IV. DIE KATHOLISCHE KIRCHE IN EINER FREMDENVERKEHRSREGION

Bis heute stellt Oberbayern – und hier insbesondere die Seenlandschaft im Süden Münchens bis hin zu den Chiemgauer Alpen, dem Karwendel und dem Wetter- steingebirge – eines der meistbesuchten Reiseziele in Deutschland dar. Die Ent- wicklung des Fremdenverkehrs hat in den letzten eineinhalb Jahrhunderten ver- schiedene Phasen durchlaufen und dabei nicht nur die Lebensverhältnisse und die Infrastruktur dieser Landstriche entscheidend mitgeprägt, sondern auch zu enormen ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen der heimischen Bevölkerung von allgemeinen Konjunkturzyklen, Wetterlagen und Modeerscheinungen im Tourismusbereich geführt. Im Laufe der Jahrzehnte wurde darüber hinaus zwi- schen den Einheimischen, der Fremdenverkehrswerbung und den Gästen eine Klischee bestückte Imagologie vom »Bayernland« ausgehandelt, zu deren inte- gralen Bestandteilen nicht nur König Ludwig (II.), Lederhose und Blasmusik, sondern auch die steinernen Zeugnisse barocker Kirchenwunder und überkom- menes Brauchtum kirchlich-religiösen Ursprungs gehören. Im folgenden Kapitel wird deshalb der Frage nachzugehen sein, wie sich der aufkommende Massentou- rismus der 1950er Jahre auf das pfarrgemeindliche Leben, die Position des Pfarrkle- rus innerhalb der vom Fremdenverkehr geprägten Ortschaften und generell auf die kirchlich-religiösen Ausdrucksformen auswirkte.

1. LANDKREIS UND DEKANAT IN ZAHLEN

Hinsichtlich einer Auswertung von Strukturdaten erweist sich der Umstand als günstig, dass in den 1950er Jahren das Anfang des 19. Jahrhunderts vom Erzbistum und der Fürstpropstei Berchtesgaden auf die Erzdiözese München und Freising gekommene Dekanat Berchtesgaden mit dem gleichnamigen Landkreis – einschließlich der kreisfreien Stadt – nahezu deckungsgleich war. Im Jahre 1950 zählte das Dekanat zehn Pfarreien mit insgesamt 43.340 See- len1. Gleich den meisten anderen Landdekanaten der Erzdiözese nahm in Berch- tesgaden im Laufe der 1950er Jahre die Zahl der Katholiken um einige Prozent- punkte ab (1959: 40.937 Seelen = – 2403 oder – 5,5 %). Im Gegensatz zum Dekanat Ebersberg verzeichnete Berchtesgaden jedoch sowohl beim Kirchenbe- such (1951: 38 %; 1959: 42 %) als auch bei der Erfüllung der Osterpflicht (1951:

1 Pfarreien: Au, Bad Reichenhall – St. Nikolaus, Bad Reichenhall – St. Zeno, Berchtesgaden, Bischofs- wiesen, Markt Schellenberg, Marzoll, Piding, Ramsau, Unterstein. Im Jahre 1959 kam mit eine elfte Pfarrei hinzu. Die folgenden Zahlen sind entnommen: AEM, Registratur des Generalvikars, Statistiken; SCHEMATISMUS DER ERZDIÖZESE MÜNCHEN UND FREISING 1950; KIRCH- LICHES HANDBUCH FÜR DAS KATHOLISCHE DEUTSCHLAND, Bde. XXIII-XXV. 1. Landkreis und Dekanat Berchtesgaden in Zahlen 177

49 %; 1959: 51 %) einen leichten Anstieg. Wie anderswo lag auch im Berchtesga- dener Land die Zahl der Kirchenaus- und -übertritte das ganze Jahrzehnt über im zu vernachlässigenden Promillebereich. Der schon im Jahre 1936 mit 7,3 % be- trächtliche Anteil an Nichtkatholiken – v.a. protestantische Zöllner, norddeutsche Pensionäre und hierher versetzte NS-Funktionäre – pendelte sich nach dem Flüchtlingszustrom der unmittelbaren Nachkriegszeit bei einem relativ hohen Wert von um die 20 % ein. Dieser wurde in der Erzdiözese nur noch von dem ebenfalls in einer Hochgebirgs- und Tourismusregion gelegenen Dekanat Wer- denfelser Land und den Münchener Stadtdekanaten erreicht. Angesichts des ho- hen Anteils an Protestanten fiel die Zahl der jährlich geschlossenen Mischehen, die mit 13 % bis 17 % im Diözesanmittel lag, überraschend niedrig aus. Wegen der schon sehr frühen Niederlassung von Protestanten im 19. Jahrhundert2 waren Mischehen in dieser Region allerdings kein gänzlich neues Phänomen; anders als die vom Klerus ebenfalls beklagten »Onkelehen« oder »Rentenkonkubinate«, d.h. jene in der Nachkriegszeit häufig vorkommenden Verbindungen, die ganz be- wusst unehelich blieben, um der Frau die Ansprüche auf ihre Kriegswitwenrente zu erhalten3. Was den Priesterstand anbetrifft, so stand Anfang der 1950er Jahre noch der Stadtpfarrer von St. Nikolaus in Bad Reichenhall, Matthias Kuhn4, dem Dekanat vor. Als markante Priestergestalt und wortgewaltiger Prediger weithin bekannt, war der gebürtige Partenkirchener nicht nur mit den Eigenheiten der Einheimi- schen und des Kurbetriebes bestens vertraut, sondern war als »Freund der Berge« auch ein gern gesehener Gast bei den Bergbauern und Almern5. 1951 wurde der bereits auf die 70 zugehende Kuhn in der Dekanswürde durch den Pfarrer von , Josef Ametsbichler6, abgelöst. Als Gründungspfarrer des Seel- sorgesprengels Bischofswiesen stellte für den als ebenso heimatverbunden wie gütig und standpunktfest beschriebenen Amtesbichler der Aufbau dieser Ge- meinde ein Lebenswerk dar. Wichtige Meilensteine auf dieser Wegstrecke, die

2 Bereits im Jahre 1875 war eine erste protestantische Filialgemeinde in Bad Reichenhall errichtet worden, der sechs Jahre später die Einweihung eines evangelischen Gotteshauses folgte. Vgl. 800 JAHRE ST. NIKOLAUS, S. 26-42; A. SPIEGEL-SCHMIDT. 3 Zeitgenössisch wurde das Phänomen der »unschamhaften« und »unmoralischen« »Onkelehe« be- arbeitet in dem 1954 erschienenen Roman von Heinrich Böll »Haus ohne Hüter« und bei R. BOH- NE. Siehe auch C. KULLER, Familien, S. 306 f. 4 Matthias Kuhn * am 8. November 1882 in Partenkirchen, † am 30. Oktober 1956. Priesterweihe am 29. Juni 1907, 1907-1909 Koadjutor in Kirchdorf a. Haunpold, 1909-1912 Aushilfspriester in Au- bing, 1912-1924 Pfarrer in Allach, 1924-1929 Pfarrer in Ramsau, 1929-1951 Stadtpfarrer in Bad Reichenhall – St. Nikolaus, seit 1951 Kommorant in Bad Reichenhall. Vgl. AEM, PA III 974. 5 Vgl. »Dekan Kuhn gestorben«, in: BA, Nr. 172, 31. Oktober 1956. 6 Josef Ametsbichler * am 24. September 1889 in Dettendorf, † am 30. Mai 1969. Priesterweihe am 29. Juni 1915, 1915-1916 Koadjutor in Rieden, 1916-1920 Koadjutor in Wildsteig, 1920-1924 Kap- lan in Berchtesgaden, 1924-1927 Kooperator in Berchtesgaden, 1935-1945 Expositus in Bischofs- wiesen, 1945-1966 Pfarrer in Bischofswiesen. Vgl. AEM, PA-P III 26. Zu Wirken und Persönlichkeit siehe »Dekan Ametsbichler 40 Jahre Priester«, in: BA, Nr. 99, 27. Juni 1955; »GR Ametsbichler zum Gedenken«, in: BA, Nr. 84, 2. Juni 1969.