga, das British Museum – kein Museum; dafür sind die in der Sammelmappe enthaltenen Objekte, wie wir gleich sehen werden, zu kontingent, zu wenig kuratiert. Und natürlich handelt es sich stets bloß um Simulationen, um ein ‚Als ob‘ andersgearteter Materialität. Stattdessen erinnert der Comic permanent daran, dass sich die Charaktere, Hand- lungen und Welten der Populärkultur nicht so einfach von ihren physischen Trä- germedien ablösen lassen. Die Kanäle sind Teil der Kultur.

BB 7 Hiermit soll natürlich nicht suggeriert werden, dass der Comic davor stets frei von transmedi- alen Verflechtungen war. Wie etwa Christina Meyer (2016) gezeigt hat, lässt sich gerade für den frühen Comic Ähnliches beobachten. Der Versuch, League of Extraordinary Gentlemen selbst in ein Franchiseunternehmen zu verwandeln, ist übrigens gescheitert. Eine Verfilmung aus dem Jahr 2003, die ohne Beteiligung Moore oder O’Neills entstand, fiel bei Kritik und Publikum durch.

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Struktur und Funktion des Dossiers (im Dossier)

Wie bereits angedeutet, existiert das schwarze Dossier einmal als Mise en abyme, als Objekt in der diegetischen Welt des Comics. Black Dossier spielt in den 1950ern und präsentiert seine Handlung größtenteils als Pastiche der Populär- kultur aus dem Umfeld des Kalten Krieges. So müssen Mina Murray und Allan Quatermain zum Beispiel James Bond und Emma Peel (die aus Urheberrechts- gründen allerdings mit leicht veränderten Namen auftreten) ausschalten, um die titelgebende Mappe zu beschützen. Diese wurde von O’Brien (Winston Smiths Gegenspieler in 1984 [1949]) für Big Brother zusammengestellt und enthält ver- schiedenste Materialien, die Aufschluss über die Vorgeschichte der Liga geben.8 Nachdem die beiden Held_innen das Dossier zu Beginn entwenden, macht sich Mina daran, es in drei Sitzungen zu lesen. Jedes Mal, wenn sie dies tut, wird die reguläre Handlung und damit auch die gewohnte Mise en page, die Typografie, der Zeichenstil, die Farbgestaltung usw. unterbrochen und der Comic nimmt selbst die Gestalt der Sammelmappe an. Der Übergang wird dabei stets gleich be- werkstelligt: Im letzten Panel auf einer Recto-Seite sieht man das aufgeschlagene Dossier aus Minas Ich-Perspektive (siehe Abb. 1). Blättert man um, hat man die gleichen Seiten vor sich wie soeben die fiktive Heldin. Am Ende jedes Dossier- Abschnitts wird das Prinzip umgekehrt. Nach dem Umblättern sieht man im ers- ten Panel einer Verso-Seite wieder die offene Mappe aus Sicht der Heldin, mit jenen Seiten, die man eben selbst noch vor Augen hatte. Das fiktive Objekt, das Mina in den Händen hält, und das reale Objekt, das die Leser_innen in Händen halten, werden in eins gesetzt.9 Black Dossier stößt einen somit förmlich auf das Thema der Materialität, spiegelt die Interaktion mit dem Buch wider. Man muss sich zwangsläufig fragen, mit was für einem Objekt man es hier zu tun hat und wie man mit diesem umgehen soll.10

BB 8 Vielleicht ist es an dieser Stelle notwendig, den Begriff des Populären zu präzisieren. Bei Moore und O’Neill geht es nicht um Fragen von Anspruch(slosigkeit) oder Unterhaltung. Was in ihren Comic Einzug hält, ist vor allem dasjenige, was Eingang in die populäre Imagination (zu- mindest die britische) gefunden hat, dasjenige, aus dem sich die Popkultur weiterhin speist. Dazu gehört Orwells Dystopie ebenso wie die bekannteren Dramen Shakespeares oder auch Swifts Gulliver’s Travels (1726). 9 Der Einband der gebundenen Ausgabe ist wie jener des Dossiers schwarz, wodurch die Gleich- setzung zwischen realer und fiktiver Sammelmappe hier noch verstärkt wird. 10 Dem Comic liegt auch eine 3D-Brille bei, die benötigt wird, um den anaglyphen Schlussteil zu lesen. Auf diesen Aspekt der Materialität von Black Dossier geht Backe (2017, 198−200) ein.

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Abb. 1: Die Mise en Abyme des Dossier in Black Dossier (Moore/O’Neill 2008, 23).

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Nun könnte man natürlich versuchen, das Dossier, ähnlich wie Mina, vorrangig auf seinen Informationsgehalt hin zu lesen, um sich ein Bild verschiedener Etap- pen in der Geschichte der Liga zu machen, von ihrer Gründung im Renaissance- England bis zu den in Band 1 und 2 geschilderten Abenteuern. Aber die perma- nenten Stilwechsel erschweren dies und bringen die Materialität immer wieder zum Vorschein. Immerhin besteht ziemlich genau die Hälfte von Black Dossier aus unterschiedlichsten archivarischen Materialien, von denen nur wenige unter einen konventionellen Comicbegriff fallen. Als Mina die Mappe das erste Mal auf- schlägt, informiert uns ein Inhaltsverzeichnis über die Artefakte, mit denen wir im Rest des Comics konfrontiert werden. Da wären etwa: der bereits erwähnte Kindercomic (The Trump) im Stile des Beano oder Dandy; Auszüge aus der Folio- ausgabe eines verloren geglaubten Shakespearestücks; Auszüge aus der illus- trierten Ausgabe einer Fortsetzung von John Clelands Fanny Hill (1748), datiert auf 1912; eine Gillray nachempfundene Karikatur aus dem 18. Jahrhundert; die frühneuzeitliche Karte eines unbekannten Kontinents im Nordatlantik; eine schematische Darstellung der Nautilus (Kapitän Nemos U-Boot); eine viktoriani- sche Broschüre mit Londoner Sehenswürdigkeiten; ein Sammlung von Postkar- ten um die Jahrhundertwende; Auszüge aus einem Groschenheft aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Daneben werden eine Reihe von Exzerpten aus Sachbü- chern, Autobiografien und Romanen angekündigt, nebst handgeschriebenen No- tizen und Typoskriptseiten. Nicht im Inhaltsverzeichnis erwähnt, aber sehr wohl in der Mappe/im Comic drin ist zudem noch eine tijuana bible. Diese Zusammen- stellung lässt sich kaum systematisieren und erscheint als gewolltes Sammelsu- rium, das ein kontingenter Verlauf der Geschichte angehäuft hat. Alle genannten Dokumente sind in Black Dossier enthalten, das heißt, sie werden vom Comic und seinen eigenen medialen und materiellen Gegebenheiten reproduziert bezie- hungsweise überhaupt erst hergestellt.11 The Trump zum Beispiel ist in dem für Mainstreamcomics üblichen Format gedruckt, das kleiner ist als das der Kinder- comics der 50er Jahre und über eine bessere Papierqualität als diese verfügt. Ent- scheidend sind der Eindruck und das Bewusstsein, es mit anderen physischen Datenträgern zu tun zu haben, nicht eine möglichst authentische und originalge- treue Faksimilierung.

BB 11 Die gebundene Ausgabe fällt durch einige materielle Besonderheiten auf, die beim trade pa- perback − vermutlich aus Kostengründen − fehlen. So werden etwa das Shakespearefolio und die Fanny Hill-Ausgabe auf dickerem und mattem Papier gedruckt. Dies sollte aber nicht als eine Annäherung an originale Artefakte verstanden werden. Vom Hadernpapier einer richtigen Folio- ausgabe ist das Hardcover immer noch weit entfernt; es bleibt also auch hier bei einer bewussten materiellen Fälschung.

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Entscheidend ist auch, dass das entfesselte intertextuelle und transfiktio- nale12 Spiel, das Moore und O’Neill in The League of Extraordinary Gentlemen be- treiben, somit stets an konkrete materielle und mediale Praktiken zurückgebun- den wird. Das ,crossover to end all crossovers‘, als das man die Serie insgesamt verstehen könnte, behandelt die Charaktere und Schauplätze, die es der Popkul- turgeschichte entlehnt, nicht als freischwebende Entitäten, als reine Signifikate und semantische Merkmalsbündel. Ob es sich nun um Allan Quatermain, James Bond oder Shakespeares Prospero handelt (der in Black Dossier auch eine wich- tige Rolle spielt), der Comic weist stets auf die materiellen Artefakte hin, denen diese ikonischen Figuren entspringen. Dass diese Koppelungen oft erfunden sind – es gibt kein Folio eines Stücks namens Faerie’s Fortunes Founded, in dem Pros- pero auftritt, und auch keine illustrierte Ausgabe von The New Adventures of Fanny Hill, in dem die Titelheldin auf Lemuel Gulliver trifft – spielt dabei keine Rolle. In Black Dossiers Crossover-Verfahren wird alles durcheinandergemischt. Der ‚wahre Ursprung‘ dieses oder jenes Elementes ist unerheblich. Worauf es an- kommt ist, dass auch Medien und Materialitäten in das Crossover miteinbezogen werden. Ähnlich wie der Comic versucht, einflussreiche Fiktionen aus vergange- nen Zeiten in sich zu vereinen,13 versucht er auch, die damit verbundenen Druck- medien in sich aufzunehmen. Hierdurch wird er zum Archiv der Popkultur, zum Ort der Erinnerung an alte Medien und Formate sowie an das materielle Substrat all jener Geschichten und Figuren, die die populäre Imagination bis heute beflü- geln.

Hefte, Bücher, Postkarten: Fundstücke aus Moore und O’Neills Materialsammlung

Um Moore und O’Neills konkreten Umgang mit der Materialität vergangener Druckmedien zu beschreiben, möchte ich im Folgenden einige der in der Sam- melmappe enthaltenen Dokumente exemplarisch analysieren – auch wenn diese selbst natürlich keinen Anspruch auf Beispielhaftigkeit stellen. Ich fange mit

BB 12 Siehe Ryan 2008 für weitere Ausführungen zum Begriff der Transfiktionalität. 13 Am weitesten wird das transfiktionale Prinzip wohl im Appendix zum zweiten Band geführt, einem fünfzigseitigen Reiseführer, der unzählige imaginäre Orte aus der Literaturgeschichte vor- stellt. Nachdem Black Dossier das Spiel mit der Materialität auf die Spitze treibt, ist Century, der dritte Band (2014), der die Aktivitäten der League bis zur Jahrtausendwende verfolgt, dann kaum noch an diesem Thema interessiert − vielleicht weil, wie Derrida (1995, 26) schreibt, das Archiv erst an dem Punkt einsetzt, an dem die lebendige Erinnerung zusammenbricht.

294 9 Jeff Thoss dem einzigen Objekt an, das materiell etwas aus der Reihe fällt (zumindest im trade paperback), der Sexjane betitelten tijuana bible, die im Dossier eingefügt ist (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Titelseite von „Sexjane“, der tijuana bible in Black Dossier (Moore/O’Neill 2008, o.S.).

Es handelt sich, wie zu erwarten, um einen achtseitigen , der bekannte Charaktere in einen pornografischen Kontext versetzt. Bereits die originalen bi- bles, die ihre Blütezeit um die Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA erlebten, verfolgten eine Art Mash-Up-Ästhetik und bedienten sich bei beliebten Figuren aus Zeitungsstrips und anderen Medien wie auch bei Personen des Zeitgesche- hens. In der Tradition eines solch freizügigen Umgangs mit bestehenden Elemen- ten der Kultur siedeln Moore und O’Neill ihren Comic in der Welt von Orwells 1984 an. Materiell fällt die tijuana bible aus der Reihe, weil hier tatsächlich ein materieller Wandel vollzogen wird: Sexjane ist in einem kleineren Querformat ge- druckt, bis auf die Umschlagseiten monochrom, auf rauhem, etwas dickerem Zei- tungspapier, und zwischen die regulären Comicseiten Black Dossiers eingeheftet. Das Heft ähnelt in seinem Aussehen einer echten tijuana bible, ist aber natürlich dennoch ein Fake, und das nicht nur, weil es sich aus dem ‚falschen‘ kulturellen Bereich für seine porn parody bedient. Auch was seine Materialität anbelangt, ist

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Sexjane die bloße Simulation eines alten Comicheftes, dessen Format tatsächlich noch etwas kleiner und auch quadratischer als Moore und O’Neills Nachschöp- fung ist. Ihre tijuana bible-Seite ist gegenüber den übrigen Comicseiten lediglich auf der langen Kante beschnitten, aber weiterhin 168 mm breit, so dass sich das Mainstreamcomicformat in der bible noch immer zu erkennen gibt. Ziel ist also offensichtlich nicht eine möglichst authentische Nachahmung, sondern ein transparentes Mimikry-Spiel, das den Leser_innen ein bewusstes ‚Als ob‘ anderer Materialität darbietet, die Illusion einer tijuana bible, die im trade paperback ar- chivarisch aufbewahrt wird. Black Dossier erinnert somit frei von jeder Nostalgie an ein fast vergessenes Druckmedium der Populärkultur, ohne die billig herge- stellten und unter dem Ladentisch verkauften Hefte zu mystifizieren und zu my- thologisieren. Daneben sind die bibles mit ihrer Wiederverwendung und Zweck- entfremdung beliebter popkultureller Referenzpunkte natürlich auch eine Art Vorläufer für das (urheberrechtlich ebenso zwielichtige) transfiktionale Projekt Moore und O’Neills, so dass auch hier die populäre Imagination und ihre Daten- träger miteinander verschränkt werden. Während die tijuana bible das vielleicht obskurste und statusniedrigste der Druckmedien darstellt, die Black Dossier in sich versammelt, handelt es sich bei meinem nächsten Beispiel um das wohl prestigeträchtigste Objekt, das Moore und O’Neill nachbilden – die bereits erwähnte Folioausgabe des ‚verlorenen‘ letz- ten und unvollendeten Shakespearestücks Faerie’s Fortunes Founded, datiert auf 1620, das von der Gründung und der ersten Inkarnation der Liga unter der Füh- rung von Prospero erzählt (siehe Abb. 3 und 4). Dass dieses Stück eine Erfindung des Comics ist, dürfte klar sein. Dass auch das Publikationsformat ein Fake ist, dürfte zumindest Leser_innen, die mit der englischen Literaturgeschichte ver- traut sind, ebenfalls gleich auffallen. Einzelausgaben von Shakespeares Dramen sind nämlich im kleineren Quartoformat gedruckt; die von Moore und O’Neill ge- wählte Bezeichnung spielt offensichtlich auf das first folio an, jene erste Ausgabe der gesammelten Bühnenwerke von 1623, neben der Gutenbergbibel das viel- leicht berühmteste Druckerzeugnis der frühen Neuzeit. Auch hier geht es also in erster Linie um eine Reflexion über und Bewusstmachung von historischer Mate- rialität und nicht um die Produktion eines möglichst originalgetreuen Faksimi- les. Die sechs Seiten des Shakespearefragments, die sich in der schwarzen Akte befinden und, wohlgemerkt, im regulären Format des trade paperback gedruckt sind, vermischen jedenfalls Aspekte von Quarto- und Folioausgaben.

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Abb. 3: Titelseite von Faerie’s Fortunes Founded, dem Shakespearefolio in Black Dossier (Moore/O’Neill 2008, 49).

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Abb. 4: Erste Seite von Faerie’s Fortunes Founded (Moore/O’Neill 2008, 51).

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Die Titelseite erinnert in Sachen Layout und Typografie an erstere. Die Angaben zu Titel, Autor, Drucker und Verleger sind in einer Renaissance-Antiqua ge- druckt, mit aus heutiger Sicht willkürlich erscheinender Kursivierung sowie Groß- und Kleinschreibung ebenso wie einer unorthodoxen Orthografie, die die materielle Gestalt dieses Artefakts umso stärker in den Vordergrund rücken. Die darauffolgenden Seiten mit dem Stück selbst verwenden den für das first folio charakteristischen Satzspiegel mit zweispaltigem Druck des Dramentextes. Da- neben finden sich im gesamten Fragment holzschnittähnliche Illustrationen und florale, dekorative Muster. Auf den Titelseiten der historischen Shakespeareaus- gaben sind solche tatsächlich zu finden, bei den Illustrationen, die in den Fließ- text eingefügt sind, handelt es sich allerdings um Zugaben Moore und O’Neills. Sie machen Faerie’s Fortune Founded zu einem stärker visuellen Artefakt und verweisen auf die Relevanz von Illustrationen für die Rezeptionsgeschichte der Stücke. Natürlich nähert sich das Shakespearefragment durch die Text-Bild-Kom- bination auch formal an den Comic an, fügen die frühneuzeitliche Buchkultur, die eng mit Holzschnittillustrationen verbunden ist, in das Archiv des Mediums ein.14 Darüber hinaus fällt auch die künstliche Vergilbung der Seiten auf, die die Historizität des Objekts anzeigen und unterstreichen, dass die Überlieferung von Shakespeares Figuren und Motiven eben keine rein ideelle Angelegenheit, son- dern an bestimmte materielle Praktiken gebunden ist, an Dinge, die sofern sie nicht aufbewahrt und konserviert werden, auch zu einem Vergessen ihrer Inhalte führen. Der Prospero, der am Ende von Black Dossier in der Haupthandlung auf- tritt, ist dementsprechend auch kein freischwebendes Signifikat, das man aus ei- nem abstrakten Fundus an ‚Content‘ herausgreifen könnte. Er ist an sein materi- elles und mediales Erscheinungsbild im Shakespearefolio gebunden, das folglich auch seine spätere Gestalt im regulären Comicteil als eine durch ein konkretes Publikationsformat bedingte sichtbar macht. Pornoheft und wertvolle Klassikerausgabe – das sind die Pole, zwischen de- nen sich die Artefakte in Moore und O’Neills Materialsammlung bewegen. Stets ist der Comic darauf bedacht, die Charakteristika alter Druckerzeugnisse mit sei- nen eigenen Mittel zu simulieren, stets ist er darauf bedacht, an die materielle Basis der populären Imagination zu erinnern und die technischen Kanäle als in- tegralen Bestandteil der Kultur ins Recht zu setzen. Als letztes möchte ich ein Ob- jekt oder, genauer gesagt, eine Serie von Objekten in der schwarzen Sammel- mappe besprechen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie wenig narratives

BB 14 Es gibt kein Dokument in Moore und O’Neills Sammelmappe, das nicht in irgendeiner Form Text und Bild kombiniert. Die Frage nach den Grenzen des Mediums und seiner (Vor-)Geschichte schwingt somit immer mit.

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Potenzial besitzen und somit auch wenig geeignet erscheinen für ein Crossover von Charakteren, Schauplätzen und Handlungsverläufen, wie es Black Dossier veranstaltet. Es handelt sich um die Postkarten, deren Einfügung in die Mappe, ähnlich wie bei der Karte, dem Querschnitt der Nautilus oder der Werbebro- schüre, auf den ersten Blick vielleicht etwas verwundern mag. Acht Postkarten werden über vier Seiten im Comic auf dunkelbraunem Hintergrund reproduziert, wobei die Vorderseite von vier Postkarten jeweils auf eine Recto-Seite gedruckt ist und deren Rückseite auf eine Verso-Seite (siehe Abb. 5 und 6). Das Umblättern der Comicseite simuliert auf diese Weise das Umdrehen der Postkarten. Selbst- verständlich sind die Karten in der für den Comic regulären Papierstärke von 100 Gramm und nicht etwa auf 300-Gramm Papier gedruckt, so dass niemand auf den Gedanken kommen sollte, man könne die Seite zerschneiden und so echte Post- karten aus dem Comic herauslösen. Durch die Abbildung von vier Karten auf ei- ner 168 mal 260 mm großen Seite sind diese natürlich auch kleiner als das Origi- nal. Die Vorderseiten der Karten (es handelt sich durchgängig um Ansichtskar- ten) sind stilistisch vielseitig gestaltet; neben Tuschezeichnungen finden sich auch einige Bleistiftzeichnungen sowie, im Falle einer Karte aus der Opéra de Pa- ris, etwas, das man als gezeichnete Schwarz-Weiß-Fotografie auffassen könnte. Die Farbgestaltung variiert ebenfalls beträchtlich, von in kräftigen Primärfarben gestalteten Bildern über verhaltene Aquarellzeichnungen bis zu monochromen Karten. Daneben verfügt jede Karte über eine Ortsangabe in je eigener Typografie. Dreht man die Karten – also die Comicseite – um, steht man auch hier einer gra- fischen Vielfalt gegenüber. Die Postkarten scheinen auf verschiedenen Papier- sorten gedruckt zu sein, in verschiedenen Stadien der Alterung, mit artifiziellen Wasserflecken und Ähnlichem. Sie sind mit unterschiedlichsten Briefmarken und Poststempeln versehen, daneben sind sie in diversen Schreibschriften ver- fasst, wobei es sich allerdings durchweg um Satzschriften handelt (wie immer werden die archivarischen Materialen vom Comic eindeutig als Fakes ausgewie- sen und das Mimikryspiel als solches transparent gehalten). Auf engstem Raum versammelt Black Dossier so divers beschaffene Druckerzeugnisse und lädt seine Leser_innen dazu ein, sich mit ihrer materiellen Gestalt auseinanderzusetzen bzw. diese überhaupt erst bewusst wahrzunehmen. In gewisser Weise könnte man die Postkartensammlung als weitere Mise en abyme innerhalb des Dossiers im Dossier verstehen, werden hier doch erneut heterogene Materialen in Minia- turform zusammengetragen.

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Abb. 5: Recto-Seite der Postkartensammlung in Black Dossier (Moore/O’Neill 2008, 111).

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Abb. 6: Verso-Seite der Postkartensammlung (Moore/O’Neill 2008, 112).

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Was ihren Inhalt betrifft, so stammen die Postkarten allesamt aus den Jahren 1899 bis 1913, also aus der Epoche, die allgemein als goldenes Zeitalter der Post- karte gilt. Die Karten sind chronologisch angeordnet; über diese Sequenzialisie- rung von Text-Bild-Kombinationen wird die Postkartensammlung, ähnlich wie im Falle der Illustrationen im Shakespearefolio, auf formaler Ebene in die Nähe des Comics gerückt. Es handelt sich dabei auch um eine Narrativisierung der Kar- ten, über die sich der Werdegang der Liga zwischen den Ereignissen des zweiten Bandes und jenen von Black Dossier (zumindest teilweise) nachvollziehen lässt. Mina Murray und Allan Quatermain verschicken ihre Karten von bekannten Schauplätzen der (populären) Literatur, so etwa aus H.P. Lovecrafts Arkham, Massachusetts, aus dem afrikanischen Land Fantippo, in dem Doctor Dolittle einst das Postwesen etablierte, aus Enid Blytons Toyland oder dem aus Gaston Lerouxs Le Fantôme de l’Opéra (1910) bekannten Palais Garnier. Das Crossover fiktionaler Welten wird also klar an ein Crossover von Materialitäten gekoppelt, auch wenn die Verknüpfungen in diesem Fall – im Gegensatz etwa zur Entleh- nung Prosperos aus einem Shakespearefolio – freilich der Fantasie Moore und O’Neills entspringen. Keine der von Black Dossier zitierten Orte oder Personen in der Postkartensammlung ist (meines Wissens nach) ursprünglich mit diesem Me- dium verknüpft. Allerdings war die Ansichtskarte ein überaus beliebtes Medium zu jener Zeit, in der die meisten Werke situiert sind, auf die angespielt wird. Um die Jahrhundertwende war die Ansichtskarte Teil einer populären Medien- und Reisekultur. Sie lädt zur imaginären Reise ein, und eine solche veranstalten letzt- lich auch Moore und O’Neill, wenn sie sich ausgehend von alten Heften und Bü- chern eine Welt ausdenken, die alle Fiktionen in sich vereint. Hier bietet sich auch eine Parallele zur Karte und dem U-Boot-Querschnitt an, die man auch im Anhang eines Fantasyromans oder Comichefts finden könnte, und die dort eben- falls zur Erschaffung fiktionaler Welten beitragen und zu Streifzügen durch die Fantasie aufrufen.

Schließung der Akte

Black Dossier erinnert durch sein Zusammentragen solcher materiellen Artefakte an ihre Bedeutung, zeigt, dass sie eben nicht bloße Anhänge, bloßes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil des Umgangs mit (pop)kulturellen Darstellungen und Fiktionen sind. Auf diese Weise wird der Comic zur Fundgrube, in der Le- ser_innen halb vergessene Formate und Medien wiederentdecken können. Wo die zeitgenössische Popkultur qua Convergence Culture den Fokus auf immer ex- pansivere Welten legt, für die Medien bloße Zulieferer sind, stellt Black Dossier

Der Comic als Archiv der Populärkultur 9 303 ein Archiv gegen das Vergessen der Materialität bereit, indem es (fingierte) Ob- jekte vergangener Zeiten versammelt und präsentiert. Moore und O’Neills fiktio- nale Welt mag in ihrem Versuch, alle vergangenen in sich hineinzuziehen und zu vermischen, noch expansiver und in gewisser Weise größenwahnsinniger er- scheinen als die Welt eines jedweden Transmedia-Storytelling-Unterfangens. Sie pocht aber mit umso größerer Vehemenz auf die kulturelle und geschichtliche Rolle physischer Datenträger. Indem Black Dossier andere Medien und Materiali- täten in sich aufnimmt bzw. die Illusion dieser mit seinen eigenen Mitteln her- stellt, stellt es die Leistungsfähigkeit des Comics für Archivarbeit auch fernab mehr oder minder preziöser Independent-Produktionen unter Beweis.

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Andreas Rauscher Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise und die Gemachtheit von Gotham City

Abstract: In seinem Standardwerk Understanding Comics definiert der Comic- theoretiker Scott McCloud die Cartoon-Ästhetik als „a form of amplification through simplification“ (1993, 30). Die bewusste Reduktion sorgt nicht nur für ein erhöhtes Identifikationspotenzial durch Abstraktion, sondern auch für eine Dy- namisierung des Geschehens. Im Film steht die mit selbstreflexiven Ansätzen konnotierte anarchische Cartoon-Form dem strengen Naturalismus fotorealisti- scher Perspektiven gegenüber. In Videospielen lässt sich hingegen häufig ein un- mittelbarer Bezug zwischen Cartoon-Elementen und Spielmechanik erkennen, von klassischen Jump’n’Run-Spielen bis hin zur konstruierten Welt der Lego- Spiele. Ausgehend von den ästhetischen Implikationen einer klassischen Car- toon-Ästhetik entwirft der Artikel eine erste Skizze zur transmedialen Analyse di- verser Cartoon-Modalitäten in Spielfilm, Animationsfilm, Comic und Videospiel.

Bomb(er)-Batman – Eine Standardsituation

Die Bedrohung durch eine tickende Bombe gehört zu den geläufigsten Standard- situationen der Filmgeschichte. Alfred Hitchcock erläuterte gegenüber François Truffaut am Beispiel einer unter dem Tisch befestigten Bombe, wie Spannungs- mechanismen im Sinne von Suspense im Unterschied zur einfachen Überra- schung funktionieren (vgl. Truffaut 1995, 64). Wenn die Zuschauer_innen durch eine Einstellung auf die Bombe, im Unterschied zu den noch ahnungslosen Pro- tagonist_innen, bereits darüber informiert sind, dass diese gleich zu explodieren droht, entsteht ein besonderer Spannungseffekt. Das Publikum sorgt sich um die Figuren und hofft, dass diese noch rechtzeitig die Gefahr entdecken. Wie sieht es jedoch mit der gleichen Situation in einem Animationsfilm in der Tradition der Warner Bros. und der LOONEY TUNES um Bugs Bunny und Daffy Duck

"" PD Dr. Andreas Rauscher, Universität Siegen, Medienwissenschaft – Medienästhetik, Herrengarten 3, 57072 Siegen, E-Mail: [email protected]

Open Access. © 2018 Andreas Rauscher, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-013

306 9 Andreas Rauscher aus? Wenn der ungeschickte Wile E. Coyote oder der verbissene Jäger Elmer Fudd eine Dynamitstange zu spät bemerken und damit der verfolgte Road Runner oder Bugs Bunny wieder einmal einen weiteren Punkt im endlosen Schlagabtausch mit ihren Feind_innen verbuchen können, bemerken wir ebenfalls die Explosi- onsgefahr vor dem Opfer. Die Reaktion fällt jedoch deutlich anders aus. Je nach Absurditätsgrad entlockt die Detonation, deren Konsequenzen in der nächsten Einstellung in den meisten Fällen schon wieder behoben sind, den Betrachter_in- nen ein dezentes bis befreiendes Lachen. Wenn ein Sprengsatz überdeutlich als solcher zeichenhaft ausgestellt wird, bekommt das Geschehen eine andere Qualität, die sich auf ästhetischer und dra- maturgischer Ebene bemerkbar macht. Eine Schlüsselfunktion kommt in diesem Kontext den Möglichkeiten des Cartoons zu, dessen Ästhetik im Folgenden als eine besondere Konfiguration mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Beschaf- fenheit der dargestellten Welt diskutiert wird. Um die Frage nach den ästheti- schen Ansätzen der Cartoon-Modalität in Abgrenzung zum Abbild einer realis- tisch gezeichneten Welt genauer zu erfassen, erweist sich ein Blick auf die Geschichte eines der dienstältesten Comichelden als besonders hilfreich.

Abb. 1: Bombenentschärfung als Cartoon – BATMAN (1966).

Im Film zur TV-Serie BATMAN (1966) von Leslie H. Martinson muss der von Adam West gespielte Held in einer Kaschemme am Hafen eine Bombe, die einer seiner Gegenspieler_innen zurückgelassen hat, entsorgen. In ihrer überzeichneten Form erinnert der mit einer abbrennenden Lunte versehene Sprengsatz an die

Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 307

Utensilien der Cartoon-Figuren um Bugs Bunny und Co. Sie ließe sich kaum un- auffällig unter einem Tisch im Sinne Hitchcocks platzieren. Die demonstrative Gleichgültigkeit einiger Gäste, die gemütlich ihr opulentes Mahl verspeisen, wäh- rend im Bildhintergrund Batman mit der kurz vor der Explosion stehenden Bombe umherirrt, erinnert an die Gestaltung eines ironisch gehaltenen Comic- Panels. Die Bombe mit beiden Händen hoch über den Kopf erhoben, begibt sich der maskierte Held an die Ufer-Promenade (siehe Abb. 1). Die Suche nach einem verlassenen Ort zur Detonation der Bombe erweist sich jedoch als hindernisreich. Aus einer Richtung kommt Batman eine Blaskapelle, die sich auch immer wieder auf der Tonspur bemerkbar macht, aus einer anderen Richtung eine Mutter mit Kinderwagen und schließlich eine ganze Gruppe Nonnen entgegen. Wie in einer einstudierten Choreographie kreisen sie den verzweifelten Retter von Gotham von verschiedenen Seiten ein. Selbst der Versuch die Bombe einfach ins Wasser zu werfen, scheitert an einem Liebespaar im Ruderboot und einer Entenfamilie. Die Kamera folgt den zunehmend skurrilen Bemühungen des Helden in einer pa- rallelen Fahrt. Nahe zur Durchbrechung der vierten Wand erklärt Batman mit knapp an der Kamera vorbei gerichteten Blick, dass man manchmal eine Bombe einfach nicht loswerden könne. Schließlich explodiert die Bombe im Off. Der be- sorgte Gefährte Robin eilt herbei und blickt entsetzt auf die Spuren der Explosion. Mit einem erleichterten „Holy heart failure!“ registriert er das überraschende Auf- tauchen seines Freundes hinter einem Stapel Stahlrohre. Mit der einprägsamen und belehrenden Stimme Adam Wests erklärt Batman, dass er sich rechtzeitig hinter den Rohren in Sicherheit bringen konnte. Auf Robins Einwand, dass er sein Leben für das üble Gesindel in der Hafenkneipe aufs Spiel gesetzt habe, ent- gegnet Batman, dass ein Held auch Kriminelle schützen müsse.

Abb. 2: Bombenentschärfung als Melodram – THE DARK KNIGHT RISES (2012).

308 9 Andreas Rauscher

Auch in Christopher Nolans THE DARK KNIGHT RISES (2012), dem Abschluss seiner von Publikum und Kritik begeistert aufgenommenen Batman-Trilogie, muss der Held erneut eine Bombe beseitigen. Entsprechend dem epischen Gestus des Films gestaltet sich der Einsatz etwas höher. Eine von seinen Gegenspieler_innen ent- sicherte Atombombe steht kurz vor der Explosion (siehe Abb. 2). Manchmal kann man eine Bombe einfach nicht loswerden. In einem selbstlosen Akt nimmt Bat- man (Christian Bale) die Bombe ins Schlepptau seines Batwings. Der Timer der Bombe wird in Großaufnahme gezeigt. Ein letzter Kuss seiner verhinderten Liebe Catwoman (Anne Hathaway), ein verklausulierter Hinweis auf seine wahre Iden- tität an den langjährigen Freund und Verbündeten Commissioner Gordon (Gary Oldman), danach fliegt Batman zu den feierlichen Klängen Hans Zimmers mit- samt Bombe und Batwing auf das Meer hinaus. Die Kamera bleibt auf Distanz in der Totalen, lediglich kurze Zwischenschnitte zeigen den entschlossenen Blick Batmans und den ablaufenden Countdown am Timer der Bombe in Großauf- nahme. Diese explodiert im Unterschied zum Film von 1966 nicht im Off, sondern als Fluchtpunkt einer Totalen auf die gerettete Stadt. Die Radarstation der Polizei von Gotham erklärt, dass niemand in der Stadt von der Explosion betroffen war. Der maskierte Held gilt als vermisst. Es handelt sich scheinbar um dieselbe Figur (Batman) am gleichen Schau- platz (Gotham City) in einer vergleichbaren Standardsituation (einer der Gegen- spieler_innen hat eine Bombe hinterlassen, die in der Öffentlichkeit zu detonie- ren droht), dennoch bestehen gravierende Unterschiede hinsichtlich des Stils. Das Geschehen läuft nicht nur nach unterschiedlichen dramaturgischen Regeln ab, sondern weist auch auf eine jeweils andere ästhetische Konfiguration des prä- sentierten Settings hin. Die für Cartoons typische Folgenlosigkeit physischer Ge- walt findet sich als die Diegese bestimmendes Element in dem 1966 entstandenen Batman-Film und der zugehörigen Serie, obwohl es sich um keinen Animations- film handelt. Wie die für Film und Serie charakteristischen onomatopoetischen, als gezeichnete Soundeffekte codierten Cartoon-Inserts (siehe Abb. 3) und der exaltierte Gestus der Figuren betonen, funktioniert das filmische Batman-Univer- sum der 1960er Jahre als lebendig gewordener Zeichentrick. Die Beseitigung der Bombe in Christopher Nolans THE DARK KNIGHT RISES- er folgt hingegen nicht nur nach den Gesetzen eines realistisch gehaltenen Thril- lers, sie zieht dramatische Konsequenzen nach sich, die im fortlaufenden Format der seriell publizierten Comichefte schwer vorstellbar wären. Der Showdown im- pliziert das selbstlose Opfer des Helden. Wie in den letzten Einstellungen des Films angedeutet wird, überlebte er zwar die Explosion, nutzt aber seinen ver- meintlichen Tod, um das Fledermaus-Cape an den Nagel zu hängen und sich un- erkannt in eine neue gewöhnliche Existenz zurückzuziehen.

Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 309

Abb. 3: Onomatopoetische Gefechte – Adam West als Batman in BATMAN (1966).

Der vorliegende Beitrag untersucht die Modalitäten des Batman-Universums im Verhältnis zu Formen des animierten Cartoons. In einer ersten Annäherung werden die Besonderheiten einer Cartoon-Ästhetik herausgearbeitet und im Spannungsverhältnis zwischen um Realismus bemühter Nachahmung (Mimesis) und animierter Abstraktion (vgl. Furniss 2008; Reinerth 2013) verortet. In einem zweiten Schritt erfolgt eine genauere Betrachtung der Cartoon-Modalitäten des Batman-Universums in den 1960er Jahren und ihrer Bezüge zum Camp-Begriff Susan Sontags. Abschließend wird in einem dritten Schritt der graduelle Einsatz der Cartoon-Modalität als eines von verschiedenen Stilmitteln in den Filmen von diskutiert, der auf eine weiterreichende konzeptionelle Funktion der Cartoon-Ästhetik zwischen Abstraktion und Illusion verweist.

Cartoon-Ästhetik zwischen Abstraktion und Modalität

Der Cartoon bildet das Grundgerüst des Comics. Vergleichbar den Wireframe-Mo- dellen in der digitalen Animation bestimmt er die rudimentären physischen Ei- genschaften der Figuren und die physikalische Beschaffenheit der gezeichneten Welt. Die Tendenz des Cartoons zur Abstraktion muss nicht zwangsläufig zur Ka- rikatur geraten, sie kann auch als Skizze dienen, die weiter ausgefüllt wird, ent-

310 9 Andreas Rauscher weder durch die weiteren beteiligten Zeichner_innen oder durch die Imagination der Leser_innen. Die Masken der Superheld_innen wie Batman oder Spider-Man ermöglichen auf Grund ihrer zur Verallgemeinerung tendierenden Abstraktion eine umfassendere Identifikation der Leser_innen mit den Protagonist_innen als eine fotorealistisch und somit sehr konkret gestaltete Figurenzeichnung. Der Cartoon-Stil erscheint gerade durch den Verzicht auf fotorealistische Details pointierter. Die knappe Form bestimmt sowohl den Aufbau der als Cartoon be- kannten Zeitungs-Strips, die sich auch nur auf ein einzelnes Panel beschränken können, als auch den Rhythmus der animierten Kurzfilme. Die Übernahme der Cartoon-Ästhetik in die Pop-Art der 1960er Jahre durch Andy Warhol und Roy Lichtenstein erklärt sich aus einem ikonischen Potenzial, das jedoch, wie nicht zuletzt die Pop-Art verdeutlicht, immer auch die kulturelle Kontextualisierung und die Beteiligung der Betrachter_innen erfordert.

Abb. 4: Cartoon-Abstraktion bei Scott McCloud (1993, 29).

Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 311

In seiner 1993 erschienenen, einflussreichen Einführung Understanding Comics schlägt Scott McCloud eine pointierte Definition des Cartoons vor (siehe Abb. 4). Er nähert sich ihm über die Form der reduzierten Darstellung und der mit dieser gekoppelten ästhetischen Wirkung an: „Defining the cartoon would take up as much space as defining comics, but for now, I’m going to examine cartooning as a form of amplification through simplification“ (McCloud 1993, 30). Einerseits können die Comickünstler_innen durch die Reduktion einzelne Aspekte der Fi- gurenzeichnung, der Handlung oder der Umgebung besonders betonen, „by stripping down an image to its essential ‚meaning‘, an artist can amplify that meaning in a way that realistic art can’t“ (McCloud 1993, 30). Andererseits kön- nen die Betrachter_innen auf Grund des schnell erfassbaren Zeichencharakters ihren Assoziationen freien Lauf lassen und durch persönliche Projektion eine in- tensivere Identifikation erzielen, als es bei einem fotorealistischen Abbild der Fall wäre: „Film critics will sometimes describe a live-action film as a ‚cartoon‘ to acknowledge the stripped-down intensity of a simple story or visual style. [...] Cartooning isn’t just a way of drawing, it’s a way of seeing“ (McCloud 1993, 30). Der Comicforscher Stephan Packard weist auf den verfremdenden Effekt der ästhetischen Konventionen in Cartoons hin: „Cartoons gehören zu den bildlichen ikonischen Darstellungen, die sich auf ihren Gegenstand durch visuelle Ähnlich- keit beziehen. Aber sie verformen ihr Objekt: Sie lassen eine große Anzahl von Details fort und übertreiben andere“ (Packard 2009, 30). Aus den skizzenhaften Andeutungen der Zeichnungen ergibt sich die ergänzende Ausgestaltung durch die Vorstellungskraft der Leser_innen, „als ein Wechselspiel zwischen einer äs- thetischen Indexikalität und einer dadurch modifizierten Imaginarität“ (Packard 2009, 33; Herv. im Original). Cartoon-Zeichnungen beschränken sich nach Pack- ard nicht auf einzelne ikonische Zeichen, im Fall von Donald Duck bei der Arbeit würden sich diese beispielsweise nur „auf die Klasse aller Enten in Matrosenzü- gen, die hinter einem Schreibtisch sitzen, Unterlagen studieren“ beziehen (2009, 37). Durch die Regelhaftigkeit des Codes erweitern die Leser_innen die Cartoon- Zeichnung. In Hinblick auf Donald Duck gestaltet sich der Bezug noch relativ überschaubar. Der sprechende Donald der Comics von Carl Barks, Don Rosa und deren Nachfolger_innen hebt sich deutlich vom aufgeregt quakenden Enterich der Disney-Cartoon-Filme der frühen Jahre ab. In den Comics entstand mit Enten- hausen ein ganzer Mikrokosmos, während auf der Leinwand Donald im situati- ven Kontext einzelner Slapstick-Situationen gefangen blieb. Der „Grad der Car- toonisierung“ (Packard 2009, 42) Donalds fällt in Filmen und Comics somit unterschiedlich aus und lässt sich in der Regel zwei Zeichensystemen, dem En- tenhausen der Comics und den Arrangements der frühen Disney-Trickfilme zu-

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ordnen, seine Nebenrolle in der Serie DUCKTALES (1987–1990, Reboot seit 2017) wäre vielleicht ein drittes Bezugssystem. Doch wie verhält es sich mit Batman und seinen Bomben? Die Rolle des Bom- benentschärfers im Fledermauskostüm könnte je nach Setting und Stimmung mit dem onkelhaften Pop-Art-Batman der 1960er Jahre, aber auch mit dem verbisse- nen dunklen Rächer aus Frank Millers The Dark Knight Returns von 1986 oder mit dem grüblerischen, sozial engagierten Mitternachtsdetektiv aus den Comics der 1970er Jahre von Dennis O’Neil und Neal Adams ausgefüllt werden. Der Pop-Art- Batman der 1960er Jahre hätte für die nächste Bombenentschärfung ein Anti- Bomben-Spray parat. Der dunkle Rächer Millers würde die Bombe in der Hafen- kneipe detonieren lassen und die Halunken seiner martialischen Weltsicht ent- sprechend sich selbst überlassen. O’Neils Batman würde zwar auch die Bombe entschärfen, aber dabei nicht so erfolgreich verfahren wie der Adam-West-Bat- man. Im Anschluss würde er über die Überforderung des Helden in der modernen Welt sinnieren, insbesondere nachdem sein Assistent Robin, seitdem er auf dem College ist, ihm nicht mehr zur Seite stehen kann. Auf sehr pointierte Weise veranschaulicht der Comic Planetary: Crossing Worlds von Warren Ellis und John Cassaday von 2004 die wechselhaften Launen des dunklen Ritters. Durch eine Kollision verschiedener Parallelwelten verwan- delt sich der den Protagonist_innen in der Crime Alley von Gotham auflauernde Batman von einer Seite zur nächsten in seine unterschiedlichen Inkarnationen, vom Rächer der 1940er Jahre über den paternalistischen Serien-Star bis hin zu den Varianten neueren Datums. Bis auf einige grundlegende Charakteristika der Figur (sein bürgerliches Alter Ego hört auf den Namen Bruce Wayne und gilt als sehr wohlhabend, er wohnt in Gotham City und musste als Kind die Ermordung seiner Eltern mit ansehen, woraus sein Kampf gegen das organisierte Verbrechen als Batman resultierte) lassen sich die verschiedenen Erscheinungsbilder nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Batman pendelt nicht nur zwi- schen parallelen Universen und comichistorischen Epochen, er navigiert auch zwischen konträren Modalitäten. Der Comicforscher Joseph Witek nennt in der Einführung Critical Approaches to Comics: Theories and Methods die Cartoon-Modalität als eine von zwei stilprä- genden Traditionen, die bis heute das Erscheinungsbild der Comics bestimmen:

Contemporary comics are rooted stylistically in the confluence of two distinct traditions of visual representation. The first grows out of caricature, with its basic principles of simplifi- cation and exaggeration, while the other derives from the recreation of physical appear- ances in realistic illustration. Each of these visual styles also has come to carry with it a characteristic set of narrative tendencies and an orientation toward its themes and subject matter that here will be called its ‚narrative ethos‘. Together the visual style and narrative ethos make up what I will call a comic’s ‚mode‘. Caricature, of course, is most closely asso-

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ciated with verbal humor and slapstick comedy in comic strips and in gag cartoons [...], while the illustrative style has long been the preferred approach for stories of adventure and domestic romance in comic books and in continuity strips. (Witek 2012, 28)

Im Unterschied zu den gewöhnlichen Batman-Comics lösen sich in Planetary: Crossing Worlds die Grenzen zwischen den Paralleluniversen auf und befördern die Indexikalität in einen karnevalesken Schleudergang. Vergleichbar mit den Spielregeln in einem Rollen- oder Videospiel, die automatisch zu einem Setting und einer Figurenkonstellation ergänzt werden, können die Leser_innen in der Regel unterscheiden, ob in Wayne Manor eine Tante Harriet auf den TV-Batman der 1960er Jahre wartet, ob sich der gealterte Rächer als Vigilante in die Future- Noir-inspirierten Seitenstraßen von Frank Millers The Dark Knight Returns begibt, ob Robin als Sidekick Batman unterstützt oder ob der ehemalige Boy Wonder be- reits auf dem College seine neue Identität als Nightwing angenommen hat. Pla- netary: Crossing Worlds verweigert sich, ähnlich wie in einer abgeschwächten Weise auch THE LEGO BATMAN MOVIE (2017), in dem ein bedrohter Pilot den Joker mit dessen gescheiterten Coups in den Filmen von Tim Burton und Christopher Nolan aufzieht, der Logik einer illusionistisch in sich geschlossenen Welt. In dieser Verzerrung und Verfremdung, die sich dennoch nicht in der reinen Komik einer Parodie erschöpft, liegt ein besonderes Potenzial des Cartoons, der eine Welt entwirft, die aber nicht nach den gewohnten physikalischen Regeln funktionieren muss. Der Comichistoriker Douglas Wolk betrachtet neben der von McCloud thematisierten Abstraktion die Transformation als ein weiteres wesent- liches Merkmal des Cartooning als Zeichenstil:

Drawing in the conventional sense is usually supposed to represent real-world beings and objects; it’s concerned with their mass and interaction with light much more than outlines, and its result almost always suggests a relatively static moment [...] Cartooning is a whole different game. Its chief tools are distortion and symbolic abstraction. (Wolk 2007, 120)

Das Cartooning im Sinne Wolks ruft die Gemachtheit des Szenarios in Erinne- rung. Die Sichtbarmachung des Konstruktionsprozesses des In-Bewegung-Set- zens der Imagination der Leser_innen und Zuschauer_innen charakterisiert das Cartooning als gestalterische Technik. Ein mit realen Schauspieler_innen aufge- nommener Film wie die Batman-TV-Serie und der zugehörige Kinofilm aus den 1960er Jahren kann die ursprünglich mit Comics und dem Animationsfilm asso- ziierte Zeichenhaftigkeit als stilistische Form adaptieren. Auf dieser Grundlage lässt sich die Cartoon-Ästhetik nicht nur als Eigenschaft von kurzen humoristi- schen Comic-Strips oder als Genre animierter Kurzfilme im Samstagmorgen-TV- Programm begreifen. Vielmehr markiert sie einen gestalterischen Modus, der zur erzählerischen Modalität erweitert werden kann.

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Die Cartoonisierung kann einzelne Figuren kennzeichnen. Diese finden sich beispielsweise in Mischformen aus Spiel- und Animationsfilm wie WHO FRAMED ROGER RABBIT (1988) und LOONEY TUNES: BACK IN ACTION (2003), in denen der Trick- filmhase Roger mit dem Detektiv Eddie Valiant (Bob Hoskins) interagiert oder Daffy Duck und Bugs Bunny in einer Jean-Luc Godards BANDE À PART (1964) über- bietenden Verfolgungsjagd durch den realen Louvre per Trickeffekt in die Ge- mälde eintauchen (vgl. Rauscher 2017). Die Trickfiguren verfügen auf Grund ihrer Beschaffenheit als Cartoons über besondere Fähigkeiten, die sie von den Men- schen, mit denen sie interagieren, unterscheiden. Die Cartoonisierung kann als Modus aber auch einzelne Situationen betreffen, wenn etwa in der A-NIGHTMARE- ON-ELM-STREET-Reihe im fünften Teil THE DREAM CHILD (1989) ein Opfer des Traum- dämons Freddy Krueger (Robert Englund) von diesem, seiner Vorliebe für grafi- sche Literatur folgend, in einem zweidimensional anmutenden Schwarz-Weiß- Comic in eine tödliche Falle gelockt wird. Als Modalität kann die Cartoon-Ästhetik jedoch auch die Diegese eines ge- samten Films bestimmen oder eine spezielle Konfiguration einer transmedialen Welt vornehmen, so geschehen in den Lego-Filmen und -Videospielen. Im ersten THE LEGO MOVIE (2014) trat Batman noch analog zu einer Figur in einem Themen- Park wie der Warner Bros. Movie World in einem Cameo auf. In THE LEGO BATMAN MOVIE wird schließlich das gesamte Setting an das Universum der Comicreihe an- gepasst. Die Gemachtheit von Gotham zeigt sich daran, dass es entsprechend der Logik der Lego-Baukästen lediglich auf lose zusammengehaltenen Platten erbaut ist. Für Joseph Witek gehört die Dehnbarkeit der physikalischen Gegebenheiten zu den wesentlichen Merkmalen der Cartoon-Modalität:

[S]tories in the cartoon mode often assume a fundamentally unstable and infinitely mutable physical reality, where characters and even objects can move and be transformed according to an associative or emotive logic rather than the laws of physics. (Witek 2012, 30)

Das Reibungsverhältnis zwischen Cartoon-Abstraktion und mimetischem Noir- Realismus im Batman-Universum kreiert eine stilistisch vielseitigere und ästhe- tisch ambitioniertere künstlerische Perspektive als die Beschränkung auf ledig- lich einen der beiden Pole. Die Animationsfilm-Adaptionen zu den stilprägenden Graphic Novels The Dark Knight Returns (Miller 1986) und Batman: Year One (Mil- ler 2017) erscheinen gerade auf Grund ihrer allzu starken Orientierung an der ge- zeichneten Vorlage uninspiriert. Sie versäumen es den selbstreflexiven interme- dialen Diskurs der Comics adäquat filmisch zu animieren und zu adaptieren. Die 1992 gestartete Serie BATMAN: THE ANIMATED SERIES orientiert sich hingegen stilis- tisch an den Realfilmen von Tim Burton, die wiederum Cartoon-Elemente zur Kennzeichnung der Figuren und ihrer psychologischen Traumata verwenden.

Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 315

Die Batman-Skala

Neuere Ansätze der Animationsfilmforschung versuchen nicht mehr die Gattun- gen Spiel- und Animationsfilm strikt voneinander zu trennen, sondern arbeiten mit einer graduellen Skala. Die amerikanische Animationsfilmforscherin Maureen Furniss verortet Filme auf einer Skala zwischen Abstraktion und Mime- sis: „The term ‚mimesis‘ represents the desire to reproduce natural reality (more like live-action work) while the term ‚abstraction‘ describes the use of pure form – a suggestion of a concept rather than an attempt to explicate it in real life“ (Fur- niss 2008, 5). Die Filmwissenschaftlerin Maike Sarah Reinerth erweitert in ihrer Abhandlung über die Genrediskurse um den Animationsfilm diese Differenzie- rung noch um die Komponente des Tricks: „Die Beziehung zum Trick erweitert, präzisiert und historisiert den theoretischen wie analytischen Blick auf die ani- mierte Form und führt hier in der verwendeten Weise zu einem inklusiven Ver- ständnis dessen, was Animation ist oder sein kann“ (Reinerth 2013, 333). Gerade die vertiefende Diskussion von Familienähnlichkeiten und strukturellen Paralle- len, beispielsweise zwischen dem animierten Cartoon und den gedruckten Car- toon-Strips in Gegenüberstellung zum filmischen Realismus und den Darstel- lungskonventionen in einer Graphic Novel, erscheinen ausbaufähig, die Kompo- nenten des technischen Tricks oder visuellen Effekts auch in Bezug auf Synergien zwischen beiden Medien im Bereich der digitalen Bearbeitung aufschlussreich. Der Medienwissenschaftler Erwin Feyersinger merkt zur Skala kritisch an, dass diese auf Grund der begrifflichen Unschärfe bezüglich der Abstraktion und des Realismus nicht als exaktes, objektives Messinstrument geeignet wäre und zur Verallgemeinerung tendiere (vgl. Feyersinger 2013, 43). Feyersinger weist treffend darauf hin, dass die von Furniss angedeutete Unschärfe bei empirischen Studien problematisch wird,

wenn die Wirkung vermeintlich eindeutig realistischer Darstellungen (also zum Beispiel Fotografien oder Realfilme) mit der Wirkung vermeintlich eindeutig abstrahierter Darstel- lungen (also zum Beispiel schematische Zeichnungen oder Animationen) verglichen wird. (Feyersinger 2013, 37)

Bezüglich der Abstraktion schlägt er die weitere Differenzierung in stilisierte, nicht-gegenständliche und gedankliche Abstraktion vor (vgl. Feyersinger 2013, 42). Die von Furniss erstellte Skala würde sich lediglich auf stilisierte Abstraktion beziehen. Genau diese Eigenschaft macht die Skala aber ausgesprochen nützlich für die Diskussion von stilhistorischen Modalitäten. In deren Diskussion geht es nicht um exakte quantitative Zahlen wie sie etwa die Messung der Schweißperlen eines allzu orthodoxen Fans des dunklen Ritters während der Sichtung von

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BATMAN AND ROBIN (1997) ergeben würde, sondern für eine qualitative Schärfung des Blicks auf die Ästhetik der Artefakte, die wiederum, beispielsweise in der Stil- und Genrediskussion, mit kommunikativen Prozessen gekoppelt ist. Der Abstrak- tionsgrad ergibt sich aus dem pophistorischen Vergleich und im systematischen Verhältnis zu konkurrierenden und kontemporären Comicheld_innen sowie in stilhistorischer Abgrenzung zu anderen Spielarten des eigenen diegetischen Uni- versums. Der Grad der Mimesis bezieht sich nicht zwangsläufig auf die Gesetzlichkei- ten unserer Wirklichkeit, sondern kann auch auf den stilisierten Realismus un- terschiedlicher transmedialer Genreformen referieren. Christopher Nolan bezieht sich in seinen DARK-KNIGHT-Filmen auf Konventionen, die in Thrillern wie Mi- chael Manns HEAT (1995) als realistisch im Sinne von glaubwürdig gelten. Wenn bei Nolan eine Bombe tickt, erfahren sogar die Suspense-Mechanismen nach Hitchcock eine neue Aktualität. In THE DARK KNIGHT (2008) entfaltet die Montage ein raffiniertes, von einer Sequenz aus Jonathan Demmes THE SILENCE OF THE LAMBS (1991) inspiriertes Verwirrspiel um eine Last-Second-Rescue, die zu einem anderen Ergebnis führt, als durch den Schnitt suggeriert wurde. Tim Burton stellt hingegen seine Filme in die Tradition des expressionistischen Stummfilms. Aus diesen Referenzen ergeben sich Koordinatensysteme, die eine Verortung in Rich- tung stilisierter Mimesis und animierter Abstraktion ermöglichen.

Holy Cartoon Modality! – Das Anti-Hai-Spray und die TV-Serie

Die Cartoon-Modalität kann durch die von McCloud thematisierte Abstraktion und Reduktion ein eigenes reflexives Potenzial entwickeln. Komplexe ästheti- sche Austauschverhältnisse und mediale Rahmungen lassen sich zu Symbolen verdichten, die demonstrativ ausgestellt werden. Je nach Partizipation des Pub- likums können sie entweder um den anspielungsreichen Referenzrahmen er- gänzt oder auf einer unmittelbaren Ebene als amüsante Pointe genossen werden. Ein besonders erhellendes Beispiel findet sich bei den SIMPSONS , das das kul- turelle Erbe der Batman-TV-Serie in der Folge „Radioactive Man“ 1995 prägnant zusammenfasst. In einer Planungskonferenz besprechen ein an Joel Schumacher (BATMAN FOREVER, 1995; BATMAN AND ROBIN , 1997) erinnernder Regisseur und das Produktionsteam die nächste Folge des Superhelden-Spektakels „Radioactive Man“. Einer der Mitarbeiter_innen schlägt vor, man könne sich doch an der alten TV-Serie orientieren. An diese will sich erst einmal keiner erinnern, obwohl die

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Produzent_innen bereits ein Bild vor Augen haben. Radioactive Man und sein Ge- hilfe Fallout Boy kämpfen gegen eine Gruppe korrupter Pfadfinder und beginnen nach der Prügelei entspannt mit ihren Gegenspielern und einer Gruppe Tänzerin- nen einen eigenwilligen Twist zu tanzen (siehe Abb. 5). Die episodische medien- historische Cartoon-Einlage, die vergleichbar mit einer Mad-Magazine-Filmparo- die in wenigen Szenen die der Batman-TV-Serie sehr genau kommentiert, endet mit einer Überblendung auf den Regisseur des geplanten „Radioactive-Man“- Films, der entsetzt den Kopf schüttelt und erklärt, dass man sich besser nicht an der alten Serie orientieren werde (siehe Abb. 6).

Abb. 5: Rückblick auf „Radioactive Man“ 1 – THE SIMPSONS, „Radioactive Man“ (1995, S7E2).

Abb. 6: Rückblick auf „Radioactive Man“ 2 – THE SIMPSONS, „Radioactive Man“ (1995, S7E2).

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Die Hommage der SIMPSONS, deren Produzent Mike Reiss die Batman-Serie selbst als eine wichtige Inspiration betrachtet, verdeutlicht einige Merkmale, die die Cartoon-Modalität der von 1966 bis 1968 von William Dozier produzierten Serie ausmacht. Ihre ausgestellte Zeichenhaftigkeit, die zugleich immer ins Absurde kippt, bezieht sich sehr deutlich auf die Semantik von Cartoon-Animationsfilmen in der Tradition der Warner Bros. Bugs Bunny, Daffy Duck und ihre Kolleg_innen greifen auf einen unerschöpflichen Fundus technischer Gadgets aus dem Hause ACME zurück. Die bizarre Ausrüstung ermöglicht das schnelle Aufstellen von Fal- len, das Aufkleben von mobilen Löchern und anderen Konfigurationen des Set- tings, die in einer realistisch gezeichneten Welt nicht denkbar wären. Adam Wests Batman scheint die Ausrüstung seines Bat-Gürtels beim glei- chen Versand wie Bugs und Daffy zu beziehen. Die 2018 veröffentlichte Comic- Reihe DC Meets Looney Tunes impliziert, dass Batman und Bugs zeitweise die gleiche Diegese beziehen können. Zu den einprägsamsten Utensilien zählt das Bat-Anti-Hai-Spray aus dem Kinofilm zur TV-Serie. Praktischerweise trägt Bat- man eines bei sich, als er an einer Leiter des Bat-Helikopters hängt und sich beim Flug über die Bucht von Gotham ein Hai an seinem Bein festbeißt (siehe Abb. 7 und 8). Der betont künstliche Hai verfügt bereits über einen für Cartoons signifi- kanten Zeichencharakter. Durch eine Steigerungslogik, die nicht zwangsläufig als emotionale, sondern auch als von McCloud lediglich gestreifte, absurde Amp- lifikation ausgelegt werden kann, reagiert Batman auf den skurrilen Hai-Angriff mit einem noch abstruseren Gegenstand, dem Bat-Anti-Hai-Spray. Offensichtlich lässt sich Batman auf Grund seines immensen Vermögens, über das er als Millio- när Bruce Wayne verfügt, nicht nur dieses sehr spezielle Spray anfertigen. Er de- poniert es auch immer griffbereit im Helikopter, wenn ein Hai in der Nähe sein könnte. Der Versuch dieses Utensil in eine vernünftige Logik der diegetischen Welt einzupassen, gerät schnell ähnlich bizarr, wie die von Packard kommen- tierte ikonische Qualität einer im Matrosenanzug am Schreibtisch sitzenden Ente, die aller Wahrscheinlichkeit nach keine eigene Klasse ikonischer Zeichen bildet, sondern einfach auf den Namen Donald hört. Aussagekräftiger erscheint viel- mehr die spielerische Qualität, die die Cartoon-Modalität dem Setting entlockt. Wie in einem Schere-Stein-Papier-Spiel oder eben wie die Gefechte der Figuren mit ACME-Utensilien in den Warner-Cartoons um Bugs Bunny und Co. wird der im Vergleich zu Steven Spielbergs JAWS (1976) als harmlos zu klassifizierende Hai mit einem höher einzustufenden, da noch absurderen Zeichen, dem Bat-Anti- Hai-Spray besiegt.

Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 319

Abb. 7: Schere – Stein – Papier bzw. Batman – Haifisch – Spray 1 (BATMAN, 1966).

Abb. 8: Schere – Stein – Papier bzw. Batman – Haifisch – Spray 2 (BATMAN, 1966).

Das Anti-Hai-Spray kann schon fast als Kennzeichen der Batman-Cartoon-Moda- lität begriffen werden. Als Anspielung taucht es erneut 2017 in THE LEGO BATMAN MOVIE auf. Nachdem selbst in der offensichtlich aus Legosteinen konstruierten Welt der Sinn des in Batmans Höhle herumliegenden Sprays angezweifelt wurde, erfolgt kurz darauf tatsächlich ein Hai-Angriff, für den es sich als nützlich er-

320 9 Andreas Rauscher weist. Dass aber einer der Haie zugleich ein U-Boot steuern kann, verdeutlicht, dass wir uns gerade nicht im um erzählerische Logik bemühten Kosmos der No- lan-Filme befinden (obwohl es ausgesprochen reizvoll wäre, nach physikalisch sorgfältigsten Erläuterungen des Batmobils und des Batman-Capes auch die che- mische Zusammensetzung des Bat-Anti-Hai-Sprays von Morgan Freeman als Bat- mans technischem Assistenten Lucius erklärt zu bekommen). Die ludische Qualität der Cartoon-Modalität zeigt sich auch an der reduzier- ten Narration. Während die Thriller-Mimesis der neueren Batman-Filme nach er- zählerischen Erklärungen verlangt, wäre es in der Batman-TV-Serie nahezu ver- geblich nach der genauen Herstellung der Gadgets zu fragen. Die Dramaturgie konzentriert sich wie in den späteren LEGO-BATMAN-Videospielen ganz auf ein- zelne situative Set Pieces, Sketche und Aufgaben, die eine episodische Revue er- geben. Noch weiter geht ein Zusatz-Level für das Spiel BATMAN: ARKHAM KNIGHT. Im optionalen Renn-Parcours durch die Bat-Höhle aus der TV-Serie der 1960er Jahre wird diese der Cartoon-Modalität entsprechend als Kulissenstadt präsen- tiert und realisiert darin den direkten Gegenansatz zur naturalistischen Comic- Ästhetik des Hauptspiels. Die ebenfalls erhältlichen Rennstrecken zu den Filmen Tim Burtons versuchen hingegen einen diegetisch in sich geschlossenen Par- cours, inklusive aller expressionistischen Verzierungen, zu realisieren. Dass Batman trotz seiner kombinatorischen Brillanz als Detektiv daran schei- tert, die mäßig als russische Korrespondentin verkleidete Catwoman zu erken- nen, ruft die Spielregeln des Serien-Universums in Erinnerung. In Tim Burtons BATMAN RETURNS (1992) markiert der Augenblick des gegenseitigen Erkennens zwischen Batman und Catwoman in zivil als Bruce Wayne und Selina Kyle na- hezu im aristotelischen Sinne einen der intensivsten Momente im gesamten Film. In der Szene kommt eine umfassende Müdigkeit der Masken und der mit ihnen verbundenen Held_innenrollen zum Ausdruck. Für Batman, Robin und ihre Ge- genspieler_innen herrscht in der TV-Serie hingegen ständiger Karneval in Go- tham. Der Verzicht auf elaborierte narrative Strukturen in der TV-Serie korrespon- diert nicht nur mit der spielerischen Cartoon-Modalität, sondern auch mit einer Entpsychologisierung der Figuren. Die tragische Origin Story von Bruce Wayne, die den Verlust seiner Eltern in den meisten Verfilmungen in einer Rückblende als stilisiertes Trauma wiederkehren lässt, tritt in der Batman-TV-Serie nahezu vollständig in den Hintergrund. Bezeichnenderweise taucht Batmans definie- rende Backstory Wound auch in den indirekten Nachfolgern der Serie, dem LEGO BATMAN-Film und Schumachers unterschätztem BATMAN AND ROBIN (1997), nur als kurze Anspielung auf.

Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 321

Stattdessen zelebriert die Cartoon-Modalität dieser drei Batman-Inkarnatio- nen eine grellbunte ständige Gegenwart im Look der Sixties. Der Medienwissen- schaftler Matt Yockey schreibt in seiner 2014 in der Reihe TV Milestones erschie- nen Studie über die Batman-TV-Serie: „Forever rooted in the mid-1960s, the show’s essential spirit is always forward-looking, perpetually authorizing rein- vention and play for its fans“ (Yockey 2014, 127). Die Finesse der TV-Serie und ihrer Epigonen ergibt sich wie bei den SIMPSONS aus ihrer Doppelcodierung, allerdings weniger hinsichtlich der anspielungsrei- chen filmhistorischen und politischen Subtexte, sondern aus dem Camp-Appeal der Inszenierung. In ihren „Notes on Camp“ von 1964 bestimmte die Kulturkriti- kerin Susan Sontag (2013) die wesentlichen Grundlagen dieser Rezeptionshal- tung, die das ästhetische Erlebnis als performative Haltung gegenüber den Inten- tionen der Autor_innen aufwertet: „The essence of camp is its love of the unnatural: of artifice and exaggeration“ (Sontag 2013, 275). Einige Merkmale wie der Hang zur stilisierten Übertreibung ergänzen sich unmittelbar mit der Car- toon-Modalität: „Camp is a vision of the world in terms of style – but a particular kind of style. It is the love of the exaggerated“ (Sontag 2013, 278). Auch die be- tonte Hinwendung zu Einrichtung, Kleidung und visuellen Accessoires und der gesuchte Zitatgestus – „Camp sees everything in quotation marks [...] To perceive camp in objects and persons is to understand Being-as-Playing-a-Role“ (Sontag 2013, 279) – korrespondieren mit der Zeichenhaftigkeit der Cartoon-Ästhetik. Die Vorliebe des Camp für altmodische Objekte findet sich in den Rückbezü- gen der Batman-TV-Serie auf den pathosgeladenen, ursprünglich ernst gemein- ten Gestus des ersten Batman-Serials aus den frühen 1940er Jahren. Sontag be- merkt zudem zur schwindenden moralischen Relevanz älterer Kunstobjekte, die den Camp fasziniert: „Time liberates the work of art from moral relevance, deliv- ering it over to the Camp sensibility“ (Sontag 2013, 285). Entsprechend lässt sich der übertrieben moralische Gestus Batmans, der in den gestelzten Belehrungen durch Adam West Ausdruck findet, als Anspielung auf die ungebrochene, in den 1960er Jahren anachronistische Moral der Held_innen des Golden Age deuten. Im Unterschied zu Frank Miller will die Batman-TV-Serie aber gar nicht zurück zur Eindeutigkeit der Anfänge. Camp unterscheidet sich durch seine beabsichtigte Exaltiertheit ebenso wie der Cartoon vom gescheiterten Mittelmaß:

When something is bad (rather than Camp), it’s often because it’s too mediocre in its ambi- tion. The artist hasn’t attempted to do anything really outlandish [...] The reason a movie like ON THE BEACH, books like Winesburg, Ohio and For Whom the Bell Tolls are bad to the point of being laughable, but not bad to the point of being enjoyable, is that they are too dogged and pretentious. They lack fantasy. (Sontag 2013, 283–284)

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Die Kunst, eine Bombe angesichts von Nonnen, rudernden Liebespaaren und ei- ner Marching Band loszuwerden, bewirkt eine andere Art von Komik als eine ver- krampfte Routine, die nicht einmal unfreiwillig komisch wirkt, sondern nur Gleichgültigkeit hervorruft. In dieser Hinsicht verfügen die Batman-TV-Serie oder der in seinem Bemühen um einen Kassenerfolg fulminant gescheiterte BATMAN AND ROBIN über ein klassisches Camp-Potenzial, im Unterschied zum forcierten BATMAN VS. SUPERMAN: DAWN OF JUSTICE (2016), der allzu deutlich auf die Etablie- rung eines neuen Franchise schielt und sich über die Analogie zwischen Super- held_innen und Göttern so sehr in Tabernakel-Kitsch-Tableaus verliert, dass da- rin selbst die in ihrer verfehlten Ernsthaftigkeit Camp-taugliche Pointe, dass Superman und Batman ihren Zweikampf abbrechen, nachdem sie feststellen, dass ihre Mütter Martha heißen, verloren geht. Matt Yockey stellt treffend fest, dass die Batman-Serie zur Partizipation des Publikums aufruft: „BATMAN worked not because its audience was slyly duped by Hollywood tastemakers but because viewers were encouraged to be engaged par- ticipants in the show’s skillful deconstruction of the tropes of television, the su- perhero genre, and America itself“ (Yockey 2014, 1–2). Darin lassen sich Paralle- len zu den Midnight Movies und Kultfilmen der 1970er und 1980er Jahre erkennen, die in Spätvorstellungen wie THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW (1975) und THE BLUES BROTHERS (1980) eigene Rituale hervorbrachten, die sich heute in der SHARKNADO-Reihe und den Aufführungen des ursprünglich als Melodram ge- dachten Dramas THE ROOM (2003) fortsetzen. Allerdings setzt diese Rezeptionshaltung voraus, dass die Zuschauer_innen bereit sind, sich auf das Spiel einzulassen. Wie Yockey erläutert, dient die Camp- Haltung und die mit dieser assoziierte Cartoon-Modalität häufig als Negativ-Bei- spiel, um davon den vermeintlich wahren Batman der frühen Comics und der neueren Graphic Novels abzugrenzen:

BATMAN used the subversive parody of camp to authorize consumer agency and textual flu- idity. Yet, for many fans unwilling or unable to recognize the potential this strategy had for authorizing textual play of any variety, most have hearkened to a nostalgic and heavily ro- manticized vision of the character in his first year, before the introduction of Robin and the subsequent years of bat-absurdities that, for these fans, reached its nadir with the series. (Yockey 2014, 124)

Aus diesem Abgrenzungsbedürfnis entsteht eine dialektische Konstellation, die nicht einfach eine historische Entwicklung von den farbenfrohen 1960er zu den düsteren 1980er Jahren bezeichnet. Vielmehr bedingen sich die cartoonifizierte und die naturalisierte Modalität der Batman-Skala gegenseitig, nachdem selbst die am stärksten nach einem der beiden Pole ausgerichteten Varianten von den Erinnerungen an ihr Gegenkonzept heimgesucht werden. Der Camp-Effekt der

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TV-Serie basiert zu einem gewissen Anteil darauf, dass der ursprüngliche Pathos des Golden Age der 1940er Jahre persifliert wird und dadurch als Erinnerung und Spur präsent bleibt. Das Manifest des gritty-and-grumpy Batman (siehe Abb. 9), Frank Millers Graphic Novel The Dark Knight Returns, auf die sich sowohl Nolan, als auch Snyder beziehen, kommt hingegen nicht umhin, die Vergangenheit Bat- mans als Kollege und Mitglied der Justice League sowie die Zusam- menarbeit mit Robin als Background Story zum an Endzeit-Szenarien und urba- nen Western orientierten Setting vorauszusetzen. Der schon fast pedantische Eifer in Nolans DARK-KNIGHT-Trilogie, jedes Detail der Ausrüstung rational zu er- klären, wäre ohne das cartoonhafte Bat-Anti-Hai-Spray vergangener Batman-Va- riationen schwer nachzuvollziehen und ein Großteil der Gags in THE LEGO BATMAN MOVIE basiert auf den interdiegetischen Verweisen auf die im Prinzip vollkom- men konträren Gotham-Varianten aus den anderen Filmen. Noch schwer trauma- tisiert von den Ereignissen in BATMAN VS. SUPERMAN: DAWN OF JUSTICE muss der Jo- ker immer wieder dem dunklen Ritter in Erinnerung rufen, dass er und nicht Superman sein liebster Erzfeind sei. In seiner 2012 veröffentlichten Studie Hunting the Dark Knight kontrastiert der britische Comicforscher Will Brooker zwei über die Jahrzehnte hinweg konkurrie- rende Figurationen Batmans:

In the dark corner is the ‚realistic‘ Batman, represented by Frank Miller and Christopher Nolan: a world of authentic tanks, brutish gangsters, snapping bone, psychological torment and regular guys. It’s a simple world, but – oh boy – it makes for great drama. In the rainbow corner is the Batman of Adam West and Joel Schumacher, trailing a world of fanciful bright colors, sci-fi hokum, circus stunts, illogical plots and supernatural crap. (Brooker 2012, 130)

Einige Batman-Varianten suchen auch bewusst einen Balanceakt zwischen der Abstraktion der Cartoon-Modalität und der mimetischen Haltung der naturalisti- schen Modalität. Die Arbeiten von Grant Morrison integrierten die Abenteuer und Devotionalien des Camp-Batman als verdrängtes, in einem geheimen Dossier do- kumentiertes Wissen in die Comics der 2000er Jahre. Abschließend soll ein Bei- spiel betrachtet werden, in dem die Modalitäten bewusst in einem produktiven Spannungsverhältnis stehen. Tim Burton bekam für seine beiden 1989 und 1992 entstandenen Batman-Filme zwar ebenfalls die Graphic Novels nahegelegt. An- stelle der brachialen Noir-Naturalisierungen Frank Millers gab er jedoch den für sein Œuvre prägenden neo-expressionistischen Ansätzen den Vorzug und brachte Elemente einer Cartoon-Semantik zum Einsatz, die die starren Regeln ei- nes Hollywood-Blockbusters unterwanderten und in einen schauerromantischen Karneval verwandelten.

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Abb. 9: Batman rides again – The Dark Knight Returns (Miller 1986, 182).

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Gemischte Modalitäten – Der dunkle Ritter von morgens bis mitternachts

Abb. 10: Die Bombe in der Telefonzelle – Neal Adams’ Batman-Variante (Batman Vol. 1 #220, 1970, Cover).

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In den 1970er Jahren kehrten die Batman-Comics unter der Federführung des Zeichners Neal Adams und des Autoren Dennis O’Neil zu einem realistischeren Stil zurück, der sich bewusst von der Camp-Ästhetik der TV-Serie abgrenzte und später zu einer wesentlichen Inspiration für die Filme von Christopher Nolan wurde (siehe Abb. 10). Die 1980er Jahre verstärkten durch den Erfolg der Graphic Novels zusätzlich den düsteren und urbanen Look, der sich häufig bei Motiven und Mustern des Noir bediente. Die 1989 erschienene Verfilmung durch Tim Bur- ton bezog sich bewusst auf die ästhetischen Umbrüche in den Comics und den- noch fand sich darin bereits die subversive Haltung des angehenden Auteurs, der in den von ihm konzipierten Animationsfilmen wie THE NIGHTMARE BEFORE CHRIST- MAS (1993, zusammen mit Henry Selick), THE CORPSE BRIDE (2005, zusammen mit Mike Johnson) und FRANKENWEENIE (2012) auf subversive Cartoon-Anarchie als Ge- gengift zum idealisierten Hyperrealismus konservativerer Disney-Filme setzt. Im ersten Film von 1989 bilden die Aktionen und Outfits des Jokers (Jack Nicholson) das karnevaleske Gegengewicht zur grüblerischen Besessenheit Bat- mans. Sowohl die im tristen Grau von Gotham hervorstechende Farbpalette, die überwiegend auf Lila und helles Blau zurückgreift, als auch die Utensilien des Jokers (wie ein tödlicher Handflächenvibrator, ein klapperndes künstliches Ge- biss oder eine Säure verspritzende Blume am Jackett) greifen auf Insignien des Cartoons zurück. Ihre Anwendung erfolgt ebenfalls nach den Mechanismen eines Cartoons. Im Museum von Gotham übermalt er in einem Akt von Aktionskunst die Gemälde, eine Kerze entzündet er mit einem Flammenwerfer und im Kampf gegen Batmans gepanzerten Batwing zieht er eine überdimensionale Pistole (siehe Abb. 11).

Abb. 11: Aufforderung zum Batdance – Cartoon-Pistole des Jokers in BATMAN (1989).

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Während sich Batmans Ausrüstung bei aller Stilisierung auf ihre Funktionalität beschränkt, erscheinen die Gimmicks des Jokers als ästhetische Grenzüberschrei- tung. Sie dehnen und strapazieren die Grenzen des am Gangsterfilm der 1930er und 1940er Jahre orientierten Genre-Settings in Richtung Cartoon-Modalität. Bat- man muss mit den entsprechenden Spielzügen reagieren, damit das Geschehen nicht zur Travestie wird. Dieser produktive Widerstreit, der Burtons Batman-Va- riationen bis heute von anderen Blockbustern unterscheidet, setzt sich im Sound- track fort. Während Batmans Handlungen von den symphonischen Kompositio- nen Danny Elfmans begleitet werden, sind die Aktionen des Jokers mit Songs aus dem Comic-Konzept-Album zum Film, das der Ausnahmemusiker Prince auf- nahm, unterlegt. Elfmans orchestrale Musik zielt auf die Geschlossenheit der Il- lusion ab, der zweite Soundtrack von Prince arbeitet hingegen mit ausgestellten akustischen Zeichen, die sich ideal mit der Cartoon-Ästhetik ergänzen. Die Songs sind meistens als Teil der Diegese situiert und kommentieren dennoch kontinu- ierlich das Verhalten des Jokers, als hätte dieser sie bei Prince als Soundtrack für eine Performance in Auftrag gegeben. Am deutlichsten wird das künstlerische Prinzip des akustischen Cartooning in dem nicht im Film verwendeten und den- noch äußerst erfolgreich als begleitende Single lancierten Song Batdance, der überwiegend aus Samples der Charaktere und ihrer Dialoge besteht und sich mit einem minimalistisch eingängig groovenden Hook nicht allzu weit von der Titel- melodie der TV-Serie entfernt. Burton verteilt die eruptiv über den Blockbuster hereinbrechenden Zeichen der Cartoon-Modalität wie der Joker die bunten Farb- kleckse im städtischen Museum. Auf einer abstrakteren Ebene befördert die Car- toon-Modalität in BATMAN auch jene Transformationen, die Douglas Wolk in Be- zug auf die ausgestellte Gemachtheit der gezeichneten Cartoons attestiert. Das Potenzial zur Transformation belegt in Burtons Œuvre ein kreativ ergiebiges Grenzgebiet zwischen Spiel- und Animationsfilm. In seinem Debütfilm PEE-WEE’S BIG ADVENTURE (1985) offenbart die Geister-Truckfahrerin Large Marge ihr wahres fratzenhaftes Gesicht mit Hilfe eines Stop-Motion-Tricks und in der Geisterkomö- die (1988) müssen die frisch verstorbenen Maitlands erst lernen mit Hilfe der animierten Trickkiste effektvoll zu spuken. In BATMAN (1989) dienen die Cartoon-Insignien und Aktionen zugleich als Ausdruck der Verwandlung des einfachen Gangsters Jack Napier in den diaboli- schen Joker. Der Schriftsteller und Kulturkritiker Dietmar Dath notiert in einer Einführung zu einer Sammlung von Batman-Comics über das Verhältnis zwi- schen dem Helden und seinen Gegenspieler_innen: „Fast scheint es als wäre er [Batman] selbst der wichtigste Wachstumsfaktor für die Kriminalität in Gotham, der verkörperte Evolutionsdruck, unter dem das Verbrechen immer wüstere Aus- maße annehmen muss“ (Dath 2005, 9). Die Idee, dass sich Batman und der Joker

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gegenseitig erschaffen, wird in BATMAN von 1989 am deutlichsten ausformuliert. Batman befördert Jack Napier in einen Kessel mit Säure, nachdem er in ihm den Mörder seiner Eltern wiedererkannt hat, eine Ergänzung des Kinofilms, die in die- ser Form in den Comics nicht existiert. Der obsessive Kampf des traumatisierten dunklen Ritters gegen das organisierte Verbrechen resultiert in der Auflösung der klassischen Mob-Strukturen und damit auch in der Sabotage der Syntax des Gangster-Films. Er ruft immer irrealere Gegenspieler_innen auf den Plan, die eine Grenzüberschreitung in den Bereich der Fantastik bewirken, wie sie sich beispiel- haft in dem von den Filmen Jan Švankmajers inspirierten Comic Arkham Asylum von Dave McKean und Grant Morrison findet. Bei Burton implodieren die Rest- bestände des Gangsterfilms mit der Exekution des Gangsterbosses Grissom (Jack Palance) durch Jack Napier, der in diesem Moment endgültig zum aus dem Reich der Toten zurückgekehrten Joker wird. Das Setting verwandelt sich in den folgenden Handlungsabschnitten, die stärker an Episoden als an Akte erinnern, in eine Arena für den karnevalesken Schlagabtausch zwischen Batman und seinem neuen Erzfeind (Superman war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der filmischen Diegese), der deutliche Parallelen zu den Endlos-Konfrontationen zwischen den Trickfiguren aus den Warner-Cartoons aufweist. Bezeichnenderweise ereignet sich der Showdown auf einer Karnevalsparade und in einer gewaltigen gotischen Kathedrale mit völlig überzeichneten Proportionen. Der von einer Szene zur anderen auftauchende Turm der Kathedrale von Gotham, der in seiner Höhe über die Wolkenkratzer hinausreicht, erscheint wie die LOONEY-TUNES-Variante einer expressionistischen Stummfilm-Kulisse. Auf der Batman-Skala zwischen Wests Cartoon-Abstraktion und Nolans Noir-Mimesis balanciert Burton stilbewusst in der Mitte zwischen bei- den Polen. Er arbeitet mit den Stilmitteln eines Spielfilms, drehte aber im Unter- schied zu Nolan nicht außerhalb des Studios, sondern ließ Gotham City als eine der umfangreichsten Kulissen der Filmgeschichte im Atelier aufbauen. Mit dem Sequel BATMAN RETURNS, das Burton mit größeren kreativen Freiheiten realisieren konnte, erhält die Cartoon-Logik eine eigene dramaturgische Funktion und wird als Symptom erfahrener Traumata filmisch ausgelegt. Das im ersten Film anfangs noch vorhandene Gangster-Setting weicht in der Fortsetzung einem urbanen expressionistischen Märchen, das die Cartoon-Sem- antik um eine Syntax erweitert, die in ihren Abläufen zwar noch Ähnlichkeiten mit vertrauten Situationen aus den Warner-Trickfilmen aufweist, deren Konse- quenzen aber auf tiefer liegende Traumata verweisen. Der grotesk entstellte, in den Schächten unter Gotham lebende Pinguin (Danny DeVito) nutzt eine monst- röse Spielzeug-Ente als Gefährt. Er wird von einer Clown-Brigade eskortiert und kommandiert eine Armee von mit Sprengstoff versehenen Pinguinen. In der TV-

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Abb. 12: Cartoon-Situation mit unerwarteten Konsequenzen 1 – die Transformation von Selina Kyle zu Catwoman in BATMAN RETURNS (1992).

Abb. 13: Cartoon-Situation mit unerwarteten Konsequenzen 2 – die Transformation von Selina Kyle zu Catwoman in BATMAN RETURNS (1992).

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Serie der 1960er Jahre dient die gleiche Figur als theatralischer Schurke, bei Bur- ton verkörpert er die Rückkehr des Verdrängten und den tragischen Gegenent- wurf zu Bruce Wayne. Ebenfalls ein Sohn wohlhabender Eltern, wurde er von die- sen verstoßen und als Säugling am Weihnachtsabend in die Kanalisation befördert. Noch deutlicher wird die Psychologisierung via Cartoon-Syntax in der Transformation von Selina Kyle zu Catwoman (Michelle Pfeiffer). Wie in einem Cartoon überlebt sie einen Fenstersturz, den ihr korrupter Arbeitgeber Max Shreck (Christopher Walken) verursacht hat. In einer verstörenden Sequenz, die wie eine Mischung aus LOONEY-TUNES-Animation und den Schattenspielen der RKO-Horrorfilme Jacques Tourneurs anmutet, wird sie von herbeieilenden streu- nenden Katzen wiederbelebt. Nach ihrer Rückkehr in ihr pink dekoriertes Apart- ment massakriert sie ihre Stofftier-Sammlung in einem bizarren Ritual, über- sprüht die Wände ihrer Wohnung mit schwarzer Farbe und zerschlägt die Leuchtbuchstaben eines Neon-Schriftzugs, so dass aus dem freundlichen „Hello There“ ein programmatisches „Hell here“ wird (siehe Abb. 12). Die folgende Ver- wandlung in Catwoman (siehe Abb. 13) wurde bereits durch die Omnipräsenz ei- ner als Branding auf verschiedenen Gebäuden der Shreck Company angebrach- ten grinsenden Katze vorweggenommen. Burton konfiguriert die Zeichen der Cartoon-Modalität und vermischt sie mit Motiven der Schauerromantik. Im Un- terschied zu Kater Sylvester aus den LOONEY TUNES verfügt Catwoman nicht über unbegrenzte Leben, sondern lediglich über neun. Die Cartoon-Modalität dient bei Burton nicht nur als Verzerrung, sie psychologisiert als Symptom des Verdräng- ten und Verborgenen die Charaktere und bildet ein Portal von den Scharmützeln des Comic-Epos zur märchenhaften Fantastik.

Ausblick – The Rainbow Knight Returns

In Hunting the Dark Knight betont Will Brooker die Verbindung zwischen dem dunklen Ritter und seinem farbenfrohen Schatten aus den Relikten des Camp:

To insist that Batman is and only ever was a hard-ass, urban vigilante ignores not just a significant period of his history, but also the fact that, throughout the modern ‚dark‘ tradi- tion, the alternative, dissident version of Batman – the camp, Day-Glo, rainbow crusader – played consistently at the margins, hovering in limbo, reappearing through the gaps in his armour [...] This ‚other‘ Batman, this ‚bad‘ object, was not just impossible to repress, but necessary for the very definition of the dark knight: every reworking of the character made its claim for authenticity and grittiness against the backdrop of Pop and camp. Darkness can only be seen as such as part of a spectrum of colours and contrasts: every ‚realist‘ Bat- man needs the rainbow. (Brooker 2012, 215)

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Wie die Betrachtung der Cartoon-Modalitäten des Batman-Kosmos gezeigt hat, handelt es sich nicht nur um eine pophistorische, Camp-affine Phase der Figur, sondern vielmehr um eine stilistische Option, deren Spuren sich bis in die Filme von Tim Burton hinein und darüber hinaus fortsetzt. Als spezielle Konfiguration der von Maureen Furniss zur graduellen Differenzierung von Spiel- und Animati- onsfilm vorgeschlagenen Skala zwischen Abstraktion und Mimesis ermöglicht sie die Ausarbeitung eines in diesem Artikel nur flüchtig skizzierten Spektrums von abstrakter Cartoon-Anarchie bis hin zu mimetischem Genre-Realismus, die übergreifend für Filme, Comics und Videospiele eines Franchise eingesetzt wer- den kann. In einem nächsten Schritt wäre die Übertragbarkeit auf andere mediale Kontexte, Comicreihen und deren transmediale Inkarnationen zu untersuchen. Zur genaueren Ausdifferenzierung der Batman-Skala wäre es außerdem ergiebig, die der Cartoon-Modalität entgegengesetzte Bewegung von Christopher Nolans DARK-KNIGHT- Filmen über die Comics der 1970er Jahre zurück zum ersten Serial aus den 1940er Jahren nachzuzeichnen. Die transmediale Anwendbarkeit der Cartoon-Modalität ließe sich hingegen anhand der Batman-Videospiele weiter er- proben. In den LEGO-BATMAN-Spielen kann der dunkle Ritter statt mit Bomben durch die Docks von Gotham zu laufen, mit einem Spezialanzug selbst Cartoon- Bomben verteilen, die neue Bausteine frei sprengen. Es gibt noch viele Möglich- keiten und Modalitäten, um eine Bombe zu entsorgen.

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Die Cartoon-Modalitäten des Batman-Franchise 9 333

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Personenregister

Acheson, Katherine, 89 Blackton, James Stuart, 87, 100, 102–104, Acres, Birt, 101 106 Adams, Neal, 312, 325–326 Block, Rudolph Edgar, 159 Agamben, Giorgio, 5, 12–16, 19–22 Blyton, Enid, 302 Akihito, 128–129 Boden, Anna, 241, 244 Alba, Tyto, 276 Boehm, Gottfried, 88 Alberti, Leon Battista, 180 Bolt, Usain, 16 Alfieri, Bruno, 97 Bolter, Jay David, 2, 125 Altman, Robert, 237 Bonhoeffer, Dietrich, 268 Annett, Sandra, 131 Bordwell, David, 36–37, 42, 48, 217–218 Aristoteles, 88, 179 Bourdieu, Pierre, 92 Astruc, Alexandre, 233, 235 Brando, Marlon, 99 Austin, John L., 87 Brooker, Will, 323, 330 Avery, Tex, 48 Brunetti, Ivan, 185 Azuma Hiroki, 54, 109, 116, 122, 124–125, Buck, Chris, 30 129–131, 133, 138 Burton, Tim, 309, 313–314, 316, 320, 323, Bacher, Karin, 276 326–328, 330–331 Backe, Hans-Joachim, 1, 290, 335 Busch, Werner, 91–92 Baetens, Jan, 277 Butler, Judith, 87 Balázs, Béla, 13, 37 Caesar, Gaius Iulius, 263 Bale, Christian, 308 Caillois, Roger, 287 Balke, Friedrich, 207 Caldwell, John T., 18 Balzer, Jens, 165 Campbell, Gretna, 97 Banksy, 138 Campbell, Joseph W., 153 Barks, Carl, 311 Cassaday, John, 312 Bartosch, Sebastian, 183–184 Castiglione, Baldassare, 89 Bassler, Bonnie, 225–226 Cava, Felipe H., 277 Bates, Charles F., 171 CEET (Ceet Fouad), 138 Baudrillard, Jean, 45 Charcot, Jean-Martin, 19 Beaupré, Nicolas, 273 Chomsky, Noam, 247 Bedürftig, Friedemann, 267 Chute, Hillary, 235, 237, 250, 277 Bergengren, Ralph, 156 Clark, Alfred, 102 Berger, John, 66 Clark, George, 155–156 Bermingham, Ann, 95 Cleland, John, 292 Berndt, Jaqueline, 5, 53, 111–112, 114, 124, Cleopatra, 263 131–133, 335 Clinton, Hillary, 194–195 Bertetti, Paolo, 112, 117–119, 133 Clowes, Daniel, 185 Biagi, Enzo, 275 Cohl, Émile, 87, 104–105 Bidgood, Susanna, 225 Colón, Erni, 267, 275 Bischof, Christopher, 110 Condry, Ian, 112, 119

Open Access. © 2018 H.-J. Backe, J. Eckel, E. Feyersinger, V. Sina, J.-N. Thon, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-014

336 I Personenregister

Costello, Leo, 95 Farocki, Harun, 15 Cournoyer, Michèle, 47 Felix, Jürgen, 234 Cozens, Alexander, 96 Fellini, Federico, 237 Crafton, Donald, 100, 102–106 Feyersinger, Erwin, 1, 315, 335 Croci, Pascal, 257, 270 Fleck, Ryan, 241, 244 Cruise, Tom, 15 Flusser, Vilém, 22 Currie, Gregory, 238 Folman, Ari, 263 Curtis, Scott, 208 Ford, Harrison, 122 Dath, Dietmar, 327–328 Foster, Hal, 270 Dean, James, 99 Foucault, Michel, 136, 285 De Goya, Francisco, 267 Frahm, Ole, 138 De Haven, Tom, 154 Frank, Anne, 262–263, 266–267 De Kooning, Willem, 97 Freeman, Matthew, 112 Delacroix, Eugène, 92–93 Freeman, Morgan, 320 Deleuze, Gilles, 16, 19, 22, 136 Frenzel, Martin, 257 Demme, Jonathan, 253, 316 Friedrich, Andreas, 231 Denson, Shane, 120 Früchtl, Josef, 22 Derrida, Jacques, 285, 293 Fry, Roger, 91 DeVito, Danny, 328 Furniss, Maureen, 315, 331 Di Giandomenico, Carmine, 263, 274–275 Gainsborough, Thomas, 92, 96 Dirks, Rudolph, 156 Gainsbourg, Charlotte, 246 Disney, Walt, 91, 119 Galbraith, Patrick W., 113, 115 Dittmar, Jakob, 180–181 García Bernal, Gael, 246 Doane, Mary Ann, 207 García Landa, José Angel, 31 Doi Takayoshi, 128 Gardner, Jared, 286–287 Dostojewski, Fyodor, 78 Gascoyne-Cecil, Robert (Lord Salisbury), 201 Dozier, William, 318 Gaudenzi, Giacinto, 275 Drexler, Lynne Mapp, 97 Gaudreault, André, 21 Drucker, Brian, 244 Georg III., 93 Dumała, Piotr, 30 Gilchrist, Keir, 243 Dupuis, Pierre, 267, 271, 275 Gilles de la Tourette, Georges, 19 Ebersberger, Michael, 123 Gillray, James, 292 Eckel, Julia, 1, 22, 335 Gladstone, William Ewart, 100–101 Eco, Umberto, 160 Glass, Ira, 179, 194–196, 198 Eder, Jens, 40, 117–118, 120, 237, 239 Glaubitz, Nicola, 6, 85, 336 Edison, Thomas, 102 Gloeckner, Phoebe, 248, 250–251 Eisner, Will, 271–272, 274–276 Godard, Jean-Luc, 234, 314 Ėjchenbaum, Boris, 30, 42 Goddard, Morrill, 153 Elfman, Danny, 327 Golden, Michael, 262 Ellis, Warren, 312 Goldsholl, Millie, 46 Elsaesser, Thomas, 22 Goldsholl, Mort, 46 Englund, Robert, 314 Gombrich, Ernst, 34 Enli, Gunn, 261 Gondry, Michel, 244, 247 Etter, Lukas, 238 Goscinny, René, 264 Faggioni, Lauri, 247 Greenwood, Forest, 56, 125 Fahle, Oliver, 207 Grierson, John, 207 Farmer, Clark, 199 Grimaldi, Flora, 262

Personenregister I 337

Grünberger, Alexander, 211 Karl der Große, 122 Grusin, Richard, 2, 125 Karlin, Jason G., 113, 115 Guattari, Félix, 136 Kashtan, Aaron, 187 Guibert, Emmanuel, 272 Katabuchi Sunao, 53, 57, 60 Gundermann, Christine, 6, 257, 336 Katō Kazuhiko (Monkey Punch), 73 Gunnarsdóttir, Sara, 251 KEI (Kei Garō), 115 Haft, Alan Scott, 262 Kelleter, Frank, 152, 154, 159–160 Hagener, Malte, 5, 11, 22, 336 Kemble, Edward, 156 Haggard, H. Rider, 286 Kemp, Wolfgang, 95 Hahn, Hans-Joachim, 261 Kendall, Roger, 39–41, 43–44 Hänselmann, Matthias, 5, 27, 32–33, 41, 336 Kichka, Michel, 276 Hathaway, Anne, 308 Kim Gwang-sung, 80 Hayashi Kōsuke, 68 Klein, Yves, 99 Hearst, William Randolph, 151–153, 155–159, Kleist, Reinhard, 262, 277 162 Kline, Franz, 97 Heindl, Nina, 6, 177, 336 Knoch, Habbo, 268 Heller, Marielle, 248, 251 Köhn, Stephan, 110, 121 Hergé, 138, 277 Koike Kazuo, 73 Heuvel, Eric, 263, 276 Kojima Gōseki, 73 Hirsch, Marianne, 268 Kominsky-Crumb, Aline, 251 Hitchcock, Alfred, 305, 307, 316 Kouno Fumiyo, 53, 56, 58–59, 61–80 Hitler, Adolf, 264, 268–270 Koyczan, Shane, 47 Hochschild, Adam, 274 Kracauer, Siegfried, 34 Hoffmann, PM, 275 Krafft, Ulrich, 133 Hogh, Alexander, 262, 271, 273, 275 Krauthausen, Katrin, 90 Honess Roe, Annabel, 218 Kreuzer, Anselm, 33–35, 44, 49 Horn, Rebecca, 99 Krumeich, Gerd, 273 Hornschemeier, Paul, 177, 183–185 Kubert, Joe, 265–266, 272–273, 277 Hoskins, Bob, 314 Kummer, Lukas, 262 Itō Gō, 109, 112, 116, 120–123, 125, 132–134, Kuppermann, Michael, 267 138 Kuramoto, John, 177–178, 185, 189–190, 193, Ito Mizuko, 112, 129 195, 200 Jacobson, Sid, 267, 275 Kusunogi Masashige, 69 Jacquinot, Géneviève, 225 Kyō Machiko, 79 Jahn-Sudmann, Andreas, 160 Lamerichs, Nicolle, 136 Jameson, Fredric, 286 Lane, Nick, 224–225 Jenkins, Henry, 112, 114, 118–119, 124, 137, Lanzmann, Claude, 270 289 Lash, Scott, 130 Jeong Ki-young, 80 Latour, Bruno, 204 Johnson, Mike, 326 Leaf, Caroline, 47, 235 Jones, Steve, 225 Lee, Jennifer, 30 Juergens, George, 153 Lefèvre, Didier, 272 Juul, Jesper, 125 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 29 Kacsuk, Zoltan, 113 Lemercier, Frédéric, 272 Kalenbach, Dieter, 267 Leonardo da Vinci, 90 Kanigher, Robert, 266 Leroux, Gaston, 302 Kaprow, Allan, 99 Leschke, Rainer, 113, 138

338 I Personenregister

Leslie, Esther, 199 Moore, Alan, 6, 285–286, 288–291, 293–298, Lichtenstein, Roy, 310 300–303 Lindner, Bernd, 273, 275 Morrison, Grant, 323, 328 Lipscomb, Scott David, 39–41, 43–44, 49 Motherwell, Robert, 97 Lord Salisbury (Robert Gascoyne-Cecil), 101 Muhly, Nico, 193 Lovecraft, H.P., 302 Murnau, Friedrich Wilhelm, 257 Lowitz, John B., 156 Murray, Doug, 262 Luhman, Niklas, 111 Murray, Janet H., 35 Luks, George Benjamin, 6, 151, 156, 158–162, Muybridge, Eadweard, 19 165–170 Myers, Fritz, 193 Lünstedt, Heiner, 267 Namuth, Hans, 85, 97–99 Lury, Celia, 130 Nasim, Omar W., 90 Lutes, Jason, 266 Natsume Fusanosuke, 122, 125 Lutz, Edwin G., 101–102 Nevins, Jess, 288 Mailliet, Jörg, 271, 273, 275 Nichols, Bill, 216–217, 224–225 Majetschak, Stefan, 183 Nicholson, Jack, 326 Malitsky, Joshua, 207–208 Nimoy, Leonard, 122 Manara, Milo, 275 Nishijima Daisuke, 59 Mann, Michael, 316 Nolan, Christopher, 308, 313, 316, 320, 323, Margolin, Uri, 117, 119 326, 328, 331 Marion, Philippe, 277 Noppe, Nele, 112 Martinson, Leslie H., 306 Nozawa Shunsuke, 138 Mathieu, Georges, 99 Odin, Roger, 35, 214–216, 225 Mayer, Ruth, 120 Okamoto Yūichirō, 136 Maylone, Bettina, 46 Oldman, Gary, 308 McCarthy, Tom, 138 O’Neil, Dennis, 265–266, 312, 326 McCloud, Scott, 187–188, 305, 310–311, 313, O’Neill, Kevin, 6, 285–286, 288–291, 293– 316, 318 298, 300–303 McDougall, Walt, 172 Orbán, Katalin, 66 McFadden, Billy, 243 Orwell, George, 290, 294 McKean, Dave, 328 Osteroth, Reinhard, 277 McLaren, Norman, 73 Ōtsuka Eiji, 123–125, 138 Mecham, William (Tom Merry), 100–101 Outcault, Richard Felton, 6, 137, 151, 155–156, Meder, Joseph, 90 158–160, 162–164, 172 Méliès, George, 87, 101–102 Packard, Stephan, 132, 311, 318 Merry, Tom (William Mecham), 100–101 Paganini, Nicolo, 95 Mersch, Dieter, 111 Pak, Greg, 263, 274–275 Metz, Christian, 37, 40 Palance, Jack, 328 Meyer, Christina, 6, 137, 151, 289, 336 Palandt, Ralf, 266 Michelangelo, 90 Pandel, Hans-Jürgen, 259–260 Michiko, 128–129 Pantenburg, Volker, 22 Mickwitz, Nina, 277 Papenburg, Bettina, 6, 203, 337 Miller, Frank, 312–314, 321, 323–324 Parker, John, 96 Mitry, Jean, 37 Peacham, Henry, 89–90 Miyazaki Hayao, 57, 60 Pedri, Nancy, 69 Monkey Punch (Katō Kazuhiko), 73 Peil, Corinna, 116

Personenregister I 339

Peirce, Charles Sanders, 19 Schick, Thomas, 37 Penney, Matthew, 122 Schilling, Mark, 59 Peter I., 263 Schmidtke, Theresa, 129 Pfeiffer, Michelle, 330 Schnibben, Cord, 275 Pirker, Eva Ulrike, 260 Schoenberner, Gerhard, 267 Plenzke, Maike, 262 Scholl, Sophie, 267 Pollock, Jackson, 6, 85–86, 93, 97–100, 106 Schram, Nathan, 193 Polonsky, David, 263 Schumacher, Joel, 316, 320, 323 Porter, Edwin S., 102 Schwaab, Herbert, 116 Potter, Jeff, 179 Schwan, Stephan, 40 Powers, Edward T., 156 Schwarz, Simon, 264 Prince, 327 Scolari, Carlos A., 112 Pulitzer, Albert, 153 Scott, Jason, 118 Pulitzer, Joseph, 151–154, 156–160, 162 Searle, John, 127, 132–133 Rall, Hans-Martin, 261, 270 Selick, Henry, 326 Raphael, 90 Shakespeare, William, 290, 292–293, 295– Raúl, 277 298 Rauscher, Andreas, 6, 305, 337 Shamoon, Deborah, 55–56 Ravenscroft, Ian, 238 Šimko, Dorothée, 274 Reicher, Maria E., 120 Sina,Véronique, 1, 337–338 Reichert, Ramón, 191 Skarsgård, Alexander, 250 Reinerth, Maike Sarah, 6, 231, 315, 337 Šklovskij, Viktor, 30–31, 36, 43–46 Reiss, Mike, 318 Skoller, Jeffrey, 218–219 Rembrandt, 91–92 Smith, Albert E., 102 Resnais, Alain, 234 Snyder, Zack, 323 Richard I. (Löwenherz), 122 Sobchack, Vivian, 216 Riefenstahl, Leni, 268–269 Sommer, Manfred, 271 Riegl, Alois, 66 Sontag, Susan, 309, 321 Riesinger, Robert, 214 Spiegelman, Art, 155, 259, 288 Rippingille, Edward Villiers, 94–95, 97 Spielberg, Steven, 258, 270, 318 Roloff, 274 Stein, Daniel, 152, 154, 159 Ronaldo, Christiano, 16 Steinberg, Marc, 112–113, 118, 124–125 Rosa, Don, 311 Stetter, Moritz, 268 Rose, Kathy, 47 Stevenson, Robert Louis, 286 Rosen, Philip, 206–207 Stobbe, Martin, 129 Rosenberg, Harold, 98 Stoker, Bram, 286 Rosin, Hanna, 194–198 Švankmajer, Jan, 328 Rosinplotz, Noa, 194–198 Swale, Alistair D., 55 Rüdiger, Mark, 260 Swift, Jonathan, 290 Rustemagić, Ervin, 273 Takekuma Kentararō, 122 Ryan, Marie-Laure, 35, 45, 128 Tamagawa Hiroaki, 112 Saalburg, Charles, 156 Tan, Ed S., 35–37 Sabisch, Ingrid, 267 Tatsumi Yoshihiro, 54 Sabrow, Martin, 260 Taussig, Michael, 66 Sacco, Joe, 265, 273–274, 276–277 Telaar, Silke, 257 Saupe, Achim, 260 Tennant, David, 221 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, 208 Tezuka Osamu, 48, 78, 119, 268–270

340 I Personenregister

Thon, Jan-Noël, 1, 130, 338 Warburg, Aby, 19 Thoss, Jeff, 6, 285, 338 Ware, Chris, 6, 177–182, 185–195, 199–200, Tizian, 92 238, 288 Tomaševskij, Boris, 31 Ware, Clara, 194 Tourneur, Jacques, 330 Warhol, Andy, 310 Townsend, Waterman, 158 Weber, Wibke, 261, 270 Truffaut, François, 234, 305 Wells, H.G., 286 Tschofen, Bernhard, 270 Wells, Paul, 234–235, 237 Tsuge Yoshiharu, 54 West, Adam, 306–307, 309, 312, 318, 321, Turner, Joseph Mallord William, 6, 85–86, 91, 323, 328 93–100, 105–106 Wilde, Kilian, 134 Uderzo, Albert, 264 Wilde, Lukas, 6, 109, 338 Usui Yoshito, 73 Wilhelm II., 100 Varda, Agnès, 234 Wilkie, David, 94 Vasari, Giorgio, 89–90 Witek, Joseph, 312–314 Venezia, Tony, 286–287 Wittmann, Barbara, 90 Vizzini, Ned, 244 Wolf, Mark J.P., 219–220 von Bismarck, Otto, 100 Wolf, Werner, 44 von Ranke, Leopold, 261, 278 Wölfflin, Heinrich, 89 von Rosen, Valeska, 179 Wolk, Douglas, 313, 327 von Stauffenberg, Claus, 263–264 Wollheim, Richard, 90 Wada-Marciano, Mitsuyo, 55 Wright, William, 93 Waldenfels, Bernhard, 183 Yockey, Matt, 321–322 Walken, Christopher, 330 Yoshimura Kazuma, 77 Walton, Kendall L., 109, 125–128 Zimmer, Hans, 308

Werkregister

1914: Ein Maler zieht in den Krieg (Comic), 277 Batman: Year One (Comic), 314 1984 (Roman), 290, 294 BEETLEJUICE (Film), 327 2001: A SPACE ODYSSEY (Film), 221 Berlin (Comic), 266 3 WOMEN (Film), 237 Berlin 1931 (Comic), 277 À BOUT DE SOUFFLE (Film), 234 Black Dossier (Comic), 285–303 ACME Novelty Library (Comic), 177–178, 181, BLADE RUNNER (Film), 222 187, 288 BLINKITY BLANK (Film), 73 Adolf (Comic), 268–270 Bonhoeffer (Comic), 268 A GLIMPSE INSIDE THE MIND OF CHARLES SWAN III BROKEN DOWN FILM (Film), 48 (Film), 253 Building Stories (Comic), 177, 180–182, 185– A NIGHTMARE ON ELM STREET 5: THE DREAM CHILD 186, 200 (Film), 332 Butterfly Song (Comic), 80 Anni riji/The Diary of a Young Girl (Comic), CHUCK (TV-Serie), 253 266 Crayon Shin-chan (Comic), 73 ALIEN (Film), 221 Das Komplott: Die wahre Geschichte der AMARCORD (Film), 237 Protokolle der Weisen von Zion (The Plot, Anne Frank: The Anne Frank House Authorized Comic), 274–276 Graphic Biography (Comic), 262, 267, Das Leben von Anne Frank: Eine grafische 275 Biografie (Comic), 262, 267, 275 Arkham Asylum: A Serious House on Serious Das Tagebuch der Anne Frank (Comic), 263 Earth (Comic), 328 DC Meets Looney Tunes (Comic), 318 Around the World with the Yellow Kid (Comic), DER AUSDRUCK DER HÄNDE (Film), 15 159 Der Boxer: Die wahre Geschichte des Hertzko Asterix als Gladiator (Astérix gladiateur, Haft (Comic), 262–263 Comic), 264 Der Erste Weltkrieg: Die Schlacht an der Auschwitz (Comic), 257, 270 Somme (The Great War, Comic), AVATAR (Film), 4 273–274, 276 BANDE À PART (Film), 314 Der Fotograf (Le Photographe, Comic), 272 Batdance (Song), 327 Der gelbe Stern (Bildband), 267 BATMAN (1966, Film), 306, 309, 313, 318–320 Der große Krieg (To End All Wars, Sachbuch), BATMAN (1989, Film), 323, 326–330 274 BATMAN (TV-Serie), 306, 313, 316–318, Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer 320–322, 328–330 (El sueño de la razón produce BATMAN AND ROBIN (Film), 315–316, 320, 322 monstruos, Radierung), 267 BATMAN FOREVER (Film), 316 DESSINATEUR EXPRESS (Filmserie), 101 BATMAN RETURNS (Film), 320, 323, 328–329 DIE BLEISTIFTMASKE (Film), 99 BATMAN VS. SUPERMAN: DAWN OF JUSTICE (Film), Die Suche (De zoektocht, Comic), 263, 276– 322–323 277 BATMAN: ARKHAM ASYLUM (Computerspiel), 288 DISTANT ISLANDS (Film), 46 BATMAN: ARKHAM KNIGHT (Computerspiel), 320 Dracula (Roman), 286 BATMAN: THE ANIMATED SERIES (TV-Serie), 314 drüben! (Comic), 264

Open Access. © 2018 H.-J. Backe, J. Eckel, E. Feyersinger, V. Sina, J.-N. Thon, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110538724-015

342 D Werkregister

DUCKTALES (TV-Serie), 312 Jimmy Corrigan: The Smartest Kid on Earth „Eine unzeitgemäße Frau“ („Furui onna“, (Comic), 178 Comic), 66 JUPITER ASCENDING (Film), 222 Enemy Ace (Comic), 265–266 Katzenjammer Kids (Comic), 156 EXECUTION OF MARY, QUEEN OF SCOTS (Film), 102 KIND HEARTS AND CORONETS (Film), 238 Fanny Hill (Roman), 292–293 Kolumbus (Comic), 275 FANTASIA (Film), 137 L’IMAGE MANQUANTE (Film), 253 Fax from Sarajevo (Comic), 265, 272–273 LA BASSE COUR (Film), 47 Frank Cappa: Viet-Song (Comic), 271 LA LINEA (TV-Serie), 252 FRANKENWEENIE (Film), 326 LA POINTE COURTE (Film), 234 FRANZ KAFKA (Film), 30 LA SCIENCE DES RÊVES (Film), 231, 233, 238, 240, FROZEN (Film), 30 244–248, 252 FUN IN A BAKERY SHOP (Film), 103 Last Day in Vietnam (Comic), 271–272 Gotteskrieger: Eine wahre Geschichte aus der Le Fantôme de l’Opéra (Roman), 302 Zeit der Reformation (Comic), 262 LE SCAPHANDRE ET LE PAPILLON (Film), 253 GROWTH AND PRODUCTION OF C. GLUTAMICUM ATCC LES QUATRE-CENTS COUPS (Film), 234 13032 ΔACEE SENSOR STRAIN (Film), 211, LINT (Comic), 238 213 Little Nippers (Comic), 160 Gulliver’s Travels (Roman), 290 Lone Wolf and Cub (Kozure ōkami, Comic), 73 HALF NELSON (Film), 244 LOONEY TUNES (Filmserie), 305, 328, 330 Happy Mothers’ Day (Titelbild), 193 LOONEY TUNES: BACK IN ACTION (Film), 314, 328, HEAT (Film), 316 330 Herbst der Entscheidung (Comic), 273, 275 Lupin III. (Comic), 73 Het Leven van Anne Frank: De Grafische LUXO JR. (Film), 18 Biografie geautoriseerd door het Anne Macha: Eine Geschichte der Insel Errance Frank Huis (Comic), 262, 267, 275 (Comic), 262 Hitler (Comic), 267 MARVEL VS. CAPCOM 2: NEW AGE OF HEROES Hitler und der II. Weltkrieg: The World at War (Computerspiel), 288 in Pictures (Comic), 267, 271, 275 MAUS (Comic), 4, 259 Hogan’s Alley (Comic), 151–152, 154, 156–172 McFadden’s Row of Flats (Comic), 151–152, HUMOROUS PHASES OF FUNNY FACES (Film), 154–158, 162–164, 171–172 103–104 MEIN NACHBAR TOTORO (TONARI NO TOTORO, Film), In the Shadow of No Towers (Comic), 155 57 In This Corner of the World (Kono sekai no MEMENTO (Film), 238 katasumi ni, Comic), 5, 53, 58–81 MINORITY REPORT (Film), 15 IN THIS CORNER OF THE WORLD (KONO SEKAI NO Mirror (Titelbild), 192–197 KATASUMI NI, FILM), 56–57 MONSTERS INC. (Film), 4 INTERGALACTIC ZOO (Film), 46 Mose’s Incubator (Comic), 160 INTERSTELLAR (Film), 222 MOVING IMAGES (Film), 177, 180, 193–200 IS THE MAN WHO IS TALL HAPPY? (Film), 247, 253 NEON GENESIS EVANGELION (TV-Serie), 56 IT’S KIND OF A FUNNY STORY (Film), 231, 233, NOSFERATU: EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (Film), 240–247, 252 257 It’s Kind of a Funny Story: A Novel (Roman), NUIT ET BROUILLARD (Film), 234 244 Operation Fledermaus (Le groom vert-de-gris, JACKSON POLLOCK 51 (Film), 97 Comic), 266 JAWS (Film), 318 OUR SECRET UNIVERSE: THE HIDDEN LIFE OF THE CELL (Film), 206, 217, 220–227

Werkregister D 343

OUT OF THE INKWELL (Filmserie), 252 The Fixer: A Story from Sarajevo (Comic), 265 PEE-WEE’S BIG ADVENTURE (Film), 327 THE HAUNTED HOTEL (Film), 103 PENCIL BOOKLINGS (Film), 47 THE HUMPTY DUMPTY CIRCUS (Film), 104 Persepolis (Comic), 4 The League of Extraordinary Gentlemen PIXAR TITELSEQUENZ (Film), 5, 17–22 (Comic), 6, 286, 289, 293 Planetary: Crossing Worlds (Comic), 312–313 THE LEGO BATMAN MOVIE (Film), 313–314, 319– POKÉMON GO (Computerspiel), 15, 126 320, 323 Prinz Eisenherz (Prince Valiant, Comic), 270 THE LEGO MOVIE (Film), 314 Prisca et Silvanus (Comic), 274 „The Lightning Sketcher“ (Zeichnung), 101 Protocol (Titelbild), 193 THE MANCHURIAN CANDIDATE (Film), 253 PUELLA MAGI MADOKA MAGICA (TV-Serie), 55–56 THE MATRIX (Film), 114, 221–222 Rain, Steam and Speed: The Great Western The Nam (Comic), 262, 266 Railway (Gemälde), 93 THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (Film), 326 Reisende im Wind (Les Passagers du vent, THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW (Film), 322 Comic), 266, 270 THE ROOM (Film), 322 RYAN (Film), 4 THE SILENCE OF THE LAMBS (Film), 316 Sarajevo Tango (Comic), 265 THE SIMPSONS (TV-Serie), 316–318, 321 SCHINDLER'S LIST (Film), 258, 270 The Three Paradoxes (Comic), 183–185 Schuld und Sühne (Tsumi to batsu, Comic), 78 The War of the Worlds (Roman), 286 SHOAH (Film), 270 This American Life (Radiosendung), 178, 193– SILENT VOICE (KOE NO KATACHI, Film), 57 194, 200 SILLY SYMPHONIES (Filmserie), 38 This American Vote (Comic), 178 SON OF RAMBOW (Film), 240 Tim und Struppi (Les Aventures de Tintin, Sophie Scholl: Die Comic-Biografie (Comic), Comic), 138, 277 267 TOM MERRY LIGHTNING ARTIST DRAWING MR Tagebuch 14/18: Vier Geschichten aus GLADSTONE (Film), 101 Deutschland und Frankreich (Comic), TOM MERRY SKETCHING LORD SALISBURY (Film), 101 271, 273, 275 Touch Sensitive (Comic), 177, 180, 185–193, Tante Wussi (Comic), 276 196, 200 The Beano (Comic), 288, 292 TOY STORY (Film), 16, 22 THE BLUES BROTHERS (Film), 322 TRIUMPH DES WILLENS (Film), 268–269 THE CORPSE BRIDE (Film), 326 TROLL (Film), 47 The Dandy (Comic), 288, 292 TWO SISTERS (Film), 47 THE DARK KNIGHT (Film), 316 WALTZ WITH BASHIR (Film), 4, 253 The Dark Knight Returns (Comic), 312–314, Werwölfe (Comic), 275 323–324 WHO FRAMED ROGER RABBIT (Film), 314 THE DARK KNIGHT RISES (Film), 307–308 X-Men: Magneto Testament (Comic), 263, THE DIARY OF A TEENAGE GIRL (Film), 231, 233, 274–275 240, 248–252 Yossel, 19 April 1943 (Comic), 277 The Diary of a Teenage Girl: An Account in YOUR NAME. (KIMI NO NA WA., Film), 57 Words and Pictures (Comic), 248, Zar und Zimmermann (Comic), 263 250–251 Zeitmaschine 14/18 (Webseite), 275 THE ENCHANTED DRAWING (Film), 103–104 Zweite Generation: Was ich meinem Vater nie THE FALL (Film), 240 gesagt habe (Comic), 276

Autor_innenverzeichnis

Hans-Joachim Backe ist Associate Professor am Center for Computer Games Research der IT Uni- versity Kopenhagen, wo er Computerspieltheorie, -geschichte und -design unterrichtet. Er stu- dierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Saarbrücken und promovierte dort mit einer Arbeit zu Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel (2008). Seine Dissertation wurde mit dem „Anna Balakian Award for Best First Book by a Young Scholar“ der International Comparative Literature Association ausgezeichnet. Von 2009 bis 2013 war er wis- senschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissen- schaft der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Mitglied der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) und der ComFor. Seine derzeitige Forschung setzt sich mit den äs- thetischen, technologischen und wirtschaftlichen Wechselbeziehungen zwischen Film, Comic und Computerspiel auseinander. http://www.hajobacke.com

Jaqueline Berndt ist Professorin für Japanische Sprache und Kultur an der Universität Stockholm mit Schwerpunkt populäre Medien und visuelle Künste. 1991 Promotion in Ästhetik/Kunstwis- senschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 2016 an japanischen Universitäten tätig, u.a. als Professorin für Comictheorie an der Kyoto Seika University. Publikationen u.a. Phäno- men Manga (1995), Manga’s Cultural Crossroads (2013, Hg. mit Bettina Kümmerling-Meibauer), Manga: Medium, Kunst und Material (2015).

Julia Eckel ist wissenschaftliche Koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs „Das Dokumentari- sche: Exzess und Entzug“ sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissen- schaft der Ruhr-Universität Bochum. 2018 schloss sie ihre Promotion mit der Arbeit Das Audio- viduum – Eine Theoriegeschichte des Anthropomorphen und Anthropophonen in audiovisuellen Medien ab. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Animation und Animated Documentary, Anthropo- zentrismen der Medientheorie, Selfies und die Zeitlichkeit audiovisueller Medien. Gemeinsam mit Erwin Feyersinger ist sie Sprecherin der AG Animation der Gesellschaft für Medienwissen- schaft (GfM). Publikationen u.a. Zeitenwende(n) des Films: Temporale Nonlinearität im zeit- genössischen Erzählkino (2012), Im Wandel…: Metamorphosen der Animation (2017, Hg. mit Erwin Feyersinger und Meike Uhrig), Exploring the Selfie: Historical, Theoretical, and Analytical Approaches to Digital Self Photography (2018, Hg. mit Jens Ruchatz und Sabine Wirth). http://www.juliaeckel.de

Erwin Feyersinger ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Eber- hard Karls Universität Tübingen. Seine Forschung befasst sich mit Animation Studies, Filmwis- senschaft, Medientheorie und Erzählforschung. Er ist Mitglied der Editorial Boards von Anima- tion: An Interdisciplinary Journal und von Palgrave Animation. Gemeinsam mit Julia Eckel ist er Sprecher der AG Animation der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM). Jüngst veröffentlich- te er u.a. die preisgekrönte Monografie Metalepsis in Animation: Paradoxical Transgressions of Ontological Levels (2017) und als Mitherausgeber die Sammelbände In Bewegung setzen…: Bei- träge zur deutschsprachigen Animationsforschung (2017, Hg. mit Franziska Bruckner, Markus Kuhn und Maike Sarah Reinerth) und Im Wandel...: Metamorphosen der Animation (2017, Hg. mit Julia Eckel und Meike Uhrig).

346 G Autor_innenverzeichnis

Nicola Glaubitz ist Anglistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Professurvertretung Anglistische Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt 2014–2016; Habilitation an der Goethe-Universität Frankfurt 2014; aktuelles Projekt zu Lesege- meinschaften von anglophonen Langromanen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinato- rin im SFB 615 Medienumbrüche (Universität Siegen, 2002–2010). Arbeitsschwerpunkte: Litera- tur und Soziologie, Literatur und historische Medienkulturen, Film und Animationsfilm.

Christine Gundermann ist Juniorprofessorin für Public History an der Universität zu Köln. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und der Humboldt- Universität zu Berlin tätig. Inhaltlich bewegt sie sich als Public Historian an den Schnittstellen von Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen populäre Geschichtskulturen mit dem Fokus auf Geschichtscomics, die deutsch-nieder- ländische Zeitgeschichte und Ansätze zur Theoretisierung der Public History.

Malte Hagener ist Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, Leiter des DFG-Projekts „MediaRep – Einrichtung eines Open Access-Repositoriums für die Medien- wissenschaft“ (2017–2020) und Mit-Antragsteller beim DFG-Graduiertenkolleg „Konfiguratio- nen des Films“ (2017–2021). Neuere Publikationen: Moving Forward, Looking Back: The Euro- pean Avant-Garde and the Invention of Film Culture, 1919–1939 (2007), Filmtheorie zur Einführung (3. Auflage 2011, mit Thomas Elsaesser), The Emergence of Film Culture (2014, Hg.), Medienkultur und Bildung (2015, Hg. mit Vinzenz Hediger), The State of Post-Cinema (2016, Hg. mit Vinzenz Hediger und Alena Strohmaier), Empathie im Film: Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie (2017, Hg. mit Ingrid Vendrell Ferran).

Matthias Clemens Hänselmann studierte an der Universität Passau Germanistik, Kunstge- schichte, Geschichte und Kulturwirtschaft. Promotion zu den narrativen und filmsemiotischen Grundlagen der traditionellen Bildanimation mit besonderer Konzentration auf klassischen amerikanischen Cartoon und den japanischen Anime. Lehrkraft der Westfälischen Wilhelms-Uni- versität Münster im Bereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie audiovisuelle und akustische Medien. Publikationen und Editionen im Bereich der Literatur der Frühen Neuzeit und zum Zeichentrickfilm.

Nina Heindl hat Kunstgeschichte und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln und promoviert als MSCA-Fellow im Programm „a.r.t.e.s. EUmanities“ der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne über Künstlerische Formen des Comics ausgehend vom Werk Chris Wares (AT). Aktuelle Publika- tionen: Formen der Selbstreflexivität im Medium Comic (Spezialausgabe von closure 4 [5], 2018, Hg. mit Véronique Sina); „Abstrakte Korrelationen erfahrbar machen: Die visuelle Metapher in Chris Wares Comics“ (figurationen 18 [1], 2017). http://www.ninaheindl.com

Christina Meyer ist Gastprofessorin für Amerikanistik an der Universität Hamburg. Sie hat einen Doktor in amerikanischer Literatur und Kultur; ihre Dissertation trägt den Titel War & Trauma Images in Vietnam War Representations (2008). Weitere Publikationen u.a. New Perspectives on American Comic Books and Graphic Novels (Sonderheft der Zeitschrift Amerikastudien/Ameri- can Studies 56 [4], 2011, Hg. mit Daniel Stein und Micha Edlich) und Transnational Perspectives on Graphic Narratives: Comics at the Crossroads (2013, Hg. mit Shane Denson und Daniel Stein).

Autor_innenverzeichnis G 347

Bettina Papenburg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkulturwissenschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Von 2009 bis 2013 war sie zuerst Marie-Curie-Post- doktorandin und danach Assistant Professor of Gender Studies am Department of Media and Cultural Studies der Universität Utrecht in den Niederlanden. Von 2013 bis 2017 war sie wissen- schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf. In ihrem Habilitationsprojekt zum Thema Affekt und Erkenntnis: Visuali- sierungen in Lebenswissenschaft und Populärkultur befasst sie sich mit dem epistemischen Status und der affektiven Kraft (populär)wissenschaftlicher Bilder des Lebendigen. Weitere Pub- likationen zu verwandten Themen: „Inszenierungen des mikroskopischen Dispositivs im ani- mierten molekularbiologischen Lehrfilm“ (in Scientific Fiction: Inszenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion, 2018); sowie „Bewegende Modelle des Lebendigen: Zu episte- mischem Vermögen und affektiver Kraft (populär-)wissenschaftlicher Animationsfilme“ (in Im Wandel...: Metamorphosen der Animation, 2017).

Andreas Rauscher ist akademischer Rat im Bereich Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienästhetik (Film und Games) an der Universität Siegen. Vertretungsprofessuren an den Uni- versitäten Freiburg und Kiel. 2008–2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Filmwissenschaft und Mediendramaturgie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Freier Journalist (Test- card, epd Film, Splatting Image) und wissenschaftlicher Kurator für das Frankfurter Filmmuseum (Ausstellung Film & Games 2015). 1997–2007 Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift Screenshot – Texte zum Film. Aktuelle Veröffentlichungen u.a. Spielerische Fiktionen – Genre- konzepte in Videospielen (2012), Subversion zur Prime-Time: Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft (3. Auflage 2013, Hg. mit Michael Gruteser und Thomas Klein), Film & Games – Ein Wechselspiel (2015, Hg. mit Eva Lenhardt und dem deutschen Filminstitut/DIF), Einführung in die Game Studies (2017, Hg. mit Benjamin Beil und Thomas Hensel) und Die Tsche- choslowakische Neue Welle: Das Filmwunder der 1960er Jahre (2018, Hg. mit Jonas Engelmann und Josef Rauscher).

Maike Sarah Reinerth hat 2018 ihre Dissertation zu filmischen Imaginationsdarstellungen an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF eingereicht. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie an den Universitäten Mainz und Hamburg und der Hochschule für Angewandte Wissen- schaften Hamburg tätig und von 2017 bis 2018 Stipendiatin des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften in Potsdam. Sie lehrt, forscht und publiziert u.a. zur Ästhetik, Theorie und Geschichte des Films, zu kognitiven Medientheorien und im Bereich der Animation Studies. Als Co-Sprecherin der Kommission „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ sowie Co-Koordinatorin der AG Animation ist sie in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) aktiv. Seit 2015 ist sie Mutter eines Sohnes. http://www.maikereinerth.de

Véronique Sina ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. An der Ruhr-Universität Bochum hat sie am Institut für Medienwissenschaft mit einer Arbeit zu Comic – Film – Gender: Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm (2016) promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Gender und Queer Studies, Vi- sual Studies, Medienästhetik, Holocaust Studies, Jewish Cultural Studies, Comic‐ und Interme- dialitätsforschung. Sie ist Mitbegründerin und Sprecherin der AG Comicforschung der Gesell- schaft für Medienwissenschaft (GfM) sowie zweite Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Weitere Publikationen: Notwendige Unzulänglichkeit: Künstlerische

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und mediale Repräsentationen des Holocaust (2017, Hg. mit Nina Heindl); Formen der Selbstref- lexivität im Medium Comic (Spezialausgabe von closure 4 [5], 2018, Hg. mit Nina Heindl). http://www.veronique-sina.de

Jan-Noël Thon ist Assistant Professor in Media Studies and Digital Media Culture am Department of Cultural, Media and Visual Studies der University of Nottingham in Großbritannien sowie Teil- projektleiter im Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ der Eberhard Karls Uni- versität Tübingen in Deutschland. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte sind transmediale Narratologie, Film- und Fernsehwissenschaft, Comicforschung, Game Studies und transmediale Figuren in der digitalen Medienkultur. Buchpublikationen u.a. Storyworlds across Media: To- ward a Media-Conscious Narratology (2014, Hg. mit Marie-Laure Ryan), From Comic Strips to Graphic Novels: Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative (2. Auflage 2015, Hg. mit Daniel Stein), Game Studies: Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung (2015, Hg. mit Klaus Sachs-Hombach), Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture (2016) und Subjectivity across Media: Interdisciplinary and Transmedial Perspectives (2017, Hg. mit Maike Sarah Reinerth). http://www.janthon.de

Jeff Thoss lebt und arbeitet in Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Erzähltheorie, In- termedialität und Populärkultur. Comicrelevante Publikationen umfassen die Monografie When Storyworlds Collide: Metalepsis in Popular Fiction, Film and Comics (2015) sowie Aufsätze zu Scott Pilgrim (in Towards a Media-Conscious Narratology, 2014) und The League of Extraordinary Gentlemen (in Belphégor 13, 2015).

Lukas R.A. Wilde ist akademischer Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er studierte an der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg und der Gakugei Universität Tokyo in den Fächern Theater- und Medienwissenschaften, Japanologie und Philosophie. Von 2013 bis 2016 war er Promotionssti- pendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Im März 2017 schloss er ein medienwissen- schaftliches Dissertationsprojekt ab, das die ‚Mangaisierung‘ öffentlicher Räume in Japan und die Implementierung von transmedialen ‚Figuren‘ (kyara) in funktionaler Kommunikation zum Gegenstand hat (Im Reich der Figuren, 2017). Er ist Mitglied des Koordinationsteams der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM), Co-Organisator der - Initiative Comic Solidarity, Redakteur und Autor des Online-Magazins der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) sowie Mitglied des Redaktionsteams der Zeitschrift Medienobserva- tionen. http://www.lukasrawilde.de