Plenarprotokoll 15/48

Deutscher

Stenografischer Bericht

48. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 3978 A der Vizepräsidentin Dr. und des Abgeordneten Klaus Haupt ...... 3967 A BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 3979 D Berufung des AbgeordnetenJosef Philip Winkler als stellvertretendes Mitglied bei der fraktionslos ...... 3980 C Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen im Markus Meckel SPD ...... 3981 B Wahlprüfungsausschuss ...... 3967 B Verlängerung der Berufung des Abgeordneten Karl-Theodor Freiherr von und zu Professor Dr. Manfred Wilke im Beirat bei Guttenberg CDU/CSU ...... 3983 D der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Tagesordnungspunkt 5: DDR für die nächste Amtszeit ...... 3967 B a) Antrag der Abgeordneten Katherina Erweiterung der Tagesordnung ...... 3967 B Reiche, , weiterer Ab- Gedenken zum Tode des ehemaligen Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ geordneten der FDP Jürgen W. Möllemann 4037 C CSU: Ausbildungsplatzabgabe zer- stört Ausbildungsmotivation (Drucksache 15/925) ...... 3984 A Tagesordnungspunkt 4: b) Unterrichtung durch die Bundesregie- Zweite Beratung und Schlussabstimmung rung: Berufsbildungsbericht 2003 des von der Bundesregierung eingebrach- (Drucksache 15/1000) ...... 3984 A ten Entwurfs eines Gesetzes zu den Pro- tokollen vom 26. März 2003 zum Nord- in Verbindung mit atlantikvertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik Est- land, der Republik Lettland, der Repu- Zusatztagesordnungspunkt 2: blik Litauen, Rumäniens, der Slowaki- schen Republik und der Republik Antrag der Abgeordneten , Slowenien Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 15/906, 15/1063, 15/1117) 3968 C Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, weiterer Monika Heubaum SPD ...... 3968 D Abgeordneter und der Fraktion des Volker Rühe CDU/CSU ...... 3970 A BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Las- ten gerecht verteilen – Mehr Unterneh- Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 3972 C men für Ausbildung gewinnen (Drucksache 15/1090) ...... 3984 B Dr. FDP ...... 3974 C Rolf Kramer SPD ...... 3976 C in Verbindung mit II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. , Donnerstag, den 5. Juni 2003

Zusatztagesordnungspunkt 3: e) Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau:Rechtsstel- Antrag der Abgeordneten , lung der Abgeordneten der PDS im (Homburg), weiterer 15. Bundestag Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausbildung belohnen statt bestrafen – (Drucksache 15/873) ...... 4005 A Ausbildungsplätze in Betrieben schaf- f) Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine fen statt Warteschleifen finanzieren Lötzsch und Petra Pau: Änderung der (Drucksache 15/1130) ...... 3984 B Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages CDU/CSU ...... 3984 C (Drucksache 15/874) ...... 4005 A , Bundesministerin BMBF 3986 A g) Antrag des Präsidenten des Bundes- Cornelia Pieper FDP ...... 3988 C rechnungshofes: Rechnung des Bun- desrechnungshofes für das Haus- Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3990 C haltsjahr 2001 – Einzelplan 20 Werner Lensing CDU/CSU ...... 3991 C (Drucksache 15/1047) ...... 4005 A Nicolette Kressl SPD ...... 3993 C h) Antrag des Präsidenten des Bundes- rechnungshofes: Rechnung des Bun- Jörg Tauss SPD ...... 3995 B desrechnungshofes für das Haus- CDU/CSU ...... 3995 C haltsjahr 2002 – Einzelplan 20 (Drucksache 15/1048) ...... 4005 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 3996 C in Verbindung mit CDU/CSU ...... 3997 C

Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 3998 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Anton Schaaf SPD ...... 3999 B a) Antrag der Abgeordneten Ernst Kranz, Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 4001 B Wolfgang Spanier, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD sowie der Jörg Tauss SPD ...... 4002 C Abgeordneten Franziska Eichstädt- Willi Brase SPD ...... 4003 A Bohlig, (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Tagesordnungspunkt 26: Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg a) Erste Beratung des von der Bundesre- (Drucksache 15/1091) ...... 4005 B gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Siebten b) Antrag der Abgeordneten Petra Weis, Buches Sozialgesetzbuch und des Eckhardt Barthel (Berlin), weiterer Ab- Sozialgerichtsgesetzes geordneter und der Fraktion der SPD (Drucksache 15/1070) ...... 4004 C sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), b) Erste Beratung des von der Bundesre- weiterer Abgeordneter und der Frak- gierung eingebrachten Entwurfs eines tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Gesetzes über die Verordnungsfä- NEN: Die Qualitätsoffensive für gu- higkeit von Arzneimitteln in der ver- tes Planen und Bauen voranbringen tragsärztlichen Versorgung (Drucksache 15/1092) ...... 4005 B (Drucksache 15/1071) ...... 4004 D c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 27: Zweiten Gesetzes über die Zustim- mung zur Änderung des Direkt- a) Zweite Beratung und Schlussabstim- wahlakts mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einesGeset- (Drucksache 15/1059) ...... 4004 D zes zu dem Europa-Mittelmeer-Ab- d) Erste Beratung des von der Bundes- kommen vom 22. April 2002 zur regierung eingebrachten Entwurfs ei- Gründung einer Assoziation zwi- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom schen der Europäischen Gemein- 29. Juni 2000 über ein Europäisches schaft und ihren Mitgliedstaaten ei- Fahrzeug- und Führerscheininfor- nerseits und der Demokratischen mationssystem (EUCARIS) Volksrepublik Algerien andererseits (Drucksache 15/1058) ...... 4004 D (Drucksachen 15/884, 15/1119) . . . . . 4005 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 III b) Zweite Beratung und Schlussabstim- und der Richtlinie 92/82/EWG zur mung des von der Bundesregierung Schaffung einer Sonderregelung für eingebrachten Entwurfs einesGeset- die Besteuerung von Dieselkraft- zes zu dem Europa-Mittelmeer-Ab- stoff für gewerbliche Zwecke und kommen vom 17. Juni 2002 zur zur Annäherung der Verbrauchsteu- Gründung einer Assoziation zwi- ern auf Benzin und Dieselkraftstoff schen der Europäischen Gemein- KOM (2002) 410 endg.; Ratsdok. schaft und ihren Mitgliedstaaten ei- 11571/02 nerseits und der Libanesischen (Drucksachen 15/173 Nr. 2.26, 15/401) 4007 B Republik andererseits (Drucksachen 15/885, 15/1120) . . . . . 4005 D g)–j) c) Zweite und dritte Beratung des von der Beschlussempfehlungen des Petitions- Sammelübersichten 36, Bundesregierung eingebrachten Ent- ausschusses: 41, 42 und 43 zu Petitionen wurfs eines Gesetzes über die Regis- trierung von Betrieben zur Haltung (Drucksachen 15/1017, 15/1018, 15/1019, von Legehennen (Legehennenbe- 15/1020) ...... 4007 B, D triebsregistergesetz – LegRegG) Drucksachen 15/905, 15/1037) ...... 4006 A Zusatztagesordnungspunkt 11: d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Beschlussempfehlung des Ausschusses für wurfs eines Gesetzes zu dem Interna- Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- tionalen Vertrag vom 3. November ordnung: Antrag auf Genehmigung zum 2001 über pflanzengenetische Res- Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- sourcen für Ernährung und Land- und Beschlagnahmebeschlüsse wirtschaft (Drucksache 15/1135) ...... 4008 A (Drucksachen 15/882, 15/1036) . . . . . 4006 B e) – Zweite und dritte Beratung des von Zusatztagesordnungspunkt 5: den Abgeordneten Barbara Wittig, Dr. Dieter Wiefelspütz, weiteren a) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten und der Fraktion der Bundesregierung eingebrachten Ent- SPD, den Abgeordneten Hartmut wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Büttner (Schönebeck), Volker Änderung des Vierten Buches So- Kauder, weiteren Abgeordneten zialgesetzbuch und der Fraktion der CDU/CSU, (Drucksachen 15/898, 15/1137) . . . . . 4008 A den Abgeordneten Silke Stokar von b) Beschlussempfehlung und Bericht des Neuforn, Volker Beck (Köln), wei- Ausschusses für Verbraucherschutz, teren Abgeordneten und der Frak- Ernährung und Landwirtschaft zu dem tion des BÜNDNISSES 90/DIE Antrag der Abgeordneten Gabriele GRÜNEN sowie den Abgeordne- Hiller-Ohm, Gabriele Lösekrug- ten Gisela Piltz, Dr. , Möller, weiterer Abgeordneter und der Dr. und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Fraktion der FDP eingebrachten , Ulrike Höfken, weite- Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterla- rer Abgeordneter und der Fraktion des gen-Gesetzes (6. StUÄndG) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- wie der Abgeordneten Dr. Christel (Drucksache 15/806) ...... 4006 D Happach-Kasan, Dr. Wolfgang – Zweite und dritte Beratung des von Gerhardt und der Fraktion der FDP: den Abgeordneten , Umfassender Schutz der Wal- (Münster), weiteren bestände – Verbot kommerziellen Abgeordneten und der Fraktion der Walfangs konsequent durchsetzen FDP eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 15/995 (neu), 15/1128) 4008 B Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (6. StUÄndG) Tagesordnungspunkt 14: (Drucksachen 15/313, 15/1003) ...... 4006 D, 4007 A Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs f) Beschlussempfehlung und Bericht des eines Gesetzes zur Neuregelung des Finanzausschusses zu der Unterrich- Rechts der Kriegsdienstverweigerung tung durch die Bundesregierung:Vor- (Kriegsdienstverweigerungs-Neurege- schlag für eine Richtlinie des Rates zur lungsgesetz – KDVNeuRG) Änderung der Richtlinie 92/81/EWG (Drucksachen 15/908, 15/1051, 15/1125) 4008 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Zusatztagesordnungspunkt 6: , Parl. Staatssekretärin BMI ...... 4024 A Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 4024 C und der CDU/CSUfür die vom Deut- schen Bundestag gemäß §§ 31 und 36 Dr. Max Stadler FDP ...... 4026 B des Gesetzes über die Rundfunkanstalt , Parl. Staatssekretärin des Bundesrechts „Deutsche Welle“ BMFSFJ ...... 4027 C (Deutsche-Welle-Gesetz – DWG) zu wählenden Mitglieder des Rundfunkra- CDU/CSU ...... 4029 A tes und des Verwaltungsrates der Deut- Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ schen Welle DIE GRÜNEN ...... 4030 B (Drucksache 15/1122) ...... 4008 D Dr. Lale Akgün SPD ...... 4031 B Reinhard Grindel CDU/CSU ...... 4031 D Zusatztagesordnungspunkt 7: (Altötting) CDU/CSU . . . . . 4033 B Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ Dr. Michael Bürsch SPD ...... 4035 C DIE GRÜNEN und der FDP:Wahl von Reinhard Grindel CDU/CSU ...... 4036 C Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur“ Tagesordnungspunkt 8: (Drucksache 15/1123) ...... 4009 A a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Tagesordnungspunkt 6: Ausschusses zu dem Antrag der Bun- desregierung: Fortsetzung der deut- Bericht des Petitionsausschusses: schen Beteiligung an der Interna- Bitten und Beschwerden an den Deut- tionalen Sicherheitspräsenz im schen Bundestag Kosovo zur Gewährleistung eines si- cheren Umfeldes für die Flüchtlings- Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des rückkehr und zur militärischen Ab- Deutschen Bundestages im Jahr 2002 sicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der (Drucksache 15/920) ...... 4009 A Resolution 1244 (1999) des Sicher- Marita Sehn FDP ...... 4009 A heitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Mili- Gabriele Lösekrug-Möller SPD ...... 4010 B tärisch-Technischen Abkommens Günter Baumann CDU/CSU ...... 4011 B zwischen der Internationalen Si- cherheitspräsenz (KFOR) und den Josef Philip Winkler BÜNDNIS 90/ Regierungen der Bundesrepublik DIE GRÜNEN ...... 4013 A Jugoslawien und der Republik Ser- Dr. FDP ...... 4014 B bien vom 9. Juni 1999 (Drucksachen 15/1013, 15/1118) . . . . 4037 C Uwe Göllner SPD ...... 4015 B b) Bericht des Haushaltsausschusses ge- CDU/CSU ...... 4016 C mäß § 96 der Geschäftsordnung Gabriele Frechen SPD ...... 4017 B (Drucksache 15/1132) ...... 4037 D Sibylle Pfeiffer CDU/CSU ...... 4018 C Petra Heß SPD ...... 4038 A Klaus Hagemann SPD ...... 4019 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU ...... 4039 A Holger Haibach CDU/CSU ...... 4021 A Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4040 A

Tagesordnungspunkt 7: Günther Friedrich Nolting FDP ...... 4041 A Detlef Dzembritzki SPD ...... 4041 C Antrag der Abgeordneten , Hartmut Koschyk, weiterer Ab- Dr. CDU/CSU . . . . . 4042 B geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik transparent Tagesordnungspunkt 9: machen Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz (Drucksache 15/655) ...... 4022 A Riesenhuber, Karl-Josef Laumann, weite- Dr. Ole Schröder CDU/CSU ...... 4022 B rer Abgeordneter und der Fraktion der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 V

CDU/CSU: Für eine neue Beteiligungs- Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 4065 B kultur – Eigenkapitalsituation von jun- gen Technologieunternehmen durch Mo- Christian Lange (Backnang) SPD ...... 4067 A bilisierung von Beteiligungskapital und FDP ...... 4067 C Mitarbeiterbeteiligungen verbessern (Drucksache 15/815) ...... 4043 D Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 4068 B Dr. CDU/CSU ...... 4044 A Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 4070 A Jörg Tauss SPD ...... 4047 B Klaus Brandner SPD ...... 4070 B Dr. Heinz Riesenhuber CDU/CSU ...... 4047 D Dr. SPD ...... 4048 C Tagesordnungspunkt 11: Gudrun Kopp FDP ...... 4050 B Erste Beratung des von den Abgeordneten , Dirk Niebel, weiteren Christine Scheel BÜNDNIS 90/ Abgeordneten und der Fraktion der FDP DIE GRÜNEN ...... 4051 C eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD ...... 4053 A zur Änderung des Jugendarbeitsschutz- gesetzes (Drucksache 15/756) ...... 4072 A Tagesordnungspunkt 10: Ernst Burgbacher FDP ...... 4072 B Erste Beratung des von den Fraktionen der Wolfgang Grotthaus SPD ...... 4073 A SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU ...... 4074 A Gesetzes zur Änderung der Hand- werksordnung und zur Förderung von Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ Kleinunternehmen DIE GRÜNEN ...... 4075 B (Drucksache 15/1089) ...... 4054 C Engelbert Wistuba SPD ...... 4076 B in Verbindung mit Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU ...... 4077 C Engelbert Wistuba SPD ...... 4078 A Zusatztagesordnungspunkt 8: Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Ernst Hinsken, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter a) Zweite und dritte Beratung des von der und der Fraktion der CDU/CSU:Hand- Bundesregierung eingebrachten Ent- werk mit Zukunft wurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung (Drucksache 15/1107) ...... 4054 D des Missbrauchs von 0190er-/0900er- Mehrwertdiensterufnummern in Verbindung mit (Drucksachen 15/907, 15/1068, 15/1126) 4078 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Zusatztagesordnungspunkt 9: Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Antrag der Abgeordneten Rainer Dr. Martina Krogmann, Ursula Brüderle, , weiterer Heinen, weiterer Abgeordneter und der Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Fraktion der CDU/CSU:Den Miss- Meisterbrief erhalten und Handwerks- brauch von Mehrwertdiensteruf- ordnung zukunftsfest machen nummern grundlegend und umfas- (Drucksache 15/1108) ...... 4055 A send bekämpfen Klaus Brandner SPD ...... 4055 A (Drucksachen 15/919, 15/1126) . . . . . 4078 B Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 4056 D SPD ...... 4078 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4059 A Dr. Martina Krogmann CDU/CSU ...... 4079 D CDU/CSU ...... 4061 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4081 B Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4062 A Marita Sehn FDP ...... 4082 B Dirk Niebel FDP ...... 4062 C Manfred Helmut Zöllmer SPD ...... 4083 A Christian Lange (Backnang) SPD ...... 4063 A Ursula Heinen CDU/CSU ...... 4084 A Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWA 4063 D Hubertus Heil SPD ...... 4085 C VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Tagesordnungspunkt 13: Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Klaus Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Hofbauer, Karl-Josef Laumann, wei- Gauweiler, Günter Nooke, weiterer Abge- terer Abgeordneter und der Fraktion ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: der CDU/CSU: Strukturpolitik zu- Gedenken an die Opfer des Bomben- kunftsfähig gestalten kriegs im Zweiten Weltkrieg (Drucksache 15/749) ...... 4086 D (Drucksache 15/986) ...... 4103 C b) Unterrichtung durch die Bundesregie- Dr. CDU/CSU ...... 4103 D rung: Zweiunddreißigster Rahmen- plan der Gemeinschaftsaufgabe Angelika Krüger-Leißner SPD ...... 4105 A „Verbesserung der regionalen Wirt- schaftsstruktur“ für den Zeitraum Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 4106 D 2003 bis 2006 (Drucksache 15/861) ...... 4086 D BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4107 C Michael Stübgen CDU/CSU ...... 4087 A Günter Baumann CDU/CSU ...... 4108 A Christian Müller (Zittau) SPD ...... 4088 B Jürgen Türk FDP ...... 4089 D Tagesordnungspunkt 17: Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4090 C Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, CDU/CSU Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und BMWA ...... 4092 A der Fraktion der CDU/CSU: Wassertou- rismus in Deutschland entwickeln und Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär stärken BMWA ...... 4093 B (Drucksache 15/933) ...... 4109 A Michael Kretschmer CDU/CSU ...... 4094 D Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... 4095 C Nächste Sitzung ...... 4109 C

Tagesordnungspunkt 15: Anlage 1 Antrag der Abgeordneten Wolfgang Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4111 A Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ Entschädigung deutscher Zwangs- CSU: Anlage 2 arbeiter (Drucksache 15/924) ...... 4096 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung CDU/CSU ...... 4096 D über den Antrag: Wassertourismus in Deutschland entwickeln und stärken (Tages- SPD ...... 4098 D ordnungspunkt 17) ...... 4111 B (Recklinghausen) Annette Faße SPD ...... 4111 B CDU/CSU ...... 4100 A Wilhelm Josef Sebastian CDU/CSU Martin Hohmann CDU/CSU ...... 4101 B ...... 4113 A Dr. Max Stadler FDP ...... 4102 B Undine Kurth (Quedlinburg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4114 C Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4102 D Ernst Burgbacher FDP ...... 4115 D

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3967

(A) (C) Redetext

48. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Tourismus Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer feierte am 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Haupt Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike Flach, weiterer Ab- 31. Mai ihren 60. Geburtstag und der Kollege am geordneter und der Fraktion der FDP: Ausbildung belohnen 29. Mai ebenfalls seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere statt bestrafen – Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen der Kollegin und dem Kollegen im Namen des Hauses statt Warteschleifen finanzieren – Drucksache 15/1130 – nachträglich sehr herzlich. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und (Beifall) Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Sodann müssen zwei Nachwahlen vorgenommen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden. Im Wahlprüfungsausschuss ist die bei der Frak- Ausschuss für Tourismus (B) tion des Bündnisses 90/Die Grünen noch offene Position (D) 4 a) Beratung des Antrags derAbgeordneten Ernst Kranz, des stellvertretenden Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Kollege Josef Philip Winkler vorgeschlagen. Sind der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider- Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), Ursula Sowa, weiterer spruch. Dann ist der Kollege Josef Philip Winkler als Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg stellvertretendes Mitglied in den Wahlprüfungsaus- – Drucksache 15/1091 – schuss gewählt. Überweisungsvorschlag: Für den Beirat bei der Bundesbeauftragten für die Un- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) terlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Finanzausschuss DDR schlägt die Fraktion der CDU/CSU das bisherige Haushaltsausschuss Mitglied Professor Dr. Manfred Wilke für eine weitere b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Eckhardt Amtszeit vor. Sind Sie auch damit einverstanden? – Ich Barthel (Berlin), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska höre keinen Widerspruch. Dann ist Professor Wilke ge- Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), , mäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in den weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES Beirat gewählt. 90/DIE GRÜNEN: Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen – Drucksache 15/1092 – Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Überweisungsvorschlag: Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) nen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und Ausschuss für Bildung, Forschung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Forderungen aus Technikfolgenabschätzung Union und FDP zum Verzicht auf Schuldenerlasse und zur Ausschuss für Kultur und Medien Eintreibung von Schulden im Ausland (siehe 47. Sitzung) 5 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jörg gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung Tauss, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Drucksache 15/898 der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea – (Erste Beratung 43. Sitzung) Dückert, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Lasten ge- Gesundheit und Soziale Sicherung recht verteilen – Mehr Unternehmen für Ausbildung ge- winnen – Drucksache 15/1090 – – Drucksache 15/1137 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Ausschuss für Bildung, Forschung und Abgeordneter Jens Spahn 3968 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-(C) schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- punkt 14 – Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsge- schaft (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Gabriele Lösekrug-Möller, Sören setz – mit den Beratungen ohne Aussprache aufzurufen Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der und den Tagesordnungspunkt 23 – Graffiti-Bekämp- Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Friedrich fungsgesetz – abzusetzen. Sind Sie mit diesen Vereinba- Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion desrungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dann ist so beschlossen. Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Umfassender Schutz der Walbestände – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Verbot kommerziellen Walfangs konsequent durchsetzen – Drucksachen 15/995 (neu), 15/1128 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Berichterstattung: von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm eines Gesetzes zu den Protokollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über Dr. Christel Happach-Kasan den Beitritt der Republik Bulgarien, der Re- 6 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU publik Estland, der Republik Lettland, der für die vom Deutschen Bundestag gemäß §§ 31 und 36 des Republik Litauen, Rumäniens, der Slowaki- Gesetzes über die Rundfunkanstalt des Bundesrechts schen Republik und der Republik Slowenien „Deutsche Welle“ (Deutsche-Welle-Gesetz – DWG) zu wählenden Mitglieder des Rundfunkrates und des Verwal- – Drucksachen 15/906, 15/1063 – tungsrates der Deutschen Welle – Drucksache 15/1122 – (Erste Beratung 44. Sitzung) 7 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP:Wahl von Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufar- gen Ausschusses (3. Ausschuss) beitung der SED-Diktatur“ – Drucksache 15/1123 – 8 Beratung des Antrags der geordneten Ab Ernst Hinsken, – Drucksache 15/1117 – Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter Berichterstattung: und der Fraktion der CDU/CSU:Handwerk mit Zukunft – Drucksache 15/1107 – Abgeordnete Markus Meckel Dr. Friedbert Pflüger Überweisungsvorschlag: Dr. Ludger Volmer Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Dr. Werner Hoyer Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Finanzausschuss (B) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich (D) Landwirtschaft höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Monika Heubaum, SPD-Fraktion, das Wort. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Monika Heubaum (SPD): Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Kollegen! Der Beitritt Bulgariens, Estlands, Lettlands, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordne- Litauens, Rumäniens, der Slowakei und Sloweniens zur ter und der Fraktion der FDP: Meisterbrief erhalten und NATO ist ein wichtiger Meilenstein zur Festigung der Handwerksordnung zukunftsfest machen Stabilität und Sicherheit des euroatlantischen Raums. – Drucksache 15/1108 – Überweisungsvorschlag: (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss Mit ihm wird ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Rechtsausschuss erfolgreichsten Sicherheitsprojektes nach dem Ende des Finanzausschuss Kalten Krieges geschrieben. Zugleich rückt mit der Auf- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und nahme dieser sieben Staaten die große transatlantische Landwirtschaft Vision eines „Europe whole and free“ wieder ein Stück Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen näher. Die NATO der Zukunft nimmt weiter Gestalt an. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Das sollte für uns alle ein Grund zur Freude sein. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Tourismus DIE GRÜNEN) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Blicken wir zurück: Vor vier Jahren hat das Bündnis 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, mit der Aufnahme Ungarns, der Tschechischen Republik des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN und FDP: Sofortige und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi sowie Polens bereits einen entscheidenden Schritt hin – Drucksache 15/1105 – zur Überwindung der Teilung Europas gemacht. Damals war und heute ist Deutschland einer der entscheidends- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- ten Verfechter der Öffnung des Bündnisses für weitere weit erforderlich, abgewichen werden. Mitgliedstaaten. Niemand in diesem Hause dürfte ernst- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3969

Monika Heubaum (A) haft Zweifel daran haben, dass sich der Beitritt diesernis heran und ermöglicht die Festigung persönlicher(C) drei Länder als großer Gewinn für das Bündnis erwiesen Kontakte. hat. Die Stabilitäts- und Sicherheitszone, die die NATO für ihre Mitglieder schafft, wurde ausgeweitet und der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage einer eu- Demokratisierungsprozess in den Beitrittsstaaten ge-ropäischen Friedensordnung ist nicht allein Sache der stärkt. NATO. Die Osterweiterung der Europäischen Union leistet einen großen Beitrag zur euroatlantischen Sicher- Im Jahre 1999 hätte es wohl keiner von uns für mög- heit. Sie ist eine historische Investition in eine präven- lich gehalten, dass die Allianz in einer der Hauptstädte tive Friedens- und Sicherheitspolitik. EU und NATO der Beitrittsstaaten nur wenige Jahre später eine Ent-müssen eine strategische Partnerschaft eingehen. Dafür scheidung von historischer Dimension fällen würde. Mit setzen wir uns mit Nachdruck ein. Sie bildet die Basis dem Prager Gipfel vom vergangenen November hat die für ein konstruktives Zusammenwirken zwischen einem NATO entscheidende Weichen für das 21. Jahrhun- starken Amerika und einem gestärkten Europa. dert gestellt: nicht nur durch den Beschluss zur Auf- nahme von sieben neuen Mitgliedstaaten, sondern auch Bei allem, was NATO und EU für die Verbesserung durch die Festlegung ganz konkreter Maßnahmen vor der europäischen Sicherheit unternehmen, ist die Partner- Russland dem Hintergrund der Bedrohung durch den internationa- schaft mit einem sich demokratisierenden von len Terrorismus. Zudem hat die Allianz hier konkreteherausragender Bedeutung. Dies ist eine der transatlanti- Handlungsziele für das im Jahr 1999 verabschiedeteschen Gestaltungsaufgaben im 21. Jahrhundert. Einem neue strategische Konzept beschlossen. An dieser Stelle modernen, demokratischen und marktwirtschaftlichen möchte ich nur beispielhaft die Schaffung einer NATO- Russland kommt bei der Gestaltung der europäischen Si- Response-Force, die Umsetzung des Aktionsplanes zur cherheit eine große Rolle zu. Die Kooperation des Bünd- Ukraine zivilen Notfallplanung sowie die Initiativen für die Ver- nisses mit Russland, aber auch mit der ist un- teidigung gegen nukleare, biologische und chemische verzichtbar. Der NATO-Russland-Rat und der von der Waffen nennen. NATO-Ukraine-Kommission beschlossene Aktionsplan sind hier wesentliche Meilensteine und stehen als Sym- Mit dem Gipfel von Prag hat die NATO ihre Hand- bol für eine funktionierende und vertrauensvolle Zusam- lungs- und Zukunftsfähigkeit eindrucksvoll unter Be-menarbeit. Diese muss auch in Zukunft weiter ausgebaut weis gestellt. Ich möchte anfügen: Die Frühjahrstagung werden. der Parlamentarischen Versammlung der NATO – vor gut einer Woche ebenfalls in Prag – hat ein weiteres Bei- An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Arbeit Joint Monitoring Groups spiel dafür geliefert, wie gut sich neben Ungarn und Po- der bezüglich Russlands und len auch die Tschechische Republik in das Bündnis inte- der Ukraine des NATO-Parlaments hervorheben, die (B) (D) griert hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch mit ebenfalls ein gutes Beispiel für eine fruchtbare Zusam- der weiteren Beitrittsrunde eine Erfolgsgeschichte für menarbeit darstellen. das Bündnis verbunden sein wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand wird an Die transatlantische Gemeinschaft wird gestärkt, sie dieser Stelle daran zweifeln, dass Deutschland als ein wird aber auch den weiteren neu definierten Aufgaben Land in der Mitte Europas von der zweiten Beitritts- gerecht werden und sich den komplexen Herausforderun- runde besonders profitieren wird. Aber nicht nur vor die- gen sowohl als Bündnis gemeinsamer Verteidigung und sem Hintergrund heißen wir die neuen Mitgliedstaaten des gegenseitigen Beistandes, insbesondere gegen den der NATO herzlich willkommen. internationalen Terrorismus, als auch als Forum umfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sender Krisen- und Konfliktprävention stellen können. DIE GRÜNEN) Fest steht, die Eintrittskarten in die NATO haben die Nach erfolgreichem Ratifizierungsverfahren könnten Beitrittsländer nicht zum Nulltarif erhalten. Es darf nicht Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die verkannt werden, dass jedes der sieben Länder erhebli- Slowakei und Slowenien bereitsim Mai 2004 formell che Anstrengungen unternehmen musste, um die Voraus- Mitglieder der Allianz sein. Das wäre für Europa ein setzungen für die Mitgliedschaft zu erfüllen. Aber die wichtiges politisches Signal. Gleichzeitig – das möchte Aufnahme in das Bündnis bedeutet für die Beitrittslän- ich zum Schluss meiner Ausführungen ausdrücklich sa- der Stabilität und bildet damit auch die Grundlage für gen – bleibt die Tür des Bündnisses offen für weitere gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Prosperität. Nur Mitglieder. solche sicheren Rahmenbedingungen eröffnen den Weg für Investitionen und fördern die Einbringung von aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ländischem Kapital. Die Perspektive der Aufnahme in DIE GRÜNEN) das Bündnis hat die Reformanstrengungen und den Demokratisierungsprozess in diesen Ländern erheblich Präsident Wolfgang Thierse: beschleunigt. Besondere Bedeutung bekommt hier ne- Ich erteile das Wort Kollegen Volker Rühe, CDU/ ben dem Membership Action Plan die Parlamentarische CSU-Fraktion. Versammlung der NATO. Sie führt die Parlamentarier der Beitrittskandidaten an die Denkstrukturen im Bünd- (Beifall bei der CDU/CSU) 3970 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Volker Rühe (CDU/CSU): Jetzt tun sich manche schwer mit der Nähe dieser(C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neuen Mitgliedstaaten zu den Vereinigten Staaten von Freude, die die Kollegin Heubaum zum Ausdruck ge- Amerika. Ich weiß, das ist bei Ihnen nicht der Fall, Herr bracht hat, teilt der ganze Bundestag. Dass sich dieAußenminister. Wir müssen aber berücksichtigen, dass NATO um sieben Staaten erweitert, ist ein ganz entschei- jeder mit seiner ganz eigenen Geschichte in die NATO dender Beitrag zur Einheit und Sicherheit Europas. kommt. Fast wirkt das selbstverständlich; aber man muss sich ( [CDU/CSU]: Auch der noch einmal vor Augen führen, wie hart die Debatten vor Außenminister!) zehn Jahren waren und von wem die Initiative ausging. Das gilt am allermeisten für Deutschland. Man muss Sie ist nicht von den Mitgliedstaaten der NATO aus- sich nur einmal daran erinnern, mit welcher Geschichte gegangen, sie ist von außen gekommen. Es waren Staats- wir 1955 in die NATO gekommen sind. Bis heute sind männer wie Arpád Göncz in Ungarn, Lech Walesa in Po- unsere militärischen Entscheidungen davon geprägt. len und Vaclav Havel in Tschechien, die an die Tür der NATO geklopft und gesagt haben: Wir wollen rein, wir Deswegen sage ich: Den neuen Mitgliedstaaten – das wollen zu euch, wir wollen dieselbe Sicherheit und Frei- sind überwiegend Staaten aus dem ehemaligen War- heit haben wie ihr. Kaum jemand hat zunächst auf sie ge- schauer Pakt –, die vier oder fünf Jahrzehnte länger so- hört. Man hat alle möglichen Einwände dagegen vorge- zusagen eingesperrt waren und die nicht frei entscheiden bracht. konnten, darf man keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sicherheits- und freiheitsdominiert sind und dass sie Übrigens war auch die Terminologie immer falsch. Es ganz besonderen Wert auf die Beziehung zu den Verei- war falsch, von der Erweiterung der NATO zu sprechen; nigten Staaten von Amerika legen. einige haben sogar „expansion of NATO“, Expansion der NATO, gesagt. Es war eine Öffnung nach dem Klop- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen derjenigen, die sich aus dem Gefängnis des War-Das ist historisch verständlich; denn jeder kommt mit schauer Paktes befreit haben. seiner eigenen Geschichte in dieses Bündnis. Jeder neue (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Mitgliedstaat muss natürlich beachten, dass es immer bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- einmal Situationen geben kann, in denen er europäische NISSES 90/DIE GRÜNEN) Interessen in einem Konflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika vertreten muss. Es ist gut, dass wir letztlich darauf gehört haben und sich der Prozess heute in eindrucksvoller Weise fortsetzt. Die Messlatte für eine Mitgliedschaft – die Öffnung bleibt bestehen; das hat die Kollegin eben zu Recht im (B) (D) Ich will nicht zu viele Anekdoten erzählen; aber ich Hinblick auf weitere Staaten angesprochen – bleibt will, weil immer das Zerrbild von den Militärs darge-hoch: einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten, stellt wird, als hätten sie sich nichts Schöneres vorstellen hohe Ansprüche an die demokratischen Strukturen und können als eine Ausweitung der NATO, darauf hinwei- ökonomische Fortschritte der Beitrittsstaaten. sen, dass das Ganze nicht von den Militärs ausging. Ich erinnere mich an ein Gespräch 1996 mit einem deut- Die Zusammenarbeit auf dem Balkan, die die Armeen schen Mehrsternegeneral, um es dezent auszudrücken, näher zusammengebracht hat, ist wichtig. Ich möchte der mir gesagt hat, Polen könne noch nicht Mitglied der aber in diesen Tagen an das zehnjährige Jubiläum des NATO werden, die Panzer seien nicht gut genug. IchMarshall-Centers in Garmisch-Partenkirchen erinnern, sage das nur, um die Geisteshaltung einiger zu verdeutli- wo sich der Verteidigungsminister mit Rumsfeld treffen chen. wird. Dieses deutsch-amerikanische Gemeinschaftspro- jekt ist den Deutschen weitgehend unbekannt. Hier sind Wir sollten den Prozess nie vergessen. Wir habenin den letzten zehn Jahren Tausende von Militärs und Zi- heute eine Situation, die uns allen nützt. Aber ausgegan- vilisten ausgebildet worden. Nicht die Hardware wie gen ist sie von denjenigen, die ihre Völker befreit und zum Beispiel die Modernisierung der Panzer oder der gesagt haben: Entweder haben wir in Europa alle ge-Flugzeuge, sondern die Software wie die Veränderung in meinsam Sicherheit und Freiheit im Bündnis oder nie- den Köpfen ist das Entscheidende. Wenn das nicht so mand wird sie auf Dauer haben. Das ist die historische wäre, dann wäre die Mitgliedschaft der drei neuen Staa- Leistung. ten kein Erfolg geworden. Gleiches gilt auch für die an- stehende Mitgliedschaft von sieben weiteren Staaten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Deswegen geht mein Dank an dasMarshall-Center in bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Garmisch-Partenkirchen für seine Arbeit im Rahmen NISSES 90/DIE GRÜNEN) dieses deutsch-amerikanischen Gemeinschaftprojekts. Natürlich war in vielen Hauptstädten, auch in Bonn, (Beifall im ganzen Hause) die Rücksichtnahme auf Russland ein ganz wesentlicher Faktor. Man muss auch die Veränderung der russischen Ich habe dieses Center vor zehn Jahren mit dem ver- Position von Jelzin bis Putin würdigen. Ich glaube, dass storbenen Kollegen Les Aspin eingeweiht; Bill Perry hat es eine der großen Leistungen auch von Helmut Kohlsich besonders darum gekümmert. Ich muss selbstkri- war, Jelzin zu bewegen, 1997 den Widerstand letztlich tisch zugeben: Meine amerikanischen Kollegen waren aufzugeben. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, den manchmal mehr daran interessiert, was in Garmisch pas- ersten Schritt damals in den 90er-Jahren zu vollziehen. sierte, als andere deutsche Kollegen und auch ich selbst. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3971

Volker Rühe (A) Was bis zum heutigen Tage dort geleistet wird, ist von Wichtig ist aber, dass wir Europäer unsere Verpflichtung (C) großer strategischer Bedeutung. ernst nehmen und unsere militärischen Fähigkeiten ver- bessern, um ein gleichwertiger Partner der USA zu wer- Als die Öffnung der NATO für neue Mitgliedstaaten den und auch in Zukunft gemeinsame Operationen mit kaum noch abzuwenden war, wurde eine Diskussion den USA durchführen zu können. über die Kosten der Erweiterung initiiert und es wurden gigantische Summen in Milliardenhöhe genannt – als ob Wir werden die Verteidigungshaushalte nicht dras- man Mitglied durch Modernisierung der Panzer wird –, tisch erhöhen können. Ein Regierungswechsel in um abzuschrecken. Das war eine fehlgeleitete Debatte. Deutschland würde sicherlich zu einer Erhöhung des Wir haben inzwischen gesehen: Die eigentlichen Verän- Verteidigungshaushaltes führen, aber nicht zu einer dras- derungen – darauf können diese Staaten stolz sein – sind tischen Erhöhung. Es kommt darauf an, die Gelder klü- die Veränderungen in den Köpfen. Diese haben die Mit- ger auszugeben, als wir das bisher in Europa tun. Eigent- gliedschaft ermöglicht und nicht die Modernisierung der lich ist die Analyse ganz klar: In Amerika gibt es eine Flugzeuge und der Panzer. Luftwaffe; in Europa gibt es 25 Luftwaffen. Wir vergeu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie den jede Menge Geld, weil wir im Wesentlichen noch bei Abgeordneten der SPD) nationalstaatlich vorgehen. Wir geben immerhin fast 60 Prozent der Mittel aus, die die Amerikaner für Vertei- Ich darf sagen, dass es ein Verdienst der Regierung digung ausgeben. Wir haben mehr Soldaten als die Ame- Helmut Kohls war – natürlich verbunden mit internen rikaner, aber wir erreichen nur 10 Prozent des Ergebnis- Diskussionen und Auseinandersetzungen; das ist garses, das die Amerikaner erzielen. Fast jeder Staat, selbst keine Frage –, 1993 in der NATO Studien über diewenn er im Binnenland liegt, hat ein eigenes Heer, eine Machbarkeit einer Öffnung zu beginnen. Nachdem die eigene Luftwaffe und eine eigene Marine. Regierung Clinton zunächst den Schwerpunkt auf das Verhältnis zu Russland gelegt hatte, ist es ihr großes Ver- Wir sollten uns stärker darauf besinnen, nicht mehr dienst gewesen, dass sie diesen Weg eingeschlagen hat. nur national – natürlich gibt es nationale Interessen, nati- Ohne die USA wäre es letztlich nicht möglich gewesen, onale Profile – vorzugehen. Es gibt bereits Ansätze in diesen Prozess zu beginnen und ihn jetzt erfolgreich fort- dieser Richtung. Ich kann die Bundesregierung nur sehr zusetzen. darin unterstützen, diesen Teil der Vereinbarung in Brüs- sel umzusetzen, auf diesem Weg fortzufahren und zu Die Kollegin Heubaum hat schon die Beschlüsse des neuen Strukturen zu kommen: zu komplementären mili- Prager Gipfels und die Tatsache angesprochen – das ist tärischen Strukturen, zu konsequenter Arbeitsteilung, zu richtig –, dass die NATO eine neue NATO werden wird, einem Pooling von Ressourcen. Nur durch eine zwi- die sich neuen Herausforderungen stellen muss. Ich (B) schenstaatliche Zusammenarbeit im Hinblick auf unsere (D) glaube, die neuen Mitglieder werden sich dieser Sache Fähigkeiten können wir erfolgreich sein. annehmen. Die in Prag getroffenen Entscheidungen sind Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung, dass europäi- Hier ist die Zusammenarbeit von Großbritannien und sche und amerikanische Sicherheit unteilbar ist. Ange- Frankreich die Nagelprobe. Dahinter fällt auch Deutsch- sichts der aktuellen Irritationen, die wir erleben, tun land – von anderen einmal ganz zu schweigen – in sei- wir gut daran, zu überlegen, wo es Schwierigkeiten und nen Möglichkeiten, zur Verteidigungsunion in Europa wo es Gemeinsamkeiten gibt. beizutragen, weit zurück. Großbritannien und Frank- reich, das ist der Schlüssel. Die Anschläge der Terroristen bedrohen uns alle. Das gilt auch für die Massenvernichtungswaffen. Sie bedro- An diesem Projekt wird man erkennen können, ob wir hen Amerikaner und Europäer gleichermaßen. Obgleich weiterhin nur reden oder ob es einen wirklichen Quan- Europäer und Amerikaner manchmal wirtschaftlichetensprung nach vorne gibt. Die Franzosen haben einen Konkurrenten und Konkurrenten hinsichtlich moderner Flugzeugträger. Wenn er repariert wird, steht keiner zur Technologie sind, kann man eines nicht bezweifeln: Wo Verfügung. Bei den Engländern ist es ähnlich. Sie brau- immer auf der Welt Europa politisch oder ökonomisch chen weitere Flugzeugträger. Jetzt gibt es Überlegungen, Erfolg hat, nützt es den USA. Umgekehrt gilt: Wenn die baugleiche englische und französische Flugzeugträger Vereinigten Staaten Erfolg haben, dann nützt dies auch herzustellen, sodass auf einem britischen Flugzeugträger Europa. auch französische Flugzeuge – dies geht bisher über- haupt nicht – und umgekehrt auf einem französischen Ich kann keine existenziellen Interessen Europas und Flugzeugträger englische Flugzeuge landen können. Amerikas erkennen, von denen man sagen kann: Wenn sich der eine durchsetzt, dann werden die existenziellen Wenn dies möglich ist, dann ist das ein ganz entschei- Interessen des anderen berührt. Wir müssen in dieser Si- dender Schritt. Wenn aber jedes Land wieder einen eige- tuation erkennen: Es verbinden die USA mit Europa und nen Flugzeugträger baut, der in verschiedene Himmels- Europa mit den USA mehr politische und weltanschauli- richtungen fährt, und englische Flugzeuge nicht bei den che Gemeinsamkeiten als mit allen anderen Regionen Franzosen landen können und umgekehrt, dann – das der Welt. Deswegen hat die NATO auch weiterhin ein muss ich sagen – ist das eine schlimme Niederlage für ganz solides politisches und geistiges Fundament. die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- GRÜNEN) NISSES 90/DIE GRÜNEN) 3972 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Volker Rühe (A) Das wird eine ganz entscheidende Nagelprobe sein. Wir müssen wir, die älteren Nationen in der NATO, die die(C) sollten die Kolleginnen und Kollegen ermuntern, diesen rein nationalstaatliche Phase schon ein bisschen länger Schritt zu gehen. hinter sich haben und die bereit sind, nationale Ressour- cen in gemeinsame europäische Fähigkeiten einzubrin- Dass jetzt Transportflugzeuge in einem Pool zusam- gen, mit gutem Beispiel vorangehen. mengefasst werden, ist ein richtiger Schritt. Schon vor zehn Jahren habe ich gesagt – ich weiß, das ist nicht Während die Initiative zur Öffnung der NATO ein ganz leicht –: Warum kann man nicht auch U-Boot-Flot- entscheidender Beitrag zur Sicherheit und Einheit Euro- ten zusammenlegen? Warum haben die Deutschen, die Nie- pas in den 90er-Jahren war – man muss sich nur einmal derländer und die Norweger – ich brauche Ihnen nicht zu vorstellen, wir hätten die NATO nicht erweitert –, sagen, was das angesichts der Geschichte des letzten Jahr- kommt es jetzt darauf an, Europa in der NATO so zu or- hunderts bedeutet – keine gemeinsameU-Boot-Flotte? ganisieren, dass sie den Herausforderungen der Zu- Dann muss man vielleicht auch sagen: Das Hauptquar- kunft gerecht wird. Wir freuen uns, dass wir durch sehr tier sollte nicht in Deutschland sein – als großer Staatmotivierte Mitgliedstaaten Unterstützung bekommen. treten wir zurück –, sondern in den Niederlanden. Genau Wir heißen sie alle willkommen und freuen uns auf die das wäre ein Beitrag, um Overheads zu sparen, komple- Zusammenarbeit. mentär vorzugehen und die europäische Verteidigung (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- besser zu organisieren. NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) So gibt es viele weitere Möglichkeiten, Synergien zu erreichen und auch Staaten wie Norwegen, die Türkei Präsident Wolfgang Thierse: und Dänemark einzubeziehen. Ich glaube, dass der Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer. NATO die verbesserten Fähigkeiten der europäischen Länder zugute kommen werden. Insofern ist dies eine Politik, die die NATO und gleichzeitig das europäische Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Gewicht in der NATO stärkt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung – ich freue mich, Denken wir an die letzte Krise: Was wäre denn gewe- dass hier seitens der Fraktionen weit gehende Überein- sen, wenn wir den Konvent vor fünf Jahren und in dieser stimmung über die historische Notwendigkeit dieses Krise einen europäischen Außenminister mit zwei Hüten Schrittes erzielt wurde – wird meines Erachtens ein ganz gehabt hätten? Was hätte dieser arme Außenminister sa- wichtiger Schritt getan, um Frieden und Stabilität auf gen sollen? Er hätte sich ähnlich ausgedrückt, wie man unserem Kontinent dauerhaft zu garantieren. es in den Kommuniqués getan hat, in denen alle Positio- (B) nen zusammengefügt worden sind. Das allein ist nicht Da der frühere Bundesverteidigungsminister Rühe ge- (D) die Lösung. rade gesprochen hat und vieles von dem, was er gesagt hat, auch die Zustimmung der Bundesregierung findet – er Was wäre, wenn niemand Flugzeugträger hat, mit de- hat zu Recht auf die historischen Leistungen der Vorgän- nen man einmal in die eine und einmal in die andere gerregierung hingewiesen –, möchte ich es der Fairness Richtung fährt, sondern wenn man in einer militärischen wegen nicht versäumen – wir hatten in der Vergangen- Krise von den Instrumenten her gezwungen ist, sich po- heit manchen heftigen Streit –, seine ganz besondere litisch zu einigen, ohne nationale Interessen zu vernach- Rolle als Bundesverteidigungsminister beim Anstoßen lässigen? Deswegen glaube ich, dass es nicht ausreicht, der NATO-Osterweiterung zu würdigen. Herr Kollege nur politische Institutionen zu schaffen. Die militärische Rühe, ich bringe Ihnen im Namen des ganzen Hauses, Reorganisation in Europa, also weg von einer rein natio- zumindest aber der Bundesregierung unseren Dank zum nalstaatlichen Organisation, hat vielmehr eine eminent Ausdruck. politische Bedeutung. Würde sie umgesetzt, wären wir in einer Krise gezwungen, gemeinsame politische Positi- (Beifall im ganzen Hause) onen zu ergreifen. Dies ist, wie ich glaube, ein heilsamer Zwang, wenn wir wollen, dass Europa eine größere Die NATO-Erweiterung ist ein zentraler Schritt. Ich beginne da, wo mein Vorredner aufgehört hat. Die jet- Rolle spielt. zige Erweiterung bis hin zu den baltischen Staaten und Mir ist klar, dass das, was ich sage, für die neuennach Südosteuropa – Polen, Ungarn und Tschechien wa- Staaten eine große emotionale Zumutung darstellt; denn ren schon vorher Mitglieder – erfolgt in einem parallelen sie sind ja gerade wieder freie Nationalstaaten gewor- Prozess zur EU-Osterweiterung. Das dürfen wir nicht den. Als Erstes schafften sich selbst relativ kleine Staa- vergessen. Wenn in jüngster Zeit Diskussionen aufka- ten wie Ungarn und Tschechien Jagdflugzeuge an – auch men, in denen versucht wurde, einen Gegensatz von ich habe damals dagegen polemisiert – und hatten kaum NATO-Erweiterung und Erweiterung der Europäischen noch Geld für irgendetwas anderes. Das scheint aberUnion zu konstatieren, dann kann ich nur sagen, dass es Ausdruck ihrer nationalen Identität und Unabhängigkeit sich aus unserer Sicht als ein paralleler Prozess darstellt. zu sein. Besser wären allerdings vier, fünf große Ver-Zu Beginn meiner Amtszeit war es noch ein Anathema, bände in Europa zum Schutz des Luftraumes, auf dieein Tabu, dass EU und NATO zusammen tagen und die man sich dann auch verlassen kann. Zwar wäre es für die beiden Spitzen, Javier Solana, der Hohe Repräsentant neuen Staaten emotional besonders schwer, wenn man der Europäischen Union, und NATO-Generalsekretär von ihnen verlangte, diesen Schutz übernational zu orga- Robertson, zusammenarbeiten. Heute ist diese Koopera- nisieren. Aber es gibt keinen anderen Weg und deshalb tion eine Selbstverständlichkeit – bei allen Problemen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3973

Bundesminister Joseph Fischer (A) im Detail, die es immer wieder gibt. Daran wird deut- genauso wie Sprache, eigenes Geld und anderes mehr.(C) lich, welchen Fortschritt wir hier erzielt haben. An dieser Das erfordert aus deren Sicht Geduld, das erfordert Zeit. Stelle würdige ich die Leistungen der Zusammenarbeit Machen Sie nicht den Boten für die Botschaft verant- von Europäischer Union und NATO in Mazedonien. Die wortlich. Ich teile diese Position nicht; ich plädiere nur Zusammenarbeit von Diplomatie und militärischem für das zur Überwindung dieser Positionen notwendige Druck sowie die Sicherheitsgarantie von NATO und Euro- Verständnis. Das, was Kollege Rühe über die gemeinsa- päischer Union, von Lord Robertson und Javier Solana, men Fähigkeiten gesagt hat, ist selbstverständlich rich- haben eine weitere humanitäre Katastrophe, einen barba- tig, zutiefst rational und muss die Zukunft im Bündnis rischen Bürgerkrieg auf dem Balkan verhindert. wie auch in der Europäischen Union bestimmen. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen begreifen, dass dies seine Zeit braucht, aber wir und bei der SPD) müssen dieses transatlantische Bündnis, das so grund- sätzlichen Veränderungen unterworfen ist, auch stärken. Das macht klar: Wir reden hier über die Zukunft unse- Die NATO betreibt heute nicht mehr klassische Landes- rer gemeinsamen Sicherheit. Deutschland liegt inmitten verteidigung. Wir sind heute nicht mehr in der Situation eines zusammenwachsenden Europas, inmitten eineseines geteilten Landes, einer geteilten Stadt, wo die er- neuen Stabilitäts- und Sicherheitsraums. Das wird un- starrte Frontlinie im Grunde genommen die permanente sere Lage dramatisch verändern, das wird die Anforde- Bedrohung, die Konfrontationslinie war. Die NATO be- rungen an die deutsche Außenpolitik, eingebettet in die treibt heute gemeinsam mit der Europäischen Union im europäische und in die Bündnispolitik, grundsätzlichWesentlichen „nation building“, um Nationen zu helfen, verändern, ebenso die Fähigkeiten und die Notwendig- sich zu stabilisieren, um in langfristigen Einsätzen regio- keiten, denen die Bundeswehr gegenüber steht. nale Stabilisierung zu betreiben. Das ist ein völlig ande- Seien wir einmal ehrlich: Wer von uns hätte vor zwei res Einsatzprofil. Jahren gedacht, dass die Bundeswehr am Hindukusch In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich die und am Horn von Afrika in solchen Größenordnungen Frage stellen: Was heißtStärkung des europäischen eingesetzt wird, wie es heute der Fall ist? Das hätte kei- Pfeilers? Europa hat drei Defizite. Das erste Defizit ist ner hier im Hause, egal von welcher Seite des Hauses, die politische Willensbildung. Darüber wird gar nicht als eine realistische Perspektive betrachtet. vorrangig in der NATO entschieden, sondern sie wird im All das macht deutlich, dass es um eine dramatische Wesentlichen innerhalb der Europäischen Union voran- Veränderung geht. Die neue, die erweiterte NATO muss kommen müssen. Das leistet jetzt der Konvent. Zweitens hierfür auch neue Strukturen entwickeln. Lassen Siebestehen große Probleme in den Institutionen bei der Umsetzung des politischen Willens und drittens in Be- (B) mich an diesem Punkt wiederholen, was ich beim (D) NATO-Frühjahrstreffen der Außenminister gesagt habe: zug auf die Fähigkeiten, den so genannten Capabilities. Das transatlantische Bündnis gründet auf zwei Pfeilern: Das sind die drei großen Defizite. Aber ansonsten hat auf dem nordamerikanischen, bestehend aus den USA Europa überall dort, wo es um Softpower-Faktoren geht, und Kanada, und auf dem europäischen Pfeiler. Dieses etwa hinsichtlich des Mittelmeerraumes oder des Nahen Bündnis kann nur geschwächt oder gar gefährdet wer- Ostens, einen Instrumentenkasten, der teilweise über das den, wenn einer der Pfeiler so geschwächt wird, dass er hinausgeht, was die Vereinigten Staaten von Amerika in nicht mehr belastbar ist. Deswegen liegt ein starkes Eu- Bezug auf regionale Konflikte zu bieten haben. ropa im Interesse des Bündnisses; ein schwaches Europa Ich hoffe, dass der Prozess zurBeilegung des Nah- würde dieses Bündnis gefährden. ostkonfliktes jetzt, angeschoben vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, wirklich vorangehen wird; ich halte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihn für die regionale Stabilisierung für unverzichtbar. und bei der SPD) Aber die Roadmap ist ein europäisches Kind und wurde Deswegen kommt es meines Erachtens ganz entschei- in der Europäischen Union entwickelt. An diesem Punkt dend auf die erweiterte NATO an. Kollege Rühe hat über sei auch erwähnt, dass die Reform in den palästinensischen deren Fähigkeiten gesprochen; ich möchte das nicht wie- Institutionen bis hin zum Premierminister vorangegangen derholen, sondern unterstreiche das. Wenn ich richtig in- ist und dass dies vor allen Dingen Miguel Moratinos und formiert bin, haben Frankreich und Großbritannien be- Javier Solana zu verdanken ist. reits die notwendigen Schritte eingeleitet, um einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gemeinsamen Flugzeugträger zu bauen. Ja, das erleben bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord- wir in der Europäischen Union wie in der NATO: Wir neten der CDU/CSU) müssen Verständnis dafür haben – es ging uns doch über die Jahrzehnte des Kalten Krieges hinweg nicht sehr viel Oder nehmen wir das letzte EUROMED-Treffen der anders und wir erleben es auch im Inneren –, wie viel arabischen Nachbarn, Israels und der Türkei mit der EU Zeit, wie viel Verständnis und Aufeinanderzugehen not- auf Kreta, in dessen Folge sich jetzt der Blockadefaktor wendig sind, um die Folgen der Teilung im Inneren zu Nahostkonflikt auflöst. Hier sehe ich, welche Möglich- überwinden. Selbstverständlich sagen viele Menschen in keiten strategischer Natur sich für Frieden und Stabilität den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in dieser Zone eröffnen. Der Golfkooperationsrat wird der NATO: Wir haben gerade eine Union überlebt, wir ein ähnliches Instrument sein. Bezüglich der Türkei bitte haben für unsere Unabhängigkeit gekämpft. Ja, Jagd-ich die Union, nochmals zu überdenken, was es hieße, flugzeuge sind Symbol dernationalen Unabhängigkeit, der Türkei die europäische Tür zuzumachen. Ich nenne 3974 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) auch die Stabilitäts- und Partnerschaftsabkommen. Die- Präsident Wolfgang Thierse: (C) ser ganze Instrumentenkasten zeigt: Wenn wir mit der Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit schon über- institutionellen Willensbildung und den Fähigkeiten vor- schritten. ankommen, wird Europa bei der Sicherung der strategi- schen Nachbarschaft eine ganz andere Rolle spielen. Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich denke, das ist eine der Botschaften, die mit der Er- Dazu gehört aber auch der große KontinentAfrika, weiterung verbunden sind. der unsere Sicherheit ganz entscheidend mitbestimmen wird, und zwar nicht nur der Mahgreb, sondern – in Ver- Wenn es darüber hinaus gelingt, die strategische Part- bindung mit dem Terrorismus und der Gefahr durch zu- nerschaft mit Russland auf eine dauerhafte, stabile sammenbrechende Staatsstrukturen – der gesamte Konti- Grundlage zu stellen, werden wir eine völlig veränderte nent. Das werden wir an anderer Stelle zu debattierenund sehr positive Sicherheitslandschaft in unserem di- haben, aber auch hier ist Europa gefragt. rekten Umfeld haben. Ich danke Ihnen. Was heißt also Stärkung der europäischen Säule? Auf der NATO-Frühjahrstagung habe ich die amerikanische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seite gefragt, ob sie bereit sei, ernsthaft über so etwas und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der wie eine Eurogroup in der NATO zu diskutieren und FDP) sie dann auch zuzulassen. Ich bin der Meinung, dass die europäische Sicherheit im Wesentlichen in Verbindung Präsident Wolfgang Thierse: mit EU und NATO bzw. – was die Fähigkeiten betrifft – innerhalb der NATO geschaffen werden sollte. Das ist Ich erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Frak- die Position nicht nur dieser Bundesregierung, sondern tion, das Wort. auch die der vorherigen. Dr. Werner Hoyer (FDP): Ich meine, dass man dann ehrlicherweise das Tabu der Bildung einer europäischen Gruppe brechen und da- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir rüber ernsthaft diskutieren muss. haben zu Beginn des Ratifizierungsverfahrens vor vier Wochen hier im Deutschen Bundestag einhellig die Auf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nahme der sieben neuen Mitglieder in die NATO be- (B) grüßt. Ja, wir haben dieses Ergebnis als geradezu tekto- (D) Es mag sein, dass man am Ende zu einer Negativposition nische Veränderung in Europa, die eine Verschiebung kommt. Ich möchte das nicht ausschließen. Aber dieder Geografie bedeutet, begrüßt. Ich freue mich, dass Diskussion mit der nordamerikanischen Seite muss be- diese in schwierigen außenpolitischen Zeiten leider sel- ginnen. Ich meine damit die USA und Kanada. tener gewordene Einigkeit in diesem Hause auch heute bestehen bleibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP) Der Deutsche Bundestag freut sich über diesen Schritt; denn er ist – Kollege Rühe hat völlig zu Recht Das halte ich für einen wichtigen Punkt; denn sonst wer- darauf hingewiesen – insbesondere mit Blick auf die letz- den die Prozesse außerhalb stattfinden. Das hielte ichten 15 Jahre alles andere als eine Selbstverständlichkeit. nur für die zweit- oder drittbeste Lösung. Die große Leistung, die erreicht worden ist, wird nicht dadurch erbracht, dass wir heute dem Ratifikationsgesetz Im Klartext heißt das: Den neuen Gefahren, die uns zustimmen. Sie ist vielmehr durch eine gigantische Frei- heute, im Moment der Erweiterung, angesichts der dra- heitsrevolution erbracht worden, die die Bürgerinnen matischen strategischen Veränderungen alle gemeinsam und Bürger in Mittel-, Ost- und Südosteuropa getragen bedrohen und die eine andere Sicherheitsstrategie erfor- haben. dern – diese Gefahren sind in der Wirkung mit den alten Gefahren zu vergleichen –, ihnen zu begegnen, das wird (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber eine neue Sicherheitsstrategie mit anderem Einsatz- der SPD) profil und hinsichtlich der regionalen Stabilisierung ähn- liche Zeithorizonte wie bei der Überwindung des Kalten Diese Länder sind einen langen Weg gegangen. Wir Krieges erforderlich machen. nehmen sie heute in eine NATO auf, die jetzt eine andere ist als zu dem Zeitpunkt,als sie den Aufnahmeantrag Wenn man das zusammennimmt, werden wir die er- zum ersten Mal erwogen haben. Nachdem sie sich sei- weiterte NATO neu erfinden müssen. Wir müssen kein nerzeit vom Joch der sowjetischen Unterdrückung be- neues Bündnis schaffen, werden aber dieses Bündnisfreit haben, haben sie in allererster Linie die Sicherheit neu erfinden müssen, wenn es seine Wirkung entfalten und die Garantien des NATO-Bündnisses gesehen und soll. haben deshalb oft genug gesagt: Das ist uns zunächst einmal wichtiger als die Integration in wirtschaftliche (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES und gesellschaftliche Strukturen, die wir im Rahmen der 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Europäischen Union vorantreiben. Das ist verständlich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3975

Dr. Werner Hoyer (A) Der Interessenschwerpunkt hat sich mittlerweile ver- Teil der Aufgaben, die in Afrika zu erledigen sind –, ist (C) schoben, denn die NATO ist eine andere geworden. Das nach meiner Auffassung möglicherweise doch besser bei ist eine Erkenntnis, die auch für die Bürgerinnen undder NATO anzusiedeln als bei der Europäischen Union. Bürger in den Beitrittsstaaten nicht ganz leicht ist. Es er- fordert nämlich eine erneute Anpassung, eine giganti- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sche Veränderung nach den ungeheuren Veränderungen, der CDU/CSU) die den Menschen in Mittel- und Osteuropa in den letz- Als glühender Verfechter des europäischen Integrations- ten gut zehn Jahren abverlangt worden sind. prozesses, der die Meinung vertritt, dass wir auch unsere Meine Damen und Herren, die Selbstverständlichkeit, sicherheitspolitisch-militärischen Strukturen in der EU mit der NATO und EU miteinander umgehen – Herrverbessern müssen, bin ich dezidiert der Auffassung, Fischer hat das eben zu Recht angesprochen –, war jadass wir uns nicht überheben dürfen, wenn wir noch vor zehn oder auch vor acht Jahren noch keineswegs ge- nicht so weit sind. Ich erinnere mich an die Debatte vor geben. Ich erinnere mich noch sehr gut: Wenige Tagewenigen Monaten, als wir gefragt haben, ob nicht viel- nachdem unser damaliger EU-Ratspräsident, der dama- leicht der Einsatz in Bosnien-Herzegowina neben dem in lige spanische Außenminister Javier Solana, in das Amt Mazedonien besser von der EU wahrgenommen werden des NATO-Generalsekretärs gewechselt ist, haben wir sollte. Da hieß es: Nein, das können wir in der EU noch einmal ganz vorsichtig versucht, ihn anlässlich eines in- nicht; so weit sind wir noch nicht. Aber jetzt plötzlich formellen Mittagessens in den Kreis des Rates einzula- können wir es im Kongo. Beim Einsatz im Kongo sprach den, um über Fragen von militärischen und sicherheits- Kofi Annan in seiner gestrigen Vorlage für den Weltsi- politischen Dimensionen zu diskutieren. Das ist sofort cherheitsrat schon von 11 000 Mann, auch mit einer gro- strikt abgelehnt worden; das wäre weder in Paris noch in ßen Aufwuchsperspektive, zusätzlich zu dem, was bei Washington vermittelbar gewesen. Das ist gerade einmal MONUC jetzt schon der Fall ist. Es geht dort um eine gi- acht Jahre her. Das zeigt, dass inzwischen gigantische gantische, eine riesige militärische Operation, die nichts Fortschritte erzielt worden sind. mit Blauhelmeinsätzen oder dem Auseinanderhalten von bereits getrennten Konfliktparteien zu tun hat. Es geht Dennoch steckt die NATO in einer tiefen Krise. Wir um einen sehr gefährlichen, einen schmutzigen Einsatz. haben das bei der sehr eindrucksvollen Debatte anläss- lich der NATO-Parlamentarierversammlung in der letz- Ich bin übrigens der Auffassung, dass dieBundes- ten Woche erlebt. Es ist ein spannender Diskussionspro- wehr aufgrund ihrer Ausbildungsphilosophie in den zess, der alles andere als abgeschlossen ist. Ich denke, letzten 50 Jahren aus gutem Grunde nicht befähigt ist, wir sollten an dem festhalten, was wir in der NATO ha- dort einen Kampfeinsatz zu leisten. Wir sollten die Bun- ben. Sie ist das einzige operative Militärbündnis, sie ist deswehr dafür gar nicht kritisieren, denn wir haben sie (B) (D) nicht nur das erfolgreichste in der Geschichte, sondern aus gutem Grund anders ausgebildet. Die verteidigungs- bietet auch für die Zukunftsgestaltung die beste Perspek- politischen Richtlinien, über die wir gegenwärtig disku- tive. tieren, zeigen, dass auch für die Bundeswehr hier ein er- heblicher Anpassungs- und Modernisierungsbedarf Die NATO leistet zurzeit in Afghanistan schon Groß- besteht. Aber wir müssen diese Schritte vorsichtig voll- artiges und wird ihre Rolle in der zweiten Jahreshälfte ziehen und uns auch genau überlegen, mit welchen Fä- noch verstärken. Aber die NATO kann mehr und wirhigkeiten wir die Bundeswehr ausstatten wollen. werden sie mehr machen lassen müssen. Die Welt ist nicht sicherer, die Bedrohung nicht geringer geworden; Meine Damen und Herren, die Befürworter der NATO, das wissen wir alle. zu denen ich mich selbstverständlich auch seit vielen Jahren zähle, haben immer gesagt, wenn die NATO nicht Nordamerikaner und Europäer sitzen an einem Tisch bereit sei, „out of area“ zu gehen, sei sie bald „out of – in institutionalisierter Form, mit jahrzehntelanger posi- business“. Jetzt hat die NATO ihr theoretisches und zum tiver Erfahrung und sogar mit einem funktionsfähigen, Teil auch schon ihr praktisches Operationsgebiet längst operativ verwendbaren Militärapparat ausgestattet. Wer, ausgedehnt. Sie ist längst „out of area“ und droht trotz- wenn nicht die NATO, sollte für eine gemeinsame west- dem mehr denn je „out of business“ zu gehen. Woran das liche Sicherheitspolitik den Rahmen bilden, aber eben liegt, ist klar. zugleich auch den Arm? Die Realität sieht heute anders aus. Die NATO spielt Wir müssen die Pfeiler und den Bogen der transatlan- bei brandheißen aktuellen Entscheidungen und Heraus- tischen Freundschaftsbrücke wieder auf beiden Seiten forderungen der Sicherheitspolitik praktisch keine Rolle. stärken. Das war nach dem 11. September so, trotz der erstmali- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen Ausrufung des Bündnisfalles, das war im Irak so der CDU/CSU) und das ist jetzt im Kongowieder der Fall. Was diesen letzten Fall angeht, bedauere ich das übrigens sehr. Ich Das heißt, nicht nur auf politische Deklamation bedacht finde es sehr gut und begrüße auch die Unterstützung der zu sein, sondern auch die Bereitschaft zu haben, den Bundesregierung bei dem Ansinnen, dass die Vereinten amerikanischen Freunden auf militärischem Gebiet mehr Nationen sich dem Thema Kongo jetzt in großer Intensi- anzubieten und mehr zu leisten. Herr Kollege Rühe hat tät und mit großer Kraftanstrengung zuwenden. Aber die völlig Recht: Das ist nicht an 24,4 Milliarden Euro fest- sicherheitspolitische Aufgabe, die dort jetzt wahrschein- zumachen. Es muss darauf ankommen, was wir aus dem lich zu erledigen ist – und das ist nur ein ganz kleinervorhandenen Geld machen. 3976 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Werner Hoyer (A) Ich erinnere, da Sie eben das Thema Jagdflugzeuge entschieden, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Ru- (C) angesprochen haben, an die Debatte, die wir Ende der mänien, die Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprä- 80er- und Anfang der 90er-Jahre über den Jäger 90, spä- chen einzuladen. Mit den schon 1999 erfolgten Beitritten ter Eurofighter, geführt haben. Durch unsere Entschei- Polens, Tschechiens und Ungarns findet damit ein Pro- dungen haben wir dafür gesorgt, dass in Westeuropa drei zess seinen vorläufigen Höhepunkt, den man vor dem Jagdflugzeuge gleichzeitig entwickelt wurden, Gripen, Hintergrund der Geschichte des letzten Jahrhunderts nur Rafale und Eurofighter, die jetzt peu à peu in die Luft- als atemberaubend bezeichnen kann. waffen der europäischen Länder eingeführt werden. Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom Sommer 1939 Wäre schon damals die Bereitschaft vorhanden gewesen, wurde im Prinzip eineTrennlinie durch Europa von über echte Arbeitsteilung im Bündnis zu sprechen, Finnland bis an das Schwarze Meer gezogen. Hier wur- dann–– den Interessensphären abgegrenzt, über die Köpfe der (Jörg Tauss [SPD]: Wer hat damals regiert?) betroffenen Länder und der Menschen hinweg. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurden die baltischen – Das hat nichts mit Regierung dieser oder jener Couleur Staaten der Sowjetunion einverleibt, ebenso ein großer zu tun. Farblich war es in Europa immer sehr bunt. Herr Teil Polens und Teile Rumäniens. Im Prinzip hielt diese Kollege Tauss, Sie liegen völlig falsch. Aufteilung, allerdings mit einer erheblichen Westver- (Zuruf von der FDP: Er liegt immer falsch!) schiebung verbunden, bis zum Ende des Kalten Krieges, also länger als 50 Jahre. Das faschistische Deutschland Das ist eine Frage von Mentalität auf unserem gesamten hatte als Akteur maßgeblichen Anteil an dieser verfehl- Kontinent, seinerzeit wie heute. ten und verbrecherischen Politik. Deutschland wurde, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch das darf nicht verschwiegen werden, selber Opfer der CDU/CSU) der Folgen dieser Politik. Die Bereitschaft, darüber nachzudenken, ob man Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lehre, nicht eine wirkliche Arbeitsteilung in dem Sinne vorneh- die die Eliten in den meisten der am Ersten Weltkrieg be- men sollte, dass man unsere relativ großen und zumin- teiligten Länder aus diesem Krieg gezogen hatten, näm- dest damals recht neuen Luftangriffskapazitäten in Tor- lich eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den nadoverbänden konsolidiert und stärkt und gleichzeitig Ländern in West- und Zentraleuropa zu vermeiden, zo- die Luftverteidigungsaufgaben Partnern im Bündnisgen die Eliten in Deutschland, zumindest mehrheitlich, überlässt, die ihre Stärke im Bereich der Luftabwehr ha- endgültig erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die ben, war seinerzeit nicht vorhanden. Wir müssen auch Politik der sozialliberalen Koalition ab 1969, die durch die Anerkennung der Folgen des Zweiten Welt- (B) heute sehr viel mehr daran arbeiten, eine solche Bereit- (D) schaft herzustellen. krieges dazu führte, dass sich die Blöcke anfangs zwar kaum wahrnehmbar, aber dennoch mit zunehmender Be- Das setzt allerdings den Willen voraus, die Diskus- schleunigung annäherten. Der Beginn dieser Politik war sion über Souveränitätsverzicht zu führen. in der damaligen Bundesrepublik Deutschland mit einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) großen politischen Auseinandersetzung, ja einer innen- politischen Zerreißprobe verbunden. In diesem Rahmen müssten wir uns nämlich auch darü- ber unterhalten, ob es möglich ist, dass in einem solchen Heute steht fest: Die Verträge mit der Sowjetunion, Fall, den wir leider vor einiger Zeit in Frankfurt erleben mit Polen, mit der damaligen Tschechoslowakei und der mussten – der Verteidigungsminister war in einer über- Grundlagenvertrag mit der DDR waren die grundlegen- aus schwierigen Entscheidungssituation –, der dannden Vorbedingungen für den Helsinki-Prozess und für eventuell notwendig werdende Einsatz auch von einem die nachfolgenden KSZE- und OSZE-Vereinbarungen. britischen, französischen oder niederländischen Flug- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeug durchgeführt werden kann. Diese Diskussion müs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des sen wir führen. Ich denke, wir sollten jetzt, ermutigt Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]) durch den Beitritt der neuen Mitglieder der NATO, die Kraft aufbringen, solche Diskussionen zu führen. Wir Es war der so genannte Korb 3 derHelsinki-Verein- sagen diesen neuen Mitgliedern: Welcome to the Club. barungen, der in den Ländern des damaligen Ostblocks mit dafür sorgte, dass sich die gesellschaftlichen Verhält- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nisse anfangs langsam, dann aber mit Urgewalt wandel- der SPD und der CDU/CSU) ten. Das Konzept von und Egon Bahr, das Konzept des Wandels durch Annäherung, war, das Präsident Wolfgang Thierse: kann man heute mit Genugtuung und vor allen Dingen mit Dankbarkeit sagen, erfolgreich. Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer, SPD- Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Rolf Kramer (SPD): Hoyer [FDP]) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Als Teile dieses Hauses noch in den Schützengräben Herren! Auf dem NATO-Gipfel in Prag am 21. Novem- des Kalten Krieges verharrten, sorgte diese kluge und ber letzten Jahres haben die Staats- und Regierungschefs vertrauensbildende Politik dafür, dass die notwendigen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3977

Rolf Kramer (A) Vorbedingungen geschaffen wurden, um das gemein-men. Das war auch eine der Grundvoraussetzungen für (C) same Haus Europa wieder in Frieden und Freiheit be- die Einladung zur Mitgliedschaft. wohnbar zu machen. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland und in Europa hat das damals intuitiv Deutschland hat die zukünftigen Mitglieder in den schnell verstanden. Konnte die Sowjetunion den Prager vergangenen Jahren bei der Vorbereitung auf die Mit- Frühling 1968, den Versuch also, einen Sozialismus mit gliedschaft bilateral ganz konkret unterstützt, zum Bei- einem menschlichen Angesicht zu schaffen, mit demspiel durch Ausbildungshilfe, Materialhilfe, Austausch Warschauer Pakt noch mit Gewalt stoppen, war diesvon Soldaten und militärpolitische Konsultationen. Da- nach der Einleitung des Helsinki-Prozesses in Europa mit unsere neuen NATO-Partner die geltenden Standards nicht mehr möglich. in allen Bereichen erfüllen können, wird auch in den kommenden Jahren eine weitere Unterstützung notwen- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen dig sein. Dieser Aufgabe wird sich Deutschland nicht nicht vergessen, dass der Wandel im damaligen Ostblock verschließen. Wir sollten schon aus unserem Eigeninter- von Polen ausging – ich erinnere an die Solidarnosc-Be- esse heraus daran interessiert sein; denn Deutschland wegung – und sich in der Sowjetunion unter Gorbatschow profitiert allein aufgrund seiner geographischen Lage in mit Perestroika und Glasnost fortsetzte. Die von der SPD Zentraleuropa vom Beitritt der neuen Mitglieder. und von Willy Brandt zu Beginn der 70er-Jahre eingelei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die NATO tete Politik hat mit zu diesem Wandel beigetragen. Das ist seit 1990 in verstärktem Maße keine bloße Militäror- bleibt das große Verdienst. ganisation mehr. Dies würde nicht nur dem Art. 2 des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nordatlantikvertrages von 1949, sondern auch der aktu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ellen Aufgabenzuweisung durch die NATO selbst bzw. ihrer Erweiterungsperspektive widersprechen. Dieser Durchgeführt und umgesetzt haben diesen Prozess aber Grundsachverhalt wird schon durch die Vorbedingungen die vielen Menschen in den Ländern des ehemaligendeutlich, die die NATO den sieben neuen Mitgliedern für Warschauer Paktes. Das bleibt ihr Verdienst. eine Aufnahme gestellt hat. Sie waren nicht nur militäri- scher, sondern ausdrücklich auch politischer Natur: De- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. mokratie und Rechtsstaatlichkeit, Regelung von interna- Dr. Werner Hoyer [FDP]) tionalen Streitfragen einschließlich ethnischer Konflikte Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem diemit friedlichen Mitteln, Respektierung der Menschen- Länder, die durch den Hitler-Stalin-Pakt der Willkür der rechte, Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und Diktaturen ausgeliefert wurden, Mitglieder der NATO zivile Kontrolle der Streitkräfte. Alle diese Punkte sind bei den sieben Beitrittsstaaten auf einem guten Weg. (B) werden. Das dient dem Frieden und der Entwicklung in (D) diesen Ländern und damit auch bei uns. Wir freuen uns darauf, die neuen demokratischen Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich Staaten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumä- hat sich auch die NATO seit ihrer Gründung verändert. nien, Slowenien und die Slowakei als Mitglieder der Die NATO wirkt nicht mehr in erster Linie aufgrund der NATO im alten Europa zu begrüßen. atomaren Abschreckung. Das ist aus meiner Sicht der ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gentliche Bedeutungswandel. Wie schon in den vergan- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) genen Jahren wird die NATO auf der Grundlage gemein- samer Werte und Überzeugungen ihrer Mitglieder inDer Weg zur Überwindung der Spaltung Europas als Zukunft noch stärker der internationalen Krisen- undErgebnis des Zweiten Weltkrieges ist damit abermals ein Konfliktbewältigung verpflichtet sein. Die notwendige großes Stück vorangekommen. verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Union und der NATO ist dabei der Weg, um ein starkes Amerika und ein sich entwickelndes gemeinsames Eu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ropa konstruktiv zusammenwirken zu lassen. Der Bei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tritt der sieben Länder ist ein wichtiger Schritt auf die- sem Weg. Präsident Wolfgang Thierse: Ein wesentlicher Teil der NATO-Entwicklung seit Ich erteile nun dem Kollegen Gerd Müller, CDU/ 1990 zielte darauf, den mittel- und osteuropäischenCSU-Fraktion, das Wort. Raum unter anderem durch die Einbindung in ein Netz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von Sicherheitsbeziehungen politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren. Elemente dieser Politik waren und sind der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, das Programm Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Partnerschaft für den Frieden sowie die besonderen Be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ziehungen der Allianz zu Russland und zur Ukraine.NATO ist die größte Friedensbewegung in Europa. Sie Alle neuen Mitglieder haben im Rahmen des PfP-Pro- ist unser Garant für Frieden, Freiheit, Stabilität und gramms und mit der anschließenden Teilnahme am so Demokratie. Der frühere Bundesverteidigungsminister genannten Membership Action Plan in den Bereichen Volker Rühe hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht: Standardisierung und Interoperabilität ihrer militäri-Es waren die Beitrittsstaaten, die an die Tür zur NATO schen Möglichkeiten große Anstrengungen unternom- geklopft haben. Ganz bescheiden hat er sein Licht unter 3978 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Gerd Müller (A) den Scheffel gestellt: Es waren natürlich auch Helmut Auch eine qualitative Ausweitung des deutschen Afgha- (C) Kohl und Volker Rühe, die die Tür aufgemacht haben. nistaneinsatzes findet nicht unsere Zustimmung. Ich erinnere an den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat, Kongo: an die Partnerschaft für den Frieden, die den ersten Er- Zum Zunächst wurde ein Angebot für ein weiterungsschritt um Polen, Ungarn und Tschechien Ambulanzflugzeug gemacht. Dann wurden Transallflug- nach sich zog, und an unser Bemühen, die baltischenzeuge und Stabsoffiziere genannt. Seit heute sind Fall- Staaten in die NATO aufzunehmen. Dafür gebührenschirmjäger und Pioniere im Gespräch. Herr Struck, Sie Volker Rühe und unser Dank und unsere werden heute in der „Welt“ zitiert mit den Worten: Anerkennung. Ich glaube nicht, dass Deutschlands Soldaten als (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kampftruppen ins Gebiet gehen werden. neten der FDP) Ich frage Sie: Schließen Sie das aus? Sagen Sie uns, was Die NATO reicht heute, wenn man die fast assoziier- Sie wollen! ten Mitglieder mitrechnet, von Vancouver bis Wladiwos- Auf der einen Seite werden minensichere Fahrzeuge tok. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, für die Bundeswehr heute abbestellt; der Dingo wird auf ob uns bewusst ist, wie wir diese enormen Herausforde- 2009 verschoben. Auf der anderen Seite schicken Sie die rungen an die Politik, aber auch an unsere Soldatinnen Bundeswehr in höchst gefährliche Auslandseinsätze. und Soldaten schultern können. Es stellt sich auch die Dies passt nicht zusammen. Frage: Wo liegt die Zukunft der NATO? Die NATO ist heute in der Tat weit über den eigenen Raum hinaus auf (Beifall bei der CDU/CSU) den Krisenschauplätzen der Welt präsent. Sie ist seit vie- Sie sagen, die Situation im Kongo gehöre nicht zum len Jahren auf dem Balkan, ab August in Afghanistan, Thema. Das gehört sehr wohl zum Thema und heute im kommenden Jahr wohl auch im Irak und möglicher- muss darüber gesprochen werden. Im Kongo zeigt sich, weise zusammen mit der EU im Kongo tätig. Herr Außenminister, natürlich auch noch etwas anderes, Diese Einsätze sind in der Bevölkerung nicht unum- nämlich das Scheitern der Afrikapolitik dieser Bundesre- stritten. Die Frage muss gestellt werden: Können diegierung. Jahrelang wurde der schwarze Kontinent ver- NATO und unsere Bundeswehr diesen Auftrag erfüllen? gessen und vernachlässigt. Jetzt brennt es – nicht nur im Minister Struck und unser Außenminister denken über Kongo. Was wir benötigen, ist nicht die Eingreiftruppe einen Kongoeinsatz der Bundeswehr nach. Der Bundes- der Bundeswehr. Wir benötigen ein politisches Gesamt- verteidigungsminister überlegt die Erweiterung des Af- konzept für die afrikanischen Staaten zur wirtschaftli- ghanistaneinsatzes. Die Bundeswehr leistet schon jetzt chen Kooperation und Stabilisierung. Wo sind die Vor- (B) hervorragende Dienste in Bosnien, im Kosovo und inschläge des Bundesaußenministers hierzu? (D) Mazedonien. Die Bundeswehr erbringt ihren Einsatz in (Beifall bei der CDU/CSU) Nahost. Über 10 000 Soldaten sind derzeit im Friedens- dienst der NATO und der EU tätig. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen auch politisch flankiert sein. Der Bundesaußenminister aber Angesichts dieser Belastungen, die wir unseren Sol- stellt nur Forderungen auf. Herr Bundesaußenminister, datinnen und Soldaten auferlegen, stellt sich die Frage: wer in Einsätze hineingeht, muss auch wieder herausge- Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur Bundes- hen. Wo ist Ihre politische Strategie? Wo sind Ihre Initia- wehr im Innern? Ich stelle fest: Es hat noch nie einen tiven für Bosnien, für Kosovo, für Mazedonien, für Af- Bundeskanzler, einen Bundesverteidigungsminister und ghanistan? Die Soldatinnen und Soldaten, unsere einen Außenminister gegeben, die so schnell und so Bevölkerung und wir wollen wissen, ob es sich dort um viele Zusagen für Auslandseinsätze gegeben haben und unbeschränkte, immer währende Einsätze handelt. die gleichzeitig die Bundeswehr zu Hause so schlecht behandeln, wie sie derzeit behandelt wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich einige Anmerkungen zur Zukunft der NATO ma- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – chen, und zwar zunächst einige aktuelle Anmerkungen [SPD]: Kommen Sie doch einmal zur laufenden Konventsdebatte und zur Rolle der ESVP. zum Thema, Herr Kollege! Sie haben das Meine Einschätzung ist klar: Die ESVP ist wichtig, aber Thema verfehlt!) sie kann und soll die NATO nicht ersetzen. Die atlanti- All das passt nicht zusammen. Wenn Sie mit den Sol- sche Allianz und unsere Freundschaft im Bündnis mit datinnen und Soldaten sprechen, dann werden Ihnenden Vereinigten Staaten von Amerika bleiben weiterhin diese Klagen vorgetragen. Die Bundeswehr leidet heute zuständig für die kollektive Verteidigung der Mitglieder, nicht nur unter drastischer Unterfinanzierung undaber auch für internationales Krisenmanagement. Ame- schlechter Ausstattung. Was noch viel schlimmer ist: Es rika ist auch in Zukunft unser unverzichtbarer Partner für fehlt ihr die Anerkennung dieser Bundesregierung für ih- Sicherheit und Stabilität. ren Dienst! Ebenso wenig sehe ich das Ziel bei der ESVP in der (Gernot Erler [SPD]: Thema verfehlt!) Schaffung einer europäischen Armee. Darüber müssen wir miteinander diskutieren. Die Streitkräfte bleiben Einen Bundeswehreinsatz im Kongo über humanitäre auch in Zukunft ihrem jeweiligen nationalen Kommando Hilfe hinaus lehnen wir ab. unterstellt. Wir brauchen keine eigenständigen militäri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen EU-Strukturen, parallel und in Duplizierung von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3979

Dr. Gerd Müller (A) NATO-Strukturen. Das verschwendet Ressourcen, unter- Lassen Sie mich zum Schluss eine grundsätzliche An- (C) gräbt die transatlantischen Beziehungen und erschwert merkung machen. eine enge Abstimmung zwischen EU und NATO. Die EU kann die NATO nur ergänzen, nicht ersetzen. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Endlich!) Offen ist auch, für welche Einsatzszenarien die neuen Wir alle – über die Parteigrenzen und Generationen hin- Krisenreaktionskräfte vorgesehen sind: Auf welcheraus – brauchen mehr Mut für den Frieden in der Welt. Grundlage und unter welchen Voraussetzungen können Das fängt nicht bei den Truppen an, Herr Außenminister, unsere Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden?sondern das fängt im Kopf an. Notwendig sind eine hu- Wie weit reicht dafür im Einzelfall der Konsens unter manitäre Strategie, eine stärkere Entwicklungskoopera- den europäischen Mitgliedstaaten? Es muss insbeson- tion zwischen Reich und Arm und ein Dialog der Welt- dere auch die Frage geklärt werden, wie weit das Recht kulturen und Weltregionen. Dazu gehört aber auch und auf humanitäre Intervention gehen kann und gehen darf. in erster Linie der Wille, diese Welt nicht mit Waffen zu Wir müssen uns dabei hier in diesem Haus und darüber überschwemmen. hinaus über die notwendigen Rechtsgrundlagen verstän- digen und Initiativen zur Anpassung des humanitären Herzlichen Dank. Völkerrechts an die neuen Bedrohungen entwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU – Joseph Fischer, Betrachten wir die Massengräber und Massaker im Bundesminister: Der Herr gab jedem Men- Irak: Der Einsatz der Amerikaner wurde von Ihnen mit schen einen Kopf, aber nicht jedem ein allen Mitteln heftigst bekämpft. Betrachten wir den Mas- Hirn! – Gegenruf des Abg. Dr. Gerd Müller senmord im Kongo: Er wurde von uns allen über Jahre [CDU/CSU]: Ich habe Sie Gott sei Dank nicht hinweg ignoriert, rechtfertigt jetzt aber offensichtlich verstanden!) den Einsatz der Bundeswehr. – Das ist eine verlogene Moral. Das ist eine gespaltene Moral. Das ist die grüne Präsident Wolfgang Thierse: Moral des Außenministers Ihrer Partei. Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bünd- (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler nis 90/Die Grünen, das Wort. [SPD]: Null Ahnung!) Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Europa muss handlungsfähig sein. Das ist unbestrit- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten. Deshalb werden wir im Rahmen der Konventsde- Kollege Müller, leider haben Sie das vorzügliche Niveau batte für mehr Mut in der Frage der Einführung qualifi- der Rede Ihres Kollegen Rühe in keiner Weise halten (B) zierter Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen (D) können. Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit eintreten, Herr Außenminister. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Einzelnen Staaten darf in Zukunft weder ein nationa- ler Sonderweg möglich sein, noch dürfen sie das ge-Sie gestatten, dass ich jetzt zum Thema zurückkehre. meinschaftliche Handeln durch ihr Veto verhindern. In Wenn der Deutsche Bundestag heute der Aufnahme dieser Hinsicht ist sozusagen ein Quantensprung in der von sieben ost- und südosteuropäischen Staaten in die europäischen Ordnung erforderlich. Wir befürwortenNATO zustimmt, dann geschieht das in größter Einmü- deshalb die Zusammenlegung der Positionen Solanastigkeit, aber auch ohne sonderlich starken Widerhall in und des Außenkommissars der EU. Wir sind aber nicht der Öffentlichkeit. Nichtsdestoweniger ist der bevorste- für die Schaffung eines Königreichs für . hende Beitritt der sieben Staaten ein Vorgang von histo- Dies wird es nicht geben. rischer Bedeutung, besonders aus der Sicht der betroffe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/nen neuen Mitgliedstaaten. Ich bin erleichtert und froh, CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE dass sich der Erweiterungsprozess ohne die Brüche und GRÜNEN und bei der SPD) neue Spaltungen vollzogen hat, die ich und viele andere in der damaligen Opposition Mitte der 90er-Jahre be- Es wird weder einen diplomatischen Dienst für Joschka fürchtet hatten. noch eine Hofgarde für seine Eminenz, den deutschen Bei der gängigen Feststellung, mit der NATO-Erwei- Außenminister, geben. terung und ihrer Öffnung dehne sich der transatlantische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/Stabilitätsraum aus, handelt es sich ausdrücklich nicht CSU – [BÜNDNIS 90/DIE um das übliche Selbstlob einer großen Institution oder GRÜNEN]: Vielleicht sollten Sie sich der De- um bloße NATO-Lyrik. Die Erweiterung wurde und batte einmal ernst zuwenden!) wird als Prozess gestaltet, der aus Dialog, Kooperation, inneren Reformen und Konfliktbeilegung besteht. Die Wir hätten etwas mehr Initiative vonseiten dieses Au- Membership Action Plans stellenAnforderungen an ßenministers erwartet, um die neuen Entscheidungs-die künftigen Mitglieder: hinsichtlich der friedlichen strukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo- Regulierung von inneren – auch von ethnischen und ter- litik voranzubringen. Auch die NATO und der UN-ritorialen – Konflikten, der Achtung der Menschenrechte Sicherheitsrat sind reformbedürftig. und der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte. 3980 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Winfried Nachtwei (A) Schließlich fordern sie Beiträge zur nationalen Verteidi- Präsident Wolfgang Thierse: (C) gung, zur Bündnisverteidigung und zu Peacekeeping- Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau. Einsätzen der NATO und der Vereinten Nationen. Die sieben Anwärterstaaten haben hierbei höchst un- Petra Pau (fraktionslos): terschiedliche Anforderungen zu bewältigen. Bulgarien, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Rumänien und die Slowakei müssen ihre Armeen aus reden über die Zukunft der NATO, über die Zukunft ei- der Zeit des Warschauer Paktes in den kommenden Jah- nes Militärpaktes. Mit dem Ende des Kalten Krieges war ren erheblich reduzieren, und zwar um ungefähr einihm der Sinn abhanden gekommen. Heute wollen Sie ihn Drittel ihrer Kopfstärke. Sie haben sie umzubauen und aber mit höheren Weihen versehen. Sie nennen das „al- auf ihre Interoperabilität im Bündnis umzustellen. ternativlos“, „unverzichtbar“ und sogar „historisch“, wie Die baltischen Staaten und Slowenien müssen neue meine Vorredner mehrfach betont haben. Die PDS im Streitkräfte aufbauen, die als Teil des Bündnisses aber Bundestag hingegen hält das schlicht für falsch. viel kleiner sein können, als wenn sie national auf sich (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- allein angewiesen wären. Der Anspruch kollektiver und onslos]) kooperativer Sicherheit findet seinen praktischen Nie- derschlag in ersten multinationalen Verbänden, zum Bei- Deshalb, Herr Kollege Rühe und Herr Kollege Fischer, spiel – man höre! – in einer tschechisch-polnisch-slowa- teile ich ausdrücklich nicht Ihre Freude, die Sie über die kischen Brigade, und in einer breiten Beteiligung anErweiterung der NATO zum Ausdruck gebracht haben. friedensbewahrenden Einsätzen in Bosnien-Herzego- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- wina, im Kosovo, in Kabul und sogar bei Enduring Free- onslos]) dom. Der Krieg gegen den Irak hat eines verdeutlicht: Die Zusammengefasst: Die NATO-Beitritte sind bedeut- weitere Militarisierung des Politischen führt in eine his- same Beiträge zur Stabilisierung eines Raums, der sich torische Sackgasse. Das löst keine Probleme, sondern nach der Implosion des Ostblocks wahrhaftig auch sehr mehrt sie eher ins Unerträgliche. Nun hat Ludger Volmer explosiv hätte entwickeln können. vor Wochen an dieser Stelle erinnert, dass es 1990 zwei Perspektiven bzw. Möglichkeiten gegeben hat: Entweder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird die NATO als Hegemon weiter ausgebaut oder es und bei der SPD) wird ein wirkliches System kollektiver Sicherheit ge- Die militärische Integration in Europa, in der Europäi- schaffen. Können Sie sich daran erinnern, wann der Bundestag zuletzt ernsthaft über ein wirkliches System (B) schen Union und in der NATO schreitet voran. Die poli- (D) tische Gemeinsamkeit fiel demgegenüber allerdings in kollektiver Sicherheit debattiert hat? Ich vermute, dass den letzten Monaten massiv zurück. DieFrühjahrsta- selbst die Dienstälteren unter Ihnen diesbezüglich Erin- gung der NATO-Parlamentarierversammlung vor ei- nerungslücken haben. nigen Tagen in Prag war von der Erfahrung einer regel- (Beifall der Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) rechten Spaltung und Marginalisierung der NATO im Umfeld der Irakkrise geprägt. Aber die Meinungsrisse Ludger Volmer meinte des Weiteren, man habe einen auf dieser Tagung verliefen nicht einfach zwischen dem Mittelweg gefunden und man tue jetzt beides, also ver- so genannten alten und dem neuen Europa, sondern oft kürzt gesagt: Hegemon und Sicherheit. Mich erinnert mitten durch die nationalen Delegationen hindurch. Das das fatal an das Römische Reich. Sie wissen, wie das en- notorische Bemühen der Union hierzulande, vor allem dete. Allerdings wurde damals mit Schild und Schwert die Bundesregierung zum Sündenbock für die Turbulen- gekämpft. Heute bedrohen uns weltvernichtende Waffen. zen in der NATO zu machen, zielt – das zeigte die Parla- Das heißt, dass die Losung „Frieden schaffen ohne Waf- mentarierversammlung sehr deutlich – an der Realität fen“ nichts, aber auch gar nichts von ihrer Brisanz einge- völlig vorbei. büßt hat, ganz im Gegenteil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir reden hier übrigens fast nebenbei über einen Ver- und bei der SPD) fassungsbruch. Das Grundgesetz enthält ein Friedensge- bot. Es beschränkt die Bundeswehr auf die Landesver- Offenkundig wurde bei der NATO-Parlamentarierver- teidigung und daran ändert auch eine erweiterte NATO sammlung die Notwendigkeit, sich über die viel be-nichts. schworenen gemeinsamen Werte und Interessen sowie über eine gemeinsame Bedrohungsanalyse neu zu ver- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- ständigen. Einmütig war aber der Wille der Abgeordne- onslos]) ten der NATO-Staaten, zu gemeinsamer Handlungsfä- Innenminister Schily hat vor wenigen Wochen den higkeit der NATO zurückzufinden. Unüberhörbar war Jahresbericht 2002 des Verfassungsschutzes vorgestellt. dabei die Forderung, dass dies nur in transatlantischer Darin wird die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg Partnerschaft und nicht in Gefolgschaft geschehen kann. als staatsgefährdend aufgeführt. Der Bundesinnenminis- Danke schön. ter, finde ich, sollte den Millionen, die gegen diesen Krieg demonstriert haben, endlich sagen, warum. Jüngst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat Bundesverteidigungsminister Struck seine neuen und bei der SPD) verteidigungspolitischen Richtlinien vorgestellt. Danach Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3981

Petra Pau (A) findet die Verteidigung der Bundesrepublik künftig welt- Die NATO hat nicht nur am Anfang die Frage der Er- (C) weit, je nach Gutdünken und Interessenlage, statt. Da- weiterung erst allmählich begriffen, sondern es war und mit, finde ich, ist der Herr Minister Struck zumindest ein ist zum Teil bis heute eine schwierige Frage, wie sie Prüffall für die Verfassungsschützer des Ministerkolle- angesichts der neuen Herausforderungen in Zukunft gen Schily geworden. Ich hoffe, dass Herr Schily ihnaussehen soll. Es ist klar, dass der Wunsch der Kandida- von dieser Prüfung schon unterrichtet hat. ten, hineinzukommen, vonmilitärischen Drohungen bestimmt war, von denen manche von uns sagten, sie be- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- stünden so nicht. Aber sie waren da und die Kandidaten onslos] – Unruhe) haben gesagt: Wir wollen in diesen Sicherheitsraum hin- Parallel zu all diesen Debatten wirbt die CDU/CSU ein. – Das war, denke ich, völlig legitim. für ein militärisches Erstschlagsrecht, also genau das, Gleichzeitig verändert sich die Situation. Wir haben was die US-Führung im Irak und anderswo wider alles neue Herausforderungen. Wie in vorangegangenen Re- Völkerrecht für sich in Anspruch nimmt. Deshalb wie- den schon angesprochen worden ist, besteht die Notwen- derhole ich hier: Eine falsche NATO wird nicht besser, digkeit einer verstärkten Integration. Der zentrale nur weil sie größer wird, und eine falsche Politik wird Punkt, der schon 1989/90 für die NATO sprach, war, nicht richtig, nur weil SPD und Grüne sowie CDU und dass auch die neuen Demokratien in Mittel- und Osteu- CSU den militärischen Gleichschritt üben. ropa ihre Sicherheit nicht mehr national organisieren. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Dies hätte nämlich zu einer weiteren Destabilisierung onslos]) Europas geführt. Was wir heute brauchen, ist eine ver- stärkte Integration. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD) Ich erteile dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Frak- Es gibt eine solche Integration schon innerhalb der tion, das Wort. NATO. Aber wenn wir genau hinsehen, dann erkennen wir, dass sie zunächst formal und noch relativ wenig ent- Markus Meckel (SPD): wickelt ist. Jeder Staat in Europa – darauf ist hingewie- Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- sen worden – macht das Gleiche. Was das transatlanti- legen! Verehrte Kollegin Pau, es ist schon interessant, sche Verhältnis angeht, ist es ähnlich. Zwar gibt es die sich die Situation anzusehen. Heute, nun wirklich lange militärische Integration in den Stäben, in der Planung nach den Umbrüchen, den Freiheitsrevolutionen vondurch SHAPE und in dem, was in Brüssel aufgebaut 1989/90, feiern wir ein wesentliches Ergebnis dieserworden ist – das ist ganz gewiss wichtig –; aber ansons- (B) Umbrüche, nämlich dass Europa zusammenwächst und ten sind die militärischen Fähigkeiten und Strukturen,(D) eben auch sicherheitspolitisch zusammenwächst. Volker vielleicht abgesehen von den AWACS, noch nicht beson- Rühe hat sehr klar gesagt: Das geschieht nicht etwa des- ders stark integriert. Die zentrale Aufgabe von uns Euro- halb, weil die NATO schon am Anfang begriffen hat,päern ist, diesbezüglich Abhilfe zu schaffen. Das, was was da passiert; nein – das muss man so klar sagen –, sie hier zur Effektivität beim Einsatz von Mitteln von Herrn hat es lange nicht begriffen. Vielmehr haben die Völker, Rühe und anderen dazu gesagt worden ist, kann ich nur die Freiheit und Demokratie errungen haben, gesagt: Wir ausnahmslos unterstützen. wollen, dass es keine geteilte Sicherheit in Europa und Eine andere wesentliche Aufgabe besteht darin – auch im transatlantischen Verhältnis gibt. – Erst dann, so nach das müssen wir sehen –, die Fähigkeit zur Integration zu und nach, übrigens sehr viel später als die Europäische bewahren. Glücklicherweise ist dieZahl der zivilen Union, hat sich die NATO – ausgehend vom Treffen der Opfer des Irakkriegs geringer, als viele befürchtet ha- Verteidigungsminister in Travemünde 1994 – auf denben. Dass dies so ist, haben wir den Fähigkeiten von Prä- Weg gemacht und versucht, sich zu öffnen. Nach langen zisionswaffen zu verdanken. Im Hinblick auf künftige und schwierigen Debatten hat das jetzt zu diesem Ergeb- Konflikte ist das von zentraler Bedeutung. In diesem Zu- nis geführt. sammenhang stellt sich natürlich die Frage, wie sich eu- Wie wesentlich das war, haben viele von uns in vielen ropäische und amerikanische militärische Einsätze in Prozessen – wir könnten die Konflikte, mit denen wir Zukunft entwickeln und inwieweit wir auch in diesem uns in den letzten zehn Jahren beschäftigen mussten,Bereich in Zukunft partnerschaftsfähig sein können. Partnerschaftsfähigkeit einzeln durchgehen – schmerzlich lernen müssen. Der wird nur durch Zusammenar- Bundesaußenminister hat oft betont, dass eine militäri- beit möglich sein. Wer glaubt, man könne Rüstung und sche Sicherung der zivilen, administrativen und Nation- andere militärische Fähigkeiten noch national ent- Building-Prozesse notwendig ist, damit diese Prozesse wickeln, der geht fehl. überhaupt ablaufen können. Es ist zu beobachten, dass innerhalb der NATO – es (Beifall bei der SPD) war gerade von der Tagung der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO in Prag die Rede – immer wieder Es ist also sehr wohl wichtig, auf der Höhe der Zeit zu über die Bedeutung der NATO gesprochen wird. Das ist leben. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir eine Institu- richtig und, wenn es um Europa geht, existenziell. Wir tion wie die NATO brauchen. Ich kann mich deshalb der werden Sicherheit ohne die transatlantischen Beziehun- Freude, die zum Ausdruck gebracht worden ist, nur an- gen und ohne die Institutionen der NATO nämlich nicht schließen. gewährleisten können. 3982 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Markus Meckel (A) Angesichts dieser Reden müssen wir natürlich auch weise beschäftigen können, durchaus manche Inkon-(C) feststellen: Die Praxis war in den vergangenen Jahren gruenzen bei den Mitgliedschaften gibt. Wir müssten ei- oft anders. Im Angesicht der großen Herausforderung gentlich ein Interesse daran haben, dass so viele Länder bei der Bekämpfung des Terrorismus hat die NATO wie möglich Mitglied sowohl in der EU als auch in der erstmals Art. 5 des NATO-Vertrages ausgerufen. Sie hat NATO sind; denn so kann de r europäische Pfeiler gestärkt damit ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebrachtwerden. diese Herausforderung anzunehmen; aber umgesetzt wurde er von zentralen und wichtigen NATO-Partnern Deshalb begrüße ich es, dass die NATO-Parlamenta- Schweden eben nicht. rierversammlung beschlossen hat, jetzt den assoziierten Status zu geben. Wir müssen den Schweden In der NATO selbst wurde noch nicht einmal eineaber sagen: Überlegt euch doch einmal – wir wissen, zentrale sicherheitspolitische Debatte zu den wesentli- dass das eine Reihe schwedischer Kollegen dort zur chen Fragen geführt. Das zeigt: Wir selbst – trotz unserer Sprache bringen –, ob die Neutralitätsfrage nach dem unterschiedlichen Perspektiven, zum Beispiel im transat- Ende des Kalten Krieges wirklich noch so relevant ist. lantischen Verhältnis, was ja in der Irakfrage deutlich ge- Die Schweden sollten lieber sagen: Lasst uns mitma- worden ist – müssen noch sehr viel dafür tun, die NATO chen. Sowohl die Schweden als auch die Finnen haben auf die Höhe der Zeit zu bringen. Die Amerikaner haben in internationalen Friedensmissionen große Erfahrungen im letzten Jahr ihre nationale Sicherheitsstrategie be-gesammelt, die Europa im Zusammenhang mit der Inte- schlossen. Diese Strategie beinhaltet die Möglichkeitgration gebrauchen kann. präemptiver Schläge. Darüber gibt es im Bündnis mit Si- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten cherheit keinen Konsens. Dennoch haben wir darüber des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der bis heute noch nicht einmal eine Debatte geführt. Ich bin FDP) deshalb sehr froh, dass wir, die Europäer, Herrn Solana gebeten haben, für Europa eine Bedrohungsanalyse zu Ein letzter Punkt, auf den ich noch zu sprechen kom- entwickeln. Eine solche Analyse käme zwar sehr spät; men möchte: Wir müssen auch innerhalb der NATO dar- aber es wird nun wirklich Zeit, dass wir selbst unsereüber nachdenken, wie die Strukturen künftig aussehen Herausforderungen benennen können und klären, mitsollen. Der US-Senat hat im Zusammenhang mit der Ra- welchen Mitteln und auf welcher Ebene wir sie bewälti- tifizierung der Abkommen über die Erweiterung zwei gen wollen. Aufgaben gestellt, über die der Präsident berichten soll. Zum einen ist das die Frage, ob das Konsensprinzip er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des halten bleiben soll. Im Grunde hat er dazu aufgefordert, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Konsensprinzip in der NATO zu verlassen. Das be- (B) Auf der Ebene der Parlamentarier sind in den letzten trachte ich sehr skeptisch. Darüber brauchen wir sowohl (D) Jahren immer wieder sehr intensive Diskussionen geführt in unseren Ländern als auch in der NATO eine intensive worden. Wir können nur hoffen – wir fordern die Regie- Debatte. rung auf, einen entsprechenden Beitrag zu leisten –, dass Der zweite Punkt ist die Frage der Suspendierung ei- auch in den Institutionen der NATO und im NATO-Rat nes Mitglieds. Was passiert, wenn sich jemand an die ge- die notwendige Diskussion geführt wird. Wir wissen,meinsamen Regeln und Gesetze nicht mehr hält und ge- dass Versuche unternommen wurden, eine solche Dis- gen die demokratischen Strukturen verstößt? Ich halte kussion anzustoßen. eine solche Diskussion für alle demokratischen Instituti- Ich möchte auch von hier aus in Richtung unseresonen für durchaus akzeptabel; auch innerhalb der NATO Partners Frankreich deutlich sagen: Gerade weil wir im sollten wir im Rahmen des Rates darüber sprechen. transatlantischen Verhältnis den europäischen Pfeiler Lasst uns in Zukunft diese Debatte miteinander füh- stärken wollen – viele Redner haben das hier zu Recht ren! Wir stehen im transatlantischen Verhältnis vor gro- gesagt – und ihn zu einer integrierten Kraft, das heißt zu ßen Aufgaben, weil die Risiken in dieser Welt leider nun einer Kraft gemeinsamen Handelns, machen müssen,einmal nicht weniger geworden sind, sondern anders. darf es nicht sein, dass die Franzosen als eine zentrale und wichtige Kraft in Europa auf Dauer eine Sonderstel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lung beanspruchen und sich jeweils vorbehalten, ob sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der mitmachen. Wir sollten die Franzosen auch von dieser FDP) Stelle aus bitten, in die militärische Struktur der NATO zurückzukehren und damit unsere gemeinsamen Fähig- Präsident Wolfgang Thierse: keiten zu stärken. Ich erteile das Wort dem Kollegen Freiherr von und (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Das Gleiche gilt natürlich auch für andere Partner in- (CDU/CSU): nerhalb der Europäischen Uni on. Wir sollten uns deutlich Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und machen – der Außenminister hat darauf hingewiesen –, Herren! Am heutigen Tag ist vieles begrüßenswert: zum dass es bei den Erweiterungsprozessen, mit denen wir uns einen die klaren Bestandsaufnahmen, zum anderen die im Rahmen der Ratifikationsprozesse jetzt glücklicher- – insbesondere vom Kollegen Volker Rühe – aufgezeig- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3983

Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (A) ten Perspektiven, die nicht nur den europäischen Pfeiler Amerika tatsächlich eine ist. Auch hier müssen wir den (C) beleuchten, sondern auch über den Atlantik hinweg rei- Tatsachen ins Auge blicken, ohne uns als Europäer dabei chen. klein zu reden. Das kann nicht die Konsequenz sein. Eine der entscheidenden Linien, die von diesem Tag Ein gutes, erneuertes Verhältnis zu denVereinigten mitgenommen werden müssen, ist, dass wir über dieStaaten, gerade im Kontext internationaler Organisatio- Kommunikationsebenen im europäischen Rahmen die nen, schließt Kritik nicht aus, aber die Kultivierung von transatlantische Struktur weiterhin pflegen und ihr den Sprachlosigkeit auf oberster Ebene. Stellenwert geben müssen, den sie tatsächlich verdient. Begrüßenswert ist auch die parlamentarische Einigkeit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in diesem Hause; allerdings will ich die in meinen Au- der FDP) gen erschreckende Realitätsferne der PDS erwähnen.Das gilt auch für unser Verhältnis zum amerikanischen Begrüßenswert ist ebenso die Zusammensetzung undPräsidenten. Da darf man schon fragen, wie abgeschie- Struktur der neuen Mitgliedsländer, deren Beitritt Aus- den, wie unbeobachtet, wie finster eigentlich der Ort sein druck der Hoffnung auf eine wirkliche Stabilität undmuss, an dem auch unser Bundeskanzler einmal offen eine Überwindung der einstigen Spaltung Europas auf den amerikanischen Präsidenten zugeht. ist. – So viel zum Istzustand. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Neu-, Gestatten Sie mir auch einige Punkte zum Sollzu-partiell vielleicht eine Redefinition destransatlanti- stand: Es wäre begrüßenswert, wenn mit derselben An- schen Verhältnisses, auch und gerade der NATO, erfor- strengung und mit demselben Eifer, mit dem noch vor dert neben der notwendigen, heute oft genannten Ergän- kurzem eine transatlantische Gegenposition geschmiedet zung der militärischen Fähigkeiten auch eine ehrliche wurde, eine transatlantische gemeinsame Sicherheits- Auseinandersetzung mit den Hausaufgaben, die die an- analyse angegangen würde. Auch diese Arbeit ist zuderen bereits gemacht haben. Hier ist unter anderem die leisten. Sie erfordert die Fähigkeit und den Willen, sich nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten zu überhaupt einmal gemeinsamen Sicherheitsinteressen nennen, die in einigen Punkten sicherlich kritikwürdig zuzuwenden. Sie bedarf des Willens, einen gemeinsa- ist; aber wir können sie nicht auf Begriffe wie Unipolari- men Sicherheitsbegriff zu formulieren, der über Europa tät, Unilateralität, einseitiges Hegemonialstreben verkür- und gegebenenfalls auch über den atlantischen Raumzen. Wir müssen uns mit den Hausaufgaben, die andere hinweg zu reichen vermag. Außerdem bedarf sie der da- gemacht haben, auseinander setzen. Sie sind ein Teil der raus resultierenden Bereitschaft, eine über den eigenen amerikanischen Realität und damit ein Teil der transat- Tellerrand hinweg blickende Sicherheitsstrategie zu ent- lantischen Realität. Von daher müssen wir über den Sta- wickeln. (B) tus, mit den Fragestellungen zu ringen, hinausgehen(D) Ausgangspunkt hierfür ist ein kooperatives, komple- können und uns mit den Antworten, die andere mittler- mentäres und letztlich partnerschaftliches Verhältnis zu weile gegeben haben, auseinander setzen. den Vereinigten Staaten von Amerika; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Präsident Wolfgang Thierse: nicht spaltend gegengewichtig, sondern ergänzend ne- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. bengewichtig. Wir könnten nicht törichter handeln, als uns den Marktschreiern einer europäischen Gegenge- Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg wichtsstrategie zu unterwerfen. Das wäre der größte(CDU/CSU): Fehler, den wir in dieser Zeit machen könnten. Wer näm- lich nicht willens oder in der Lage ist, bildlich gespro- Herr Präsident, ich schließe. chen das Gerüst der transatlantischen Waagschalen mit Grundsätzlich bin ich dankbar für die große Überein- zu definieren, der muss zwangsläufig an der Gegenge- stimmung. In der Frage der Zukunft der NATO, im Zu- wichtsstrategie scheitern. sammenspiel mit den Amerikanern ist allerdings weni- (Jörg Tauss [SPD]: Gleichgewicht ist auch ger eine erschöpfende Retrospektive denn eine klare nicht schlecht! – Gegenruf des Abg. Volker Perspektive notwendig. Kauder [CDU/CSU]: Herr Tauss, seien Sie mal lieber ruhig, Sie sind untergewichtig! Und Herzlichen Dank. im Körper übergewichtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Gleichgewicht wäre insoweit begrüßenswert, Herr Kollege, als es ergänzend und nicht konkurrierend statt- Präsident Wolfgang Thierse: findet. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- neten der FDP) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu den Proto- Es geht dabei auch weniger um die Frage, wie wirkollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über eine amerikanische Supermacht verhindern, sondernden Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik eher darum, wie wir mit dem Faktum umgehen, dassEstland, der Republik Lettland, der Republik Litauen, 3984 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Repu- Überweisungsvorschlag: (C) blik Slowenien, Drucksachen 15/906 und 15/1063. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 15/1117, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu Ausschuss für Tourismus erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich den Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Abgeord- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. neten angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so- Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: (Unruhe) 5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria– Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer an der Debatte Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nicht teilnehmen möchte, den bitte ich, den Saal mög- der CDU/CSU lichst geräuschlos zu verlassen. Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbil- Bitte schön. dungsmotivation Katherina Reiche (CDU/CSU): – Drucksache 15/925 – Überweisungsvorschlag: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Ausschuss für Bildung, Forschung und gen! In Deutschland fehlen derzeit weit über 171 200 Technikfolgenabschätzung (f) Lehrstellen; allein in den neuen Ländern sind es 85 000. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Die Bundesregierung geht intern davon aus, dass im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend September noch zwischen 50 000 und 70 000 Lehrstel- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- len fehlen werden. gierung Rot-Grün bietet den jungen Menschen derzeit keine Berufsbildungsbericht 2003 Perspektive; sie fühlen sich im Stich gelassen. Aber das alles ist keineswegs über Nacht über Deutschland he- – Drucksache 15/1000 – reingebrochen. Der Bundesregierung ist diese Entwick- Überweisungsvorschlag: lung seit über einem Jahr bekannt; jetzt tut sie über- (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und rascht. Erst seit wenigen Wochen sieht sich die Bundes- (D) Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit regierung zu Aktionen veranlasst. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Der Berufsbildungsbericht 2003 ist ein Beleg dafür, Ausschuss für Tourismus dass die Bundesregierung die Lehrstellenkatastrophe se- henden Auges auf sich zutreiben ließ. Der Mantel des ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten WilliSchweigens wurde darüber ausgebreitet. Für das Aus- Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abge- maß der Misere muss die Bundesregierung deshalb die ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab- Mitverantwortung übernehmen. Die Zahlen im Berufs- geordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert,bildungsbericht zeigen ganz deutlich, dass bereits Mitte Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Mai 2002 die Entwicklung absehbar war. Damals gab es der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- eine Lehrstellenlücke von 5 400 Stellen. Die Zahl neu NEN abgeschlossener Ausbildungsverträge in Wirtschaft und Lasten gerecht verteilen – Mehr Unternehmen Verwaltung ging gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent für Ausbildung gewinnen zurück. – Drucksache 15/1090 – Aus politischen Gründen wurde die Lage vertuscht. Auch wegen der Bundestagswahl wurde das Thema zu Überweisungsvorschlag: einem Nichtthema erklärt. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) (Widerspruch bei der SPD) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Erst jetzt, also ein Jahr später, wird das Thema wieder- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia entdeckt, und das auch nur, weil der Bundesregierung Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike demoskopisch und innenpolitisch das Wasser bis zum Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Hals steht. Die SPD-Linke lehnt sich gegen jede noch so der FDP kleine Reform auf. Deshalb wurde der SPD-Linken jetzt die Beruhigungspille Ausbildungsplatzabgabe verab- Ausbildung belohnen statt bestrafen – Ausbil- reicht. Das ist der zweite schwerwiegende politische dungsplätze in Betrieben schaffen statt Warte- Sündenfall. schleifen finanzieren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Drucksache 15/1130 – neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3985

Katherina Reiche (A) Es kann nicht angehen, dass ein tief greifendes gesell- Istgröße gebildet und daraus eine Zwangsverpflichtung (C) schafts- und wirtschaftspolitisches Problem zum Scha- errechnet werden. Das ist schlichtweg verrückt. den junger Menschen ideologisiert und parteipolitisch missbraucht wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Sie sind fantasielos, Frau Kollegin!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) Wie viel Geld wird für den bürokratischen Aufwand verloren gehen und was soll mit dem restlichen Geld ge- Die Pläne der Bundesregierung streuen der Öffent- schehen? Es würden letztlich mehr außerbetriebliche lichkeit Sand in die Augen. Vom vorgeschlagenenfrei- Ausbildungsplätze entstehen, die wiederum kaum Be- willigen Fonds bis zum angedrohten Zwangsfonds ist es schäftigungsperspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt nur ein kleiner Schritt. Die entsprechenden Vorbereitun- eröffnen. Außerdem ist eine solche Umlage schon in der gen im BMBF laufen auf Hochtouren. Die Bundesregie- Praxis gescheitert. Sie existiert bereits in der Bauwirt- rung droht ganz offen damit. Richtig ist aber, dass jede schaft. weitere Belastung für die Unternehmen das falsche Mit- tel ist; denn jede weitere Belastung wirkt lehrstellenver- (Jörg Tauss [SPD]: Erfolgreich! – Weitere Zu- nichtend. rufe von der SPD) Welche Antworten hat nun die Bundesregierung? – – Herr Tauss, die Zahl neuer Ausbildungsverträge ist Zum Beispiel die Aussetzung der Ausbilder-Eignungs- nicht höher geworden: Sie sank von 1994 bis zum Jahr verordnung für fünf Jahre. Das unterstützen wir ganz2002 von 20 000 auf 9 000 und damit proportional zum ausdrücklich. Weitere Aktionen erweisen sich aber als Rückgang der Beschäftigten in der Bauwirtschaft. falsch und untauglich. Ich nenne als Beispiel JUMP plus, Die Veranstaltung der Unionsfraktion mit 700 Hand- über das vor kurzem im Kabinett gesprochen wurde. Es werkern am vergangenen Dienstag war – Herr Tauss, Sie sollen 300 Millionen Euro zusätzlich ausgegeben wer- hätten kommen sollen – beeindruckend und lehrreich zu- den, um bereits laufende Maßnahmen zu verstetigen und gleich: Seit mehr als drei Jahrzehnten bewältigen Hand- sozusagen am Leben zu erhalten. Aber damit wird keine werksbetriebe Umsatz- und Ertragsrückgänge. Sie leben einzige neue Lehrstelle geschaffen. vielfach von der Substanz und versuchen dennoch, aus- Ich nenne weiterhin das Kreditprogramm für Ausbil- zubilden und so weit wie möglich ihre Mitarbeiter zu dungsbetriebe. Für die Unternehmen sind nicht Kredite, halten und sie weiterzubilden. Parallel dazu stehen sondern die Senkung der ohnnebenkosten L entschei- 130 000 Handwerksmeister in der Reserve, die sich so- dend. Ich nenne ferner das Verbot der Prüfgebühren für fort selbstständig machen würden, wenn sie entspre- die Kammern. Auch dadurch ist keine einzige zusätzli- chende Rahmenbedingungen vorfinden würden. Das (B) (D) che Lehrstelle zu erwarten. hätte eine Katapultwirkung auch für Lehrstellen. Dieses Potenzial sollten wir erschließen. Die jetzige Situation (Jörg Tauss [SPD]: Kammerlobbyistin, Frau sollte nicht durch ausgeklügelte Stufenmodelle und Aus- Kollegin!) bildungsplatzabgaben verschärft werden. Eine Ausbil- Zweifelsohne – das möchte ich für unsere Fraktion dungsplatzabgabe führt dazu, dass die Verantwortung im deutlich sagen – tragen die Unternehmen eine gesell- Hinblick auf die berufliche Ausbildung von der Wirt- schaftspolitische Verantwortung, gerade für die junge schaft auf den Staat überginge. Weniger betriebliche und Generation. Zahlreiche Unternehmen stehen jedoch mit mehr außerbetriebliche Ausbildungsplätze wären die dem Rücken zur Wand. Die Wahrheit ist, dass es einen Folge. traurigen Rekord bei den Insolvenzen gibt. Im letzten Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, einen Weg Jahr waren es 38 000 und in diesem Jahr sind es bereits zur Sicherung eines ausreichenden Lehrstellenangebotes 10 000. Nun bekommen die noch existierenden Unter- und zur Stärkung des ersten Ausbildungsmarktes über nehmen weitere finanzielle Belastungen und Bürokratie eine Modernisierung der Ausbildungsordnungen, aufgebürdet. Das verschärft das Insolvenzrisiko; weitere Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze sind gefährdet. (Zurufe von der SPD: Machen wir doch!) Die derzeitige Ausbildung im dualen System ist be- über eine wachstumsorientierte Steuer- und Finanzpoli- darfsorientiert. Ein Modell, das sich an der Nachfrage tik sowie über die Senkung der Lohnnebenkosten zu su- der Schulabgänger orientiert, läuft am Bedarf vorbei.chen. Ein erster Schritt wäre es, die Mittel des erfolglo- Wer entscheidet denn eigentlich aufgrund welcher Kom- sen JUMP-Programms, die immerhin 1 Milliarde Euro petenz, ab wann eine Zwangsabgabe eingeführt werden betragen, direkt zur Senkung der Lohnnebenkosten ein- soll? Mit welchem Recht will Frau Bulmahn oder Herr zusetzen, um ausbildende Betriebe zu entlasten. Clement ein Unternehmen vor Ort, das um seine Exis- (Beifall bei der CDU/CSU) tenz kämpft, und einen Unternehmer, der mit seinem Vermögen haftet, bestrafen? Soll die Zwangsabgabe bei Wir haben in unserem Antrag notwendige Wege auf- einer Lücke von 10 000, von 20 000 oder von 50 000gezeigt: zum Beispiel eineNovelle zum Berufsbil- Lehrstellenplätzen eingeführt werden? Welche Quotie- dungsgesetz. Schaffen Sie eine international ausgerich- rungen will man denn dann anlegen? Für sämtliche der tete berufliche Bildung, die aus Modulen besteht! 2,45 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialver- Schaffen Sie theoriegeminderte Berufe für Jugendliche sicherungspflichtig Beschäftigten müsste also die Soll- ohne Schulabschluss bzw. für benachteiligte Jugendli- stärke an Auszubildenden errechnet, die Differenz zur che! Fördern Sie die Verbundausbildung im Handwerk 3986 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Katherina Reiche (A) und bei kleinen Unternehmen und heben Sie die (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die haben (C) Schwelle für den besonderen Kündigungsschutz auf doch Sie produziert!) 20 Beschäftigte bei Neueinstellungen an! Ein nächster Punkt. Ich sage ausdrücklich: In diesem Das Vertrauen sowie die Verlässlichkeit von Politik Jahr haben wir eine sehr ernsthafte Situation. müssen wiederhergestellt werden. Die Drohung mit ei- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das ist doch ner weiteren Abgabe, mit einer weiteren bürokratischen Ihre Politik!) Hürde ist ein zusätzlicher Beitrag zur Verunsicherung der Unternehmen. Der richtige Weg wäre, Mut und Ri- Nur, ich erwarte von einem Abgeordneten – auch von Ih- siko zu belohnen. Nur so können Sie die fehlenden Lehr- nen, Herr Kollege –, dass er ein Gedächtnis hat, das zu- stellen auffüllen und ersetzen. mindest vier Jahre zurückreicht. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Jahre 1998 hatten wir eine gleich große Ausbildungs- lücke. Die jetzige Bundesregierung und die Koalition unterscheiden sich von Ihnen dadurch, dass wir nicht Präsident Wolfgang Thierse: einfach zusehen, so wie Sie es in den 90er-Jahren getan haben. Das Wort hat nun Bundesministerin Edelgard Bulmahn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derspruch bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das hebt das Debattenniveau Wir handeln vielmehr. Das werden wir in diesem Jahr so gleich merklich an! – Gegenruf des Abg. wie auch in den vergangenen Jahren wieder tun. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie nicht Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Lücke um 50 000 grö- sprechen, ist das Niveau immer gut! Sie sind ßer als im letzten Jahr. Wir verharmlosen dies nicht, son- ein absoluter Niveaudrücker!) dern haben nach vielen Vorgesprächen und Verhandlun- gen, die sich über mehrere Monate hinzogen, eine Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Ausbildungsoffensive gestartet – eine solche Offensive und Forschung: entsteht ja nicht aus dem Nichts –, mit der wir erreichen wollen, dass am Ende dieses Jahres alle Jugendlichen ei- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtennen Ausbildungsplatz erhalten. (B) Herren und Damen! Die aktuelle Ausbildungssituation (D) gibt Anlass zu wirklich sehr großer Sorge. Was ich aller- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dings bei Ihnen, Frau Reiche, und in den Anträgen der DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist das Opposition vermisse, ist ein konkreter Vorschlag, wie Ziel!) wir vorgehen sollen und was wir verändern sollen. – Das ist unser Ziel, darum geht es. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Keine Bundesregierung – darauf weise ich ausdrück- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich hin – und im Übrigen auch keine Opposition, kein In Ihren Anträgen steht nicht ein einziger neuer Vor-Wirtschaftsverband und keine Gewerkschaft darf es zu- schlag. Sie beinhalten vielmehr die Aufzählung dessen, lassen, dass Zehntausende von Jugendlichen – es sind was wir seit mehreren Jahren tun. Es freut mich, dass Sie 60 000, 70 000, 80 000 – ohne Ausbildungsplatz blei- das, was wir tun, so ausdrücklich unterstützen und für ben. richtig halten. Nur, ich vermisse einen einzigen neuen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ konkreten Vorschlag. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das können wir nicht hinnehmen. Deshalb muss es uns DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [FDP]: Sie gemeinsam gelingen, eine Änderung herbeizuführen. haben unseren Antrag nicht gelesen!) Das Nachfrageverhalten der Jugendlichen hat sich – Auch Ihr Vorschlag, Frau Pieper, bezüglich einer Aus- durchaus verändert. Sie haben sich in den Vorjahren bildungsbeihilfe von 3 500 Euro ist nichts Neues. Wir deutlich flexibler verhalten und sich auch für alternative gehen so seit Jahren in den neuen Bundesländern vor – Qualifizierungswege entschieden. Nach wie vor gibt es nur, ohne wirksame Effekte. Das ist doch das Problem. große regionale Unterschiede. Besonders kritisch ist die Situation in Ostdeutschland – trotz der Prämie, die Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jetzt wieder fordern. Deshalb haben wir vor zwei Wo- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen wieder mit den Ländern einen Vertrag geschlossen, in dessen Rahmen die Bundesregierung 14 000 betriebs- Deswegen bitte ich die Opposition, nicht zu schlafen, nahe Ausbildungsplätze mit rund 95 Millionen Euro fi- sondern zur Kenntnis zu nehmen, was bereits durchaus nanziert. mit Erfolg geschieht, was aber nicht verhindert hat, dass wir in diesem Jahr wieder eine sehr ernsthafte, bedrohli- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der aktuellen Si- che Situation haben. tuation kann die Gewinnung neuer Ausbildungsplätze Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3987

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) nur durch entschlossenes und gemeinsames Handeln ge- Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- (C) lingen. Um gemeinsam mit den Sozialpartnern diesesund Berufsforschung gibt es auch jetzt noch fast Ziel zu erreichen, haben wir dieAusbildungsoffensive 1,2 Millionen Betriebe, die ausbilden könnten, aber in gestartet. Wir wollen mit dieser Offensive mehr Betriebe der Realität bilden nur rund 640 000 Betriebe aus. Das für Ausbildung gewinnen, aber auch für zusätzlicheheißt, mehr als 500 000 Betriebe könnten ausbilden, tun Ausbildungsplätze in den Betrieben sorgen, die bereits es aber nicht. Genau das darf auf Dauer nicht so bleiben. ausbilden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zusätzlich zu dem unterzeichneten Ausbildungsplatz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) programm Ost öffnen wir im Rahmen der Ausbildungs- Denn lassen Sie es mich klar sagen: Ausbildung ist eine platzoffensive das Programm „Kapital für Arbeit“ auch lohnende Investition in die Zukunft für alle Betriebe und für neue Ausbildungsplätze. Mit JUMP plus schaffen wir für unsere Gesellschaft insgesamt. Das sagt im Übrigen neue Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote für auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag 100 000 Sozialhilfeempfänger zwischen 15 und 25 Jah- klipp und klar: In der Regel ist es teurer, Fachkräfte über ren. den Arbeitsmarkt zu rekrutieren, als den Fachkräftebe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darf durch eigene Ausbildung zu decken. DIE GRÜNEN) Ich hoffe also, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Wir haben außerdem die Berufsausbildungsvorbereitung es uns durch die verabredeten und eingeleiteten Initiati- in das Berufsbildungsgesetz integriert, um die Ausbil- ven gelingen wird, bis zum Jahr 2003 eine bundesweit dungschancen von schwer vermittelbaren Jugendlichen ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen. Das zu erleichtern. Diesem Ziel dient auch ein neues System wird nur gelingen, wenn sich die Unternehmen selbst von Qualifizierungsbausteinen, die wir zurzeit gemein- deutlich stärker engagieren. Bleibt dieses Engagement sam mit den Sozialpartnern entwickeln. Schließlich wird aus, sind die Verbände der Wirtschaft aufgefordert, ei- die Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre ausge- nen realistischen Vorschlag vorzulegen, wie dieses Ziel setzt. Damit machen wir den Weg frei, dass deutlichbis zum Ende dieses Jahres erreicht werden kann. mehr Betriebe ausbilden können. Ich stelle lobend heraus, dass es einen Verband gibt, Die Ausbildungsoffensive 2003 gibt uns die Chance, der diese Aufgabe wirklich ernst nimmt und ernst ge- meine sehr geehrten Herren und Damen, nicht nur kurz- nommen hat. In Niedersachsen hat der Arbeitgeberver- fristig eine Kehrtwende bei der verschlechterten Ausbil- band Metall mit der IG Metall in der letzten Woche ei- dungslage zu erreichen, sondern auch langfristig ge-nen Tarifvertrag abgeschlossen, in dem sie auf der einen meinsame Wege zur strukturellen Verbesserung desSeite die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal deut- (B) (D) dualen Ausbildungssystems einzuschlagen. Jetzt kommt lich erhöhen und auf der anderen Seite erklären, zusätz- es allerdings ganz entscheidend darauf an, dass auch die lich 1 Million Euro bereitzustellen, um das Ziel von Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden und 10 Prozent mehr Ausbildungsplätzen tatsächlich zu er- sicherstellen, dass kein Jugendlicher ohne ein Ausbil- reichen. dungsplatzangebot bleibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg DIE GRÜNEN) Tauss [SPD]: Vorbildlich!) Wenn alle Unternehmen für ihren Bedarf ausbildeten, Ich wünsche mir, dass jeder Verband, jede Branche, dann gäbe es in Deutschland kein Ausbildungsplatzpro- jede Region in unserem Lande diese Aufgabe genauso blem. Tatsächlich bilden in Deutschland weniger alsernst nimmt und deutliche Signale gibt, dass ihnen Aus- 30 Prozent aller Unternehmen überhaupt aus. Das heißt bildung wichtig ist. Wäre dies der Fall, dann müssten im Umkehrschluss: Mehr als 70 Prozent aller Unterneh- wir hier im Bundestag nicht überlegen, wie wir dieses men entziehen sich ihrer sozialen und übrigens auchZiel erreichen können. Wir tun das Unsere dafür, aber ökonomischen Verantwortung; denn diese Betriebe ver- ich sage ausdrücklich: Die Wirtschaft und die Gewerk- weigern sich der Aufgabe, selbst für qualifizierte Fach- schaften müssen ebenfalls das Ihrige dazu tun; sonst kräfte zu sorgen. Qualifizierte Fachkräfte aber fallen nun können wir das Ziel nicht erreichen. einmal nicht vom Himmel. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – DIE GRÜNEN) Ulrike Flach [FDP]: Dann müsst ihr sie las- sen!) Unternehmen müssen sie ausbilden; darauf sind letztlich alle Unternehmen angewiesen. Wichtig ist dabei im Übrigen immer, so wie das in dem angesprochenen Tarifvertrag auch gemacht worden Daher sage ich erneut klipp und klar: Wir werden uns ist, dass der Vorschlag verbindlich und umsetzbar sowie nicht damit abfinden, dass sich mehr als 70 Prozent die- seine Realisierung nachprüfbar ist. Sollte das nicht der ser Aufgabe verweigern. Das ist nicht hinzunehmen, Fall sein, wird die Bundesregierung geeignete, auch ge- wenn wir wirklich wollen, dass das duale System auch in setzgeberische Maßnahmen ergreifen müssen. Das hat Zukunft eine bedeutende Funktion hat und gewährleis- der Bundeskanzler bereits im März angekündigt. tet, dass zwei Drittel aller Jugendlichen ausgebildet wer- den. (Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!) 3988 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) An dieser Stelle unterstreiche ich allerdings auch aus- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung (C) drücklich: Solche freiwilligen Vereinbarungen, wie sie und Forschung: in Niedersachsen geschlossen worden sind, müssen und Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, erwarte sollten unserer Meinung nach Vorrang haben. Das Enga- ich, dass alle jetzt ihren Part erfüllen und alle Kräfte für gement, die Mühe und die Initiative jedes Einzelnendie Bereitstellung von Ausbildungsplätzen einsetzen und hierzu lohnen sich also. mobilisieren – in ihrem eigenen Interesse, aber vor allen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dingen im Interesse der Jugendlichen in unserem Lande des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und damit im Interesse unserer Zukunft. Eine gesetzliche Regelung ist sicherlich das letzte Vielen Dank. Mittel, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das aller- DIE GRÜNEN) letzte! – Peter Rauen [CDU/CSU]: Das un- tauglichste!) Präsident Wolfgang Thierse: ein letztes Mittel, das sich erübrigt, wenn die Wirtschaft Nun hat Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommt und ihre Wort. eigene Zukunftssicherung energisch vorantreibt. Des- (Jörg Tauss [SPD]: Frau Pieper, denken Sie an halb ist es auch verfrüht, hier und heute über die Ausge- Ihren gestrigen Appell!) staltung einer möglichen gesetzlichen Regelung zu spe- kulieren. Cornelia Pieper (FDP): (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Es gibt doch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- schon eine Arbeitsgruppe!) ehrter Herr Tauss! Am 1. August beginnt das neue Aus- Jedem sollte aber klar sein, dass in keinem Fall diejeni- bildungsjahr. Es sind gerade noch zwei Monate bis da- gen Unternehmen von einer solchen Regelung profitier- hin. Die Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt ten, die bis heute und in der Vergangenheit ihrer Auf-in Deutschland ist dramatisch und gibt Anlass zu größter gabe und ihrer Verantwortung in Bezug auf Sorge. die Die rechnerische Lücke zwischenAusbildungs- Ausbildung nicht nachgekommen sind. Das ist ein klares angebot und -nachfrage beträgt im April mehr als Kriterium, das in einer solchen gesetzlichen Regelung 160 000 Plätze. Selbst der DGB rechnet im Berufsbil- auch berücksichtigt werden wird. dungsbericht bis zum Sommer noch mit einem echten Fehlbestand von 80 000 Plätzen. (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Ministerin, ich will Sie einmal darauf hinweisen, dass es selbst 1998, unter der alten Bundesregierung – das Mit anderen Worten: Wer heute nicht oder mit Blick auf ist der Vergleich, mit dem Sie immer agieren –, in den eigenen Fachkräftebedarf nur unzureichend ausbil- Deutschland 44 189 Ausbildungsplätze mehr gab – ohne det, kann morgen nicht darauf hoffen, Zuschüsse fürJUMP-Programm. dann eingestellte Auszubildende zu kassieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bitte lassen Sie doch diese Fehlinformationen! Wir kom- Wer so kalkuliert, handelt kurzsichtig und wird seiner men mit diesen Zahlenspielereien hier nicht weiter. Das Verantwortung nicht gerecht. kann man den Menschen draußen, den Jugendlichen, die Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Wenn dieeinen Ausbildungsplatz suchen, nicht erklären. Wirtschaft in diesem Jahr ihrer Ausbildungsverantwor- Ich sage Ihnen ganz klar: Die Schelte gegenüber der tung nachkommt – das hoffe ich –, dann wird es auch Wirtschaft, gegenüber den kleinen und mittelständischen keine gesetzliche Regelung geben. Wenn sie ihr nichtUnternehmen hilft nicht. Sie haben die kleinen und mit- nachkommt, müssen wir eine solche Regelung treffen. telständischen Unternehmen in Deutschland mit mehr Steuern und Abgaben belastet. Ich gebe auch denjenigen Kolleginnen und Kollegen Recht, die sich hier sehr kritisch geäußert haben: Es ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eigentlich eine Schande, dass wir dann zu solchen Mit- der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Das teln greifen müssen. Aber es ist auch eine Schande, ist doch nicht wahr!) wenn diejenigen Unternehmen, die nicht ausbilden – es sind viel zu viele –, ihrer Verantwortung nicht nachkom- – Das ist unser Grundproblem! men. Meine Damen und Herren, ich frage mich manchmal, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ob Sie verinnerlicht haben, wie ein Arbeits- oder Ausbil- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dungsplatz überhaupt entsteht. Er fällt doch nicht vom Himmel. Da entstehen Kosten. Da braucht man wirt- schaftliche Dynamik. Die kleinen Firmen brauchen Auf- Präsident Wolfgang Thierse: träge, damit Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen Frau Ministerin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3989

Cornelia Pieper (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mit dieser überflüssigen Bürokratie, die letztendlich (C) auch Arbeits- und Ausbildungsplätze vernichtet! Sie können den Ausbildungsplatzmangel, die drama- tische Situation, in der wir uns jetzt befinden, nicht al- (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wie lein mit einer anderen Bildungspolitik beheben. Das beim Handwerk!) Grundübel in Deutschland ist die falsche Wirtschafts- Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- und Finanzpolitik der Bundesregierung. tion, Ihr JUMP-Programm mit 1,1 Milliarden Euro Um- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fang hat nichts gebracht. Das Einzige, was Ihnen noch einfällt, ist das Patentre- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto zept der Ausbildungsplatzabgabe. Solms) (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht Es hat nicht dazu geführt, dass junge Menschen auf den wahr! – Anton Schaaf [SPD]: Lesen Sie doch Arbeitsmarkt zurückkehren können. Im Gegenteil: Sie den Antrag!) engagieren sich wieder auf dem zweiten Arbeitsmarkt, im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Dies Da kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Dann stellt doch eine Spirale abwärts und keinen Weg auf- wird alles noch schlimmer. Noch eine Abgabe mehr wird wärts zum Sprung in den Arbeitsmarkt dar. Deswegen der Wirtschaft aufgehalst. Das wird garantiert nicht mehr kritisieren wir auch diese Maßnahme, nicht in allen Tei- Ausbildungs- und Arbeitsplätze bringen. len, aber in vielen. Wir sind der Auffassung, dass man Der Meisterbrief, der die Garantie dafür ist, dass Aus- gerade auch in die Betriebe investieren und sie unterstüt- bildung im Handwerk stattfindet, soll aufgeweicht wer- zen muss, damit Ausbildungsplätze entstehen. den. Auch das ist keine Maßnahme, um Ausbildung zu (Jörg Tauss [SPD]: Genau das wollen wir ja!) sichern. Seit Ihrer Regierungsübernahme machen Sie eine (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der mittelstandsfeindliche Politik. Sie haben das Steuer- CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und recht immer noch nicht vereinfacht, Sie haben es nicht dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reformiert. Immer noch werden Personengesellschaften Auch hier wollen wir dem Handwerk die Treue halten gegenüber Aktiengesellschaften ungerecht behandelt. und für den Meisterbrief kämpfen. Keine Frage! Die Rentenversicherungsbeiträge steigen trotz der Einführung der Ökosteuer. Ich erinnere an Folgendes: Längst hätte die Koalition konkrete Schritte zur Diffe- Die Grünen wollten durch die Ökosteuer die Rentenver- (B) renzierung und vor allem zur Verkürzung der Ausbil-sicherungsbeiträge senken; das war die Begründung für (D) dungszeiten tun können. Längst hätten Sie, Frau Minis- diese unsinnige Steuer in Deutschland. Wir erleben das terin, die Möglichkeit gehabt, das Berufsbildungsgesetz Gegenteil. zu novellieren. Wir fordern das schon seit langem. (Jörg Tauss [SPD]: Das liegt daran, dass wir (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) immer älter werden!) – Herr Tauss, da Sie nur ein Kurzzeitgedächtnis haben, Ich möchte in diesem Zusammenhang an die verschla- darf ich Sie daran erinnern, dass wir schon lange einefene Gesundheitsstrukturreform und vieles andere Modularisierung, eine größere Differenzierung und Fle- mehr erinnern. xibilisierung der Berufsausbildung fordern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Jörg Tauss [SPD]: Ja, gefordert haben Sie seit der CDU/CSU) langem!) Ich höre zum ThemaAusbildungsabgabe von der Wir wollen Grundberufe mit geminderten Theorieanfor- grünen Fraktionschefin Krista Sager folgende Worte: derungen. Wir wollen, dass man mit Qualifizierungsbau- Wenn man merkt, dass sich die Wirtschaft nicht rührt, steinen darauf aufbauen kann. Das wäre eine wichtige dann sollte man auch die Folterinstrumente vorzeigen. Reform, um in Deutschland Ausbildungsplätze zu schaf- (Zuruf von der FDP: Pfui!) fen. Wo leben wir denn? Wir leben in einer sozialen Markt- (Beifall bei der FDP) wirtschaft und nicht in einer Diktatur, in der man Selbst- Sie werden eine verfehlte Wirtschafts- und Finanzpo- ständigen, die Eigeninitiative zeigen, mit Folterinstru- litik nicht durch neue bürokratische, staatlich orientierte menten droht. Programme wettmachen können. Das sage ich Ihnen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ganz deutlich für die FDP-Fraktion. Ich habe noch heute früh mit einem Unternehmer gesprochen, der mir gesagt Die Grünen schlagen vor – O-Ton Thea Dückert und hat: Wir müssen von dieser Bürokratielast befreit wer- Minister Trittin –, eineStiftung für betriebliche Bil- den, gerade auch bei den Ausbildungsplätzen. Er hat mir dungschancen einzurichten. Die Stiftung solle verbind- erzählt, dass er noch jetzt wegen eines Ausbildungsplat- liche Zusagen für einen Kapitalaufbau bekommen. Der zes von 1998 bis 2000 eine versicherungsrechtlicheGesetzgeber solle Mindestanforderungen definieren, Überprüfung durch die LVA am Hals hat. Das muss man durch die alle Unternehmen an den Kosten der betriebli- sich einmal vorstellen. Wo leben wir denn? Endlich weg chen Ausbildung beteiligt würden. Nach Berechnung der 3990 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Cornelia Pieper (A) Grünen seien 0,3 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) von Unternehmen notwendig, um die Nettokosten für Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- rund 700 000 Lehrstellen pro Jahr aufzubringen. Wissen gen! Liebe Kollegin Pieper, so viele Widersprüche wie Sie, was das ist? Diese Ausbildungsumlage ist ein Ta- in Ihrer Rede habe ich selten in sieben Minuten gehört. schenspielertrick. Damit werden die Lohnnebenkosten noch einmal erhöht und die kleinen Betriebe noch mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kaputtgemacht. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Was fordern Sie eigentlich: Regulierung oder Deregulie- rung? Das ist nicht die Politik, die wir als liberale Mittelstands- und Bildungspartei vertreten. Das sage ich hier ganz (Jörg Tauss [SPD]: Subventionen!) deutlich. Sie hatten viele Jahre Zeit zu Reformen, zum Beispiel (Jörg Tauss [SPD]: Ihr wollt, dass sich nichts zur Reform des Berufsbildungsgesetzes. Wir packen das ändert!) nun endlich an. Das Recht auf Bildung ist nach unserer Auffassung (Cornelia Pieper [FDP]: Wann? Das erzählen ein grundlegender Bestandteil der Menschenrechte. Es Sie jetzt schon seit Jahren!) ist für uns ein Freiheitsthema. Jeder junge Mensch muss die Chance bekommen, durch eine gute Ausbildung in Ich denke, Sie sollten uns dabei unterstützen. den Arbeitsmarkt einzusteigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! Dafür sorgen und bei der SPD) wir! – Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Alle meine Vorrednerinnen und Vorredner haben es – Das haben Sie nur nicht verinnerlicht. – Weil das so ist, angesprochen: Die aktuelle Situation am Ausbildungs- weil wir in einer Notsituation sind und weil Sie die Re- markt ist beängstigend. Tausende junger Menschen, die form verschlafen haben, haben wir einen Alternativvor- demnächst aus der Schule kommen, stehen beim Zugang schlag eingebracht: die Gelder des JUMP-Programms in in das Ausbildungs- und Berufsleben vor einer riesen- eine Ausbildungsprämie von 3 500 Euro einfließen zu großen Hürde, die sie allein nicht nehmen können. Ne- lassen. Das sind die Kosten für einen Ausbildungsplatz ben der Politik steht in besonderer Weise die Wirtschaft in den ersten fünf Monaten in kleinen mittelständischen in der Verantwortung, alle Energie aufzuwenden, um je- Unternehmen. der Schulabgänger und jeder Schulabgängerin einAus- (B) bildungsplatzangebot unterbreiten zu können. (D) (Zuruf von der SPD: Eine Subvention!) Diesen Vorschlag haben wir mit dem Deutschen Indus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trie- und Handelskammertag, DIHK, erarbeitet. und bei der SPD) Die Notsituation in diesem Bereich haben Sie herbei- Knappe Kassen oder die konjunkturelle Krise dürfen geführt. Wir wären heute gar nicht gezwungen, solch ein nicht als pauschale Erklärung und Entschuldigung her- Programm zu initiieren, wenn Sie diese Notsituationhalten. Oberstes gemeinsames Ziel muss es sein, konti- nicht herbeigeführt hätten. nuierlich ein Angebot an betrieblichen Ausbildungsplät- zen unterbreiten zu können. Gemeinsam müssen wir der (Zuruf von der SPD: Sehr schlecht recher- jungen Generation eine Perspektive aufzeigen. chiert!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Ausbildungsprämie ist für dieses Jahr ein geeigneter und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Kon- Weg. Sie ist keine Lösung für die Zukunft. Wir brauchen junkturunabhängig!) eine andere Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, Dort, wo Ausbildungsplätze trotz aller Bemühungen (Zuruf von der FDP.: Eine andere Regierung! – noch immer fehlen, müssen wir Brücken bauen. Wir Jörg Tauss [SPD]: Neue Subventionen! Das ist brauchen nicht irgendwelche Beschäftigungsmaßnah- eure Forderung!) men, sondern müssen Angebote von Qualifikations- bausteinen aber vor allen Dingen brauchen wir in Zukunft wohl eine bereitstellen, mit denen insbesondere be- andere Bundesregierung, weil diese Bundesregierungnachteiligte junge Menschen nach und nach eine nicht in der Lage ist, die Herausforderungen anzuneh- vollwertige Ausbildung erwerben können. men und die Probleme dieses Landes zu lösen. Auf Dauer reicht es aber nicht, den jungen Menschen Vielen Dank. Ersatzmaßnahmen anzubieten, mit denen sie am Ende die Hürde ins Berufsleben doch nicht nehmen können. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es kann grundsätzlich nicht sinnvoll sein, dass die Kos- ten der beruflichen Bildung zunehmend vom Staat über- Vizepräsident Dr. : nommen werden. Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bündnis 90/Die Grünen. und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3991

Grietje Bettin (A) Staatliche Mittel sind stark begrenzt. Sie müssen – PISA wir den jungen Menschen und der Zukunftsfähigkeit un- (C) hat das gezeigt – vor allem für vorschulische und schu- seres Landes schuldig. lische Bildung verwendet werden. Davon profitiert der Abschließend möchte ich an die Bundesregierung ap- Einzelne, ebenso profitieren davon aber auch die Unter- pellieren, dass sie die Wirtschaft mit Nachdruck zum nehmer und Unternehmerinnen. Das weltweit hoch ge- Handeln auffordern und gleichzeitig deutlich machen lobte duale System lebt davon, dass die Ausbildung im muss, dass sie, im Interesse der jungen Menschen in un- Betrieb stattfindet, also praxisbezogen und anwendungs- serem Land, für den Notfall alle Vorbereitungen getrof- orientiert ausgelegt ist. fen hat. Vor dem Hintergrund der Lage am Ausbildungsmarkt Danke schön. ist die Schaffung einer von der Konjunktur unabhängi- gen Ausbildungsstruktur unser zentrales Ziel. In einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hörfunkinterview hat BDI-Präsident Michael und bei der SPD) Rogowski die Notwendigkeit anerkannt, dass „wir einen Weg finden müssen, um diejenigen, die nicht ausbilden, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zur Ausbildung zu bewegen.“ Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Lensing von Welchen Weg schlagen Sie, liebe Kolleginnen undder CDU/CSU-Fraktion. Kollegen von der CDU, dazu vor? In Ihrem Antrag ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen Sie über diese Frage wortlos hinweg. Die FDP schlägt eine Prämie für neue Ausbildungsplätze vor. Werner Lensing (CDU/CSU): (Cornelia Pieper [FDP]: Und die Senkung von Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Steuern und Abgaben!) von der Bundesregierung vorgelegte Berufsbildungsbe- Hier ist die Wirtschaft schon viel weiter. DerPräsident richt 2003 geht an der aktuellen Realität völlig vorbei. des DIHK spricht davon, dass eine Ablösesumme fällig (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden könnte, die von nicht ausbildenden Betrieben an ausbildende Betriebe gezahlt werden müsse. Klar ist:Selbst die Realität wirkt irreal. Wenn die Wirtschaft nicht eigenständig ihren Ausbil- (Zuruf von der SPD: Jetzt wird es philoso- dungspflichten nachkommt, muss auf andere Weise ein phisch!) gerechter Mechanismus geschaffen werden. Aus diesem Grund haben wir Grüne das Stiftungsmodell entwickelt, Wem nützt dieser Bericht eigentlich? (B) das schon angesprochen wurde. Dieses Modell könnte (Jörg Tauss [SPD]: Ihnen!) (D) ein Weg sein, um Ungerechtigkeit zwischen ausbilden- den und nicht ausbildenden Betrieben zu beseitigen. Nach gründlichem Studium bin ich der Meinung, dass er allenfalls der Druckerei nützt, in der dieser Bericht ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – druckt wurde. Ich hoffe, zumindest dadurch wurden in Dirk Niebel [FDP]: Ich denke, das ist das Fol- diesem Betrieb Ausbildungsplätze geschaffen. Ich will terinstrument!) Ihnen diese kesse Bemerkung erläutern und begründen. Die Zustimmung des BDI-Präsidenten zu einem sol- (Jörg Tauss [SPD]: Ja, darum bitten wir!) chen verpflichtenden Ausbildungsfonds ist ermuti- gend. Nach den einsichtigen Worten erwarten wir Taten. Gegenüber dem Vorjahr ist ein Rückgang der Zahl der Bis zum Herbst müssen die Arbeitgeber ein umsetzungs- neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge um insge- fähiges Konzept vorlegen; denn nicht nur die Politik, samt 42 000 zu verzeichnen. Dies entspricht einem auch sie tragen ein hohes Maß an gesellschaftlicher und Rückgang von etwa 6,8 Prozent. sozialer Verantwortung. Vor allem aber sind hohe Aus- (Jörg Tauss [SPD]: Das wissen Sie aber nur bildungszahlen und Standards Voraussetzung für Wett- aus dem Bericht!) bewerbsfähigkeit und betrieblichen Erfolg. Es geht also auch um die ureigenen Interessen der Unternehmerschaft Jetzt kommt es aber: Ende September 2002 hieß es: Nur selbst. noch 4 Prozent fehlen, um allen Lehrstellensuchenden helfen zu können. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Jörg Tauss [SPD]: Warum zitieren Sie immer Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten, dass aus dem Bericht?) die Wirtschaft aus eigener Kraft bereit ist, den Ausbil- Hört sich das nicht eigentlich gut an? – Ist es aber gar dungsplatzmangel zu beheben. Weder der Zeitpunkt nicht; denn die Zahlen vom September 2002 sind inzwi- noch die Lage am Ausbildungsmarkt lassen es zu, dass schen haltlos veraltet. Sie sind Schnee von gestern, dabei wir uns hinhalten lassen. Sichtbare und nachvollziehbare wartet draußen ein heißer Sommer auf uns alle. Hierbei Schritte müssen seitens der Wirtschaft in Gang gesetzt geht es nicht um den heißen Sommer des DGB; der war- werden. In dieser Frage dürfen sich alle Unternehmens- tet nur auf den Kanzler. verbände der Unterstützung durch die Politik sicher sein. Wir wollen aber auch Ergebnisse sehen. Deshalb werden Im Ausbildungsjahr 2003/2004 fehlen inzwischen wir bei Nichterreichen dieses Ziels zu Mitteln über der 171 000 Lehrstellen; Frau Reiche hat bereits darauf gesetzlichen Verpflichtung greifen müssen. Das sind verwiesen. Ich muss es noch einmal sagen und ich sage 3992 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Werner Lensing (A) es nicht mit Schadenfreude, sondern mit Traurigkeit: (Jörg Tauss [SPD]: Ergo?) (C) Das ist der höchste Wert seit 1998. Sie haben die Kosten für die Ausbildung gespart und an- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schließend den Rahm, nämlich die qualifizierten Fach- Und dann wollen Sie JUMP streichen!) kräfte, abgeschöpft. Die Lehrstellenlücke hat sich damit um weitere 10 000 (Jörg Tauss [SPD]: Alles wahr!) vergrößert. Der Rückgang der Zahl der betrieblichen Lehrstellen beträgt im Vergleich zum Vorjahresmonat Das ist zu kritisieren 11,5 Prozent. Dazu sind 1,3 Millionen Menschen zwi- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) schen 20 und 29 Jahren berufslos. Ende März waren 561 800 Arbeitslose jünger als 25. Das sind 56 700 mehr – ich bin erstaunt, dass dies selbst Herr Tauss wahr- als vor einem Jahr. nimmt –, und zwar ist das laut zu kritisieren. Das ma- chen wir auch. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt kommen wir zu den Taten!) Doch in dieser Krisensituation führt der Ruf nach ei- ner Ausbildungsplatzabgabe völlig in die Irre. Da feiert In dieser verhängnisvollen Situation dürfte die Zahl der Wahnsinn geradezu Triumphe. wirklich unnützer rot-grüner Reformvorschläge inzwi- schen an die Hunderte reichen, während neueHaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haltslöcher von der Presse und der Öffentlichkeit nur Der Knüppel aus dem Sack trifft doch die Falschen, noch wahrgenommen werden – und das natürlich auch nämlich insbesondere die meisten kleinen Betriebe, die nur nebulös –, wenn sie mindestens eine mehrstelligezwar willig sind, auszubilden, denen aber aus konjunktu- Milliardenhöhe erreichen. Insofern stimmt es, wenn man rellen Gründen der Atem auszugehen droht. sagt: Die desaströse Wirtschafts- und Arbeitsmarktpoli- tik der Regierung hat den Lehrstellenmarkt inzwischen ( [Starnberg] [SPD]: Sie sagten mit voller Macht und Wucht erreicht. doch gerade, die großen Betriebe bilden nicht aus!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie trifft auch völlig zu Unrecht diejenigen, die trotz al- Genau das ist die Wurzel allen Übels. ler persönlichen Bemühungen keinen geeigneten Bewer- (Jörg Tauss [SPD]: Die liegt vor 1998!) ber finden. Große Unternehmen hingegen, die sich um ihre Verantwortung drücken, lässt eine solche Abgabe Frau Ministerin, solange Sie dies nicht begreifen, wird eher kalt. Mehr Lehrlinge werden sie deswegen garan- sich die Lage am Lehrstellenmarkt bedauerlicherweise (B) tiert nicht einstellen. (D) auch weiterhin dramatisch verschlechtern. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Aber dann (Cornelia Pieper [FDP]: Genau!) zahlen sie!) Frau Ingrid Sehrbrock, – sie ist immerhin Mitglied Das Geld, das sie zu zahlen haben, fließt bestenfalls im DGB-Vorstand –, hat am 3. April in Berlin erklärt: in die überbetriebliche Ausbildung, Die Lücke hat sich seit Februar also um rund (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Ausdrücklich nicht! 30 000 fehlende Ausbildungsplätze vergrößert. – Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Lesen Sie Diese Entwicklung ist dramatisch und es muss den Antrag!) schnell gegengesteuert werden. die nicht die beste ist. Die Handwerker schauen dann (Nicolette Kressl [SPD]: Genau!) wieder in die Röhre. Die Ausbildung zu einer staatlichen Recht hat sie: Es muss sich etwas ändern, und zwar so- Veranstaltung zu machen ist das Gegenteil von dem, was fort. das duale Ausbildungssystem zu seinem tollen Erfolg gebracht hat. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Und zwar auf der Regierungsbank!) (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Darum sa- gen Sie uns jetzt, wie das geht!) Das Handwerk und der Mittelstand haben in den vergangenen Jahren die größte Last übernommen. Dafür Wir wollen das noch einmal im Klartext sagen: Durch gebührt ihnen unser aller Dank. die geplante Ausbildungsabgabe werden die Anstren- gungen der deutschen Wirtschaft, speziell des Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg standes und damit auch des Handwerks, in diesem Jahr Tauss [SPD]: Dafür wollen wir sie entlasten!) noch eine möglichst hoheZahl an Ausbildungsplätzen Doch, das sage ich hier auch sehr deutlich: So manche zur Verfügung zu stellen, geradezu konterkariert und er- Großunternehmer haben sich dieser Ausbildungsver- heblich behindert. antwortung leider entzogen. (Beifall des Abg. [Bayreuth] (Jörg Tauss [SPD]: Sehr richtig! Was schließen [FDP]) Sie daraus?) Allein schon die zynische – ich kann sie wirklich Diese haben in besseren Zeiten just an dem Ast gesägt, nicht anders nennen – Ankündigung der Regierungsfrak- auf dem sie heute selbst sitzen. tionen, diese umstrittene Zwangsabgabe, die von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3993

Werner Lensing (A) Schröder, als er noch Ministerpräsident in Niedersach- Werner Lensing (CDU/CSU): (C) sen war, zu Recht durchgehend vehement abgelehnt Das ist aber sehr traurig, Herr Präsident. Dann sage worden war, nun ausschließlich „zum Wohle der Wirt- ich noch einen Satz als Höhepunkt der Darstellung: schaft“ erheben zu wollen, (Jörg Tauss [SPD]: Noch ein Höhepunkt!) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Unglaub- lich!) Das wichtigste und effektivste Ausbildungsprogramm für ganz Deutschland sind möglichst baldige Neuwah- belastet die kritische Ausbildungssituation in diesemlen. Jahr und in Ihrer Verantwortung zusätzlich. In diesem Sinne! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Im Ergebnis ist diese Zwangsabgabe nichts anderes Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr als ein Schritt hin zur Verstaatlichung der Ausbildung. Lensing hat wieder einmal alle Karnevalser- wartungen perfekt erfüllt! – Jörg Tauss [SPD]: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich dachte, jetzt käme wirklich mal ein Höhe- der FDP) punkt!) Es ist immer wieder das Gleiche: umverteilen und gleichzeitig das Niveau senken, mehr Zwang und weni- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ger Kreativität. Genau in diese armselige Denkstruktur Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von passt Ihre Forderung nach Einführung einer Ausbil-der SPD-Fraktion. dungsplatzabgabe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Wir warten immer noch auf Ihren Vorschlag!) Nicolette Kressl (SPD): und nach einer flächendeckenden Reduzierung der Meis- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- tertitel. Dabei garantiert gerade beispielsweise dergen! Herr Lensing, es wäre schön gewesen, wir hätten Meister die Qualität beruflicher Ausbildung. wenigstens einen Vorschlag und nicht nur nebulöse An- Frau Minister Bulmahn hat gemeint, sagen zu können kündigungen von Ihnen gehört. und zu müssen, dass wir keine eigenen Vorschläge unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten breiten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) (Jörg Tauss [SPD]: Bis jetzt kam auch noch Wenn die Ausbildungssituation so kritisch ist, wie sie nichts!) sich zurzeit tatsächlich darstellt, dann müssen alle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen, diese auch Wir haben so viele eigene Vorschläge, wahrnehmen. (Lachen bei der SPD – Klaus Barthel [Starn- (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Fangen Sie berg] [SPD]: Wo sind sie denn? Wir haben mal bei sich an!) nichts gehört!) Das ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass junge dass Sie, Frau Bulmahn – das ist mein Eindruck –, hier- Menschen tatsächlich Startchancen für ihr Berufsleben bei die Übersicht verloren haben. Mir liegt ein Katalog bekommen. von mindestens acht konkreten Vorschlägen vor, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Lesen Sie mal vor!) Diese Verantwortung muss auch deshalb wahrgenom- die ich unglaublich gerne im Einzelnen hier erläuternmen werden, weil unser wirtschaftliches Wachstum und möchte, woran mich aber die Tagesordnung und die Re- der damit verknüpfte Wohlstand in den nächsten Jahren dezeitbegrenzung hindern. davon abhängen wird, ob es auch in 10 oder in 20 Jahren genügend qualifizierte Menschen gibt, die Ideen entwi- (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten ckeln, Innovationen auf den Weg bringen und hochwer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tige Güter und Dienstleistungen produzieren. Dafür Aber drei möchte ich Ihnen nennen. müssen wir jetzt die Basis legen. (Dirk Niebel [FDP]: Mehr kann Herr Tauss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch nicht aufnehmen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Verantwortung liegt auch bei denen, die poli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tisch verantwortlich sind. Sie liegt natürlich besonders Herr Kollege Lensing, Ihre Zeit ist aber abgelaufen. stark bei der Wirtschaft. Es kann nicht angehen, dass vonseiten der Wirtschaft immer wieder – wie ich finde: (Lachen und Beifall bei der SPD und dem zu Recht – angemahnt wird, dass die Politik mittelfris- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker tige und langfristige Perspektiven entwickelt, dass die Kauder [CDU/CSU]: Nur die Redezeit!) Wirtschaft selbst aber bei der Ausbildung der eigenen 3994 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Nicolette Kressl (A) Fachkräfte völlig darauf verzichtet, mittelfristig zu den- Dazu gehört die Ausbildungsplatzoffensive. Dazu gehö- (C) ken. Das kann doch wirklich nicht wahr sein. ren die Erleichterungen bei der Möglichkeit, auszubil- den. Dazu gehören aber natürlich auch Maßnahmen wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Modernisierung von Ausbildungsordnungen. DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Deshalb halten wir es für so problematisch, dass gegenüber dem Vorjahresmonat 57 000 betriebliche Ausbildungs- Bei diesem Thema wird es in Ihrem Antrag richtig ab- stellen weniger gemeldet worden sind und dass der An- surd. Da fordern Sie dieModernisierung von Ausbil- teil der ausbildenden Betriebe auf weniger als ein Drittel dungsordnungen. In Wirklichkeit hat erst diese Koali- zurückgegangen ist. tion und hat erst diese Regierung sich bewegt, während sich vor unserer Zeit im Bereich der Modernisierung von Es gibt inzwischen – sicherlich auch wegen der Aus- Ausbildungsordnungen so gut wie nichts getan hat. bildungsoffensive der Bundesregierung – Hoffnungs- schimmer. Dazu gehört zum Beispiel der neue Tarifver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trag für die chemische Industrie wie auch die Initiative DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: des Metall-Arbeitgeberverbandes Niedersachsen. Sie drehen sich doch im Kreis! – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Totaler Stuss! Das (Beifall bei der SPD) stimmt gar nicht! – Jörg Tauss [SPD]: Die Wir unterstützen solche freiwilligen Aktionen, um es Wahrheit tut weh!) ganz deutlich zu sagen. Wir werden aber nicht nur zuse- Ein Beispiel: Am 1. August 2002 sind 24 neue Ausbil- hen dürfen und können, falls sich immer größere Teile dungsordnungen, davon acht zu neuen Berufen, in Kraft der Wirtschaft dieser Aufgabe und dieser Verantwortung getreten – und dieser Prozess ist keineswegs am Ende. nicht stellen. Es geht nicht, dass wir einfach nur zusehen. Sie haben heute den ganzen Morgen gejammert,Dann schauen wir noch einmal in den Antrag der schlechtgeredet und zugeschaut, CDU/CSU: Welcher Zynismus und welche Doppelzün- gigkeit spricht denn aus diesem Antrag, wenn Sie for- (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Was heißt dern, die – erfolgreichen – Programme gegen Jugend- „schlechtreden“! Das kann man gar nicht arbeitslosigkeit einzustellen? Gleichzeitig erlebe ich, mehr!) wie sich sämtliche Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer weil Sie von dem profitieren wollen, was sich entwi-Fraktion bei Veranstaltungen – manchmal sind es ja in ckelt. Person die gleichen – darüber beschweren, dass wir bei der Bundesanstalt für Arbeit dafür kämpfen mussten, (B) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn man Sie dass die Programme für Berufsvorbereitungsmaßnah-(D) hört, wird einem schlecht!) men weitergeführt werden – das haben wir erreicht. Das ist nicht die Übernahme politischer Verantwortung, (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Die Sie zusam- um es ganz deutlich zu sagen. Hier sind andere Wege ge- mengestrichen haben!) fragt. Da schimpfen und jammern Sie und gleichzeitig fordern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie, das JUMP-Programm abzuschaffen. Das ist wirklich DIE GRÜNEN) purer Zynismus und pure Doppelzüngigkeit! Es ist deshalb so wichtig, dass wir nicht nur zusehen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weil wir hier über einen Bereich reden, in dem es um die DIE GRÜNEN) Lebenschancen von jungen Menschen geht, um ihr Selbstwertgefühl, um ihren zukünftigen Platz in der Ge- Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie werden sich sellschaft. Wie sollen denn junge Menschen zu diesem schon entscheiden müssen, welchen Weg Sie gehen wol- Staat, zu dieser Gesellschaft, zu dieser Demokratie ste- len. Die sozialdemokratische Fraktion hat sich, wie ge- hen können, wenn sie erleben, dass wir nicht alle – ich sagt, erfolgreich für den Erhalt dieser Maßnahmen ein- sage bewusst: alle – Maßnahmen ergreifen, um ihnengesetzt. tatsächlich Startchancen geben zu können. Gerade bei diesem Thema erwarten die Menschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von der Politik zu Recht, dassgemeinsame Lösungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wege gesucht werden, statt zu versuchen, aus der kriti- schen Situation politisches Kapital zu schlagen. Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir, wenn es nicht gelingt, durch freiwillige Vereinbarungen zu einem (Volker Kauder [CDU/CSU]: Von dieser Regie- ausreichenden Ausbildungsplatzangebot zu kommen, rung erwarten die Menschen nichts mehr!) gesetzliche Regelungen vorlegen werden, um ausbil- Ich finde, Sie sollten diese gemeinsamen Lösungswege dende Betriebe von ihren Kosten zu entlasten. Dies wird nicht ideologisch versperren. dann selbstverständlich von Unternehmen finanziert, die sich an dieser Aufgabe nicht beteiligen. (Beifall bei der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]: Wer ist denn hier Ideologe?) Um auch dies noch einmal deutlich zu sagen: Dieser Entscheidung geht eine Vielzahl von Maßnahmen vo- Das muss auch nicht sein. Ich darf kurz aus der raus, um die Ausbildungsplatzsituation zu verbessern. „Frankfurter Rundschau“ aus dem Jahr 1999 zitieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3995

Nicolette Kressl (A) Darin wurde über einen Beschluss berichtet, den die So- Vielen Dank. (C) zialausschüsse der CDU damals gefasst haben: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es muss einen Lastenausgleich geben zwischen DIE GRÜNEN) ausbildenden und nicht-ausbildenden Betrieben. (Zurufe von der SPD: Ach nein!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zwar favorisiere die CDA tarifliche Lösungen – Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Schummer von falls aber dieser Weg nicht zum Ausgleich führe, der CDU/CSU-Fraktion. müsse auch über gesetzliche Regelungen nachge- (Beifall bei der CDU/CSU) dacht werden. (Zurufe von der SPD: Oh! Recht hat sie!) Uwe Schummer (CDU/CSU): Jetzt hingegen unterstellen Sie uns dirigistische Maß- Herr Präsident! Werte Damen! Werte Herren! Im Ja- nahmen, und zwar aus reiner Ideologie. nuar fehlten nach den Angaben derBundesanstalt für Arbeit 90 000 Ausbildungsplätze für das neue Ausbil- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Die dungsjahr. Im Februar waren es 118 000, im März Sozialisten der beiden großen Parteien denken 140 000 und im Mai 171 000. Die Dramatik der Ausbil- halt gleich! Das ist so!) dungssituation nimmt von Monat zu Monat weiter zu. – Herr Niebel, dass Sie das feststellen, während Sie sich Jeder zweite Schulabgänger in diesem Jahr wird vo- weiterhin massiv für den Schutzwall für die Handwer- raussichtlich keinen betrieblichen Ausbildungsplatz fin- kerordnung einsetzen, finde ich Klasse. den, sondern eine Ersatzmaßnahme wahrnehmen müs- (Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer sen. Das heißt, es gibt eine Erosion der betrieblichen Zwischenfrage) dualen Ausbildung. Was ist Ihre Reaktion darauf? – Ein Ausbildungsgip- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fel. Die Minister Clement und Bulmahn luden zu diesem Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischen-Gipfel ein. Erstmals seit 1983 war es nicht der Bundes- frage des Kollegen Tauss? kanzler, sondern die nachgeordneten Ministerien, die dazu einluden. Der Bundeskanzler fehlte. Gerhard Nicolette Kressl (SPD): Schröder ist wie Richard Kimble auf der Flucht vor den Ergebnissen seiner Arbeitsmarktpolitik. (B) Ja, sehr gerne. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Zukunftschancen junger Menschen sind für die- Herr Tauss, bitte. sen Bundeskanzler eine nachgeordnete Angelegenheit nachgeordneter Instanzen. Das ist der Gipfel seiner Ver- Jörg Tauss (SPD): antwortungslosigkeit. Frau Kollegin Kressl, nur weil es so schön war: (Zuruf von der SPD: Das war aber jetzt ener- Könnten Sie noch einmal sagen, wen Sie zitiert haben? gisch!) (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Und es kam von Herzen, lieber Kollege. DIE GRÜNEN) Es gibt einen sozialdemokratischen Reflex: Hier ist ein Problem und dort ist eineSteuer. So tanken wir für Nicolette Kressl (SPD): die Rente und rauchen für die innere Sicherheit. Dem- Das war die CDA im Jahr 1999. Um es Ihnen noch et- nächst heißt es „Trinken für die Gesundheit“ und als Re- was näher zu erläutern, Herr Tauss: Dabei handelt eszept gegen die Ausbildungskrise gibt es eine Ausbil- sich um die Sozialausschüsse der CDU. dungsplatzabgabe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf NEN]: Und Ihr Rezept?) von der CDU/CSU: Das war ein Ortsverband!) Tatsache ist, dass mit 40 000 betrieblichen Insolven- – Nein, das war kein Ortsverband, sondern bundesweit –, zen eine Rekordzahl erreicht wurde. Mit diesen 40 000 um es Ihnen noch einmal zu erläutern. Insolvenzen wurden mehr als 400 000 Arbeits- und Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Unterstützen Sie Ausbildungsplätze vernichtet. das Engagement aller, die sich für die Ausbildungsoffen- (Zuruf des Abg. Dr. sive stark machen! Benutzen Sie die schwierige Situa- [SPD]) tion nicht für billige Polemik, sondern ziehen Sie mit uns an einem Strang! Wir finden, die jungen Menschen, die – Wenn Sie nicht nur Ihren Kehlkopf, sondern auch den einen Ausbildungsplatz suchen und darauf warten müs- Kopf nutzen würden, dann könnten Sie auch besser zu- sen, haben ein Recht darauf. hören. 3996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Uwe Schummer (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der Staat entlastet Ausbildungsbetriebe von Lohnne- (C) neten der FDP) benkosten. Die Gewerkschaften garantieren Ruhe bei den Lohnkosten. Die Arbeitgeber sorgen für zusätzliche Die Ausbildungsschwäche der Betriebe ist ein Spie- Ausbildungsplätze und im Handwerk startet ein Wettbe- gelbild der miserablen wirtschaftlichen Lage, die auch werb für mehr Lehrstellen. Das wäre ein Gesamtkon- von Ihrer Steuer- und Abgabenpolitik verursacht zept, das wir bis zur Sommerpause auf den Weg bringen wurde. könnten und mit dem wir schon in diesem Jahr den Da wir nur noch wenige Monate bis zum September Schulabgängerinnen und Schulabgängern eine Perspek- 2003 Zeit haben, möchte ich drei ganz konkrete Vor-tive eröffnen würden. schläge – den Rest werden wir nachliefern – machen, Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- über die wir reden sollten. tion, folgen Sie uns zeitnah, damit die Jugend in (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aus der Deutschland eine Chance hat! CDA- oder CDU-Ecke?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Erster konkreter Vorschlag: Entlasten wir anteilig Betriebe von Sozialversicherungsbeiträgen für Auszu- bildende. Die Mittel dafür nehmen wir aus dem JUMP- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Programm, da es für 70 Prozent der betroffenen Jugend- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Thea Dückert vom lichen eine reine Warteschleife ist. Dieses Geld sollteBündnis 90/Die Grünen. besser in die Unterstützung der betrieblichen Ausbildung fließen. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg Tauss [SPD]: Der Staat zahlt?) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schummer, mit der Beschreibung der Si- Bei den kleinen Einkommen von 401 bis 800 Euro ha- tuation haben Sie ja Recht: 140 000 Ausbildungsplätze ben wir bereits einen solchen Anreiz zur Arbeitsauf- werden möglicherweise im Herbst fehlen. Damit dürfen nahme parteiübergreifend beschlossen. wir uns wirklich nicht abfinden. Nur 30 Prozent der Be- ( [SPD]: Was machen Sie denn triebe bilden aus. In diesem Jahr werden bis jetzt unge- mit den Jugendlichen? Lassen Sie sie auf der fähr 11 Prozent weniger Ausbildungsplätze angeboten Straße oder in der Spielhalle?) als im letzten Jahr. Das geht nicht. Nur: Das, was Sie an- bieten, lieber Herr Kollege Schummer, stellt Ihnen ein Der Sozialversicherungsbeitrag steigt für die Beschäf- (B) Armutszeugnis hoch zehn aus. (D) tigten nur langsam an. Nach diesem Vorbild könnten wir auch einen Anreiz für betriebliche Ausbildungsplätze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen. Etwas Ähnliches bei den Arbeitgeberbeiträgen und bei der SPD) für Auszubildende zu machen wäre kreativer und intelli- Sie schlagen vor, die Mittel für das JUMP-Programm zu genter, als immer neue Abgaben zu erheben. streichen und dafür andere Angebote zu machen. Zweiter konkreter Vorschlag: Auf einemAusbil- (Jörg Tauss [SPD]: Subventionen! – Gegenruf dungsgipfel sollte mit den Tarifpartnern vereinbart wer- von der CDU/CSU: Dann haben Sie es wirk- den, dass die Ausbildungsgehälter in den nächsten drei lich nicht verstanden!) Jahren eingefroren werden. Mit dem gesparten Geld könnten die Unternehmen zusätzliche Ausbildungsplätze Das geht aber auf Kosten der Jugendlichen, die im finanzieren. Im Schnitt liegen die Ausbildungsvergütun- JUMP-Programm einen Ausbildungsplatz oder ein An- gen in Deutschland zwischen 430 und 800 Euro. Hier ist gebot gefunden haben – schließlich bilden nur eine Atempause vertretbar, wenn dafür zusätzliche Aus- 30 Prozent der Betriebe aus. Auch diese Jugendlichen bildungsplätze geschaffen werden. haben ein Anrecht auf Hilfe und Ausbildung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der FDP) und bei der SPD) Dritter konkreter Vorschlag: Ausbildungsmeister ist Das gilt übrigens genauso für alle anderen Jugendlichen das Handwerk. Dort befinden sich über 80 Prozent der in diesem Land, die die Schule verlassen und in den Ar- Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Die freie Berufswahl ist beitsmarkt hinein wollen, die sich also ihrer Erwerbsbio- ein Verfassungsrecht. Das Handwerk leistet hierfür einen graphie gerade nähern. Vor diesem Hintergrund finde elementaren Beitrag. Die Handwerksberufe – das ist ein ich, dass Ihre Vorschläge nicht nur untauglich, sondern Punkt, über den wir noch heute Nachmittag beratenauch zynisch sind; denn Sie wollen ausgerechnet die werden –, die bis zum Dezember 2004 die Ausbildungs- Maßnahmen zur Disposition stellen und sich zur Finan- quote der übrigen Wirtschaft massiv übersteigen, er-zierung Ihrer Vorschläge der Programme bedienen – das halten sich so ihren Meisterbrief. Wettbewerb als Instru- wollten Sie auch schon in den letzten Jahren; übrigens, ment für unser Gemeinwohl – das wäre klassisch fürFrau Pieper, die betreffenden Programme sind vor allen soziale Marktwirtschaft. Dingen in den neuen Bundesländern sehr stark nachge- fragt –, die insbesondere an diejenigen Jugendlichen ge- (Beifall bei der CDU/CSU) richtet sind, die Schwierigkeiten haben, sich dem Ar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3997

Dr. Thea Dückert (A) beitsmarkt zu nähern, weilsie zum Beispiel in der Erklären Sie mir in diesem Zusammenhang, wie Sie (C) Ausbildung Probleme hatten oder sich aus anderenauf der anderen Seite der Streichung der Ökosteuer das Gründen arbeitsmarktfern aufgehalten haben. Wort reden können, wodurch die Lohnnebenkosten, nämlich der Rentenversicherungsteil, um mehrere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 0,1 Prozentpunkte steigen würden! und bei der SPD) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Deswegen Im dualen System – das ist natürlich ein Pfund für die steigt die dauernd!) Wirtschaft in Deutschland – haben die Unternehmen eine Ausbildungspflicht. Der Staat kann, zum Beispiel Frau Reiche, so wird doch kein Schuh daraus. durch JUMP, durch außerbetriebliche Maßnahmen, im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer nur Second-best-Lösungen anbieten. und bei der SPD) (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Man erkennt, was Sie wirklich verfolgen. Sie haben [SPD]) überhaupt kein Interesse daran, Jugendlichen, die ausbil- Wir müssen sehen, dass die Jugendlichen in die Betriebe dungsfern sind, ein Angebot zu machen. Das ist die Rea- hineinkommen. lität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Belügen Sie doch und bei der SPD) nicht das Volk!) Deswegen sage ich hier ganz deutlich: Wenn die Unter- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nehmen in diesem Sommer dieser Verpflichtung nicht nachkommen, weil sie nicht können oder nicht wollen, Herr Kretschmer, bitte schön. (Dr. [CDU/CSU]: Was Michael Kretschmer denn nun?) (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin, Sie ha- dann werden wir gesetzlich eingreifen müssen und die ben gerade gesagt, die Unternehmen könnten oder woll- Unternehmen in die Pflicht nehmen müssen. Das gebie- ten nicht ausbilden. Wir möchten von Ihnen doch gern tet uns das Recht der Jugendlichen auf Ausbildung. wissen, was denn nun Ihrer Meinung nach zutrifft. Es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nämlich ein großer Unterschied zwischen Können und und bei der SPD) Wollen. (B) Die Ministerin hat gesagt, dass 500 000 Betriebe noch Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Unterneh-(D) ausbilden könnten. Wenn wir nur die Hälfte dieser Be- men nicht können – wegen Ihrer verfehlten Wirtschafts- triebe erreichen könnten, hätten wir in diesem Jahr das politik, Problem schon gelöst. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was Sie Cornelia Pieper [FDP]) in Wahrheit vorschlagen. In Ihrem Antrag steht, dass Sie wegen der 5 Millionen Arbeitslosen, wegen der Situa- JUMP streichen und die 1 Milliarde Euro zur Senkung tion im Handwerk, wegen rückgängiger Umsätze, wegen der Lohnnebenkosten benutzen wollen. Haben Sie ei- 40 000 Unternehmenspleiten im Jahr. 40 000 Unterneh- gentlich einmal ausgerechnet, Frau Reiche, wie hoch der men bilden nicht mehr aus, aus welchen Gründen auch Effekt wäre? Dadurch würde eine Senkung der Lohnne- immer. Es gibt eine Ausbildungslücke. Sie ist jetzt auch benkosten um maximal 0,1 Prozentpunkte erreicht. in großem Maß in den alten Ländern entstanden. Die (Nicolette Kressl [SPD]: Natürlich ein PISA- jungen Leute aus meiner Heimat, aus den neuen Bundes- Problem!) ländern, sind ja bisher immer in die alten Bundesländer gegangen. Sagen Sie einmal ganz im Ernst – denken Sie dabei an Ihren eigenen Betrieb –: Sind Sie wirklich der Auffas- Ist es also nicht Ihre Wirtschaftspolitik, die dafür ge- sung, dass wir die Probleme auf dem Ausbildungsplatz- sorgt hat, dass die Situation jetzt so schlimm ist? Sollten markt in diesem Jahr lösen können, wenn wir JUMPSie nicht doch etwas daran ändern, bevor Sie anfangen, streichen, also die jungen Leute in die Wüste schicken, mit einer Ausbildungsplatzabgabe die Probleme noch zu um dafür die Lohnnebenkosten um 0,1 Prozentpunkte zu verschlimmern? senken? Erklären Sie mir in diesem Zusammenhang – – (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wie war es denn 1998?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Dückert, ich muss einmal dazwischen- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gehen. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schönen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege. – Es gibt Kretschmer? Unternehmen, die wollen nicht, und es gibt Unterneh- men, die können nicht. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Wie un- Ja, wenn ich meinen Satz zu Ende geführt habe. terscheiden Sie das?) 3998 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Thea Dückert (A) Dies, lieber Herr Kollege, hat die Wirtschaft schon bes- Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat (C) am ser erkannt als Sie, als die CDU/CSU-Fraktion und vor 17. April eine Umfrage zu denLehrstellenangeboten allem die FDP-Fraktion. der DAX-Unternehmen veröffentlicht. Das Ergebnis ist mehr als niederschmetternd: Die Schlusspositionen neh- Herr Rogowski hat am Anfang dieser Woche vorge- men Lufthansa, Deutsche Börse und SAP ein. Besonders schlagen, einen Fonds einzurichten, um den Unterneh- bedauerlich ist, dass die Deutsche Post, deren Haupt- men, die Schwierigkeiten haben auszubilden, weil sie fi- aktionär der Bund ist, die Zahl der Lehrstellen in diesem nanzielle Probleme haben, über ein UmlageverfahrenJahr im Vergleich zum Vorjahr um 350 reduziert hat. Da quasi einen Bonus zu geben. frage ich mich natürlich: Wie wird der Bund als Aktionär (Jörg Tauss [SPD]: Wer war das?) gegenüber der Deutschen Post und anderen Unterneh- men, an denen er beteiligt ist, seiner Pflicht gerecht? So etwas gibt es in der chemischen Industrie und so et- Schaut man sich das Verhältnis zwischen Gesamtbeleg- was gibt es in der Metallindustrie. Es ist ein kluger An- schaft und der Zahl der Auszubildenden an, dann kommt satz, Fonds zu bilden. Alle zahlen ein und die, die ausbil- man zu dem Ergebnis, dass die Deutsche Post weit abge- den – ich antworte noch auf Ihre Frage,schlagen Herr hinter vielen privaten Unternehmen liegt. Wo ist Kretschmer; bleiben Sie bitte stehen –, bekommen etwas da die Vorbildwirkung des Bundes, Frau Bulmahn? aus diesen Fonds. Vom Ansatz her halten auch wir Grüne das für einen sinnvollen Weg: Alle zahlen ein, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) niemand kann sich aus der Verantwortung stehlen, wie Bemerkenswert ist auch, dass ein DAX-Unternehmen zum Beispiel im Rahmen der Behindertenabgabe. Bei wie Adidas-Salomon – da ist der Bund nicht Aktionär – diesem System muss jeder seinen Obolus leisten und wer im Jahre 2003 insgesamt 15 Lehrstellen – ich wieder- ausbildet, wird unterstützt. hole: 15 Lehrstellen – bereitstellt. Das ist deshalb bemer- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kenswert, weil gerade dieses Unternehmen seine Pro- SES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: dukte an junge Menschen verkauft und mit dem Image Das war Rogowski?) eines besonders jugendlichen Lebensgefühls um jugend- liche Kunden wirbt, aber offensichtlich kaum bereit ist, – Das war Rogowski. etwas für junge Menschen zu tun. Das zeigt sich, wenn Einen solchen Weg geht man in der chemischen In- man sich die Zahl der Ausbildungsplätze anschaut. dustrie und in der Metallindustrie. Diesen Ansatz kön- Die CDU/CSU lehnt in ihrem Antrag eine Ausbil- nen wir aufgreifen und weiterentwickeln. Wir Grünedungsplatzabgabe ab. Dieser Antrag ist überschrieben: möchten zu diesem Zweck gern ein Stiftungsmodell ent- „Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotiva- (B) wickeln, ähnlich wie es die Hartz-Kommission vorge- tion“. Wessen Motivation meinen Sie eigentlich: die der (D) schlagen hat. Lassen Sie uns über diese Dinge reden und Jugendlichen oder die der Unternehmer? streiten! Aber hören Sie auf, den Jugendlichen, die mit der Streichung von JUMP besondere Schwierigkeiten (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Gute haben, auf den Pelz zu rücken! Frage!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich denke, Sie machen sich Sorgen um die Motivation und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Der der Unternehmer. Sie machen sich in Ihrem Antrag näm- Rogowski wird auch immer sozialistischer!) lich keine Sorgen um die Motivation der Jugendlichen, die dringend einen Ausbildungsplatz brauchen und im- mer wieder vertröstet werden. Ich möchte auf das Bei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: spiel Adidas-Salomon zurückkommen. Wie viel Motiva- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. tion brauchte dieses Unternehmen eigentlich, um 15 Jugendliche auszubilden? Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt ist dramatisch. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- Sie schreiben in Ihrem Antrag: ehrte Gäste! Wir von der „PDS im Bundestag“ meinen: Im Ausbildungsjahr 2003/2004 fehlen derzeit Der Bundeskanzler muss jetzt sein Wort halten. Er hat in 148 000 Lehrstellen. Davon allein 105 000 in den seiner Regierungserklärung „Mut zum Frieden und Mut neuen Ländern. zur Veränderung“ am 14. März eine gesetzlich verord- nete Ausbildungsplatzabgabe angekündigt, So weit, so schlecht. Was ist nun Ihr Rezept? Warten auf die Konjunktur und Abbau von Bürokratie. Die Jugend- (Nicolette Kressl [SPD]: Er hat eine gesetzli- lichen können aber nicht warten. Sie haben auch noch che Regelung angekündigt!) nie erlebt, dass in dieser Republik Bürokratie abgebaut wenn die Wirtschaft nicht aus eigener Kraft in der Lage wird, weder unter Kohl noch unter Schröder. ist, ausreichend Ausbildungsplätze zu schaffen. Die (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Bei der PDS Wirtschaft hat den Beweis geliefert: Sie ist dazu nicht in ist es am schlimmsten! – Jörg Tauss [SPD]: der Lage. In regelmäßigen Abständen beklagen die Ar- Das ist nicht wahr!) beitgeberverbände zwar den Mangel an Fachkräften; sie sind aber offensichtlich nicht bereit, etwas zur Beseiti- Sie sagen den Jugendlichen nicht, wie Sie neue Ausbil- gung dieses Mangels zu tun. dungsplätze schaffen wollen. Deshalb ist Ihr Antrag, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 3999

Dr. Gesine Lötzsch (A) meine Damen und Herren von der CDU, untauglich und Der Berufsbildungsbericht macht die ökonomische,(C) wird von uns entschieden abgelehnt. aber auch die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der be- ruflichen Bildung eindrücklich klar. Unser wertvollstes (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Das scho- Kapital sind die jungen Menschen. Wir sind ihnen ver- ckiert uns zutiefst!) pflichtet. Kommen wir unseren Verpflichtungen nicht Der Bundeskanzler hat die Ausbildungsplatzabgabe nach, verspielen wir ihre Zukunft und gefährden die mittlerweile in Aussicht gestellt, wenn die Unternehmen ökonomische Zukunft unseres Landes. nicht bereit sind, ausreichend Ausbildungsplätze zu schaffen. Für diese Ankündigung – ich hoffe, sie wird Noch immer bildet die betriebliche Ausbildung für umgesetzt – möchte ich ihn ausdrücklich loben; denndie Mehrzahl der jungen Menschen den Einstieg in das diese Drohung hat schon – zumindest partiell – Wirkung Berufsleben. Die Grundlage unserer Industriegesell- gezeigt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag schaft ist die Erwerbsarbeit. hat in einem Flugblatt erklärt: Nicht ausbilden könnte teuer werden. Plötzlich finden Arbeitgeber Argumente, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: warum Ausbildung gar kein Verlustgeschäft ist; im Ge- Herr Kollege Schaaf, erlauben Sie eine Zwischen- genteil: Es rechnet sich. Das Klagen über zu hohe Aus- frage der Kollegin Pieper? bildungsvergütungen ist unehrlich. Das Argument steht in dem genannten Flugblatt. Man kommt zu dem Schluss, dass viele Auszubildende ihren Unternehmen Anton Schaaf (SPD): mehr einbringen als sie kosten. Ich möchte gerne im Zusammenhang reden. Danke. Die Arbeitgeberverbände haben den Wert von Azubis Ich glaube nicht, dass wir im Laufe der Debatte noch richtig erkannt. Das Problem ist nur, dass die Unterneh- substanzielle Beiträge – ich habe heute zumindest keine men offensichtlich nicht bereit sind, sich durch einegehört – erwarten dürfen. Selbstverpflichtung für die Schaffung der fehlenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Cornelia Ausbildungsplätze zu sorgen. Ich darf daran erinnern, Pieper [FDP]: Ihr Beitrag ist noch viel sub- dass das Bundesverfassungsgericht bereits 1980 darauf stanzloser! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das verwiesen hat, dass die Verantwortung der Arbeitgeber ist Show!) besteht, für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen zu sorgen und eine gesetzliche Re- Erwerbsarbeit bedeutet nicht nur Gelderwerb, son- gelung anmahnte. Diese Mahnung ist inzwischendern auch gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung und 23 Jahre alt, Frau Ministerin. materielle Sicherheit. Umfragen zeigen, dass Jugendli- (B) (D) Aus den genannten Gründen fordert die PDS dieche zwischen 14 und 18 Jahren insbesondere vor Ar- schnelle Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe für beitslosigkeit Angst haben. Wir wollen verhindern, dass die Unternehmen, die nicht ausbilden. Das sollte keine das Leben junger Menschen von Unsicherheiten geprägt Drohung sein, die sich im Nirwana verliert, sondernwird. Wie sollen sie aber Vertrauen aufbauen, wenn Jahr muss jetzt, wo es Not tut, angewandt werden: Nur Mut, um Jahr ein Lehrstellendebakel droht? meine Damen und Herren von der Koalition! Die Unternehmer in diesem Land müssen jedes Jahr (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) von ihren eigenen Verbänden und den jeweiligen Regie- rungen – ich sage ausdrücklich: den jeweiligen Regierun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen – mit Kampagnen und aufwendiger Öffentlichkeits- arbeit dazu aufgerufen werden, mehr Ausbildungsplätze Das Wort hat jetzt der Kollege Anton Schaaf von der zu schaffen. Das muss jungen Menschen den Eindruck SPD-Fraktion. vermitteln, nicht gebraucht zu werden, ja überflüssig zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sein. Das trägt nicht unbedingt zum Zusammenhalt einer Gesellschaft bei. Anton Schaaf (SPD): (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ren! Sehr geehrte Frau Pieper, die größten Deregulierer dieses Landes sind hier heute eingeknickt, als es um ihre In Schule, betrieblicher Ausbildung und Studium sol- ureigene Klientel ging. len junge Menschen auf das Berufsleben vorbereitet werden. Darauf haben sie einen Anspruch. Nur ein Drit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der tel der Unternehmen in Deutschland bildet aus, aber Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 100 Prozent der Unternehmen sind auf gut ausgebildete NEN]) Mitarbeiter angewiesen. Im April dieses Jahres klafft zwischen Angebot und Nachfrage bei den Ausbildungs- Diejenigen, die in diesem Land – an vielen Stellen zu plätzen eine Lücke von 160 000. Es ist keineswegs so, Recht – am lautesten nach Subventionsabbau schreien, als stünden ausreichend ausgebildete Arbeitskräfte zur haben heute neue Subventionen gefordert. Verfügung. In den nächsten Jahren droht ein erheblicher (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Cornelia Mangel an Fachkräften, wenn heute nicht genügend Pieper [FDP]: Weil Sie uns in die Lage ge- junge Menschen ausgebildet werden. Auf der einen Seite bracht haben!) haben wir dann schlecht Qualifizierte ohne Arbeit und 4000 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Anton Schaaf (A) auf der anderen Seite einen steigenden Bedarf an Fach- Kollegen Schummer und Dietmar Schäfers von (C) der kräften, den wir nicht decken können. IG BAU. Herr Schummer, unsere Positionen scheinen gar nicht so weit auseinander zu sein. Zumindest habe ich Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung das beim Lesen so verstanden; denn in dem Papier steht: auf, die deutsche Wirtschaft nachdrücklich an ihre Ver- pflichtungen zu erinnern. Falls die Wirtschaft keine Lö- Betriebe, die nicht ausbilden, wollen wir anreizen, sung anbietet – unseren Antrag haben Sie in diesem ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung für die beruf- Punkt offensichtlich nicht richtig gelesen –, ist die Bun- liche Bildung nachzukommen. desregierung gefordert, Maßnahmen zu treffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Oh, Herr Schummer!) Das heißt, sie muss eine gesetzliche Regelung verab- schieden. Die Ziele der Regelung sind eine gerechte Ver- Da stimme ich absolut mit Ihnen überein, Herr teilung der Kosten für die Berufsausbildung und dieSchummer. Jetzt geht es darum, diese gesellschaftliche Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze. Wenn bisVerpflichtung von den Unternehmern in diesem Land zum Ende des laufenden Vermittlungsjahres zu wenig auch einzufordern. Dabei können Sie gerne behilflich Lehrstellen zur Verfügung stehen, muss die Bundesre- sein. gierung aktiv werden. Die Sicherung eines ausreichen- (Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] meldet den Ausbildungsplatzangebots ist zusammen mit der sich zu einer Zwischenfrage) Modernisierung der beruflichen Bildung im dualen Sys- tem Voraussetzung für die Erhaltung der Berufs- und Le- – Sie brauchen sich nicht zu melden, ich rede im Zusam- benschancen eines überwiegenden Teils der jungen Ge- menhang weiter. neration. Weiter heißt es in dem Papier – auch das zitiere ich Über Jahrzehnte entstandene Fehlentwicklungensehr gern –: müssen jetzt korrigiert werden. Der Staat trägt mittler- Gäbe es die tarifliche vereinbarte Umlagefinanzie- weile einen sehr großen Anteil an den Ausbildungskos- rung in der Bauwirtschaft nicht, sähen die Ausbil- ten, nämlich 11 Milliarden Euro. Die Verantwortung dungsplatzzahlen in der krisengeschüttelten Bau- wurde Stück für Stück auf den Staat abgewälzt. branche noch schlechter aus. (Jörg Tauss [SPD]: So ist es!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Ob es sich um einen Mangel an Ausbildungsplätzen Hört!) oder einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften han- (B) Da gebe ich Ihnen Recht: Ausbildung muss tatsächlich (D) delt, die Öffentlichkeit nimmt die Politik, zumeist die konjunkturunabhängiger gestaltet werden. Dafür treten Regierenden, als Verantwortliche wahr. Das war übri- wir gerade ein. Helfen Sie mit dabei! gens schon zu Ihren Zeiten so. Auch die Unternehmer sind schnell dabei, der Politik den schwarzen Peter zuzu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schieben. Unsere Kinder und Jugendlichen werden dem- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nach unzureichend auf die Berufstätigkeit vorbereitet. In Teilen stimmt das, aber wir handeln. Für die Qualität der Sie haben weiter gesagt: betrieblichen Ausbildung ist die Wirtschaft zum größten Die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplät- Teil selbst verantwortlich. Die Unternehmen müssen zen hat oberste Priorität. ihre eigene Verantwortung erkennen, ihre Strukturen und Erwartungen überprüfen und vor allen Dingen endlich Dazu haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon handeln. Deutliches gesagt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch Bundesregierung, Unternehmerverbände und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gewerkschaften haben in ihrer gemeinsamen Kampagne für tarifliche Vereinbarungen nach diesem Vorbild ge- Nur wenn sie dazu nicht bereit sind, muss die Politik, worben. auch im Interesse der Wirtschaft, eingreifen. Ohne aus- reichende Ausbildung werden wir in den folgenden Jah- Handeln wir jetzt nicht, nehmen wir in Kauf, dass ei- ren auf der einen Seite einen massiven Fachkräftemangel nem zunehmenden Teil unserer Jugendlichen die materi- und auf der anderen Seite einen noch größeren Anstieg elle wie auch die soziale Lebensperspektive fehlt. Die Folgekosten der Arbeitslosenquote erleben. für die Gesellschaft würden dramatische Ausmaße annehmen. Deshalb müssen wir jetzt vernünf- Die Wirtschaft höhlt ihre eigenen Grundlagen aus,tige Instrumente zur Förderung der betrieblichen Ausbil- wenn sie nicht ausbildet. Ausbildung ist die Basis unse- dung entwickeln. Eine Alternative dazu gibt es nicht. rer Ökonomie und auch unseres Sozialstaats. Ohne sieSonst überlassen wir den Umgang mit ausgegrenzten Ju- werden wir in Deutschland kein nennenswertes Wirt-gendlichen, die dann zu ausgegrenzten Erwachsenen schaftswachstum erreichen; Deutschland wird internatio- werden, den sozialen Sicherungssystemen. Das wäre nal nicht mehr mithalten können. verantwortungslos. Meine Damen und Herren, überrascht hat mich die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lektüre eines gemeinsamen Positionspapiers von Herrn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4001

Anton Schaaf (A) 70 Prozent der Unternehmen bilden nicht mehr aus. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Das ist nicht nur konjunkturell oder steuerpolitisch be- neten der FDP – [CDU/ dingt, wie Sie behaupten, sondern mittlerweile struktu- CSU]: Schizophrenie!) rell begründet. Es ist eben bequemer und auch günstiger, nicht auszubilden. – Das genau ist Ihre Politik: Zuerst erzählen Sie den Un- ternehmen, dass Sie einen Vorschlag ablehnen und da In der betrieblichen Ausbildung erleben wir seit Jah- nicht mitmachen werden, weil er der wirtschaftlichen ren, eigentlich schon seit Jahrzehnten, zumindest seit ei- Entwicklung schadet. Aber nur einige Tage später – ich nem Jahrzehnt, eine Wackelpartie. Im ureigensten Inte- sage nur: Kurzzeitgedächtnis – wird dann großartig ver- resse der Wirtschaft und vor allen Dingen im gesamtge- kündet, dass doch eine Ausbildungsplatzabgabe kommt. sellschaftlichen Interesse, jungen Menschen ein selbstbe- Genau das ist Ihre Politik. stimmtes Leben zu ermöglichen, muss mit dieser Wackel- (Widerspruch des Abg. Wilhelm Schmidt partie Schluss sein. Die jungen Menschen in diesem [Salzgitter] [SPD]) Land brauchen eine Politik, die sich für ihre Zukunft verantwortlich zeigt. Diese Politik machen wir. Politik – Hören Sie besser zu! Dann lernen Sie etwas. allein wird unsere Zukunftaber nicht sichern können. Wir brauchen die Bereitschaft aller Akteure dieser Ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Von Ih- sellschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dazu rufen nen wirklich nicht!) wir gerade die Unternehmerinnen und Unternehmer die- Sie sorgen nicht für die Verlässlichkeit, die wichtig ist, ses Landes auf. Wir leisten unseren Beitrag. damit es in diesem Land weiter aufwärts gehen wird. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sie haben doch die Möglichkeiten gehabt! Es reicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ähnliches haben wir schon mit den Vorschlägen von Herrn Hartz erlebt. Vor fast genau einem Jahr – ich ap- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: pelliere wieder an Ihr Gedächtnis – wurden uns 2 Millionen neue Arbeitsplätze versprochen. Was ist Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von denn daraus geworden? – Es war nur ein Papiertiger: au- der CDU/CSU-Fraktion. ßer Kosten und Spesen nichts gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch! Arbeits- lose!) (B) (D) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Dieses Jahr gibt es im Monat Mai die höchste Ar- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- beitslosigkeit, nicht seit der Wiedervereinigung, sondern ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. ich will mit Ihnen einmal ein bisschen das Lang- und das (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Kurzzeitgedächtnis überprüfen. Wissen Sie, wie die Zahl der Jugendarbeitslosen gegenüber dem Vorjahres- Das haben Sie – und niemand anderes – mit Ihrer Politik monat angestiegen ist? – Um 33 000 allein im Monatzu verantworten. Mai. Richten wir das Kurzzeitgedächtnis aber auch auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) etwas noch näher Liegendes. Sie haben Ende April auf dem berühmten Ausbildungsgipfel Folgendes zusammen Je ernster die Probleme in unserem Land werden, mit Bundesminister Clement gesagt: desto unausgereifter sind Ihre Konzepte. Es fehlen eine klare, verlässliche Politik und jedes wirtschaftliche Ge- Die gemeinsamen Anstrengungen, um so viele Ar- samtkonzept. Der Stillstand auf dem Arbeitsmarkt und beitsplätze wie möglich zu mobilisieren, haben ab- damit die Probleme, die wir auf dem Ausbildungssektor solute Priorität. haben, resultieren doch aus Ihrer katastrophalen Wirt- schaftspolitik, – Einverstanden! – die dazu führt, dass kein Unternehmer mehr den Mut hat, Arbeitsplätze zu schaffen. Wann Jegliche Diskussion über eine Ausbildungsabgabe schafft denn ein Unternehmer Arbeitsplätze? – Doch im- lehnen wir ab, da dies den gemeinsamen Anstren- mer nur dann, wenn er Geld verdient. Aber zurzeit ver- gungen schadet. dient die deutsche Wirtschaft kein Geld mehr. Das sehen Sie auch am Aufkommen der Körperschaftsteuer. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Weil alles wegbe- steuert wird! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Was wollen Sie eigentlich? Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er hat doch ge- sagt, wir zahlen keine Steuern! Wie kann dann Gleichzeitig, Frau Ministerin, sitzen Sie, wie wir ge- alles wegbesteuert werden? Alles unlogisch!) hört haben, der SPD-Arbeitsgruppe vor, die an den Plä- nen eines zweistufigen Modells zur Ausbildungsplatzab- Wir haben in diesem Jahr die größte Pleitewelle, die gabe arbeitet. Ich kann das nur als Täuschereidieses Land jemals erlebt hat. 42 000 Unternehmen bezeichnen. werden Pleite gehen. 400 000 Arbeitsplätze und 4002 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Michael Fuchs (A) 20 000 Ausbildungsplätze, Frau Bulmahn, werden uns die ständige Verunsicherung der deutschen Wirtschaft(C) dadurch verloren gehen. erreicht. Das muss geändert werden. Ich habe eine ganz konkrete Bitte an das Bundeskabi- nett. Sie können mir helfen, dass in meinem Wahlkreis Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Arbeits- und auch Ausbildungsplätze erhalten bleiben. Herr Kollege Fuchs, erlauben Sie eine Zwischenfrage Ungefähr 20 Kilometer rheinabwärts von Koblenz gibt des Kollegen Tauss? es das wunderschöne Städtchen Weißenthurm. Dort be- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Muss das sein?) findet sich die Firma Schmalbach-Lubeca, die vom Kon- zern Ball übernommen wurde. Dieses Unternehmen ist ein Dosenhersteller mit 500 Beschäftigten. Geplant war, Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): dieses Jahr 20 Auszubildende einzustellen. Aber dieser Das kann ja nur lustig werden. Plan wurde aufgegeben. Seit Januar gibt es Kurzarbeit. Der Betrieb wird demnächst geschlossen. So vernichten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Sagen Sie Herrn Trittin, er soll diese dämliche Verordnung aussetzen, da- Herr Tauss, bitte schön. mit die Arbeitsplätze in dieser Branche erhalten bleiben. Jörg Tauss (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Willi Brase [SPD]: Hören Sie bloß auf mit Ganz ernsthaft: Können Sie mir nochmals vortragen, dem Dosenpfand! Peinlich ist das!) welche Position die Christlich-Demokratische Arbeit- nehmerschaft im Moment einnimmt und wie die Äuße- Wir können es uns in dieser wirtschaftlichen Situation rungen von Herrn Koch in diesen Tagen lauteten? Könn- nicht leisten, das Dosenpfand durchzusetzen, weil da- ten Sie uns kurz etwas zu dem von ihm geforderten durch Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze vernichtet Subventionsabbau und zu den Vorschlägen des Herrn werden. Ich bin der Meinung, dass es so nicht weiterge- Stoiber sagen? hen kann. Dr. Michael Fuchs (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie (CDU/CSU): müssen sich schon entscheiden, ob Sie hier als Zu Herrn Koch kann ich Ihnen nur Folgendes sagen: Lobbyist oder als Abgeordneter auftreten!) Er hat zusammen mit Herrn Steinbrück gefordert, die Subventionen abzubauen, und zwar rasenmäherartig. Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung und wissen (Jörg Tauss [SPD]: Kakophonie!) (B) ziemlich genau, dass dieses Dosenpfand kompletter (D) Blödsinn ist. Wir dürfen aber mit den Mitteln, die durch den Abbau (Jörg Tauss [SPD]: Sie reden als Lobbyist!) von Subventionen zur Verfügung stehen, nicht generell die Taschen des Staates auffüllen. Auch das hat Herr – Herr Tauss, Ihr Zuruf wird auch durch noch so viel Koch gesagt; nur, das hören Sie nicht gerne. Wir müssen Lautstärke nicht intelligenter. diese Mittel vielmehr für die Senkung der Steuern, die die Bürger zahlen müssen, verwenden. Dann macht das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ganze Sinn. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Wo sind denn die Analytiker in dieser Regierungs- Tauss [SPD]: Freibier für alle! Und was ist mit mannschaft? Man verspürt nur noch Hektik. Es vergeht der CDA?) kein einziger Tag, an dem in diesem Land nicht neue pa- nikartige Töne zu hören sind. In diesem rot-grünen Panik- Die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe wird orchester fiedelt jeder auf seiner eigenen Geige. Derin diesem Lande kein Problem lösen. Im Gegenteil: Sie Kanzler nennt das völlig zu Recht eigene Kakophonie. wird mehr Bürokratie schaffen und dafür sorgen, dass sich noch mehr Betriebe verabschieden müssen; denn sie Angesichts dieses kakophonen Orchesters – schauen wirkt kostenerhöhend. Gerade der Bundeskanzler hat Ih- Sie sich nur die Steuererhöhungsdiskussionen der nen mit der Agenda 2010 ins Stammbuch geschrieben, letzten Tage an; Frau Nahles: Vermögensteuer, Fraudass die Lohnnebenkosten dringend gesenkt werden Simonis: Mehrwertsteuer, Herr Schreiner: Erbschaft-müssen. steuer, Herr Eichel: Eigenheimzulage und möglicher- weise Erhöhung der KFZ-Steuer, Frau Schmidt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tabaksteuer, etc. – Was machen Sie denn jetzt anderes, als sie wieder zu er- (Widerspruch bei der SPD) höhen? Bei der Absenkung der Lohnnebenkosten müs- sen Sie ansetzen. Zusätzliche Belastungen der deutschen ist es klar, dass kein Mensch in dieser Republik mehrWirtschaft sollten Sie aber bitte unterlassen. Vertrauen in Ihre Politik hat und dass kein Mensch den (Jörg Tauss [SPD]: Agenda 2010! Stimmen Mut hat zu investieren. Wenn man nicht mehr weiß, wel- Sie zu!) che Steuern in welcher Höhe am nächsten Tag auf einen zukommen, dann kann man meiner Meinung nach nicht Lassen Sie mich ein Letztes aus dem eigenen Erleben mehr investieren. Genau diese Situation haben Sie durch in meinem Wahlkreis sagen – Herr Tauss, hier können Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4003

Dr. Michael Fuchs (A) wir sofort gemeinsam etwas tun; ich bin gespannt, wie Kollege Lensing, der Berufsbildungsbericht 2003 gibt (C) weit Sie bereit sind zu springen –: Es gibt in meinemwie viele Berufsbildungsberichte zuvor einen umfassen- Wahlkreis ein Unternehmen mit 190 Arbeitsplätzen. Die den und ausreichenden Überblick über die Struktur, die hatten bis jetzt circa 15 Azubis. Dieses Jahr bilden sie Lage und die Entwicklungsperspektiven der beruflichen nur neun aus. Wissen Sie, warum? Weil sieBildung. ab Ich bin mir ganz sicher: Wir werden darüber 200 Beschäftigten einen Betriebsrat freistellen müssten. sowohl in den Ausschüssen als auch hier im Plenum dis- kutieren. Deshalb finde ich die Bemerkung, er gebe (Zurufe von der SPD: Oh!) nichts her, wirklich deplatziert. Machen wir uns doch nichts vor: Das sind die Hemm- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nisse, die Sie geschaffen haben! Es macht aber Sinn, meine Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen, sich einmal diefinanzielle Seite der beruflichen Schaffen wir das gemeinsam ab, und das so schnell wie Bildung anzuschauen: Was kostet die Ausbildungskrise möglich! Denn es muss nun wirklich nicht sein, dassden Staat und was wenden die ausbildenden Unterneh- deswegen die Einstellung von Auszubildenden verhin- men auf? Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat in dert wird. Sie sehen, es gibt viel zu tun. Aber ich be-zwei Studien, die sich auf das Jahr 2000 bezogen – da- fürchte, Sie werden wie immer nichts tun. mals hatten wir übrigens ein Wachstum von drei Pro- zent; in jenem Jahr war eine gute Konjunktur zu ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zeichnen –, Folgendes aufgelistet: Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So weit der Verbandslobbyist!) Bund und Länder gaben 7,8 Milliarden Euro für die Finanzierung der beruflichen Bildung aus. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Jörg Tauss [SPD]: Steuerfinanziert!) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er- Es wurden 1 433 Millionen Euro zur Schaffung zusätz- teile ich dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Frak- licher betrieblicher Ausbildungsplätze ausgegeben. tion das Wort. 6,2 Milliarden Euro wurden für die berufsbildenden (Beifall bei der SPD) Schulen ausgegeben, also für den schulischen Teil der dualen Ausbildung sowie für die Vollzeitberufsschulen. Willi Brase (SPD): 154 Millionen Euro machte das Schüler-BAföG aus. Ich weise nur darauf hin, dass im Schuljahr 2000/01 über Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- 203 000 Schülerinnen und Schüler die Berufsfachschu- gen! Wir begrüßen die Aktivitäten im Rahmen der Aus- (B) len besuchten, um einen Berufsabschluss zu erhalten, da- (D) bildungsoffensive des Jahres 2003 ausdrücklich. von mehr als 36 000 nach BBiG und Handwerksordnung (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) und über 167 000 nach Landesrecht. Vergegenwärtigt man sich diese Zahlen, muss man durchaus Angst haben, Die aktuellen Zahlen belegen die Notwendigkeit dafür dass das duale System immer weiter verstaatlicht wird, überdeutlich. Es ist richtig, dass wir gemeinsam durch allein was die finanzielle Seite angeht. kurzfristig greifende Maßnahmen, die jetzt angebracht sind, versuchen, einiges auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Im selben NEN]) Jahr finanzierte die Bundesanstalt für Arbeit mit 3,3 Milliarden Euro die berufliche Ausbildung. Insge- Auf einen Punkt will ich hinweisen, der von meinem samt wurden also circa 11Milliarden Euro vom Bund, Vorredner in einer Art und Weise aufgegriffen wurde, von den Ländern und der BA für die Durchführung der dass ich das so nicht stehen lassen kann: Wir halten das beruflichen Ausbildung ausgegeben. Die zweite Studie Engagement der Betriebs- und Personalräte, die in den bringt zum Ausdruck, dass die Unternehmen für alle Unternehmen hier und heute auch unter Verzicht der Be- Azubis Nettokosten von 14,6 Milliarden Euro hatten. legschaften zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, für Stellt man diese beiden Zahlen gegeneinander, muss ungeheuer wichtig. Es war gut, dass wir dasBetriebs- man zu dem Ergebnis kommen, dass nicht immer mehr verfassungsgesetz reformiert haben. Ausbildungskosten von den Unternehmen und Betrieben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf die öffentliche Hand und die Bundesanstalt abge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wälzt werden dürfen. Das können wir nicht weiter hin- nehmen. Diese Vertreter und deren Gewerkschaften, die das teilweise bis hin zu tarifvertraglichen Vereinbarungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ machen, haben es nicht verdient, als Blockierer be- DIE GRÜNEN) schimpft zu werden. Sie brauchen vielmehr unsere Er- Deshalb hält es die SPD-Fraktion für richtig und not- mutigung und Unterstützung. Das sollte sich die Opposi- wendig, die Finanzierungsfrage in der beruflichen Bil- tion endlich einmal merken. dung zu diskutieren und Perspektiven zu entwickeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch die schon mehrfach angesprocheneIAB-Unter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) suchung, die zu dem Ergebnis kam, dass von 4004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Willi Brase (A) 1,2 Millionen ausbildungsfähigen Betrieben nur nochrufliche Bildung auf den Pfad zu bringen, auf den sie ge- (C) 640 000 ausbilden, führt uns zu der Überlegung, wie wir hört. künftig die Schaffung ausreichender und qualitativ hoch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wertiger Ausbildungsplätze konjunkturunabhängiger DIE GRÜNEN) machen können. Es muss das Ziel sein, dass eine ausrei- chende Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze konjunktur- Das Neuordnungsverfahren in der Elektroindustrie zwi- unabhängig angeboten wird; nur dann können wir allen schen IG Metall und dem Zentralverband Elektrotech- Jugendlichen eine dauerhafte Perspektive bieten. nik- und Elektronikindustrie, in nur zehn Monaten sie- ben neue Elektroberufe entwickelt zu haben, sollte uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu genau dieser Qualität ermutigen. Wir werden diesen DIE GRÜNEN) Weg weiter gehen. Es wird Sie nicht verwundern, dass wir natürlich auch Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. tarifvertragliche Lösungen unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Jörg Tauss [SPD]: Ja, Tarifverträge! Die ande- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren wollen sie abschaffen!) Sie haben sich bewährt. Wir verkennen nicht die schwie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rige konjunkturelle Lage in der Bauindustrie, wissen Ich schließe die Aussprache. aber, dass dies auch etwas mit einem überhöhten Bau- boom im Zuge der Wiedervereinigung zu tun hat. Auch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf das muss reguliert werden. Im Grundsatz hat sich aber den Drucksachen 15/925, 15/1000, 15/1090 und 15/1130 die Berufsbildungsabgabe auf tarifvertraglicher Grund- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse lage in der Bauindustrie bewährt. Wir fordern die Tarif- vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/925 soll vertragsparteien auf, darüber nachzudenken, ob sie sie zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen nicht auch in anderen Branchen einführen. Ich hielte dies werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. für richtig. Dann sind die Überweisungen beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 h sowie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: DIE GRÜNEN) 26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- „Bonus-Malus-System“ Ich bringe den Begriff be- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- wusst in die Diskussion hinein. Was spricht eigentlich rung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und (B) (D) dagegen, die Unternehmen zu belohnen, die nach wie des Sozialgerichtsgesetzes vor Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, aber dieje- nigen, die es könnten und nicht tun, ein bisschen an den – Drucksache 15/1070 – Kosten zu beteiligen? Ich halte diesen Gedanken nicht Überweisungsvorschlag: für verkehrt. Wir möchten eine unbürokratische Rege- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung lung, die sehr schnell umzusetzen ist. Daran werden wir b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- arbeiten; denn unser Ziel muss es sein, eine ausreichende gebrachten Entwurfs einesGesetzes über die Zahl von qualitativ hochwertigen Ausbildungsplätzen Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in anzubieten. der vertragsärztlichen Versorgung Ganz kurz zum FDP-Antrag: Wer meint, dasJUMP- – Drucksache 15/1071 – Programm habe nichts gebracht, und damit die Schaf- Überweisungsvorschlag: fung von 60 000 neuen betrieblichen Ausbildungsplät- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) zen ignoriert, hat eine falsche Sichtweise. Das akzeptie- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ren wir nicht. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes DIE GRÜNEN) über die Zustimmung zur Änderung des Di- rektwahlakts Meine Redezeit geht zu Ende. – Drucksache 15/1059 – (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Gott sei Überweisungsvorschlag: Dank!) Innenausschuss (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Daher beschränke ich mich darauf, noch auf einen Punkt Geschäftsordnung hinzuweisen. Es ist völlig klar, dass wir eineReform Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union der beruflichen Bildung umsetzen müssen. Mit mehr d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Qualität in der beruflichen Bildung und mit einer besse- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- ren Wertigkeit der abgeschlossenen Ausbildungen von trag vom 29. Juni 2000 über ein Europäisches Facharbeiterinnen und Facharbeitern sowie Gesellinnen Fahrzeug- und Führerscheininformationssys- und Gesellen und durch verbesserte Prüfungsstrukturen tem (EUCARIS) leisten wir in Fortsetzung unserer Neuordnung einen ab- solut richtigen Beitrag, um mittel- und langfristig die be- – Drucksache 15/1058 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Überweisungsvorschlag: weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) des Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bauen voranbringen Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau – Drucksache 15/1092 – Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS im 15. Bundestag Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Drucksache 15/873 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ausschuss für Kultur und Medien Geschäftsordnung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- f) Beratung des Antrags der Abgeordnetenten Verfahren ohne Debatte. Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Änderung der Geschäftsordnung des Deut- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu schen Bundestages überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. – Drucksache 15/874 – Überweisungsvorschlag: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27; die Zu- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und satzpunkte 5 a und 5 b sowie Tagesordnungspunkt 14 Geschäftsordnung auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla- gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. g) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes Tagesordnungspunkt 27 a: Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Haushaltsjahr 2001 von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Ab- – Einzelplan 20 – kommen vom 22. April 2002 zur Gründung ei- – Drucksache 15/1047 – ner Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ei- Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss nerseits und der Demokratischen Volksrepu- (B) blik Algerien andererseits (D) h) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes – Drucksache 15/884 – Rechnung des Bundesrechnungshofes für das (Erste Beratung 46. Sitzung) Haushaltsjahr 2002 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- – Einzelplan 20 – gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 15/1119 – – Drucksache 15/1048 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Haushaltsausschuss Abgeordnete (Wiesloch) ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Dr. Ludger Volmer Kranz, Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Dr. Werner Hoyer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache Volker Beck (Köln), Ursula Sowa, weiterer Ab- 15/1119, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich 90/DIE GRÜNEN zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg Tagesordnungspunkt 27 b: – Drucksache 15/1091 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Finanzausschuss eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Ab- Haushaltsausschuss kommen vom 17. Juni 2002 zur Gründung ei- ner Assoziation zwischen der Europäischen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ei- Weis, Eckhardt Barthel (Berlin), Sören Bartol, nerseits und der Libanesischen Republik an- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD dererseits sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt- Bohlig, Volker Beck (Köln), Winfried Hermann, – Drucksache 15/885 – 4006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (Erste Beratung 46. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- wirtschaft (10. Ausschuss) gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 15/1120 – – Drucksache 15/1036 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) Abgeordnete Matthias Weisheit Bernd Schmidbauer Dr. Ludger Volmer Ulrike Höfken Dr. Werner Hoyer Dr. Christel Happach-Kasan Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und 15/1120, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1036, den jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich Gesetzentwurf anzunehmen. zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. In diesem Zusammenhang weise ich auf eine offen- sichtliche Unrichtigkeit in der französischen Fassung des Tagesordnungspunkt 27 c: Vertragstextes hin: In Art. 12 Abs. 2 muss anstatt auf Art. 12 Abs. 4 richtigerweise auf Art. 11 Abs. 4 verwie- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- sen werden. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der so- von Legehennen (Legehennenbetriebsregister- eben vorgetragenen, korrigierten Fassung zustimmen gesetz – LegRegG) wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- – Drucksache 15/905 – haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung angenommen. (Erste Beratung 43. Sitzung) Dritte Beratung Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- wirtschaft (10. Ausschuss) stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- – Drucksache 15/1037 – (B) nommen. (D) Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 27 e: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Barbara Wittig, Dr. Dieter Hans-Michael Goldmann Wiefelspütz, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Franz Müntefering und der Fraktion der SPD, Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- den Abgeordneten Hartmut Büttner (Schöne- lung auf Drucksache 15/1037, den Gesetzentwurf in der beck), Volker Kauder, Dr. , Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die und der Fraktion der CDU/CSU, dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen den Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Volker Beck (Köln), Katrin Dagmar Göring- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des einstimmig angenommen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, Dritte Beratung Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs einesSechsten und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterla- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – gen-Gesetzes (6. StUÄndG) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- nommen. – Drucksache 15/806 – Tagesordnungspunkt 27 d: (Erste Beratung 40. Sitzung) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Gesetzes gierung eingebrachten Entwurfs eines ordneten Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), zu dem Internationalen Vertrag vom 3. No- Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und vember 2001 über pflanzengenetische Res- der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs sourcen für Ernährung und Landwirtschaft eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der – Drucksache 15/882 – Stasi-Unterlagen-Gesetzes (6. STUÄndG) (Erste Beratung 43. Sitzung) – Drucksache 15/313 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4007

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (Erste Beratung 19. Sitzung) Tagesordnungspunkt 27 g: (C) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schusses (4. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/1003 – Sammelübersicht 36 zu Petitionen (Kulturelle Angelegenheiten) Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig – Drucksache 15/1017 – Hartmut Büttner (Schönebeck) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ Silke Stokar von Neuforn CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für Gisela Piltz den Änderungsantrag auf Drucksache 15/1110? – Gegen- Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- stimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist schlussempfehlung auf Drucksache 15/1003, den Ge-mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abge- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- lehnt. fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge- Wer stimmt für die Sammelübersicht 36? – Wer genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelüber- in zweiter Beratung angenommen. sicht 36 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Dritte Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Tagesordnungspunkt 27 h: Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- nommen. ausschusses (2. Ausschuss) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Sammelübersicht 41 zu Petitionen Drucksache 15/1003 empfiehlt der Ausschuss, den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines – Drucksache 15/1018 – Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Gesetzes auf Drucksache 15/313 für erledigt zu erklären. hält sich? – Sammelübersicht 41 ist einstimmig ange- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- nommen. (B) stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung (D) ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 i: Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Sammelübersicht 42 zu Petitionen der Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksache 15/1019 – Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Änderung der Richtlinie 92/81/EWG und der hält sich? – Sammelübersicht 42 ist ebenfalls einstimmig Richtlinie 92/82/EWG zur Schaffung einer angenommen. Sonderregelung für die Besteuerung von Die- selkraftstoff für gewerbliche Zwecke und zur Tagesordnungspunkt 27 j: Annäherung der Verbrauchsteuern auf Benzin Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und Dieselkraftstoff ausschusses (2. Ausschuss) KOM (2002) 410 endg.; Ratsdok. 11571/02 Sammelübersicht 43 zu Petitionen – Drucksachen 15/173 Nr. 2.26, 15/401 – – Drucksache 15/1020 – Berichterstattung: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) hält sich? – Sammelübersicht 43 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrich- Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer tung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprü- diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- fung, Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmi- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- gung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion ge- Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich gen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf: 4008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Berichterstattung: (C) schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm schäftsordnung (1. Ausschuss) Peter Bleser Dr. Christel Happach-Kasan Antrag auf Genehmigung zum Vollzug ge- richtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnah- Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache mebeschlüsse 15/995 (neu) anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – – Drucksache 15/1135 – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Ent- Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Be- haltung von CDU/CSU. schlussempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussemp- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Tagesordnungspunkt 14: Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zusatzpunkt 5 a: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstver- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- weigerung (Kriegsdienstverweigerungs-Neure- gierung eingebrachten Entwurfs einesZweiten gelungsgesetz – KDVNeuRG) Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches So- zialgesetzbuch – Drucksachen 15/908, 15/1051 – – Drucksache 15/898 – (Erste Beratung 43. Sitzung) (Erste Beratung 43. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (12. Ausschuss) ses für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/1125 – – Drucksache 15/1137 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Weigel Abgeordneter Jens Spahn Jutta Dümpe-Krüger Thomas Dörflinger Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ina Lenke (B) empfiehlt auf Drucksache 15/1137, den Gesetzentwurf (D) anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Drucksache 15/1125, den Gesetzentwurf anzunehmen. zweiter Beratung angenommen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Dritte Beratung haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dritte Beratung Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge ist einstimmig angenommen. sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Zusatzpunkt 5 b: Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig an- genommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller- CDU/CSU Ohm, Gabriele Lösekrug-Möller, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, für die vom Deutschen Bundestag gemäß §§ 31 der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike und 36 des Gesetzes über die Rundfunkanstalt Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeord- des Bundesrechts „Deutsche Welle“ (Deut- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ sche-Welle-Gesetz-DWG) zu wählenden Mit- DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten glieder des Rundfunkrates und des Verwal- Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Wolfgang tungsrates der Deutschen Welle Gerhardt und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/1122 – Umfassender Schutz der Walbestände – Verbot Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt kommerziellen Walfangs konsequent durch- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Wahlvorschlag ist setzen einstimmig angenommen. – Drucksachen 15/995 (neu), 15/1128 – Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4009

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der– da können Sie ruhig klatschen –, wird die Opposition (C) CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-die Zahlen bestimmt anders interpretieren. Hier würde es NEN und der FDP heißen: Die Bürger haben resigniert und aufgegeben. Sie haben jegliches Vertrauen in die Regierung, den Staat Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der und seine Institutionen verloren. „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE – Drucksache 15/1123 – GRÜNEN]: Das kann unmöglich sein, Frau Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Gegenstim- Sehn!) men? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist einstim- Auch ohne Blick in die Kristallkugel oder angespannte mig angenommen. Lektüre des Kaffeesatzes kann ich Ihnen sagen: Beides stimmt so nicht. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 6 auf: Bevor ich die Ursache bei anderen suche, frage ich Beratung des Berichts des Petitionsausschusses mich zuerst: Was können wir, was kann der Deutsche (2. Ausschuss) Bundestag, was kann der Petitionsausschuss dafür tun, Bitten und Beschwerden an den Deutschen dass sich die Bürgerinnen und Bürger wieder vermehrt Bundestag an uns wenden? Was können wir tun, damit der Peti- tionsausschuss als das gesehen wird, was er ist: das of- Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des fene Ohr des Parlamentes für die Hinweise, Sorgen und Deutschen Bundestages im Jahr 2002 Bitten der Bürgerinnen und Bürger? Ich bin davon über- zeugt, dass der Petitionsausschuss ein Aktivposten für – Drucksache 15/920 – das Image des Deutschen Bundestages ist. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall im ganzen Hause) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir haben im letzten Jahr 5 030 Eingaben zu Geset- zen erhalten. Bestehende Regelungen wurden kritisiert, Ich eröffne die Aussprache und erteile der Vorsitzen- auf Ungerechtigkeiten wurde hingewiesen, Unstimmig- den des Petitionsausschusses, Kollegin Marita Sehn,keiten wurden moniert. Es ist eigentlich schade, dass FDP-Fraktion, als erster Rednerin das Wort. diese Anregungen nicht noch stärker genutzt werden, zum Beispiel in Gesetzgebungsverfahren. Keine Regie- Marita Sehn (FDP): rung, ob Rot-Grün, ob Schwarz-Gelb, ist so gut, als dass (B) sie von ihren Bürgern nicht noch lernen könnte. (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Weniger Petitionen – das war die dominierende Schlag- Oder nehmen Sie die 8 802 eingereichten Beschwer- zeile nach der Übergabe des Tätigkeitsberichtes des Peti- den über Behörden, abstruse Verwaltungsvorschriften tionsausschusses für das Jahr 2002 an den Präsidenten und die tagtäglichen Erfahrungen unserer Bürgerinnen des Deutschen Bundestages vor zwei Wochen. In der Tat und Bürger im Umgang mit der Bürokratie. Wie oft er- ist die Entwicklung auffallend: 13 Prozent weniger Ein- leben wir im Petitionsausschuss, dass Gesetze nicht dem gaben als 2001, gegenüber dem Jahr 2000 sogarSinn, sondern den Buchstaben nach angewendet werden. 33 Prozent weniger. Wird der Petitionsausschuss deshalb Ich möchte, dass die Bürgerinnen und Bürger – auch die, arbeitslos? die hier auf der Tribüne sitzen – es erfahren: Bei nahezu jeder zweiten Petition ist der Petitionsausschuss erfolg- Meine sehr geehrten Damen und Herren, es besteht reich. Das ist nicht nur ein Erfolg für die Ausschussmit- kein Grund zur Panik. Der Petitionsausschuss hatte und glieder und den Ausschussdienst, sondern für den Parla- hat noch viel zu tun. So haben die Ausschussmitglieder mentarismus in Deutschland. im Auftrag des Deutschen Bundestages im Jahr 2002 22 658 Petitionen abschließend behandelt. Das heißt, (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei auch wenn weniger Petitionen eingereicht wurden, Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- konnte die Anzahl der bearbeiteten Petitionen um mehr NISSES 90/DIE GRÜNEN) als 5 000 gesteigert werden. Auch im vergangenen Jahr Diese hohe Erfolgsquote verdanken wir nicht zuletzt haben Ihre Kolleginnen und Kollegen im Petitionsaus- vielen Behördenmitarbeitern, die nicht an einem büro- schuss eine beachtliche Arbeit geleistet, eine Arbeit, die kratischen Unfehlbarkeitsdogma festhalten, sondern be- sowohl für den Deutschen Bundestag als auch für diereit sind, gemeinsam mit uns nach einer Lösung zuguns- Bürgerinnen und Bürger von großer Bedeutung ist. ten des Petenten zu suchen. Entgegen weit verbreiteten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Vorurteilen wiehert auf deutschen Ämtern nicht nur der bei Abgeordneten der SPD) Amtsschimmel. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei den vielen engagierten und mutigen Behörden- Trotzdem bleibt die Frage im Raum, warum die Zahl mitarbeitern bedanken, die in vielen Fällen dazu beige- der Eingaben so stark rückläufig ist. Während Rot-Grün tragen haben, dass den Petenten geholfen werden konnte. das wahrscheinlich gerne als Beleg für eine gute und bürgernahe Regierungspolitik sieht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN) 4010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Marita Sehn (A) – Richtig, ich denke, an dieser Stelle darf man klatschen. Wir kennen sie als Stars der Musikszene. Sind sie aber(C) Petenten? Ich habe gelernt, dass Reden sogar im Bun- Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen destag spannend sein sollten. Deshalb gebe ich die Ant- in der Öffentlichkeit verstärkt auf die Möglichkeit von wort erst am Ende meines Beitrages. Sie haben also hin- Eingaben hinweisen. Wir müssen den Bürgerinnen und reichend Zeit – zumindest einige Minuten –, zu Bürger vermitteln, was wir für sie tun können. Wir kön- überlegen, ob sie auch zu diesem spannenden Personen- nen zum Beispiel Gesetzesänderungen einfordern, kön- kreis gehören, über den wir gerade sprechen. nen dazu beitragen, dass ein behördlicher Ermessens- spielraum zugunsten des Petenten genutzt wird und dass Wir sprechen über die Arbeit unseresPetitionsaus- eingereichte Vorschläge und Ideen nicht ungelesen ver- schusses im vergangenen Jahr. Dazu gehört, dass wir schwinden, sondern von der Politik zur Kenntnis genom- dem Sekretariat, das uns bei der Arbeit wirklich gut un- men werden. terstützt hat, und allen, die dort tätig sind, herzlich dan- ken. Der Petitionsausschuss will sich um eine nochstär- kere Bürgernähe bemühen. Eine vereinfachte Eingabe (Beifall im ganzen Hause) von Petitionen per E-Mail könnte ein erster Schritt in In meinen Dank möchte ich allerdings auch jene Mitglie- diese Richtung sein. Bürgernähe heißt für mich aberder einschließen, die bis zum September 2002 mitgear- auch, unsere Beschlussempfehlungen und Briefe nicht in beitet haben. Einige sind nicht mehr dabei. Besonders Ministerial- bzw. Juristendeutsch abzufassen, sondern in mein Vorgänger als Sprecher der sozialdemokratischen einer Sprache, die auch ohne Jurastudium oder Fremd- Abgeordneten, Bernd Reuter, hat sehr große Schuhe hin- wörterlexikon verständlich ist. Außerdem werden wir terlassen. Ich danke also auch denjenigen, die an dem die Öffentlichkeit verstärkt über unsere Arbeit sowie die Ergebnis mitgewirkt haben, heute aber nicht in unserer an uns herangetragenen Anliegen informieren. Runde sind. Der Petitionsausschuss ist der politische Seismo- (Beifall im ganzen Hause) graph in Deutschland. Wenn 3 577 Eingaben, also na- hezu 25 Prozent aller Petitionen, den Geschäftsbereichen Ähnlich wie die Frau Vorsitzende möchte ich die Auf- des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit sowie merksamkeit auf jene Petitionen richten, die nie den des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Si- Schreibtisch eines Abgeordneten erreichen, für die also cherung zuzuordnen sind, dann ist das ein klares Signal keine parlamentarische Beratung nötig ist. In 2002 wa- dafür, dass hier etwas im Argen liegt und dringenderren dies immerhin mehr als 5 000. Das ist knapp ein Handlungsbedarf besteht. Viertel aller bearbeiteten Petitionen. Sie wurden durch Rat, Auskunft, Verweisung und Materialübersendung er- (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ledigt. Was sagt uns das? Über das Sekretariat sagt uns (D) der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜND- das sicherlich, dass es gut arbeitet. Über die Behörden, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind ja auch die offenbar nicht bürgerfreundlich und kundenorientiert große Ministerien!) arbeiten, sagt uns das aber auch eine ganze Menge. So geht das nicht weiter. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, Vorsitzende eines Ausschusses sein zu dürfen, der (Beifall im ganzen Hause) sich in konstruktiver und parteiübergreifender Weise den Deshalb sage ich: Nicht nur der Vorschriftendschun- Bitten, Vorschlägen und Beschwerden der Bürgerinnen gel muss gelichtet werden, sondern auch die Beratung und Bürger annimmt. und Information müssen besser werden. Ich denke, wir Ich freue mich, mit einem Ausschussdienst zusam- brauchen keine Experten, die ihre fachliche Kompetenz menzuarbeiten, der dafür Sorge trägt, dass jede einzelne dadurch unter Beweis stellen, dass sie schwierige Sach- Petition gewissenhaft behandelt wird. Ich denke, wir alle verhalte kompliziert darlegen. Wir wollen Fachleute, die können auf den Petitionsausschuss und die im Namen ihren Expertenstatus dadurch nachweisen, dass sie kom- des Deutschen Bundestages geleistete Arbeit stolz sein. plizierte Sachverhalte verständlich machen. Das trifft manchmal auch uns Abgeordnete, zum Beispiel, wenn Schönen Dank. wir Stellungnahmen der Ministerien erhalten. Auch sie sind durchaus mit Fachchinesisch gespickt. Im ganzen (Beifall im ganzen Hause) Haus sind wir der Meinung, dass wir das zukünftig nicht mehr durchgehen lassen wollen. Auch hier brauchen wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Klarheit. Ich erteile der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller (Beifall im ganzen Hause) von der SPD-Fraktion das Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen direkten Draht zum Parlament, den Petitionen nun einmal darstel- Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): len, wollen wir intensivieren. Gute Beispiele sind hierfür Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! hilfreich. Ich erlaube mir, über ein Beispiel aus der aktuel- Wir alle kennen Elton John und Eros Ramazotti; ich un- len Arbeit zu berichten. Dazu müssen Sie alle sich – das terstelle das einfach mal. Ich glaube, das wird so sein. wird mühelos gelingen – in die Lage einer Bäuerin verset- zen, die, so schrieb sie, dies mit Leib und Seele ist. Seit (Volker Kauder [CDU/CSU]: Persönlich?) Anfang der 70er-Jahre hat sie gemeinsam mit ihrem Mann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4011

Gabriele Lösekrug-Möller (A) in einem eigenen landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet. Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht, das in Art. 17 (C) 1988 verstarb der Ehemann und die Witwe – drei kleine des Grundgesetzes verankert ist, aber dennoch gelegent- Kinder waren auch noch da – entschloss sich, den Bau- lich unterschätzt wird. Das von der Verfassung garan- ernhof alleine weiter zu bewirtschaften. So weit, so gut. tierte Recht, sich jederzeit mit Bitten und Beschwerden schriftlich an das Parlament, die Volksvertretung, wen- Was sie nicht bedachte: Bei Abgabe des Betriebesden zu können, verdient meines Erachtens eine größere hätte ihr eine Hinterbliebenenrente zugestanden. Was sie Bedeutung in unserer Gesellschaft. Die große Zahl von nicht wusste: 1995 änderte sich mit der Einführung der Eingaben jedes Jahr macht deutlich, welche Hoffnungen Bäuerinnenrente das Hinterbliebenenrecht. Was sie die Menschen in unseren Ausschuss setzen. Oft ist es ihr dann erlebte: Ihr ursprünglicher Anspruch auf Hinter- letzter Ausweg. Es ist erfreulich, festzustellen, dass der Pe- bliebenenrente wäre höher gewesen als jener, den sietitionsausschuss in mehr als der Hälfte der Fälle – meine nun – nach neuem Recht undnach weiterer Einzahlung Vorredner sagten es bereits – erfolgreich sein konnte. in die Alterskasse – erhalten soll. Manche Petitionen können allerdings erst nach meh- Das verstand die Petentin nicht und sie fand es unge- reren Wahlperioden positiv abgeschlossen werden. Dies recht. Wir auch. Also wurde den zuständigen Ministe- hat uns das Beispiel des Truppenübungsplatzes Vo- rien und den Fraktionen diese Petition als Material über- gelsang in der Eifel gezeigt. Es gibt aber auch Petitionen, wiesen, damit Abhilfe geschaffen werden kann. Vordie vom Ausschuss an die Bundesregierung zur Berück- zwei Tagen erreichte mich die Nachricht: Problem er- sichtigung überwiesen werden – also mit dem höchsten kannt, Kritik berechtigt. Für Abhilfe sorgt eine Gesetzes- Votum – und sich trotzdem nicht zu einem guten Ende änderung noch in diesem Jahr. Nun freut sich die Peten- führen lassen. Hier wünsche ich mir manchmal, dass die tin hoffentlich; wir tun dies. Ohne sie wäre dieseMinisterien mehr Kraft für sinnvolle neue Lösungen auf- Gerechtigkeitslücke nicht geschlossen worden. Dafür, wenden, als an Althergebrachtem festzuhalten. finde ich, müssen wir dankbar sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall im ganzen Hause) Beeindruckender als die Anzahl der neu eingereichten Ich bin Ihnen abschließend noch eine Antwort schul- Petitionen in 2002 mit etwa 14 000 finde ich die Zahl der dig, wie das mit Eros Ramazotti und Sir Elton John war. über 22 000 erledigten Petitionen, von denen uns der Be- Die Antwort lautet: Ja. Ich möchte das gerne noch aus- richt des Ausschusses Kenntnis gibt. Erwähnen möchte führen – so viel Redezeit bleibt mir gerade noch –: Mit ich an dieser Stelle auch die gute Zusammenarbeit unter 12 000 anderen Musikern sind sie Petenten, allerdings den Fraktionen im Ausschuss. Das ist in anderen Aus- bei der EU. Sie fordern eine geringere Mehrwertsteuer schüssen nicht ganz so. Ich glaube, diese Zusammenar- (B) auf Musik-CDs. Begründung: CDs sollen als sozial not- beit tut uns wirklich gut. (D) wendige Kulturgüter gelten. Ich bin auf das Ergebnis ge- spannt. Dem Ausschuss wünsche ich weiterhin kollegi- (Beifall im ganzen Hause) ale Zusammenarbeit. Wenn sich Bürger mit Beschwerden über verschie- Danke. dene Verwaltungen an den Ausschuss wenden, sind Lö- sungen im Ausschuss in der Regel im Konsens der Frak- (Beifall im ganzen Hause) tionen möglich. Anders sieht es Bitten bei um gesetzgeberische Maßnahmen aus. Dabei spielen die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mehrheitsfraktionen natürlich ihre Mehrheit aus, und zwar leider oft nicht im Sinne des Petenten. Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Baumann von der CDU/CSU-Fraktion. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) – Das müssen Sie sich leider sagen lassen. (Zuruf von der SPD: Es ist trotzdem nicht Günter Baumann (CDU/CSU): richtig!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Die besonderen Befugnisse des Ausschusses haben ren! Die Debatte zum Jahresbericht des Petitionsaus-sich für unsere Arbeit immer wieder als nützlich erwie- schusses gibt mir die Gelegenheit, mich namens dersen, zum Beispiel einen Ortstermin wahrzunehmen, Ak- CDU/CSU-Fraktion bei allen Mitarbeiterinnen und Mit- ten einzusehen oder einen Vertreter der Bundesregierung arbeitern des Ausschussdienstes für die kompetente,anzuhören. Auch dabei kann man Erstaunliches erleben. und, wie ich denke, kollegiale Zusammenarbeit ganzDie Mehrheitsfraktionen lehnten zum Beispiel einen herzlich zu bedanken. Ortstermin in Bayreuth kategorisch ab, bei dem es um eine Petition zum Erhalt eines Bundeswehrstandortes (Beifall im ganzen Hause) ging. Dabei wäre dadurch das Ansehen des Ausschusses Der gleiche Dank gilt den Mitgliedern meiner Arbeits- vor Ort gestärkt worden. gruppe für ein sehr gutes Miteinander. Ich möchte auch (Klaus Hagemann [SPD]: Das war als Wahl- unserem ehemaligen Kollegen , der vier kampftermin geplant!) Jahre lang das Amt des Obmannes in der Fraktion inne- hatte, ganz herzlich danken. – Das war kein Wahlkampftermin, Herr Kollege. 4012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Günter Baumann (A) Ein anderes Beispiel ist ein Minister, der in Fern- Viele Petitionen aus den neuen Ländern haben mit der (C) sehtalkshows das Petitionsrecht preist und die Arbeit des Aufarbeitung des SED-Unrechts zu tun. Vor allem von Ausschusses würdigt, aber der Ladung des Ausschusses der DDR-Diktatur politisch Verfolgte, deren Renten zum nicht folgt und fadenscheinige Gründe vorschiebt. Teil unter Sozialhilfeniveau liegen, wenden sich an uns. Morgen hat dieses Parlament erneut die Möglichkeit, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Regelung für SED-Opfer nach einem Antrag der neten der FDP) CDU/CSU-Fraktion auf den Weg zu bringen. Es wirft kein gutes Licht auf die Bundesregierung insge- Es erreichen den Ausschuss immer wiederEnteig- samt, wenn Worte und Taten auseinander klaffen. Auch nungsfälle, für die im Einigungsvertrag keine Regelung hier sollte der Respekt vor dem Ausschuss und dem Par- getroffen worden ist. So steht bei den stecken gebliebe- lament gewahrt werden. nen Entschädigungen immer noch eine Lösung aus. Die (Zuruf von der SPD: Das gilt für alle!) Bürger haben vom untergegangenen Staat, der DDR, Geld versprochen bekommen und es nicht erhalten; im Dass die Mitgliederzahl im Petitionsausschuss in die- jetzigen Staat findet sich niemand, der zuständig ist. ser Wahlperiode reduziert worden ist, ist nicht gerade ein positives Signal. Dadurch haben wir Abgeordnete natür- Aber selbst in Vermögensfällen, die im Einigungsver- lich mehr Petitionen zu bearbeiten. Zudem sind wir in trag geregelt sind, kommen viele nicht an ihr Ziel. Der mindestens einem anderen Ausschuss tätig. Das istJahresbericht 2002 nennt einen menschlich ganz beson- schon ein ganzer Packen Arbeit. Ich möchte auch daran ders bewegenden Fall, den ich ganz kurz schildern erinnern, dass in der vergangenen Wahlperiode mehrere möchte: Ein mittelständischer Unternehmer aus Sachsen Abgeordnete über 1 000 Petitionen als Berichterstatter wird 1972 enteignet, flüchtet in den Westen und baut bearbeitet haben. Das ist schon ein ganzes Stück Arbeit. dort einen neuen Betrieb auf. Als die Mauer fällt, kehrt er in seine Heimat zurück, um den alten Betrieb wieder Trotz alledem ist die Tätigkeit im Petitionsausschuss aufzubauen. Obwohl alle Voraussetzungen für eine gerade für neu gewählte Abgeordnete eine sehr guteRückübertragung erfüllt sind und der Betroffene fristge- Schule, erhält man doch nirgendwo sonst einen so guten mäß den Antrag gestellt hat, bekommt er seinen Betrieb Überblick über Sorgen und Wünsche der Bürgerinnen nie zurück. Stattdessen wird er über Jahre von der Treu- und Bürger in unserem Land. Nirgendwo spiegeln sich handanstalt und vom Vermögensamt mit ungerechtfer- Sinn und Unsinn der Gesetzgebung, Licht und Schatten tigten Forderungen hingehalten. Sein ehemaliges Unter- der Verwaltungstätigkeit in unserem Lande so anschau- nehmen war nicht ganz so schlecht und hat nach der lich wider wie im Petitionsausschuss. Wende noch produziert. Es wird danach von der Treu- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hand liquidiert. Die Maschinen werden unter dubiosen (D) Umständen ins Ausland verkauft. Jahrelange Gerichts- Daher würde ich mir wünschen – die Vorsitzende hat es verfahren bringen außer Kosten keinen Erfolg. In diesem bereits gesagt –, dass unsere Arbeit ein größeres Echo in Fall hat der Ausschuss über alle Parteigrenzen hinweg der Öffentlichkeit findet. Das Presseecho auf die Über- alle seine Befugnisse in einem Maße ausgeschöpft, wie gabe des Jahresberichtes an den Bundestagspräsidenten das nur selten der Fall ist: Wir führten Gespräche mit der in der vorletzten Woche war mehr als dürftig. Treuhand, den Vermögensämtern und dem Bundesfi- nanzministerium und nahmen bei allen zuständigen Be- Als Abgeordneter aus einem der neuen Länder finde hörden Akteneinsicht. Wir mussten auch den Petitions- ich es erfreulich, dass sich der Ausschuss in den vergan- ausschuss des Sächsischen Landtages bemühen, weil nur genen Jahren immer stärker als Anwalt auch dieser Bür- dort eine Landesbehörde vorgeladen werden konnte. Nur gerinnen und Bürger bewährt hat. Bekanntlich nutzen dank der guten Kooperation der beiden Petitionsaus- die Ostdeutschen die Möglichkeit der demokratischen schüsse war es schließlich möglich, alle Beteiligten an ei- Teilhabe am intensivsten. Die Sachsen zählen zu den nen Tisch in Berlin zu bringen. Auf eine Entschädigung, fleißigsten Petenten. So kamen im Jahr 2002 allein aus auf die wir vorher monatelang vergeblich gehofft hatten, Sachsen 319 Eingaben pro eine Million Einwohner an konnten wir uns jetzt einigen. Nach zwölf Jahren hat da- den Deutschen Bundestag. mit ein Petent natürlich nicht mehr sein Eigentum, aber Die meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern wenigstens eine angemessene Entschädigung erhalten. sind Hilferufe über bürokratisches Dickicht in unserer Meine zusammenfassende Einschätzung unserer Ar- Gesetzgebung. So bitten zum Beispiel Petenten um Auf- beit im Jahre 2002 ist: Wir haben durch fleißige Arbeit klärung über unverständliche Rentenbescheide oder eine und, wie ich denke, durch sachlichen Meinungsstreit in allein erziehende Mutter fragt, warum vom Unterhalts- den meisten Fällen vielen Bürgerinnen und Bürgern in vorschuss für ihr erstes Kind die Hälfte des Kindergeldes unserem Land helfen und damit ein Stück Vertrauen in wieder abgezogen wird. Eine traurige Aktualität im ver- unsere demokratische Grundordnung für sie wiederge- gangenen Jahr hatte die Bitte einer Bürgerinitiative, die winnen können. Dies sollte uns Ansporn sein, unsere Ar- ein Ende des Elbeausbaus in Sachsen forderte. Der Peti- beit auch im neuen Jahr der Tätigkeit des Petitionsaus- tionsausschuss informierte sich vor Ort. Die Warnung schusses mit gleicher Intensität fortzusetzen. der Petenten, eine höhere Fließgeschwindigkeit des Flusses habe größere ökologische Folgen, hat sich we- Vielen Dank. nige Wochen später durch die Jahrhundertflut als wahr herausgestellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4013

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Petitionen sind aber auch der Stoff, aus dem Gesetze (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler, sind. In diesem Zusammenhang gehe ich auf Ihre Aus- Bündnis 90/Die Grünen. führungen ein, Herr Baumann. Denn wenn sich Menschen mit Vorschlägen zu Gesetzesänderungen und -verbesse- rungen an den Ausschuss wenden, wird dies aufgegrif- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fen. Oft stand am Anfang eines neuen Gesetzes eine Pe- NEN): tition. Ich nenne als aktuelles Beispiel nur den Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Gesetzentwurf der Bundesregierung zum verstärkten Damen und Herren! Beschwerden und Meckereien sind Kundenschutz bei so genannten 0190-Servicenummern. die Muskeln der Schwachen, sagt ein afghanisches (Marita Sehn [FDP]: Das beschließen wir noch Sprichwort. Die Beschwerden und Meckereien, die wir heute Abend!) heute debattieren, sind aber ein bedeutendes Stück deut- scher Demokratie. Als migrations- und flüchtlingspolitischer Sprecher meiner Fraktion richtet sich mein besonderes Augen- Im Tätigkeitsbericht über die an den Deutschen Bun- merk auf die zahlreichen Petitionen – im Berichtszeit- destag gerichteten Bitten und Beschwerden lassen die raum waren es circa 500 – aus dem Bereich des Auslän- Bürgerinnen und Bürger die Muskeln spielen und sie fin- der- und Asylrechts. Die Praxis hat hierbei gezeigt, dass den im Petitionsausschuss einen starken Anwalt ihrer In- die Anforderungen, die an den Petitionsausschuss gerich- teressen im Parlament. Der Petitionsausschuss hat auch tet werden, oft weit über das hinausgehen, was wirklich im Jahr 2002 seine Erfolgsstory fortgeschrieben. geleistet werden kann. Das hat verschiedene Gründe. Der Jahresbericht des Petitionsausschusses erweist sich Zum einen ist der Petitionsausschuss kein „Härtefall- einmal mehr als ein Bestseller der Demokratie. Mehr als ausschuss“ und kann keineEntscheidungen außerhalb 22 000 Eingaben wurden – das wurde bereits erwähnt –der gesetzlichen Grundlagen treffen, auch wenn humani- 2002 vom Petitionsausschuss bearbeitet und zum Ab- täre Gründe oder eine durchaus gelungene Integration schluss gebracht. Hinzu kommt, dass auch bei fast jeder dafür sprechen. Zum anderen werden Petitionen oft sehr zweiten Petition etwas für die Petenten erreicht werden spät – zum Beispiel erst kurz vor der Abschiebung – ein- konnte. Das ist wirklich eine beeindruckende Bilanz. gereicht oder es liegen keine Rechtsverstöße durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flücht- (Beifall im ganzen Hause) linge vor. Ein neues Problem zu entdecken ist dabei genauso Dennoch gibt es im Einzelfall auch wichtige, manch- (B) wichtig, wie die Lösung für ein altes zu finden. Der Peti- mal sogar lebensrettende Erfolge. Zum Beispiel konnte (D) tionsausschuss leistet beides in hervorragender Weise. eine lebensbedrohliche Abschiebung in letzter Sekunde Das war gute Arbeit. Auch ich möchte mich demverhindert werden. Im Sommer bekam der Petitionsaus- Dank an die Abgeordneten der vorigen Wahlperiode an- schuss einen dringenden Hilferuf von Hilfsorganisatio- schließen, die dies mit geleistet haben. Mein Dank gilt nen, die von einer bevorstehenden Abschiebung eines auch dem hervorragend arbeitenden Ausschussdienstkurdischen Kriegsdienstverweigerers berichteten. Das ist und Ausschusssekretariat des Petitionsausschusses. insofern ein sehr dramatischer Fall, als der Betreffende schon einmal in die Türkei abgeschoben und dort gefol- (Beifall im ganzen Hause) tert wurde. Als Folge davon war der Petent inzwischen psychisch schwer krank und extrem selbstmordgefähr- Mein allererster Dank gilt aber den Bürgerinnen und det. Der Asylfolgeantrag wurde dennoch abgelehnt. Erst Bürgern dieses Landes. Denn sie sind schließlich dieeine entsprechende Petition hat dazu geführt, dass ein Autoren dieses Bestsellers der Demokratie. Nur mit ihrer Vertreter des Bundesamtes für die Anerkennung auslän- Hilfe, ihren Anregungen und Ideen, Hinweisen und Be- discher Flüchtlinge in Nürnberg denjenigen persönlich schwerden kann die Arbeit gelingen. aufgesucht hat. Er kam ganz selbstverständlich zu dem Schluss – man höre und staune! –, es bestehe „kein Zwei- Der Petitionsausschuss beackert dabei ein sehr weites fel, dass der Antragsteller den vorgetragenen Folterun- Feld. Mein Vorgänger als Obmann des Bündnisses 90/ gen ausgesetzt war“. Der Asylfolgeantrag wurde da-rauf- Die Grünen im Petitionsausschuss, der verehrte Kollege hin genehmigt. Ich meine – ich hoffe, dass das auch für Helmut Wilhelm, hat den schönen Satz geprägt, der Peti- Sie gilt –, dass sich allein für diesen Fall die Arbeit des tionsausschuss sei zuständig von Atombombe bis Zahn- Petitionsausschusses im letzten Jahr schon gelohnt hätte. plombe. Auch im Berichtszeitraum finden wir wieder Petitionen von Atomkraft bis Zahnbehandlung. (Beifall im ganzen Hause) Auch ich hatte schon Petitionen zu geschundenen Es gibt aber auch ganz andere außergewöhnliche Asylbewerbern, traurigen Eisbären und zornigen Wan- Fälle. Wir befreien, wenn es sein muss, sogar Eisbären, dergesellen zu bearbeiten. Ob es um die verspätete oder zum Beispiel Kenneth und Boris. Das sind zwei Eisbä- zu geringe Rentenauszahlung, überhöhte Krankenkas- ren der weltweit gerühmten Eisbärendressur des ehema- senbeiträge oder die Einstufung in die Pflegeversiche- ligen DDR-Staatszirkus. Der Staatszirkus wurde 1990 rung geht – tagtäglich bemüht sich der Ausschuss – wie abgewickelt und die beiden Bären wurden an einen wir sehen, oft mit Erfolg – um die Lösung konkreter Pro- dubiosen mexikanischen Zirkus verkauft. Schon bald bleme der Bürgerinnen und Bürger. gab es Besorgnis erregende Informationen über die Art 4014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Josef Philip Winkler (A) und Weise der Haltung und Pflege der beiden Eisbären, gen und Nöten an das Parlament zu wenden, besteht, seit (C) die in Form einer Petition an uns herangetragen wurden. es die Bundesrepublik Deutschland gibt, und ist im Die beiden Bären wurden geschlagen und ausgepeitscht Grundgesetz verankert. Eine wesentliche Funktion unse- sowie ohne Wasser bei rund 45 Grad Hitze in kleinen, rer parlamentarischen Demokratie ist, dass wir, der Peti- verschmutzten Käfigen gehalten. In einer Petition wurde tionsausschuss des Deutschen Bundestages, den Bürge- die Auflösung des Kaufvertrags zwischen dem Zirkus rinnen und Bürgern zu ihrem Recht verhelfen, Unrecht und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonder- verhindern und dort, wo es entsteht, beseitigen. In die- aufgaben gefordert. Die damalige Staatssekretärin imsem Prozess – das sage ich als jemand, der schon in der Bundesumweltministerium, Frau Altmann, hat sich der letzten Legislaturperiode im Petitionsausschuss des Sache persönlich angenommen. Sie hat mithilfe desDeutschen Bundestages gearbeitet hat – hat unser Aus- Auswärtigen Amtes die beiden Eisbären gerettet. Inzwi- schuss gute kollektive Arbeit geleistet. Ich danke Ihnen schen sind sie in einem anständigen Zoo in Nordamerika als liberaler Abgeordneter dafür, dass es zu einer solch untergebracht. guten Zusammenarbeit kam. Das hat sich natürlich auch auf das Ergebnis des Ausschusses ausgewirkt. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall im ganzen Hause) Ich möchte noch kurz auf Bayreuth eingehen, obwohl ich das um des Friedens willen eigentlich nicht tun Art. 17 des Grundgesetzes gewährt jedermann das wollte. Wenn aber Herr Baumann das darf, dann darfRecht, Bitten und Beschwerden einzureichen. Damit gilt auch ich das. Die Forderung nach einem Ortsbesichti- das Petitionsrecht für Erwachsene, für Minderjährige, gungstermin, den die Opposition im Petitionsausschuss für Ausländer, aber auch für Staatenlose. Man kann eine erhoben hatte, war, wie ich finde, ganz eindeutig vom Petition für sich selbst, für andere oder in einem gesell- Wahlkampf geprägt; schaftlichen Interesse bei uns einreichen. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Damals war Der Petitionsausschuss hat Erfahrungen dabei sam- kein Wahlkampf! So ein Quatsch!) meln können, die Sorgen und Nöte der Petenten zu erfas- sen, aber auch Lücken und Schwachstellen im Gesetzge- denn mit einer Ortsbesichtigung hätten wir den Men- bungsverfahren und beim Auf-den-Weg-Bringen von schen vor Ort signalisiert, dass dort eventuell noch etwas Verordnungen zu erkennen und Abhilfe zu schaffen. zu machen wäre. Sie wissen aber ganz genau, dass dort nichts mehr zu machen war. Das Ministerium hatte ent- Im Jahr 2002 wurden mit 13 832 Petitionen zwar schieden und die Sache war gelaufen. Deswegen – und 12 Prozent weniger Petitionen eingereicht. Zum Bereich aus keinem anderen Grund – haben wir das abgelehnt. des früheren Ministeriums für Arbeit und Sozialord- nung gab es aber mit 25 Prozent nach wie vor die meis- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) ten Petitionen. So weist der Petitionsbericht 2002 bei und bei der SPD – Klaus Hagemann [SPD]: den Sammel- und Massenpetitionen zur Kritik an der Die schwarz-gelbe Regierung hat entschieden! – Rentenüberleitung für diejenigen, die in der DDR im Gegenruf des Abg. Günter Baumann [CDU/ Gesundheits- und Sozialwesen gearbeitet haben, rund CSU]: Da war doch keine Wahl!) 29 900 Unterschriften aus. Das Gleiche trifft für die Damit möchte ich die Misstöne beenden. Ich finde, Sammel- und Massenpetitionen zur Kritik an den ver- dass der Petitionsausschuss ein Leuchtturm im Paragra- schiedenen rentenrechtlichen Begrenzungsregelungen phenmeer ist. Er weist Wege aus aussichtslosen Situatio- für ehemalige Angehörige der Zusatz- und Sonder- nen und sorgt auch dafür, dass so manchem von uns,versorgungssysteme der DDR zu, bei denen knapp mich eingeschlossen, ein Licht aufgeht. Damit das Licht 30 000 Unterschriften zu verzeichnen waren. dieses Ausschusses in Zukunft noch heller strahlen möge, möchte ich als Katholik – ganz im Sinne des ge- Der Petitionsausschuss muss demnächst die im Jahr rade stattgefundenen Ökumenischen Kirchentags 2002 – eingebrachte Petition zur Anerkennung der dem Martin Luther zitieren: mittleren medizinischen Personal durch DDR-Recht zu- erkannten Sonderversorgung bewerten und darüber ent- Bittet, rufet, schreiet, suchet, klopfet, poltert – und scheiden. Ich möchte gerade auf diese Petition etwas nä- das muss man für und für treiben ohne Aufhören! her eingehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands waren Re- gelungen für die Überleitung der Anwartschaften der so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genannten Bestandsrentner und für jene zu treffen, die in und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Zukunft das Rentenalter erreichen würden. Die Regelun- CDU/CSU und der FDP) gen hatten zu berücksichtigen, dass es sich bei den in der DDR erworbenen Anwartschaften um solche handelt, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die nach dem Abschluss des Einigungsvertrags – wie zu- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guttmacher von letzt durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1999 der FDP-Fraktion. festgestellt – dem Eigentumsschutz unterliegen. Das Einkommen des mittleren medizinischen Per- Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP): sonals der früheren DDR war außerordentlich gering. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Das führte dazu, dass diese Personen nicht in die 1971 gen! Das Recht eines jeden Bürgers, sich mit seinen Sor- eingerichtete Freiwillige Zusatzrentenversicherung auf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4015

Dr. Karlheinz Guttmacher (A) genommen werden konnten,weil sie eben nicht den bedanken, die es, soweit ich mich erinnern kann, zum(C) Schwellenwert eines Gehalts von 600 Mark der DDR er- ersten Mal ermöglicht haben, dass eine Debatte über die reichten. Die Rentenverordnung der DDR sah vor, dass Arbeit des Petitionsausschusses in der Kernzeit stattfin- bei den betreffenden Angehörigen des mittleren medizi- det. nischen Personals die Dienstjahre mit dem Faktor 1,5 (Beifall im ganzen Hause) multipliziert wurden, damit sie dann eine angemessene Rente bekamen. Bis Ende 1996 wurden nach dem Ren- Herr Baumann, ich war in der letzten Wahlperiode tenüberleitungsgesetz die Dienstjahre weiter mit demnicht nur im Petitionsausschuss, sondern auch im Vertei- Faktor 1,5 ermittelt und eine entsprechend hohe Rente digungsausschuss Mitglied. In dieser Funktion habe ich gezahlt. an der Schließung des Standortes Bayreuth mitgewirkt. Wir hatten im Verteidigungsausschuss die Wahl zwi- Ohne jede Begründung wurde nach dem 1. Januar schen zwei in der gleichen Region liegenden Standorten: 1997 Vertrauensschutz nicht mehr gewährt. Die Verkür- Wir haben uns gegen Bayreuth ausgesprochen. Diese zung der Rente durch den Wegfall des Steigerungsbe- Entscheidung zu treffen war unvermeidbar; sie ist end- trags liegt je nach Versicherungsbiografie des Betroffenen gültig und unumkehrbar. Diese Entscheidung auf dem zwischen 150 und 200 Euro. Unter Berücksichtigung der Petitionswege verändern zu wollen haben wir als einen Festlegung des Bundesverfassungsgerichts, dass die untauglichen Versuch betrachtet, das Petitionsverfahren Rentenanwartschaft durch gesetzgeberische Eingriffe zu missbrauchen. Das war aus meiner Sicht, Herr durchschnittlich um nicht mehr als 10 Prozent gemindert Baumann, auch dem von Herrn Guttmacher gerade an- werden darf, wird in dieser Petition gefordert, dass dieje- gesprochenen Klima nicht zuträglich. Man sollte mit sol- nigen, die nach dem 1. Januar 1997 in Rente gegangen chen Dingen vorsichtiger umgehen. sind oder noch gehen werden, denjenigen, die davor in Rente gegangen sind, gleichgestellt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich hoffe, dass der Petitionsausschuss ähnlich wie bei der Befürwortung der Sonderversorgung der 35 000 Be- Ich sehe die wichtigsten Aufgaben des Petitionsaus- schäftigten des früheren Zeiss-Kombinats im Jahre 1994 schusses im Grundrecht eines jeden Bürgers, sich, ers- die Kraft und Stärke zeigt, durch eine Korrektur der Ge- tens, an das höchste Parlament in seinem Nationalstaat setzeslage – in diesem Fall müssten wir eine kleine Kor- wenden und, zweitens – daraus resultierend –, auf eine rektur am Sozialgesetzbuch VI anbringen – den Betrof- intensive Auseinandersetzung mit seinem Anliegen fenen des mittleren medizinischen Personals beimwirklich vertrauen zu können. Eintritt in die Rente Bestandsschutz zu gewähren. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (B) Als wohl dienstältester Abgeordneter im Petitionsaus- Kastner) (D) schuss stelle ich fest, dass unser Ausschuss als „Kum- merkiste der Nation“ sehr gut nachgefragt wird. In kei- Gerade in einer repräsentativen Demokratie wie der nem anderen Ausschuss ist die Palette der Probleme, die unseren wirkt das Petitionsrecht in ganz besonderer gelöst werden sollen, so breit wie im Petitionsausschuss. Weise nach außen. Es ist, wie ich meine, das wichtigste Institut parlamentarischer Öffentlichkeitsarbeit. Die damit verbundenen Aufgaben können die Mitglieder Au- des Petitionsausschusses allein nicht bewältigen. Ichßerhalb von Wahlterminen steht der Deutsche Bundestag danke von Herzen allen Mitarbeitern des Ausschuss-so jedem Mann und jeder Frau offen. Seine Bedeutung dienstes, des Ausschusssekretariats, aber auch den bei- ist unter anderem daran erkennbar, dass wir im letzten den Vorsitzenden im Jahr 2002, Frau Lüth und FrauJahr, das diesen Bericht umfasst, allein 5 000 Petitionen Sehn, meiner Fraktionskollegin, für die konstruktive Zu- bearbeitet haben, die sich mit laufenden Gesetzgebungs- sammenarbeit. verfahren befassten. Vielen Dank. Einige der Eingaben, dieich persönlich im letzten Jahr zu bearbeiten hatte, zielten darauf ab, unser Zivil- (Beifall im ganzen Hause) recht zu durchforsten, das seit rund 100 Jahren in man- chen Paragraphen unverändert ist. Beispielsweise führte Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ein Petent in seiner inzwischen 28. Petition die §§ 166 bis 168 des Strafgesetzbuches an, die er für historisch Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Göllner von der und kulturell überholt hielt. SPD-Fraktion. Wir haben uns mit dieser Petition befasst. Das Justiz- Uwe Göllner (SPD): ministerium hat uns die Entscheidungsgrundlagen ver- schafft. Der Petent wurde darauf hingewiesen, dass diese Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Paragraphen nach wie vor ihre Gültigkeit haben; denn sie Kollegen! Ich will mich dem Dank an das Sekretariat na- befassen sich mit dem Schutz von Weltanschauung, mit türlich anschließen. Herr Guttmacher, ich will in diesen dem Strafmaß bei Zuwiderhandlung und mit dem Schutz Dank aber auch unsere eigenen Mitarbeiter einbeziehen, der Totenruhe. Außerdem wurde er darauf hingewiesen, ohne die wir dieses Pensum nicht leisten könnten. dass zeitgemäße Auslegungen gegebenenfalls erfolgen (Beifall im ganzen Hause) werden. Ich erwähne dieses Beispiel, weil es zeigt, dass nicht jede Petition unbedingt zum Erfolg führt. Außerdem möchte ich mich bei den Damen und Her- ren Parlamentarischen Geschäftsführern ausdrücklich (Marita Sehn [FDP]: So ist es!) 4016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Uwe Göllner (A) Eine andere Petition mitgesetzesinitiativem Cha- Jens Spahn (CDU/CSU): (C) rakter haben wir hingegen nicht abgeschlossen, sondern Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- den Fraktionen zur Prüfung überwiesen. Sie wurde von legen! Vorweg möchte ich als jüngerer, neu im Bundes- einem Krankenhausarzt eingereicht, der für „Ärzte ohne tag vertretener Abgeordneter sagen, dass ich in der Ar- Grenzen“ bereits mehrfach im Ausland unterwegs war. beit im Petitionsausschuss die Chance sehe, einen Dadurch hat er wie viele seiner Kollegen für das Anse- Einblick in viele verschiedene Themenbereiche und in hen der Bundesrepublik eine Unmenge getan, ohne eine die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern aus allen gesetzliche Arbeitsplatzgarantie nach seiner Rückkehr Schichten und Regionen Deutschlands gewinnen zu kön- zu haben. nen. In anderen europäischen Ländern ist das anders; dort Wir beschäftigen uns mit Themen wie – darüber ha- führt der Einsatz im Ausland gerade dazu, dass die Ärzte ben wir gerade schon gesprochen – die artgerechte Hal- in ihrer persönlichen Karriere bevorteilt werden. Dastung von Eisbären, die Euro-Umstellung, die Entschädi- Beispiel des im Ausland tätigen Arztes hat uns dazu ver- gung für Wertpapiere der BRABAG von 1940 bis hin zu anlasst, das Petitionsverfahren nicht abzuschließen, son- so komplexen Themen wie die Anschläge vom dern es als Grundlage für Veränderungen an die zustän- 11. September. Es gibt Petitionen im Umfang von meh- digen Ministerien zu überweisen. Gerade vor demreren Aktenordnern, mit Videokassetten, aber auch Peti- Hintergrund, dass das letzte Jahr das „Jahr des Ehrenam- tionen, die auf eine Postkarte oder einen Bierdeckel ge- tes“ war, war dies ein besonders wichtiger Anstoß. kritzelt wurden. Gerade die letzteren Beispiele machen Zugegeben: Das Petitionswesen wirkt im Stillen, weil deutlich, wie leicht und unkompliziert es für die Bürge- es überwiegend die persönlichen Beschwerden einzelner rinnen und Bürger ist, ihr Grundrecht wahrzunehmen. Bürger behandelt. Ich merke das jede Woche, wenn die Für mich als Wahlkreisabgeordneten ist es spannend, schwarzen Kartons mit den neuen Petitionen kommen. die Petitionen aus dem Wahlkreis zu begleiten, beispiels- Das bedeutet, dass man sich immer wieder neu hinein- weise eine Petition aus Rheine, in der es um die Nachfol- vertiefen und sich Zeit nehmen muss; unbemerkt von der genutzung für Bundeswehrliegenschaften und um den Öffentlichkeit, doch bemerkt vom Petenten, dem wirErhalt einer Ausbildungsstätte der Bundeswehr geht. vielleicht helfen können. Gerade in Zeiten, in denen die Ausbildungsplatz Su- Den berühmten Blumentopf gewinnen wir mit unse- chenden wenig Erfolg haben, ist eine solche Werkstätte rer Arbeit nicht; das machen wir eher in den Fachaus- für 56 Azubis eine wichtige Einrichtung. Ich hoffe, dass schüssen. Aufgrund dessen dauerte es immer eine ge- wir im Ausschuss zu einer vernünftigen Lösung kom- wisse Zeit, bis der Petitionsausschuss nach einermen. (B) Bundestagswahl besetzt war. Beim letzten Mal war das Ein besonderes Augenmerk möchte ich darauf rich-(D) anders: Zum einen fanden sich unter den alten und neuen ten, dass der größte Teil der Petitionen aus dem Bereich Abgeordneten zügig genügend Mitglieder, die in den Pe- der sozialen Sicherung, insbesondere der Kranken- und titionsausschuss wollten, zum anderen war vielleicht die Rentenversicherung, kommt. Wie sollte es auch anders Tatsache hilfreich, dass aufgrund der Verkleinerung des sein? Auf diesem Gebiet besteht das größte Finanzvolu- Deutschen Bundestages auch der Petitionsausschussmen unserer Haushalte. Ein Großteil der Bevölkerung ist kleiner geworden ist. mehr oder minder stark in Kontakt mit diesen sozialen Das führt allerdings dazu, dass wir nun mit 25 Mit- Sicherungssystemen. Nahezu 90 Prozent der Menschen gliedern die gleiche Arbeit leisten, die wir vorher mitin Deutschland sind gesetzlich krankenversichert. In 29 Mitgliedern geleistet haben. Die Statistik des letzten Deutschland haben wir es fast zu einer perversen Perfek- Jahres – Herr Guttmann hat schon darauf hingewiesen – tion getrieben: In der Absicht, eine allumfassende Ein- weist aus, dass die Eingabenzahl um exakt so viel Pro- zelgerechtigkeit herzustellen, haben wir eine hoch kom- zent geringer war, wie der Bundestag weniger Mitglieder plexe, durchregulierte und intransparente Mammut- hat. Ich führe das darauf zurück, dass die Petenten ein- bürokratie geschaffen. sichtig sind und uns künftig mit genauso viel Arbeit be- Es gibt in diesem Zusammenhang zahlreiche Einga- legen. ben, etwa zur Kostenübernahme der gesetzlichen Kran- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kenversicherungen. Den Menschen ist es nicht verständ- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich, warum die Krankenkassen sich beispielsweise weigern, die Kosten für eine Krebsvorsorgetherapie oder Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich danke Ihnen ganz für eine Stoßwellentherapie zu erstatten, wenn sie sich herzlich für die Aufmerksamkeit. im Nachhinein als erfolgreich herausstellt und sogar kos- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tengünstiger ist und eine Operation erspart hat. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Marita Sehn Um hier Petitionen vorzubeugen, braucht das Ge- [FDP]) sundheitswesen ganz einfach mehr Transparenz, mehr Wahlmöglichkeiten und vor allem Beteiligungsrechte, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mitwirkungsrechte bei der Festlegung des Leistungska- Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn, CDU/ taloges gerade derer, die bezahlen, nämlich der Versi- CSU-Fraktion. cherten und der Patienten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4017

Jens Spahn (A) Ähnlich zahlreiche Eingaben gab es zum Beispiel bei men, bedanke ich mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, (C) Problemen der Rentner. Natürlich ist es eine sinnvolle ganz herzlich. Regelung, dass jemand neun Zehntel der zweiten Hälfte Als ich mich lange vor Einzug in den Deutschen Bun- seines Erwerbslebens gesetzlich versichert sein muss, destag für den Petitionsausschuss entschieden habe, um später in der Krankenversicherung der Rentner habe ich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse. Aber pflichtversichert sein zu können; denn wir können natür- ich wollte diese Unmittelbarkeit, den direkten Kontakt lich nicht zulassen, dass die, die sich vorher der Solidar- zwischen den Menschen, die wir vertreten, und dem Par- gemeinschaft entzogen haben, im Alter wieder hinein- lament. Als es dann ernst wurde, wuchs – das gebe ich kommen. Aber diese arg technische Lösung führt zu viel zu – die Spannung: Was bekomme ich eigentlich auf den Unverständnis, Verbitterung und Ärger. Tisch? Bekomme ich die Petition als Schriftstück und Gerade im Bereich der Sozialversicherung wird symp- muss dann entscheiden, in welches Verfahren wir gehen? tomatisch deutlich, dass Bürokratie und Verwaltung die Wie erkenne ich überhaupt, wer zuständig ist? Als die Freiheit in diesem Land, einem der freiesten der Welt, ersten Akten dann auf meinem Schreibtisch lagen, war nach und nach einzuengen und zu bedrängen drohen.die Erleichterung recht groß. Die Fülle an Informatio- Die Menschen fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Dies nen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Aus- ist in vielen Petitionen zu erkennen. Sie fühlen sich der schusses im Vorfeld zusammentragen, stellt sicherlich Bürokratie ausgeliefert. Sie können Verwaltungsent-die Hauptarbeitslast im Zusammenhang mit den Petitio- scheidungen, oft in missverständlichstem oder unklars- nen dar. Für diese Arbeit möchte ich mich beim Aus- tem Deutsch, nicht nachvollziehen. All dies ist keineschussdienst ganz herzlich bedanken. gute Basis für die Akzeptanz unseres Systems bei den (Beifall im ganzen Hause) Menschen. Ich denke, alle, die im Bereich Petitionen arbeiten, Ergo: Der Petitionsausschuss und seine Arbeit sind stehen zu diesem kurzen Weg zum Parlament, dem Regulativ des Parlaments, wichtiger denn je, als aber Art. 17 des Grundgesetzes, nach dem jedermann das auch, um zu überwachen, wie das, was wir als Gesetzge- Recht hat, „sich einzeln oder in Gemeinschaft mit ande- ber vielleicht positiv intendiert haben, von der Regie-ren schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zu- rung und letzten Endes von den Gerichten gesehen und ständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wen- umgesetzt wird. den.“ Schon 1794 war im Allgemeinen Landrecht für die Aber der Petitionsausschuss entlässt uns als Abgeord- preußischen Staaten unter anderem vorgesehen, „dass ei- nete insgesamt – in Zukunft wahrscheinlich noch stärker – nem jeden freistehe, Zweifel, Einwendungen und Be- nicht aus der Pflicht, diesem elenden, überbordendendenklichkeiten gegen Gesetze anzuzeigen“. – Das Petiti- (B) Bürokratismus endlich Einhalt zu gebieten. onsrecht ist also keine neue Erfindung; das gab es auch (D) vorher schon. Für uns bietet sich so die Möglichkeit, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) direkte Wirkung unserer Gesetze zu reflektieren. Die Pe- titionen zeigen, dass es bei weitem nicht nur um aktuelle Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gesetze geht, und sie zeigen auch, dass nichts so gut ist, dass es nicht verbessert werden kann. Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) CDU/CSU und der FDP)

Gabriele Frechen (SPD): Von Kreditwesen und Asylfragen über offene Vermö- gensfragen im Osten und alle Facetten von Sozialleistun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen bis hin zu Wahlschablonen für Blinde und Petitionen gen! für und gegen die Abschaffung der Splittingtabelle bietet Auch ich möchte auf die Bedeutung des Petitions- der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses einen ausschusses hinweisen. Es ist eine gute Schule für Rundgang durch so gut wie alle Gesetze, Behörden und neue Abgeordnete. Aber das funktioniert nur dann, Institutionen. Von allen Berichterstatterinnen und Be- wenn erfahrene Kolleginnen und Kollegen sozusa- richterstattern wird viel Fleiß, Zeit und Engagement ver- gen das starke Gerippe des Ausschusses bilden. langt. Dafür gibt es dann wenig Lob, kaum Anerkennung und so gut wie keine Öffentlichkeitswirksamkeit. Das ist ein Zitat von Bernd Reuter vom 12. Dezember 2001. (Marita Sehn [FDP]: Das wollen wir ändern!) Umso mehr ist die exklusive Zeit im Plenum zu loben, (Marita Sehn [FDP]: Recht hat er gehabt!) die uns hier heute zugestanden wird. Als neue Abgeordnete kann ich dieses Zitat nur bestä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigen. Die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sind DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eine wahre Fundgrube an Daten, ähnlich gelagerten Fäl- CDU/CSU und der Abg. Marita Sehn [FDP]) len und Erfahrung. Dass sie dieses Wissen nicht für sich behalten, sondern an die Neulinge weitergeben, verkürzt Ob Einzel- oder Sammelpetitionen: Jeder Petent hat die Einarbeitungszeit ungemein. Dafür, dass sie nichtein Anrecht darauf, dass seine Petition ernst genommen verlangen, dass wir all das einfach von ihnen überneh- und verfolgt wird. Natürlich sind die Grenzen unserer 4018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Gabriele Frechen (A) Arbeit das geltende Recht, aber nur für Vergangenheit und vielleicht hin und wieder sogar der Bundes-(C) und Gegenwart. Für die Zukunft können, müssen und sol- kanzler zugegen ist. len wir aus Petitionen lernen. Wo Ermessensspielraum ist, da ist auch immer Platz für Einzelfallentscheidungen. Ich schließe mich diesen Wünschen an. Bernd Reuter hat einmal gesagt, dass wir eine Arbeit (Beifall im ganzen Hause) leisten, die zwischen Lust und Frust eingebettet ist; ich möchte sagen: manchmal auch zwischen Weinen und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Lachen. Wenn eine Petition zum Kreditwesen damit be- Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Pfeiffer, ginnt, dass ein Petent versucht hat, einen Kredit mit dem CDU/CSU-Fraktion. anderen zu tilgen, dann kann ich den weiteren Verlauf in der Akte voraussagen. Sosehr ich mir dann wünsche, (Beifall bei der CDU/CSU) meine Vorahnung möge sich nicht erfüllen, so weiß ich doch, dass es genau so kommen wird. Wir erhalten ganz Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): tiefe und ganz nahe Einblicke in menschliche Schicksale Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- und können nicht immer und nicht allen helfen. Abergen! „Du musst bestimmt in den Petitionsausschuss; das wenn es uns in diesen Fällen gelingt, einen geordneten müssen alle Neuen.“ So ungefähr ist es mir gesagt wor- Ausstieg aus der Schuldenfalle anzustoßen, dann ist das den, als es sicher war, dass ich Mitglied dieses Hohen ein sehr großer Erfolg. Hauses werden würde. Es wurde also gesagt – das be- Auf der anderen Seite habe ich wohl mit dem nötigen tone ich –: Du musst! Ernst, aber auch mit einem Schmunzeln die Petition ei- Wie despektierlich, habe ich gedacht, war mir aber, ner Unternehmerin bearbeitet, die die Steuerberaterrech- wenn ich ernst darüber nachdachte, nicht sicher – das nung vom Finanzamt bezahlt haben wollte. Sie stand auf gebe ich zu –, ob der Petitionsausschuss wirklich so pri- dem Standpunkt, dass sie keine Bilanzen und auch keine ckelnd und aufregend ist, wie man mir versicherte. Ich Steuererklärungen brauche und wenn das Finanzamt un- wusste, dass damit viel Arbeit verbunden und diese Ar- bedingt welche haben wolle, dann soll es dafür auch be- beit nicht sehr medienwirksam ist. Dass wir im Übrigen zahlen. heute zu dieser Zeit über die Tätigkeit des Petitionsaus- (Heiterkeit bei der SPD) schusses debattieren können, ist – Frau Frechen hat es bereits gesagt – eine tolle Sache. Dafür sollten wir uns Das ist ein für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler si-bedanken; denn medienwirksam sind wir normalerweise cherlich des Öfteren nachvollziehbarer Standpunkt. nicht. (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich Es kam dann so, wie es kommen musste: Als neue(D) auch bei Ihnen für die Zusammenarbeit und für die gute Abgeordnete des Bundestages bin ich tatsächlich Mit- Atmosphäre bedanken. Die meisten Voten sind einstim- glied des Petitionsausschusses geworden. Mittlerweile mig. Wo das nicht der Fall ist, gelingt es uns oft in der bin ich dafür dankbar. Ich bin dafür dankbar, dass ich die Sitzung, eine Einigung zu erzielen, manchmal nicht in Möglichkeit habe, mich mit all dem auseinander zu set- der ersten oder in der zweiten und manchmal eben über- zen, was mir tagtäglich begegnet. Ich bin dafür dankbar; haupt nicht. Manches, mit dem man draußen zu punkten denn wir haben eine ungeheuer spannende Aufgabe. Wir hofft, wird heute aus der Opposition anders beurteilt als sind sehr nahe an der gelebten Politik, an der Realität, an zur eigenen Regierungszeit. dem, was die Bürger dieses Landes beschäftigt, aufregt, (Beifall bei der SPD – Marita Sehn [FDP]: ärgert, belastet; was auch immer, wir sind dabei. Und umgekehrt!) Ich spreche hier nicht von Aktenbergen und Gesetzen, Trotzdem denke ich, dass wir in erster Linie das Wohl sondern davon, dass jede Petition einen Namen, ein Ge- des Petenten zum Ziel haben. burtsdatum, einen Wohnort, eine Telefonnummer und in den meisten Fällen auch eine ganz lange Geschichte hat. größte Kummerkasten Deutschlands Der steht in Ich finde, wir haben eine bedeutende Aufgabe zu leis- der Schadowstraße 12 bis 13. Ich wünsche mir, dassten. Es gilt, diese Bedeutung zu erkennen und verant- viele Bürgerinnen und Bürger von diesem Kummerkas- wortlich damit umzugehen. Denn meist verbergen sich ten und von dieser Möglichkeit der demokratischen Teil- hinter einer Petition, in Aktendeckel gepresst, Schick- habe Gebrauch machen und wir auch in den nächstensale. Jahren unter Beweis stellen können, dass wir bestrebt sind, Lösungen zu finden. Wir erkennen auf diese Art und Weise mögliche Un- gerechtigkeiten und mögliche Lücken im Gesetzeswerk. Hans-Jochen Vogel hat in seiner Rede zum 50-jähri- Diese hätten wir ohne den Petenten nicht erkannt. Denn gen Jubiläum des Petitionsausschusses gesagt: kein Gesetzgeber ist in der Lage, jeden erdenklichen Ich wünsche Ihnen und mir, dass der jährliche Be- Einzelfall abzudecken. Deshalb ist das Petitionsrecht ein richt des Petitionsausschusses auch künftig in der notwendiges und sogar sinnvolles Regulativ. Es weist so genannten Kernzeit behandelt wird, und ichuns auf Lücken hin, die wir ändern oder schließen kön- wünsche Ihnen und mir außerdem, dass dann die nen. Regierungsbank gut besetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Heiterkeit bei der SPD) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4019

Sibylle Pfeiffer (A) Ich kann logischerweise nicht – Sie haben es gehört – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) über die Petitionen des Jahres 2002 sprechen. Aber ich Liebe Kollegin Pfeiffer, ich gratuliere Ihnen recht habe schon in der kurzen Zeit, in der ich Mitglied des herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause Petitionsausschusses bin, sehr viel erlebt. Ohne michund wünsche Ihnen weiterhin viel Engagement für die jetzt in juristische Einzelheiten zu verlieren, möchte ich Arbeit im Petitionsausschuss sowie persönlich und poli- einen konkreten Fall schildern. Er ist ein bisschen ent- tisch alles Gute. fernt von dem großen Friede-Freude-Eierkuchen, das wir hier im Moment erleben. (Beifall im ganzen Hause) Es geht darum, dass ein Petent bemängelt, dass im Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hagemann, Gesetz diejenigen, die ihre Arbeitsstelle zugunsten von SPD-Fraktion. Arbeitslosigkeit aufgeben, gegenüber denjenigen bevor- zugt werden, die weiterhin in Teilarbeit bleiben. Mit an- Klaus Hagemann (SPD): deren Worten: Diejenigen, die arbeiten, werden gegenüber Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! denjenigen, die zu arbeiten aufhören, klar benachteiligt. Meine Damen und Herren! Herzlichen Glückwunsch, Im Ergebnis motiviert die jetzige Regelung also dieliebe Kollegin Sibylle Pfeiffer! Wenn ich aber daran Menschen, ihre Arbeitsstelle aufzugeben. denke, dass wir in der letzten Petitionsausschusssitzung Darüber, dass so etwas logischerweise nicht gewollt acht Petitionen auf Antrag der CDU/CSU abgesetzt ha- ist, waren wir uns eigentlich einig. Ein ganz großes poli- ben, dann bin ich mit Ihrem letzten Satz nicht ganz ein- tisches Anliegen meiner Fraktion ist es, die Menschen verstanden. zur Arbeit zu bewegen. (Marita Sehn [FDP]: Das waren nicht so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- viele!) neten der FDP) – Es waren nur fünf, okay. Die Kollegen von der SPD brauchten für diese Erkennt- (Zuruf von der CDU/CSU: Es waren drei von nis zwei Sitzungen. den Grünen dabei!) (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben auch Ich habe nur daran erinnert, weil Sie meinten, liebe Kol- nicht geklatscht!) legin, Sie würden uns immer auf die Sprünge helfen. In diesem Falle dauert es also ein bisschen länger. Aber letztendlich sind wir dann doch zu einem einver- nehmlichen Ergebnis gekommen. Ich denke, es ist ein Meine Damen und Herren, in diesem Jahr hatte der (B) gutes Ergebnis. Wir haben diesen Fall gemeinsam an das Petitionsausschuss fast in jedem Monat Besuch aus dem (D) Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit als Mate- Ausland. Viele Delegationen haben uns aufgesucht, um rial überwiesen. Somit kann dieses Gesetz neu überdacht mit uns über das deutsche Petitionswesen zu diskutieren. werden. In dieser Woche war eine Delegation des tschechischen Parlaments bei uns, vor drei Wochen eine Delegation des Wir beschäftigen uns unter anderem auch – die Arbeit luxemburgischen Parlaments, in der nächsten Woche ist sehr facettenreich – mit Auslandsgeschäften, Ent-werden Delegationen aus Vietnam und Dänemark kom- wicklungshilfe und Ähnlichem. Leider läuft mir jetztmen. Es besteht also ein großes Interesse an unserem Pe- meine Redezeit davon. Es tut es mir Leid, dass ich nicht titionswesen. mehr über einen spannenden Fall aus demEntwick- lungshilfebereich berichten kann, wobei wir in diesem Dies hat seinen Grund sicherlich darin, dass wir ein Zusammenhang nach verschwundenen Akten, genau den gutes Petitionssystem haben. Die bei uns bestehenden Zeitraum betreffend, um den es in dieser BeschwerdeRegelungen nehmen viele andere Staaten zum Vorbild, geht, suchen. Eine Nachfrage bei der Staatsministerin im insbesondere die jungen Demokratien. Die Väter und Auswärtigen Amt hat sich als nicht sehr fruchtbar und Mütter des Grundgesetzes haben 1949 eine kluge Ent- dienlich erwiesen. Was verschwundene Akten bedeuten, scheidung getroffen, als sie das Petitionsrecht als ein wissen wir alle ganz aktuell, es ist uns nicht neu. IchGrundrecht einführten. Seitdem ist es nicht mehr nur ein nenne nur das Stichwort „Hirsch-Märchen“ und Ähnli- Gnadenrecht des Fürsten oder des Königs; die Behand- ches. Ich bin aber weiterhin an dieser Akte interressiert. lung von Petitionen stellt nun einen politischen Akt dar. Da ist noch einiges anhängig und damit ist noch viel Ar- Wir Parlamentarier – das wurde schon mehrfach heraus- beit verbunden. gestellt – können Fehlentwicklungen und Fehlleistungen der Verwaltungen in unserem Staat feststellen und erken- Sie sehen, ich habe über den Petitionsausschuss fast nen, wo Korrekturbedarf angebracht ist. Dafür sind ge- nur Gutes zu berichten. Nur eines ärgert mich nach wie nügend Beispiele genannt worden, die ich nicht zu wie- vor – ich gebe es zu –: Die politischen Mehrheiten sind derholen brauche. Auch werden uns aus Sicht der Bürger für meine Begriffe immer noch falsch. Oft erkennt Rot- Tendenzen nahe gebracht, die die Notwendigkeit der Grün Handlungsbedarf erst auf Nachfrage und nach Hil- Änderung von politischen Normen und Gesetzen aufzei- festellung. Ich gebe in diesem Zusammenhang allerdings gen. die Hoffnung nicht auf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem ich unser (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Petitionswesen gelobt habe, muss ich auch die andere FDP) Seite der Medaille betrachten. Demokratie ist nichts 4020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Klaus Hagemann (A) Statisches, sie ist nie vollkommen. Veränderungen und Wir benötigen eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit. (C) Reformen sind notwendig. Das Petitionswesen kannWir empfehlen, verstärkt darüber nachzudenken, öffent- nicht nur Kummerkasten sein – hier greife ich einen vom liche Ausschusssitzungen durchzuführen. Ebenso müs- Kollegen Guttmacher gebrauchten Begriff auf –, auch sen wir – so haben wir es bei einer Dienstreise in Schott- nicht nur politische „Telefonseelsorge“. Der Petitions- land beobachtet, liebe Kollegin Pfeiffer – mehr ausschuss muss zwar auch dies sein – hier leistet deröffentliche Anhörungen auch der Petenten durchsetzen. Ausschussdienst hervorragende Arbeit und fängt sehr Das sind Denkansätze, die wir weiterführen wollen. vieles auf –; Dazu gehört auch, mehr Regierungsvertreter einzula- (Beifall bei der SPD und der FDP) den. Ich kann nur unterstreichen, was die Kollegin Frechen gesagt hat: Es wäre nicht schädlich, wenn bei Teilhabe des Vol- aber er soll darüber hinaus zur aktiven diesem Thema die Regierung besser vertreten wäre. – kes an der politischen Willensbildung beitragen. Über Zwischenzeitlich hat sich die Regierungsbank doch et- die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen hinaus kann der was gefüllt. Aber es wäre gleichfalls nicht schädlich, Bürger – hier appelliere ich an die Zuhörerinnen und Zu- wenn auch das Rund unserer Kolleginnen und Kollegen hörer, insbesondere an unsere jugendlichen Besucherin- etwas mehr gefüllt wäre. nen und Besucher – sein Recht wahrnehmen, durch die Petitionen auf die Politik einzuwirken. Die Herausforde- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der rung besteht hier darin, bürgerschaftliches Engagement FDP) einzubringen: nicht nur zu meckern, sondern auch zu handeln. Man soll nicht nur auf die anderen zeigen; drei Finger zeigen immer wieder auf einen selbst zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwick- lung des Petitionswesens – darauf werde ich den Rest Ebenso sollten wir mehr Gebrauch von der Möglich- meiner Redezeit verwenden – hat ihren Niederschlagkeit zur Akteneinsicht machen. Aber dabei stehen wir auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und einer großen Bürokratie gegenüber. Uns fehlen Hilfsmit- Grünen gefunden. Ich zitiere: tel hierfür. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir die- ses Instrument verbessern und verstärkt nutzen können. Wir wollen das Petitionsrecht über die Lösung indi- Außerdem ist es sicherlich nicht ausreichend, liebe Kol- vidueller Anliegen hinaus zu einem politischen leginnen und Kollegen, nur einmal im Jahr über das Peti- Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und Bürger ge- tionsrecht zu diskutieren. stalten. (Marita Sehn [FDP]: So ist es!) (B) Dies ist zumindest für meine Arbeitsgruppe die Über- (D) schrift für das, was in den nächsten drei Jahren noch auf Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; da- der Tagesordnung des Petitionsausschusses steht. Man rüber haben wir uns auch in Schottland bei dessen jun- kann es auch so formulieren: Es geht darum, unser Peti- gem Parlament, das neue Ideen hat, informiert. Es geht tionsrecht für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Dabei darum, neben dem bereits vorhandenen Bürgerbüro auch können wir auf einem guten Fundament aufbauen. das Internet wesentlich stärker in die Petitionsarbeit ein- zubeziehen. In dieser Hinsicht können wir das Petitions- Lassen Sie mich einige Beispiele dafür nennen, wo recht weiterempfehlen, damit sich insbesondere junge wir meiner Ansicht nach ansetzen müssen, um unser Pe- Menschen – ich gucke wieder nach oben zu unseren jun- titionswesen weiterzuentwickeln, denn es genügt nicht, gen Gästen – verstärkt in die Petitionsarbeit einbringen nur zu jammern, dass wir zu wenig Aufmerksamkeit der können. In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch Presse erreichen; ich bedauere das genauso. Aber wir über eine Grundgesetzänderung nachgedacht werden, müssen uns einmal selbst fragen: Woran liegt es, dass denn der berühmte Art. 17, der hier schon mehrfach ge- dieses Interesse etwas nachgelassen hat? Vielleicht lie- nannt worden ist, regelt, dass man die entsprechenden gen die Fehler auch bei uns und die Weiterentwicklung Unterlagen in schriftlicher Form und unterschrieben ein- muss von uns ausgehen. Wir müssen mehr Präsenz in reichen muss. Dafür müssen wir sicherlich neue Formen den Wahlkreisen, draußen in der Republik zeigen und finden, über die wir zu diskutieren haben. vor Ort sein, nicht nur bei Vor-Ort-Terminen im Zusam- menhang mit Petitionen; vielmehr müssen wir auch mit Ein wichtiger Punkt ist die Zusammenarbeit mit den Petenten und Petentinnen vor Ort reden. Menschen, die Interesse an der Weiterentwicklung des (Günter Baumann [CDU/CSU]: Zum Beispiel Petitionsrechts haben, wie beispielsweise mit dem Ver- nach Bayreuth!) ein zur Förderung des Petitionswesens in der Demokra- tie, der am 23. Mai in Bremen eine interessante Tagung Die SPD-Arbeitsgruppe hatte diese Woche einen interes- durchgeführt hat. Auch hier gibt es Ansätze, die wir be- santen Vor-Ort-Termin im Wahlkreis Fürth, bei dem wir trachten sollten. Die angesprochene Veranstaltung hatte über die Unterbringung Asylsuchender in Fürth und in das Thema „Mit Petitionen Politik verändern“. Das Zirndorf, aber auch über die Problematik von Kuren und sollte Motto für uns sein; es ist Maxime für mich und Rehabilitation gesprochen haben. meine Arbeit. Ich lade Sie ein, dies mit der SPD-Arbeits- gruppe zusammen zu tun. Lieber Kollege Baumann, es ist sicherlich eine gute Arbeit, vor Ort mit den Leuten zu reden; Sie werden das Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Auf wei- genauso machen. Wir wollen dies fortführen. terhin gute Kooperation in diesem Petitionsausschuss! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4021

Klaus Hagemann (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind. Zum Beispiel habe ich die Petition einer Iranerin(C) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der bearbeitet, die sich gegen ihre Abschiebung gewehrt hat. CDU/CSU und der FDP) Sie wurde im Iran des Ehebruchs bezichtigt. Wer sich ein wenig auskennt, weiß, was das unter Scharia-Gesetz- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gebung bedeutet. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat das als nicht ausreichen- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege den Grund für ein Bleiberecht angesehen und leider Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. konnte der Petitionsausschuss ihr nicht helfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Positive Entwicklungen hat es – ich möchte auch da- für ein Beispiel aufgreifen – für die tschetschenischen Holger Haibach (CDU/CSU): Flüchtlinge gegeben. Hier konnte wenigstens zum Teil, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- wenn auch nicht in allen Bereichen, durch Gespräche gen! Herr Kollege Hagemann, Sie haben Recht: Öffent- mit dem Bundesinnenministerium geholfen werden. lichkeitsarbeit muss verstärkt stattfinden. Wenn man al- lerdings anderthalb Jahre vor einer LandtagswahlUnverändert hoch ist weiterhin die Zahl der Petitio- beschließt, dass ein Termin in Bayreuth ein Wahlkampf- nen der Spätaussiedler. Auch hier konnte gemeinsam termin ist, dann wird man das nicht so einfach hinbe-etwas erreicht werden. Zum Beispiel konnte eine Groß- kommen, fürchte ich. familie aus Kasachstan in Deutschland bleiben, nachdem es entsprechende Gespräche gegeben hatte. Das große (Günter Baumann [CDU/CSU]: Das glaubt dann Problem dabei – das ist letztendlich auch in dem Bericht niemand! Das ist dann unglaubwürdig!) zur Sprache gekommen – sind die Sprachkenntnisse. Alle Bereiche des täglichen Lebens, in denen Bürge- Leider nehmen diese immer mehr ab, denn es handelt rinnen und Bürger auf Verwaltungen und Institutionen sich inzwischen um die dritte oder vierte Generation der treffen, können Gegenstand von Petitionen sein, mit de- Spätaussiedler. nen wir uns dann zu beschäftigen haben. Deshalb ist es An einer Stelle möchte ich ein wenig Öl ins Feuer – das klang hier auch schon an – gerade für einen neuen gießen, weil es eine Sache ist, die gerade meine Fraktion Abgeordneten besonders lehr- und hilfreich, sich im Pe- sehr stark beschäftigt hat. Wir haben vorhin über eine titionsausschuss umzutun. Dafür gibt es zwei Gründe: Einzelpetition abgestimmt, bei der CDU und CSU Ein- Kein anderer Ausschuss bietet die Möglichkeit, sich mit zelausweisung beantragt haben. Es ging um einen An- der gesamten politischen Bandbreite der Themen zu be- trag der Ackermann-Gemeinde, einer Vertriebenenverei- schäftigen. Kein anderer Ausschuss bietet die Möglich- nigung. Diese hat sich an den Petitionsausschuss (B) keit, sich so direkt mit Bürgern auseinander zu setzen (D) gewandt, weil ihr die finanzielle Unterstützung zur Ein- und ihnen zu helfen, wobei leider auch zur Wahrheit ge- richtung einer deutsch-tschechischen Verständigungsins- hört, dass Hilfe eben nicht immer möglich ist. titution verweigert worden ist. CDU und CSU sehen in Um das, was der Kollege Hagemann gesagt hat, noch der Arbeit von Vertriebenenverbänden einen wichtigen einmal aufzugreifen: Ich habe kürzlich eine Reise in den Beitrag zur Verständigung in Europa und auch einen Iran und in die Türkei unternommen und konnte dort mit wichtigen Beitrag zum Erhalt des Erbes der Vertriebe- Vertretern der Petitionsausschüsse der Parlamente dieser nen. Länder sprechen. Dabei ist mir wieder klar geworden, welch hohes Gut das Petitionsrecht ist und wie wichtig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- es für die Weiterentwicklung der Demokratie ist. neten der FDP – Klaus Hagemann [SPD]: Ein bisschen einseitig geschildert!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Wie wichtig das ist, möchte ich gern mit einem Zitat, das ich hier mit Genehmigung der Frau Präsidentin vor- Die Deutschen und auch die in Deutschland lebenden lesen möchte, unterstreichen. Es geht dabei speziell um Ausländer machen von ihrem Petitionsrecht sehr häufig § 96 des Bundesvertriebenengesetzes. In diesem Zitat Gebrauch. Dabei steht Originelles neben sehr Ernsthaf- heißt es: tem. Zum Thema Originelles habe ich auch etwas beizu- tragen: Ich habe eine Petition einer Dame bearbeitet, die Mit diesem Paragraphen haben Bund und Länder ... die Abschaffung elektrischer Wäschetrockner gefordert die Verpflichtung übernommen, das kulturelle und hat. Das Anliegen wurde genau geprüft, unter anderem historische Erbe der ehemaligen deutschen Ostpro- vom Bundesumweltministerium. Nicht weiter überra- vinzen … sowie der historischen Siedlungsgebiete schend ist das Ergebnis: Diesem Anliegen konnte natür- in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa zu sichern und lich nicht entsprochen werden. zu bewahren. In diesen Gebieten befinden sich Nun wieder ernsthaft: Die Frau Vorsitzende hat be- Zeugnisse deutscher Kultur von unschätzbarem reits gesagt, dass der Petitionsausschuss sozusagen der Wert. Sie müssen für kommende Generationen im Seismograph für politische Fehlentwicklungen ist. Dazu In- und Ausland erhalten werden. ist zu sagen, dass die Zahl der ausländerrechtlichen Pe- Weiter unten heißt es: titionen im Gegensatz zu der der Petitionen insgesamt immer noch gleich hoch ist. Ich möchte dazu einige Bei- In erster Linie ist die staatliche Förderung aber eine spielsfälle nennen, die mir im Laufe der Zeit begegnet Aufgabe des Bundes. 4022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Holger Haibach (A) Diese Worte stammen aus einem Artikel mit dem Ti- Dies geschieht hinter verschlossenen Türen. Diese Be-(C) tel „Europas geschichtliches Erbe – Die Erinnerung an schlüsse werden Deutschland bei der nationalen Rechts- die Vertreibungsverbrechen gehört dazu“. Autor ist der gestaltung extrem einschränken. Aber, meine Damen Bundesinnenminister . und Herren, was wissen wir, die Mitglieder des Deut- schen Bundestages, über das, was dort besprochen wird? (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Was im Aus- schuss darüber berichtet wird!) Es wäre schön gewesen, wenn Sie auch in diesem Fall auf Ihren Minister gehört hätten, wie Sie das normaler- Unser Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, weise tun. uns, den Bundestag, umfassend und zum frühestmögli- chen Zeitpunkt über die Beratungen und anstehenden Trotz dieser Auseinandersetzung in diesem und viel- Entscheidungen in EU-Angelegenheiten zu informie- leicht auch in manch anderem Bereich glaube ich, dass die ren. Diese Unterrichtungspflicht umfasst alle Vorha- Zusammenarbeit im Allgemeinen gut funktioniert. Ichben, auch die der Zuwanderungspolitik innerhalb der hoffe – das möchte ich zum Abschluss noch betonen –, EU. dass die Zusammenarbeit im Sinne der Petentinnen und Petenten auch weiterhin zielorientiert und effektiv ver- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) läuft. Die Unterrichtung hat vollständig und detailliert zu er- Herzlichen Dank. folgen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Mit dem heutigen Antrag wollen wir dafür sorgen, bei Abgeordneten der SPD) dass die Bundesregierung endlich ihrer Verpflichtung nachkommt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU) Ich schließe die Aussprache. Gerade das sensible Thema der Zuwanderung bedarf des gesellschaftlichen Konsenses und muss von der Bevöl- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: kerung mitgetragen werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Auch von der Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas CDU!) Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und Das dient auch der Gewährleistung des inneren Friedens (B) der Fraktion der CDU/CSU (D) und der inneren Sicherheit in unserem Land. Europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwande- rungspolitik transparent machen Doch während wir auf nationaler Ebene noch über das von der rot-grünen Regierung erneut eingebrachte – Drucksache 15/655 – Zuwanderungsgesetz diskutiert haben, wird auf EU- Überweisungsvorschlag: Ebene bereits darüber entschieden, die Zufluchtsmög- Innenausschuss (f) lichkeiten auf Personen auszuweiten, die nicht staatlich Rechtsausschuss verfolgt sind, und das mit der Möglichkeit des vollen Fa- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend miliennachzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Le- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung benspartnerschaften. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Dr. Michael Bürsch [SPD]: So fortschrittlich sind die Europäer!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Darüber hinaus wird die Drittstaatenregelung, die we- Widerspruch, dann ist das so beschlossen. sentliche Säule unseres Asylrechtskompromisses aus dem Jahr 1993, der ja zu einem erheblichen Rückgang Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege des Asylmissbrauchs führte, faktisch abgeschafft, Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! – (Beifall bei der CDU/CSU) Gegenruf des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist falsch!) Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): ohne dass in Deutschland ernsthaft Kenntnis davon ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute nommen wird. treffen sich in Brüssel wieder einmal die Justiz- und die (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Woher Innenminister der Europäischen Union. Innenminister wissen Sie es denn?) Schily entscheidet in diesem Moment mit seiner Stimme über wichtige Fragen der Asyl- und Ausländerpolitik. Ist es das, was die Bundesregierung unter ausreichender Mitwirkung des Bundestages versteht? (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hoffentlich entscheidet er richtig! – Gegenruf von der Die Regierung verzögert immer wieder die Weiterlei- SPD: Immer!) tung von wichtigen Ratsdokumenten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4023

Dr. Ole Schröder (A) Meine Damen und Herren, die Richtlinie zur Festle- und den Bundestag und damit die deutsche Bevölkerung (C) gung von Mindestnormen für die Aufnahme von außen vor zu lassen. Asylbewerbern wurde Ende Januar dieses Jahres in Brüssel verabschiedet. Durch diese Richtlinie werden (Beifall bei der CDU/CSU) Regelungen getroffen, die maßgebliche Auswirkungen Dass es die Bundesregierung mit der Verfassung und für die Akzeptanz von Ausländern insgesamt haben. So dem geltenden deutschen Recht nicht ganz so genau werden zum Beispiel ihr Zugang zum Arbeitsmarkt und nimmt, führe ich Ihnen gerne an einem weiteren Beispiel die Ausweitung der Gewährung von teuren Sozialleis- vor Augen: Im Bereich der Zuwanderungs- und Asylpo- tungen geregelt. Aber ist diese Richtlinie jemals im Bun- litik verhandelt diese Bundesregierung in Brüssel nicht destag oder in einem seiner Ausschüsse beraten worden? auf der Grundlage des geltenden und damit auch für Wir haben in der Tat darüber beraten – am 12. März,diese Regierung bindenden Ausländerrechts, sondern zwei Monate nach Verabschiedung der Richtlinie. Noch auf der Basis des für verfassungwidrig erklärten Zuwan- einmal zum Mitschreiben: Wir haben zwei Monate nach derungsgesetzes. der Verabschiedung Gelegenheit bekommen, über diese Richtlinie zu diskutieren. (Zuruf von der SPD: Wäre Ihnen das Kinder- nachzugsalter 16 lieber?) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Unglaub- lich!) Hier wird ein gescheitertes Gesetz durch die Hintertür für Deutschland bindend gemacht. Dies geschieht unbe- Nur so viel zum Begriff „frühestmöglicher Zeitpunkt“. merkt von der deutschen Öffentlichkeit. Ein anderes Beispiel, liebe Kolleginnen und Kolle- gen, zum Thema der umfassenden Informationspflicht: (Beifall bei der CDU/CSU) Der Innenminister ist vor der letzten Ratssitzung noch Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich zulassen? Müssen nicht einmal bereit gewesen, dem Innenausschuss seinen wir uns als Abgeordnete dieses Hauses nicht darauf be- Standpunkt zu den anstehenden Verhandlungen darzule- sinnen, welche Verpflichtung wir haben? gen. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ging immerhin um die Ausweitung des Flüchtlings- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der begriffs einschließlich der damit verbundenen Statusauf- Kollegin Sonntag-Wolgast? wertung für Flüchtlinge sowie um die weitgehende Gleichstellung von EU-Bürgern mit EU-Ausländern mit Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): (B) allen Rechten und Vergünstigungen. Informationen wur- (D) den von den Parlamentarischen Staatssekretären unter Ich denke, im Laufe meines Vortrages werden alle dem Vorwand verweigert, man wolle die Verhandlungs- Fragen beantwortet werden. strategie nicht preisgeben. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um eine SPD – Zuruf von der SPD: Feigling!) Strategie, hier geht es um einen Standpunkt. Hier geht es Wie können wir auf EU-Ebene zu mehr Transparenz darum zu erfahren, welcheAusländerpolitik die Bun- in der Asyl- und Zuwanderungspolitik kommen? Wie desregierung im Namen Deutschlands auf EU-Ebene können wir das praktisch umsetzen? Es müssen endlich vertritt. übersichtliche und zeitnahe Aufstellungen über den Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) handlungsstand der EU-Vorlagen erstellt werden. Dies haben wir in unserem Antrag näher ausgeführt. Die Bun- Die Bundesregierung traut sich offensichtlich nicht, der desregierung soll dabei klar benennen, welche Auswir- Öffentlichkeit zu erklären, dass sie sich einem erweiter- kung ihr Abstimmungsverhalten auf europäischer Ebene ten Zuzug Asylsuchender in die EU nicht widersetzt. auf das deutsche Asyl- und Ausländerrecht hat. Dass die Regierung nicht bereit ist, ihren Standpunkt vor Meine Damen und Herren, wenn wir es als Parlamen- dem JI-Rat zu erläutern, lässt für mich drei mögliche tarier in eigener Verantwortung nicht schaffen, unser Be- Schlussfolgerungen zu: Entweder befasst sich niemand teiligungsinteresse gegen die Bundesregierung durchzu- in der Regierung damit; setzen, müssen wir auch darüber nachdenken,Art. 23 (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das kann wohl des Grundgesetzes entsprechend anzupassen. Wir wer- nicht sein!) den im Rahmen der Zustimmung zum neuen europäi- schen Verfassungsvertrag Gelegenheit dazu haben; denn oder der Informationsfluss zwischen der Ständigen Vertre- die Zustimmung bedarf der Zweidrittelmehrheit sowohl tung in Brüssel und der Regierung funktioniert nicht – das im Bundestag wie auch im Bundesrat. kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen –; (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Genau! Der ist falsch!) hervorragend!) oder es wird, was nahe liegt, versucht zu blockieren Das Vorliegen einer Stellungnahme des Bundestages wird zwingende Voraussetzung für die Aufnahme von (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) Verhandlungen auf EU-Ebene sein. 4024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Ole Schröder (A) Die für die Zukunft unseres Landes entscheidende (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Hat er denn alle (C) Frage, ob wir mehr Zuwanderung in unser Land wol- Informationen mitbekommen?) len, darf nicht am deutschen Parlament und der deut- schen Bevölkerung vorbei geregelt werden. Hartmut Koschyk (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, einzuräumen, Lassen Sie nicht zu, dass ein so wichtiges Thema wie die dass die Obleute gemeinsam mit dem Innenausschuss Zuwanderung ohne Beteiligung des Bundestages ent-erst am Beginn dieser Legislaturperiode auf Drängen der schieden wird! Union ein Verfahren verabredet und Fristen für die Vor- und Nachberichte zu den EU-Innen- und -Justizminister- Danke schön. räten festgelegt haben? (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Cornelie Sonntag- (Zuruf von der SPD: Das war unser Vor- Wolgast [SPD]: Unglaublich! In jeder Sitzung be- schlag!) fassen wir uns mit dieser Frage!) Sind Sie auch bereit, einzuräumen, dass die Bundes- regierung – einmal durchSie und einmal durch den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Staatssekretär Körper – im Hinblick auf das Nachzugsal- Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin ter völlig widersprüchliche Aussagen im Ausschuss und Ute Vogt. in der Fragestunde am gleichen Tag gemacht hat? Ver- stehen Sie das unter einer umfassenden Informations- Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister pflicht gegenüber dem Parlament?

des Innern: ( [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- ist ein wenig peinlich gewesen!) gen! In ihrem Antrag fordert die CDU/CSU, dass der Deutsche Bundestag umfassend und zum frühestmögli- Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister chen Zeitpunkt zu informieren sei. Ich sage Ihnen: Die- des Innern: ser Antrag ist entbehrlich. Sehr geehrter Kollege Koschyk, auf das Nachzugsal- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider nicht, ter werde ich im Laufe meiner Rede noch zu sprechen Frau Staatssekretärin!) kommen. Das, was Sie unter Punkt 1 geschrieben haben – zumin- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das tut dest das, was ich genannt habe –, ist bereits in unserem (B) auch Not! – Rüdiger Veit [SPD]: Das war (D) Grundgesetz niedergelegt und wird von der Bundesre- 16 Jahre lang geltendes Recht!) gierung auch eingehalten. Über die entsprechend geltenden Rechtssetzungen sind (Beifall bei der SPD – Hartmut Koschyk Sie unverzüglich informiert worden. [CDU/CSU]: Nein, nein, Sie halten sich nicht daran!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Aber wir sind unterschiedlich informiert wor- Ich muss mich fragen, wo Sie, meine Damen und den!) Herren von der CDU/CSU, in den letzten Wochen, Mo- naten und Jahren gewesen sind. Allein im Innenaus- Bezüglich des neuen Verfahrens kann ich für die Bun- schuss haben wir seit dem Rat von Lissabon, also seit desregierung unter unserer Verantwortung nur bestäti- März 2000, in nahezu 40 Vor- und Nachberichten dem gen, dass wir unsere Berichtspflicht immer sehr regel- Parlament Rechenschaft abgelegt. mäßig wahrgenommen haben. Ich muss allerdings einräumen, dass die Union in der Tat erst seit der neuen (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, jedes Wort Legislaturperiode ein intensives Interesse an diesen Be- müssen wir Ihnen aus der Nase ziehen!) richten zeigt. Diese sind vorher nicht so intensiv disku- Wenn Sie das auf die Zahl der Sitzungen des Innenaus- tiert worden. Das lag aber nicht an der mangelnden Vor- schusses umrechnen, dann kommen Sie zu dem Ergeb- lage. nis, dass wir uns in etwa 60 Prozent der Sitzungen mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesem Themenbereich befasst haben. DIE GRÜNEN) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Weil Wenn Sie schon danach fragen, möchte ich Sie noch wir es ständig auf die Tagesordnung setzen!) an ein Zweites erinnern. Es gab Zeiten, in denen ich un- ter einem anderen Bundesinnenminister in der Opposi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tion saß. Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischen- (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Die kommen frage des Kollegen Koschyk? bald wieder!)

Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister Ich kann mich kaum daran erinnern, des Innern: (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Die Gerne. Erinnerung werden wir bald auffrischen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4025

Parl. Staatssekretärin Ute Vogt (A) dass es überhaupt relevante Berichte dieser Art gab, weil derung zu steuern und zu begrenzen sowie die Integra- (C) der damalige Herr Innenminister noch nicht einmal per- tion zu festigen, sönlich zu diesen Sitzungen gefahren ist. Deshalb hat Deutschland bei den entsprechenden Verhandlungen der (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das sollten Europäischen Union überhaupt keine Rolle gespielt. Sie öfter sagen!) (Rüdiger Veit [SPD]: Er musste sich um wurde gerade an diesem Beispiel sehr eindrucksvoll Schwarzgeldkassen kümmern, deshalb hatte er deutlich gemacht. keine Zeit dafür! – Hartmut Koschyk [CDU/ (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nun sind wir CSU]: Er war viel öfter im Ausschuss als der aber gespannt!) jetzige!) Die Familienzusammenführung wird gemäß der Unsere Bundesregierung gewährleistet jedenfalls das, Richtlinie auf die Kernfamilie begrenzt. Wir haben zum was durch die Verfassung vorgegeben wird. Liebe Kolle- Beispiel erreicht, dass die Einreise derjenigen, die sich ginnen und Kollegen, eines werden wir aber nicht tun: extremistisch betätigen, versagt werden kann. Daneben Wir werden nicht das aufkündigen, was in unserer Ver- haben wir erreicht, dass Deutschland die Möglichkeit fassung mit gutem Recht und Sinn festgelegt wurde,hat, für Kinder über zwölf Jahre davon Gebrauch zu ma- nämlich die Gewaltenteilung zwischen Legislative und chen, den Nachzug von entsprechenden Integrationsvo- Exekutive. raussetzungen abhängig zu machen, also zum Beispiel (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut davon, ob die Sprache schon beherrscht wird oder ob Koschyk [CDU/CSU]: Aha, so nennt man jetzt klar ist, dass sie in kurzer Zeit erlernt werden kann. die Missachtung des Parlaments!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist gerade das Problem! Das sind Sie bei 18 Jahren!) Das, was Sie am Ende Ihres Antrages vorschlagen, hätte ein Maßgabegesetz zur Folge, wodurch diese Trennung Für diejenigen, die die Richtlinie nicht so genau ken- aufgehoben werden würde. nen, sage ich: In der Europäischen Richtlinie ist für alle anderen Mitgliedstaaten ein Nachzugsalter von 18 Jah- ( [CDU/CSU]: Stimmt ja nicht!) ren vorgesehen. Nun habe ich, genauso wie sicherlich auch viele mei- Nun lese ich in Abschnitt 2 Ihres Antrages, dass Sie ner Kolleginnen und Kollegen, durchaus Verständnis da- das geltende Ausländer- und Asylrecht gerne als Grund- für, dass Sie trauern, zum Teil verärgert und manchmal lage für die Verhandlungen nutzen würden. Gleichzeitig auch richtig wütend darüber sind, dass Sie nicht die ziehen Sie durch die Lande und bejammern als die Par- (B) Chance haben, selbst zu regieren. (D) tei, die das Fähnchen für die Familien gerne besonders (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es kommt hochhält, dass man das Nachzugsalter nicht auf sechs aber bald wieder! – Reinhard Grindel [CDU/ Jahre absenken kann. CSU]: Es geht um die Menschen in Deutsch- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist kein land, die darüber traurig sind, und nicht um Widerspruch!) uns!) Hätten wir Ihrem Antrag gemäß auf der Grundlage unse- Trotzdem muss man eine demokratische Entscheidung res geltenden Rechts verhandelt, hätten wir keine Aus- und die Tatsache akzeptieren, dass die Bundesregierung nahmemöglichkeit, das Nachzugsalter auf zwölf Jahre ihre eigenen vernünftigen Verhandlungspositionen nicht festzusetzen, sondern hätten ein Nachzugsalter von gegen die Ansichten der Opposition austauschen und 16 Jahren akzeptieren müssen. Dieses Alter liegt immer dazu übergehen wird, diese in den Verhandlungen zu noch unter dem, was die EU vorgibt. Ich möchte Sie bit- vertreten. ten, sich einmal zu überlegen, was Sie politisch wollen: (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht um entweder geltendes Recht oder Ihre eigenen Positionen, die Ansichten des deutschen Volkes!) die Sie im Lande verkünden. Ich glaube, so etwas muss auch von der Opposition ak- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Weniger Zu- zeptiert werden, wenn sie die demokratischen Spielre- wanderung wollen wir!) geln kennt und auch anwendet. Beides jedenfalls passt nicht zusammen, jedenfalls nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ so, wie Sie es hier vorgetragen haben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Koschyk, ich will gerne ein von Ihnen schon an- DIE GRÜNEN – Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast gesprochenes Thema inhaltlich aufgreifen. In der Tat: [SPD]: Jeder nach Gusto!) Richtlinie zur Wir haben im Februar eine wichtige Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheim- Familienzusammenführung zwar noch nicht beschlos- nis, dass es in der Europapolitik zwischen CDU und sen – vermutlich wird sie heute, gerade in diesen Stun- CSU große Unterschiede gibt. den, beschlossen –, haben uns über ihre konkrete Aus- gestaltung aber schon geeinigt. Unser Ziel, auch durch (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Da sind wir diese Richtlinie, – wie durch andere auch – dieZuwan- uns einig!) 4026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Parl. Staatssekretärin Ute Vogt (A) Selbst die „Rheinische Post“ schrieb gestern: Europa- wieder zur Tagesordnung überzugehen; denn über die(C) streit der Union schaukelt sich hoch. Im Artikel wirdTicker läuft die Meldung vom Tode Jürgen Mölle- nachvollziehbar und auch so, wie wir es erleben, dermanns. Trotz der politischen Differenzen, die wir in Dissens beschrieben, der sich zwischen CDU und CSU letzter Zeit mit ihm hatten, gilt unser Beileid natürlich mehr und mehr breit macht,insbesondere in aktuellen seiner Familie. Ein solcher Vorfall bewegt umso mehr, Fragen der Europapolitik. als Jürgen Möllemann vor cht ni allzu langer Zeit ge- meinsam mit mir für die FDP mit dem Bundesinnenmi- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Den nister über Einzelheiten des Zuwanderungsgesetzes der hätten Sie gern!) letzten Legislaturperiode verhandelt hat. Gerade Sie, Herr Strobl, müssten wissen, dass nicht zu- Das führt zu der heutigen Debatte, die auf Wunsch letzt Wolfgang Schäuble unter so eingrenzenden euro- der CDU/CSU mit diesem Antrag dieZuwanderungs- päischen Debatten, wie sie vonseiten der CSU geführt frage, die wir schon am 9. Mai erörtert haben, noch ein- werden, zu Recht leidet. mal aufwirft. Ich glaube nicht, dass sich die Positionen (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Was der Fraktionen in diesen wenigen Wochen so sehr verän- Sie alles wissen!) dert haben, dass es Sinn macht, diese Debatte erneut zu führen. Aber in dem Antrag der CDU/CSU wird ein Der Europastreit in der Union schaukelt sich hochKernproblem sehr richtig angesprochen, nämlich die und findet seinen Ausdruck in Anträgen, in denen Sie Frage: Wie und in welchem Umfang können wir uns als sich an Formalien klammern und meinen, der Bundesre- Deutscher Bundestag, als nationale Parlamentarier an gierung etwas zuschieben zu müssen. Ich möchte Sie in der Entscheidungsfindung auf der EU-Ebene beteiligen? unser aller Interesse bitten, dass Sie zu einer konstrukti- Es ist in der Tat ein unguter Zustand, wenn uns von der ven Europapolitik zurückkehren, wie es wenigstens vor EU her über Richtlinien eine Rechtsetzung aufgezwun- einigen Jahren in Ihrer Fraktion der Fall gewesen ist. gen wird, die wir als Parlamentarier nachträglich nicht (Norbert Geis [CDU/CSU]: Da sind wir schon mehr beeinflussen können. Deswegen ist dies ein Pro- längst!) blem, das ernsthaft diskutiert werden muss. Ich finde, es ist sogar ein zentrales Problem des viel geplagten EU- Sie müssen das anerkennen, was wir alle wussten, als Demokratiedefizits. wir uns mit Freude auf den Weg zu einem vereinten Eu- ropa gemacht haben: Europa bedeutet nicht, dass ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Land den Segen für alle bringt, sondern es bedeutet, dass der CDU/CSU) alle miteinander an einem Tisch verhandeln müssen. Man muss sich zusammensetzen und akzeptieren, dass Wir brauchen den öffentlichen Diskurs, die öffentli- (B) (D) man nicht alles 1 : 1 erreicht, was man selber gerneche Debatte über die entscheidenden politischen Fragen, hätte. Man muss in der Lage sein, auf andere zuzugehen egal ob sie auf Länderebene, auf Bundesebene oder auf und zusammen mit den anderen ein gemeinsames Eu- der EU-Ebene diskutiert werden. Deswegen ist es rich- ropa zu bauen. tig, dass sich der Deutsche Bundestag einschaltet. Wir als FDP ergreifen ganz klar Partei für die Rechte des Zur Verhandlungsposition – Herr Schröder hat es noch deutschen Parlaments, wie sie in Art. 23 des Grundge- einmal angesprochen –: Wir erläutern unseren Standpunkt setzes festgelegt sind. in jeder Ausschusssitzung mit Freude aufs Neue. Was wir natürlich nicht tun können, ist, die Verhandlungsstra- (Beifall bei der FDP) tegie ganz genau darzulegen. Aber ich glaube, dass je- Dennoch werden wir den CDU/CSU-Antrag ableh- der, der etwas von Politik und der Möglichkeit, etwas nen. durchzusetzen, versteht, weiß, dass man dies nicht ma- chen kann. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) Ich kann Sie darum nur bitten: Vertrauen Sie demDenn er bringt erstens nichts wesentlich Neues; soweit Bundesinnenminister. Seine Verhandlungsergebnisseer Neues bringt, geht er, zweitens, zu weit – ich werde zeigen uns jedes Mal aufs Neue, dass er derjenige ist, der das noch begründen –, unddrittens sind wir der Mei- das Interesse unseres Landes in Europa mit maximalem nung, dass eine Einigung über eine Migrationspolitik auf Erfolg vertritt. Darauf kommt es am Ende an. Darüber der EU-Ebene dringend erforderlich ist, was Sie mit Ih- informieren wir Sie gerne jederzeit erneut. rem Antrag ja verhindern wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP, der SPD und dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist immer zu begrüßen, wenn neue Kollegen im Bundestag versuchen, die Routine zu durchbrechen. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, Herr Dr. Schröder, der den Antrag der Union gerade be- FDP-Fraktion. gründet hat, hat sich darum verdient gemacht, dass die EU-Themen jetzt verstärkt im Innenausschuss diskutiert Dr. Max Stadler (FDP): werden. Ich muss Ihnen trotzdem berichten: Das ist Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undkeine Neuigkeit. Darüber haben wir uns auch früher Herren! Es fällt mir als FDP-Politiker schwer, einfach schon Gedanken gemacht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4027

Dr. Max Stadler (A) Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, das wir mit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) holländischen Abgeordneten geführt haben, in dem wir Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin uns informiert haben, wie sie dies halten: Die niederlän- Marieluise Beck. dische Regierung hat in der Tat ein imperatives Mandat für ihre Position im EU-Ministerrat. Seinerzeit haben alle Fraktionen einvernehmlich die Auffassung vertre- Marieluise Beck, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- ten: Der richtige Weg besteht darin, dass wir uns recht- desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; zeitig in die Debatten einklinken, dass wir eine öffentli- Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht- che Debatte herbeiführen, dass wir der Bundesregierung linge und Integration: unsere Meinung mit auf den Weg geben – aber bewusst Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nicht in Form eines imperativen Mandats. Warum? –gen! Der Kollege Max Stadler ist nun einmal demokra- Dies wäre nicht flexibel genug und ist der Verhandlungs- tiefest. Denn das, was er eben dargelegt hat, ist völlig ebene EU nicht angemessen. Dass sich eine Bundesre- plausibel: Es ist das Recht und sogar die Aufgabe des gierung in Verhandlungen mit zahlreichen europäischen Parlaments, Transparenz zu verlangen. Das schließt üb- Partnerstaaten auf eine Einigung hinbewegt – bei derrigens die Medien mit ein. Wir haben große Schwierig- Migrationspolitik halten wir dies, wie gesagt, sogar für keiten gehabt, EU-Themen dieser Art in den Medien zu dringend erforderlich –, wird unmöglich, wenn, wie Sie platzieren. In diesem Bereich besteht durchaus Hand- dies in Ihrem Antrag wollen, die Verhandlungsposition lungsbedarf. Gleichzeitig hat der Kollege Stadler aber etwa durch ein so genanntes Mandatsgesetz ein für alle auch dargelegt, dass nicht mit imperativen Mandaten ge- Mal festgeschrieben ist. Wenn das alle EU-Staaten täten, arbeitet werden kann, wenn Regierungen aus 16 Staaten wäre jegliche Einigung von vornherein völlig ausge- aufeinander treffen, die den Auftrag haben, Kompro- schlossen. Das zeigt, dass der Weg, den Sie vorschlagen, misse zu schließen. nicht der richtige Weg ist. Sie scheinen nach fast fünf Jahren in der Opposition (Beifall bei der FDP, der SPD und dem vergessen zu haben, dass man Kompromisse schließen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) muss, wenn man eine Regierung stellt und Teil der Euro- päischen Union ist, Im Übrigen fällt mir auf, dass Sie ohnehin die letzte Konsequenz scheuen. Sie wollen in Ihrem Antrag die (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aber doch Verhandlungspositionen festschreiben. Das nutzt aber in nicht, wenn man eine schlechte Regierung hat, Ihrem Sinne gar nichts. Eine anfängliche Verhandlungs- Frau Beck!) position kann ich zwar festschreiben, entscheidend ist und dass man auf europäischer Ebene nicht mit der Er- (B) dann aber die Abstimmungsposition. Das haben Siewartung antreten kann, die politischen Vorstellungen(D) nicht einmal so formuliert. Es wäre auch wirklich unsin- Deutschlands könnten uneingeschränkt übernommen nig, eine solche Bindung vorzunehmen. werden. Ich sage dies, obwohl ich selber das Interesse einer Es geht mir um den mangelnden demokratischen Oppositionspartei habe, in diesen Diskussionen mitzu- Geist, den Sie mit Ihrem Antrag offenbaren. wirken. Auch wenn jeder Vergleich ein wenig hinkt, aber nehmen wir doch einmal das Beispiel des Bundesrates: (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir wollen Ist es denn dort so, Herr Kollege Koschyk, dass die die Kontrolle einer schlechten Regierung! Da- bayerische Landtagsopposition der bayerischen CSU- rum geht es!) Staatsregierung verbindliche Direktiven für ein Abstim- Dieser Geist wird in der Begründung Ihres Antrags deut- mungsverhalten mitgibt? – Keineswegs, und das ist doch lich. Sie weisen darin zunächst auf dasEinstimmig- eine gewisse Parallele. keitserfordernis innerhalb der EU hin, um dann fest- (Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU] meldet zustellen, dass dieses Erfordernis die Bundesrepublik sich zu einer Zwischenfrage) Deutschland in die Lage versetzt, die Verabschiedung ei- ner Ihrer Ansicht nach unangemessen großzügigen Ein- – Da meine Redezeit fast schon zu Ende ist, kann ichwanderungspolitik zu verhindern. Hier wird also darauf jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen. abgestellt, dass Deutschland die Möglichkeit einer Blo- ckadepolitik hat, die auch in Anspruch genommen wer- Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung los- den sollte. – Das kann sich vielleicht eine Opposition werden: Sie von der Union haben uns in den 90er-Jahren leisten, aber eine Regierung kann nicht so verfahren, in der Asyldebatte immer wieder entgegengehalten, das wenn sie ein produktiver und konstruktiver Teil Europas Grundrecht auf Asyl, das wir verteidigt haben, werde sein möchte. sich in Europa nicht halten lassen. Jetzt haben sich an- scheinend die Vorzeichen geändert. Von der EU kommt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine liberale Migrationspolitik. Wir als FDP fürchten und bei der SPD) diese nicht, Ihnen aber entspricht sie verständlicherweise Jenseits der Verfahrensfrage ist in der umfangreichen nicht. Begründung des Antrags noch einmal alles zusammen- Vielen Dank. getragen worden, das Ihre Sicht der Welt, der Migration und der Flüchtlingspolitik offenbart. In der Tat wird wie- (Beifall bei der FDP und der SPD) der deutlich, wie tief der Graben ist. Sie stellen erneut 4028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Parl. Staatssekretärin Marieluise Beck (A) darauf ab, dass der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes, recht geregelt sein. Es wird nur ein neues Türchen aufge- (C) der den Bundestag bereits passiert hat, vermeintlich zu stoßen: Es wird nämlich die Möglichkeit geben, einer massiven Zunahme der Einwanderung führenArbeitsmigranten aus Drittstaaten in denjenigen Berei- würde. chen anzuwerben, in denen der deutsche Arbeitsmarkt kein Arbeitskräfteangebot vorhalten kann. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie noch einmal zu bitten: Hören Sie doch mit dieserVerunsicherung (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht um der Bevölkerung auf, die sachlich nicht haltbar ist! das gesamte Asylrecht, Frau Beck!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist absehbar, dass angesichts einer solch hohen Ar- und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ beitslosigkeit wie im Augenblick dieses kleine Türchen CSU]: Das wissen Sie doch gar nicht, ob sie sehr schmal bleiben wird; denn es gilt das Vorrangprin- nicht haltbar ist!) zip. Es ist durch nichts, aber auch durch gar nichts ge- Vielleicht muss ich es noch einmal Punkt für Punkt aus- rechtfertigt, dass Sie ständig – offensichtlich bewusst; führen, wenn es Ihnen so schwer fällt, es zu verstehen. denn Sie müssten inzwischen in der Lage sein, den Ge- setzentwurf zu lesen – Verunsicherung und Ängste in der Welche Zuwanderungsmöglichkeiten die EU-Bürge- Bevölkerung hervorrufen, indem Sie vor einem drohen- rinnen und Bürger haben, den massenhaften Zuzug warnen. Es ist schlichtweg (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Um nicht in Ordnung, bei einem solch sensiblen Thema in die geht es überhaupt nicht!) dieser Art und Weise öffentlich zu agieren. entzieht sich aufgrund des Rechts auf Freizügigkeit jeg- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN licher nationalen Gesetzgebung – sowohl unter unserer und bei der SPD – Rüdiger Veit [SPD]: Das ist Regierung als auch unter einer von Ihnen geführten Re- sehr milde ausgedrückt! Es ist verantwor- gierung. tungslos!) Was den Familiennachzug aus Drittländern angeht, Ich möchte noch auf einen anderen inhaltlichen Kern- behaupten Sie fälschlicherweise, das sei die inzwischen punkt zu sprechen kommen. Sie verbinden – das hat sich größte Zuwanderungsgruppe unter in Deutschland le- schon in der gestrigen Beratung des Innenausschusses benden Ausländern. Das ist in der Sache falsch. Offen- gezeigt – die Ausländerinnen und Ausländer überwie- sichtlich haben Sie noch nicht gemerkt, dass sich auch gend mit Worten wie „Defizit“, „Problem“, „Herausfor- die Zusammensetzung unserer Bevölkerung ändert. Es derung“ oder „Konflikt“. Offensichtlich wollen Sie nicht gibt nämlich zunehmend mehr Deutsche, die Ausländer zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen eine große Zahl (B) (D) oder Ausländerinnen heiraten. Bei dem Ehegattennach- von Migrantinnen und Migranten Teil unserer Bevölke- zug von Ausländern nach Deutschland handelt es sich zu rung geworden ist, dass sie zu uns gehören und integriert mehr als 50 Prozent um den Zuzug zu Deutschen, die au- sind. Natürlich gibt es auch Probleme. Aber Ihre Argu- ßerhalb des Landes geheiratet haben. Wollen Sie diesen mentation, dass eigentlich alle Ausländer tendenziell ein Menschen erklären, dass Sie das Recht auf Zusammenle- Problem seien und dass wir deswegen alles versuchen ben in einer Familie gesetzlich einschränken wollen? müssten, um so viele Grenzen wie nur möglich hochzu- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das proble- ziehen, wirkt negativ auf das Klima und die Stimmung matisieren wir doch gar nicht! Darum geht es in unserer Bevölkerung und auch darauf, wie Migranten, doch nicht! Sie bauen hier einen Popanz auf, aber auch wie Menschen, die erkennbar anders aussehen, Frau Beck!) von unserer Bevölkerung angesehen und angesprochen werden. Das – das sage ich Ihnen aus tiefer Überzeu- – Wenn Sie sagen, darum gehe es nicht, stimmen wir in gung; hier spreche ich als Anwältin der Migranten – spü- dieser Frage ja überein. – Insofern gibt es auch in diesem ren viele Migranten in winzig kleinen Alltagsgesten, Zu- Bereich nur begrenzte Steuerungsmöglichkeiten. rückweisungen und Ressentiments auf sprachlicher Ebene, aber auch durch Blicke, durch Wegrücken und Es gibt des Weiteren die Gruppe der Spätaussiedler. durch vieles mehr. Gestern haben wir im Innenausschuss darüber gespro- chen, dass es scheinbar fraktionsübergreifend Überle- Ich möchte Sie noch einmal bitten, darüber nachzu- gungen gibt, die Ansiedlungspolitik sehr behutsam und denken, dass Sie Verantwortung für das übernehmen, sensibel zurückzufahren. was Sie tun. Ein Klima, das es Menschen, die von woan- Daneben gibt es die Gruppe der jüdischen Kontingentzu- ders herkommen, schwer macht, gleichberechtigt und wanderer. Ich gehe davon aus, dass niemand in diesem anerkannt in unserem Land zu leben, dürfen Sie nicht Haus diese Zuwanderung infrage stellt. Und schließlich mit erzeugen. gibt es die Gruppe der Asylbewerber, die Schutz suchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die aufgrund von völkerrechtlichen Verbindlichkei- und bei der SPD) ten – sei es die Genfer Flüchtlingskonvention, sei es die Europäische Menschenrechtskonvention – auch ein Recht auf Schutz in Deutschland haben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das alles ist bisher in dem alten Ausländerrecht gere- Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel, gelt gewesen und wird auch in dem neuen Ausländer- CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4029

(A) Reinhard Grindel (CDU/CSU): und nicht zuletzt auch deshalb, weil sich gerade in(C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland das Problem der Zuwanderung mit einer Frau Beck, was Sie eben gemacht haben, ist nicht inSchärfe stellt, wie das in keinem anderen Land der Fall Ordnung; denn Sie haben um einen ganz entscheidenden ist. Punkt herumgeredet. Zurzeit liegen auf dem Tisch des (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE EU-Innenministerrates eine Vielzahl von Richtlinienent- GRÜNEN]: Das ist kein Problem, sondern würfen, die das Asylrecht betreffen. Sie müssen schon eine Tatsache!) den Zuschauern und den Kollegen deutlich machen, dass man dann, wenn diese Entwürfe EU-Recht werden wür- Deswegen geht es bei der Frage, wie man den Verfas- den, den gesamten Asylkompromiss von CDU/CSU,sungsvertrag sieht, auch ein bisschen darum, nationale SPD und FDP vergessen könnte. Interessen wahrzunehmen. Auch den Blick dafür sollten wir nicht verlieren. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist das!) Es ist zu befürchten, dass sich der deutsche Innenmi- Die Drittstaatenregelung, das Flughafenverfahren und nister heute im Innenministerrat wieder an einem die Liste über die sicheren Herkunftsländer wären weg. schlechten Schauspiel beteiligt, Dann hätten wir nicht ein Türchen, sondern ein riesiges Einfallstor für eine neue Zuwanderung aufgemacht. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Dann bekommen Sie Integration, die von Deutschen und GRÜNEN]: Das hat er dann von Koch gelernt! – Ausländern gleichermaßen akzeptiert wird, nicht mehr Sebastian Edathy [SPD]: Das macht er nie!) hin. Deshalb ist es nicht in Ordnung, dass Sie diesen As- pekt des Asylrechts in Ihrer Rede völlig ausgeschlossen bei dem in Wahrheit die Grünen Regie führen. Der Kol- haben. lege Volker Beck hat in Interviews mehrfach ganz offen die Strategie vorgegeben. Ich zitiere, was er gesagt hat: (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist doch einfach Falls kein Kompromiss über das Zuwanderungsge- falsch, was Sie sagen! Das stimmt doch nicht! setz zustande kommt, können wir besser mit den – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ihr Horrorge- Regelungen leben, die auf europäischer Ebene so- mälde ist auch nicht in Ordnung!) wieso kommen. Herr Stadler, Sie haben den Sachverhalt auch nicht (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist auch so!) ganz richtig dargestellt, was dieEuropafestigkeit des Grundrechts auf Asyl angeht. Das ist gerade unser Pro- Ich sage Ihnen: Es ist nicht entscheidend, womit die Grünen leben können, sondern es ist entscheidend, wo- (B) blem. Weil wir als einziges Land in Europa einen Indivi- (D) dualanspruch, ein so ausgestaltetes, nicht europataug- mit Deutsche und – ich betone: und! – Ausländer leben liches Asylrecht haben, haben wir die Probleme. können. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU) Hätten wir wie alle übrigen Länder eine reine Instituts- Deutsche und Ausländer, Frau Beck, brauchen ein garantie, könnten wir uns viel eher über Harmonisierung Klima, in dem Integration möglich ist, auf europäischer Ebene unterhalten. (Sebastian Edathy [SPD]: Sie sind der Klima- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) killer!) Das Grundrecht auf Asyl in dem es auf beiden Seiten Integrationsbereitschaft gibt. Deswegen haben wir über ein Integrationsgesetz und (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE über weiter gehende Maßnahmen im Bereich der Inte- GRÜNEN]: Das bleibt auch!) gration gesprochen. Ich sage Ihnen: Das von Ihnen ge- hat eben die Konsequenz, dass wir wie kein andereswünschte Klima bekommen wir nur, wenn wir uns um Land in Europa von Zuwanderung durch Asylbewerber mehr Integration, aber nicht um mehr Zuwanderung betroffen sind, die kein Recht haben, sich auf das Asyl- kümmern. Das ist unser entscheidender Ansatz und darin recht zu berufen. Das ist das Thema. unterscheiden wir uns. Das ist wahr. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Max Stadler (Beifall bei der CDU/CSU) [FDP]: Die Zahlen in Großbritannien sind hö- Ich will die Auswirkungen der europäischen Richt- her als bei uns!) linien auf das deutsche Ausländerrecht nur an einem Frau Staatssekretärin, damit es da keine Unklarheiten Beispiel erläutern. Nach dem, was wir aus Luxemburg gibt: Die Frage, wie das Problem der Zuwanderung im gehört haben, ist heute offenbar der Richtlinienvorschlag neuen Verfassungsvertrag zu behandeln ist – das steht zum Status langfristig aufhältiger Drittstaatsangehöriger auch in dem Artikel der „Rheinischen Post“, und zwar – in der Sprache der EU-Bürokraten heißt das so – ab- ganz am Ende –, ist zwischen CDU und CSU, auch in schließend beraten worden. Die Kommission will – das unserer Fraktion, völlig unstreitig. Wir sind grundsätz- ist offenbar angenommen worden –, dass Ausländer be- lich dafür, dass das in e di nationale Zuständigkeit zu- reits nach fünfjährigem Aufenthalt eine Aufenthaltsver- rückgeführt wird, weil mit diesem Verfassungsvertrag festigung bekommen, ohne dass dafür ein eigener Inte- auch eine klare Kompetenzabgrenzung bezweckt war grationsbeitrag geleistet werden muss. Wenn das 4030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Reinhard Grindel (A) Wirklichkeit wird, dann können wir Integrationskurse im Herr Kollege Winkler, die Integration in diesem Land(C) Ausländerrecht vergessen. wird scheitern, wenn wir die Sorgen und Nöte der Men- schen nicht ernst nehmen, wenn die Menschen das Ge- (Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ fühl haben, dass wir uns damit nicht auseinander setzen, DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- weil wir es für politisch nicht opportun halten. schenfrage) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sagen: Wer sich als Ausländer – Um es ganz klar zu sagen: Es ist zum Beispiel auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ein Mittel, um Rechtsextremisten zu bekämpfen. Den Herr Kollege – – Rechtsextremisten dürfen wir keinen Fußbreit weichen; deswegen müssen wir diese Themen aufgreifen und uns mit ihnen auseinander setzen. Wir dürfen sie nicht auf- Reinhard Grindel (CDU/CSU): grund einer – wie auch immer gearteten – politischen – ich will nur den Satz zu Ende führen; dann kannKultur verschweigen. Deswegen sprechen wir diese Pro- Herr Winkler gern fragen – beharrlich weigert, unsere bleme an. Sprache zu lernen, wer jedes bisschen Integration ver- weigert, der darf doch nicht automatisch eine Aufent- (Beifall bei der CDU/CSU) haltsverfestigung bekommen. Wir brauchen doch einen Wenn wir schon über die Harmonisierung des Asyl- Anreiz, damit es zur Integration kommt. Deswegen ist es rechts in Europa reden: Warum hat die Europäische sinnvoll, Aufenthaltsverfestigung an Integrationsleis-Kommission bis heute eigentlich keine Richtlinie für tungen zu knüpfen. Das haben Sie heute in Luxemburg eine gerechtere Lastenverteilung in Europa vorge- aufgegeben. Hinter den verschlossenen Türen des Rates legt? Der für das Asylrecht zuständige EU-Kommissar haben Sie wieder unsere Diskussion um das Zuwande- ist ein portugiesischer Sozialist. rungsrecht vorbestimmt und einen ganz zentralen Punkt, wo es um mehr Integration geht, unmöglich gemacht. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Keine Portugalfeindlichkeit!) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Durch die Hintertür Europa!) Portugal hat im letzten Jahr 245 Asylbewerber aufge- nommen und gehört zu den größten Nettoempfängern in- Dieses Verfahren ist nicht in Ordnung. Das lehnen wir nerhalb der Europäischen Union. Es wäre doch nur fair, ab. wenn uns Portugal einige Tausend Asylbewerber ab- (Beifall bei der CDU/CSU) nähme, so wie es bei der Verteilung der Asylbewerber (B) auf die einzelnen Bundesländer der Fall ist. Ich frage(D) mich, ob dieser portugiesische Kommissar noch die glei- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen – relativ weltfremden – Richtlinienentwürfe wie NEN): derzeit vorlegen würde, wenn es innerhalb der EU eine Herr Kollege Grindel, wären Sie bereit, anzuerken- Lastenverteilung gäbe. nen, dass Ihre Formulierung, Zuwanderung sei ein Pro- blem, dazu beitragen könnte, genau das gesellschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU) Klima zu erzeugen, von dem Sie gerade sagten, dass Diese Frage richtet sich nicht nur an den Kommissar auch Sie es nicht erzeugen wollen, nämlich ein gegen- aus Portugal, sondern auch an den deutschen Bundesin- über Zuwanderern feindliches Klima, und wären Sie be- nenminister. Warum hat Herr Schily nicht ein einziges reit, in Zukunft Ihre Formulierung diesbezüglich zuMal gesagt: Ich will eine Richtlinie zur Lastenvertei- überdenken? lung; sonst behalten wir die vielen Fragen der Zuwande- (Sebastian Edathy [SPD]: Ich glaube nicht, aber rung in der Zuständigkeit der nationalen Parlamente und man soll die Hoffnung nicht aufgeben!) Regierungen? (Beifall bei der CDU/CSU) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Für mich, lieber Kollege Winkler, sind Ausländer Wenn es um eine Harmonisierung geht, müssen wir Sozialleistungen kein Problem. Für mich sind nicht integrierte Ausländer auch über die sprechen. Die Bedingun- ein Problem. gen sind in keinem anderen Land so attraktiv wie in Deutschland. In vielen EU-Ländern – auch das müssen (Beifall bei der CDU/CSU) Sie einmal zur Kenntnis nehmen – gibt es für Asyl- bewerber nur sehr geringe Sozialleistungen, die zudem Für mich ist ein Problem, dass mir immer mehr Men- zeitlich begrenzt sind. Dortgibt es eine medizinische schen sagen: Was redet ihr im Parlament eigentlich he- Versorgung nur in absoluten Notfällen. NGOs und ge- rum? Guckt doch mal auf die Straßen, um zu sehen, wel- meinnützige Einrichtungen spielen bei der Versorgung che Probleme wir haben der Asylbewerber in vielen EU-Ländern die entschei- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) dende Rolle. mit – das ist nicht zu leugnen – Intensivtätern aus der Wenn wir den Rechtsrahmen für Asylbewerber in Eu- Türkei, aus arabischen Ländern und, wie ich gern zuge- ropa schon vereinheitlichen, dann sollten Asylbewerber ben will, auch mit jugendlichen Aussiedlern. in Deutschland auch in Zukunft nur so versorgt werden, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4031

Reinhard Grindel (A) wie das in Österreich, in den Niederlanden, in Italiendass Sie heute einen Antrag vorgelegt haben, in dem Sie (C) oder in Spanien üblich ist. behaupten, Sie seien nicht ausreichend informiert. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Ihre vorgebrachten Argumente zeigen: Es mangelt Ih- GRÜNEN]: Als wenn es ihnen hier so gut nen nicht an Information, sondern an Verständnis für die ginge!) Zusammenhänge und vor allem an europäischem Be- wusstsein. Wenn wir über die Kürzung sozialer Leistungen in vie- len Bereichen sprechen, dann muss es auch erlaubt sein, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über Kürzungen bei Sozialleistungen für Asylbewerber DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ und geduldete Ausländer nachzudenken. CSU]: Danke, Frau Oberlehrerin! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Strobl NEN]: Das ist ein europafeindlicher Antrag [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das muss auch noch der CDU!) kommen!) Ich will das anhand einiger grundsätzlicher Punkte Einige Zyniker sagen: Was regt ihr euch auf? Wenn – die Formulierung der einzelnen Richtlinien diskutieren Rot-Grün so weitermacht, dann werden bald auch die wir ja wöchentlich, auch wieder im Anschluss an diese Asylbewerber einen Bogen um Deutschland machen. – Debatte – aufzeigen. So denken wir nicht. Wir wollen, dass es mit unserem Land wieder aufwärts geht. Wir wollen aber nicht, dass Widerspruch eins: Sie beklagen – ich zitiere – „den es mit den Asylbewerberzahlen wieder aufwärts geht. weit gehenden Verlust der nationalen Gestaltungsfähig- Das wäre aber die unweigerliche Konsequenz, wenn die keit in Asyl-, Ausländer- bzw. Zuwanderungsfragen“ Vorschläge für die Asylrichtlinien tatsächlich EU-Recht und erwarten, dass die Bundesregierung das deutsche werden würden. Das müssen jeder politisch Verantwort- Ausländerrecht in den Verhandlungen über die Richtli- liche und jeder Bürger in unserem Land wissen. Deshalb nien eins zu eins abbildet. Sie fordern sogar, die Bundes- erwarten wir von der Bundesregierung und ihrem Innen- regierung müsse ein Veto einlegen, wenn dies nicht voll- minister, dass diese Richtlinienentwürfe, so wie sie jetzt ständig gelinge. auf dem Tisch liegen, sofortin den Schreibtischen der Kommission wieder verschwinden und niemals Gesetz Nur einige Absätze später formulieren Sie folgenden werden. Dazu sollte Herr Schily in Brüssel, in Luxem- Satz: burg, in Saloniki oder wo auch immer seinen Beitrag Ziel einer europäischen Ausländer-, Zuwande- leisten. rungs- und Asylpolitik muss es sein, im gesamten (B) Schönen Dank. Raum der EU gleiche Regelungen für Aufnahme,(D) Aufenthalt und Aufenthaltsbeendigung von Flücht- (Beifall bei der CDU/CSU) lingen ... zu schaffen ...

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Lale Akgün, SPD- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Fraktion. Kollegen Grindel?

Dr. Lale Akgün (SPD): Dr. Lale Akgün (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte Bitte. es für wichtig, dass dieses Thema heute auf der Tages- ordnung steht. Nicht dass ich im Antrag der CDU/CSU Reinhard Grindel irgendetwas Sinnvolles und Beschließenswertes ent- (CDU/CSU): deckt hätte, aber man kann anhand dieses Antrags erken- Frau Kollegin Akgün, ich stimme Ihnen zu, dass wir nen und deutlich machen, wie konfus, konzeptlos und häufig – auch gestern im Ausschuss – über diese The- rückwärts gerichtet die Vorstellungen der Union von Zu- men gesprochen haben. Aber wie bewerten Sie es denn, wanderungspolitik und vom künftigen Europa sind. dass die Bundesregierung im Vorfeld des heute tagenden Innenministerrats zunächst davon gesprochen hat, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es bei der Entscheidung über die von mir angesprochene DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Richtlinie noch einige schwierige Punkte gebe, über die Das sind doch Schlagworte! Das sind doch Einigung zu erzielen sei, weswegen mit einer Einigung Luftblasen!) nicht zu rechnen sei, und uns eine Presseagentur heute Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, mitteilt, dass sich der Innenminister über diese Richtlinie insbesondere liebe Kollegen Grindel und Schröder, es gerade mit seinen 14 Kollegen verständigt hat? gibt kaum ein Thema, das in den letzten Wochen und (Rüdiger Veit [SPD]: Das ist sehr erfreulich! Monaten von den Innenpolitikern so intensiv diskutiert Was meckern Sie denn?) wurde wie dieses: In jeder Sitzungswoche gab es Treffen der Berichterstatter, für Juli ist eine Anhörung angesetzt Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir und der Innenausschuss hat mehrfach einzelne Richt-zwar darüber geredet haben – das beklagen wir nicht –, linien diskutiert. Das Ergebnis all dieser Beratungen ist, wir über den wirklichen Verhandlungsstand und darüber, 4032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Reinhard Grindel (A) wie der Innenminister die Verhandlungen im Rat voran- tei geblieben? Wo ist der europäische Geist – das sage(C) treibt, aber überhaupt nicht informiert werden? ich als Kölnerin – eines geblieben? Er würde sich angesichts rer Ih Europaskepsis heute im Dr. Lale Akgün (SPD): Grab umdrehen. Herr Kollege Grindel, Sie haben es doch selbst ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sagt: Wenn man die Verhandlungsergebnisse vorher des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wüsste, bräuchte man nicht mehr zu verhandeln. Was wollen Sie eigentlich? Gleiche Regeln in ganz Europa, Widerspruch zwei: Sie fordern, dass die Bundesregie- aber bitte für alle verbindlich mit heute gültigen deut- rung strikt nach dem heute geltenden deutschen Auslän- schen Rechtsnormen? Oder wollen Sie, dass man wirk- derrecht und nicht nach dem Zuwanderungsgesetz ver- lich versucht, der europäischen Dimension zur Geltung handelt. Gleichzeitig lese ich in Ihren Kommentaren zu zu verhelfen? den einzelnen Richtlinien, dass Sie sich selbst nicht nach dem deutschen Ausländerrecht richten, sondern andere, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wo war jetzt die zum Teil dem Zuwanderungsgesetz ähnliche Regelun- Antwort?) gen fordern. Sie müssen doch verstehen: Die 15 Staaten haben völ- Familienzusammenführung lig unterschiedliche – teils liberale, teils restriktive – Re- Hier ist zum einen die gelungen zur Zuwanderung. Wollen Sie, dass wir die Er- zu nennen. Die Bundesregierung hat es in einem Kraft- gebnisse schon vorher in der Tasche haben? Das gehtakt geschafft, ein Kindernachzugsalter von zwölf Jahren nicht, Herr Grindel. durchzusetzen, wie es auch im Zuwanderungsgesetz steht, übrigens gegen alleanderen Mitgliedstaaten, die (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber wenn ein Nachzugsalter von 18 Jahren haben. man innerhalb von 24 Stunden seine Meinung ändert, ist das doch ein Problem, oder?) Jetzt sagen Sie Folgendes: Das Nachzugsalter ist noch immer zu hoch, Sie wollen ein Nachzugsalter von maxi- So kann man nicht miteinander verhandeln. mal zehn Jahren, manchmal auch von sechs, wie es ge- Deutschland besitzt viele Spezifika im Ausländer- rade passt; wir sollen uns nicht am Zuwanderungsgesetz, recht, die anderen Staaten völlig unbekannt sind. Wir sondern am geltenden Recht orientieren. Das Problem unterscheiden zum Beispiel beim Familiennachzug zwi- ist: Im geltenden deutschen Ausländerrecht ist das Nach- schen GFK-Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtig- zugsalter 16 Jahre. Deswegen müssen Sie mir schon er- ten. In solchen Fragen müssen Kompromisse gefunden klären, was Sie eigentlich wollen: den mit Ihnen im Zu- werden, die der Situation aller Mitgliedstaaten gerecht wanderungsgesetz ausgehandelten Kompromiss oder das (B) (D) werden. geltende Recht? Oder, andersherum gefragt: Was ist mehr, zehn oder 18? Ihre Forderung ist so, alswürden die Briten ein ein- heitliches Verkehrsrecht in der EU fordern; aber nur Dann gibt es in Ihrem Antrag die Forderung, fünf Jahre dann, wenn alle anderen Staaten auf Linksverkehr um- rechtmäßiger Aufenthalt seien nicht ausreichend für die stellen. Erlangung eines langfristigen EU-Aufenthaltsrechts. Ich frage mich, wie das mit deutschem Recht konform (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nicht alles, geht; denn das sieht schon heute die Erteilung der unbe- was hinkt, ist ein Vergleich!) fristeten Aufenthaltserlaubnis nach fünf Jahren vor. Wissen Sie, was bemerkenswert ist? Der Bundesinnen- minister hat es in zähen Verhandlungen geschafft, in den Sie fordern einen Integrationsbeitrag durch Erlernen deutschen Sprache. meisten Punkten das deutsche Recht abzubilden, sprich: der An diesem Punkt sind wir uns den Linksverkehr in Europa durchzusetzen. Jetzt kom- völlig einig; aber das steht so nicht im Ausländerrecht, men Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sondern im Zuwanderungsgesetz. und sagen: Linksverkehr reicht uns nicht; wenn die deut- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Aber nicht in sche Norm für die Rückspiegelgröße nicht übernommen der EU-Richtlinie!) wird, legen wir ein Veto ein. Es gibt einen dritten Punkt, bei dem wir uns in der Tat (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wenn es in am Zuwanderungsgesetz orientieren, und zwar ganz be- die richtige Richtung geht, machen wir auch wusst: Das ist die Anerkennung dernicht staatlichen Linksverkehr mit!) und geschlechtsspezifischen Verfolgung als Flucht- Oder um es auf unser Thema zu übertragen: Wegen grund. Wir tun das – ich sage es noch einmal – ganz be- einer eventuellen minimalen Änderung des Rechtsstatus wusst, weil wir die Einzigen in Europa sind, die sich ei- einiger weniger wären Sie bereit, die europäische Eini- ner solchen Statusverbesserung für wenige Hundert gung in einem solch wichtigen Punkt zu begraben. Darf Personen bisher verschließen. Es kann doch nicht das ich Sie daran erinnern, dass die Vorgehensweise und die Ziel deutscher Politik sein, im humanitären Bereich auf Zuständigkeit der EU für diese Frage im Amsterdamer ewig europäisches Schlusslicht zu bleiben. Da sollten Vertrag geregelt sind? Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie von Ihrer Position herunterkommen. Ihre konservati- die Unionsparteien den Amsterdamer Vertrag mitgetra- ven und christdemokratischen Freunde in den anderen gen, ja, in ihrer Regierungszeit entscheidend mitverhan- EU-Staaten teilen Ihre Position in diesem Punkt übrigens delt haben? Wo ist denn der europäische Geist Ihrer Par- auch nicht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4033

Dr. Lale Akgün (A) Widerspruch Nummer drei: Sie fordern von der EU ein gierung beharrlich versucht, ihre Zielsetzungen in puncto(C) Gesamtkonzept im Bereich Asyl- und Einwanderungs- Zuwanderung und Migration durchzusetzen, ist einem beim politik. Andererseits sprechen Sie der EU an allen Ecken Verhalten von Kleinkindern bestens bekannt. Sie werden es und Enden die Kompetenz für dieses Thema ab und tor- schon öfter festgestellt haben: Wenn ein Kind seinen Willen pedieren selbst einzelne Richtlinienvorschläge bei jedem bei der Mutter nicht durchsetzen kann, dann versucht es denkbaren Nebensatz. dies flugs darauf beim Vater. Rot-Grün ist am 18. Dezember vergangenen Jahres mit dem Zuwanderungs- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE gesetz kläglich vor demBundesverfassungsgericht ge- GRÜNEN]: Absolut europafeindlich!) scheitert, Auch da weiß ich nicht, was Sie eigentlich wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Was ich weiß, ist: Sie haben vor kurzem eine hervor- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ragende Gelegenheit verpasst, ein gutes Gesamtkonzept Das waren nur formale Gründe wegen Ihres im Bereich Asyl- und Einwanderungspolitik auf nationa- Theaters im Bundesrat!) ler Ebene mit zu beschließen, nämlich das Zuwande-hat aber nichts Besseres zu tun, als das Zuwanderungs- rungsgesetz. Auch hier war Ihre Taktik leider genau so gesetz wortgleich in den Bundestag einzubringen und wie heute im europäischen Bereich: zuerst ein Gesamt- nebenbei über die Hintertür der europäischen Zuwande- konzept fordern, dann Einzelforderungen für einen Kom- rungs- und Asylpolitik die eigenen ideologischen Ziel- promiss aufstellen, und wenn die Forderungen dann im setzungen zu verfolgen. Kompromisspapier stehen, wird das Ergebnis abgelehnt, weil es nicht der Maximalforderung entspricht. Sie sagen (Beifall bei der CDU/CSU) mal Ja, mal Nein, weil Sie im Bereich Zuwanderung gar Der Parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/ kein Konzept haben und nicht wissen, was Sie wollen. Die Grünen, der Kollege Volker Beck, hat dieses Ansin- Einen klugen Satz habe ich in Ihrem Antrag gelesen. nen in verräterischer und offenkundiger Art und Weise Er heißt: offenbart, indem er sich nach dem Scheitern des rot-grü- nen Zuwanderungsgesetzes vor dem Bundesverfas- Wer umfassende Problemstellungen ohne Berück- sungsgericht in der „Welt“ vom 21. Dezember 2002 wie sichtigung von Zusammenhängen erledigen will, folgt äußerte: verliert zwangsläufig den Überblick. Dann können wir besser mit dem geltenden Auslän- Der Satz ist nicht deshalb klug, weil wir dadurch im derrecht leben und mit den Regelungen, die auf eu- Thema weiterkämen, sondern deshalb, weil er eine pas- ropäischer Ebene sowieso kommen … (B) sende Zustandsbeschreibung Ihrer Politik ist. Zuwande- (D) rung ist ein komplexes Thema, das eine langfristige Per- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) spektive braucht und bei dem alle Zusammenhänge Ein weiteres markantes Beispiel für die Ignoranz des berücksichtigt werden müssen: Arbeitsmarkt, Demogra- Bundesinnenministers Schily gegenüber Entscheidungen phie, Integration, Fluchtursachenbekämpfung und vieles des Bundesverfassungsgerichts ist, dass er Ende Mai, mehr. also erst vor kurzem, in Nürnberg ohne rechtliche Sie verlieren den Überblick, weil Sie zurzeit nur einen Grundlage den im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Zusammenhang sehen, nämlich den zwischen konfuser Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration Zuwanderungspolitik, populistischen Forderungen und installierte. den anstehenden Landtagswahlterminen. Das aber ist (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) kein Konzept. Dies stellt eine eklatante Missachtung des Bundesverfas- Daher rate ich Ihnen: Lassen wir diesen Antragsungsgerichts, des Bundestages und des Bundesrates dar. schnell verschwinden; denn er ist unaktuell, inhaltlich falsch und uneuropäisch. Lassen wir ihn verschwinden (Beifall bei der CDU/CSU) und kehren wir zur konkreten Sacharbeit zurück, so wie Nahezu unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit wir es in den letzten Wochen und Monaten getan haben. erfolgen auf europäischer Ebene derzeit entscheidende Vielen Dank. Weichenstellungen für das künftige deutsche Asyl-, Aus- länder- und Zuwanderungsrecht. Dabei muss allen eines (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – klar sein: Der einzige Garant dafür, dass wir in Deutsch- Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Man zeigt nicht land eine Zuwanderungspolitik betreiben können, die mit nacktem Finger auf angezogene Leute!) insbesondere den gesellschafts- und arbeitsmarktpoliti- schen Anforderungen entspricht, kann nur die Bundesre- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gierung sein; denn auf europäischer Ebene können wir Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer,für unsere Belange keine Schützenhilfe erwarten. CDU/CSU-Fraktion. Aber die Bundesregierung wird diesem Auftrag nicht gerecht; Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider wahr! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das und Kollegen! Die Vorgehensweise, mit der die Bundesre- ist das Problem!) 4034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Stephan Mayer (Altötting) (A) denn eine effektive Zuwanderungsbegrenzung ist nicht rung beabsichtigt dennoch, den Anwerbestopp für Nicht- (C) das Anliegen der rot-grünen Koalition. Es kann nicht an- EU-Ausländer aufzuheben. gehen, dass der Bundesinnenminister Schily auf europäi- Der Richtlinienvorschlag über Bedingungen für die scher Ebene nicht auf Grundlage des derzeit in Deutsch- Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen land gültigen Ausländer- und Asylrechts verhandelt, zur Ausübung einer selbstständigen oder unselbstständi- sondern auf Grundlage des ideologisch verbrämten Zu- gen Erwerbstätigkeit sieht vor, dass ein einklagbarer An- wanderungsgesetzes. spruch auf einen Aufenthaltstitel geschaffen wird, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) eine freie Stelle nicht innerhalb von nur drei Wochen an- derweitig besetzt werden kann. Ich fordere die rot-grüne Das Ziel ist klar: Es sollen auf europäischer Ebene Bundesregierung deshalb nachdrücklich auf, sich mit al- vollendete Tatsachen geschaffen werden, weil Ihnen be- ler Kraft gegen diesen Richtlinienvorschlag zur Wehr zu wusst ist, dass das von Ihnen eingebrachte Zuwande- setzen; denn schon heute ist der Anteil der Arbeitslosen rungsgesetz in Deutschland in der vorliegenden Form unter den Ausländern in Deutschland doppelt so hoch nie Rechtswirklichkeit erlangen kann. wie unter den Deutschen und der Anteil der Sozialhilfe- Es ist ein Unding, dass hinterrücks über die Verab- empfänger unter den Ausländern ist dreimal so hoch wie schiedung einiger weniger EU-Richtlinien wichtige und unter der deutschen Bevölkerung. unabdingbare Grundpfeiler unseres Asyl- und Zuwande- Weitere Kernelemente des deutschen Asyl- und Zu- rungsgesetzes ausgehebelt und ausgehöhlt werden. Kein wanderungsrechts, die Drittstaatenregelung, die Her- anderer Staat Europas hat so viele Ausländer aus Nicht- kunftsstaatenregelung sowie die Flughafenregelung, sol- EU-Staaten wie Deutschland. Zwischen 1996 und 2000 len über die Hintertür Europa – die Zahlen sprechen für lag die Zahl derjenigen, die im Rahmen des Familien- sich – ad absurdum geführt werden. nachzugs nach Deutschland kamen, zwischen 55 886 und 75 888 Personen. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Auch das stimmt doch wieder nicht! – Gegenruf des (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Natürlich NEN]: Was ist denn mit den Aussiedlern?) stimmt das!) Die Zahlen weisen also ndeutig ei eine steigende Ten- – Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, die Neuerung des deut- denz auf. schen Asylrechts aus dem Jahre 1993 hat sich bewährt. So Vor diesem Hintergrund sind die in dem Entwurf ei- sank zwischen 1993 und heute die Zahl der Asylbewerber ner Familienrichtlinie beabsichtigten großzügigen Fami- von 438 000 auf circa 71 000 Personen pro Jahr. liennachzugsmöglichkeiten für Deutschland besonders (B) (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das (D) belastend. So kann es ebennicht angehen, dass ein ei- ist eine Tatsache! – Marieluise Beck [Bremen] genständiges Aufenthaltsrecht bereits nach fünf Jahren [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter ande- besteht sowie ein Anspruch auf Ehegattennachzug ge- rem, weil die Kriege auf dem Balkan beendet schaffen wird, auch wenn die Ehe erst nach der Einreise worden sind!) geschlossen wurde. Die Drittstaatenregelung soll nun laut dem Richtli- Vor dem Hintergrund unserer ohnehin äußerst ange- nienentwurf über Mindestnormen für Asylverfahren so- spannten Lage unserer sozialen Sicherungssysteme ist es wie Zu- und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht akzeptabel, dass die Richtlinie den Familiennach- dadurch aus den Angeln gehoben werden, dass es keine zug zu Flüchtlingen vorsieht, auch wenn kein ausrei-Einreiseverweigerung an der Grenze ohne Einleitung ei- chender Nachweis über Wohnraum, Krankenversiche- nes Asylverfahrens mehr geben darf und dass grundsätz- rung und Unterhalt erbracht wird. lich eine individuelle Einzelfallprüfung zu erfolgen hat. (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Eine Abweisung an der Grenze durch die Grenzbehör- Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rot- den wäre dann nicht mehr möglich und die Drittstaaten- Grün ist eben familienfreundlich! Auch bei regelung wäre eine jederzeit widerlegbare Vermutung. Flüchtlingen!) Auch einer Erweiterung desFlüchtlingsbegriffs Eine generelle Ausweitung derZuwanderung ist kann in der von der Europäischen Union beabsichtigten ebenfalls nicht sachgerecht. Abgesehen davon, dass die Form nicht unwidersprochen zugestimmt werden. Europäische Union über keinerlei Kompetenz zur Ar- (Beifall bei der CDU/CSU) beitsmarktregelung verfügt und auch nicht verfügen soll, ist es nicht tragbar, dass angesichts der heute Vormittag ver- Rot-Grün muss sich endlich von dem Wunschgedanken öffentlichten aktuellen Arbeitslosenzahlen von 4,42 Millio- verabschieden, das gesamte Unheil der Welt auf deut- nen für Deutschland und 15 Millionen für Europa dieschem Boden lösen zu wollen und zu können. Voraussetzungen für Nicht-EU-Ausländer zur Arbeits- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufnahme in Deutschland astisch dr reduziert werden. NEN]: Sie sollten sich schämen! – Zurufe von Als der Anwerbestopp für Nicht-EU-Ausländer von der der SPD) damaligen sozial-liberalen Koalition 1973 verhängt wurde, betrug die Arbeitslosenquote in DeutschlandEs besteht daher überhaupt kein Anlass, den Flüchtlings- 1,2 Prozent. Heute beträgt die bundesweite Arbeitslo- begriff auf nicht staatliche und geschlechtsspezifische senquote über 10 Prozent. Die rot-grüne Bundesregie- Verfolgung zu erweitern. Abgesehen davon gilt es, ganz Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4035

Stephan Mayer (Altötting) (A) deutlich darauf hinzuweisen, dass das deutsche Auslän- Dr. Michael Bürsch (SPD): (C) derrecht schon in der heute gültigen Form ausreichend Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Möglichkeiten bietet, Der Schluss der Debatte bietet immer die Möglichkeit, (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sehr von den Aufgeregtheiten, Zuspitzungen, Übertreibungen richtig!) und Horrorszenarien auf den Kern dessen zurückzukom- men, worüber Sie heute sprechen wollen. Der Kern ist dass Personen, die geschlechtsspezifisch oder nichtim Grunde die Fragestellung: Wollen wir eine Wagen- staatlich verfolgt werden, nicht abgeschoben werdenburg Deutschland, in die möglichst kein Nichtdeutscher können. Ich erinnere an dieser Stelle an § 53 des Auslän- hineinkommt, dergesetzes. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wo (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: leben Sie denn, Herr Bürsch?) So ist es!) oder wollen Sie der Tatsache Rechnung tragen, dass Deutschland ist ein ausländerfreundliches und offenes Deutschland wie auch seine Nachbarn ein Land ist, Land. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Die gleiche Zuwan- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das soll es auch derung hat wie England und Frankreich!) bleiben!) Die deutsche Bevölkerung ist gerne bereit, Ausländer in das Zuwanderung und Abwanderung erlebt? die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Dies sieht man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ allein daran, dass in Deutschland mit9,3 Prozent na- DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/ hezu doppelt so viele Ausländer leben wie durchschnitt- CSU]: Aber gesteuert und begrenzt!) lich in den anderen Ländern der Europäischen Union. Nur ist es als politische rantwortungsträger Ve unsere Noch wichtiger ist die Frage: Wollen wir eine Lösung Pflicht und Schuldigkeit, die Integrationskraft und die für Deutschland, also nach deutschem Muster, auf 14 an- Integrationsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger indere Länder übertragen – ab nächstem Jahr auf zehn wei- Deutschland nicht zu überfordern und über Gebühr zu tere Länder – oder wollen wir im 21. Jahrhundert eine belasten, fortschrittliche Lösung für – das betone ich – Europa, die der Tatsache der Globalisierung Rechnung trägt? Sie, (Sebastian Edathy [SPD]: Das tut doch keiner! liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ha- – Zuruf der Abg. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast ben praktisch nur über Deutschland, Deutschland, [SPD]) Deutschland gesprochen. (B) (D) indem die ohnehin schon eine Größenordnung von Städ- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nun aber lang- ten wie Dortmund und Nürnberg umfassende jährliche sam! – [CDU/CSU]: Na, Zuwanderung von 600 000 Personen ungezügelt und na!) unkalkulierbar erhöht wird. Sie wollen den Ausländer an sich nicht. Er ist in Ihrer (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist sehr unsach- Weltanschauung ein Problem. lich, was Sie hier vortragen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bundesregierung kann an der entscheidenden DIE GRÜNEN – Clemens Binninger [CDU/ Stellschraube drehen. Der Bereich des Einwanderungs- CSU]: Haarsträubend! – Thomas Strobl [Heil- und Zuwanderungsrechts unterliegt auf europäischer bronn] [CDU/CSU]: Das ist wirklich Quatsch! – Ebene dem Einstimmigkeitserfordernis. Werden Sie, Weitere Zurufe von der CDU/CSU) meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regie- rungskoalition, daher endlich Ihrer nationalen Verant- Das ist keine Grundlage für eine humane und fortschritt- wortung gerecht! Verhindern Sie eine weitere Liberali- liche Lösung. sierung des Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrechts auf europäischer Ebene und sorgen Sie dafür, dass eine Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ausgewogenere und gerechtere Verteilung zwischen den Mitgliedsländern innerhalb der Europäischen Union er- Herr Kollege Bürsch, gestatten Sie eine Zwischen- reicht wird! frage des Kollegen Grindel? (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das brauchen wir uns von Ihnen nicht sa- Dr. Michael Bürsch (SPD): gen zu lassen!) Herr Grindel, wenn Sie später auf Ihre Zwischenfrage zurückkommen, gerne. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Eines will ich Ihnen aus didaktischen Gründen vor Augen führen – Stichwort: Europa; es ist immer wieder einmal gut, auf die Grundlagen einzugehen –: Der Euro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: päische Rat von Tampere hat im Oktober 1999 grundle- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollegegende politische Vorgaben für eine europäische Migrati- Michael Bürsch, SPD-Fraktion. onspolitik definiert. Die Eckpunkte lauten: 4036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Michael Bürsch (A) Erstens. Die Europäische Union soll eine umfassende EU berufen. Genau dies entspricht ureigenem deutschen (C) Asyl- und Einwanderungspolitik entwickeln und dabei Interesse. der Notwendigkeit der Kontrolle der Außengrenzen Rechnung tragen. – Das ist ein Auftrag. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zweitens. Die Gemeinschaft bekennt sich für die Berei- Herr Kollege Bürsch, lassen Sie jetzt eine Zwischen- che Flucht und Asyl umfassend zur Genfer Flüchtlingskon- frage des Kollegen Grindel zu? vention und zu den einschlägigen Menschenrechtsüberein- künften wie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dr. Michael Bürsch (SPD): Drittens. Es soll ein gemeinsames Konzept zur Inte- Ich freue mich über jedes Interesse von Herrn gration von Drittstaatsangehörigen erarbeitet werden,Grindel. die ihren rechtmäßigen Wohnsitz in der Europäischen Union haben. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Herr Kollege Bürsch, ich habe mich schon zu einer Viertens. Die gemeinsame Integrationspolitik wird da- Zwischenfrage gemeldet, als Sie von der Wagenburg rauf gerichtet, den rechtmäßig in der EU ansässigen Dritt- Deutschland sprachen. Können Sie bestätigen, dass es staatsangehörigen „vergleichbare Rechte und Pflichten beim EU-Gipfel in Nizza Bundeskanzler Schröder und wie EU-Bürgern zuzuerkennen“. der hier zeitweise anwesende Außenminister Fischer wa- Fünftens. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im ren, die sich dort massiv für das Prinzip der Einstimmig- wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ist inso- keit beim Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrecht weit auch von Bedeutung. eingesetzt haben, und können Sie mir einmal erklären, worin das Problem besteht, wenn wir verlangen, dass Genau darüber sollten wir heute reden, was Sie aber sich die Bundesregierung an das hält, was sie sich in nicht getan haben. Wir wollen eine europäische Rege- Nizza selbst eingehandelt hat – damals stand ich, wie Sie lung. Statt sich mit diesen Vorgaben von der europäi-wissen, vor der Tür und habe das genau verfolgt –, und schen Ebene zu befassen, haben Sie einen Antrag vorge- warum Sie uns jetzt vorhalten, dass wir die Bundesregie- legt, der einen schlichten Rückzug in nationalstaatliche rung an die Möglichkeit der Einstimmigkeit erinnern, Denkschemata verfolgt. die sie in Nizza selbst ausgehandelt hat? (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Es Dr. Michael Bürsch geht um die Vertretung deutscher Interessen!) (SPD): Ich beantworte Ihnen diese Frage gerne. Meine Ant- (B) (D) Wie widersprüchlich und zum Teil auch kontrapro- wort ergibt sich aus dem, was ich am Anfang meiner duktiv für unsere nationalen Interessen Ihre Vorstellun- Rede gesagt habe. Wir suchen eine europäische Lösung, gen sind, demonstriere ich an einem Beispiel – ichHerr Grindel. Eine solche Lösung kann nur ein Kompro- nehme hier das von Herrn Grindel angeführte Stichwort miss aus den Interessen von 15 europäischen Ländern der Lastenverteilung auf –: Es gibt eine Richtlinie zum sein. Es kann in keinem Falle heißen, dass sich ein Land vorübergehenden Schutz in Massenzustromsituationen, mit seinen Vorstellungen durchsetzt. wie es im EU-Deutsch heißt. DieseMassenzuflucht- Richtlinie reagiert auf die im Jugoslawienkonflikt verur- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Warum ist das sachte Massenflucht in Mitgliedstaaten der Gemein- verhandelt worden?) schaft in den 90er-Jahren. Angestrebt wird eine gerechte Diese Lösung müssen wir zusammen mit den anderen Lastenverteilung durch die EU-Ebene in Situationen des Ländern suchen, und zwar auf der Grundlage dessen, Massenzustroms. Flüchtlinge sollen gleichmäßig verteilt was alle beteiligten Länder wollen und was dann im eu- werden. Dabei obliegt es zwar den Mitgliedstaaten, die ropäischen Interesse ist. Dabei hilft das Einstimmig- Aufnahmekapazitäten mitzuteilen; damit ist aber nicht keitsprinzip, auf das Sie sich jetzt berufen, nicht weiter. zu hinterfragen, inwieweit die Richtlinie effektiv ist. Wir müssen anerkennen, dass dies nur mit Blick auf das geht, was wir für die europäische Ebene brauchen, zu der Die Richtlinie nimmt insbesondere ein deutsches An- demnächst nicht mehr 15, sondern 25 Länder zählen liegen auf: den Grundsatz der Aufgabenteilung und Las- werden. Wir müssen über unseren nationalen Tellerrand tengerechtigkeit. Inwieweit dieser Grundsatz noch wei- hinausschauen und die Wagenburg verlassen, die ich in terentwickelt werden könnte, ist hier nicht die Frage.ihren Anträgen sehe. Aber mit Maximalpositionen, wie Sie sie fordern, hätte die Bundesregierung die Verabschiedung dieser Richtli- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: nie unterminiert. Im Ergebnis wäre dann ein System der Fälschlicherweise!) Lastenverteilung bei Massenfluchtsituationen überhaupt Kolleginnen und Kollegen, es geht um ein solidari- nicht zustande gekommen. Dann hätten wir befürchten sches europäisches Gemeinwesen. Dafür müssen wir müssen, in einem erneuten Fall wiederum ein „Haupt- neues Recht schaffen und dürfen nicht eine Fortsetzung nachfrageland“ von Flüchtlingen zu werden. Das wollen deutschen Rechtes verlangen. sicherlich auch Sie nicht. Mit der nun verabschiedeten Richtlinie – hier hat die Bundesregierung in unserem In- An die Adresse des Kollegen Stadler richte ich einen teresse gehandelt – kann sich die Bundesrepublik aufHinweis zur Verbesserung seines berechtigten Anlie- eine gerechte Verteilung unter den Mitgliedstaaten der gens, was die Beteiligung des Parlaments angeht. Na- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4037

Dr. Michael Bürsch (A) türlich brauchen wir eine Rückkopplung. Aber muss es Bevor wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum(C) denn die Rückkopplung auf die nationale Ebene sein? Ist nächsten Tagesordnungspunkt kommen, darf ich Sie bit- dies tatsächlich die Ebene, die für eine europäische par- ten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. lamentarische Kontrolle richtig ist? Bei dem Bau des eu- ropäischen Hauses ist doch vielmehr anzustreben, dass (Die Anwesenden erheben sich) die Demokratisierung auf Gemeinschaftsebene erfolgt, Heute Mittag erreichte uns die Nachricht vom Tod was bedeutet, dass das Europäische Parlament beteiligt unseres Kollegen Jürgen Möllemann. Noch wissen wir wird. Wir sollten also nicht so sehr an unsere eigenen In- nichts über die näheren Begleitumstände seines plötzli- teressen denken, sondern sollten die europäischen Parla- chen Todes. mentarier an dem Gesetzgebungsverfahren beteiligen. Würden alle Mitgliedstaaten ihre Ausnahmen und Be- Jürgen Möllemann gehörte seit der siebten Wahlperi- schränkungen im Rahmen der europäischen Harmonisie- ode dem Deutschen Bundestag an. Er hat in dieser Zeit rung verankern wollen, dann wäre das Niveau des Har- auf Bundes- und Landesebene wichtige politische Positi- monisierungsprozesses zwangsläufig sehr niedrig.onen ausgefüllt. Die Kritik an seiner Person, die beson- Europäische Integration lässt sich auf diese Weise si- ders in den letzten Monaten in den Medien zu lesen war, cherlich nicht erreichen. darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Jürgen Möllemann in seiner jahrzehntelangen politischen Arbeit Insofern brauchen wir eine europäische Harmonisie- sehr viel Anerkennung erworben hat. rung von Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik Wir trauern um unseren verstorbenen Kollegen und auf einem hohen Niveau, genau so, wie es der Gipfel von drücken seiner Familie unser tief empfundenes Beileid Tampere 1999 beschrieben hat und wie Sie es damals aus. auch nicht bestritten haben. Die völkerrechtlichen Ver- pflichtungen und Maßstäbe des Menschenrechts müssen Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b dabei, wie es ebenfalls in Tampere gesagt worden ist,auf: eine entscheidende Rolle spielen; denn nur so wird durch gesamteuropäische Zuwanderungs- und Integrationspo- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- litik eine gleichmäßige Verteilung der Lasten und der richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Belastungen, die mit der Aufnahme von Drittstaatsange- schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung hörigen bzw. Asylsuchenden verbunden sein können, auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der alle Mitgliedstaaten erreicht. Internationalen Sicherheitspräsenz im Ko- sovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfel- Wir werden nur zu vernünftigen Ergebnissen kom- des für die Flüchtlingsrückkehr und zur mili- (B) (D) men, wenn alle Mitgliedstaaten tatsächlich bereit sind, tärischen Absicherung der Friedensregelung Abweichungen von ihrem Recht in Kauf zu nehmen und für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution anzunehmen. Dafür brauchen wir keine nationalen 1244 (1999) des Sicherheitsrats der Vereinten Scheuklappen, sondern den europäischen Blick. Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militä- Für die CDU/CSU hilft vielleicht ein Hinweis auf risch-Technischen Abkommens zwischen der Konrad Adenauer; meine Kollegin Akgün hat schon ei- Internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) nen solchen gegeben. Ich sage Ihnen etwas, was Konrad und den Regierungen der Bundesrepublik Adenauer in seiner Weisheit und in seiner Europaorien- Jugoslawien und der Republik Serbien vom tiertheit schon vor 50 Jahren geäußert hat: 9. Juni 1999 – Drucksachen 15/1013, 15/1118 – In der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang. Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) Gerade für die Europapolitik des 21. Jahrhunderts, für Dr. Friedbert Pflüger das Zeitalter von Globalisierung und des Wegfalls von Dr. Ludger Volmer Grenzen sollten Christdemokraten im Sinne Adenauers Dr. Werner Hoyer in der Tat einen neuen Anfang wagen. Nur Mut! b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gemäß § 96 der Geschäftsordnung DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das gilt auch für die SPD!) – Drucksache 15/1132 – Berichterstattung: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Abgeordnete Antje Hermenau Lothar Mark Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Jürgen Koppelin Drucksache 15/655 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre so beschlossen. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 4038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- stellt, dass das Grundgesetz den Bund ermächtigt, sich(C) gin Petra Heß, SPD-Fraktion. einem System kollektiver Selbstverteidigung wie der NATO anzuschließen und sich mit eigenen Streitkräften Petra Heß (SPD): an Einsätzen zu beteiligen, die im Rahmen solcher Sys- teme vorgesehen sind und nach ihren Regeln stattfinden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Einsatz stellte so- Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich mit keinen Verstoß gegen das Grundgesetz dar. angesichts meiner kurzen Redezeit darauf verzichte, noch einmal alle Argumente anzuführen, die dafür spre- Die Regierungsparteien haben im Zusammenhang mit chen, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen. dem Einsatz im Kosovo vielfach unsachliche Schelte und Kritik seitens der Friedensforschung und aus den Keinem ist der Beschluss seinerzeit leicht gefallen. Reihen der Friedensbewegung erfahren müssen. Der Di- Der damalige Verteidigungsminister alog war stellenweise schwierig oder gar unterbrochen. selbst war es, der einräumte, dass alle in der Regierung Auf beiden Seiten besteht aber das Interesse, gerade Bedenken hatten. Um eine humanitäre Katastrophe im auch bei der Suche nach Antworten auf die genannten Kosovo zu verhindern, blieb jedoch keine andere Wahl. neuen Herausforderungen, diesen kritischen Dialog fort- Wenn man heute, Jahre später, die Berichte liest und zusetzen. vor Ort sieht, was sich dort bereits entwickelt hat, so Immanuel Kant zeigt das, was sich im Kosovo noch entwickeln kann. Ich Der Philosoph hat schon vor mehr denke, dass man aus diesem Grunde seine Meinung hin- als 200 Jahren den Anspruch erhoben, dass der Frieden sichtlich der Auslandseinsätze der Bundeswehr ruhigals eine Bedingung, als Mittel und Ziel allen politischen korrigieren darf. Handelns zu gelten hat. Vor diesem Hintergrund dienen die Soldaten im Kosovo dem wohl größten Ziel und der (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Jawohl!) größten Sehnsucht der Menschheit. Ich selbst habe das jedenfalls getan und auch andere ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben ihre Haltung in dieser Frage geändert. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Auf welch wackligen Beinen der Frieden im Kosovo FDP) nach wie vor steht, belegen Beispiele: die serbische Leh- Ich denke im Übrigen, die Bundeswehr wird heute rerin, die auf ihrem täglichen Arbeitsweg von KFOR- weltweit als Armee des Friedens und der Freiheit wahr- Soldaten begleitet werden muss, das Kloster, das vongenommen. Mit dem Einsatz im Kosovo wird sie diesem deutschen Soldaten bewacht werden muss, oder die Ort- Urteil einmal mehr gerecht. (B) schaft Nowake, immer noch ein gefährdetes Vorzeige- (D) projekt für die Rücksiedlung von serbischen Flüchtlin- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das war sie gen, in der mit EU-Geld Häuser wieder aufgebaut schon immer!) werden. Deutsche Soldaten wachen über die Sicherheit der Menschen. Sie tunFriedensdienst, und zwar im Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass wahrsten Sinne des Wortes. im Bundestag hinsichtlich dieses Einsatzes der Bundes- wehr ein so großes Einvernehmen herrscht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU und der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich stimme mit Verteidigungsminister Struck überein, Das sind wir den Menschen in der Region schuldig, das der sagt, der Einsatz von KFOR und SFOR gleiche ein sind wir aber auch unseren Soldatinnen und Soldaten wenig der Hilfe eines Großvaters, der das Enkelkind auf schuldig, die ein Recht darauf haben, bei ihrem schwieri- dem Fahrrad hält. Wie er bin ich der Meinung, dass En- gen und gefährlichen Dienst die breite Unterstützung des kelkinder irgendwann auch alleine fahren müssen, doch Deutschen Bundestages hinter sich zu wissen. ist das Kind zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach noch Ich möchte es daher nicht versäumen, allen Soldatin- nicht so weit. Ich füge hinzu und gebe zu bedenken:nen und Soldaten der Bundeswehr ganz herzlich zu Stürzt ein Kind, weil es zu früh losgelassen wird, wird danken, die für Freiheit und Demokratie im Kosovo ein- seine Angst umso größer und es dauert nur noch länger, treten und eine unverzichtbare Aufbauarbeit leisten. bis es sich das nächste Mal allein aufs Fahrrad traut. Das KFOR-Mandat ist die Voraussetzung für denzi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vilen Wiederaufbau. Das Kosovo hat die entscheidende des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Schlüsselfunktion bei der Orientierung der gesamten Re- CDU/CSU und der FDP) gion hin zu einem Europa der Integration. Demnach ist Ich füge abschließend hinzu: Ich möchte auch ihren Fa- das Mandat für Frieden und Stabilität unerlässlich. milien dafür danken, dass sie diese Entscheidung mittra- Versuche, die behauptete Unrechtmäßigkeit des Ko- gen. sovo-Einsatzes und einer Beteiligung an ihm gerichtlich Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. feststellen zu lassen, haben in keinem Fall zum Erfolg geführt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gründung seines Beschlusses vom 25. März 1999 klarge- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4039

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mandats im allerletzten Moment. Heute ist der 5. Juni.(C) Liebe Kollegin Heß, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers- Jeder weiß, dass dieses Mandat am 11. Juni auslaufen ten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnenwürde, wenn wir nicht heute den Verlängerungsbe- persönlich und politisch alles Gute. schluss fassen. In sechs Tagen ist überhaupt keine Dis- kussion möglich. (Beifall) Zweitens. Es fehlt – ich habe es eingangs schon er- Das Wort hat der Kollege Kurt Rossmanith, CDU/wähnt – eine klare Aussage darüber, dass dieVerlänge- CSU-Fraktion. rung nur für ein Jahr gilt und dann ein neuer Beschluss gefasst werden muss, wenn die Voraussetzungen gege- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): ben sein sollten. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Herren! Wir haben jetzt zum wiederholten Male eine Entscheidung über die Verlängerung des Mandats für un- Drittens. In diesem Antrag sind keinerlei Aussagen finanziellen Auswirkungen sere Streitkräfte, derzeit 3 800 Soldaten, im Kosovo zu über die enthalten. Es steht treffen. Ich betone ausdrücklich, dass die CDU/CSU ei- nur ganz lapidar in einem Satz, dass im Haushalt Vor- ner erneuten Verlängerung des Mandats nur unter dersorge getroffen worden sei. Das ist überhaupt nicht mög- Bedingung zustimmt, dass sie auf ein weiteres Jahr be- lich; denn der Haushalt 2004 wurde in diesem Parlament fristet wird, auch wenn diese Befristung im Antrag ex- und in den entsprechenden Ausschüssen noch nicht dis- pressis verbis nicht enthalten ist. Vor Ablauf eines Jahres kutiert, geschweige denn beschlossen. werden wir uns über mögliche weitere Verlängerungen Der vierte Punkt, den ich hier ansprechen will, betrifft zu unterhalten haben. die Haushaltslage. Jeder weiß: Das Finanzkorsett für Ich sage Ihnen aber auch, dass uns diese Entschei-unsere Streitkräfte ist viel zu eng. Herr Bundesminister dung alles andere als leicht fällt. Natürlich hat sich die Struck, die 24,4 Milliarden Euro sollen bis 2006 verste- Sicherheitslage im Kosovo verbessert und auch die po- tigt werden. Man muss es der Bundesregierung lassen: litische Konsolidierung macht deutliche Fortschritte. Al- Um Wortschöpfungen ist sie nicht verlegen. Jeder, der lerdings können wir bei weitem noch nicht zufriedendraußen das Wort verstetigen hört, meint, das sei eine sein. Erinnern wir uns daran, dass im Juni 1999, als das ganz tolle Sache. Im Endeffekt heißt verstetigen aber, Mandat mit unserer ersten Zustimmung beschlossendass die Mittel weiter abnehmen, weil die laufenden wurde, nicht nur die Sicherheitslage, sondern die ge-Kosten bis zum Jahr 2006 ansteigen werden. samte Lage im Kosovo äußerst fragil war. Ich glaube, es Dass aber die Zusage, die sowohl vom Bundeskanzler (B) ist mit ein ganz wesentliches Verdienst unserer dort ein- als auch vom Finanzminister zu hören war, die Streit-(D) gesetzten Soldaten, dass sich die Situation innerhalb die- kräfte würden von den Streichungen ausgenommen, ser vier Jahre so deutlich, wenn auch – ich betone eslängst konterkariert wird, zeigt der gestrige Hinweis des noch einmal – bei weitem noch nicht zufriedenstellend, Finanzministers, dass von der vorgesehenen Haushalts- zum Positiven entwickelt hat. sperre in Höhe von 100 Millionen Euro die Streitkräfte (Beifall bei der CDU/CSU) nicht ausgenommen werden. Sie sind zwar nur mit 8 Millionen Euro betroffen, aber sie wurden nicht ganz Deshalb ist die internationale Öffentlichkeit voll des Lo- ausgenommen. Deshalb ist die Aussage, dass die Streit- bes über die Arbeit und die Pflichterfüllung unserer Sol- kräfte von eventuellen Kürzungen ausgenommen wer- daten, die sich durch ein umsichtiges Handeln und eine den, als sehr vage zu beurteilen. große Professionalität auszeichnen. Auch ich möchte mich dem Dank anschließen. Ich betone ausdrücklich (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Kurt, noch einmal den Dank an unsere Soldaten, die dort im sag doch mal etwas zum Mandat!) Kosovo Dienst leisten, aber auch an alle Soldaten der Die Realität und die Aussichten für unsere Streitkräfte Bundeswehr, die außerhalb unseres Vaterlandes sind in sehr düster. Deshalb – das darf ich abschließend schwierigen Einsätzen Dienst leisten für die Wiederher- noch sagen – fällt es uns nicht leicht, zuzustimmen. stellung von Frieden und Freiheit und zum Wohle der Wenn wir das dennoch tun, dann schlicht und einfach in dort lebenden Menschen. der Gewissheit, dass absehbar ist – das hoffe ich zumin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie dest; das wurde uns in der Vergangenheit dargelegt –, Anzahl der Bundeswehrsoldaten bei Abgeordneten der SPD) dass die im Kosovo von der Kürzung der Mannschaftsstärke insgesamt be- Man kann nicht oft genug betonen, meine sehr verehr- troffen sein wird, sodasswir in Zukunft nicht mehr ten Damen und Herren, dass es uns die derzeitige Koali- 3 800 Soldaten dorthin entsenden müssen. tion von Rot und Grün nicht leicht macht, einen derarti- gen Antrag zu unterstützen oder einen BeschlussHerr Bundesminister Struck, mein letzter Satz: Tragen mitzutragen. Ich will dazu kurz einige Punkte festhalten: Sie dafür Sorge – nicht erst seit der Diskussion um Af- ghanistan vor wenigen Tagen –, dass unsere Streitkräfte, Erstens. Die Frage geht an die Bundesregierung, aber die im Ausland im Einsatz sind, die notwendige Ausrüs- natürlich auch an die sie tragenden Fraktionen: Weshalb tung erhalten und dass dort, wominensichere Fahr- lassen die sich hier alles gefallen? Zum wiederholtenzeuge notwendig sind, sie in erforderlicher Anzahl vor- Male erhalten wir denAntrag zur Verlängerung des handen sind. Das ist eine Bitte und eine Aufforderung, 4040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Kurt J. Rossmanith (A) die uns alle berührt. Eine derartige Zusage würde uns die wichtig es ist, dass die internationale Gemeinschaft dort (C) Zustimmung wesentlich erleichtern. weiterhin mit der militärischen Schutztruppe engagiert bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die internationale Gemeinschaft hat die Formel ge- Nächster Redner ist der Kollege Ludger Volmer,prägt, dass im Kosovo zunächst einmal die demokrati- Bündnis 90/Die Grünen. schen Standards, die Standards des Zusammenlebens und die multiethnischen Standards festgelegt werden Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): müssen, bevor man über den Endstatus des Kosovo dis- kutieren kann; das war auch immer die Auffassung von Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Steiner und der Bundesregierung. Diese Formel bleibt ren! Dass wir heute so unaufgeregt und relativ harmo- vielleicht richtig. Jeder bekommt aber mit, dass subtil nisch über das Thema Verlängerung des KFOR-Einsat- über den Status geredet wird. Ohne harte Thesen in der zes reden können, zeigt, dass die Befassung mit diesem Debatte aufzustellen, sollte man sich vielleicht den einen Thema zu einer gewissen Routine geworden ist, aller- oder anderen experimentellen Gedanken erlauben, um dings zu einer Routine, die zwiespältig zu beurteilen ist. nicht nur der Statusfrage näher zu kommen, sondern Positiv daran finde ich, dass es zur Normalität gehört auch, um die Entwicklung der Standards zu beflügeln; und dass es akzeptiert wird, dass sich die Bundeswehr an denn man könnte ja auch die These aufstellen, dass die internationalen Friedenseinsätzen – ich betone:Frie- Entwicklung der Standards von dem vorgestellten End- denseinsätzen – beteiligt. Der Einsatz im Kosovo hat status abhängig ist. deutlich gemacht, dass es nach wie vor notwendig ist, Es ist ein Unterschied, ob diejenigen, die nationale dass eine stabilisierende internationale Schutzmacht vor oder nationalstaatliche Ambitionen haben, sich dabei ei- Ort ist, um den Wiederaufbau und den Konsolidierungs- nen altmodischen Nationalstaat vorstellen, der sich ge- prozess in dieser Region zu begleiten. genüber den Nachbarn igelig und stachelig darstellt, Der Grund, warum es als zwiespältig zu beurteilen ist, möglichst krass abgrenzt und von einem möglichst gro- besteht darin, dass wir heute zum wiederholten Male das ßen Imponiergehabe geprägt sein muss, oder ob dies ein Mandat verlängern müssen. Das ist ein Indiz dafür, dass Nationalstaat ist, dessen Nationalstaatlichkeit in einem die selbsttragenden Friedens- und Entwicklungspro-vorgestellten europäischen Prozess schon wieder ver- zesse, die wir uns für die Region erhofft hatten, nochflüssigt wird. Nicht zuletzt deshalb sollten wir parallel (B) nicht die Dynamik gewonnen haben, die wir wollten.zur Befürwortung von KFOR wieder die Diskussion auf- (D) Deshalb können wir heute feststellen: Wir brauchennehmen und verstärken, die wir immer mal wieder ge- nach wie vor den Einsatz von KFOR im Kosovo. Des- führt haben. Diese wird jetzt vielleicht notwendiger als halb werden wir ihm auch zustimmen. Neben und be- zuvor, da wir hier den ropäischen eu Erweiterungspro- gleitend zu diesem Einsatz brauchen wir aber neue poli- zess beschlossen haben. Wir sollten darauf hinarbeiten, tische Initiativen, um endlich zu einem nachhaltigendass alle Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawi- Frieden zu kommen. ens, auch diejenigen, die heute noch nicht an dem Pro- zess beteiligt sind, eine europäische Perspektive erhalten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Markus In diesem Sinne begrüßen wir es auch, dass die De- Löning [FDP]) batten in den letzten Monaten wieder an Dynamik ge- wonnen haben. Wir sehen viele positive Elemente in der und diese europäische Perspektive sehen und nutzen, um Entwicklung des Kosovo, etwa die Integration ehemali- ihre eigenen nationalstaatlichen Vorstellungen an dem ger UCK-Kämpfer in ordentliche Sicherheitsagenturen. europäischen Modell zu überprüfen und zu relativieren, Wir hoffen zumindest, dass diese Integration gelingt.um dadurch möglicherweise auch die Entwicklung der Darüber hinaus sehen wir Fortschritte im Verwaltungs- internationalen Standards, die wir uns wünschen und aufbau und im Bildungswesen. vorstellen, zu beschleunigen. In diesem Zusammenhang sollten wir dem deutschen Es geht also um eine europäische Perspektive. Alle Diplomaten Michael Steiner, der dort nun als Sonderbe- Bürger der europäischen Staaten, auch die derBalkan- auftragter für die UNO fungiert, zum Ende seiner Amts- staaten, die ansonsten in naher Zukunft vom EU-Inland zeit einen sehr herzlichen Dank für sein großes Engage- umgeben sein werden, müssen die Möglichkeit haben, ment aussprechen. sich selbst als Bürger dieses vereinigten Europas zu be- greifen und zumindest perspektivisch dort ihre Entwick- (Beifall im ganzen Hause) lungsrichtung zu sehen. Wenn man das Engagement von Steiner kennt, sich an- Wir hoffen, dass dies positive Auswirkungen auf die sieht, wie viel er im positiven Sinne dort durcheinander- Entwicklung der Standards hat und die militärische Flan- gerüttelt und zusammengebracht hat und sich die dorti- kierung auf mittlere Sicht überflüssig macht. gen Defizite anschaut, dann kann man ermessen, wie riesig die Aufgabe ist, dienoch vor uns liegt, und wie Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4041

Dr. Ludger Volmer (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehend beseitigt? Geht es nun nicht vorrangig um den(C) und bei der SPD sowie des Abg. Markus politischen Wiederaufbau im Kosovo? Ich sage noch Löning [FDP]) einmal: Hier steht die gesamte Bundesregierung in der Verantwortung. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ein per- Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Frak- sönliches Wort. Sie werden verstehen, dass es mir als tion, das Wort. Abgeordneten der FDP aus Nordrhein-Westfalen, der den Kollegen Möllemann – er war einer meiner Vorgän- Günther Friedrich Nolting (FDP): ger im Amt des verteidigungspolitischen Sprechers – mehr als 30 Jahre gekannt hat, nicht leicht fällt, heute Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- hier zu stehen. Ich meine, dass beim Tod eines Kollegen deswehr bleibt auch weiterhin ein verlässlicher Partner. die politischen Differenzen beiseite zu stehen haben. In Sie ist größter Truppensteller im Rahmen internationaler diesen Stunden und Tagen haben wir an die Familie zu Friedenseinsätze. Viele tapfere und tüchtige Soldatinnen denken, an die Ehefrau und an die Kinder. und Soldaten riskieren ihr Leben für Deutschlands au- ßenpolitische Reputation und vor allem für die notwen- Vielen Dank. dige Sicherung des Friedens in der Welt. Dafür möchte auch ich den Soldatinnen undSoldaten an dieser Stelle (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie im Namen der gesamten FDP-Fraktion danken. bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: NISSES 90/DIE GRÜNEN) Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Detlef Ich danke aber auch den Soldatinnen und Soldaten, Dzembritzki für die SPD-Fraktion. die hier vor Ort in Deutschland eine hervorragende Ar- beit leisten. Den Willen der Politik, lediglich mit einem Detlef Dzembritzki (SPD): Bundestagsbeschluss und der fortlaufenden Freigabe von etwas mehr als 1 Milliarde Euro für die Verlänge- Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr ge- rung des SFOR- und KFOR-Einsatzes zu bekunden,ehrte Kollegen! Vor einigen Tagen erklärte der Leiter des wäre zu einfach und zu wenig. Es muss vielmehr von po- Stabilitätspaktes, Erhard Busek, in einem Interview, es litischer Seite gewährleistet werden, dass beste Voraus- gebe heute auf dem Balkan keine militärische Bedro- setzungen für eine professionelle Vor-Ausbildung und hung mehr. Ganz so optimistisch, wie Herr Busek dies (B) (D) die Unterstützung deutscher Kräfte im Ausland durch sieht, schätze ich die Lage noch nicht ein. Ich denke, Bereitstellung modernster Ausrüstung und modernsten trotz der grundsätzlichen Aussagen aller meiner Vorred- Materials geschaffen werden. Dazu gehört auch die beste nerinnen und Vorredner haben wir, als wir uns auf dieses Betreuung der Familien und der Freunde in Deutsch- Mandat einließen, gewusst, dass wir dafür einen langen land. Nur so kann ein andauerndes Engagement in inter- Atem brauchen würden. nationalen Einsätzen stattfinden und die Motivation der Ein Teil der Wegstrecke hin zu einem stabilen und de- Soldatinnen und Soldaten erhalten bleiben. Auch über mokratischen Kosovo ist zurückgelegt, aber es bleibt Einsatzlänge Einsatzhäufigkeit die und die werden wir noch viel zu tun. Solange Wohngebiete mit Waffenge- uns im Verteidigungsausschuss und auch hier im Deut- walt vor Übergriffen zu schützen sind und Zivilisten es- schen Bundestag noch einmal unterhalten müssen. Hier kortiert werden müssen, wird es ohne militärische Prä- brauchen wir Veränderungen und Verbesserungen. senz nicht gehen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Einsatz im Kosovo muss verlängert werden. Da- Der KFOR-Einsatz im Kosovo hat gewalttätige Aus- für steht die FDP-Bundestagsfraktion. Wir werden dem einandersetzungen erfolgreich verhindert. Dennoch Antrag zustimmen. Aber es darf nicht zu einem Verlän- kommen wir nicht umhin, uns über kurz oder lang mit gerungsautomatismus kommen. Herr Kollege Volmer, einigen elementaren Fragen auseinander zu setzen. Sie haben es angesprochen und ich schließe mich Ihnen Hierzu gehört – Herr Volmer hat das angesprochen – gerne an: Dies darf nicht zur Routine werden. Die Auf- auch die Diskussion über den völkerrechtlichen Status träge der Soldaten – ich hoffe, dass wir hier übereinstim- des Kosovo. Ich finde es aber auch notwendig, nochmals men – müssen ständig auf Aktualität und Notwendigkeit darauf hinzuweisen, dass ein erkennbarer oder ein noch überprüft werden. Nicht nur ich, sondern auch die Solda- erkennbarerer Prozess, als das vielleicht jetzt schon der tinnen und Soldaten stellen sich die Frage: Warum und Fall ist, notwendig wird, damit der innergesellschaftliche wie lange bleibt die Bundeswehr im Kosovo? Die Bun- Dialog, der sich mit den Pflichten und den Standards ei- desregierung muss die Frage beantworten: Wie sieht das ner gedeihlichen Koexistenz auseinander zu setzen hat, politische Ziel einer fortwährenden Präsenz aus? erkennbar wird und damit die Toleranz und das gedeih- Herr Struck und Herr Außenminister Fischer, hierliche Zusammenleben akzeptiert werden. Ich denke, das sind Sie gefragt. Auch Sie müssen sich fragen lassen: Ist ist eine unabdingbare Forderung, die wir hier immer die Aufbauhilfe durch die CIMIC-Verbände überhaupt wieder einzubringen haben. Bei diesen Pflichten und noch notwendig? Sind die Kriegsschäden nicht weit-Standards beziehe ich ausdrücklich die Roma ein, die 4042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Detlef Dzembritzki (A) gewiss nicht am wenigsten gelitten haben, deren Leiden sondern prosperierender Teil unserer Europäischen(C) jedoch am wenigsten beachtet wurde und wird. Union wird. Die UN-Verwaltung und ihre Repräsentanten haben (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE im Kosovo sicher eine großeAufbauleistung voll- GRÜNEN und der FDP) bracht. Ich möchte hier den Einsatz von Herrn Steiner Parlamentariererkonferenzen würdigen, ich möchte an dieser Stelle aber auch aus-Verschiedene auf euro- drücklich die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, päischer Ebene, zuletzt Ende Mai in Brüssel, haben ver- die in diesem Bereich tätig sind – was ja ebenfalls nicht deutlicht, dass die Länder Europas bereit sind, Verant- immer ungefährlich ist –, einbeziehen. Das gilt für die wortung zu übernehmen. Ich gehe davon aus, dass der EU-Gipfel in Thessaloniki öffentlich Bediensteten wie auch für die Nichtregie-anstehende dem Balkan ei- rungsorganisationen, die sich im Kosovo einbringen. nen konkreten Fahrplan in die Europäische Union auf- zeigen wird. Eben für diese Perspektive stehen auch die (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Soldatinnen und Soldaten – Herr Rossmanith, anders als Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Sie das hier formuliert haben – gut ausgerüstet und mit GRÜNEN) voller Fürsorge unseres Bundesverteidigungsministers im Kosovo. Die Entwicklung von Strukturen der Staatlichkeit und der Selbstverwaltung des Kosovo schreiten voran. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Waren Sie Doch mit dem Installieren von Institutionen wie dem frei noch nie dort?) gewählten Parlament oder den Gemeindevertretungen ist es nicht getan. Es bedarf vielfältiger Anstrengungen, um Ihr Einsatz ist dennoch nicht ungefährlich; die Trennung diese Institutionen auch wirklich mit Leben zu erfüllen. von ihren Familien ist schmerzlich. Umso mehr will ich Nach meinen Erfahrungen, Kolleginnen und Kollegen, den Soldatinnen und Soldaten danken und ihnen Glück können auch wir Parlamentarier uns im persönlichenund Erfolg für die Fortsetzung ihrer Mission wünschen. Austausch einbringen; sowohl auf bilateraler wie auf Vielen Dank. multilateraler Ebene können wir einiges bewirken. Wir alle sollten jede Gelegenheit nutzen, in Gesprächen mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen und Multiplikatoren der Region die Bereit- DIE GRÜNEN) schaft der dortigen Akteure zu befördern, miteinander den konstruktiven Dialog zu pflegen; Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion. (B) denn die jungen politischen Systeme des Balkans sind (D) durchaus noch fragil. Sie sind durch extremistische, natio- Dr. Andreas Schockenhoff nalistische Positionen gefährdet und haben daher jede (CDU/CSU): Unterstützung von uns nötig. Die geringe Beteiligung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! der Bürgerinnen und Bürger des Kosovo an den Wahlen Die Debatte hat gezeigt, dass wir uns in der Einschät- ist nur ein Indiz für die noch mangelnde Akzeptanz der zung der Lage im Kosovo nicht unterscheiden. Der Weg demokratischen Organe. Die verbreitete Ansicht, dass zur Bildung einer demokratischen Gesellschaft ist Politik mit Korruption und Vetternwirtschaft Hand inschwierig und die Stabilität des Kosovo ist weiterhin Hand geht, ist ein weiteres Indiz. durch ethnische Gegensätze, organisierte Kriminalität und politischen Extremismus gefährdet. Herr Volmer, Sie haben zu Recht auf die Notwendig- keit der Veränderungsprozesse hingewiesen. Deswegen Wir erfahren von verstärkten Spannungen zwischen stimme ich an dieser Stelle Herrn Busek ausdrücklich den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und von zu, wenn er für eine Taskforce für Polizei, Justiz undder schwindenden Akzeptanz der internationalen Sicher- Verwaltung optiert. Gerade im Kosovo, aber auch in an- heitspräsenz. Sowohl die zivile Mission der Vereinten deren Regionen des Stabilitätspaktes müssen konse-Nationen UNMIK als auch die militärische Mission quente Anstrengungen für eine durchsetzungsfähigeKFOR werden zunehmend als Protektorat empfunden. Rechtsstaatlichkeit unternommen werden. Organisier- Die KFOR hat in diesem schwierigen Umfeld weiter- tes Verbrechen und korrupte Strukturen müssen be-hin eine Schlüsselrolle für die öffentliche Sicherheit kämpft werden. Erst dann werden in ausreichendeminne. Deswegen muss das Mandat – auch darüber sind Maße Investitionen in der Region erfolgen und einwir uns einig – verlängert werden. Wir wissen aber auch, Wirtschaftssystem selbsttragendes entstehen können. dass das Mandat nicht unbedingt einfacher wird. Das ist insbesondere für diese Region notwendig, weil dort 70 Prozent der Menschen arbeitslos sind und die Wir müssen nüchtern feststellen, dass kaum nachhal- meisten ihren Unterhalt nur über Transfergelder decken tige Fortschritte in der wirtschaftlichen und sozialen Ent- können. wicklung zu verzeichnen sind und dass deshalb nur ein geringer Rückzug von Vertriebenen erfolgt. Bei allen Leistungen, die die Vereinten Nationen im Kosovo erbracht haben, bin ich davon überzeugt, dass Stattdessen nimmt der politische Streit über die offene die Europäische Union in Zukunft eine noch stärkereFrage des künftigen Status des Kosovo wieder zu. Das Rolle wird übernehmen müssen. Es liegt in unserem ur- Prinzip „Standards vor Status“ ist richtig. Wir müssen eigenen Interesse, dass der Balkan nicht Krisenherd,zuerst praktische Fragen regeln, die Sicherheitslage ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4043

Dr. Andreas Schockenhoff (A) bessern und schrittweise Kompetenzen an die lokalen über die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der(C) Selbstverwaltungsorgane übertragen. Aber die Verbesse- Entsendung der Bundeswehr verabschieden. Die jetzige rung der Standards erfolgt, wenn überhaupt, viel zu lang- Regelung – das gilt auch für Debatten wie die heutige, die sam. Deshalb wird die Lösung der Statusfrage wieder in wir inzwischen fast jedes halbe Jahr führen – ist der Praxis weitere Ferne rücken. Damit ist ein erfolgreicher Ab-nicht angemessen. Wir brauchen ein Entsendegesetz, das schluss der KFOR-Mission aus heutiger Sicht zeitlich die Verantwortung des Bundestages klarstellt. Aber die nicht absehbar. Definition eines Einsatzes der Bundeswehr muss in Ih- rem Hause, Herr Struck, und darf nicht im Geschäftsord- UNMIK Nach unserer Auffassung muss vor allem die nungsausschuss des Deutschen Bundestages erfolgen. mehr Einfluss nehmen, um die Dynamik des politischen Wir sollten uns zügig eine entsprechende gesetzliche Re- Prozesses, den Sie zu Recht angemahnt haben, Herrgelung geben. Volmer, zu verstärken und die Konfliktparteien vor Ort stärker zu Kompromissen zu drängen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit großer Sorge verfolgen wir auch den seit Wochen Ich hoffe, dass wir das in der gleichen Übereinstimmung schwelenden Streit über die Präsenz der EU-Militär-tun werden, mit der wir heute das Mandat für den Ein- truppe in Mazedonien. In den letzten Woche hat der ma- satz der Bundeswehr im Kosovo verlängern. zedonische Verteidigungsminister angekündigt, seine Vielen Dank. Regierung werde die Anwesenheit der EU-Truppen über den September hinaus nicht dulden. Wenn aber der Mili- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) täreinsatz der Europäischen Union den Konflikt zwi- schen der albanischen Minderheit und der slawischen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mehrheit nicht schlichtet, sondern im Gegenteil neuen Streit auslöst, hat das auch erheblichen Einfluss auf den Ich schließe die Aussprache. Kosovo und die Präsenz der KFOR. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Wir bitten Sie deshalb, Herr Außenminister, gegen- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa- über den Vertretern der slawisch-mazedonischen Regie- che 15/1118 zu dem Antrag der Bundesregierung auf rung sehr deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass sie Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internatio- mit einer Ablehnung der Fortsetzung der EU-Mission nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss und damit wahrscheinlich einer weiteren Zerstückelung empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1013 anzuneh- des ohnehin kleinen Landes keine Fortschritte auf dem men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Weg der Annäherung an Europa erzielen können undgenprobe! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss- (B) dass sie auf diesem Weg einer EU-Mitgliedschaft sicher- empfehlung bei drei Gegenstimmen mit Zustimmung(D) lich nicht näher rücken können. aller übrigen anwesenden Mitglieder des Bundestages angenommen. Herr Verteidigungsminister, Sie haben unlängst neue verteidigungspolitische Richtlinien vorgelegt, denen zu- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: folge der Hauptauftrag der Bundeswehr nicht mehr in Beratung des Antrags der Abgeordneten erster Linie in der Landesverteidigung im herkömmli- Dr. Heinz Riesenhuber, Karl-Josef Laumann, chen Sinn bestehen soll, sondern in der Kriseninterven- Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der tion in Regionen, in denen unsere Sicherheitsinteressen Fraktion der CDU/CSU auf dem Spiel stehen. Das ist richtig und wir unterstüt- zen das nachdrücklich. Für eine neue Beteiligungskultur – Eigenkapi- talsituation von jungen Technologieunterneh- Wir unterstützen auch, dass eine neue Ausrichtung men durch Mobilisierung von Beteiligungska- der Bundeswehr diesem neuen Auftrag gerecht wird. pital und Mitarbeiterbeteiligungen verbessern Wir müssen dann aber – auch angesichts der vergange- nen Monate – offen und vorurteilsfrei über die Formen – Drucksache 15/815 – der Bedrohungen reden. Wir müssen außerdem darüber Überweisungsvorschlag: reden, bei welchen Konstellationen Einsätze der Bun- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) deswehr außerhalb des NATO-Gebiets legitim sind. Frau Rechtsausschuss Finanzausschuss Kollegin Heß hat vorhin auf eine schwierige Diskussion Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und innerhalb der Koalitionsfraktionen zu Beginn des Ko- Landwirtschaft sovo-Konflikts hingewiesen und hat zumindest deutlich Ausschuss für Bildung, Forschung und gemacht, dass es Situationen gibt, in denen auch ohne Technikfolgenabschätzung ein Mandat der Vereinten Nationen ein Kampfeinsatz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss nicht nur erforderlich, sondern auch legitim sein kann. Ich glaube, dass wir das als einen Acquis der deutschen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Position für zukünftige Debatten festhalten sollten, die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich wir mit unseren Bündnispartnern führen werden. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Herr Volmer, Sie haben die Routine angesprochen, mit Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als der wir inzwischen Mandate für Bundeswehreinsätze ver- Erstem dem Kollegen Professor Riesenhuber für die längern. Ich glaube, es ist überfällig, dass wir ein Gesetz CDU/CSU-Fraktion. 4044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Was sich aus dem SBI- und dem SBIC-Programm entwi- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undckelt hat, wissen wir alle: Da ist eine Entwicklung dyna- Herren! Liebe Kollegen! Es ist nicht ganz einfach, in der misch begleitet worden, als eine kritische Masse von Stunde zur Tagesordnung überzugehen, in der wir die jungen Unternehmen da war, und zwar dadurch, dass Nachricht über den Tod von Jürgen Möllemann bekom- man die Steuern gesenkt hat, die capital gain tax halbiert men haben. Er war über viele Jahre ein Weggefährte im bzw. weiter gesenkt hat. Das heißt: Der Staat hat schritt- Streit und in der gemeinsamen Arbeit. Wir fühlen mit weise Raum geschaffen. seiner Familie. So haben wir vor 20 Jahren angefangen. Wir haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der versucht, aus den Fehlern anderer zu lernen. Nicht alles, SPD und der FDP) was die Amerikaner gemacht haben, war von vornherein optimal. Was wir hier angefangen haben, hat sich in ei- Wir haben heute einige neue Nachrichten erhalten,ner außerordentlichen Dynamik entwickelt. Zu nennen die bedrückend sind. Die Arbeitslosigkeit im Mai war sind die Technologiezentren, der Versuch, Cluster und wahrscheinlich die höchste, die es jemals in diesem Mo- kritische Massen zu bilden, zusammenzuführen, was aus nat gegeben hat. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel unterschiedlichen Bereichen kam, die Vernetzung von hat neue Prognosen über die WirtschaftsentwicklungSparkassen, Banken, Versicherungen, Kommunen und vorgelegt und rechnet in diesem Jahr mit einem Null-Infrastruktur, mit der Wissenschaft. Aus alldem ist etwas wachstum. Der Exportindikator zeigt weiter nach unten. entstanden, das sich weiter entwickelt hat, gestützt durch Das Institut für Weltwirtschaft erwartet, dass es im lau- das BTU-Programm mit staatlichen Zuschüssen zur fenden Jahr durchschnittlich 4,5 Millionen Arbeitslose Gründung. Aber zugleich hat sich der Staat immer wei- geben wird. Die veröffentlichten Zahlen sind sehr dra- ter zurückgezogen. Der Staat hat Raum geschaffen. Statt matisch. Zuschüssen gab es Bürgschaften; zugleich kam eine pri- Die Programme der Bundesregierung ziehen nicht. vate Venture-Capital-Szene auf, die eine große Dynamik Das Job-AQTIV-Gesetz dümpelt bestenfalls vor sichentwickelt hat. hin. Der Jobfloater ist nach dem, was jetzt veröffentlicht Parallel dazu – das können wir heute nicht diskutie- worden ist, an der Grenze des Flops. Die Ich-AGs starten ren; das will ich auch nicht beschreiben – gab es eine sehr langsam. Das alles belegt, dass die einzelnen Maß- Entwicklung, die die neuen Techniken mit großem nahmen nicht wirksam sind. Die Menschen sind nicht Schwung vorangebracht hat. Die Biotechnologie hat an wild auf neue Programme und warten auch nicht ge- Schwung gewonnen. Es erwuchs aus winzigen Anfän- spannt auf neue Maßnahmen der Regierung, die siegen. Zu Beginn der 80er-Jahre hatten wir ein paar Dut- glücklich machen sollen. Das, was die Menschen wirk- zend Lehrstühle, an denen auch mal Gentechnologie ge- (B) (D) lich wollen, ist, dass man sie bei der Arbeit in Ruhe lässt lehrt wurde, keinen einzigen Lehrstuhl, an dem nur und dass die Politik sie nicht ständig beschäftigt. Gentechnologie gelehrt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ute Kumpf [SPD]: Hände aus den Taschen!) Eine Debatte über Unternehmen im Bereich derDaraus ist eine Landschaft mit großem Reichtum ent- neuen Technologien ist nicht vorrangig eine Debattestanden: die Genzentren in Köln, in München, in Berlin über neue Programme. Es geht auch nicht darum, wie und in Heidelberg; Zusammenarbeit von Industrie, Max- wir neue staatliche Maßnahmen anlegen wollen. Es geht Planck-Gesellschaft und Universitäten. Wir haben das bei um eine andere Frage, nämlich: Wie schaffen wir den der Informationstechnik gemacht. Ich erinnere daran, wie Freiraum dafür, dass diese Unternehmen erfolgreich sein wir die Empfehlungen der Queisser-Kommission – wir können? brauchen neue Wissenschaftler, mehr Informatiker – um- gesetzt haben: 100 Millionen für die Deutsche For- Die staatliche Hilfe kann ihren Sinn haben. Auch schungsgemeinschaft – mit der einzigen Auflage, neue nach Röpke, dem Altmeister der marktwirtschaftlichen Lehrstühle einzurichten. Aus den drei Strängen ist es zu- Ordnungspolitik, kann der Staat durchaus die Aufgabe sammengewachsen. Die Leute haben gesehen: Grün- und die Pflicht haben, Hürden abzubauen, die das Auf- dung ist möglich und kann erfolgreich sein. kommen des Neuen behindern. So war es zu Beginn der Entwicklung vor 20 Jahren, als wir in Deutschland eine Gleichzeitig ist die Entwicklung von neuer Technik Gründungskultur eigentlich noch nicht hatten. zu nennen. Es gab ganze Jahrgänge von tüchtigen Wis- senschaftlern, die das aufgreifen konnten. So hat sich bei (Jörg Tauss [SPD]: Auch vor vier Jahren!) vielen jungen Männern und Frauen, auch sehr gestande- Eine Gründungskultur auf Basis neuer Technik hat in nen Männern und Frauen, die sich einfach mal rausge- Deutschland keine große Tradition. Wir haben da immer wagt haben und den Kopf rausgestreckt haben, schritt- mit einem gewissen Neid nach den USA geschaut: Sili- weise eine Kultur entwickelt, mit der wir in die 90er- con Valley, Route 128, die Spin-offs aus den großen Uni- Jahre gestartet sind. versitäten, das Zusammenspiel mit einer dynamischen ( [CDU/CSU]: Wenig Ströbe- Venture-Capital-Szene. Dies alles war hier nicht immer les dabei!) vorhanden. Es ist aber auch nicht so, dass dies sozusagen eine Eigenschaft der Amerikaner ist. Es war durch Maß- Der Schwung war deshalb möglich, weil sich der Staat nahmen geschaffen worden, an denen auch der Staatauf der Kapitalseite zurückgezogen hat. Das private Ende der 50er-Jahre beteiligt war, und zwar zu Recht. Wagniskapital ist gewachsen. Die Fonds sind gewach- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4045

Dr. Heinz Riesenhuber (A) sen. Neue Fonds sind aufgelegt worden. Leute waren be- zwar in allen Ländern schwierig ist, aber in Deutschland (C) reit, etwas zu riskieren und zu investieren. schwieriger als anderswo. Der Risikokapitalmarkt in anderen europäischen Ländern ist im Schnitt um knapp Für diese Art von neuen Techniken ist eine wirklich 50 Prozent eingebrochen; in Deutschland ist er um grundsätzliche Frage: Woher kriegen wir das Eigenkapi- 70 Prozent eingebrochen. Großbritannien und Deutsch- tal? Die Unternehmen können nicht über Fremdkapital, land hatten beide einen guten Anteil am europäischen über Kredite finanziert werden. Kredite beleihen geron- Risikokapitalmarkt. Der Anteil Deutschlands ist von nene Arbeit der Vergangenheit, nicht aber die Vision ei- 18 Prozent auf 13 Prozent zurückgegangen; der Anteil ner Zukunft. Es muss Kapital sein, das bereit ist, volles Großbritanniens liegt bei 34 Prozent. Risiko einzugehen. Deshalb muss es in seiner anderen Qualität gewürdigt werden. Angesichts der gegenwärtigen Landschaft befinden wir uns also in Schwierigkeiten; damit verbunden ist Es ist eine Gründerszene entstanden. Bis 1998 hat die aber auch ein Zeichen der Hoffnung. Zahl der Gründungen jährlich zugenommen, auch was auf neuer Technik basierende Dienstleistungen angeht. Seit 1998 ist dieser Trend rückläufig. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Riesenhuber, das Präsidium wäre Ihnen (Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht wahr, Herr dankbar, wenn Sie sich in der Regel in der Ruf- und Riesenhuber! Vielleicht 2000/2001) Sichtweite des Präsidiums aufhielten, weil uns das die – Herr Tauss, den Streit darüber können wir nachher aus- Einhaltung der Geschäftsordnung erleichterte. tragen. Die entsprechenden Zahlen liegen vor. Die (Heiterkeit und Beifall) Quelle dafür ist das Institut für Mittelstandsforschung. Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass der Trend erst seit dem Jahr 2000 rückläufig sei, gilt: In diesem Jahr Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): haben Sie regiert. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Ich nehme diese Intervention in Demut entgegen. Neugründungen im technischen Bereich offensichtlich Bitte, rechnen Sie mir sie nicht auf die Redezeit an, sonst anhaltend rückläufig. komme ich in Schwierigkeiten. Ich bitte um Nachsicht. Wir haben den Aufstieg und den Niedergang des In der gegenwärtigen Situation steht Deutschland also Neuen Markts erlebt. Der Neue Markt ist gestern „be- schlechter als andere da. Die Gründe dafür müssen wir graben“ worden. Er ruhe in Frieden; die Sache ist vorbei. bei uns suchen. Wir sollten überlegen, was wir machen Der Neue Markt war von drei Phasen gekennzeichnet: können. Wären nur die anderen schuld, könnten wir Aufschwung, Überhitzung, Zusammenbruch. Zumnichts tun; nur weil wir selbst schuld sind, können wir (B) Schluss ist eine Situation entstanden, in der über denetwas tun. (D) Gang an die Börse kein neues Eigenkapital mehr be- schafft werden konnte. Es gibt keine neuen Börsengänge Es geht um drei Bereiche – eigentlich sind alle eigen- mehr, praktisch kein IPO mehr. Da die Wagniskapitalge- kapitalrelevant –: die Fonds, die Business Angels und sellschaften kein Exit und keine Möglichkeit haben, spä- die Aktienoptionen. Die Anzahl der Neuauflagen von Fonds ter wieder Kasse zu machen, investieren sie nicht. ist bis 1999 gestiegen. 1999 waren es noch 30 Fonds, 2000 waren es 20 Fonds, 2001 keine einziger Die Eigenkapitaleinsätze auf allen Ebenen sind rück- mehr. Im Jahr 2002 waren es vielleicht zwei Fonds; aber läufig. Frau Bulmahn sagt: Die Frühphasenfinanzierung es wird darüber gestritten, ob das wirklich so war. Dazu ist um ungefähr 80 Prozent, von 380 Millionen Euro auf kommen zwei Unternehmensbeteiligungsgesellschaf- 77 Millionen Euro, zurückgegangen. Rezzo Schlauch – er ten; das ist etwas anderes. Außerdem verweise ich auf ist nicht da – sprach in einer Rede, die er kürzlich gehal- die Gründungen im Ausland.Das heißt, in einer kriti- ten hat, von einem Rückgang von 90 Prozent. Eineschen Zeit, in der wir eigentlich Eigenkapital für die zweite und eine dritte Finanzierungsrunde finden prak- zweite Finanzierungsrunde bräuchten, sind nicht mehr tisch nicht mehr statt, weil das nötige Geld nicht vorhan- hinreichend Fonds vorhanden. Die Antwort auf die den ist. Auf dem Gebiet der Informationstechnik hat es Frage „Woran liegt das?“ lautet meistens: Seit zwei Jah- einen Rückgang um fast 90 Prozent gegeben. Auf dem ren geben die Finanzämter keine verbindlichen Steuer- Gebiet der Biotechnik war der Rückgang zwar nicht so bescheide mehr aus. stark; aber auch da gab es einen Rückgang um immerhin 50 Prozent. Im letzten Jahr standen dort noch knapp Ein Investor kann mit falschen Rahmenbedingungen 250 Millionen Euro zur Verfügung. zwar nicht gut leben, aber er kann überleben. Wenn eine Entscheidung aber ausbleibt, kann er nicht überleben. Wir befinden uns also in einer ganz schwierigen Situ- Deshalb werden keine neuen Fonds gegründet, bzw. ation. Im letzten Quartal des vergangenen Jahres haben wenn sie gegründet werden, dann im Ausland. Ich habe vier Dutzend Unternehmen im Bereich der Biotechnolo- gehört, dass im vergangenen Jahr von Deutschland aus gie Konkurs angemeldet. So etwas gab es vorher nicht. 12 Fonds im Ausland gegründet wurden. Das erleichtert Wir riskieren, eine Landschaft, die sich mit großemden Zugang für unsere eigenen Firmen nicht. Schwung entwickelt hat, zu zerstören. Das wäre gefähr- lich. Was haben wir in diesem Zusammenhang zu tun? Ein Verzicht auf die Besteuerung der Fonds würde die Die entscheidende Frage lautet: An welchen Stellen Sache zwar erleichtern. Die kompliziertere Frage ist die kann man ansetzen? Ich gehe davon aus, dass die Lage des so genannten Carried Interest, also das, was die 4046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Fondsinitiatoren selbst machen. Ich rate, das nachzule- Frau Bulmahn plagt sich mit ihrem Hightech-Master-(C) sen, was unsere tüchtigen Bundesländer eingebrachtplan. So etwas legt man, wenn man weise handelt, un- haben: Bayern, Hamburg und Sachsen-Anhalt habenmittelbar nach der Regierungsbildung vor. Sie sind in die zusammen einen sehr vernünftigen Vorschlag dazu un- Legislaturperiode gestartet, ohne zu wissen, was Sie mit terbreitet, auf dem man aufbauen kann. Wir müssenIhrer Regierungsverantwortung anfangen wollen. Das ist schnell zu einer Entscheidung kommen. Das heißt, dass Ihr Kernproblem. die Bundesregierung in ihrer Weisheit und Klugheit den Bundesrat frühzeitig einbeziehen wird. Je schneller wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- uns einig sind, desto schneller passiert etwas. ruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Der zweite Bereich sind die Business Angels. Wir hat- ten eine aufblühende Landschaft von Business Angels. – Liebe Frau Scheel, Sie haben es vielleicht gewusst, es Business Angels sind erfahrene Männer und Frauen, die dem Finanzminister aber nicht in der Form gesagt, dass ein bisschen Geld haben und bereit sind, mit haftendem er es Ihnen geglaubt hätte. Deshalb ist es nicht dazu ge- Geld sowie ihrem Rat und ihrer Erfahrung in ein junges kommen und deshalb haben wir ein Steuersystem, dass Unternehmen einzusteigen. Manch ein Gründer hat viel- Sie und ich für suboptimal halten. Deshalb müssten wir leicht geniale Ideen, was die Technik betrifft, weiß aber uns gemeinsam an die Arbeit machen. nicht, wie man Märkte und Kunden behandelt, wie man Ich drösele nicht im Einzelnen auf, was der Master- Märkte abschätzt oder mit Behörden umgeht. Ein Busi- plan enthält. Vieles davon ist in Ordnung. Dass wir von ness Angel bringt weit mehr als Geld in ein Unterneh- Frankreich den Plan Innovation übernehmen, halte ich men ein. für eine vernünftige Idee. Früher haben wir allerdings Herr Kuhn, ich fand es prima, dass Sie vor ein paar die Ideen in Europa eingebracht und nicht die Pläne an- Wochen in einer Debatte gesagt haben, dass die Besteue- derer übernommen. Dass die jungen Unternehmen bei rung der Business Angels nicht sehr vernünftig ist. Eine 15 Prozent Forschungsaufwand in den ersten acht Jahren entsprechende konkrete Aussage findet sich auch in dem steuerfrei gestellt werden, halte ich für eine gute Sache. Innovationspapier, das Sie mit einigen Kollegen erarbei- Das wird in dem Plan offensichtlich diskutiert. Dass wir tet haben. Es bewegt sich leider überwiegend auf einer hier einen neuen Markt schaffen, einen Hightechmarkt, hohen Abstraktionsebene. Ich habe zwar nichts gegen halte ich eher für problematisch, aus Gründen, die wir eine hohe Abstraktionsebene, sie muss im Gesetz aber hier nicht diskutieren können; aber wir können an ande- auch umgesetzt werden. Derheilige Thomas – sic! – rer Stelle darüber reden. sagte: In den allgemeinen Grundsätzen ist man sich im- mer einig; schwierig wird es erst, wenn es konkret wird, Was hier zu eher soften Themen wie Unternehmer- (B) (D) das heißt, wenn es ins Gesetzblatt kommt. Da würde ich training und Markterschließung gesagt wird, mag alles gerne etwas sehen. richtig sein. Immerhin geht es im Grundsatz in die rich- tige Richtung. Auch dass Herr Clement im Jahreswirt- Wenn wir dieWesentlichkeitsgrenze der Beteili- schaftsbericht und in seiner Mittelstandsoffensive „Pro gung, die die Bundesregierung auf 1 Prozent herunterge- Mittelstand“ – da gibt es inzwischen wunderbare Pa- knüppelt hat, wieder auf 10 Prozent, die wir einmal hat- piere –, sagt, dass man Beteiligungskapitalfonds bilden ten, oder vielleicht noch stärker anheben, dann schaffen soll, auch in Public Private Partnership, halte ich für wir eine völlig andere Situation, in der die Business An- prima. Ich sehe es nur noch nicht. Aber es muss gesche- gels gestaltend wirken können. hen. Hier liegt der wesentliche Punkt. Aktienoptionen sind ein Instrument zur Stärkung des Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde Eigenkapitals für junge Unternehmen, weil sie keine ho- ebenfalls prima, dass EU-Kommissar Busquin jetzt ei- hen Gehälter bezahlen können. Ansonsten wäre ihr be- nen europäischen „Investing in research“-Plan auf- grenztes Eigenkapital schnell weg. Aktienoptionen müs- stellt. Das ist alles wunderbar. Aber entscheidend ist, sen in Deutschland genauso wie in anderen Länderndass etwas ins Gesetzblatt kommt. Wir versuchen hier, besteuert werden. Wenn sie höher besteuert werden, be- der Bundesregierung in brüderlicher Hilfe Vorschläge kommen wir entweder die guten Leute nicht oder unsere zu machen. Es ist schließlich Christenpflicht, den Be- Firmen gehen ins Ausland. dürftigen zu helfen; da tun wir unser bescheidenes Bes- Auch in diesem Zusammenhang existieren prächtige tes. Beschlüsse. Die Parlamentarischen Staatssekretäre der (Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Schultz Bundesregierung haben uns während der ganzen letzten [Everswinkel] [SPD]: Es ist nicht so leicht, Legislaturperiode erklärt, dass auf diesem Gebiet etwas wenn ein Nackter versucht, seinen Mantel zu geschieht. Es geschah aber nichts. Die Wirtschaftsminis- teilen!) terkonferenz hat einen einstimmigen Beschluss gefasst. Uns liegen Vorschläge von BDI und VCI vor. Ich rate Wir sind völlig offen für innovative Vorschläge. Wenn dringend dazu, etwas zu tun und nicht nur darüber zu re- Ihre Ideen noch besser sind als die unseren, dann sind den. wir glücklich und dankbar und nehmen sie mit Freude auf. Aber dann wollen wir diese Sache durchziehen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) können nicht alle Probleme lösen, aber wir können dafür Es gibt so viele Grundsatzpapiere. Ich will den Inhalt sorgen, dass die jungen Unternehmen wieder Luft zum unserer prächtigen Papiere nicht im Einzelnen darlegen. Atmen haben. Sonst verlieren wir eine ganze Kultur, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4047

Dr. Heinz Riesenhuber (A) eine Kultur, die mehr als alle anderen neue Technik aus dustriestandort und den Technologiestandort Deutsch-(C) der Wissenschaft gewinnt und diese überträgt. land, dass wir keine Technologiebörse mehr haben. Da sind wir uns ja einig. Nur, dieser Zusammenbruch ist Die ganzen Strategien zum Technologietransfer haben doch nicht aufgrund von Beschlüssen erfolgt, sondern er nie optimal funktioniert. Aber wenn junge Frauen und ist erfolgt, weil der überhitzten und aufgeblasenen New Männer dafür kämpfen, ihre Ideen in Produkte, Problem- Economy in vielen Bereichen das Gegenteil gefolgt ist. lösungen und Verfahren umzusetzen und sie in Märkte, So wird heute überhaupt nicht mehr investiert, weil auch die durch die Produkte erst geschaffen werden, zu brin- die Renditen gesunken sind. gen, dann entsteht eine neue Welt, die Zukunftsperspek- tiven eröffnet und schnell wächst. Aus diesem Grunde habe ich die Bitte, dass Sie nicht immer Forderungen an die Politik richten, sondern dort- (Beifall bei der CDU/CSU) hin, wo sie hingehören. Die Banken versagen kläglich. Das schafft nicht eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze, Es gibt keine Banken mehr, außer den kleinen und den aber das sind Bereiche, in denen es Zukunftsperspekti- Sparkassen – darüber können wir heilfroh sein –, die ihr ven gibt: die Welt der Quanten, die Welt der Gene, die Kreditgeschäft noch einigermaßen anständig betreiben Welt der Computer, die Fähigkeit, Krankheiten zu hei- und Kreditabteilungen haben, die für junge Unterneh- len, die wir heute noch nicht verstehen, die Fähigkeit, men zur Verfügung stehen und in der Lage sind, sie zu eine komplexe Welt zu begreifen. beurteilen. Es gibt konkrete Maßnahmen wie beispielsweise das Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: BTU-Programm mit einem Volumen von 1 Milliarde Herr Kollege Riesenhuber, ich darf mit aller Vorsicht Euro. In den letzten fünf Jahren hat Rot-Grün – ich sage an die abgelaufene Redezeit erinnern. das, auch wenn Ihnen diese Zahl nicht gefällt; es ist un- ser aller Geld – 60 Milliarden Euro in die jungen Tech- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Ein bisschen noch!) nologieunternehmen gesteckt. Wo ständen wir, wenn wir Die Beweglichkeit des Präsidiums bei der von den Frak- es nicht gemacht hätten? tionen festgelegten Redezeit bleibt leider etwas hinter Da ich Sie als einen der wenigen seriösen Kollegen Ihrer zurück. aus Ihrer Fraktion im Bereich Technologie und For- schung schätze – viele gibt es nicht mehr; das habe ich Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Ihnen schon einmal gesagt –, Ich bitte sehr um Nachsicht, Herr Präsident. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (B) (D) Ich darf schließen mit dem herzlichen Wunsch an die habe ich die Bitte an Sie, sich nicht an der Miesmacherei Koalition: Machen wir uns an die Arbeit und versuchen zu beteiligen und die Aufbruchstimmung, die wir ge- wir, eine Lösung zu finden, die sich nicht in allgemeinen meinsam fordern, nicht zu zerreden. Grundsatzpapieren erschöpft, sondern neue Hilfen ein- schließt, mit denen wir den jungen Unternehmen die Wir sollten vielmehr ganz konkret darüber reden – ein Möglichkeit verschaffen, die Zukunft für uns alle zu ge- paar Punkte haben Sie angesprochen –, wo die Verant- winnen. Auf gute Arbeit! wortung liegt und an wen wir die Forderungen zu richten haben. Aber zu sagen, auf diesem Gebiet sei nicht genü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gend getan worden, insbesondere nicht vom Bundesmi- nisterium für Bildung und Forschung, ist nicht richtig. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich kann Ihnen sagen, dass das, was wir in den letzten Der Kollege Tauss hat das Wort zu einer Kurzinter- Jahren erreicht haben, schlichtweg sensationell war; das vention erbeten. Bitte schön. sollten Sie auch als Oppositionspolitiker anerkennen. An die Entwicklung der letzten Jahre müssen wir anknüp- fen. Jörg Tauss (SPD): Ich freue mich auf die hohe Aufmerksamkeit. – Ich Ich würde mich freuen, wenn Sie an dieser Stelle, wie will unmittelbar auf das, was Sie gesagt haben, antwor- Sie es sonst sind, korrekt bleiben würden. ten. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie haben, lieber Herr Kollege Riesenhuber, das Aus- land angesprochen. Ich glaube, wir brauchen gar nicht Herr Kollege Riesenhuber, Sie möchten sich jetzt si- über den großen Teich zu schauen. cher für die Komplimente des Kollegen Tauss bedanken. Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was bei uns 2001, Dr. Heinz Riesenhuber 2002 lief: Wir hatten 2001 500 Millionen Euro Risiko- (CDU/CSU): kapital in diesem Land, 2002 waren es Genau noch das tue ich mit Respekt und brüderlicher Ver- 77 Millionen Euro. Das ist keine Spielerei mit Jahres- bundenheit. Lieber Herr Tauss, Sie haben mich so zahlen. freundlich gelobt. Aber ich muss sagen: So sind wir alle. Sie haben den Zusammenbruch des Neuen Marktes (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – angesprochen. Ich halte es für eine Blamage für den In- Heiterkeit bei der SPD) 4048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Sie haben uns bis jetzt alsonicht richtig eingeschätzt. und wenn Sie nicht eine wirklicheSteuersenkung (C) Was Sie an mir loben, ist bei uns nicht ungewöhnlich. In durchführen, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, anderen Parteien sieht es vielleicht anders aus. dass der eine keine Kredite geben kann und der andere nicht kreditfähig ist. Ich möchte nun auf die von Ihnen angesprochenen Punkte eingehen. Ich kann im Moment nicht nachrech- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nen, ob die Zahl von 60 Milliarden Euro, die Sie in die Dr. [SPD]: Die Banken haben jungen Unternehmen gesteckt haben, stimmt. Angesichts falsch investiert!) eines Bundeshaushalts von rund 240 Milliarden Euro Die freundschaftliche Bitte an Sie ist: Lassen Sie die scheint mir das ein sehr stattlicher Betrag zu sein. Aber Leute Geld verdienen! Lassen Sie die Leute erfolgreich diese Zahl wird sicherlich auf einer gesicherten Basis be- sein! Sie haben in der letzten Debatte gefragt, wie man ruhen. die Steuerpräferenzen – so haben wir sie genannt – für John Diebold hat einmal gesagt: Es kommt nicht da- die jungen Unternehmen finanzieren soll. Im Moment rauf an, dass wir viel Geld für die Müllabfuhr bezahlen. nehmen wir keine Steuern von diesen Unternehmen ein, Es kommt vielmehr darauf an, dass die Straßen sauber weil sie nicht vorankommen. Wenn man ihnen aber sind. durch geringe Besteuerung von Fonds und Aktienoptio- nen Luft lässt und die Beratung und Finanzierung durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Business Angels ermöglicht, dann kann der hochver- Da so viel Geld investiert wurde, muss man sagen, dass ehrte Finanzminister, den wir alle schätzen, in ein paar es nicht am Geld gelegen hat, dass die Situation Jahren so von einer großen Zahl erfolgreicher junger Unter- schlecht ist. Woran hat es dann gelegen? nehmen eine reiche Ernte einfahren. Das wünschen wir ihm. Vor allen Dingen wünschen wir den jungen Unter- (Jörg Tauss [SPD]: An der Anschlussfinan- nehmen, dass sie wirklich gut verdienen. zierung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will nicht unterstellen, dass es an der fehlenden Intel- ligenz gelegen hat. Das verbietet mir schon der parla- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mentarische Umgang und der freundliche Respekt vor Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Wend, Ihnen persönlich. SPD-Fraktion. Sie sagten, dass es nicht an Beschlüssen lag, dass der Neue Markt zusammengebrochen ist. Dr. Rainer Wend (SPD): (B) (Jörg Tauss [SPD]: An den Banken!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten (D) Sie mir, dass ich den freundschaftlichen Ton von Herrn Sicher nicht! Aber vielleicht gab es den Zusammenbruch Riesenhuber aufgreife und Ihnen, Herr Kollege wegen nicht gefasster Beschlüsse. Das wird sicherlich Riesenhuber, sage: Ihr Vortrag war der Form nach wie nicht der einzige Grund sein; wie immer im Leben wird gewohnt exzellent und in der Sache – wenn ich Ihre Aus- es mehrere Gründe für diese Entwicklung geben. Trotz- flüge in die rituelle Kritik der Bundesregierung außer dem würde ich sagen, dass es weniger die Beschlüsse als Acht lasse – weitgehend zutreffend. Ich glaube übrigens, die nicht gefassten Beschlüsse hinsichtlich der Aktien- dass der Antrag, den die CDU/CSU zu dieser Thematik optionen bis hin zur Fondsbesteuerung waren. Ich habe vorgelegt hat, ziemlich ausgezeichnet ist. Zu einem grö- versucht, Ihnen das in einfachen und schlichten Worten ßeren Lob kann ich mich nicht hinreißen lassen. zu erläutern. (Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber Schließlich sagten Sie, lieber Herr Tauss, die Banken [CDU/CSU]) würden kläglich versagen. Ich möchte Ihnen aber zunächst, bevor ich auf die (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Dinge zu sprechen komme, in denen wir uns einig sind, in zwei Punkten, die in Ihrem Vortrag anklangen und in Sie lesen sicherlich ebenso sorgsam Bilanzen wie jeder dem vorliegenden Antrag noch deutlicher zum Ausdruck andere von uns. Angesichts der Bilanzen muss man sich kommen, widersprechen. Zum einen sagten Sie – das fragen, wie viel die Banken noch riskieren können. Aus war ein Ausflug in die Makroökonomie –: Mit dem der vorgelegten Bilanz der Deutschen Bank erkenntWirtschaftsstandort Deutschland wird es nur besser, man, dass sie mit dem Altkundengeschäft mehr verdient wenn wir endlich zu einer stärkerenDeregulierung hat als mit dem Investmentbanking. kommen. Dazu stelle ich fest: Nicht Sie persönlich, son- (Zuruf von der SPD: Aha!) dern Ihre Fraktion ist, was das Thema Deregulierung an- geht, nicht mehr ausreichend satisfaktionsfähig. Das heißt also, die Banken wissen genau, wo das nach- haltige Geschäft liegt. (Beifall bei der SPD) Aber wenn Sie weder den Banken noch ihren Kunden Denn Sie können natürlich nicht in Sonntagsreden – von die Chance geben, Geld zu verdienen und Gewinne zu mir aus auch donnerstagsnachmittags – die Deregulie- machen, rung fordern, aber dann, wenn wir in der Praxis beim Handwerksrecht deregulieren, auf die Barrikaden gehen (Jörg Tauss [SPD]: Das ist doch albern!) und sagen: Da machen wir nicht mit. Eines von beiden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4049

Dr. Rainer Wend (A) geht nur: Sonntagsreden halten oder sich so verhalten, dem Umfang Anschlussfinanzierungen zur Verfügung zu (C) wie Sie es ansonsten tun. stellen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich die Kapi- talgeber bei neuen Engagements sehr bedeckt halten. (Beifall bei der SPD) Wenn wir im Rahmen der Gesundheitsreform das Die Zufuhr von Beteiligungskapital seitens privater Thema der Apothekerkammern ansprechen und fragen: Kapitalgeber für junge innovative Unternehmen, die ihre „Muss das mit dem Vertrieb noch so sein oder können erste Finanzierungsrunde suchen, ist fast versiegt. Ent- wir nicht einen Versandhandel einführen und Mehrfach- sprechend rückläufig ist die Förderung der öffentlichen besitz zulassen?“, dann sagen Sie dazu: Deregulierung Hand, die auf die frühen Phasen der Unternehmensent- ja, aber nicht an dieser Stelle. Wenn man sich im Hin- wicklung konzentriert ist. Die aktuellen Zahlen der blick auf die Kassenärztlichen Vereinigungen fragt, wer Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt für in diesem Bereich Verträge abschließen kann und ob wir Wiederaufbau sprechen dazu eine beredte Sprache. nicht auch hier deregulieren sollten, sagen Sie: Deregu- Die Gründe für die schwierige Situation sind viel- lierung ja, an dieser Stelle aber nicht. fältig: zum Teil nicht tragfähige Geschäftsmodelle, ent- Damit möchte ich Ihnen Folgendes sagen – ich ver- täuschte Erwartungen, Verfall von Unternehmensbewer- binde damit eine Bitte –: Gleichgültig ob es um das all- tungen, Krise und Auflösung des Neuen Marktes und gemeine Thema Steuersenkungen oder um das allge-natürlich auch die eingetrübte Konjunktur. Was in wel- meine Thema Deregulierung geht, beides sind wichtige chem Umfang wofür kausal ist und wo die Zusammen- Themen, die wir angehen müssen. Bei Ihnen aber ver- hänge zu suchen sind, darüber kann man viel diskutie- kommen sie in der aktuellenpolitischen Debatte dazu, ren. dass sie für Sonntagsreden herhalten müssen. Denn wenn es um die praktische Umsetzung geht, stehen Sie (Jörg Tauss [SPD]: Auch über das Gejammer im Weg. Daran sollten Sie arbeiten. der Opposition! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Der Einzige, der jammert, sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie, Herr Tauss!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Müssten heute nicht viele Beteiligungskapitalgeber ihre Der zweite Punkt, den ich Ihnen wirklich nicht vor- knappen Mittel einsetzen, um den Bestand noch nicht werfe – ich glaube, so muss vermutlich jede Opposition profitabler Beteiligungsunternehmen zu sichern, gäbe es handeln –, ist: Es geht darum, dass Sie zu den Themen sicherlich auch keine soausgeprägte Verknappung bei Fondsbesteuerung, Business Angels, Stock Options Erstrundenfinanzierungen. Die Marktteilnehmer werden eine Reihe kluger Vorschläge machen. Das alles sindaus der Entwicklung der letzten Jahre gewiss auch ihre (B) (D) wichtige Themen. Die Regierung hat in diesem Zusam- Lehren ziehen. menhang das Problem, dass es ihr gelingen muss, die notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, um die Zu den Maßnahmen, die vonseiten der Koalitions- für sich genommen mehr als sinnvollen Vorschläge um- fraktionen und der Bundesregierung vorgeschlagen wer- zusetzen. Das ist nicht immer ganz einfach. Wir befin- den: Die Bundesregierung leistet ihren Beitrag, damit den uns in einem Zielkonflikt; wir müssen das im Zu- der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieun- sammenhang mit dem Haushalt regeln. Darauf müssen ternehmen so schnell wie möglich wieder Tritt fasst. Regierungsfraktionen naturgemäß stärker achten, als Sie Dazu ist es erforderlich, Förderansätze, die die jetzige dies tun müssen. Bundesregierung noch aus Ihrer Zeit übernommen hat, weiterzuentwickeln, auszubauen, im Einzelfall aber auch In diesen beiden Punkten habe ich also einen Einwand im Hinblick auf die steuerlichen Auswirkungen kritisch bezüglich Ihres Antrages. In der Analyse der Situation zu überprüfen, die nicht so linear, eindeutig und mono- und in dem, was wir tun könnten, liegen wir aber nicht so kausal sind, wie Sie es beschrieben haben, Herr weit auseinander. Riesenhuber. Ein paar Worte zur Lage des Beteiligungskapital- marktes: Natürlich ist die Mobilisierung von Beteili- Anders als in den Jahren mit einer ausgesprochen eu- gungskapital für junge Technologieunternehmen für die phorischen Stimmung am Kapitalmarkt reicht es derzeit SPD-Fraktion ein ganz wichtiges wirtschaftspolitisches nicht aus, vor allem Kapital für die Frühphase zu mobili- Ziel. Ich sage das deshalb, weil wir es vermeiden sollten, sieren und dann zu erwarten, dass der Markt die An- über Dinge kontrovers zu diskutieren, die nicht kontro- schlussfinanzierung schon bereitstellen werde. Wenn vers sind. Natürlich steckt der Beteiligungskapital-aussichtsreiche Unternehmen und Projekte wegen der markt für junge Technologieunternehmen – auch da gegenwärtigen Kapitalmarktlage an der Anschlussfinan- haben Sie Recht – derzeit in einer schweren Krise. Übri- zierung scheitern, ist das eine volkswirtschaftliche Ver- gens – auch das wissen Sie –, das ist keine rein deutsche schwendung. Auf der anderen Seite soll man bekanntlich Besonderheit, sondern ein globales Phänomen. Ein gro- schlechtem Geld kein gutes hinterherwerfen. Für den ßer Teil der Unternehmen, die mit Beteiligungskapital fi- Staat bedeutet das eine Gratwanderung und eine schwie- nanziert wurden, ist in Bedrängnis geraten oder gar in- rige Abwägung; denn es wäre kaum zu rechtfertigen, solvent. wenn der Staat einspränge, obwohl private Beteiligungs- kapitalgeber zu keinem weiteren Engagement bereit Die Beteiligungskapitalgeber haben hohe Schäden zu sind. Es kann also immer nur um Anschubfunktionen verkraften und sind oft nicht in der Lage, in ausreichen- des Staates gehen. 4050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Rainer Wend (A) Hier müssen wir uns fragen, was wir derzeit konkret FDP rundum als recht positiv beurteilt, lassen Sie mich (C) tun. Wir planen vonseiten der Bundesregierung und der auch auf Ihre Worte eingehen, Herr Professor Koalition einen Dachfonds, der aus dem Europäischen Riesenhuber: Es gibt nicht nur höchste Insolvenzraten Investitionsfonds und dem ERP-Sondervermögen des bei der New und der Old Economy. Ich halte es ebenfalls Bundes gespeist wird. Dieser Dachfonds, der für weitere für Besorgnis erregend, dass fast jedes vierte deutsche Partner offen ist, wird zusammen mit privaten Kapital- Unternehmen derzeit erwägt, die Produktion ins Ausland gebern in Venture-Capital-Fonds in Deutschland inves- zu verlegen, und zwar wegen der hohen Kosten aufgrund tieren. Der Dachfonds wird über die nächsten Jahre mit der hier herrschenden Steuer- und Abgabenstrukturen. rund 500 Millionen Euro eigenem Investment etwaDas ist alarmierend. 1,7 Milliarden Euro Beteiligungskapital für die Unter- nehmen in Deutschland mobilisieren können. (Beifall bei der FDP – [Zingst] [CDU/ CSU]: Da kann ich gar nicht klatschen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hinsichtlich des fehlendes Eigenkapitals für den deut- schen Mittelstand nenne ich ebenfalls ein paar Zahlen, Wir hoffen, dass das für die privaten Kapitalgeber ein die wirklich sehr alarmierend sind. Nach einer Umfrage deutliches Signal darstellt. des Sparkassen- und Giroverbandes aus dem vergange- Auch auf der Ebene des Investments in einzelnen Un- nen Jahr weisen nur noch 40 Prozent aller Unternehmen Eigenkapitalquote ternehmen wollen wir den privaten Kapitalgebern zu- eine auf; sie geht fast gegen null. Je sätzliche Angebote machen, sich wieder verstärkt zu en- kleiner das Unternehmen ist, Herr Dr. Wend, desto grö- gagieren. Zusätzliche Liquidität soll dem Markt zurßer sind die Probleme; das wissen wir alle. Verfügung gestellt werden. Ferner hoffen wir, dass durch (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das kommt darauf die Fusion von KfW und DtA zusätzliche Anschubwir- an!) kungen organisiert werden. Mehr als die Hälfte der Betriebe mit weniger als Ein letztes Wort zu den steuerlichen Rahmenbedin- 1 Million Euro Jahresumsatz haben inzwischen schon gungen, die Sie zu Recht ansprachen: Uns ist sehr wohl kein Eigenkapital mehr. Diese dramatische Situation bewusst, dass diesen steuerlichen Rahmenbedingungen muss uns alle umtreiben; sie gilt es zu überwinden. eine große Bedeutung zukommt. Mein Eindruck ist, dass wir auch hier nicht auf ganz schlechtem Wege sind. Bei (Beifall bei der FDP) der Fondsbesteuerung bin ich zuversichtlich, dass wir Lösungen dafür findet man aber auf gar keinen Fall, in- gemeinsam – die Bundesländer wurden bereits ange-dem man jede Woche oder fast jeden Tag über neue sprochen – zu sehr akzeptablen Lösungen kommen wer- (B) mögliche Steuererhöhungen spricht. (D) den. Für die Mitarbeiterbeteiligungsoption hat das Mi- nisterium für Wirtschaft und Arbeit wiederholt flexible (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Regelungen eingefordert und sich dafür eingesetzt, die Veräußerungsgewinnbesteuerung bei Business-Angel- Die Diskussion über die Themen Tabaksteuer und Mehr- Investments zu überdenken. Ich glaube, dass das derwertsteuer sowie eine mögliche Erhöhung der Mineral- richtige Weg ist. ölsteuer – heute aktuell in den Medien zu lesen – ist Gift für die Konjunktur, Gift für den Wirtschaftsstandort Meine Damen und Herren, in meinem Beitrag habe Deutschland. ich versucht, auf Ihre zum Teil guten, zum Teil rituell et- was schwierigen Argumente differenziert einzugehen. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Ket- tenrauchen mit Daniel Düsentrieb!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht gelun- gen!) Das führt zu einer totalen Verunsicherung bei den Fir- men. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, bei diesem Thema, das für unsere weitere wirtschaftliche Zukunft nicht völ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lig unbedeutend ist, das eine oder andere gemeinsam zu- Es ist doch überhaupt keine Frage, dass die im deut- stande zu bringen. Die Form unserer Debatte machtschen Einkommensteuerrecht vorgenommene Absen- mich diesbezüglich optimistisch. kung der Wesentlichkeitsgrenze bei Beteiligungen auf Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ein Prozent erheblich zur Schwächung der Beteiligungs- kultur beigetragen hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Jeder Business Angel wird sich zweimal überlegen, ob Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: er wirklich sein Geld zur Verfügung stellen kann, weil es Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp,vorher vom Finanzminister zum größten Teil schlicht FDP-Fraktion. einkassiert wird. Natürlich haben die Kolleginnen und Kollegen der Gudrun Kopp (FDP): CDU/CSU-Fraktion völlig Recht mit ihren Aussagen, Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! In dass Kontrollmitteilungen faktisch bereits eingeführt Bezug auf den Antrag derCDU/CSU-Fraktion, den die seien und dass eine Mindeststeuer am Finanzplatz Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4051

Gudrun Kopp (A) Deutschland diesem sehr großen Schaden zufügenIch kann Sie nur auffordern, wirklich mutige Schritte (C) würde. All dies sind Diskussionen, die uns schaden. zu Liberalisierung, Deregulierung, Steuersenkung und Subventionsabbau zu vereinbaren. Dann haben Sie auch Mir geht es darum, Herr Kollege Tauss, dass wir nach uns auf der Seite derjenigen, die mitarbeiten. Lösungen für diese wirklich dramatische Situation su- chen, die alles andere als lustig ist. Ich kann nur noch einmal sagen: Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist wirklich sehr gut. Ich freue mich (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! Hört auf zu jam- auf die Debatte darüber in den entsprechenden Aus- mern!) schüssen und hoffe, dass wir endlich vom Reden zum Angesichts dieser verfehlten Wirtschafts- und Steuerpo- Handeln kommen. litik unterstreiche ich noch einmal, was Herr Kollege Riesenhuber völlig zu Recht sagte: Wir können noch so Vielen Dank. viele Fonds auflegen, uns noch so sehr bemühen, Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gramme zu initiieren. Alle Anstrengungen, die wir unter- Dr. Rainer Wend [SPD]: Auf die Debatte im nehmen, werden null und nichtig sein, sofern wir nicht, Ausschuss freue ich mich nicht!) um Luft zu bekommen, mit einer klaren, einfachen Be- steuerung für jeden Arbeitnehmer und für Unternehmen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hier am Standort Deutschland einen Impuls setzen. Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel, Wir haben vor längerer Zeit ein klares und einfaches Bündnis 90/Die Grünen. Steuerkonzept mit Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent vorgelegt. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dirk Niebel [FDP]: Und gerecht!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Gerecht ist es natürlich auch. – Ehrlicherweise muss Vorab zwei Bemerkungen zu Ihnen, Frau Kopp. man die Frage stellen, wie dies finanziert werden kann. Der erste Punkt. Ich gebe Ihnen völlig Recht; auch ich Die Anregungen, die Herr Professor Paqué, Finanzmi- erachte das Steuerrecht für zu kompliziert. Unser Pro- nister in Sachsen-Anhalt, am vergangenen Freitag gege- blem ist aber, dass in der Bundesrepublik Deutschland ben hat – sie sind in der „FAZ“ nachzulesen –, halte ich über Jahrzehnte alle gesellschaftspolitischen Felder – von für hervorragend. Natürlich müssen wir uns nicht nurder Bildung über die Familie und die Bauförderung bis über Subventionsabbau unterhalten, sondern in dieser hin zur Kulturpflege – im Steuerrecht geregelt wurden Hinsicht auch handeln, und zwar nicht selektiv. Es war und dass es unheimlich schwer ist, das wieder zurückzu- von Steuersenkungen und von Deregulierungen die (B) drehen. Ich glaube, wir sind darüber einig, dass man die (D) Rede, aber es fehlte das StichwortSubventionsabbau. notwendigen Investitionen an der einen oder anderen Ein Befreiungsschlag ist nur durch eine pauschale Sen- Stelle besser über Direktinvestitionen als über das Steu- kung der Subventionen möglich. errecht regeln könnte. Das ist ein sehr schwieriger Weg. (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir im Bundes- Aber man muss ihn gehen; da gebe ich Ihnen Recht. rat erlebt!) Der zweite Punkt. Selbstverständlich werden wir wei- Nur dann schaffen wir es, Milliarden einzusparen. Ich ter Subventionen abbauen. Aber ich möchte Sie bitten, bitte Sie, in dieser Hinsicht künftig sehr viel mutiger zu dass Sie, wenn Sie die vomInstitut für Weltwirtschaft sein. genannte Summe von 155 Milliarden Euro aufgreifen, den Bürgerinnen und Bürger auch sagen, dass in diesen Wenn Sie nicht glauben, dass dies derzeit möglich ist, Subventionen die Finanzierung unserer Bildungseinrich- dann führe ich an, welche Gesamtsumme an Subventio- tungen enthalten ist. Es entspricht dem Grundgesetz und nen das Institut für Weltwirtschaft in Kiel genannt hat. unserem Verfassungsauftrag, dass der Staat für die Fi- Sie betrug im Jahr 2001 – man höre und staunenanzierung – dieser Einrichtungen aufkommt. Dies ist 155 Milliarden Euro. nicht privatwirtschaftlich zu tragen. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Was (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist auch keine soll denn ein junger Unternehmer aus Ihrem Subvention! Das ist ja Quatsch!) Vortrag lernen?) – Das ist keine Subvention im engeren Sinne. Ich ver- Das entspricht einem Drittel unserer gesamten Steuer- mute, es wird sehr mühsam sein, sich zunächst einmal einnahmen; das muss man sich einmal vorstellen. Wenn auf einen Subventionsbegriff zu verständigen. man davon abzieht, was an staatlichen und halbstaatli- chen Subventionen gezahlt wird, bleiben – quasi netto – Dazu werden Vorlagen kommen. Ich bin gespannt, immer noch Subventionen in Höhe von 110 Milliarden wie die FDP sich verhält, wenn es konkret wird. Denn Euro. Wenn Sie nur 20 Prozent davon pauschal strei-dann sind Sie meistens nicht mehr dabei. chen, dann haben Sie ein Einsparvolumen von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 22 Milliarden Euro. und bei der SPD – Gudrun Kopp [FDP]: Aber (Jörg Tauss [SPD]: Werden Sie einmal kon- umgekehrt auch nicht!) kret!) Es gibt zwei Gründe, warum mir der Antrag, den die Das ist ein Batzen Geld. Union vorgelegt hat, nicht so gut gefällt. 4052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Christine Scheel (A) Herr Riesenhuber, der erste Grund ist: Der Duktus des an den Wachstumsbörsen und am Venture-Capital- (C) Antrages ist mir zu negativ. Er verbreitet eine schlechte Markt zurückzuführen. Stimmung. Die Übertreibungen an diesen Märkten – das ist die Inter- (Jörg Tauss [SPD]: Keine Aufbruchstim- pretation – führten natürlich auch zum Zusammenbruch mung!) des Neuen Marktes. Spekulationsblasen an Börsen hat nicht – das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen – Wir alle sind der Auffassung, dass wir hier etwas tundie Politik zu verantworten. Vielmehr sind es die Akteure müssen und sollen. Es istklar, dass die Förderung von auf den Märkten selbst, die dies zu verantworten haben. jungen Technologieunternehmen ein Schlüssel zur In- novationstätigkeit der Gesellschaft in Bezug auf neue (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Produkte und Technologien ist. Wir sollten das positiv sowie bei Abgeordneten der SPD) formulieren und nicht immer alles als ganz furchtbar Wir haben für vieles, aber nicht für alles die Verantwor- darstellen. tung. Leider haben auch hier unseriöse Investitionsentschei- Der zweite Grund ist: Die Lösungsansätze zu steuerli- dungen stattgefunden; das war nach der Konsolidierung der chen Fragen, die Sie hier formulieren, sind ein Schnell- Venture-Capital-Märkte bei Unternehmensneugründungen schuss. Wir können keinesteuerlichen Regelungen zu sehen. Hier müssen wir feststellen, dass Unternehmer mehr gebrauchen, die denjenigen große Schlupflöcher ihre Fehlinvestitionen und Finanzanleger und -anlegerinnen eröffnen, die sie nicht brauchen. Die Regelungen müssen ihr spekulatives Verhalten selbst zu verantworten haben. zielgenau, effektiv, kontrollierbar, nachvollziehbar und Die Politik kann und will hier bessere, kalkulierbare im internationalen Wettbewerb sinnvoll sein. Rahmenbedingungen für Investorenverhalten bieten. Ich denke, das ist auch sinnvoll. Bei Bund, Ländern und (Jörg Tauss [SPD]: Vereinfachung des Steuer- Kommunen existieren insgesamt 129 Förderprogramme, rechts!) die sehr sorgfältig geprüft und ausgebaut werden. Eine Wir dürfen keine Maßnahme ergreifen, ohne uns dieVielzahl dieser Programme wird, was sehr schön ist, ge- Konsequenzen zu überlegen. Ich denke, wir werden im rade in der letzten Zeit wieder stärker in Anspruch ge- Laufe des Verfahrens noch über die eine oder anderenommen. Hier gibt es also durchaus positive Gesichts- Maßnahme diskutieren können. punkte. Aber nach wie vor stellen die Risikoaversion und der Gründungspessimismus unter den Deutschen Da Sie sich immer für die negative Seite zuständig große strukturelle Hemmnisse für innovative Neugrün- fühlen, möchte ich ein paar positive Sachen sagen. dungen dar. Das ist eine psychologische Realität. (B) (Dirk Niebel [FDP]: Die schlechte Politik ma- Ich sage es einmal ganz neutral: Das hat nichts mit(D) chen doch Sie!) der steuerlichen Frage zu tun. Dem ist auch nicht unbe- dingt durch Förderprogramme zu begegnen, sondern nur Deutschland ist der zweitwichtigste Technologieex- mit einem Mentalitätswechsel der Akteure und der po- porteur der Welt, das weist der Bericht zur technologi- tenziellen neuen Unternehmer und Unternehmerinnen. schen Leistungsfähigkeit des letzten Jahres aus. Diesen Aspekt muss man berücksichtigen, wenn man (Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU]: Das ha- Vergleiche mit den USA betrachtet; denn dort ist die Si- ben wir vor vier Wochen diskutiert!) tuation ganz anders – hierzu gibt es wunderbare Untersu- chungen –: Die Risikobereitschaft ist höher und dement- Wir haben hier nach wie vor eine weltweit führende Po- sprechend ist die Grundsituation eine ganz andere. sition, übrigens auch bei Patentanmeldungen. Tatsache Lassen Sie uns also, da wir die Zukunft positiv gestal- ist auch, dass nach dem Gründungsboom im Hightech- ten, hier investieren und diese Unternehmenskultur för- bereich Ende der 90er-Jahre, speziell im Segment IT und dern wollen, die entsprechenden Regelungen gemeinsam im Bereich der Biotechnologie, im Zuge der anhaltenden weiterentwickeln! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir Konjunkturschwäche ein Rückgang an Neugründungen die unternehmerischen Talente in der Bundesrepublik stattgefunden hat. Dass wir eine Zunahme an Insolven- Deutschland fördern! Lassen Sie uns aber in der öffentli- zen verzeichnen mussten, ist richtig. Aber man darf die chen Diskussion bitte nicht den Fehler machen, unseren Ursachen dieser Entwicklung nicht vorrangig auf man- Standort immer schlecht zu reden! Denn wenn wir das gelhafte steuerliche Rahmenbedingungen zurückführen. tun, was leider vorwiegend vonseiten der FDP geschieht, Man muss die eigentlichen Ursachen auch im Zusam- menhang mit den gestaltbaren Rahmenbedingungen für (Dirk Niebel [FDP]: Das ist doch eine Unver- innovatives Handeln von Unternehmen sehen. schämtheit! Sie machen die schlechte Politik und die Opposition soll schuld sein! Das ist ja Die Aussagen in der aktuellen Analyse der Deutsche unglaublich!) Bank Research vom Mai 2003, die wir bekommen ha- ben, klingen viel seriöser als das, was Sie formulieren. führt dies dazu, dass die Motivation derjenigen, die hier Ich zitiere kurz aus dem Bericht. Dort heißt es: ein Unternehmen gründen wollen, nicht gerade gefördert wird. Darum sollte es uns aber eigentlich gehen. Ein Teil des Rückgangs der Gründungsaktivitäten Danke schön. kann durch die anhaltende Wachstumsschwäche in Deutschland erklärt werden. Ein bedeutender Teil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Nachlassens ist aber auf das Platzen der Bubble sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4053

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: großes psychologisches Problem, an dessen Lösung man (C) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der arbeiten muss und bei dem man durch öffentliche Dar- Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion. stellung viel erreichen kann. Es fängt bei der Schule an, geht aber bis dahin, dass die Politik über solche Vor- gänge redet und so darauf hinwirkt, dass sich die Men- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): schen wieder trauen, sich selbstständig zu machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ge- hört ja, was das Aufeinander-Zugehen anbetrifft, zwei- Ein weiteres Problem ist, dass sich die Anleger, die felsfrei zu einer der erfreulicheren Debatten. Das fing auf dem Venture-Capital-Markt investiert haben, zu- mit Ihnen, Herr Professor Riesenhuber, an und hat sich nehmend des Risikos bewusst werden. Dies ist insbeson- so weitgehend fortgesetzt. dere deswegen der Fall, weil die normalen Ertragsquel- len, aus deren Überschüssen sie diese Investitionen in Ich persönlich bin sehr davon überzeugt, dass man ge- der Vergangenheit finanziert haben, in der Regel nicht nau hinsehen muss, wenn man junge Gründungsunter- mehr in dem Maße sprudeln wie in der Vergangenheit nehmen, egal aus welchen Bereichen, fördert, ob man und alles etwas näher am Rand genäht ist. Sie müssen et- sich nicht selber in die Tasche lügt, wenn man dies inwas stärker auf ihren Cashflow achten. Wenn also die erster Linie durch Veränderung der steuerlichen Kulisse Quelle versiegt, wenn das Geld, das investiert werden macht, weil die Gründer selber und ihre Unternehmen in soll, gerade einmal für das Kerngeschäft reicht, dann ihren Verlustphasen davon meistens leider relativ wenig kann man betteln und beten, sogar noch etwas Geld hin- haben; es sei denn, man überträgt die Vorlaufverluste so- terherwerfen und obendrein noch die Steuersätze senken zusagen bis in alle Ewigkeit. Aber dann wird das, was – aber Venture-Capital-Beteiligungen werden die Anle- aus ihnen wird, wiederum für den Fiskus außerordent- ger nicht eingehen. Das machen sie nun einmal nicht aus lich schwer kalkulierbar. reiner Nächstenliebe. Deswegen haben wir in Deutschland in der Vergan- Insofern glaube ich, dass man zwei Dinge beachten genheit darauf gesetzt und setzen darauf auch heutemuss. Man muss zum einen dafür sorgen, dass sich das – das gilt übrigens für alle Industrieländer, die einen ho- Pendel, das nach dem IT-Boom, nach der Begeisterung hen Anteil von Forschungs- und Entwicklungskosten im und nach dem Platzen der Spekulationsblase in einem privaten wie im öffentlichen Bereich aufweisen, woraus Bereich des absoluten Attentismus gestanden hat, wieder Unternehmensgründungen hervorgehen –, diesen Unter- in einen normalen Bereich einpendelt. nehmen durch direkte Förderung zu helfen. Sie selber haben darauf abgehoben. Es gab eine Menge an Beteili- Man muss zum anderen dafür sorgen, dass der Ven- gungskapital und Gründungshilfen über die KfW und die ture-Capital-Markt verstetigt wird. Dazu gehört, dass wir (B) DtA. Das wird künftig über die KfW-Mittelstandsbank, uns die Möglichkeiten der öffentlichen Hilfen ansehen(D) wie sie, nachdem wir uns gestern geeinigt haben, heißen müssen. Neben den Programmen der KfW, die nach wie wird, fortgeführt. vor eine beachtliche Größenordnung aufweisen – KfW und DtA haben im letzten Jahr zusammen 600 Millionen Das Problem ist natürlich, dass die Zahlung von Hil- Euro zur Verfügung gestellt; das ist auch im europäi- fen einen gewissen Eigenanteil bei der Finanzierung schen Vergleich, den wir nicht zu scheuen brauchen, sehr voraussetzt, der denjenigen, die Unternehmen neu grün- viel Geld –, müssen wir, wo es vernünftig ist, auf die den oder bestehende Unternehmen fortführen wollen,steuerliche Kulisse sehen. zunehmend fehlt. Sie haben das ThemaBusiness Angles angesprochen. Noch viel schwieriger ist – darauf ist ebenfalls schon Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert; das wissen Sie eingegangen worden –, Hausbanken zu finden, die sich wahrscheinlich genauso gut wie ich. Es geht um die bei der Finanzierung eines normalen mittelständischen Frage der wesentlichen Beteiligung. Wenn man eine Unternehmens über das normale Risiko hinaus engagie- nicht wesentliche Beteiligung eingeht, dann ist man ren. Sie sind noch nicht einmal bereit, „Querschreibun- – auch bei einem Gesellschafterdarlehen –, was die Haf- gen“ vorzunehmen, also einen zinsgünstigen Kredit der tung angeht, weitgehend außerhalb des Risikos. Im Falle Mittelstandsbank durchzureichen. Das ist ein riesengro- einer Insolvenz kommt man, zumindest theoretisch, auf ßes Problem, das wir angehen müssen. Wir sind auf je- einen recht hohen Platz auf der Gläubigerliste. Wenn den Fall bereit, über die Instrumente der Banken, die wir man eine wesentliche Beteiligung eingeht, dann ist man haben und die wir sogar etwas schärfer gefasst haben, zwar voll in der Haftung, hat aber den großen Vorteil, Mittel auszugeben und die Programme fortzusetzen, und dass man die Verluste einer solchen Beteiligung im sel- zwar in vergleichbarer Größenordnung wie in der Ver- ben Jahr oder zeitlich gestreckt bei der Steuer voll mit gangenheit. Wir müssen aber auch die Umgebung ent- seinen anderen Einkünften verrechnen kann. Beides sprechend anpassen. gleichzeitig geht aber nicht. Es ist eben anschaulich dargestellt worden, dass vie- Als wir damals diese Änderungen im Steuerrecht vor- les dazu beigetragen hat, dass imHightechbereich im genommen haben, habe ich mit den betreffenden Agen- Augenblick keine Gründungsstimmung aufkommenturen und Einzelpersonen geredet. Am liebsten hätten sie will. Das eine Problem ist, dass in diesem ganz interes- natürlich beides, nämlich die Möglichkeit der vollständi- santen Segment, über das alle gestaunt haben, eine Blase gen Absetzbarkeit möglicher Verluste und gleichzeitig geplatzt ist. Heute trauen sich viele diesen Schritt nicht den Platz eins auf der Gläubigerliste. Das geht bei einem und gehen ihn nicht, auch wenn sie könnten. Das ist ein solchen Geschäft nicht. Wir müssten überlegen, wie man 4054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) zu einer Regelung kommen kann, die etwas besser auf international gelistet. Ein anderer Teil ist allerdings(C) diese besondere Situation zugeschnitten ist, sodass kein „weg vom Fenster“. Sonderfall geschaffen wird, der natürlich Begehrlichkei- ten bei anderen hervorruft. Wir werden neue Anstrengungen erleben, die die Gründerszene massiv befruchten werden. Ich denke, wir Das Gleiche gilt auch für die steuerliche Behandlung sollten das konstruktiv unterstützen. von Risikobeteiligungen. Im Gegensatz zu manchen Vielen Dank. anderen glaube ich, dass wir bei dem im Zusammenhang mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz verfolgten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ansatz, die Verlustzuweisungen zu begrenzen, richtig DIE GRÜNEN) gehandelt haben. Es wird ja niemandem die Möglichkeit des Verlustvortrags genommen, sondern sie wird auf der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zeitachse lediglich verstetigt. Im Grunde genommen ist es eher eine Optimierung der persönlichen steuerlichen Ich schließe die Aussprache. Situation des betroffenen Bürgers, der Einkommensteuer Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf zahlen muss, und des Unternehmens, das Körperschaft- Drucksache 15/815 an die in der Tagesordnung aufge- steuer zahlt. Niemandem wird die Möglichkeit des Ver- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit lustvortrags genommen, sondern sie wird – zugunsten einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Verstetigung der Steuereinnahmen – lediglich ver- die Überweisung so beschlossen. nünftig auf der Zeitachse verteilt. Bei der Körperschaft- steuer haben wir dies gemeinsam mit dem Bundesrat so Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zu- geregelt. satzpunkte 8 und 9 auf: 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Für viel wichtiger halte ich neue Vorstöße bei der Mo- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- bilisierung privaten Beteiligungskapitals. Im Rahmen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung einer Anhörung des Finanzausschusses zum Finanzplatz der Handwerksordnung und zur Förderung Deutschland hatten wir gestern eine ganz spannende von Kleinunternehmen Diskussion. Alle Varianten von der Fondsfinanzierung bis zum Aufbau neuer Märkte – es geht darum, eigene – Drucksache 15/1089 – Börsen für bestimmte Hightech-Segmente aufzubauen –, Überweisungsvorschlag: sind diskutiert worden. Wir haben noch einmal unterstri- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) chen, dass wir in Bezug auf die Fonds das fortsetzen Auswärtiger Ausschuss (B) werden, was wir bereits im Steuervergünstigungsabbau- Innenausschuss (D) Rechtsausschuss gesetz vorgesehen haben. Wir werden die inländischen Finanzausschuss und die ausländischen Fonds zum 1. Januar 2004 steuer- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und lich völlig gleichstellen. Das ist seit längerem bekannt Landwirtschaft und auch verbindlich. Das schafft Planungssicherheit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und es werden Produkte angeboten und Programme auf- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gelegt, die dieser neuen und mit Recht erwarteten steuer- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit lichen Kulisse entsprechen. Ich hoffe, dass auch für die Ausschuss für Bildung, Forschung und Segmente, die wir hier diskutieren, etwas Maßgeschnei- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dertes aufgelegt wird. Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union In Bezug auf das Investmentgesetz, in dessen Rahmen dies vorgesehen ist, und das Investmentsteuergesetz, das ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst parallel dazu verabschiedet wird, werden wir auch zu Hinsken, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, überlegen haben, ob wir der Finanzaufsicht nicht mehr weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ermessensspielraum einräumen sollten, sodass sie kurz- CDU/CSU fristig auf Produktideen, die dieser Gründerkulisse eher Handwerk mit Zukunft entsprechen, reagieren kann und wir weg von der starken Verrechtlichung kommen. Diese erklärt sich aufgrund – Drucksache 15/1107 – des Sicherheitsbedürfnisses, sie führt aber zu sehr lang- Überweisungsvorschlag: samen Reaktionen der Aufsichtsbehörden bei neuen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ideen. Innenausschuss Rechtsausschuss Der Chef der Deutschen Börse hat uns gesagt, dass es Finanzausschuss Hightech-Börsen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und neue geben wird. Es ist die Pflicht der Landwirtschaft Deutschen Börse und der Regionalbörsen, dafür zu sor- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung gen, dass sie eingerichtet werden, auch in internationaler Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Kooperation. Der Neue Markt ist ja geschlossen worden. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es sind ja nicht alle Unternehmen, die in diesem Index Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung notiert waren verschwunden; ein großer Teil wird inzwi- Ausschuss für Tourismus schen an den – in Anführungszeichen – normalen Börsen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4055

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerAllein in den ersten fünf Monaten haben mehr (C) als Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, 90 000 Arbeitslose den Sprung in die Selbstständigkeit weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gewagt, Meisterbrief erhalten und Handwerksordnung (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Subventioniert!) zukunftsfest machen davon 26 000 allein in Form der Ich-AG. Dabei konnte – Drucksache 15/1108 – dieses Konzept – ich wiederhole mich –, seine volle Überweisungsvorschlag: Wirksamkeit noch gar nicht entfalten. Wir versprechen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) uns deshalb von der raschen Umsetzung der Liberalisie- Innenausschuss rung im Handwerksbereich und von der zügigen Bera- Rechtsausschuss tung des Kleinunternehmerförderungsgesetzes im Bun- Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und desrat einen weiteren Durchbruch für mehr Existenzen Landwirtschaft und mehr Beschäftigung. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit DIE GRÜNEN) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Uns hat in den vergangenen Monaten eine Flut von Ausschuss für Tourismus Anfragen Arbeitsloser erreicht, die sich selbstständig Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union machen wollten, jedoch von den Handwerkskammern Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürmit Blick auf die geltende Handwerksordnung daran ge- diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich hörehindert wurden. Abmahnungen, Bußgelder und Betriebs- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schließungen wurden Existenzgründern angedroht oder teilweise vollzogen. Das wollen und müssen wir ändern. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Kollege Brandner für die SPD-Fraktion das Wort. (Jörg Tauss [SPD]: Gewerbefreiheit à la FDP!) Wir wollen in einem ersten Schritt die Handwerksord- Klaus Brandner (SPD): nung für den Bereich einfacher Tätigkeiten entzerren Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- und liberalisieren. Wir nehmen mit dieser kleinen No- nen und Kollegen! Mit der Einbringung des Gesetzent- velle eine Klarstellung in das Gesetz auf, die der wurfes zur Änderung der Handwerksordnung und zur höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht. Worum Förderung von Kleinunternehmen schließen wir eine Lü- geht es konkret? In § 1 Abs. 2 der Handwerksordnung (B) cke aus der Hartz-II-Gesetzgebung. Es geht um das Kon- heißt es: (D) Ich-AG. zept der Wie Sie wissen, gehören zur Ich-AG Ein Gewerbebetrieb ist Handwerksbetrieb im Sinne der Existenzgründungszuschuss aus dem Sozialgesetz- dieses Gesetzes, wenn er handwerksmäßig betrie- buch III, die Minimalbesteuerung, die Einführung einfacher ben wird und ein Gewerbe vollständig umfasst, das Buchführungsrichtlinien für Kleinunternehmen und vor al- in der Anlage A aufgeführt ist, oder Tätigkeiten Handwerksordnung. lem auch die Liberalisierung der ausgeübt werden, die für dieses Gewerbe wesent- Das Kleinunternehmerförderungsgesetz werden wir lich sind (wesentliche Tätigkeiten). morgen in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Es Es kommt also auf die wesentlichen Tätigkeiten an. Wir benötigt allerdings die Zusti mmung des Bundesrates. Der wollen nun mit diesem Gesetz klarstellen, welche Tätigkei- jetzt vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung ten nicht zum Kernbereich eines Handwerks gehören, der Handwerksordnung ist jedoch nicht zustimmungs- also keine wesentlichen Tätigkeiten im Sinne § 1 Abs. 2 pflichtig. Wir können und werden ihn deshalb zügig be- des Gesetzes sind. raten und noch vor der Sommerpause verabschieden. Keine wesentlichen Tätigkeiten eines Gewerbes der (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anlage A der Handwerksordnung sind insbesondere so Sehr gut!) genannte einfache Tätigkeiten, die in kurzer Anlernzeit Erst wenn alle drei Teile des Konzepts im Gesetzblatt erlernbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat „ein- stehen, wird sich – wir werden es sehen – bei der Ich-AG fache Tätigkeiten“ definiert: Es sind Tätigkeiten, die ein eine Gründungsdynamik entwickeln. durchschnittlich begabter Berufsanfänger in zwei bis drei Monaten erlernen kann. Wir stellen in diesem Ge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das glauben Sie setz aber auch klar, dass wesentliche Tätigkeiten auch doch selber nicht!) dann nicht vorliegen, wenn sie zwar eine längere An- – Nun stöhnen Sie nicht schon jetzt, liebe Kolleginnen lernzeit verlangen, aber für das Gesamtbild des betref- und Kollegen von der CDU/CSU; denn entgegen allen fenden Gewerbes der Anlage A nebensächlich sind und Unkenrufen ist unser Weg, Existenzgründungen aus der deshalb nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, Arbeitslosigkeit heraus zu fördern, bereits jetzt ein voller auf die die Ausbildung in diesem Gewerbe hauptsächlich Erfolg. ausgerichtet ist. Schließlich zählen zu den wesentlichen Tätigkeiten im Sinne von § 1 Abs. 2 der Handwerksord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nung nicht solche Tätigkeiten, die sich nicht aus einem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gewerbe der Anlage A entwickelt haben. 4056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Klaus Brandner (A) Mit dieser kleinen Novelle werden viele Unklarheiten Handwerksrecht in Deutschland nicht zukunftssicher(C) der Auslegung der Handwerksordnung und noch mehr und europafest machen. Ungereimtheiten bei ihrer Ausführung beseitigt. Wir werden dadurch mehr Existenzgründungen ermöglichen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die bisher verhindert oder behindert wurden. Gerade DIE GRÜNEN) heute Morgen haben wir in einem Gespräch mit den füh- Wir stehen zum Meisterbrief. Wir schaffen ihn nicht ab. renden Vertretern der Handelsverbände in Deutschland Wir fördern ihn beispielsweise, indem wir das BAföG erfahren, dass der Handel Impulse braucht, um aus der auf eine neue und erweiterte Grundlage gestellt haben. negativen Stimmung herauszukommen. Er sieht einen Damit schaffen wir Qualitätsstandards, von denen viele Impuls darin, durch geschlossene Serviceleistungenandere nur träumen. neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. Zum Beispiel könnten diejenigen, die Teppiche verkaufen, zugleich (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) auch die Serviceleistung des Verlegens oder des Anbrin- Aber die Voraussetzung für die Berufsausübung ist doch gens von Fußleisten anbieten. Es sind also viele Ge-nicht allein der große Befähigungsnachweis. Wem wollen schäftsfelder denkbar, von denen Beschäftigungsimpulse Sie denn klar machen, dass sich ein Diplom-Ingenieur im ausgehen können. Bereiche, die heute brach liegen,Handwerk nicht selbstständig machen kann, sondern nur könnten wir mit dieser gesetzlichen Änderung leicht er- derjenige, der eine entsprechende Meisterprüfung abge- schließen. legt hat? Mit der kleinen Novelle der Handwerksordnung er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) öffnen wir zugleich die Diskussion über die große No- velle der Handwerksordnung, die mit der Vorlage des Wir werden in der Debatte, die uns von anderen euro- Regierungsentwurfs vom 28. Mai 2003 begonnenpäischen Mitgliedstaaten und den europäischen Gerich- wurde. Lassen Sie mich deshalb mit einigen grundsätzli- ten aufgezwungen wird, immer mehr in die Defensive chen Bemerkungen dazu schließen. gedrängt, wenn wir jetzt nicht handeln. Demnächst wer- den Anbieter aus zwölf europäischen Nachbarländern Die Reform der Handwerksordnung kommt aus bei uns ihre Handwerksleistungen ungehindert anbieten meiner Sicht mindestens 13 Jahre zu spät. Spätestens mit können, ohne den gleichen strengen Zugangsvorausset- der Vereinigung Deutschlands wäre eine grundlegende zungen zu unterliegen wie ihre deutschen Mitkonkurren- Reform der Handwerksordnung überfällig gewesen. So ten. Hier muss etwas passieren. haben wir noch zu Beginn der 90er-Jahre das alte Regel- werk in die neuen Bundesländer übertragen, mit fatalen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Konsequenzen für die Gründungsdynamik in diesen (D) Ländern. Wir hätten uns viel Ärger ersparen und für Den zukünftigen Existenzgründern sage ich: Wir wer- viele Gründungswillige auch ein hohes Maß an Unge- den für mehr Berufsfreiheit in einem bisher regulierten rechtigkeiten vermeiden können, wenn wir schon damals Markt sorgen. Das wird Ihnen helfen. Es wird erheblich mutig an eine Novellierung der Handwerksordnung her- leichter sein, eine selbstständige Existenz im Handwerk angegangen wären. Wie viele hoch qualifizierte Techni- zu gründen. Wir werden Ihnen dabei zur Seite stehen, ker, Ingenieure und Werkmeister aus der ehemaligenangefangen mit Förderinstrumenten wie dem Überbrü- DDR sind davon abgehalten worden, sich im Handwerk ckungsgeld oder der Ich-AG, mit steuerlichen Hilfen und selbstständig zu machen, mit der Begründung, sie hätten günstigen Kreditprogrammen der Mittelstandsbank, mit keinen Meisterbrief? Das werden wir jetzt ändern – für der Modernisierung der beruflichen Bildung, bis hin viele leider 13 Jahre zu spät. zum Meister-BAföG. Damit bieten wir ein komplettes Zum Schluss noch eine Bitte an das Handwerk und an Programm an. Ich denke, dieses Programm ist in die Zu- die Verbandsfunktionäre: Rüsten Sie verbal ab! kunft gerichtet. Ich bitte Sie dazu um Ihre Unterstützung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN)

Was hier in den letzten Tagen und Wochen an Verbands- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: radikalismen in die Debatte eingeführt wurde, ist nur schwer erträglich. Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD – Christian Lange [Back- nang] [SPD]: Klaus Zwickel ist nichts dage- (Beifall bei der CDU/CSU) gen! – Jörg Tauss [SPD]: Dagegen sind Ge- werkschaftler harmlos! – Dirk Niebel [FDP]: Ernst Hinsken (CDU/CSU): Und das sagt ein Gewerkschaftsfunktionär!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will hier auf Beispiele verzichten. Es war jedenfalls Herr Brandner, auch wenn Sie sich noch so oft einreden, nicht meisterlich, was dort geboten wurde. Es ist eher dass die Ich-AG etwas Gutes sei: Es wird nicht stimmen. beschämend, meine Damen und Herren. Die Realität draußen zeigt etwas ganz anderes. Die Sorge im Handwerk ist gerade wegen der Einführung der Den Handwerkern, die uns heute zuhören, sage ich: Ich-AG besonders groß. Wenn Sie als Spitzenredner und Wenn wir jetzt nicht handeln, dann können wir daswirtschaftspolitischer Sprecher der SPD hier ans Pult ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4057

Ernst Hinsken (A) hen, dann, so meine ich, sollten Sie sich so vorbereiten, Jetzt blasen Sie, meine Damen und Herren von Rot- (C) dass Sie nichts Falsches sagen. Grün, aus ideologischen Gründen zum Sturm auf den Meisterbrief. Wer sich so verhält, ist unglaubwürdig. (Dr. [CDU/CSU]: Richtig!) Ich kann auch nicht ganz nachvollziehen, dass eine Sie haben darauf verwiesen, dass die Novellierung der große Tageszeitung in der vergangenen Woche getitelt Handwerksordnung um 13 Jahre zu spät kommt, dass da- hat: Das Handwerk hat mit Clement seinen Meister ge- mals nicht gehandelt wurde, als die neuen und die alten Bun- funden. – Darauf kann ich nur erwidern: Es hat nicht sei- desländer vereinigt wurden. Hinsichtlich der Anerkennung nen Meister, sondern seinen Vernichter gefunden. Das ist von Meisterprüfungen – zum Beispiel in der Industrie –die Sorge, die uns vor allem bewegt. möchte ich Sie daran erinnern, dass die Verordnung über (Beifall bei der CDU/CSU) die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen von Meistern 1991 im Bundestag beschlossen wurde. Ich sehe Seit vergangenem Mittwoch ist im Handwerk die es Ihnen nach, dass Sie das nicht wissen, weil Sie damals Hölle los: Briefe, Telefonate, Hilferufe noch nicht im Bundestag waren. Sie können es aber nach- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lesen. Wir waren damals sehr wohl auf der Höhe der Zeit Wahnsinn!) und haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen. treffen zigfach bei mir und meinen Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Kollegen ein. Brandner [SPD]: Sie müssen mal zur Sache kommen, Herr Hinsken!) (Klaus Brandner [SPD]: Alles bestellt! Zahlt die CDU-Fraktion das Porto?) Ich gehöre zu den Anhängern des großen Befähi- gungsnachweises. Ich gehöre zu denen, die dieBundesminister Clement und Sie, seine Genossen, Handwerksordnung, die das Handwerk mit seinem schlagen wie bei einem Amoklauf wild um sich: Belei- Kammerwesen, mit seinem Innungswesen für un- digungen am laufenden Band. Entspricht das Ihrem Ver- verzichtbar halten. ständnis der Zusammenarbeit; wollen Sie so die Hand- werks-ordnung gestalten und meinen Sie, dass das Das sagte – passen Sie jetzt gut auf! – Bundesminister Handwerk sie dann mittragen kann? Clement auf dem Deutschen Handwerkstag am 29. No- vember 2002, also vor einem halben Jahr, in Leipzig. Ich möchte nur an die Worte von Minister Clement in Leipzig erinnern. Wenn Herr Clement ausführt, dass ihn (Dirk Niebel [FDP]: Hat er vergessen!) zum Beispiel der Betrug am Sozialstaat wütend macht, Ich zitiere Bundesminister Clement weiter: dann halte ich ihm entgegen: Auch uns macht das wü- (B) tend. Aber Mittelständler öffentlich zu bezichtigen, dass (D) Es wird durch diese Bundesregierung, jedenfallssie ihre Ehepartner als Scheinangestellte beschäftigen, durch mich, keine Maßnahmen geben, die gewis- die sich dann arbeitslos melden und auf Kosten der All- sermaßen von oben herab Veränderungen im Hand- gemeinheit Geld kassieren – wie erst gestern wieder ver- werk erzwingen wollen. schiedenen Pressemeldungen zu entnehmen war –, ist (Dirk Niebel [FDP]: Das hat er auch mehr als starker Tobak. vergessen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Das, was wir tun, was wir tun können im Verhältnis Das ist wohl noch nie vorgekommen?) zum Handwerk, was die Rechtsordnung angeht, die Für mich ist das Brunnenvergiftung, die wir für keine Handwerksordnung angeht, das wird nur so gestal- gesellschaftliche Gruppierung wollen und schon gar tet werden, dass Sie nicht für das Handwerk, eine wichtige wirtschaftliche – gemeint war das Handwerk – Gruppierung, auf die wir in der Vergangenheit in großar- tiger Weise setzen konnten und weiter setzen wollen. mitgehen. Wir werden das mit Ihnen tun, das was Denn wegen ein paar schwarzer Schafe eine gesamte ge- notwendig ist, aber nicht ohne Sie, nicht gegen Sie sellschaftliche Gruppierung in Verruf zu bringen geht und erst recht nicht von oben herab. Das ist mein weit über meine Vorstellungswelt hinaus. Verständnis der Arbeit. Was machen Sie noch? Täter- und Opferrolle werden (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Dafür hat er vertauscht: Sie von Rot-Grün treiben Deutschland in die Applaus verdient!) wirtschaftliche Misere und schieben den schwarzen Peter dem Handwerk zu. So leicht machen Sie es sich! Wo er Recht hat, hat er Recht. Aber den Worten müss- ten auch Taten folgen. Davon kann aber nicht die Rede (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sein. Auch folgender Punkt ist nicht zu übersehen. Mir (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. kommt es so vor, als ob Sie von Rot-Grün, insbesondere Birgit Homburger [FDP]) Herr Clement, über eine radikale Korrektur des Hand- werksrechts das Handwerk dafür abstrafen wollen, dass Denn das Verfallsdatum von Clements Worten ist schnel- es bei der letzten Wahl nicht die SPD gewählt hat. ler abgelaufen, als die Worte aus seinem Munde sprudeln. Lassen Sie mich ein Sprichwort von La Fontaine zitieren: (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da ist etwas Am Werke erkennt man den Meister! dran! Das war eine kluge Entscheidung!) 4058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Ernst Hinsken (A) Sie ignorieren völlig, wofür das deutscheHandwerk Aber Sie haben ja noch nicht einmal mitbekommen, dass (C) steht: für 5,3 Millionen Arbeitsplätze und 528 000 Aus- es mehrere verschiedene Anträge gibt. Herr Kuhn, ich bildungsplätze in 580 000 Betrieben, und das, obwohl bitte Sie, künftig zuerst alles zu lesen und nicht mehr im letzten Jahr über 10 000 Betriebe Pleite und dadurch solche saudummen Zurufe wie eben zu machen. 300 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu stel- [Backnang] [SPD]: So geht das aber nicht, len, warum nur etwa die Hälfte derjenigen, die die Meis- Herr Präsident!) terprüfung ablegen, in dieSelbstständigkeit gehen. Für mich gibt es nur eine kurze Antwort: weil die Bedingun- Bei der Reform der Handwerksordnung darf meiner gen so schlecht sind. In Deutschland stehen 130 000Meinung nach – das ist auch die Meinung unserer Handwerksmeister in Reserve. Sie, meine Damen und Freunde im Handwerk – das Kind nicht mit dem Bade Herren von Rot-Grün, sollten dafür sorgen, dass dieausgeschüttet werden. Es ist unbestritten, dass Deutsch- Rahmenbedingungen verbessert werden. Ich prophezeie land moderne, dynamische, flexible und europafeste Ihnen, dass es, wenn Sie das tun, einen wahren Boom an Handwerksmeister braucht. Wir brauchen Unternehmer, Existenzgründungen geben wird. Es gibt das alte Sprich- die mit Fachkompetenz, betriebswirtschaftlichem Fach- wort: Ein schlechtes Handwerk, das seinen Meister nicht wissen, Mut und handwerklichem Können neue ernährt! Abgewandelt auf die Bundesregierung, muss es Geschäftsideen entwickeln und Kunden gewinnen. Tref- heute heißen: Eine schlechte Regierung, die ihre Meister fend heißt es hierzu in den „Meistersingern“ von Richard ausgrenzt! Wagner: „Verachtet mir die Meister nicht!“ Der Meister- brief muss als Qualitätssiegel des deutschen Handwerks Wie sieht denn Ihre Antwort aus? Herr Clement hofft erhalten bleiben. Anstatt diesen, wie von der Bundesre- auf die Gründung von 200 000 Ich-AGs durch Erwerbs- gierung vorgesehen, unter dem Gesichtspunkt der Ge- lose noch in diesem Jahr. Anstatt tüchtige Existenzgrün- fahrenabwehr nur noch in 29 von 94 Handwerksberufen der zu fördern, kommt wieder nichts Gescheites heraus zu belassen, sollten unserer Meinung nach auch Krite- frei nach dem Motto: Denn sie wissen nicht, was sie tun! rien wie Ausbildungsleistung und Schutz wichtiger Ge- meinschaftsgüter berücksichtigt werden. Allein die Er- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: füllung eines dieser Kriterien sollte als Voraussetzung Wo haben Sie denn das her?) ausreichen, damit sich ein Gewerbe in der Anlage A der Sie von Rot-Grün sind feige – das betone ich aus-Handwerksordnung wiederfindet. drücklich noch einmal –, weil Sie nicht den Mut aufbrin- gen, heute Ihre vom Kabinett verabschiedeten Vor- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Ist das eine Rede nach innen oder was (B) schläge zur Novellierung der Handwerksordnung in den (D) Deutschen Bundestag einzubringen. ist das hier?) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungs- Meckerei! Schlechtreden!) bank – diese ist ja geradezu überfüllt –, haben kein Gesel- lenstück, geschweige denn eine Meisterleistung abgeliefert. Sie haben gerade einmal einen Zehn-Zeilen-Antrag vor- Sie – das möchte ich hier ausdrücklich sagen – dürften nicht gelegt. Da lobe ich mir meine Kolleginnen und Kollegen einmal in die Anlage B aufgenommen werden. von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion, die jeweils einen umfangreichen Antrag in den Bundestag einge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dirk Niebel bracht haben und die versuchen, den Bürgern und insbe- [FDP]: Da hat er Recht! – Klaus Brandner sondere den Handwerkern wieder Perspektiven zu geben [SPD]: Das Maß an Arroganz ist wirklich un- und Mut einzuflößen, den sie dringend benötigen und erträglich!) der ihnen bislang abgeht, weil Sie das Handwerk so lange nach unten gedrückt haben, bis negative Zahlen zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: verzeichnen gewesen sind. Herr Kollege Hinsken, denken Sie bitte an die Rede- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zeit. Es ist traurig, dass Sie, wie zu lesen ist, auch bei dem vorliegenden Gesetzentwurf mit allen Raffinessen trick- Ernst Hinsken (CDU/CSU): sen, um den Meisterbrief abzukoppeln. Sie haben genau gestoppt, Herr Präsident. Danke für (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Hinweis. Das ist gar nicht in der Tagesordnung!) Der Begriff „Meister“ steht überall für etwas Positi- Es ist nicht hinnehmbar, wenn Bundeswirtschaftsminis- ves und Besonderes, im Sport genauso wie in der Politik. ter Clement eine Reform der HWO gegen das Handwerk Was für einen Mediziner der Doktortitel ist, ist für einen über das Knie brechen will. Nicht gegeneinander, son- Handwerker der Meistertitel. Wir haben in zwölf Punk- dern miteinander – so müsste das Gebot der Stunde sein. ten zusammengefasst, wie wir uns den Meister der Zu- Das war auch versprochen. kunft vorstellen. Das wird in den nächsten Wochen und Monaten von entscheidender Bedeutung sein. Wir lassen (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie reden in diesem Bereich nicht locker. Wir werfen uns für das doch am Thema vorbei!) Handwerk in die Bresche. Wir wollen die Voraussetzun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4059

Ernst Hinsken (A) gen dafür schaffen, dass sich das Handwerk auch in Zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Von Tuten und Bla- (C) kunft entfalten kann, sen keine Ahnung!) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sagen Wenn man Berufe, die nicht mit Gefahren verbunden Sie das mal Ihren eigenen Leuten!) sind, von der Anlage A der Handwerksordnung in die Anlage B überführt, ist das eine Erleichterung für Exis- dass es nicht zu guter Letzt von Ihnen so unterdrückttenzgründungen. Deswegen werden wir das tun. Für un- wird, dass es nicht mehr zu existieren vermag. sere Fraktion ist eher die Frage, ob nicht noch mehr der (Klaus Brandner [SPD]: Ihre eigenen Leute se- Berufe, die jetzt noch inder Anlage A stehen, in die hen das aber anders, Herr Hinsken! Zu wem Anlage B überführt werden können. reden Sie jetzt?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. und bei der SPD – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Völliger Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Jetzt hat der Ich will noch einmal klar sagen: Wir sind nicht gegen Clement seinen Meister gefunden! – Christian den Meisterbrief. Lange [Backnang] [SPD]: Freiheit! – Klaus (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Keine Ahnung!) Brandner [SPD]: Das ist ja schlimmer als in der DDR!) Das können Sie der Bevölkerung draußen nicht weisma- chen. Wir sind fest davon überzeugt, dass der Meisterbrief eine andere Bedeutung bekommen muss. Er muss ein Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Qualitätssiegel sein, das den Verbraucher darüber infor- Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die miert, dass derjenige, der ein solches Siegel hat, für eine Grünen, das Wort. besondere Qualität bürgt und eine besondere Ausbildung hat. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Solch ein Quali- Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und tätssiegel bräuchten die Grünen auch, Herr Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute bera- Kuhn!) ten, und dem, den wir in einiger Zeit beraten werden,Deswegen können Sie diese einfache Gleichung nicht machen wir eine umfangreiche Reform der Handwerks- aufstellen. ordnung, die Teil der Agenda 2010 ist. Ich will Ihnen (B) einfach einmal die Ziele nennen. Jetzt will ich einmal eine ordnungspolitische Frage an (D) die Union stellen. Wir wollen mehr Chancen für Betriebsgründer. Wir wollen deregulieren und Zwangsbarrieren abbauen. Wir (Zuruf von der CDU/CSU: Da sind wir sehr wollen den Wettbewerb optimieren. Wir wollen Klein- gespannt!) unternehmen fördern. Schließlich wollen wir einen Bei- trag zum Abbau der Schwarzarbeit leisten. Ich will Ih- – Ja, das ist eine ordnungspolitische Grundfrage, um die nen ganz klar sagen, dass dies Ziele sind, an denenSie sich nicht herumdrücken können. – Ich will Ihnen jemand, der an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in einmal drei Zitate von Herrn Merz vorlesen; das werden Deutschland interessiert ist, nach meiner festen Über- Sie ja wohl aushalten. zeugung nicht vorbei kann. Erstens. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir sind sofort bereit, mit Ihnen ein erhebliches und bei der SPD) Stück an Bürokratieabbau zu betreiben. Was Sie hier aufziehen nach dem Muster „Ist man nun Friedrich Merz am 30. Oktober hier im Bundestag. für oder gegen das Handwerk, für oder gegen den Meister?“, ist eine völlig falsche und fatale Diskussion, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit der Sie von einem Problem ablenken wollen, das Sie – Sie können auch klatschen; das ist ja von Herrn Merz. haben. Zweitens. Wir wollen mit dem, was wir machen, das Handwerk stärken und wir wollen auch den Meister stärken. Aber Alte Besitzstände können nicht gegen ökonomische eines wollen wir nicht, nämlich dass der Meisterbrief Erfordernisse aufrechterhalten werden. eine Zugangsbeschränkung für junge Existenzgründer Herr Merz in einem „DHZ“-Gespräch. wird. Das ist er in einigen Bereichen unserer Wirtschaft heute. Drittens. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es sollte auch gelingen, mehr Menschen als bisher und bei der SPD) Anreize zum selbstständigen Unternehmertum zu geben. Deswegen machen wir die Reformen, die auf dem Tisch liegen. Friedrich Merz in „Mut zur Zukunft“. 4060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Fritz Kuhn (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir wollen Kleinunternehmen fördern. Wer einfache Tä- (C) Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genau das brau- tigkeiten, die man in zwei bis drei Monaten erlernen chen wir! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was kann, auf dem Markt anbieten will, soll dies ohne Diskri- hat das mit der Handwerksordnung zu tun? minierung durch die Handwerkskammern und die Be- Nichts!) hörden tun können. Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich In diesem Zusammenhang möchte ich ganz offen wirklich seltsam. Sie reißen in solchen Zitaten – Ihre Re- – auch an Ihre Adresse, Herr Hinsken – sagen: Es geht den hier im Haus sind voll davon – die Klappe für Frei- hier um Bereiche, in denen einzelne Handwerker in der heit auf und sind andererseits für Zugangsbeschränkun- letzten Zeit wirklich versagt haben. gen. Was Sie hier ordnungspolitisch darstellen, kann (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie haben ver- nicht funktionieren. sagt!) (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie schütten das Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus meinem häus- Kind mit dem Bade aus!) lichen Umfeld nennen: Aufgrund eines Sturmschadens Sie machen eine Rolle rückwärts und verteidigen die Zu- musste ein Zaun neu gespannt werden. Jetzt versuchen gangsbeschränkungen, die es heute gibt. Mancher kann Sie einmal, beim deutschen Handwerk in Berlin einen einen Handwerksbetrieb einfach deshalb nicht aufma- Schlosser oder jemand anderes aus diesem Gewerk zu chen, weil er den Meisterbrief nicht machen will oder finden, der in solch einem Fall hilft. nicht machen kann. (Dirk Niebel [FDP]: Ich dachte, Sie sind in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heidelberg zu Hause!) und bei der SPD) Ich habe vier oder fünf Anrufe getätigt und nur Absagen bekommen. Man sagte mir, das lohne sich nicht, das Was Sie machen, ist ganz einfach Folgendes: Sie träl- funktioniere nicht oder man habe keine Zeit, ich solle lern das Lied der Freiheit und schlagen die Trommeln später noch einmal anrufen. Es war ein Hin und Her. des Zwangs. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Grünen sollen (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Völliger das selber machen!) Quatsch!) Diese einfache Aufgabe hat letztendlich eine Berliner Das ist die Ordnungspolitik, mit der Sie uns hier kom- Firma ausgeführt, die heute diskriminiert wird, aber in men. der Lage ist, in einem Allroundpaket diese und verschie- (B) Der Angriff, Herr Merz, den Sie auf die SPD und diedene andere Dienstleistungen anzubieten. Im Bereich(D) Gewerkschaften – in der Verbindung! – immer führen, der Existenzgründungen und der Ich-AGs wollen wir ist nichts anderes als Projektion. Sie werfen den anderen ermöglichen, dass solche Tätigkeiten einfach ausgeführt ein Problem vor, dass sie in großer Abhängigkeit von ei- werden können. Sie blockieren das. Sie wollen den ner bestimmten gesellschaftlich relevanten GruppeMarkt und damit auch den Wettbewerb beschränken. seien, und tatsächlich haben Sie selbst das Problem,Das alles begründen Sie mit fadenscheinigen Argumen- nämlich in Bezug auf das Handwerk. Ich kann diesbe- ten. Was Sie wollen, ist nichts anderes als krude und ele- züglich keinen Unterschied sehen. Sie gehen vor Lobbys mentare Wettbewerbsbeschränkung. Das kann doch in die Knie und werfen eben dies anderen vor. nicht angehen. (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So ein Blöd- Zu Ihrem Zwischenruf, man solle das doch selber ma- sinn! Das habe ich überhaupt noch nicht ge- chen, muss ich Ihnen sagen: Sie haben keine Ahnung da- hört!) von, wie viele Arbeitsplätze wir durch das Angebot von Dienstleistungen, nach denen viele Leute suchen und die So etwas ist politisch nicht in Ordnung und es wird sich in Anspruch genommen würden, schaffen könnten. Des- meines Erachtens rächen. halb muss die Möglichkeit gegeben werden,Allround- betriebe zu gründen, die beispielsweise einen Wasser- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto hahn reparieren oder eine Dachrinne säubern können, Solms) ohne dass sie von den Handwerkskammern und den Be- Worum geht es? Ludwig Erhard hat gesagt: Markt- hörden verfolgt werden. Das ist der entscheidende wirtschaft ist, was den Verbrauchern dient. Wer markt- Punkt. Wenn Sie das nicht verstehen, haben Sie von der wirtschaftlich denkt, beseitigtZugangsbarrieren bei modernen Berufswelt und der Realität, in der die Bevöl- der Eröffnung von Geschäften. Wir von der Regierung kerung lebt, meines Erachtens keine Ahnung. Deswegen machen das in diesem Bereich sehr konsequent. behandeln wir heute diesen Gesetzentwurf in erster Le- sung und werden ihn nach den Beratungen im Ausschuss Jetzt möchte ich noch eine Bemerkung zu dem Ge- auch verabschieden. setzentwurf machen, der heute in erster Lesung beraten wird; die anderen Vorlagen sind noch nicht eingebracht Was Sie zu den Ich-AGs sagen, ist wirklich Mumpitz. worden. Kollege Brandner hat dazu Ausführungen gemacht. Wir haben einen Anfang gemacht, aber wir haben bei der (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Alles platt ma- Verabschiedung der Vorschläge der Hartz-Kommission chen wollt ihr! Das ist es!) ganz deutlich gemacht: Es muss noch einiges dazukom- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4061

Fritz Kuhn (A) men, zum Beispiel die Förderung von Kleinunternehmen Ich will versuchen, das zu begründen: Sie schaffen(C) und der Abbau von Diskriminierungen, die es heuteein Qualifikationsmerkmal, eine Berufszugangsvoraus- noch gibt. setzung ab und erklären dies zu einem Beitrag zur Libe- ralisierung und zu einem Beitrag, mit dem eine höhere Herr Schauerte – Sie gucken so merkwürdig –, erklä- Selbstständigenquote erreicht werden kann. ren Sie mir einmal ordnungspolitisch: Mit welchem Ar- gument wollen Sie jungen Leuten, die so etwas anbieten (Klaus Brandner [SPD]: Das wollen Sie doch wollen, um sich aus der Arbeitslosigkeit zu befreien, auch!) Ihre Ablehnung begründen? Was soll dafür denn der Grund sein? Welches Argument spricht dafür, dass Ich stelle Ihnen einmal eine Frage: Wenn ich es rich- Handwerker ein Monopol auf solche Tätigkeiten, die sie tig weiß, haben Sie auf Lehramt studiert. Käme irgendei- nicht ausüben wollen, haben, während andere, die diese ner von Ihnen auf die Idee, die zweite Staatsprüfung für Arbeit machen wollen und arbeitslos sind, dazu nicht be- das Lehramt abzuschaffen, um auf diese Art und Weise rechtigt sind? Das müssen Sie mir einmal vernünftig er- eine höhere Beschäftigungsquote der Lehrer zu ermög- klären. Sie können das ja im Ausschuss versuchen. lichen? Was meinen Berufsstand anbetrifft, stelle ich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frage: Kommt irgendeiner von Ihnen auf den Gedanken, und bei der SPD) die zweite juristische Staatsprüfung abzuschaffen und das als einen Beitrag zur Deregulierung zu bezeichnen, Damit will ich zum Schluss kommen. Wir werdenum so eine größere Anzahl von Richtern, Staatsanwälten mehr Wettbewerb im Bereich der handwerklichenund Rechtsanwälten in der Bundesrepublik Deutschland Dienstleistungen schaffen. Wir werden uns in diesemzu ermöglichen? Zusammenhang nicht in eine Auseinandersetzung mit Ihnen treiben lassen. Wir lassen uns nicht nachsagen, wir Mit Verlaub, Herr Kollege Kuhn, das ist doch eine seien gegen den Meisterbrief; er ist als Gütesiegel wich- Ausrede. In Wahrheit geht es Ihnen um etwas ganz ande- tig für den Verbraucherschutz. Wir werden die Pläneres: Es stört Sie, dass es in der Bundesrepublik Deutsch- sehr rasch umsetzen, damit unsere Marktwirtschaft fle- land ein hohes Maß an Qualifikation und privatwirt- xibler wird. schaftlicher Fähigkeit zur Ausbildung gibt. Ihre Antwort lautet: Auf der einen Seite organisieren Sie den Bereich Ich dachte immer, dass die Union für Flexibilität und der Mikroökonomik, die Volkswirtschaft ganz unten, Wettbewerb stehe. neu – Stichworte Ich-AG und Kleinstunternehmerförde- (Dirk Niebel [FDP]: Das haben Sie nie ge- rung – und holen diesen Bereich damit sozusagen aus dacht!) der Schwarzarbeit heraus und stellen ihn in Konkurrenz (B) zur Realwirtschaft. Auf der anderen Seite schaffen Sie (D) Wenn man die Seligsprechung des Handwerks durchganz oben mitbestimmte große Konzerngesellschaften, Frau Merkel – sie beschrieb es als Herzstück der Gesell- die der andere Teil Ihres gesellschaftspolitischen Leit- schaft – betrachtet, dann stellt man fest: Das war starker bildes sind. Dazwischen gibt es aber noch etwas: die Tobak. Ich kann nur sagen: Der Papstbesuch hat ihr nicht tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft mit quali- gut getan. Sie hätte etwas nüchterner reden sollen. fizierten Berufszugängen und hervorragender privat- Vielen Dank. wirtschaftlicher Ausbildungsleistung. All das stört Sie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das haben wir übrigens heute Morgen in der Berufs- DIE GRÜNEN – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: bildungsdebatte und in der Debatte über die Abgabe, die Die letzte Bemerkung hätten Sie sein lassen Sie für nicht ausbildende Unternehmen erheben wollen, können!) gehört.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bitte Sie: Wenn Sie mich in Zukunft zitieren, dann zitieren Sie mich in diesem Zusammenhang bitte voll- Der Kollege Friedrich Merz hat jetzt das Wort zu ei- ständig und fügen Sie hinzu, was ich über dieReform- ner Kurzintervention. bedürftigkeit der Handwerksordnung gesagt habe. Ich gehöre nämlich zu denjenigen, die sehr nachdrück- Friedrich Merz (CDU/CSU): lich gesagt haben, dass hier manches reformiert werden Herr Kollege Kuhn, Sie haben meine Aussagen inmuss. Wenn Sie unseren Antrag lesen, werden Sie fest- mehreren Interviews zitiert. Ich möchte zunächst aus- stellen, welche Reformen wir vorschlagen. Lieber Herr drücklich bestätigen, dass die Zitate richtig sind undKuhn, die Redlichkeit gebietet es, dass Sie dies in Zu- überhaupt nicht dem widersprechen, was wir zur Hand- kunft auch sagen. werksordnung zu sagen haben. Ich entnehme dem Handbuch des Deutschen Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tages, dass Sie zwischen 1989 und 1992 eine Professur Sie widersprechen auch nicht unseren berechtigten Ein- für sprachliche Kommunikation an der Stuttgarter Merz- wendungen gegen Ihren heutigen und den noch kom-Akademie inne hatten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn menden Gesetzentwurf. Sie bei dem bleiben würden, was politische Seriosität ausmacht. (Jörg Tauss [SPD]: Sie haben am Mittwoch gut zugehört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 4062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Zur Erwiderung, Kollege Kuhn. Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDP- Fraktion. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg Tauss [SPD]: Noch ein großer Deregu- Lieber Kollege Merz, ich bin überrascht. Ich dachte, lierer!) Sie seien ein echter Marktwirtschaftler. Ihre Ausführun- gen haben das aber nicht bestätigt. Dirk Niebel (FDP): (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie haben sich mit dem Thema nicht auseinander gesetzt!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Ich will Ihnen sagen, an welchem Punkt wir nichtDeutschland ist bei seiner ersten Wahl mit der Maßgabe übereinstimmen: Bei nicht gefahrgeneigten Berufenangetreten, sich am Abbau der Arbeitslosigkeit messen – darüber reden wir; wir können darüber diskutieren,lassen zu wollen, und zwar jederzeit. Im Zusammenhang welche Berufe das sind – ist der Markt eine herausra-mit dem Hartz-Konzept wurde von 2 Millionen zusätz- gend gut funktionierende Instanz, um zu beurteilen, ob lichen Arbeitsplätzen gesprochen und die Bundesregie- die Leistung und die Qualifikation, die jemand erbringt, rung bietet uns seit fünf hren Ja wirklich einiges. Ich tatsächlich gut ist oder nicht. Genau das wollen wir. Sie habe mir einmal eine Stichwortsammlung zusammen- wollen das nicht. Sie misstrauen der Fähigkeit der Ver- gestellt, die jedoch nicht vollständig ist: JUMP, Job braucherinnen und Verbraucher, zu beurteilen, welche AQTIV, Hartz, Jobfloater, Kapital für Arbeit, Firmen sie für welche Dienstleistungen in AnspruchAgenda 2010, Ich-AG, IWAN. All das soll die Arbeits- nehmen. marktprobleme lösen. Aber wir hören heute aus Nürn- (Zuruf des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU]) berg, dass wir wieder 400 000 Arbeitslose mehr haben als im gleichen Monat letztes Jahr. – Hervorragend! – Selbstverständlich. Ansonsten würden Sie nicht sagen, dass man uns arme Individuen vor Missgriffen schützen (Birgit Homburger [FDP]: Nicht hervor- und darum auf jeden Fall den Meisterzwang aufrechter- ragend! Schlecht!) halten müsse. In dieser ordnungspolitischen Frage be- Diese Bundesregierung ist grandios bei der Schöpfung steht zwischen uns eine Differenz. von Worthülsen und versagt kläglich bei der Bekämp- Sie sind ein halbierter Marktwirtschaftler. Sie miss- fung der Arbeitslosigkeit und der Schaffung von Rah- trauen dem Marktgeschehen. Ich kann allein beurteilen, menbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, durch die die (B) ob das Brot eines Bäckers schmeckt. Das hat nichts mit Wirtschaft wieder wachsen kann und mehr Menschen in (D) der Frage zu tun, ob der Bäcker einen Meisterbrief hat den Arbeitsmarkt können. oder nicht. Der Markt entscheidet selbstverständlich auch, ob die Qualität stimmt oder nicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zu Ihrer Frage bezüglich der Schule. Ich habe nicht Sie haben mit der Ich-AG ein neues Instrument ge- auf Lehramt studiert, aber egal. Die Schule ist durch die schaffen, ein weiteres Pflänzchen im Dschungel der un- Erziehung der Kinder ein öffentliches Gut, das wir nach endlichen Fördermöglichkeiten der Bundesanstalt für unserer Überzeugung – übrigens nicht unbedingt nach Arbeit. Herr Brandner, Ihr Staatssekretär Andres schreibt Ihrer – nicht allein dem Markt überlassen können; denn mir, Eingang 5. Juni, auf meine parlamentarische An- wenn bestimmte Ergebnisse nicht erzielt werden, ist der frage, es habe 16 094 Ich-AGs gegeben; das sind fünf- Schaden an unseren Kindern irreparabel. Das ist dermal weniger als beim Überbrückungsgeld. Sie hätten das Grund, warum jedenfalls wir auf einemöffentlichen Geld in die Hand nehmen und in den Topf für Über- Schulwesen bestehen und die Privatschulen nach stren- brückungsgeld geben sollen, dann hätten Sie ohne Ver- gen gesetzlichen Regelungen allerhöchstens als Ergän- komplizierung und weiteren bürokratischen Wust die zung dazu verstehen. Förderung der Existenzen ehemals Arbeitsloser weiter- hin unterstützen können. Das wäre effektive Arbeits- Deswegen geht es selbstverständlich in diesem Fall marktpolitik gewesen. um die Qualifikationen, die unsere Gesetze vorschrei- ben, womit ich nicht sagen möchte, dass wir bei der Leh- Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, mit dem die rerausbildung in Deutschland und vor allem bei derHandwerksordnung verändert werden soll. Sie machen Lehrerfortbildung nicht einiges verbessern könnten. einen entscheidenden Fehler: Sie nehmen diejenigen, die in dem Bereich arbeiten und davon leben, die die Stütze Im Klartext: Ihre Unterstellung uns gegenüber funktio- der Ausbildung in diesem Land und das Rückgrat der niert nicht. Wir wollen soviel Marktwirtschaft, wie in deutschen Wirtschaft sind, bei den notwendigen Reform- diesem Bereich möglich ist. Ich muss nur feststellen, dass schritten nicht mit. Sie knallen ihnen einfach eine Än- Sie den Marktkräften misstrauen und eigentlich, Herr derung vors Hirn, die sie nicht nachvollziehen können, Merz, doch ein ganz schöner Regulierer sind, obwohl Sie obwohl doch selbst die Handwerksorganisationen ver- immer Deregulierung auf Ihre Fahnen schreiben. standen haben und wissen, dass die Handwerksord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nungsreform notwendig ist, dass sie zukunftssicher und und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: europafest gemacht werden muss. Nehmen Sie sie doch Das ist doch Quatsch!) an die Hand, wie es Herr Clement vor dem Handwerks- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4063

Dirk Niebel (A) tag gesagt hat, und nehmen Sie sie bei den notwendigen Wenn es so weitergeht, wie wir es von Ihnen gewohnt(C) Veränderungsschritten mit! sind, dann wird daraus eine Agenda zwei Zehntel. Genau Das kann zum Beispiel eine Veränderung der Aner- auf diesem Weg befinden wir uns jetzt. kennung anderer Qualifikationen, anderer Zugänge sein, Wenn das Handwerk mitgenommen werden soll, dann ein Abgehen vom Inhaberprinzip, das es ermöglicht,muss es sich auch bewegen. Deswegen hat Walter dass man meinetwegen einen Meister einstellt und soDöring Recht. Deswegen hat die FDP-Bundestagsfrak- seine selbstständige Existenz gründet. Es muss mit Si- tion Recht. Deswegen könnten Sie unserem Antrag ei- cherheit eine Veränderung bei derMeisterausbildung gentlich zustimmen. als solche erfolgen; sie ist zu teuer, zu lang, zu bürokra- tisch. Aber insgesamt könnten Sie das Handwerk mit- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nehmen auf einem fortschrittlichen Weg zu einer Moder- der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend [SPD]: Des- nisierung eines der wichtigsten Wirtschaftszweige, die wegen hat die Bundesregierung Recht!) wir in der Bundesrepublik Deutschland haben. Das tun Wir haben heute 400 000 Arbeitslose mehr als vor ge- Sie nicht und deswegen werden Sie auch hier versagen. nau einem Jahr und Sie legen uns einen Gesetzentwurf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zur Ich-AG vor! Das ist ein Skandal; es ist schlichtweg eine Unverschämtheit. Wir müssen die Arbeitslosigkeit Steuersystem reformieren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bekämpfen, indem wir das Wir müssen einfache, niedrige und gerechte Steuersätze Herr Kollege Niebel, erlauben Sie eine Zwischen-schaffen und die sozialen Sicherungssysteme zukunfts- frage des Kollegen Lange? fähig gestalten, damit die Lohnnebenkosten herunterge- hen und es sich wieder lohnt, jemanden einzustellen. Wir Dirk Niebel (FDP): müssen außerdem das Arbeitsrecht deregulieren, damit Selbstverständlich. die bürokratischen Hemmnisse – angefangen beim Kün- digungsschutz über das Tarifvertragsgesetz und das Be- triebsverfassungsgesetz bis hin zum Rechtsanspruch auf Christian Lange (Backnang) (SPD): einen Teilzeitarbeitsplatz – nicht dazu führen, dass ge- Vielen Dank, Herr Kollege Niebel. Ich habe den Ein- rade diejenigen geschädigt werden, die man doch eigent- druck, dass Sie am 5. Januar 2003 nicht auf dem Landes- lich schützen wollte. parteitag Ihrer Partei in Stuttgart waren. Deshalb frage ich Sie, ob Sie den Ausführungen des baden-württem- Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in diesem bergischen Wirtschaftsministers und stellvertretenden Land Chancen haben, mitzumachen. Ihre Politik bewirkt das Gegenteil. Wir brauchen nicht immer wieder neue (B) FDP-Bundesvorsitzenden zustimmen, der sagte: (D) Worthülsen, sondern am besten eine neue Regierung. Ich fordere die Vertreter des Handwerks dazu auf, sich nicht als Bremser auf dem Weg zur Selbststän- Vielen Dank. digkeit zu betätigen, sondern die Reformvorschläge (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – von Professor Hellwig, dem Vorsitzenden der Mo- Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So schnell wie nopolkommission, und der Bundesregierung aktiv möglich! – Christian Lange [Backnang] zu begleiten, um damit mehr Gründigungswilligen [SPD]: Apropos Worthülse!) den Weg in die Selbstständigkeit zu erleichtern und damit auch mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär DIE GRÜNEN) Ditmar Staffelt.

Dirk Niebel (FDP): Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- Lieber Herr Kollege, selbstverständlich stimme ich desminister für Wirtschaft und Arbeit: den wegweisenden Ausführungen meines Landesvorsit- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten zu. Das Herren! Ich bin Ihnen ausdrücklich „dankbar“, dass Sie ist übrigens der Sachstand dessen, was Herr Clement vor durch den Stil und Inhalt Ihrer Rede Ihr Interesse an ei- dem Handwerkstag gesagt hat. Er hat gesagt, die Vertreter ner sachlichen Diskussion über dieses Thema zum Aus- des Handwerks sollten sich nicht als Bremser betätigen. druck gebracht haben. Natürlich können Sie als Opposi- Genau das habe auch ich vor nicht ganz anderthalb Minu- tion herumknüppeln und herumbrüllen. ten gesagt. Sie müssen einmal zuhören. (Dirk Niebel [FDP]: Unser Antrag liegt vor!) Da der Kollege Brandner die Vertreter des Hand- werksverbandes hier auffordert, verbal abzurüsten,Die Frage ist nur, ob es nicht für Sie und für uns alle bes- möchte ich ihn und Sie an die Äußerungen der Vertreter ser wäre, wenn wir das Thema inhaltlich bearbeiten wür- des Deutschen Gewerkschaftsbundes, von Verdi und der den. Mit solchen Reden verweigern Sie sich in jedem IG Metall im Rahmen der Diskussion über Fall. die Agenda 2010 erinnern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: So ein NIS 90/DIE GRÜNEN]) Unsinn! Lesen Sie unseren Antrag!) 4064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt einge- CSU]: Machen Sie eine bessere Politik! Dann (C) hen. Sie sprechen davon, dass es eine Unverschämtheit geht es dem Handwerk wieder besser!) ist, Ihnen einen Gesetzentwurf zur Ich-AG vorzulegen. – Herr Hinsken, wenn wir dabei stehen bleiben, dass wir (Dirk Niebel [FDP]: Das ist das Unwort des die wagnerschen Meistersinger zum Vorbild einer zu- Jahres 2002!) künftigen Wirtschaftsordnung in unserem Lande ma- chen, dann sage ich: Gute Nacht, Herr Hinsken! Damit Sie sollten sich ein bisschen sachkundiger machen. Die werden wir nämlich noch mehr Arbeitslosigkeit und den Ich-AG ist ein Teil aus einer Vielzahl von Gesetzesände- tatsächlichen Niedergang des Handwerks inszenieren. rungen und neuen Gesetzen, die wir seit Beginn dieser Legislaturperiode vorangebracht haben. Das, was Sie hier erklärt haben, entspricht im Übrigen nicht den Tatsachen. Wir haben mit dem Handwerk ei- (Lachen des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Zurufe nen sehr interessanten Dialog geführt. von der CDU/CSU) (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Fragen Sie doch einmal in den Arbeitsämtern nach. Der Direktor des Arbeitsamtes meines Wahlkreises Ber- – Sie waren nicht dabei; Sie wissen das doch gar nicht. lin-Neukölln hat mir gesagt, dass 6 000 Arbeitslose ihr Es ist ganz typisch: Sie nd si an einem Dialog mit uns konkretes Interesse an einer Ich-AG bekundet haben.nicht interessiert. Warum reden Sie das sofort wieder schlecht? Doch nur, (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Weil es nur Un- um Polemik zu machen! Das darf doch nicht wahr sein sinn ist, was Sie sagen!) und wird der Situation, in der wir uns befinden, einfach nicht gerecht. – Das alles können Sie sagen; es kommt in das Protokoll. Es spricht nicht gerade für Sie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dirk Niebel [FDP]: Die handwerklichen Fä- higkeiten dieser Regierung lassen wirklich zu Zu diesem Bereich gehören auch dieMinijobs. Frü- wünschen übrig!) her haben Sie sich beklagt, die Koalition würde immer nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen gegen die Ich sage Ihnen noch einmal: Ich habe mit Herrn Schwarzarbeit vorgehen. Jetzt wenden wir marktwirt- Schleyer und vielen anderen Vertretern des Handwerks schaftliche Mittel und Methoden an, indem wir Men-gesprochen. Wir haben übrigens sehr viel Übereinstim- schen die Chance geben, aus der Schwarzarbeit in die mung vorgefunden; das sollte man nicht ganz vergessen. Legalität zu gehen. Sie können entweder einen Minijob (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) annehmen oder sich selbstständig machen. Warum wol- (D) len Sie diese Maßnahmen kaputtreden? Es ist einfach– Sie können ruhig darüber lachen; es ist so. – Wir waren nicht nachvollziehbar. uns darin einig, dass dieLeipziger Beschlüsse nicht ausreichen, um das Handwerksrecht europa- und zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kunftssicher zu machen. Wir haben gesagt: Die Indus- DIE GRÜNEN) triemeister, die Techniker und die Ingenieure müssen ei- Erlauben Sie mir eine polemische Bemerkung in Bezug nen noch besseren Zugang zum Handwerk haben. Das auf die Anmerkung, die Herr Merz im Zusammenhang Inhaberprinzip muss aufgegeben werden. Auch das mit seinen Beispielen über akademische Grade und die Thema des unerheblichen Nebenbetriebs muss und wird Handwerksordnung gemacht hat: Wir bewegen uns hier geregelt werden. – das sollten Sie als Jurist wissen – auf dem Boden des Wir waren uns im Übrigen auch darin einig, dass es Gewerberechtes. Gemessen am Gewerberecht ist diefür einen Gesellen, der sich entschließt, eine Meisterprü- Handwerksordnung ein Exot. Es ist eigentlich eine Ab- fung zu machen, keinerlei zeitliche Begrenzung mehr surdität: Ihre Vorgänger haben im 19. Jahrhundert für die geben darf. Die dreijährige Wartezeit wird also gestri- Gewerbefreiheit gekämpft. Heute scheinen Sie dies al- chen. Schließlich haben wir eine sehr intensive Debatte les vergessen zu haben. Wir müssen Strukturen aufbre- über die Frage geführt, ob es nicht zulässig sein muss, chen. Das war doch auch einmal Ihre Forderung. dass ein Geselle, der zehn Jahre tätig ist und davon fünf Führen Sie hier keine kurzfristigen politischen Schar- Jahre in verantwortungsvoller Position in einem Hand- mützel, indem Sie sich einer Reform verweigern, die wir werksunternehmen gearbeitet hat, in die Lage versetzt dringend benötigen! Denn die Zahlen beim Handwerk werden muss, einen eigenen Betrieb gemäß Anlage A weisen aus, dass es nicht nur ein konjunkturelles, son- aufzumachen. dern auch ein strukturelles Problem gibt, Das alles sind Ergebnisse, über die wir gesprochen (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Aber nicht beim haben. Wir haben nicht immer eine hundertprozentige Handwerk!) Übereinstimmung erzielt. Aber wir sind in diesen Ge- sprächen sehr weit gekommen. das wir mit der Änderungder Handwerksordnung zum Ge- Besseren wenden wollen. Am Ende geht es um die Frage, ob wir über die fahrgeneigtheit hinaus andere Eigenschaften zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Grundlage der Einordnung der Handwerke in die DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist Anlagen A oder B machen. Auch im Fortgang der Dis- Ihre schlechte Politik! – Ernst Hinsken [CDU/ kussion werden wir darüber sprechen müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4065

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) Herr Schauerte beispielsweise unterscheidet sich – in sondern versuchen, einen Konsens zu finden. Darauf war (C) diesem Falle einmal wohltuend – von Herrn Hinsken. Ihre Rede nicht ausgerichtet. Ich habe nämlich gehört, dass er bereits festgestellt hat (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Brandrede!) – das war jedenfalls in den Zeitungen zu lesen –, min- destens 30 Handwerke von den 94 könnten ohne weite- Aber ich nehme etwas ganz anderes übel. Normaler- res in die Anlage B transferiert werden. Das ist schonweise bin ich nicht so nachtragend; jeder, der mich einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Es muss Er- kennt, weiß das. Aber ich nehme einen Wortbruch übel: kenntnisse geben, die dafür sprechen. Vor noch nicht einmal sechs Monaten haben wir im Ver- mittlungsverfahren zu den Hartz-Gesetzen zusammenge- Lassen Sie mich ein Weiteres sagen: Wir glauben da- sessen. Bereits dort waren die Handwerksordnung und ran – ich bitte darum, Ihr Verständnis im Hinblick auf die Ich-AG ein Thema gewesen. In dieser Sitzung hat den Markt zu mobilisieren –, dass es für das Handwerk uns Herr Clement sein Wort als Minister gegeben, dass gut ist, wenn es nicht nach althergebrachten Gewerken die Novelle der Handwerksordnung und die Ich-AGs ge- organisiert ist, sondern sich an der Nachfrage auf dem meinsam mit der Opposition und dem Handwerk auf den Markt orientiert. Daraus können sich zukunftsträchtige Weg gebracht werden. Gewerke entwickeln, die dem einzelnen Unternehmen sehr viel bessere Zukunftschancen in seiner betriebswirt- (Dirk Niebel [FDP]: Das hat er versprochen!) schaftlichen Planung ermöglichen, als das heute in die- Herr Stiegler, Herr Brandner, Herr Dr. Staffelt, Frau sen traditionellen Kategorien der Fall ist. Dr. Dückert, Herr Kollege Laumann und Herr Kollege Die Grundidee ist doch folgende: Wir wollen damit auch Niebel waren dabei; sie alle können das bestätigen. Wir Innovationen erzielen und dafür Sorge tragen, dass sich haben uns auf das Wort eines Ministers verlassen. diese Unternehmen am Markt breiter orientieren können. (Klaus Brandner [SPD]: Was spricht denn da- Insoweit handelt es nicht nur um eine Maßnahme für gegen?) Kleinstunternehmen, sondern um eine Reform für das Was ist herausgekommen? Fakt ist: Seit diesem heili- gesamte Handwerk, für die sehr vieles spricht. gen Versprechen des Wirtschaftsministers gab es kein Herr Kuhn hat völlig Recht: Warum misstrauen wir einziges Gesprächsangebot, geschweige denn ein Ge- eigentlich den Konsumenten? Er hat den Bäcker als Bei- spräch mit uns. Dasselbe gilt für das Handwerk. Ich weiß spiel angeführt; ich könnte viele andere Beispiele nen- nicht, mit welchen Vertretern des Handwerks Sie gespro- nen. Jeder wird sich doch genauso wie bei einem Indus- chen haben, Herr Staffelt. Vielleicht mit Ihrem Friseur? trieprodukt und bei anderen Dienstleistungen sehr genau Ich habe keine Ahnung. Mit den wichtigen Vertretern überlegen, wem er sich anvertraut und wem er einendes Handwerks, die die Probleme wirklich kennen, ha- (B) Auftrag erteilt. Dabei spielt der Meisterbrief ohne Frage ben Sie keine Gespräche geführt. Das wissen wir, weil(D) eine zentrale Rolle als Qualitätssiegel. Sehr viele werden wir beim Handwerk nachgefragt haben. Sie haben nur in sagen, es lohne sich für sie, dieses Qualitätssiegel in ih- Sonntagsreden auf Handwerkstagen Versprechungen ge- rem Betrieb vorweisen zu können, weil es ihnen Wettbe- macht, aber keine persönlichen Gespräche geführt. werbsvorteile gegenüber anderen bietet. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Damen und Herren, was wir heute machen, ist Stimmt doch nicht!) nur ein kleiner Schritt, um Existenzgründern zu helfen, Vielmehr haben Sie nur getäuscht, enttäuscht und eine um ein paar Schranken zu beseitigen und um dafür zu unanständige Politik gemacht. sorgen, dass auch jene Betriebe, die in einer Grauzone arbeiten, Rechtsicherheit haben und nicht mehr unnöti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gerweise verfolgt werden. Deshalb bitte ich Sie, diesem Klaus Brandner [SPD]: Jetzt bin ich ent- Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir glauben, auf dem rich- täuscht! Jetzt unterstellen Sie etwas, von dem tigen Wege zu sein. Vor dem Hintergrund der wirtschaft- Sie gar nicht wissen können, wie es war!) lichen Lage unseres Landesbitte ich Sie, die Polemik Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, welche Phi- wegzulassen und mit uns in einen sachlichen Dialoglosophie steht hinter Ihrem Gesetzentwurf? Sie setzen über diese Fragen einzutreten. auf Kleinstunternehmen ohne Qualifikation. Natür- lich brauchen wir einfache Tätigkeiten und auch in die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sem Bereich mehr Selbstständigkeit. Es muss attraktiv DIE GRÜNEN) sein, im Niedriglohnbereich zu arbeiten. Arbeit ist wirk- lich genug vorhanden. Man braucht nur vom Tiergarten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zum Reichstagsgebäude zu laufen, dann sieht man noch Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von heute den Müll vom Kirchentag. Die Arbeit liegt also der CDU/CSU-Fraktion. buchstäblich auf der Straße. Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass es wirklich Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): notwendig ist, Verbesserungen imNiedriglohnbereich anzugehen. Ich glaube, die Union hat insbesondere bei Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! den Minijobs gezeigt, dass wir bereit sind, auf diesem Herr Dr. Staffelt, ich weiß nicht, warum Sie sich so Gebiet vernünftige Reformen anzugehen. echauffiert haben. Ich glaube, Sie haben die falsche Rede gehalten. Wir sollten hier nicht im Streit agieren, (Beifall bei der CDU/CSU) 4066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dagmar Wöhrl (A) Der Geburtsfehler Ihrer Gesetze ist jedoch, dass Sie (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ein (C) ausschließlich auf Tätigkeiten setzen, die nur geringe Quatsch!) Qualifikation erfordern, und diese fördern, dabei aber die Leistungsträger unserer Gesellschaft, zu denen auch Angesichts dessen frage ich Sie: Wieso soll heute das das Handwerk gehört, völlig aus den Augen verlieren. Friseurhandwerk, das allein im letzten Jahr noch über 40 000 Lehrlinge ausgebildet hat, weiterhin über seinen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eigenen Bedarf hinaus ausbilden, Wer ist es denn, der immer wieder mehr Arbeitsplätze (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hat als der Durchschnitt der übrigen Wirtschaft geschaffen weder etwas mit dem Gesetzentwurf noch mit hat? der Wirklichkeit zu tun!) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wenn ein Meister damit rechnen muss, dass sich seine Jenseits der Wirklichkeit!) Auszubildenden sofort nach der Ausbildung im Laden Wer ist es denn, der dreimal mehr ausgebildet hat als der nebenan selbstständig machen können? Er zöge doch Durchschnitt der Gesamtwirtschaft? Wer ist es denn, der seine eigene Konkurrenz heran. Zukünftig wird doch immer für hohe Qualifikation gesorgt hat? Das ist das keiner mehr über den Bedarf hinaus ausbilden. Handwerk. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich muss es Ihnen doch nicht erklären, liebe Kollegin- nen und Kollegen: Wir leben heute in einer hoch moder- Daher ist es auch verständlich, dass Sie sich den Zorn nen, komplexen Wissensgesellschaft. Das Wissen ver- der Handwerker zuziehen. Dies ist auch volkswirtschaft- doppelt sich inzwischen innerhalb von fünf Jahren. Wir lich schädlich und einfach unvernünftig. alle müssen heute mehr wissen als früher. Die jungen Ich frage mich, wie denn Ihre Vorstellungen dazu, zu Menschen heute müssen mehr wissen als wir früher. Das mehr Qualität, zu noch mehr hochwertigen Leistungen gilt für alle Berufe und für alle Ebenen. Wir sind ein roh- im Handwerk und zu mehr Lehrstellen zu kommen, aus- stoffarmes Land; deswegen ist der Faktor Humankapital sehen. Diese Vorstellungen vermissen wir; dazu findet eine unserer wichtigsten Ressourcen. Die Zukunft unse- sich nichts. res Landes hängt auch nicht von „nur“ gut ausgebildeten Unternehmern und Beschäftigten ab, sondern von sehr Als einzige Änderung werden Sie kurzfristig eine gut ausgebildeten Unternehmern und Beschäftigten;steigende Zahl von Ich-AGs verzeichnen können, die in denn nur so werden wir es schaffen, unseren Lebensstan- einen ungleichen Wettbewerb mit den wirklichen Leis- dard künftig auf derzeitigem Niveau zu erhalten. Das ist tungsträgern treten werden. Diese werden aber in null (B) keine neue Erkenntnis. Es wäre gut, wenn auch Sie das Komma nichts wieder von der Bildfläche verschwunden (D) endlich erkennen würden. sein, wenn die Subventionen abgeschöpft sein werden, die sie von der Bundesanstalt für Arbeit bekommen. Sie können auch Friedrich den Großen oder Ludwig Erhard nachahmen, die das bereits erkannt haben. Ludwig Humankapital ist der Schlüssel für hoheProduktivität. Erhard war einer derjenigen, der den Meisterbrief immer Wir brauchen diese hohe Produktivität, damit wir im hoch hielt, der wusste, welche Qualifikation mit dem Wettbewerb mit unseren Mitwettbewerbern im Ausland Meisterbrief zusammenhängt. Dieser Weg war richtig bestehen können, damit weiterhin die hohen Standards und er ist auch heute noch richtig. Wir alle reden doch erhalten werden können, die wir tatsächlich haben, vor vom lebenslangen Lernen, von hohen Qualifikationen allem im sozialen Bereich; das wissen Sie alle. und davon, dass dies ein wesentlicher Standortvorteil ist. Aber so geht es nicht. Sie können keine Gesetze mit Das Gesetz, das Sie auf den Weg bringen wollen, wird negativen Auswirkungen auf die Menschen beschließen, jedoch nicht zu mehr Existenzgründungen führen, die von denen Sie erwarten, dass sie ihr Leben selbstständig Bestand haben werden. In den ersten Monaten wird die in die Hand nehmen und zupacken. Am Dienstag waren Selbstständigenquote sicherlich steigen, die Statistiküber 850 Handwerker hier. Da haben Sie erlebt, dass wird sich natürlich verändern – das beabsichtigen Sie selbst das Wort „Ausbildungsboykott“ mit heftigem Bei- auch –, aber diese Existenzgründungen werden nach ein fall bedacht worden ist. Daran sieht man, wie weit Sie paar Monaten wieder vom Markt verschwunden sein.die Menschen bringen. Sie haben einen falschen Ansatz. Das ist keine Lösung für unsere arbeitsmarktpolitischen Neue marktfähige Produkte bekommen Sie nicht durch Probleme. Vielmehr brauchen wir stabile Existenzgrün- Frust und Leistungsverweigerung, sondern nur durch In- dungen, Betriebe mit Zukunftsaussichten, die auch künf- novation und Qualität sowie durch motivierte Menschen. tig Menschen ausbilden und Arbeitsplätze schaffen. Dies wird auf die Ich-AGs bestimmt nicht zutreffen, liebe (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen. Dirk Niebel [FDP]) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur so entstehen Arbeitsplätze und nur so bringen Sie Da täuschen Sie sich!) die de facto 6 Millionen Arbeitslosen, die es momentan gibt, wieder in Arbeit. 65 Handwerksberufe – darunter auch Friseure, Maler und Lackierer – die jetzt noch für eine Unternehmens- Die qualifizierte Suche nach neuen Wegen hat gründung einen Meisterbrief benötigen, werden dafür Schumpeter einmal den „Prozess der ’schöpferischen künftig keinerlei Qualifikation mehr brauchen. Zerstörung‘“ genannt. Bei Ihnen ist es anders: Sie zer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4067

Dagmar Wöhrl (A) stören nur; von schöpferischer Kraft ist hier wirklich Ein zweiter Punkt: Frau Kollegin Wöhrl, weil Sie be- (C) überhaupt nichts zu spüren. züglich der Qualität fragen – – Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Ich möchte es in einem Bild darstellen: Gute Erträge eines Kirschbau- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mes erreiche ich nur durch gute Standortbedingungen, Entschuldigen Sie. Erlauben Sie, bevor Sie zu Frau durch einen nahrhaften Boden und durch fachlich ge-Wöhrl kommen, eine Zwischenfrage des Kollegen konnten Baumschnitt. Wenn Sie nun einen Baum mit der Niebel, den Sie zunächst angesprochen haben? Axt an den Wurzeln abhacken, können Sie zwar zukünf- tig die Kirschen im Sitzen essen, aber es werden nie Christian Lange (Backnang) (SPD): mehr Früchte an diesem Baum wachsen. Es werden auch keine neuen Triebe wachsen, die unter den richtigen Immer doch, gern. Rahmenbedingungen zu neuen Bäumen werden können, die wieder Früchte tragen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sorgen Sie dafür, dass es nicht zu diesem Kahlschlag Bitte schön. kommt! Das können Sie nur tun, indem Sie wirklich Re- formen angehen, und zwar mit den Betroffenen. Dann Dirk Niebel (FDP): haben Sie eine Chance, dass es die richtigen Reformen Vielen Dank, Herr Kollege Lange. sind. Nachdem Sie uns jetzt aufgefordert haben, unseren Vielen Dank. Antrag zurückzuziehen, frage ich Sie: Wäre es Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) möglich, auch den Rest der Rede von Herrn Döring vor- zulesen? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von der SPD-Fraktion. Christian Lange (Backnang) (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das wäre mir möglich, wenn Sie mir entsprechende Redezeit einräumen würden. Christian Lange (Backnang) (SPD): (Dirk Niebel [FDP]: Als Antwort auf die Frage Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- wäre das möglich!) (B) ren! Herr Kollege Niebel, lassen Sie mich zunächst an (D) die Kolleginnen und Kollegen der Partei der Freiheit Es wäre mir ein Vergnügen. Er führt danach nämlich noch aus, wie es sich mit der Gewerbefreiheit in (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Gute Deutschland verhält. Da gibt es eben keinen Zwang, Formulierung!) keine Regulierung des Marktes. Er führt aus, dass wir ein paar Zitate richten: auch in den freien Berufen und der Industrie die Gewer- befreiheit haben und dass wir sie auch im Bereich des Es wird von niemanden bestritten, dass die Meister- Handwerks stärker als in der Vergangenheit brauchen. ausbildung ein überaus erfolgreicher und geeigneter Weg in eine sichere Existenz ist. Aber es stellt sich doch die Frage, ob dieser Weg in allen FällenVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zwanghaft vorgeschrieben werden muss. Herr Lange, erlauben Sie eine weitere Frage des Kol- legen Niebel? Wenn der Meisterbrief so gut und Erfolg verspre- chend ist, wenn er dem angehenden Unternehmer im Handwerk eine vergleichsweise sichere Per- Christian Lange (Backnang) (SPD): spektive für die eigene Existenz bietet, dann wird er Nein. Ich glaube, es ist müßig. doch auch ganz von selbst auf dem Aus- und Wei- terbildungsmarkt nachgefragt werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir müssen wieder den Mut haben, im Meisterbrief Keine weiteren Fragen. das zu sehen, was er sein soll: der Nachweis einer seriösen, qualitätsvollen Ausbildung, die für den Christian Lange (Backnang) (SPD): Verbraucher erwarten lässt, dass er eine erstklassige Handwerksleistung einkauft. Ich gebe Ihnen die Rede gerne zur weiteren Lektüre. Zum zweiten Punkt der Qualifikation. Frau Kollegin Qualität aber braucht keinen Zwang; sie setzt sich Wöhrl, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass diese Bun- einfach durch. desregierung mit dem Meister-BAföG bereits einen Weg Genau so ist es. Genau das sagte Walter Döring auf be- begeht, um die Qualifikation weiter zu fördern, und zwar sagtem Parteitag. Deshalb fordere ich die FDP-Fraktion in einem Ausmaß, in dem Sie, die Sie sich hier zur Blo- hier auf: Ziehen Sie Ihren Antrag zurück und stimmen ckade aufschwingen, es in der Vergangenheit nicht getan Sie dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu. haben. Ein Zuwachs im Bereich des Meister-BAföGs 4068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Christian Lange (Backnang) (A) von über 100 Prozent – seitdem wir dieses Gesetz ver- Zukunft bezogen, Perspektiven zu geben und es nicht(C) bessert haben – bedeutet einen Ausbau der Qualität. weiterhin so niederzumachen, wie das aus Ihrer Sicht in den letzten Tagen und Wochen der Fall war. Warum gehen wir diesen Weg? Warum haben wir in diesem Bereich eine Nachfrage von über 100 Prozent? Im Übrigen möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, ob Sie Das ist so, weil die entsprechenden Anwärter zumbereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir statt eines Meister auf den Markt setzen und weil sie wissen, dass Kriteriums, das Sie anwenden wollen, um den Anspruch sie ohne das Qualitätssiegel Meister auf dem Markterheben zu können, der Anlage A anzugehören – ich meine keine Chance haben. Genau so soll es auch sein. Deshalb die Gefahrgeneigtheit –, drei Kriterien einführen und wird es, wenn wir diese Reform durchgeführt haben,hier vor allen Dingen der Ausbildungsleistung und auch letztendlich mehr Meister, mehr Auszubildende, mehr anderen Bereichen eine gewisse Bedeutung einräumen Gesellen und mehr selbstständige Existenzen geben. Das wollen, um somit sicherzustellen, dass das Handwerk ist gut so und das ist das Ziel unserer Reform, meine Da- weiterhin ein Qualitätszeichen in unserer Wirtschaft men und Herren. bleibt und die Ausbildungsleistung so, wie Kollegin Wöhrl das eben gesagt hat, gewährleistet werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und es wird mehr Plei- ten geben!) Christian Lange (Backnang) (SPD): Herr Kollege Hinsken, lassen Sie mich zunächst Fol- – Herr Kollege Hinsken, ich bin dankbar, dass Kollege gendes zu Ihrer ersten Frage sagen: Wir alle sind hier Schauerte noch sprechen wird. versammelt, um das Handwerk zu stärken. Über diesen Lassen Sie mich – damit komme ich zu meinem drit- Punkt besteht in der Tat Konsens. Ich bitte Sie, das auch ten Punkt – Folgendes feststellen: Ihr Kollege Schauerte entsprechend zu formulieren und nicht etwas anderes zu sagt, so steht es in der „Financial Times“ geschrieben, behaupten. dass er bereit ist, den Weg der Bundesregierung zu Zweiter Punkt. Wenn wir das Handwerk stärken wol- gehen. Er möchte andere Kriterien und nur 30 len, bis dann dürfen wir in der Tag diejenigen, die sich im 34 Berufe aus der Anlage A, dem Meisterzwang, heraus- Handwerksbereich – auch als ganz kleine Unternehmer – nehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr Hinsken: Für wen ha- selbstständig machen wollen, nicht diffamieren. Ich erin- ben Sie eigentlich gesprochen: für die CDU/CSU-Frak- nere an Ihre Veranstaltung, die Sie in dieser Woche im tion oder für die Lobby, die Sie vertreten, nämlich das Paul-Löbe-Haus durchgeführt haben. Dort habe ich zur Handwerk? Kenntnis nehmen müssen, dass kleine Selbstständige als (Zurufe von der CDU/CSU: Oh, oh!) „Selbstständigenproletariat“ diffamiert worden sind. (B) (D) Das ist doch die Frage, die Sie an dieser Stelle einmal (Zurufe von der CDU/CSU: Was? – Von wem? beantworten müssen. Welches ist eigentlich die Position Wer hat das denn gesagt?) Ihrer Fraktion, meine Damen und Herren von der CDU/ Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hinsken, ganz ehrlich: CSU? Ich finde, es ist einer CDU/CSU-Fraktion und der Partei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ludwig Erhards unwürdig, solche Bemerkungen auf ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ner Veranstaltung zu dulden. Lassen Sie mich viertens auf den Gesetzentwurf zu Sie hätten aufstehen und sagen müssen: Nein, wir sind sprechen kommen. froh, dass es jemand wagt, in die Selbstständigkeit zu ge- hen; denn es ist besser, in die Selbstständigkeit zu gehen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: als dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen. Herr Lange, erlauben Sie eine Zwischenfrage des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen Hinsken? DIE GRÜNEN) Nun komme ich zu meinem nächsten Punkt. Ich Christian Lange (Backnang) (SPD): möchte Ihnen etwas zu den Kriterien sagen. Das betrifft Ja. den zweiten Teil Ihrer Frage, Kollege Hinsken. In der Tat hat das Handwerk drei Kriterien vorgeschlagen: die Gefahrgeneigtheit, die Ausbildungsleistung und die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nachhaltige wirtschaftliche Leistung. Darüber kann man Bitte schön, Herr Hinsken. reden. Aber die Bundesregierung hat dem Bundesrat ei- nen Gesetzentwurf zugeleitet – über diesen beraten wir Ernst Hinsken (CDU/CSU): hier ja gar nicht –, in dem sie die Gewerke in Punkt und Komma nach ihren Kriterien dargestellt hat. Weder das Herr Kollege Lange, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu Handwerk noch die CDU/CSU-Fraktion haben dies bis nehmen, dass ich mich als Volksvertreter natürlich auch heute getan. Ich bitte Sie – daher habe ich auf den Kolle- für das Handwerk verantwortlich fühle? In diesem Fall gen Schauerte, der gleich noch sprechen wird, hingewie- habe ich mich gerne für vernünftige und verbesserte sen –, die Karten auf den Tisch zu legen. Bedingungen für das Handwerk ausgesprochen. Ich meine, dass es über Fraktionsgrenzen hinweg unser aller (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die liegen doch Ziel sein sollte, alles zu tun, um dem Handwerk auf die längst auf dem Tisch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4069

Christian Lange (Backnang) (A) Sagen Sie doch, was nach Ihren Kriterien an denHinter dem, was so abstrakt klingt – ich nenne nur(C) Anlagen A und B der Handwerksordnung geändert wer- Rechtsprechung und Minderhandwerk –, stehen einzelne den soll. Dann kann man darüber reden. Aber Sie tun es Schicksale. Dadurch sind lauter einzelne Betriebe drau- nicht, weil Sie die Menschen aufhetzen wollen. Das ist ßen im Land betroffen, die dran glauben müssen. Das ist der wahre Grund – sonst nichts. heute leider die Praxis, und zwar contra legem, gegen das Gesetz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diesem Gesetzentwurf zur kleinen Novelle, den wir heute beraten – er war Teil des Ergebnisses der Hartz- Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden wir Kommission – hat sogar Herr Schleyer, der auch in der Erleichterungen für Existenzgründer schaffen, die außer- Kommission saß, zugestimmt. Auf einmal ist das alles halb des Geltungsbereichs der Handwerksordnung tätig nichtig, alle sind in die Op position gegangen und machen werden wollen, die also einfache Tätigkeiten ausüben reine Blockade. Nichts anderes machen Sie. Sie haben wollen. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf nehmen kein Interesse am Aufbau vo n Existenzen und haben – lei- wir eine gesetzliche Klarstellung vor und nicht mehr.der – kein Interesse an sachlicher Zusammenarbeit. Statt- Das ist notwendig, da das Handwerk derartige Tätigkeiten dessen machen Sie Klamauk und Krawall, so wie wir es häufig immer noch als zum Handwerk dazugehörige Teil- Anfang dieser Woche erlebt haben, und nichts anderes. tätigkeiten ansieht. Die Folge ist – ich merke, die Auf- merksamkeit lässt nach; warten Sie bitte ab –, dass auch Wenn man über dieses Thema spricht, muss man ein- für einfache Tätigkeiten die Meisterprüfung verlangt wird, fache Tätigkeiten natürlich auch definieren. Ich will die obwohl das nicht der langjährigen höchstrichterlichenletzten Minuten meiner Redezeit dazu nutzen, damit Ih- Rechtsprechung entspricht. Mit dem Gesetzentwurf, der nen klar wird, was einfache Tätigkeiten eigentlich sind. heute auf dem Tisch liegt, beschließen wir nur noch ein- Einfache Tätigkeiten sind solche, die ein durchschnitt- mal geltendes Recht und nichts anderes. lich begabter Berufsanfänger in zwei bis drei Monaten erlernen und erledigen kann. Keine wesentlichen Tätig- Handwerkskammern und Behörden gehen vielfach, keiten sind solche, die zwar eine längere Anlernzeit ver- wie wir gehört haben, mit Abmahnverfahren, Betriebs- langen, aber für das Gesamtbild des betreffenden Gewer- schließungen und Bußgeldern gegen Unternehmen vor, bes der Anlage A nebensächlich sind und deswegen die einfache Tätigkeiten ausüben, aber nicht in dernicht die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, auf die Handwerksrolle eingetragen sind. Dadurch werden Exis- die Ausbildung in diesem Gewerbe hauptsächlich ausge- tenzen aufs Spiel gesetzt. Ich will zwei Beispiele nen- richtet ist. nen, damit das geneigte Publikum weiß, worüber wir Die Kunden wollen heute alles aus einer Hand be- (B) hier eigentlich beraten. Das erste Beispiel: Ein Mann, kommen und nicht mehr vonPontius bis Pilatus laufen (D) der sich selbstständig machen will und einen fünftägigen und fünf, sechs oder sieben Handwerker beauftragen. Kurs besucht hat, will folgende Tätigkeiten ausüben: Er Das ist gefährdet, wenn wir an dieser Stelle keine will Lackschäden an Kfz beheben, Alufelgen polieren, Rechtssicherheit und -klarheit schaffen. Auch deshalb Interieurausbesserungen in Autos vornehmen – sprich: brauchen wir den Gesetzentwurf der kleinen Hand- die Polster säubern –, Dellen entfernen und Steinschlag- werksnovelle. Vergessen Sie nicht: Wenn Sie den vorlie- schäden an Frontscheiben ausbessern. Diese Arbeit ist genden Entwurf im Laufe des Gesetzgebungsprozesses ihm mit der Begründung, das gehöre zum Kernbereich ablehnen, dann gefährden Sie Ausbildungsplätze, Exis- der Tätigkeit eines Lackierers, verboten worden. tenzen und die Betriebe, die es schon heute gibt. (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wo ist das Sie verbrüdern sich, aus mir nicht erklärlichen Grün- Problem?) den, mit dem ZDH; denn er hat ihm einmal zugestimmt. Ich will Ihnen ein zweites Beispiel nennen, damit alle (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist keine wissen, worüber wir reden. Im Kreis Siegen-Wittgenstein Schande!) gibt es einen Trockenbaubetrieb, der auch ab und zu kleine Maurerarbeiten durchführt. So mauert er beispiels- – Das ist keine Schande. Das ist in Ordnung. Aber Sie müs- weise eine Tür zu, bevor er seine Trockenbauarbeiten sen wissen, dass alle anderen Wirtschaftsverbände – mit macht. Das macht ein Fünftel seiner Arbeit aus. Gegen Ausnahme dieses einen Lobby-Verbandes – dies anders diesen Betrieb liegt ein Bescheid vor – ich habe den Be- sehen. Es ist in Ordnung, wenn das Ihre Meinung ist. scheid sogar vorliegen –, dass er diese Tätigkeiten sofort Aber ich habe meine Zweifel, dass es der Partei Ludwig Erhards, die sich einmal für die Gewerbefreiheit und für einzustellen habe, weil das Teil des Maurerhandwerks Qualität eingesetzt hat, dasses Ihrer Partei würdig ist. sei. Er wird, weil das nicht nur als Verletzung der Hand- Deshalb bitte ich um Zustimmung. werksordnung, sondern auch als Schwarzarbeit gilt, mit einer Bußgeldandrohung von 300 000 Euro belegt. Durch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solche Bescheide werden Firmen, Arbeits- und Ausbil- DIE GRÜNEN) dungsplätze vernichtet. Das muss ein Ende haben. Das ist ein Ziel des Gesetzentwurfes der Bundesregierung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSU- Ihr seid ja tolle Hechte!) Fraktion das Wort. 4070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genau!) (C) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Insofern ist auch Ihr Vorwurf, wir wollten hier eine abso- ren! Meine erste Bemerkung: Zwischen Ernst Hinsken lute Sperre gegen jede Veränderung einrichten, immer und mir passt bei der Diskussion um die Handwerksord- falsch gewesen. Sie schauen einfach nicht richtig hin. nung kein Blatt Papier. Noch einmal: Wenn das Kriterium der Gefahrgeneigtheit (Dirk Niebel [FDP]: Das haben Schröder und europafest ist – das fordern Sie –, ein öffentliches Gut Lafontaine aber auch schon einmal gesagt!) darstellt – das fordern wir alle – und geeignet ist, eine Wir haben gemeinsam einen Antrag entwickelt und vor- Entscheidung zu treffen, dann, das sagen wir, gibt es gelegt, in dem wir sehr deutlich und sehr präzise sagen, auch noch andere Kriterien, die in die gleiche Kategorie was wir geändert sehen wollen und was wir für vernünf- passen könnten. Ich nenne die Ausbildungsleistung; sie tig und notwendig halten. In diesem befinden sich min- ist geeignet. Herr Kuhn hat es gerade gesagt, als er auf destens zwölf sehr konkrete Vorschläge. die Kurzintervention von Friedrich Merz geantwortet hat. Wir sind bei der Ausbildungsleistung sehr sorgfältig, Sie haben bis heute keinen Antrag und auch keinen deshalb sage ich: Wer überproportional ausbildet, muss Gesetzentwurf vorgelegt, weil Sie sich nicht wirklich ei- auch eine besondere Qualifikation haben können, etwas nig sind. Nach der Reaktion, die Sie in der Öffentlichkeit besonders Privilegiertes haben dürfen und in besonderer erlebt haben, haben Sie gezögert. Nun müssen Sie neu Weise geschützt sein dürfen. Das ist ein hohes Gut und nachdenken. Eigentlich war vorgesehen, dass Sie in der das wollen wir haben. heutigen Debatte Ihren Entwurf vorlegen. Er ist aber nicht zustande gekommen. Herr Brandner, wenn Sie mit Ihrem Husarenritt unab- gestimmt weitermachen und die Ausbildungsleistung nicht als Kriterium aufnehmen, dann werden zu den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hunderttausend Ausbildungsplätzen, die in diesem Jahr Herr Kollege Schauerte, erlauben Sie eine Zwischen- im dualen Berufsausbildungssystem fehlen, noch einmal frage des Kollegen Brandner? etwa Hunderttausend dazukommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das können wir nicht verantworten. Deswegen nennen Gerne. wir neue Kriterien, einschließlich der Ausbildungsleis- tung. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Wir wollen die Handwerksgewerke, die ihre Ausbil- (D) Herr Brandner, bitte. dungsanstrengungen erhöhen, sogar noch mehr sichern. Das ist ein intelligenter Ansatz und es ist doch ein ge- Klaus Brandner (SPD): meinsames Ziel von uns, die duale Ausbildung zu er- Herr Schauerte, zwischen Sie und Herrn Hinskenmöglichen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass in Ihren passt kein Blatt Papier. Das haben Sie gerade hier öffent- Reihen zurzeit eine heftige Diskussion darüber geführt lich ausgeführt. Ich zitiere dazu die „Financial Timeswird, ob Sie das Ausbildungskriterium vielleicht doch Deutschland“ vom 30. Mai 2003. Darin sagen Sie: aufnehmen müssen, und dass Sie in Ihrem Eifer – ich sage Ihnen gleich noch etwas zu Ihrem Übereifer – an Der Meisterzwang kann für gut 30 der 94 Meister- diese Sache vielleicht nicht gedacht haben. Öffnen Sie berufe abgeschafft werden. sich dieser These doch einfach! Seien Sie modern und ausbildungsfreundlich! Tun Sie etwas für die Jugend! Ich habe Herrn Hinsken so verstanden, dass er die Motivieren Sie die Handwerker, möglichst viel auszubil- Meisterberufe stärken und ausbauen will. Können Sie den! uns diesen Widerspruch erklären oder wie breit ist bei Ihnen ein Blatt Papier? (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das war keine Antwort!) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Mir stellt sich folgende Frage, die hier ja auch immer Das ist kein Zitat, ich will Ihnen die Frage aber ganz wieder diskutiert wird: Warum hat Herr Clement – wenn sauber beantworten: Wir haben Kriterien vorgeschla- er auch Journalist ist – das, was er vor einem halben Jahr gen. gesagt hat, so gründlich vergessen? (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl! Das ist (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! – Dirk der Punkt!) Niebel [FDP]: Er ist nicht Clement, sondern dement! Er hat es vergessen!) Aufgrund dieser Kriterien – wenn Sie sich die Mühe ma- chen würden, das zu überprüfen, kämen Sie zu ähnlichen Von seiner Natur her neigt er eigentlich nicht dazu und er Erkenntnissen – wird es in Zukunft Handwerksberufe tut das auch nicht gerne. Ich kann Ihnen aber sagen, wa- geben, die den vollen Schutz des Meisterbriefes nichtrum er es getan hat: Er ist mit seinerReformagenda in mehr benötigen oder ihn nicht mehr erhalten. Der eine schwerstes Feuer geraten. Die Linken bei Ihnen – Herr oder andere wird nach der ordnungsgemäßen Überprü- Brandner, Sie waren dabei – standen auf Tischen und fung anhand der Kriterien herausfallen. Bänken. Daraufhin hat er umsteuern müssen, um ihnen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4071

Hartmut Schauerte (A) etwas zum Fraß vorzuwerfen. Er hat ihnen zur Beruhi- diese Maßnahmen dem Handwerk und der Binnennach- (C) gung versprochen, beim Handwerk den Knoten durchzu- frage wirklich helfen. Lenken Sie mit dieser Operation schlagen. Genauso ist es gelaufen. Es ist eine Unver-nicht in Wirklichkeit von Ihrer zerstörerischen Wirt- schämtheit, einen wichtigen Wirtschaftsbereich alsschaftspolitik zulasten der Binnenkonjunktur ab? Ist das politische Verfügungsmasse hin- und herzuschieben. nicht Ihr eigentliches Thema? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Klaus Brandner [SPD]: Was Sie hier betreiben, der FDP) ist eine unverschämte Legendenbildung!) Sollen dafür die Handwerker mit einer nicht sachgerech- Ein Großteil dieser Aufregung hätte vermieden wer- ten Reform bezahlen? Das kann doch nicht wahr sein! den können, wenn Sie die Gespräche in aller Ruhe ge- Das kann nur einer machen, der sein Land nicht liebt. führt hätten und wir so zu übereinstimmenden Ergebnis- sen hätten kommen können. Unsere zwölf Vorschläge (Klaus Brandner [SPD]: Schauerte!) sind mit dem Handwerk abgestimmt. Man muss dazu sa- gen, dass sie sehr viele Veränderungen bedeuten würden. Wir wollen Dinge beschließen, die diesem Land weiter- Ich will sie in meiner kurzen Redezeit nicht alle auflis- helfen. Sie hingegen sind jeden Beweis schuldig geblie- ten, doch wir sind wirklich sehr modern. Aber mit die- ben, dass Ihr Übermaß weiterhilft. Wir sagen: Ihr Über- sem brutalen Ritt, den Herr Clement den Linken zuge- maß behindert, stört und zerstört. standen hat, damit sie der Agenda von Herrn Schröder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zustimmen, haben Sie das Porzellan zerschlagen. Damit haben Sie Vertrauen zerstört. Wirtschaft und Wachstum Um die Ernsthaftigkeit der Ausbildungsfrage anzu- in unserem Lande haben Sie nicht weitergebracht, son- sprechen, möchte ich einige Zahlen nennen. In Deutsch- dern die Enttäuschung in unserem Lande noch vergrö- land gibt es 760 000 freie Berufe. Sie sind auch deswe- ßert. Das ist Ihr Problem. Deswegen müssen wir schnell gen frei, weil sie durch fast nichts reglementiert sind. zur Sachlichkeit zurückkommen. Öffnen Sie sich für un- Diese 760 000 freien Berufe bilden 160 000 junge Men- sere Kriterien, dann kommen wir ein ganzes Stück mit schen aus. Das Handwerk mit seinen 580 000 Unterneh- dem Programm voran, das wir umsetzen wollen. mungen bildet 564 000 junge Menschen aus. In der Be- (Beifall bei der CDU/CSU) rufssparte, die den höchsten Ausbildungsbeitrag leistet, zerstören Sie die Ausbildungsmotivation in unverant- Ich will noch etwas zu den übrigen Gründen sagen. wortlicher Weise. Wie wollen Sie das Eltern erklären, Alles, was wir tun, muss nützlich sein. Wenn Ihre Opera- die nicht wissen, wo sie ihre Kinder ausbilden lassen tion zur Förderung von Wachstum, Arbeitsplätzen und (B) können? (D) Ausbildung hilft, müssen wir die Operation akzeptieren. Wenn sie nicht hilft, müssen wir sie sein lassen. Schauen (Beifall bei der CDU/CSU) wir uns die Sache einmal genauer an. Sie sagen: Das Sie zerstören die Ausbildungsbereitschaft; das wer- Handwerk hat eine schlechtere wirtschaftliche Entwick- den Ihnen die Handwerker bestätigen. Diese fühlen sich lung als die Gesamtwirtschaft genommen. Das ist in Tei- durch Ihre Vorgehensweise in einer solchen Weise miss- len wahr, hängt aber wohl auch damit zusammen, dass achtet, dass ihnen – ich möchte es einmal jovial sagen – das Handwerk im Gegensatz zur Gesamtwirtschaft aus- der Hals schwillt. Sie sind nicht mehr bereit, unter diesen schließlich an der Binnenkonjunktur hängt. Wer hinge- Umständen auszubilden. Sprechen Sie doch einmal mit gen die Binnenkonjunktur schlecht macht, darf sich an- Vertretern der Lackiererinnung oder der Friseurinnung. schließend nicht darüber wundern, dass es dem Allein in diesem Bereich gibt es zum gegenwärtigen Handwerk schlechter als der exportierenden Wirtschaft Zeitpunkt über 80 000 Ausbildungsplätze. Diese Innun- geht. gen werden blockieren, weil sie diese Maßnahmen nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wollen. Dennoch werden Sie sie wohl durchsetzen. Aber wer im dualen Ausbildungssystem so sehr über dem Sie sagen: Die enge Verfasstheit des Handwerks stört Durchschnitt der deutschen Wirtschaft ausbildet, der hat Gründungsdynamik. die Schauen Sie sich einmal die es nicht verdient, unter solchen, im Übermaß ausgedach- Gründungsdynamik und die Entwicklung von Existen- ten und zum Teil ideologisch begründeten Gesetzge- zen im Einzelhandel an. In diesem Bereich herrscht ab- bungsvorhaben zu leiden. Das ist der Punkt, gegen den solute Freiheit. Dort sieht es noch schlechter als beim wir uns wehren. Handwerk aus. Schauen Sie sich einmal die Gründungs- dynamik bei Rechtsanwälten an. Dieser Berufsstand ist Kommen Sie zurück zu einer ordnungsgemäßen, kau- verkammert und besitzt eine Gebührenordnung mit ex- salbezogenen, ursachengerechten Reformdiskussion und plodierenden Gebühren. Sie können anhand eines Kur- wir sind an Ihrer Seite. Alles andere ist falsch, schadet venverlaufs nicht einfach auf die Ursache schließen. Sie dem Handwerk und schadet dem Wirtschaftsstandort haben keine sorgfältige Ursachenanalyse betrieben. Man Deutschland. Nehmen Sie unsere Kriterien auf und Sie muss doch fragen: Hat das eine überhaupt etwas mit dem haben einen ersten großen und vernünftigen Schritt ge- anderen zu tun? Oder sind dies unterschiedliche Kausali- tan. täten, die wir hier zu berücksichtigen haben? Herzlichen Dank. Bevor so stark eingegriffen wird, wie Sie es vorhaben, muss erst einmal der Nachweis geführt werden, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 4072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: merhin eine Steigerung von 2,6 Prozent gegenüber dem (C) Ich schließe die Aussprache. Vo r ja h r. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Wir haben freie Stellen. Heute Morgen habe ich die Drucksachen 15/1089, 15/1107 und 15/1108 an die in Meldung gelesen, dass im Hotel- und Gaststättenge- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- werbe in Baden-Württemberg mehr als 2 000 Ausbil- gen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der dungsplätze unbesetzt sind. Da müssen wir uns doch die Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Frage stellen: Warum werden diese Plätze nicht besetzt? Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Nun reden wir in diesen Zeiten immer wieder davon, was wir gemeinsam in diesem Hause tun können, um die Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Situation zu entschärfen. Die Leute draußen – die jungen Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus Haupt, weiteren Leute, aber genauso die Arbeitgeber – erwarten nicht die Abgeordneten und der Fraktion der FDP einge- großen Konzepte; sie stehen mit dem Rücken zur Wand brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände- und wollen, dass etwas geschieht. rung des Jugendarbeitsschutzgesetzes (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Albrecht – Drucksache 15/756 – Feibel [CDU/CSU]) Überweisungsvorschlag: Das ist unsere Herausforderung. Wenn Sie nun um die Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Situation wissen, dass in diesem großen und wichtigen Ausschuss für Bildung, Forschung und Bereich – ich habe die Zahlen schon genannt – in vielen Technikfolgenabschätzung Häusern nur noch Abiturienten ausgebildet werden, Ausschuss für Tourismus (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Dummes Zeug!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieweil die nämlich über 18 sind, und dass Auszubildende FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- unter 18 in vielen Häusern überhaupt nicht mehr ge- derspruch. Dann ist so beschlossen. nommen werden, dann müssen Sie doch handeln. Darauf zielt unser Gesetzentwurf ab. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Ernst Burgbacher für die antragstel- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Albrecht lende FDP-Fraktion. Feibel [CDU/CSU]) Meine Damen und Herren, es geht eben nicht, dass Ernst Burgbacher Sie die Auszubildenden im Hotel- und Gaststättenge- (B) (FDP): (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende werbe um 22 Uhr einfach nach Hause schicken müssen; April dieses Jahres waren mehr als 164 000 unbesetztedie Betriebsabläufe lassen so etwas nicht zu. Übrigens Ausbildungsplätze bei den Arbeitsämtern gemeldet. Dem wollen das auch die Jugendlichen heute überhaupt nicht. standen mehr als 325 000 Bewerber ohne Ausbildungs- Sie haben sich auf diesen Beruf eingestellt und wissen, platz gegenüber. Die Situation ist dramatisch – wir haben was das mit sich bringt. Jetzt müssten sie um 22 Uhr auf- das heute Vormittag schon diskutiert. Wir hier in diesem hören. Was machen sie? Sie ziehen sich um und gehen in Hause müssen alles tun, diesen Problemen zu begegnen. die Disco. So kann man doch keine Politik gestalten! (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Es kann nicht sein, dass in unserem Land mehr und mehr Heute haben Sie die Möglichkeit, zu beweisen, ob Sie junge Menschen vor der Situation stehen, keinen Ausbil- wirklich willens sind, etwas zu verändern und erkannte dungsplatz zu bekommen. Heute Morgen haben wir über Mängel zu beseitigen, oder ob es nur Lippenbekennt- das Instrument der Ausbildungsplatzabgabe diskutiert – nisse sind und Sie sich dann, wenn es konkret wird, auf nach unserer festen Überzeugung ein völlig falsches In- Ihre alten ideologischen Vorstellungen zurückziehen. Ich strument. bin gespannt auf die Debatte hier und in den Ausschüs- sen. (Beifall bei der FDP) Ich wiederhole: Nach den bestehenden Regelungen ist Meine Damen und Herren, wir haben in einem Be- für Jugendliche unter 18 Jahren in diesen Bereichen um reich eine ganz besondere Situation, nämlich in der Tou- 22 Uhr Schluss. Bekanntlich hat sich das Ausgehverhalten rismuswirtschaft, insbesondere im Hotel- und Gaststät- aber völlig verändert. Wir wissen, dass Jugendliche län- tengewerbe. Dort gibt es Arbeitsplätze, genauer gesagt ger ausgehen und dass sich ihre Bedürfnisse verändert Ausbildungsplätze, die kaum exportierbar sind. Laut ei- haben. ner aktuellen DIHK-Unternehmensbefragung beabsich- Zudem muss man die Situation im Hotel- und Gast- tigt fast jedes vierte von 10 000 befragten Unternehmen in stättengewerbe berücksichtigen: Eine ganze Menge Be- Deutschland eine Produktionsverlagerung ins Ausland. In triebe erwirtschaften keine Gewinne mehr, sondern ar- der Tourismuswirtschaft ist das kaum möglich. Die Tou- beiten mit Verlust. Diese Betriebe leiden erheblich unter rismuswirtschaft hat in Deutschland rund 2,8 Millionen dem Konsumrückgang – durch Ihre Politik mit verschul- Beschäftigte und zählt circa 107 000 Auszubildende. Am det. 31. Dezember 2001 gab es rund 93 000 Ausbildungsver- hältnisse im Hotel- und Gaststättengewerbe; das war im- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4073

Ernst Burgbacher (A) Wenn Sie zum Beispiel die Tabaksteuer erhöhen, dann ten, wenn Sie sich sachkundig gemacht hätten. (C) Ich trifft das vor allem diese Betriebe. Denn irgendwo muss möchte auch dazu einige Zahlen anführen: Rund schließlich das Geld wieder eingespart werden. 78 Prozent der Auszubildenden bei den Restaurantfach- leuten sind Haupt- und Realschüler, unter den Fach- Machen Sie doch einmal mit bei konkreten Maßnah- kräften, die im Gastgewerbe ausgebildet werden, sind es men, die diese Situation erheblich entschärfen würden! rund 70 Prozent, unter den Hotelfachleuten rund Wir schlagen Ihnen vor, die Arbeitszeiten so zu verän- 64 Prozent, unter den Hotelkaufleuten rund 32 Prozent dern, dass junge Leute ab 16 Jahre bis 24 Uhr arbeiten und unter den Fachleuten für die Systemgastronomie dürfen; am Vorabend von Berufsschultagen soll eine an- 57 Prozent. Sie sollten sich etwas mehr damit beschäfti- dere Regelung gelten. Das ist eine geringfügige Ände- gen und sich die Zahlen einmal zu Gemüte führen! rung, die aber viel bringen würde. (Ernst Burgbacher [FDP]: Das müssen Sie sagen!) Sie können in dieser Frage zeigen, ob Sie für die Aus- zubildenden nur hehre Worte übrig haben oder ob Sie be- Ich sage noch einmal deutlich: Sie sprechen zwar von reit sind, über Ihren ideologischen Schatten zu springen Flexibilität, aber Sie verstehen darunter die Aufgabe von und zu handeln. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf mittra- Arbeitnehmerrechten und von Arbeitsschutzrechten für gen, dann helfen wir damit vielen jungen Menschen, ei- junge Menschen. nen Ausbildungsplatz zu bekommen. Wir werden Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernst nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten messen. Burgbacher [FDP]: Wenn es den Jugendlichen (Beifall bei der FDP) dient, ja! – Weitere Zurufe von der FDP) – Ihre Reaktion gefällt mir übrigens. Je mehr Zwischen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rufe Sie machen, desto mehr zeigt mir das, dass Sie sich Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus mit der Thematik nicht befasst, dass Sie sich mit den von der SPD-Fraktion. Zahlen nicht vertraut gemacht haben und dass Sie von den Fakten ablenken wollen, die hier genannt werden. Wolfgang Grotthaus (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- DIE GRÜNEN) ren! Herr Kollege Burgbacher, wenn Sie davon spre- Sie gehen davon aus, dass sich das Freizeitverhalten chen, dass wir unsere Politik unseren ideologischen Vor- junger Menschen verändert hat. Das ist wohl richtig. stellungen unterordnen, dann darf ich Ihnen antworten: Aber ich glaube, dass es einen Unterschied zwischen Anscheinend haben Sie in Ihren Antrag vor allem Ideo- dem Freizeitverhalten junger Menschen am Wochenende (B) logie hineingepackt, indem nämlich Arbeitnehmer-und der Vorgabe gibt, wann man als Arbeitnehmer zur(D) rechte abgebaut und Schutzrechte für junge Menschen Verfügung zu stehen hat. Als junger Mensch kann man aufgegeben werden sollen. sich aussuchen, an welchem Tag in der Woche man bis 24 Uhr in eine Diskothek geht. Als Arbeitnehmer kann (Beifall bei der SPD – Ernst Burgbacher [FDP]: man sich aber nicht aussuchen, ob man bis 22 Uhr oder Jetzt haben wir es! Das sind Sie!) bis 24 Uhr arbeitet. In diesem Fall ist man verpflichtet. Nichts anderes steht bei Ihnen im Vordergrund. Sie haben außerdem gänzlich unerwähnt gelassen, dass es auch Ausnahmeregelungen gibt. In Schichtbetrieben Ich will das an einigen Zahlen deutlich machen. Sie kann nämlich die Arbeitszeit bis 23 Uhr verlängert wer- sprachen davon, dass das starre Arbeitsrecht und dieden. Auch das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. zahlreichen Restriktionen in diesem Bereich dazu füh- Ich habe diese Anmerkungen gemacht, weil es mir wich- ren, dass das Ausbildungspotenzial nicht ausgeschöpft tig erschien, den besonderen Wert des Jugendarbeits- werden kann. Sie haben einige Zahlen genannt. Ich will schutzes herauszustellen. diese Zahlen verdeutlichen. In den vergangenen zehn Jahren gab es im Gastronomie-, Hotel- und Gaststätten- Die SPD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf der FDP gewerbe eine Steigerung von fast 50 Prozent auf 91 986 aus zwei Gründen ab: Zum einen wird mit den vorge- Ausbildungsverhältnisse, schlagenen Maßnahmen in keiner Weise das angestrebte Ziel erreicht. Die zugrunde gelegte Bewertung, das gel- (Ernst Burgbacher [FDP]: Hervorragend!) tende Recht behindere die Schaffung von Ausbildungs- obwohl keine Änderungen am Jugendarbeitsschutzge- plätzen, wird durch Zahlen widerlegt. Dies habe ich Ih- setz erfolgt sind, Herr Burgbacher. Insofern ist das, was nen gerade deutlich gemacht. Zum anderen ist die Sie verdeutlichen wollen, nämlich dass sich das Jugend- Begründung, die Jugendarbeitsschutzregelungen seien arbeitsschutzgesetz hinderlich auswirkt, in keiner Weise aufgrund veränderten Freizeitverhaltens zu vernachlässi- überzeugend. gen, mehr als dürftig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall der Abg. Jutta Dümpe-Krüger DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dies gilt in Gänze auch für Ihren Antrag. Daher lehnen Der andere Punkt, den Sie erwähnt haben, nämlich wir ihn ab. dass die geltende Regelung zu einer bevorzugten Bereit- stellung von Ausbildungsplätzen fürAbiturienten ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ währleistet sei, ist ebenfalls falsch, wie Sie wissen müss- DIE GRÜNEN) 4074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die müssen wir ändern. Auch Haupt- und Realschüler(C) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Göhner müssen in diesem Bereich mehr Chancen bekommen. von der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist in diesem Punkt Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): geradezu kurios. Lassen Sie uns doch bitte einmal ohne Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- Scheuklappen, ganz nüchtern darüber reden! lege Grotthaus, mit dem Abbau von Arbeitnehmerrech- ten hat der vorliegende Gesetzentwurf der FDP nun Beispiel eins: Nach geltendem Recht kann ein 17-jäh- wirklich nichts zu tun. riger Bäckerlehrling sinnvollerweise ab 4 Uhr in der Backstube tätig sein. Aber ein in Ausbildung befindlicher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kellner muss im Abendrestaurant um 22 Uhr den Löffel Lassen Sie uns einmal ganz nüchtern und sachlich über fallen lassen. Nennen Sie das schlüssig und logisch? das Problem und über das reden, was im Gesetz steht. Im (Jörg Tauss [SPD]: Sind Sie Lobbyist oder Ab- Jugendarbeitsschutzgesetz ist geregelt, dass ein Jugend- geordneter?) licher nicht mehr als acht Stunden pro Tag arbeiten darf. Das soll auch nach dem Gesetzentwurf der FDP so blei- Beispiel zwei – Sie haben es selbst erwähnt –: In gro- ben. Es geht aber um dieFrage, ob ein jugendlicher ßen Hotelbetrieben oder in großen Gastronomiebetrie- Lehrling auch noch um 22.30 Uhr oder 23 Uhr arbeiten ben, in denen die Leute in zwei Schichten arbeiten, darf darf. Das gesamte Jugendarbeitsschutzgesetz ist sicher- der Lehrling bis 23 Uhr arbeiten. In einer kleinen Hotel- lich gut gemeint. Aber in drei Detailfragen hat sich die- pension, in einem Restaurant, das vielleicht mittags drei ses Gesetz als das Gegenteil von Gut herausgestellt, weil Stunden und abends von 18 bis 23 Uhr aufmacht, darf er es sich zulasten der Jugendlichen auswirkt. nicht bis 23 Uhr arbeiten. Das ist nicht schlüssig. Da ist keine Logik im Gesetz. Dass ein Lehrling im Alter von 17 Jahren zum Bei- spiel im Hotel- und Gaststättengewerbe nach 22 Uhr Diese Beispiele zeigen, dass das Jugendarbeitsschutz- nicht mehr tätig sein darf, ist in der Tat eine anachronis- gesetz in diesem Punkt nicht dem Schutz der Jugendli- tische Vorschrift. chen dient. Es schadet den Interessen der jungen Leute und deshalb sollten wir es auch ändern. (Zuruf von der SPD: Warum?) Das gilt übrigens auch für die Regelung mit denBe- Ein 17-Jähriger darf zwar bis 24 Uhr in eine Gaststätte rufsschultagen. Am Vortag muss der Lehrling schon um oder in eine Disco gehen, aber nur vor dem Tresen und 20 Uhr den Löffel fallen lassen – als ob die Lehrlinge in (B) nicht dahinter. Von jungen Leuten zu verlangen, dass sie der Berufsschule am anderen Tag nicht frisch und mun- (D) als Koch in einem Abendrestaurant – solche gibt es tat- ter und lernbegierig sein können, wenn sie bis 21 Uhr sächlich – um 22 Uhr den Löffel fallen lassen oder dass gearbeitet haben! Das ist doch lachhaft. sie in einer Gaststätte ab dieser Uhrzeit nicht mehr be- dienen, mag zwar einmal gut gemeint gewesen sein. Im (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Warum dann nur Endeffekt führt das heute aber dazu, dass in solchen Be- bis 21 Uhr und nicht bis 24 Uhr?) trieben vorzugsweise Abiturienten als Lehrlinge einge- Ich nenne einen weiteren Punkt – er ist in den FDP- stellt werden. Diese Regelung wirkt sich also als eineEntwurf nicht aufgenommen worden, muss aber auch Benachteiligung der Haupt- und Realschüler aus. geändert werden –: Nach dem geltenden Jugenarbeits- Schichtzeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schutzgesetz darf die so genannte elf Stun- neten der FDP) den nicht überschreiten. Das heißt nicht, dass der Ju- gendliche bis zu elf Stunden arbeiten darf. Nein, es soll In allen Berufen des Hotel- und Gaststättengewerbes bei acht Stunden bleiben. Aber die so genannte Schicht- liegt das Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger zeitenregelung hat die kuriose Folge, dass zum Beispiel über 18 Jahre. Das ist doch kein Zufall. In der System- eine 17-Jährige in einer Hotelpension, die Halbpension gastronomie sind 85 Prozent der Lehrlinge – wohlge-mit Abendessen bietet – kein theoretisches Beispiel –, merkt: zu Beginn ihrer Ausbildung – 18 Jahre und älter. mit Arbeitszeiten morgens von 7 Uhr bis 10 Uhr – Früh- Bei den Hotelkaufleuten sind es sogar 90 Prozent. Der stück, Zimmer machen – und später von 16 bis 20 Uhr, Sachverhalt ist offensichtlich: Das Jugendarbeitsschutz- nicht beschäftigt werden darf, weil die Öffnungszeiten gesetz wirkt in diesem Bereich als Bremse für Haupt- einen Zeitraum von insgesamt mehr als elf Stunden um- und Realschüler. fassen, obwohl die Arbeitszeit nur sieben Stunden be- trägt. Wenn ein Restaurant hier am Gendarmenmarkt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von 11 bis 14 Uhr und abends von 17 bis meinetwegen Nicht die böse Opposition, sondern das Bundesinstitut 23 Uhr geöffnet hat, beträgt die Schichtzeit ebenfalls für Berufsbildung hat das exakt festgestellt: 2001 waren mehr als elf Stunden; der Lehrling muss um 22 Uhr den 84,5 Prozent der Ausbildungsanfänger älter als 18 Jahre; Löffel fallen lassen. Nach dem FDP-Entwurf könnte in beim Hotelkaufmann bzw. bei der Hotelkauffrau waren einem klassischen Speiserestaurant mit Öffnungszeiten es 89,5 Prozent. Die Durchschnittsalter der Ausbil-von 11 bis 14 Uhr sowie von 18 bis 23 Uhr der jugendli- dungsanfänger betrugen: beim Restaurantfachmannche Lehrling auch nicht nach 22 Uhr beschäftigt werden. 18,7 Jahre, beim Hotelfachmann 19,1 Jahre; bei Fach- Dazu werden wir im Laufe der Ausschussberatungen si- kräften im Gastgewerbe 18,5 Jahre. So weit die Fakten. cherlich etwas ergänzen können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4075

Dr. Reinhard Göhner (A) (Ernst Burgbacher [FDP]: Ja!) heute Morgen in der Ausbildungsplatzdebatte erlebt ha- (C) ben, auf dem Rücken junger Leute nahtlos fort. Es ist ja richtig: 90 000 Ausbildungsplätze im Bereich der Hotels und Gaststätten! Deshalb, liebe Kollegen von (Widerspruch bei der FDP – Dr. Werner Hoyer der SPD, lassen Sie uns einmal auf diese ausbildungs- [FDP]: Jetzt hat Sie es uns aber gegeben!) platzintensive Branche hören! Die Branche beklagt ge- rade, dass sie vorwiegend Ältere, vorwiegend Abiturien- Kein Bauer spannt ein Fohlen vor den Pflug. Er weiß ten einstellen muss; sie würde mehr Haupt- nämlich, und dass das Tier noch nicht leistungsfähig ist und Realschüler einstellen. Lassen Sie uns deshalb den Auf- dass körperliche Beanspruchung im jugendlichen Alter schwung in diesem Servicebereich nutzen. Sie loben die- die Leistungskraft für die Zukunft schädigen kann. ses Gewerbe zu Recht. Aber dann hören Sie doch auf die Vertreter! Sie haben sich an alle Fraktionen gewandt, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ auch an Ihre Fraktion, mit der Bitte, diese Grenze her- DIE GRÜNEN und der SPD – Lachen bei Abge- aufzusetzen. ordneten der CDU/CSU und der FDP) Ich kann nur nochmals sagen: Das alles im Gesetz ist Für junge Menschen sollte der gleiche Grundsatz gelten. immer noch gut gemeint, aber für Jugendliche zwischen Diese Erkenntnis ist etwas älter als ich – Sie stammt aus 16 und 18 Jahren, vor allem solche mit Haupt- oder Re- dem Jahr 1931 – und ist unter der Überschrift „Der Ju- alschulabschluss, nicht mehr gut. Deshalb rate ich dazu, gendliche im Betrieb – Praxis des Arbeitsschutzes und dass wir im Ausschuss einmal ganz nüchtern gucken, ob der Gewerbehygiene“ nachzulesen. Auch wenn wir mitt- wir das nicht schnell ändern können. lerweile eine ganze Menge dazugelernt haben, ist eines wahr geblieben: Ausbildung kommt nicht von Ausbeu- (Renate Gradistanac [SPD]: Wir arbeiten nur tung und es wird kein frühkapitalistisches Zurück in die so!) Zukunft geben, schon gar nicht nach Ihrem Motto: Hau Das würde den Jugendlichen helfen. Wir müssen die Ju- weg den Arbeitsschutz für Jugendliche! gend vor diesem Gesetz schützen. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: In welcher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Welt leben Sie eigentlich? – Ernst Burgbacher [FDP]: Meinen Sie das alles ernst? Sie tun mir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Leid!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger Die Realität ist eine völlig andere: Deutsche Unternehmen vom Bündnis 90/Die Grünen. ziehen sich aus ihrer sozialstaatlichen Verantwortung für (B) die Ausbildung mehr und mehr zurück. Nur noch ein(D) Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): knappes Drittel bildet überhaupt aus. Sie selbst weisen darauf hin, dass allein in der Tourismusbranche zum Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir versu- Ende des Jahres 20 000 Lehrstellen fehlen. Welchen chen einmal, das ganz nüchtern zu betrachten: Weil es in Schluss ziehen Sie daraus? – Nicht den Unternehmen, Deutschland eine hohe Arbeitslosigkeit gibt und weil vor nein, den Auszubildenden müssen die Daumenschrau- allem jede Menge Ausbildungsplätze fehlen, muss das ben angelegt werden. Es bleibt allerdings Ihr Geheimnis, Jugendarbeitsschutzgesetz geändert werden; denn schuld wie Sie mit der geforderten Verlängerung neue Arbeits- an der ganzen Misere ist natürlich – wie könnte es anders plätze schaffen wollen. Aber dass alle Vorschläge der sein? – unser starres Arbeitsrecht. Das jedenfalls meint Opposition einer hohen Geheimhaltungsstufe unterlie- die FDP. gen, haben wir heute Morgen gemerkt: Jedes Mal, bevor Deshalb beschäftigen wir uns heute mit einem ebenso ein solcher kommen konnte, war die Redezeit abgelau- schlichten wie abenteuerlichen Vorschlag – ich zitiere –: fen. Mit einer punktuellen Flexibilisierung des Gesetzes Außerdem haben Sie das Gesetz nicht gelesen. Wenn zum Schutz der arbeitenden Jugend wird der Ju-Sie das getan hätten, dann wüssten Sie, dass es gerade gendarbeitslosigkeit entgegengewirkt. für den Bereich der Gastronomie, des Schaustellerge- werbes, für Krankenpflegeeinrichtungen, Altenheime, Im Klartext: Damit mehr Jugendliche in AusbildungBäckereien usw. eine Reihe von Ausnahmeregelungen kommen, will die FDPZumutbarkeitskriterien ver- gibt. 16-Jährige dürfen in Bäckereien bereits um 5 Uhr schärfen und entlang ihrer Philosophie das Jugendar-morgens Brötchen backen, 17-Jährige bereits ab 4 Uhr. beitsschutzgesetz in folgenden Punkten ändern: §§ 16 bis 18 des Jugendarbeitschutzgesetzes sehen au- Erstens. Jugendliche in Gaststätten und im Schaustel- ßerdem noch Ausnahmeregelungen an Samstagen sowie lergewerbe sollen künftig bis 24 Uhr statt wie bisher bis an Sonn- und Feiertagen vor. 22 Uhr auf Trab gehalten werden. Interessant sind auch Ihre Aussagen zum Ausgehver- Zweitens. An einem dem Berufsschultag unmittelbar halten von Jugendlichen. Motto: Weil 16-Jährige heutzu- vorangehenden Tag sollen die Beschäftigungszeiten von tage länger ausgehen und am öffentlichen Leben teilneh- 20 Uhr auf 21 Uhr ausgeweitet werden. men, müssen sie auch länger arbeiten. Das sind die liberalen Vorschläge. Damit setzen Sie ( [FDP]: Sie sollen sogar wählen die Brechstangen- und Rasenmäherpolitik, die wir schon können, habe ich gehört!) 4076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Jutta Dümpe-Krüger (A) Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrem jugendlichen Alter ein- Wege aber deutlich. Auf die Antwort der Bundesregie- (C) mal nachts in irgendeiner Kneipe gekellnert haben. Ich rung auf Ihre Kleine Anfrage zur Ausweitung des § 14 vermute allerdings, eher nicht. des Jugendarbeitsschutzgesetzes, in dem es um die Nachtruhe geht, wurde schon hingewiesen. Ich will es (Marita Sehn [FDP]: Doch! – Ernst trotzdem noch einmal betonen: Sinn und Zweck dieses Burgbacher [FDP]: Doch!) Gesetzes ist nicht die Bekämpfung der Jugendarbeitslo- Hätten Sie es getan, wäre Ihnen der gravierende Unter- sigkeit bzw. des Ausbildungsplatzmangels. Vielmehr schied zwischen Freizeit und Arbeit klar. geht es um den Gesundheitsschutz der betroffenen ar- beitenden Jugendlichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Burgbacher, das können Sie auch mit dem Argu- ment eines veränderten Freizeitverhaltens nicht außer Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll Jugendliche vor Kraft setzen. Ich kann kaum nachvollziehen, dass es Überforderung und Gefahren am Ausbildungs- und Ar- nach Ihrer Meinung keinen großer Unterschied aus- beitsplatz schützen. Sie stehen unter besonderem Schutz, macht, ob ein junger Mensch bis 24 Uhr arbeiten muss weil ihre psychische und physische Entwicklung noch oder tanzen gehen darf. nicht abgeschlossen ist. Auch wenn es stimmt, dass sich junge Menschen heute schneller entwickeln, dann heißt (Beifall bei der SPD – Ernst Burgbacher [FDP]: das nicht, dass ihre Entwicklung mit 16 Jahren abge- Das ist auch schon um 20 Uhr ein Unterschied!) schlossen ist. Im Gegenteil: Die Anforderungen an Ju- gendliche in einer sich rasant verändernden und immer Darüber hinaus sind in dem Gesetz bereits branchen- komplizierter werdenden Welt hat dazu geführt, dass der spezifische Ausnahmen – das wurde hier schon gesagt –, körperliche und auch der soziale Reifungsprozess länger insbesondere für das Gaststätten- und das Schausteller- dauert. Deshalb müssen wir sie in vollem Umfang schüt- gewerbe, enthalten. zen Zweitens. Wir sprechen hier über das Thema Ausbil- (Ernst Burgbacher [FDP]: Vor allem vor einem dung. Bei Ihrem Vorschlag stellt sich mir die Frage, wel- Ausbildungsplatz!) che spezifischen Lerninhalte nach 22 Uhr eigentlich ver- mittelt werden sollen. Ich behaupte, dass es im und deshalb lehnen wir Ihre Änderungen zum Jugendar- Restaurant, in der Küche oder auf dem Rummel keine beitsschutzgesetz ab. spezifischen Nachtinhalte gibt. Servicearbeiten wie Auf- Ich will Ihnen hier noch als Letztes sagen: Denräumen, Säubern oder Frühstück-Eindecken können Schutz von Jugendlichen als Ideologie zu bezeichnen, auch zu den geltenden Arbeitszeiten gemacht werden. (B) das ist schon ein starkes Stück. Ich hoffe, dass das viele Das führt mich zu Punkt drei. (D) Jugendliche so wahrgenommen haben. (Ernst Burgbacher [FDP]: Ich nehme Sie einmal Danke schön. mit! Dann schauen wir uns das einmal an!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gerne. und bei der SPD) (Wolfgang Grotthaus [SPD], zu Abg. Ernst Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Burgbacher [FDP] gewandt: Das hätten Sie gestern Abend tun können!) Jetzt hat der Kollege Engelbert Wistuba von der SPD- Fraktion das Wort. – Ich möchte fortfahren, liebe Kolleginnen und Kolle- gen. Engelbert Wistuba (SPD): Ich möchte alle an dieser Diskussion Beteiligten noch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!einmal daran erinnern – der Kollege Grotthaus hat das Liebe Kollegen! Der uns heute vorliegende Entwurf löst schon in ähnlicher Weise ausgeführt –, dass die Zahl der bei mir geteilte Gefühle aus. Zum einen begrüße ich die Azubis im Gastgewerbe in den letzten zehn Jahren um Intention des Gesetzentwurfs ausdrücklich, setzt sich die über 50 Prozent gestiegen ist. Dies kann man einerseits FDP-Bundestagsfraktion doch für eine Bekämpfung der als einen verdienstvollen Beitrag zur Bekämpfung des viel zu hohen Jugendarbeitslosigkeit und des nicht zu ak- Ausbildungsplatzmangels interpretieren. Man könnte bei zeptierenden Lehrstellenmangels in Deutschland ein.einem Blick auf die Realität in diesem Gewerbe anderer- Darüber hinaus könnte man sogar einen leichten Anflug seits aber auch zu dem Schluss kommen, dass diese Ent- längst tot geglaubter sozial-liberaler Anwandlungen er- wicklung darauf zurückzuführen ist, dass reguläre Ar- kennen, wenn Sie sich für eine größere Chancengleich- beitskräfte im Gastgewerbe durch billige Auszubildende heit von Haupt- und Realschülern gegenüber Gymnasi- ersetzt wurden. asten einsetzen. Aber, um es mit Goethe gleich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) klarzustellen: Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Ich will den Kollegen von der FDP nichts unterstel- len. Ein Blick auf die Angaben des Statistischen Bundes- (Beifall bei der SPD) amtes zeigt aber, dass die Beschäftigungsquote in der Bei der Wahl der Mittel – das hat Ihnen der Kollege Branche seit 1995 – bis auf das Jahr 2001 – bei steigen- Grotthaus schon klar diagnostiziert – trennen sich unsere dem Ausbildungsplatzangebot stetig zurückgeht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4077

Engelbert Wistuba (A) Punkt vier. Nach einer Pressemitteilung des Deut- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) schen Hotel- und Gaststättenverbandes vom 14. Februar, Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen dessen Formulierung interessanterweise dem Gesetzent- Reinhard Göhner das Wort. wurf der FDP sehr ähnlich ist, liegt die Ausbildungs- quote im Gastgewerbe mit 12 Prozent deutlich über dem (Jörg Tauss [SPD]: In welcher Eigenschaft Durchschnitt der Wirtschaft. Das heißt doch – ich be- jetzt? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sprichst du grüße das ausdrücklich –, dass die Branche schon jetzt in jetzt als Abgeordneter?) überproportionalem Maße ausbildet. So weit, so gut. Ich gebe aber zu bedenken, dass dies nicht auf Kosten der Ausbildungsqualität geschehen darf, Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Ich habe vorhin fünf Minuten kürzer geredet, als mir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) an Redezeit zustand. wie das bei einer weiteren Verschiebung des Verhältnis- Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich möchte noch ei- ses von ausgebildeten Arbeitnehmern zu Auszubilden- nen kurzen Versuch machen, die Diskussion wieder zu den der Fall sein würde. öffnen. Sie haben gesagt, Herr Kollege, es gehe beim Ju- Ich formuliere es zum Schluss noch einmal klar und gendarbeitsschutzgesetz um Gesundheitsschutz für die deutlich: Ihre Intention ist löblich, der vorgeschlagene Jugendlichen – in Ordnung. Jetzt erklären Sie mir aber Weg führt aber nicht zum gewünschten Ziel. Im Namen einmal, was es mit Gesundheitsschutz zu tun hat, wenn meiner Fraktion wehre ich mich gegen den Ansatzder Lehrling bei McDonald’s nach geltendem Recht „mehr billige Azubis auf Kosten regulärer Arbeitsver- – dort wird prinzipiell mehrschichtig gearbeitet und der hältnisse“. Betrieb ist sehr ausbildungsintensiv – bis 23 Uhr arbei- ten kann, dieser Lehrling im Nachbarrestaurant, einem (Beifall bei der SPD) Speiserestaurant, das als Abendspeiserestaurant von 18 bis 23.30 Uhr geöffnet hat, aber ab 22 Uhr nicht mehr ar- Der brancheninterne Sparzwang darf unter keinenbeiten dürfte. Das hat doch nichts mit Gesundheitsschutz Umständen auf dem Rücken der jungen Menschen aus- zu tun! getragen werden. Aus der alltäglichen Arbeit wissen wir doch, dass es schon heute in allen Betriebssystemen Ver- Und was hat es mit Gesundheitsschutz zu tun, wenn stöße gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz gibt, egal ob der 17-jährige Lehrling beim Bäcker morgens um 4 Uhr es sich um die Einhaltung von Arbeitszeiten oder um ta- – sinnvollerweise, das geht beim Bäcker nicht anders – rifvertragliche Vereinbarungen handelt. Eine weiterein der Backstube anfangen darf, aber abends um 22 Uhr (B) (D) Senkung dieser Sanktionsschwelle ist deshalb absolut in- den Löffel fallen lassen muss? akzeptabel. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Worauf bezieht sich Um Ihnen ein Beispiel zu geben, verweise ich Sie auf die Kurzintervention?) einen Bericht in der „Bild“-Zeitung vom 15. Mai 2003, wo – ich denke, es war die Münchner Ausgabe – über ei- Deshalb lassen Sie uns wirklich überlegen, ob es noch nen Hotelchef berichtet wurde, der in den letzten Monaten zeitgemäß ist, zu behaupten, dass der Gesundheitsschutz mir nichts, dir nichts zehn Azubis die Gehälter gekürzteines Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren beein- und sie letztendlich – zum Teil in der Probezeit – ohneträchtigt ist, wenn er nach 22 Uhr etwas tun muss. Wenn triftige Gründe rausgeworfen hat. Sie das ernst meinen, dann müssten Sie die anderen Re- gelungen – für McDonald’s, für den Bäcker – auch än- (Ernst Burgbacher [FDP]: Sauerei!) dern. Das wollen Sie doch selbst nicht. (Brunhilde Irber [SPD]: Wieso haben Sie sie denn nicht geändert? Das Gesetz stammt doch Diese jungen Menschen sind doch schon heute das un- aus Ihrer Zeit!) terste Glied in der Arbeitshierarchie. Für ein Aufwei- chen ihres Arbeitsschutzes werden Sie unsere Stimme Deshalb schlage ich vor, dass wir im Ausschuss ernst- nicht erhalten. haft darüber reden. Wenn Ihnen 24 Uhr zu spät ist, dann reden wir über die 23 Uhr, die das Hotel- und Gaststät- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tengewerbe selbst vorschlägt und die, wie ich Ihnen ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sagt habe, bei McDonald’s und in allen anderen Schicht- betrieben – in jeder Hotelkette gibt es Schichtbetrieb – Abschließend möchte ich Ihnen ein chinesischeszulässig sind, nur nicht in der kleinen Hotelpension, die Sprichwort mit auf den Weg geben. Es lautet folgender- nicht mehrschichtig arbeitet; dort sagen Sie: 22 Uhr maßen: Es gibt Menschen, die Fische fangen, und sol- Ende der Fahnenstange. che, die nur das Wasser trüben. – In diesem Sinne emp- fehle ich allen Beteiligten klare Sicht in dieser Debatte Ich finde, Sie sollten unter diesem Gesichtpunkt über- und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. legen, ob Sie an Ihrer Position tatsächlich festhalten wol- len. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 4078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein (C) Herr Kollege Wistuba, wollen Sie noch einmal das Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Wort ergreifen? – Bitte schön. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- Engelbert Wistuba (SPD): nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Herr Göhner, ich meine, Schichtarbeit ist ein notwen- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster diger Sektor in unserem Land. Das sagt Ihnen jemand, Redner der Kollege Hubertus Heil von der SPD-Frak- der über 20 Jahre seines Lebens im Schichtdienst gear- tion. beitet hat. Ich sage aber auch, dass wir das so bald wie möglich eingrenzen sollten. Gerade bei jungen Men- Hubertus Heil (SPD): schen ist eine Eingrenzung besonders notwendig. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Sie sprachen davon, dasses Sonderregelungen gibt. Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung bera- Wir wissen das; ich habe das in meinem Redebeitrag an- ten und über das wir abstimmen werden, macht den Weg gesprochen, ebenso die anderen Kolleginnen und Kolle- frei für mehr Verbraucherschutz gegen den Missbrauch gen. Wir werden Ihre Ansicht hinsichtlich der Punkte, von 0900er- und 0190er-Nummern. die die Schaffung von Ausbildungsplätzen betreffen, aufgrund der von Ihnen vorgelegten Änderung des Ge- Ich möchte nur ein Beispiel für den Missbrauch nen- setzes nicht teilen. In diesem Sinne sage ich: Wir werden nen. In einem Wohnhaus inBerlin, in dem zufälliger- bei unserer Haltung bleiben und dem Gesetz nicht zu- weise der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar stimmen. Staffelt wohnt, wurde ein Zettel in den Briefkasten einer älteren Nachbarin des Staatssekretärs geworfen, auf dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stand: Rufen Sie uns sofort an. Wir konnten Sie nicht an- DIE GRÜNEN) treffen. Es ist sehr dringend. – Darunter war eine 0190er- Nummer angegeben. Dies ist ein eklatanter Fall von Ab- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zocke und Missbrauch dieser Mehrwertdienste, denen Ich schließe die Aussprache. wir heute mit diesem Gesetz entgegenwirken werden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wurfs auf Drucksache 15/756 an die in der Tagesord- DIE GRÜNEN) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Worum geht es? Es geht bei diesem Gesetz darum, ei- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Interessenausgleich (B) nen fairen zwischen den Ansprüchen (D) Dann ist die Überweisung so beschlossen. der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Schutz und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: dem Interesse der Mehrwertdienste – mehrheitlich handelt es sich bei diesen Diensten um seriöse Anbieter –, ihr Ge- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- schäftsmodell auch künftig zu betreiben, zu schaffen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Angesichts der Tatsache, dass es sich um einen Zweig zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er- der Telekommunikationsbranche handelt, der einen Um- /0900er-Mehrwertdiensterufnummern satz von immerhin 1,5 Milliarden Euro erzielt und in – Drucksachen 15/907, 15/1068 – dem weiteres Wachstum erwartet wird, ist das wirt- schaftspolitisch geboten. Der Verbraucher und vor allem (Erste Beratung 44. Sitzung) die Branche brauchen mehr Rechtssicherheit. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Nach den Ausschussberatungen und Anhörungen ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) liegt Ihnen ein Gesetz vor, mit dem wirksam gegen Einwählprogramme, – Drucksache 15/1126 – so genannte Dialer, vorgegangen werden kann, die sich über Internetseiten automatisch Berichterstattung: auf den Rechner aufschalten. Wir werden nicht nur dafür Abgeordneter Hubertus Heil sorgen, dass sich die Betreiber diese Dialer bei der Regu- lierungsbehörde für Telekommunikation und Post zukünf- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tig registrieren lassen müssen, sondern auch dafür – das richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit sahen im Übrigen auch die Initiative des Bundesrates und (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten der Antrag der Union vor –, dass diese Dialer aufeine Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Karl- Nummerngasse beschränkt werden. Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Den Missbrauch von Mehrwertdiensteruf- DIE GRÜNEN) nummern grundlegend und umfassend be- Wir werden weiterhin dafür sorgen, dass die Abzocke kämpfen im Internet durch das Aufschalten von Dialern – dies kann durch Anklicken eines Bildes geschehen, ohne dass – Drucksachen 15/919, 15/1126 – es der Verbraucher bemerkt – zukünftig schwieriger wird Berichterstattung: und dass mehr Transparenz herrscht. Wir werden außer- Abgeordneter Hubertus Heil dem dafür sorgen, dass es bei 0900er- und 0190er-Num- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4079

Hubertus Heil (A) mern zukünftig eine Preisobergrenze von 2 Euro pro die Dauer des Anrufs festzulegen. Bei den 0137er-Num- (C) Minute bzw. 30 Euro pro Einwahl geben wird. Wir wer- mern geht es nämlich nicht darum, dass die Leute beson- den die Anbieter darauf verpflichten, die Verbindungders lange telefonieren, sondern darum, dass besonders nach einer Stunde automatisch zu trennen. viele Menschen anrufen. Insofern wäre es falsch, diese Regelung auf alle Anrufarten zu beziehen. Das betrifft Wir wollen darüber hinaus klar machen – auch das übrigens auch andere Nummerngassen. gehört zur Transparenz –, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher ein Auskunftsrecht gegenüber der Regu- Wir müssen allerdings einen Blick auf diese Dinge lierungsbehörde haben, um zu erfahren, wer sich hinter haben. Deshalb fordern wir in unserem Entschließungs- diesen Diensten befindet. Die Verbraucherinnen undantrag die Bundesregierung auf, im Rahmen eines Jah- Verbraucher sollen Adressen von Unternehmen bekom- res, im Rahmen der großen TKG-Novelle, dann, wenn men, die in Deutschland im Falle von Missbrauch haft- ein weiterer Missbrauch auftritt, dafür zu sorgen, dass bar gemacht werden können. dieser abgestellt werden kann. Mit diesem Gesetz soll durch verschärfteBußgeld- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorschriften eine größere Abschreckung erzielt werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir werden den Bußgeldkatalog dahin gehend verän- dern, dass die Regulierungsbehörde zukünftig eine Zum Schluss möchte ich feststellen: Wir schaffen Strafe bis zu 100 000 Euro und nicht wie bisher bis zu heute mehr Sicherheit für die Verbraucherinnen und 20 000 Euro verhängen kann. Wir halten das für notwen- Verbraucher. dig, um in diesem Bereich gegen den Mißbrauch vorzu- Ich möchte mich übrigens ganz herzlich auch bei den gehen. Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ danken. Ich finde, die Arbeit im Ausschuss für Wirt- DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP) schaft und Arbeit, Frau Dr. Krogmann, war insofern ein gutes Beispiel für das Parlament, als wir es geschafft ha- – Von der FDP wurde gerade gerufen: zu wenig. Ichben, miteinander über die Sache zu diskutieren. habe Ihren Entschließungsantrag gelesen, in dem Sie eine Obergrenze für das Bußgeld von 500 000 Euro vor- Wenn wir den Unterausschuss Telekommunikation schlagen. Es geht um die Verhältnismäßigkeit des Buß- und Post hätten, hätten wir öfter das Vergnügen, so vor- geldes. Ich halte es für interessant, dass Liberale sehrzugehen. harte Strafen vorschlagen, wenn es um das Eigentum (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des geht. In anderen Bereichen des Rechts sollten Sie das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch einmal fordern. (B) (D) In einem großen Ausschussist es leider oft so, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fensterreden gehalten werden. Das ist leider so in einem Ich will noch darauf hinweisen, dass wir auch für eine Parlament. Wir sollten uns dieses beispielhafte Verfah- Preisansage sorgen werden, die erfolgt, bevor ein Ent- ren der Gesetzgebung vielleicht auch für die große TKG- gelt bezahlt werden muss, damit die Verbraucher wissen, Novelle bewahren; ich würde mich darüber freuen. Dies auf was sie sich bei den Mehrwertdiensten einlassen. ist kein Feld, bei dem es um linke oder rechte Ideologie geht, sondern um Vernünftiges oder Unvernünftiges. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir beschließen heute ein vernünftiges Gesetz. Ich danke Ihnen, dass offensichtlich Sie alle in diesem Zum Schluss noch eine Bemerkung. In der Anhörung Hause es heute mit unterstützen. ist auch vonseiten der Opposition oft gefragt worden, warum wir diese Vorschriften nicht für alle Nummern- Herzlichen Dank. gassen, sondern nur für 0900er- und 0190er-Nummern einführen. Den 0900er-Nummern gehört die Zukunft in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesem Bereich; die 0190er-Nummern werden in zwei DIE GRÜNEN) Jahren auslaufen. Wir sehen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes die Gefahr, dass auf andere Nummerngassen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ausgewichen und mit diesen Nummern dann Missbrauch Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Krogmann von der getrieben werden kann. Wir müssen darauf – wir machen CDU/CSU-Fraktion. das in unserem Entschließungsantrag zur Berichterstat- tung deutlich – flexibel reagieren. (Beifall der Abg. Ursula Heinen [CDU/CSU] – Jörg Tauss [SPD]: Frau Krogmann, bitte zu- Es geht allerdings nicht, dass wir die Regelung, die mindest so versöhnlich wie im Ausschuss!) wir jetzt haben, pauschal allenNummerngassen über- stülpen und damit beispielsweise in Bezug auf 0137er- Nummern, die vor allen Dingen für Televoting bzw. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): TED-Umfragen – zum Beispiel im Rahmen der Sendung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber „Deutschland sucht den Superstar“ – genutzt werden,Kollege Heil, es ist schön, Sie so freudig darüber zu se- Regelungen schaffen, die gar nicht greifen oder das Ge- hen, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute ge- wollte verhindern würden. Wenn es um Televoting geht, meinsam verabschieden. Auch wir als Opposition freuen ist es nicht sinnvoll, Preisobergrenzen im Hinblick auf uns. Wir freuen uns vor allem darüber, dass Sie fast alle 4080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Martina Krogmann (A) Punkte unseres Antrages nachträglich in Ihren Gesetz- Besonders dreist ist die Abzocke allerdings im Inter- (C) entwurf aufgenommen haben. net. ( [SPD]: Alle sinnvollen!) (Marita Sehn [FDP]: Das ist wohl wahr!) Wir freuen uns darüber, dass wir als konstruktive Oppo- Mit einem falschen Klick zum Beispiel beim Schließen sition Ihnen so gute Ideen und Lösungen geliefert haben. von Pop-ups auf der Bildschirmoberfläche oder beim Öffnen einer getarnten E-Mail installieren sich, ohne (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: dass man es merkt, die Dialer oft von selbst. Das böse Machen Sie das ruhig öfter! – Dr. Uwe Küster Erwachen kommt erst Wochen später mit der Telefon- [SPD]: Das schreit nach Wiederholung! – rechnung. Dann stellt man fest, dass man pro Einwahl Hubertus Heil [SPD]: Beispielsweise bei der sogar bis zu 1 000 Euro berappen muss. Gesundheitsreform!) Diese Beispiele machen deutlich, dass wirklich drin- Eines dürfen wir nicht vergessen: Der Gesetzentwurf, gender Handlungsbedarf besteht. Uns war es in den ge- den Sie, Herr Staatssekretär Staffelt, zuerst auf den Tisch samten Beratungen wichtig, mit diesem Gesetz den gelegt haben, war absolut unzureichend, schmalen Grat zu gehen, einerseits die Verbraucher vor Abzocke zu schützen, andererseits aber auch die seriö- (Ulrich Kelber [SPD]: Deshalb gibt es das Par- sen Anbieter zu schützen, also nicht über das Ziel hin- lament!) auszuschießen und die erfolgreichen Geschäftsmodelle um den Missbrauch in diesem Bereich zu bekämpfen. kaputtzumachen. Deshalb waren uns vor allem vier Alle Sachverständigen, Verbände, Diensteanbieter und Punkte wichtig, die Sie jetzt in Ihren Gesetzentwurf auf- Verbraucherschützer haben durch die Bank Ihren ur-genommen haben: sprünglichen Gesetzentwurf massiv kritisiert. Ich finde Erstens. Das Gesetz darf nicht auf die 0190er- oder es positiv, Herr Kollege Heil, dass Sie sich nicht ver-0900er-Rufnummerngassen beschränkt bleiben. schlossen haben, sondern unseren guten Argumenten ge- genüber offen waren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jörg Tauss [SPD]: Wir sind völlig offen, Frau Dies wäre eine Einladung auf dem Silbertablett an alle Krogmann, wie ein Scheunentor!) Abzocker gewesen, einfach auf andere Rufnummern aus- zuweichen. Deshalb ist es gut, dass Sie unserem Vor- und sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben. schlag gefolgt sind und eine eigene Rufnummerngasse für Dialer geschaffen haben. Das reicht aber aus unserer (Beifall bei der CDU/CSU) Sicht für die nahe Zukunft noch nicht aus. Deshalb sollten (B) (D) Ich will einmal kurz deutlich machen, worum es heute wir – Kollege Heil, Sie haben es angesprochen – im Rah- geht: Mehrwertdiensterufnummern sind all diejenigen men der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes Nummern, mit denen man telefonisch oder über den PC unbedingt in diesem Bereich nachhaken, die Rufnum- schnell und einfach Dienstleistungen abfragen kann, zum merngassen überprüfen und schauen, welcher Hand- Beispiel Beratungsdienste, den Wetterbericht, Renn- lungsbedarf besteht, um die schwarzen Schafe herauszu- ergebnisse, Verbraucherschutzinformationen, Staupro- filtern. gnosen, also Dienste all dieser Art. Das Problem ist, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es bei diesen Diensten seit längerem zu einem erhebli- chen Missbrauch im Rahmen dieser Nummern gekom- Der zweite Punkt, der uns am Herzen lag und jetzt in men ist. den Gesetzentwurf aufgenommen worden ist, betrifft die Auskunftspflicht für Zuteilungsnehmer. Für uns ist es Dadurch entsteht erstens ein erheblicher volkswirt- enorm wichtig, dass jeder Bürger Auskunft über Name schaftlicher Schaden. Die schwarzen Schafe unter den und Anschrift des Diensteanbieters einer 0190er-Num- Mehrwertdiensteanbietern fügen gerade den seriösenmer verlangen kann, damit zumindest die Transparenz Anbietern Schaden zu. Der Markt ist im Wachsen. Mit gegeben ist, die der Verbraucher dringend braucht. UMTS, mobilen Diensten und mobilem Internet wird dieser Markt in Zukunft noch größer werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hier haben Sie in unserem Sinne Ihren Gesetzentwurf Zweitens entsteht ein erheblicher Schaden bei den nachgebessert. Es ist zu Präzisierungen gekommen, die Verbrauchern, die mit immer kreativeren Methoden im- gerade für die Netzbetreiber wichtig sind und den Unter- mer übler und gnadenloser abgezockt werden, und zwar nehmen Klarheit bringen. überall: im Festnetz, per Handy, per Fax und vor allem im Internet. Beispiel Handy: Ihr Handy klingelt nur ein- Der dritte Punkt betrifft die Preisansage. Für uns ist mal. Auf dem Display erscheint eine 0137er- oderwichtig, dass der Verbraucher bei jeder Internetverbin- 0190er-Nummer, oftmals getarnt durch eine Länderken- dung, die durch einen Dialer hergestellt wird, online eine nung, die davor steht. Wenn Sie nun arglos zurückrufen, Information über den aktuellen Preis erhält und diese In- kostet Sie dieser eine Anruf bis zu 3 Euro. Oder Sie be- formation auch selbst durch Anklicken bestätigen muss. kommen eine SMS mit einem netten Text: Versuche seit In der Vergangenheit ist es nämlich oft passiert, dass die Tagen, dich zu erreichen,ruf unbedingt sofort zurück! Anbieter mit einem Lockangebot geworben haben, die- Wenn Sie auf die fünfstellige Kurzwahl antworten, kann ser Preis dann aber gar nicht mehr galt und die Preise ex- Sie dieser eine Anruf rund 5 Euro kosten. orbitant in die Höhe geschnellt sind. Auch dies wollten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4081

Dr. Martina Krogmann (A) wir verhindern. Sie haben unserer Forderung im Nach- hende Strahlenbelastung zu informieren. Auf diesem Ge- (C) hinein stattgegeben. Dafür vielen Dank, wunderbar! biet haben wir gemeinsam noch etwas zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Missbrauch der so genannten Mehrwertdienste- rufnummern führte zu eklatanten Missständen; sie sind Unser vierter Punkt, den Sie ebenfalls aufgenommen bereits beschrieben worden. Man muss wirklich sagen, haben, betrifft die Zwangstrennung nach einer Stunde. dass die daraus resultierenden Schädigungen der Wirt- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das war schaft und der Privathaushalte die Nutzung der seriösen doch im Gesetzentwurf drin! – Ulrich Kelber Diensteanbieter geradezu blockierten. Das kann nicht [SPD]: Frau Krogmann, ein bisschen näher an sinnvoll sein. Eine solche Lizenz zum Gelddrucken, wie die Wahrheit!) sie bestanden hat, ist nicht im Sinne des Erfinders und nicht im Sinne der Bundesregierung. Deswegen ist dies Vorher war in Ihrem Gesetzentwurf völlig unklar, wer jetzt auch beendet worden. diese Zwangstrennung überhaupt zu vollziehen hat. Jetzt haben Sie nachgebessert. Die Diensteanbieter sind – das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war unser Vorschlag – im Gesetz. Auch das ist wunder- und bei der SPD) bar. Wir haben neue Instrumente geschaffen, so die Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) führung der Preisangabepflicht, die Einführung einer Preisobergrenze – sie ist jetzt auf 2 Euro pro Minute Wichtig ist uns, dass das Gesetz jetzt schnell verab- bzw. 30 Euro bei Blocktarifen reduziert – und die schiedet wird und dass wir im Rahmen der TKG-Novel- Zwangstrennung. Zu ihnen zählt aber auch Folgendes: lierung über die einzelnen Punkte noch einmal sprechen, Wenn der Anbieter in Zukunft nicht vorher über den um hier dem dynamischen Markt gerecht zu werden. Da- Preis informiert, bekommt er auch kein Geld. Die Be- mit Sie frohe Pfingsttage feiern können, sage ich zu Ihrer weislast liegt beim Anbieter. Mit einer Übergangsfrist Beruhigung, liebe Kollegen: Wir werden diesen Gesetz- von einem Jahr gilt diese Regelung auch für den Mobil- gebungsprozess ebenfalls mit unseren guten Vorschlägen funk. Die FDP fordert, dass man diese Regelung unver- bereichern und Ihnen auch dann wieder mit besseren Lö- züglich auf den Mobilfunk zu übertragen habe, sungsvorschlägen zur Verfügung stehen. (Hubertus Heil [SPD]: Das ist wirtschafts- Vielen Dank. feindlich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – aber ich meine, diese Übergangszeit für die Wirtschaft Ulrich Kelber [SPD]: Drohungen kurz vor muss gewährt werden. (B) Pfingsten!) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Auch ich konnte mich dieser Auffassung anschließen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom (Zuruf von der SPD: Es gehen Tausende von Bündnis 90/Die Grünen. Arbeitsplätzen verloren!) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein neues Instrument besteht insbesondere darin, dass die Dialer registriert werden müssen und damit das Ver- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und steckspiel endlich vorüber ist. Die Registrierpflicht be- Kollegen! Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf inhaltet unter anderem die Versicherung, dass eine ist tatsächlich ein großer Erfolg, meiner Meinung nach rechtswidrige Nutzung, zum Beispiel durch Täuschung auch ein Erfolg der von dieser Bundesregierung wahrge- über die Kosten, auszuschließen ist. Auch hier werden nommenen Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz. die Anbieter also ganz anders in die Pflicht genommen. Er ist ein Erfolg des Verbraucherschutzes insgesamt. Somit ist auch die Stärkung Regulierungs- der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) behörde in diesem Punkt zu begrüßen; denn sie schafft Wir freuen uns sehr, wenn der Bundesrat diesen Vor- schlicht und ergreifend einen besseren Wettbewerb. Al- schlägen zur Verbesserung des Verbraucherschutzesles, was wir vorher hatten, bedeutete eine wettbewerbs- folgt. Auch der CDU/CSU bekommt die Oppositions- verzerrende Wirkung, die für die Wirtschaft überhaupt rolle sehr gut; denn sie orientiert sich immer stärker am nicht positiv war. Verbraucherschutz. Das ist ebenfalls ein Erfolg. Es wurde schon gesagt: Im parlamentarischen Verfah- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ren haben wir sowohl im Änderungsantrag wie auch im SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Marita Entschließungsantrag einige Erweiterungen vorgenom- Sehn [FDP]: Ihr habt aber lange gebraucht, bis men, um der technischen Entwicklung sowie den Erfah- ihr das kapiert habt!) rungen mit diesen Techniken und mit den Raffinessen der Anbieter Rechnung zu tragen. Auch hierzu stehen Blauen En- Heute ist übrigens das 25. Jubiläum des Entscheidungen noch bevor. gels. Weil wir gerade beim Thema Telekommunikation sind: Wir würden uns darüber freuen, wenn bald zum Ich bin sehr froh, dass es zu einer Verständigung darü- Beispiel das Label Blauer Engel für Handys etabliertber gekommen ist, dass in Zukunft für möglichst alle Te- würde, um den Verbraucher über die von ihnen ausge- lefonmehrwertdienste, deren Preis zeitabhängig ist, eine 4082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Ulrike Höfken (A) Preisangabepflicht eingeführt wird. Es kann nicht sein, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ewig (C) dass sie bei anderen Waren beispielsweise für jeden Lolli lange!) gilt, aber nicht für diese Art von Dienstleistungen. Frau Höfken, die FDP hat von Anfang an darauf ge- Ebenso halte ich es für sehr wichtig, dass bei Diens- drängt, ten, die über die Internetverbindungen abgerufen wer- (Jörg Tauss [SPD]: „Von Anfang an“! Ihr seid den, ein aktiver Bestätigungsschritt vor deren Nutzung Helden!) eingeführt wird. Auch ich habe Kinder im jugendlichen Alter und teile das Schicksal vieler Eltern, die horrende den Verbraucherschutz nicht zu einer Ermessenssache Telefonrechnungen bezahlen mussten, weil kein Er-der Regulierungsbehörde zu machen. Betrug kann nicht wachsener und erst recht nicht Jugendliche absehen kön- hingenommen werden, sondern muss geahndet werden. nen, in welche Angebote sie sich einwählen und welche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Anbieter ihre Dienste über das Internet präsentieren. In- der CDU/CSU) sofern halte ich dies für einen bedeutenden Schritt im Sinne positiver Unterstützung, um die Privathaushalte Auch das vorgeseheneBußgeld in Höhe von vor ungewollten Gebühren zu bewahren und die Nut-100 000 Euro – Herr Heil, im ursprünglichen Gesetzent- zung des Internets für Kinder und Jugendliche wieder wurf standen 50 000 Euro; Sie haben das jetzt aufgrund möglich zu machen. unseres Entschließungsantrages verdoppelt – Ebenso erachte ich es als gut, dass die Änderungen (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann und die Zustimmung zum Gesetz im Ausschuss für Ver- [FDP] – Ulrich Kelber [SPD]: Bilden Sie sich braucherschutz und in anderen Ausschüssen mit den nur ein paar Sachen ein, wenn es Ihnen dann Stimmen der CDU/CSU erfolgten. Daher gehe ich davon besser geht!) aus, dass es auch im Bundesrat möglich sein wird, dieses Gesetz möglichst zügig zu beschließen und die Schutz- ist immer noch ein Ausdruck rot-grüner Halbherzigkeit. maßnahmen anschließend so schnell wie möglich inWir fordern nach wie vor eine Anhebung der Bußgelder Kraft treten zu lassen. im konkreten Betrugsfall auf bis zu 500 000 Euro. Danke schön. (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Heil, Betrug ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Verbrechen. Wir wollen keinen Betrügerschutz, sondern Verbraucherschutz. (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D) (Beifall bei der FDP) Das Wort hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der FDP-Fraktion. Einen ganz wesentlichen Aspekt, der ebenfalls in zahllosen Petitionen erwähnt wird, lässt der Gesetzent- Marita Sehn (FDP): wurf völlig außer Acht: die massenhafte Belästigung der Internetnutzer mit Massenwerbesendungen, so genann- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu ten Spam-Mails. Die Petentinnen und Petenten beschwe- hohe Telefonkosten, einseitige Beweislasten für Internet- ren sich, dass sie keine Möglichkeit haben, sich gegen und Telefonnutzer, keine rechtliche Handhabe gegen be- diese Werbeflut zu wehren. Sie beschweren sich über trügerische Firmen – das sind nur einige der Beschwer- Locksendungen, die per Fax, Mail oder SMS verschickt den zu den 0190er- oder 0900er-Nummern, wie sie in werden und die Empfänger auffordern, teure 0190er- mehr als 150 Eingaben – ich sage hinzu: Es kommen Nummern anzuwählen. Die Verbraucher müssen das täglich neue – an den Petitionsausschuss des Deutschen Recht und die Möglichkeit haben, sich vor dem elektro- Bundestages vorgebracht werden. nischen Informationsmüll zu schützen. Wir sind sehr froh, dass endlich etwas passiert. (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie [FDP]) bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle ha- Auch wenn die FDP den Gesetzentwurf – das muss ich ben ein Interesse daran, dass der massenhafte Betrug mit an dieser Stelle sagen – nicht für optimal hält, werden den so genannten Mehrwertdiensterufnummern einge- wir ihm zustimmen. Wir brauchen im Bereich der Mehr- dämmt wird. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, wertdiensterufnummern klare, verständliche und prak- die Entwicklung in diesem Bereich genauestens zu ver- tikable Regelungen. Mit den Wildwestmethoden auffolgen und dem Deutschen Bundestag Bericht zu erstat- dem Telekommunikationsmarkt muss Schluss sein. ten. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr rich- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist unser Entschlie- tig!) ßungsantrag!) Besonders irritiert mich, wie lange es gedauert hat, Man kann nicht ein Gesetz machen und dann, Herr bis Rot-Grün bereit war, einer verbindlicheren Regelung Tauss, ein Jahr wegschauen. Deshalb wollen wir, dass mit einer Interventionspflicht der Regulierungsbehörde die Bundesregierung dem Bundestag nach sechs Mona- im Betrugsfall zuzustimmen. ten Bericht erstattet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4083

Marita Sehn (A) Herr Heil, wir haben einen entsprechenden Entschlie- – Dazu sage ich gleich etwas. Ich wollte nämlich gerade (C) ßungsantrag in den Deutschen Bundestag eingebracht; sagen: Ich bin sehr erfreut darüber, dass es zu unseren Sie haben ihn erwähnt. Sie sollten ihm zustimmen,Anträgen breite Zustimmung gibt, Frau Heinen. meine Damen und Herren von Rot-Grün – (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Sagen Sie (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Nein, Danke!) Sie unserem! Unserer ist viel schöner!) Somit ist es möglich, gemeinsam und konstruktiv ver- im Interesse der seriösen Unternehmen, im Interesse der nünftige Lösungen zum Schutz der Verbraucherinnen Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht zuletzt in und Verbraucher zu finden. unserem eigenen Interesse, im Interesse einer glaubwür- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf digen Verbraucherschutzpolitik. von der SPD: Es geht doch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – An diesem Ergebnis haben in der Tat viele mitgewirkt: Ulrich Kelber [SPD]: Lautes Klatschen macht es nicht besser!) (Hubertus Heil [SPD]: Der Erfolg hat viele Väter!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf, die Sach- Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer von verständigen mit ihrer Anhörung, auch die CDU, Frau der SPD-Fraktion. Heinen, (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ein großer Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und braucherschützer!) FDP) der Bundesrat mit seinen Vorschlägen Manfred Helmut Zöllmer (SPD): (Marita Sehn [FDP]: Die Petantinnen und Pe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tanten! – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Liebe Kollegin Sehn, auch mit Ihrem Entschließungsan- Nur Sie nicht!) trag können Sie die Defizite der FDP imVerbraucher- schutz nicht wettmachen. und natürlich SPD und FDP, die Koalitionsfraktionen (Beifall bei der SPD – Marita Sehn [FDP]: (Heiterkeit bei der FDP) Lieber Kollege, an dieser Stelle sind Sie leider auf dem falschen Dampfer!) Von der FDP habe ich in diesem Zusammenhang erst (B) jetzt etwas Konstruktives vernommen. (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wettbewerbssi- tuation zwischen den Anbietern, die mit der Öffnung Das, was wir heute beschließen, stellt einen großen und Liberalisierung des TelekommunikationsmarktesSchritt für den Verbraucherschutz auf dem Telekommu- verbunden war, hat aus der Sicht der Verbraucherinnen nikationsmarkt dar. und Verbraucher viele positive Ergebnisse mit sich ge- (Marita Sehn [FDP]: Ich glaube, Sie sind noch bracht, besonders bei den Preisen, die deutlich gesunken nicht lange genug dabei, um das beurteilen zu sind. können!) (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Wer Durch eine Reihe von Maßnahmen wird der Missbrauch hat das gemacht?) der 0190er- und 0900er-Mehrwertdiensterufnummern Doch Liberalisierung hat auch ihre Schattenseiten. effektiv bekämpft. Wir schützen die Verbraucherinnen Jetzt sollten Sie, Frau Sehn, genau zuhören: Wo einund Verbraucher sowie – auch das ist sehr wichtig – die freier Markt herrscht, gibt es auch Missbrauch. Telefoni- seriösen Anbieter von Mehrwertdiensten auf diesem sche Mehrwertdienste und Internetangebote werden zum Markt. Teil benutzt – wir haben dies hier in sehr eindrucksvol- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) len Beispielen gehört –, um in betrügerischer Art und Weise bei vielen Telefon- und Internetnutzern abzukas- Folgende Regelungen sind dabei wichtig: erstens der sieren. Dort ist großer materieller Schaden entstanden. Aufbau einer für jeden auch über das Internet zugängli- chen Datenbank von 0900er- und 0190er-Nummern Dem werden wir nun einen Riegel vorschieben. und deren Anbietern. Wer sich hinter diesen Nummern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verbirgt, wird endlich durchschaubar. Die Anbieter kön- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nen sich dadurch in Zukunft nicht mehr verstecken. Marita Sehn [FDP]: Sehr spät!) Zweitens. In der Werbung und vor der Nutzung dieser Nummern werden die Diensteanbieter zur präzisen Heute ist deshalb ein guter Tag für den Verbraucher-Preisangabe verpflichtet. Drittens. Nunmehr wird es schutz. eine Preisobergrenze von 2 Euro pro Minute, bei Blocktarifen von 30 Euro geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wessen Ursula Heinen [CDU/CSU]: Aber nur, weil es Idee war das? – Ursula Heinen [CDU/CSU]: die Union gegeben hat!) Von wem kam die Idee?) 4084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Manfred Helmut Zöllmer (A) – Das war Ihre Idee, Frau Heinen. bekämpfen, nicht die Mehrwertdienste. Ein fairerInte- (C) ressenausgleich ist deshalb notwendig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die CDU ist mit ihrem Antrag und ihren Forderungen an einigen Punkten deutlich über das Ziel hinaus ge- Deswegen habe ich ja auch gesagt: Sie haben konstruk- schossen. tiv mitgearbeitet. Das ist auch gut so. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrich Viertens. Dialer werden in Zukunft bei der Regulie- Kelber [SPD]: Das war Populismus!) rungsbehörde zu zertifizieren sein. Dann wird nur noch eine einzige Nummerngasse zur Verfügung stehen, die Wer ein Inkassoverbot fordert, bekämpft nicht nur den von den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Übrigen Missbrauch, sondern auch die seriösen Anbieter von gesperrt werden kann. Das ist ein ganz wichtiger Schritt Mehrwertdienstleistungen. im Kampf gegen den Missbrauch in diesem Bereich. Der (Ulrich Kelber [SPD]: Das vernichtet Arbeits- ist wirklich sehr groß. plätze!) Fünftens. Der Regulierungsbehörde werden effektive Deshalb können und wollen wir diesen Vorschlägen Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen an die Hand ge- nicht folgen. geben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Wessen Idee war BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem, Das Bußgeld wird auf 100 000 Euro festgesetzt. Das ist was wir vorgelegt haben, dienen wir dem Verbraucher- notwendig, aber auch ausreichend. Folgendes sage ich schutz in besonderer Weise, gleichzeitig aber auch der an die Adresse der FDP: wirtschaftlichen Entwicklung in diesem wichtigen Wirt- (Marita Sehn [FDP]: Das hat aber lange ge- schaftszweig. dauert!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ihr Antrag, auf grünem Papier geschrieben, ist – das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss ich leider sagen – flüssiger als flüssig. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Marita Sehn [FDP]: Er ist sehr bunt!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Er ist in diesem Zusammenhang völlig überflüssig. (B) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen. (D) (Beifall bei der SPD – Marita Sehn [FDP]: Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gelesen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die gesetzliche Regelung und die vorgelegten Anträge Ursula Heinen erfassen die aktuellen Missbrauchstatbestände. (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Nun kann man in der Tat fragen, warum wir nichtund Herren! Heute ist – da hatten meine Vorredner Recht dem CDU-Vorschlag, diese Regelungen auch auf andere – ein guter und wichtiger Tag für die Verbraucher, Nummerngassen – etwa auf 0137er- und 0192er Num- mern – auszudehnen, gefolgt sind. Natürlich ist auf (Beifall im ganzen Hause) Dauer nicht völlig auszuschließen, dass es auch hier zu weil wir heute endlich das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchstatbeständen kommen kann. Deswegen ha- Missbrauchs bei Mehrwertdiensterufnummern verab- ben wir ja unseren Entschließungsantrag vorgelegt. Aber schieden werden. Man könnte aber auch sagen: Was hier liegt die Problematik anders. Denn jede Nummern- lange währt, wird endlich gut; denn es hat schon einige gasse wird unterschiedlich genutzt. Daher muss auch Zeit gedauert, bis die Regierung diesen Gesetzentwurf jede Nummerngasse für sich gesondert betrachtet wer- mit den entsprechenden und unbedingt notwendigen Än- den. derungs- und Entschließungsanträgen vorgelegt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Aller- Wer beispielsweise an einem Televoting oder an einer dings!) Quizshow teilnimmt, wird nicht in der Leitung gehalten, Ich möchte hier festhalten: Es ist meiner Kollegin sondern hinausgeworfen. Eine Entgelthöchstgrenze von Martina Krogmann zu verdanken, die schon in der letz- 2 Euro oder das Abschalten nach einer Stunde wärenten Legislaturperiode dieses Thema immer wieder vor- hier ein völlig stumpfes Schwert. Dies würde nicht wei- angetrieben hat, terhelfen. Mit unserem Entschließungsantrag gehen wir den richtigen Weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Manfred Helmut Zöllmer Wir wissen, dass es auch in Zukunft Handlungsbedarf [SPD]: Wo war Ihr Gesetzentwurf?) gibt. Deshalb sind die gesetzlichen Regelungen im Inte- resse des Verbraucherschutzes dynamisch weiterzuent- dass wir heute ein vernünftiges Gesetz dazu verabschie- wickeln. Unser Ziel ist und bleibt es, den Missbrauch zu den können. Von Ihnen gab es – das haben Sie, Herr Heil Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4085

Ursula Heinen (A) und Herr Zöllmer, indirekt zugegeben – nur Halbherzi- (Jörg Tauss [SPD]: Nein, das macht die Frau (C) ges. Präsidentin!) (Ulrich Kelber [SPD]: Wo war der Gesetzent- wurf der CDU?) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eigentlich haben Sie Recht. Aber manchmal geht es Es hat einige Zeit gedauert, bis Sie wirklich zu den we- auch ohne mich. sentlichen Änderungen gekommen sind. (Jörg Tauss [SPD]: Nein, nein!) Wir werden heute diesem Gesetzentwurf mit all sei- nen Änderungsanträgen zustimmen. Bitte schön, Herr Heil. (Hubertus Heil [SPD]: Herzlichen Glück- wunsch!) Hubertus Heil (SPD): Frau Kollegin Heinen, es gibt auch in Ihrer Fraktion Allerdings lässt der Entwurf zwei für uns ganz wesentli- Wirtschaftspolitiker, die das mit dem Inkassoverbot et- che Punkte offen; Martina Krogmann hat das vorhin an- was anders sehen. Aber nun zu meiner Frage: Geben Sie gesprochen. Zum einen stellt sich die Frage, welchemir Recht, dass die Stellungnahmen eindeutig ergeben Nummerngassen von den vorgesehenen Regelungenhaben – auch ich war bei dieser Anhörung –, dass ein In- überhaupt erfasst werden sollen. Wir wollen, dass sich kassoverbot nichts anderes bewirken würde als eine Re- das Gesetz nicht auf die 0190er- bzw. 0900er-Nummern monopolisierung in diesem Bereich? Zu Deutsch heißt konzentriert, sondern auch auf andere Nummerngassen das: Die Telekom hätte, weil man sich gegen eine solche erstreckt. Forderung nicht wehren kann, die Möglichkeit, auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) weiterhin Inkasso durchzusetzen, andere Mehrwertdien- steanbieter aber nicht mehr. Ist die CDU für die Ab- Ansonsten droht, dass der Missbrauch von den einen auf schaffung des Wettbewerbs im Bereich der Mehrwert- die anderen Nummerngassen verlagert wird. Für böswil- dienste? lige Diensteanbieter ist es geradezu eine Einladung und eine Aufforderung, ihr Spiel bei anderen Nummerngas- Ursula Heinen (CDU/CSU): sen fortzusetzen. Das wollen wir unterbinden. Zum ersten Teil Ihrer Frage. Die Verbraucherzentrale (Beifall bei der CDU/CSU) Bundesverband hat eindeutig ein Inkassoverbot gefor- Aber immerhin: In Ihrem Entschließungsantrag geben dert. Ein Einzelsachverständiger, Herr Rechtsanwalt Sie einen Prüfauftrag mit auf den Weg. Das ist der erste Härting, der nicht von uns, sondern von Ihnen benannt (B) Schritt zur Erkenntnis. worden ist, hat gesagt: (D) (Jörg Tauss [SPD]: Nun übertreiben Sie nicht!) Solange der Missbrauch von Mehrwertdiensten nicht damit „bestraft“ wird, dass „schwarze Schafe“ Wir können nur hoffen, dass diesem ersten Schritt wei- ihre Gebühren nicht mehr beitreiben können, wird tere Schritte bis zu einer vernünftigen und vollständigen die Diskussion um unseriöse Praktiken nicht abrei- Umsetzung folgen werden. ßen. (Beifall bei der CDU/CSU) Außerdem hat er gesagt, dass Regelungen, nach denen Der zweite Punkt, den wir in dem vorliegenden Ge- die Kunden Einwendungen gegen einzelne Rechnungs- setzentwurf vermissen, ist das Inkassoverbot. Es ist mir posten erheben können, nicht wirken, wenn es kein In- als Verbraucherschützerin völlig unbegreiflich, warum kassoverbot gibt. Sie diese Regelung nicht aufgenommen haben, schließ- Um Ihre Frage nach dem Wettbewerb zu beantworten: lich gehört sie für einen wirklich effektiven Schutz vor Die Deutsche Telekom sagt aus Gründen der Kulanz bei- Missbrauch unbedingt dazu. Denn nach wie vor – auch spielsweise zurzeit schon, dass sie die Forderungen der nach dem vorliegenden Gesetzentwurf mit all seinen Än- entsprechenden Diensteanbieter nicht eintreibt. Wir wol- derungsanträgen – trägt der Verbraucher das generelle len, dass das bei den Netzbetreibern generell der Fall ist. Prozessrisiko. Der Netzbetreiber bucht auch für dieDie Kunden werden seriöse Rechnungen ganz normal Diensteanbieter Forderungen beim Kunden ab, ganzbezahlen und die unseriösen eben nicht. gleich, ob sie berechtigt sind oder nicht. Wir wollen, dass schon dann das Prozessrisiko beim Diensteanbieter (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [SPD]: liegt und dieser, wenn die Forderungen unberechtigt Das war keine Antwort auf die Frage!) sind, Einspruch erheben muss. Frau Sehn hat auf eine ganze Menge Fälle, bei denen ge- Das wurde auch in der Anhörung des Wirtschaftsaus- nau dieses Problem auftrat, hingewiesen. Mit diesen schusses so gesehen. Dort haben sowohl ein Einzelsach- musste sich der Petitionsausschuss befassen. Mit einem verständiger als auch die Verbraucherzentrale Bundes- Inkassoverbot werden wir dieses Problem lösen. verband ein Inkassoverbot gefordert. Auch wenn diese neu eingeführten Regelungen es den Verbrauchern etwas erleichtern sollen, möchten wir (Abg. Hubertus Heil [SPD] meldet sich zu ei- trotzdem noch einmal an Sie appellieren: Setzen Sie das ner Zwischenfrage) Thema Inkassoverbot wieder auf die Tagesordnung, – Bitte. wenn Sie das alles in einem Jahr bzw. vielleicht schon in 4086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Ursula Heinen (A) wenigen Wochen – das andere Problem mit den Num- Dritte Beratung (C) merngassen ist ja noch nicht gelöst – noch einmal über- und Schlussabstimmung. Sie können sich erheben, wenn prüfen müssen! Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Stimmt je- Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: mand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz- Letztendlich haben Sie alle Punkte wunderbar beimentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig an- Bundesrat abgeschrieben. genommen worden. (Hubertus Heil [SPD]: Da sind auch sozialde- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- mokratische Experten am Werk!) ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1143. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Dafür danken wir Ihnen ganz herzlich. Das geht ja bis in Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- die kleinsten Formulierungen; das ist wirklich hervorra- antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die gend. Ein Punkt taucht bei Ihnen aber leider nicht auf, Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ab- nämlich der Short Message Service. Immer mehr Han- gelehnt worden. dynutzer erhalten diese Short Messages unaufgefordert. (Jörg Tauss [SPD]: Beim Wahlkampf der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft CDU! Ich war empört!) und Arbeit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Den Missbrauch von Mehrwertdienste- Sie werden aufgefordert, teure Nummern anzurufen oder rufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen“. Short Messages zurückzuschicken. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 15/1126, den Antrag (Jörg Tauss [SPD]: Die CDU hat mir eine ge- auf Drucksache 15/919 abzulehnen. Wer stimmt für schrieben! Sie schrieb, dass ich die CDU wäh- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- len soll! Stellen Sie sich das einmal vor!) haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Mein Patenkind musste 100 Euro Taschengeld anmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen seine Eltern zahlen, weil es immer auf einen Short Mes- die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. sage Service geantwortet hat. Man hat es eingeladen, an Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf einem Chat teilzunehmen. Es ist gut erzogen und hat im- Drucksache 15/1126 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- mer zurückgeschrieben, dass es nicht teilnehmen würde. schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Daraufhin musste es zahlen. Der Bundesrat empfiehlt, schlussempfehlung? -– Gegenstimmen? – Gibt es Ent- das Thema SMS aufzunehmen. Sie haben es bislang ab- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit, soweit gelehnt. Wir wünschen uns – so steht es auch in der Stel- ich sehe, einstimmig angenommen worden. (B) lungnahme des Bundesrates –, dass auch Sie es noch ein- (D) mal überprüfen und dass es auch von Ihrer Fraktion aufgegriffen wird. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: (Beifall bei der CDU/CSU) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lassen Sie uns in den kommenden Wochen weiter Hofbauer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, über die angesprochenen Änderungen diskutieren. Eines weiterer Abgeordneter und der Fraktion der ist aber sicher: Heute haben wir wirklich etwas für die CDU/CSU Verbraucherinnen und Verbraucher erreicht. Es verdient unsere gemeinsame Anstrengung, dass wir auch in Zu- Strukturpolitik zukunftsfähig gestalten kunft weiter dafür arbeiten. – Drucksache 15/749 – Ich danke Ihnen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (Beifall im ganzen Hause – Zuruf von der Auswärtiger Ausschuss SPD: Versöhnlich angefangen, versöhnlich Finanzausschuss aufgehört!) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Danke schön. – Ich schließe die Aussprache. Haushaltsausschuss Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf den gierung Drucksachen 15/907 und 15/1068. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Zweiunddreißigster Rahmenplan der Gemein- Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1126, den schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2003 bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- bis 2006 schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – – Drucksache 15/861 – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen?– Der Gesetz- Überweisungsvorschlag: entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) nommen worden. Finanzausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4087

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bisherigen Strukturpolitik gezeigt, dass die Abgrenzung (C) Ausschuss für Bildung, Forschung und von Fördergebieten nur nach den Bevölkerungspla- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus fonds weder in Deutschland noch in vielen anderen euro- Haushaltsausschuss päischen Ländern die Möglichkeit offen lässt, gezielt und fein justiert zu fördern. Meine Heimat Lausitz zum Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beispiel hat das Problem, dass es ein extrem struktur- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- schwaches Gebiet ist. Da die Lausitz aber mit einem ge- spruch gibt es nicht. Dann verfahren wir so. ringen Bevölkerungsplafond mit dem so genannten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Speckgürtel zusammengerechnet werden muss, der Abgeordnete Michael Stübgen. fällt die gesamte Region aus der Förderung heraus. Eine gezielte Förderung dieses strukturschwachen Gebietes Michael Stübgen (CDU/CSU): ist nicht möglich. Es ist also wichtig, dass die Mitglieds- länder mehr Möglichkeiten haben, ihre Förderpolitik zu Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und strukturieren. Das starre Festhalten am Bevölkerungs- Herren! Mit dem Auslaufen der Agenda 2000 Ende 2006 plafond muss aufgegeben werden. steht die Europäische Union vor einer weit reichenden Reform ihrer Regionalstruktur- und Kohäsionspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schon Anfang Dezember dieses Jahres will die Europäi- sche Kommission mit ihrem dritten Kohäsionsbericht Zweitens. Eine weitere notwendige Änderung be- ihre Leitlinien für die künftige Regionalförderung vorle- zieht sich auf den so genanntenstatistischen Effekt. gen. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns als deutsches Ab 2007 wird die Situation eintreten, dass nahezu alle Parlament mit der Frage der künftigen Strukturpolitik Ziel-1-Fördergebiete in den neuen Ländern, wenn nicht der Europäischen Union beschäftigen. sogar alle, aus der Strukturförderung herausfallen wer- den, und zwar nicht etwa, weil sie sich so gut entwi- Wir müssen zunächst einmal die aktuelle Strukturpo- ckelt hätten und sie durch ihre Entwicklung aus der litik analysieren undÄnderungsbedarf formulieren. Fördernotwendigkeit herausfielen. Das wäre ja sehr po- Dabei werden wir es nach 2006 mit drei entscheidend sitiv und jeder von uns würde das begrüßen. Nein, Sie veränderten Sachverhalten zu tun haben: fallen aus dieser Strukturförderung heraus, weil auf- Erstens. Wir werden dann wahrscheinlich zwölf Mit- grund des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Län- gliedsländer mehr in der Europäischen Union sein.der das Gesamtniveau des Bruttoinlandsprodukts in Zweitens. Dies wird dazuführen, dass die finanziellen Deutschland drastisch sinkt und damit diese Regionen Ressourcen der Europäischen Union grundlegend geän- statistisch über das so genannte 75-Prozent-Kriterium (B) dert und angepasst werden müssen. Drittens. Wir haben des Förderzuganges rutschen. Das heißt, es wird zwar(D) es mit dem so genannten statistischen Effekt zu tun. Da- nicht besser, sie bekommen aber nichts mehr. rauf komme ich später zurück. Es besteht hier die Gefahr, dass eine langjährige ge- Die Beschäftigung des Deutschen Bundestages mit zielte und gute Förderpolitik punktuell abbricht und dass diesem Thema mit dem Ziel einer Beschlussfassung ist die Entwicklung in diesen Regionen einen zusätzlichen deshalb so entscheidend, weil die Bundesregierung in Schlag bekommt. Deshalb fordern wir, dass es nicht ein- dieser wichtigen politischen Frage keine klare Position fach mit einem Phasing out getan ist. Diese Regionen hat. Wirtschaftsminister Clement hat im Europaaus-sollen über einen Lauf von sieben Jahren langsam abge- schuss vor einigen Wochen erklärt, dass die Bundesre- stuft werden, außerdem sollte aber angesichts der spezi- gierung davon ausgeht, dass sämtliche deutsche Struk- ellen Situation, die nachvollziehbar ist, eine Anschluss- turfördergebiete in das so genanntePhasing out fallen. regelung mit einem vielleicht etwas niedrigeren Niveau Er hat in diesem Zusammenhang aber eine nationalegeschaffen werden, sodass Förderung auf hohen Niveau Kompensation zugesagt. Für Eichel ist das unmöglich, er auf diesen Gebieten weiter möglich ist. Das betrifft im lehnt dies ab. Wesentlichen Strukturfördergebiete in den neuen Län- dern. Wie die wirtschaftliche Situation und die Arbeits- Der zuständige europäische Kommissar Barnier ist marktsituation dort aussehen, brauche ich hier wohl in Deutschland gewesen und hat die Bundesregierung nicht weiter auszuführen. um Unterstützung für sein Programm gebeten, für die betroffenen Strukturfördergebiete, die durch den so ge- Der dritte Punkt, der sehr wichtig ist, ist die nannten statistischen Effekt ihre Förderung zu verlieren Grenzlandförderung. Hier haben wir zum einem ein drohen, eine Anschlussregelung zu schaffen. Die Bun- europäisches Programm zur Grenzgürtelförderung, das desregierung hat ihn abfahren lassen, ohne ihm Unter- an sich sehr gut ist. Wir, die CDC/CSU-Fraktion, haben stützung zuzusagen. Die Bundesregierung hat in dieser dieses Programm in diesem Haus auch schon mehrfach wichtigen politischen Frage weder eine klare Position in begrüßt. Alle Fördermaßnahmen, die in diesem Pro- den europäischen Räten noch gegenüber der Kommis- gramm vorgesehen sind, sind vernünftig. Man könnte sion. Wir verlieren Zeit. Dabei geht es um sehr viel Geld. sich um Einzelpunkte streiten; insgesamt ist es ein sehr vernünftiges Programm. Es hat aber leider einen ent- Ich möchte kurz auf drei unserer Forderungen im An- scheidenden Haken: Die Fördermaßnahmen können na- trag eingehen. hezu nicht greifen, weil dieses Programm hoffnungslos Erstens. Wir fordern mehr Spielraum für die Feinab- unterfinanziert ist. Deshalb bleibt unsere Forderung an grenzung nationaler Fördergebiete. Es hat sich in derdie Bundesregierung, die wir immer – auch in diesem 4088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Michael Stübgen (A) Antrag – wiederholen müssen, weil bisher nichts verän- teilen der Entwicklung profitieren können. Wir dürfen(C) dert und nichts getan worden ist, dass dieses Grenzland- aber nicht übersehen, dass dabei zunächst auch Risiken förderprogramm finanziell deutlich aufgestockt wird, so- auftreten können. dass es seine Aufgaben erfüllen kann. Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung in den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beitrittsverhandlungen eine siebenjährige Übergangsfrist hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern in be- Des Weiteren ist es wichtig, dass gerade in den ehemali- stimmten Dienstleistungen durchgesetzt. gen Außengrenzgebieten der Europäischen Union bei der Neuabgrenzung der GA-Fördergebiete ein zusätzli- Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung dabei, cher Regionalindikator hinsichtlich der Grenzlage zualle notwendigen Schritte gegenüber der EU zu unter- den Beitrittsgebieten mit aufgenommen wird, sodassnehmen, um auch nach dem Auslaufen der gegenwärti- diese Gebiete in Zukunft eine bessere Chance haben, die gen Förderperiode Ende des Jahres 2006 strukturpoli- für sie notwendige GA-Förderung zu bekommen und die tisch handlungsfähig zu bleiben. zumindest vorübergehenden nachteiligen Auswirkun- gen der Erweiterung der Europäischen Union abzufe- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dern. GRÜNEN und der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten Die europäische Strukturpolitik als Ausdruck innerge- diesen Antrag als Grundlage nehmen, in den Ausschüs- meinschaftlicher Solidarität ist insgesamt von positiver sen zielorientiert dieses wichtige Thema zu beraten,Wirkung. Sie hat erheblichzur Verbesserung des wirt- möglichst mit dem Ergebnis, ein klares, eindeutiges Vo- schaftlichen und sozialen Zusammenhalts – besonders tum des Bundestages zu erzielen; denn wir haben alsauch in den ostdeutschen Bundesländern – beigetragen. Deutscher Bundestag nicht nur das Recht, sondern auch Dies muss auch nach der Erweiterung der EU gelten. die Pflicht, in Fragen der europäischen Rechtsetzung die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Bundesregierung zu kontrollieren und Handlungsanwei- GRÜNEN und der FDP) sungen zu geben. Der größte Teil der bedürftigsten Regionen wird in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den neuen Mitgliedstaaten liegen. Dieregionalen Ent- wicklungsunterschiede innerhalb der EU werden er- Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit. heblich zunehmen. Auf dieses Problem wird sich die EU-Strukturpolitik konzentrieren müssen. Michael Stübgen (CDU/CSU): (B) Andererseits muss sich die europäische Strukturpoli- (D) Ich bin fertig. tik an finanziellen Zwängen ausrichten. Nettozahler Danke für Ihre Aufmerksamkeit. wie wir dürfen nicht überfordert werden. Fördermaßnah- men für neue Mitglieder müssen deshalb weitestgehend (Beifall bei der FDP) durch Einsparungen in der alten Gemeinschaft finanziert werden. Dabei sind – das ist unabdingbar – vergleich- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bare Regionen gleich zu behandeln. So schnell hat man manchmal Erfolg. Danke schön. Die Abgeordneten der Koalition teilen die Auffassung der Bundesregierung, dass sich die europäische Struktur- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Müller, politik künftig stärker am Prinzip der Subsidiarität und SPD-Fraktion. in Verbindung damit am Gedanken des europäischen Mehrwerts orientierten sollte. Regionalpolitischer Hand- Christian Müller (Zittau) (SPD): lungsspielraum kann und muss dadurch wiedergewon- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! nen werden. Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union Meine sehr geehrten Damen und Herren von der wird in der Tat den regionalpolitischen Handlungsbedarf CDU/CSU, ich meine, wir begegnen uns in dieser Auf- in Europa, besonders aber auch bei uns verstärken. Infassung. Sie haben das in den Punkten 3 bis 5 Ihres An- dieser Beurteilung der Situation liegen wir wohl ziem- trags ausformuliert; deshalb muss ich nicht näher darauf lich nahe beieinander. eingehen. Wir gehen davon aus, dass Regionen betroffen sein Die Diskussion über die zukünftige Ausgestaltung der werden, die schon heute wirtschaftlich schwach sindEU-Strukturpolitik hat längst begonnen und muss ohne oder im Strukturwandel stehen. Hierzu gehören auchZweifel intensiviert werden. Die Kommission hat erste Außengrenzen der Beitrittsstaaten. solche an den Wei- Vorschläge für den Herbst angekündigt. Wir begrüßen tere Regionen, insbesondere im ländlichen Raum, könn- deshalb die Initiative des Bundeskanzlers, sich anhand ten hinzukommen. Alle zusammen müssen sich schon des vorgelegten Eckpunktepapiers für die künftige EU- jetzt auf den stärkeren Anpassungsdruck vorbereiten und Strukturpolitik mit den deutschen Bundesländern inten- sich für das erweiterte Europa fit machen. Zu dieser vor- siv abzustimmen. läufigen – zugegebenermaßen ziemlich ungenauen – Si- tuationsbeschreibung gehört aber auch die Feststellung, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass ebendiese Regionen auf mittlere Sicht von den Vor- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4089

Christian Müller (Zittau) (A) Um allerdings eines deutlich hervorzuheben: Die not- nete ganz besonders zu spüren bekommen, wenn dem(C) wendige Konzentration der EU-Strukturförderung auf nicht so wäre –, zumal er für regionale Strukturprobleme die strukturschwächsten Regionen der EU hat eine zwin- politisch immer mit in die Verantwortung genommen gende Konsequenz. Die fortgeschrittenen Mitgliedstaa- wird. Daher hat der Deutsche Bundestag in seinem Be- ten – insbesondere diejenigen, die keine Ziel-1-Gebiete schluss vom 27. Juni 2002 die Bundesregierung aufge- im Sinne der Strukturfondsförderung sind – müssen sich fordert, zu prüfen, wie die Gemeinschaftsaufgabe selbst um die Förderung ihrer strukturschwachen Regio- nen kümmern können. als unverzichtbares und regelgebundenes System und Koordinierungsrahmen einer gemeinsamen Re- Wir brauchen eine eigenständige Regionalpolitik und gionalförderung von Bund und Ländern auch nach benötigen dafür wieder mehr beihilferechtliche Hand- dem Jahr 2004 erhalten bleiben kann. lungsspielräume als heute. Eine Reform der Beihilfen- kontrolle der Kommission ist dringend geboten. Diese Die Mittelausstattung der GA ist nicht nur eine An- muss flexibler werden undin Richtung einer Miss- gelegenheit des Bundeshaushalts mit seinen bekannten brauchskontrolle entwickelt werden. Beschränkungen, sondern natürlich auch von einer Kofi- nanzierung durch die Länder, die in den letzten Jahren (Beifall bei der SPD und der FDP) immer mehr an ihre Grenzen stieß, und von dem durch Die Kommission muss sich dabei auf Beihilfefälle kon- Brüssel genehmigten Fördergebiet abhängig. Dieser Ge- zentrieren, die EU-weit tatsächlich zu Wettbewerbsver- danke weist deutlich über den von Ihnen beklagten zerrungen führen können. Haushaltsrahmen der GA hinaus. Wir können es nicht hinnehmen, dass die Kommis- Lassen Sie uns auch nach dem Meinungsaustausch in sion zeitgleich die EU-Strukturfondsförderung und die der heutigen Debatte einen konstruktiven Dialog über nationale Regionalförderung in den fortgeschritteneren die künftige EU-Strukturpolitik führen. Die Beratungen Mitgliedstaaten wie Deutschland reduzieren will. Das über Ihren Antrag können dazu sicherlich beitragen. Ich haben wir hier schon mehrfach angesprochen und kriti- sehe dieser Debatte mit großem Interesse entgegen. siert. Es darf zu keiner massiven Einschränkung des re- Vielen Dank. gionalpolitischen Spielraums der Bundesländer ab 2007 kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Unser politisches Handeln ist erkennbar nicht auf eine Verschlechterung der Nettozahlerposition unseres Lan- des, sondern auf die Rückgewinnung nationaler Spiel- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) (D) räume in der Strukturpolitik gerichtet. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jürgen Türk Insofern unterscheiden wir uns von Ihrer Position, die (FDP): Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben. Das gilt auch für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und das von Ihnen zum wiederholten Male geforderteKollegen! Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Gel- Grenzgürtelprogramm. Die geforderte Mittelaufsto- der aus der EU-Regionalhilfe fast wirkungslos versi- ckung des entsprechenden europäischen Programmsckern. Deshalb ist auch auf diesem Gebiet ein System- kann unter dem Gesichtspunkt der Nettozahlerposition wandel notwendig. So müssen in der Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland so nicht erfolgen. dringend neue Akzente gesetzt werden. Denkbar wäre zum Beispiel, künftig einen Teil der von der EU ausge- (Beifall bei der SPD) reichten Mittel als Darlehen bzw. Kredite für öffentlich- Lassen Sie mich abschließend noch etwasprivate zur Unternehmenspartnerschaften bereitzustellen. Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Das würde zu mehr Verantwortung und unternehmeri- Wirtschaftsstruktur“ ausführen. Ich habe an dieser Stelle schem Denken im Umgang mit den Geldern beitragen. schon mehrfach festgehalten, dass die GA von Bund und effizientere Finanzpolitik Ländern in den vergangenen Jahren zu einer wirksamen Eine liegt im vitalen Inter- und zeitgemäßen Regionalförderung weiterentwickelt esse von Deutschland als dem mit Abstand größten Net- worden ist, die den Ländern weitgehende Eigenständig- tozahler. Sie ist aber auch deshalb notwendig, weil zu er- keit und Flexibilität einräumt. Sie garantiert bei der Be- warten ist, dass künftig die für jedes einzelne Land zur kämpfung von regionalen Disparitäten in strukturschwa- Verfügung stehenden Mittel mit dem Beitritt von zehn chen Gebieten nachweislich eineZielgenauigkeit , die relativ wirtschaftsschwachen Staaten deutlich knapper von keinem anderen Förderinstrument erreicht wird. In als derzeit sein werden. Aufgrund der extrem ange- der GA wird außerdem ein regionalpolitischer Konsens spannten Haushaltslage in Deutschland ist es kaum vor- zwischen Bund und Ländern ermöglicht, der auch eine stellbar, dass die Bundesregierung der von EU-Regional- Voraussetzung für das hohe Förderniveau besonders in kommissar Barnier geforderten deutlichen Aufstockung Ostdeutschland ist. des EU-Strukturfonds in der nächsten Finanzierungspe- riode von 2007 bis 2013, die im Wesentlichen zulasten Wir gehen davon aus, dass der Bund bei regionalen Deutschlands ginge, zustimmen kann und wird. Kom- Fehlentwicklungen im gesamten Bundesgebiet hand-missar Barnier agiert in diesem Punkt nach dem Motto: lungsfähig bleiben muss – wir würden es als Abgeord- Teile und herrsche. So jedenfalls empfinde ich das. 4090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Jürgen Türk (A) Er weiß genau, dass die neuen Bundesländer nach der nach der EU-Erweiterung noch tun müssen. Ich will da- (C) Erweiterung aus der Ziel-1-Förderung herausfallen und mit nur sagen: Folgen Sie unserem Antrag, die Deutsch- einen erheblichen Teil der ihnen jetzt zufließenden För- Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft zu erhalten. dermittel einbüßen würden. Er versucht daher, die Mi- Auch unser Antrag mit dem Titel „Bürokratieabbau – nisterpräsidenten der neuen Bundesländer auf die EU- flexible Anwendung von Bundesrecht in wirtschafts- Seite zu ziehen. Sie sollen – ich glaube, sie haben das schwachen Regionen“ – der Wirtschaftsminister hat An- schon getan – Druck auf die Bundesregierung ausüben, fang des Jahres auch einmal davon gesprochen; das ist damit Deutschland mehr in den Strukturfonds einzahlt. leider wieder vergessen worden – macht deutlich, wie Dann, so Barnier, werde er dafür sorgen, dass die neuen sich die FDP-Fraktion eine ergebnisreichere Regional- Bundesländer weiterhin großzügig gefördert würden. politik vorstellen kann. Der Bund und die Länder dürfen sich aber in dieser Frage von der EU nicht auseinander dividieren lassen, Aber ein Fördertopf da und einer hier werden uns auf sondern müssen gemeinsam nach einer Lösung suchen, Dauer nicht wirklich weiterhelfen, sondern nur eine die den besonderen Problemen Ostdeutschlands Rech- Rahmenpolitik, die wirtschaftliche Freiräume zulässt nung trägt und Deutschland als Ganzes nicht über Ge- und damit Wirtschaftsentwicklung nachhaltig fördert. bühr zum Nachteil gerät. Vielen Dank. Davon, dass in der EU-Strukturpolitik einiges nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rund läuft, zeugt unter anderem die Tatsache, dass viele der CDU/CSU) Länder große Mühe haben, die bewilligten Hilfsmittel fristgerecht abzurufen, zu verbrauchen und eine ord- nungsgemäße Schlussabrechnung dafür vorzulegen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder So erhält Deutschland laut „FAZ“ vom 6. März 2003Steenblock. 2 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt 2002 zurück. 1 Milliarde Euro Agrarsubventionen sind verloren und Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 1 Milliarde Euro für Regionalpolitik – darüber sprechen wir NEN): ja jetzt – können auf andere Haushaltsjahre verlagert werden. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das zu tun, zum Beispiel für die lebenswichtige LeiLa. Meine Vorredner haben schon sehr deutlich auf den Re- formbedarf in der EU-Strukturpolitik und die Herausfor- Ich sage Ihnen, wer LeiLa ist. Das ist die Verbindung derungen, die sich insbesondere durch die EU-Osterwei- Leipzig–Lausitz. Herr Stübgen hat schon davon gespro- (B) terung für die Strukturpolitik stellen, hingewiesen. Dazu (D) chen, dass die Lausitz als Region abgehängt wird. Mit werde ich einiges sagen. 1 Milliarde Euro kann man da sehr viel machen. Man kann zwei Wirtschaftsräume miteinander und mit der Wir dürfen hier aber auch nicht den Eindruck erwe- polnischen Grenze verbinden, wenn es nur um das Geld cken, als wenn alles das, was wir in der Europäischen geht. Da kommen 1 Milliarde Euro zurück. Sie erfüllen Union bisher an Strukturpolitik realisiert haben, nur ne- so die Zielsetzung der GA – ich zitiere aus der Unterrich- gativ gewesen wäre, sondern sollten sehr deutlich auch tung –, dass strukturschwache Regionen durch Ausgleich auf die Erfolge der Strukturpolitik hinweisen. Man ihrer Standortnachteile Anschluss an die allgemeine Wirt- muss sich einmal angucken, was Strukturpolitik etwa in schaftsentwicklung halten können. Außerdem bereitenIrland oder in anderen peripheren Regionen wie Spa- Sie eine strukturschwache Grenzregion mit dreifacher Be- nien, Portugal oder Griechenland geleistet hat. In Grie- lastung – man muss das immer wieder einmal sagen: An- chenland lag noch 1988 das Bruttoinlandsprodukt bei ei- passungsdruck, Strukturschwäche, EU-Erweiterung – so nem Niveau von nur 58 Prozent des EU-Durchschnitts. sinnvoll auf die EU-Erweiterung vor. Die EU-Gemein- Das ist in den Jahren bis 2000 um fast 10 Prozentpunkte schaftsaktion – das haben wir alle festgestellt – war ja angehoben worden. Das macht sehr deutlich, dass das nicht das Gelbe vom Ei. Eine Anpassung im Hinblick ein Politikansatz ist, der Solidarität in Europa und eine auf die Erweiterung spielte da kaum eine Rolle. europäische Entwicklung in ökonomische Gleichge- wichtszustände hinein sehr befördert hat. Was die Gemeinschaftsaufgabe angeht, so hat die Ich glaube auch, dass diese Politik nicht nur auf quanti- FDP ihre seit Jahren vertretene Meinung, dass die tative, sondern auch aufqualitative Wachstumsele- Mischfinanzierungen von Bund und Ländern zurückge- mente ausgerichtet ist. Wir haben durch unsere aktive führt werden müssen, nicht geändert. Sie sind schlicht Arbeitsmarktpolitik die Teilhabegerechtigkeit gestärkt. ineffizient, da keine klaren Verantwortlichkeiten für die Außerdem haben wir die Gleichstellung der Geschlech- Gelder bestehen. Aber wenn man schon Mischfinanzie- ter sicherlich quantitativ und qualitativ nachhaltig geför- rungen macht, dann sollte man sich sorgfältiger als bis- dert, auch durch Strukturpolitik. Ich glaube, dass man her überlegen, wo sie wirklich sinnvoll sind und wo insgesamt von einem erfolgreichen Projekt sprechen nicht. So ist es beispielsweise nicht hinnehmbar, dass kann. aufgrund der Finanzknappheit der Länder eine für die Osterweiterung wichtige Einrichtung wie die Deutsch- Unsere Erfolge zeigen, wie wichtig es ist, den einge- Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft eingeht.schlagenen Weg fortzusetzen. Aber natürlich gibt es ei- Wir brauchen sie noch. Sie hat in den vergangenen Jah- nen Reformbedarf. Eines unserer drei zentralen Kriterien ren einen guten Beitrag geleistet und sie wird das auch für diese Reform ist – der Kollege Türk hat gerade da- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4091

Rainder Steenblock (A) rauf hingewiesen – die Erhöhung der Effektivität die- bisherigen Zahlungsempfänger anwenden. Es gibt für(C) ser Strukturfonds. Die Art und Weise, wie die Vergabe- uns keine Staaten und keine Regionen erster und zweiter verfahren zum Teil ablaufen, und die Tatsache, dass sehr Klasse. Es müssen auch in Zukunft dieselben Kriterien viele Geldmittel nicht ausgeschöpft werden können, ha- wie bisher gelten. ben auch etwas mit den bürokratischen Abläufen bei der Beantragung dieser Mittel zu tun. Es gilt, diese bürokra- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ tischen Abläufe zu verschlanken und die Effizienz der DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und Verteilung der Mittel sicherzustellen. Das ist für uns ein der FDP) ganz wichtiger Punkt. Auch das, was ich gerade beschrieben habe, gehört zur Der zweite für uns wichtige Punkt ist, dass Solidari- Solidarität. Gerade in den Ländern, mit deren Beitritt die tät in Europa erhalten bleibt. Die Debatte über Nettozah- Europäische Union erweitert wird, gibt es Befürchtun- lungen sollte sich unserer Meinung nach nicht allein da- gen, dass es in diesem Punkt keine Solidarität gibt. rum drehen, wie viel Deutschland gibt und wie viel es Das Gebot der Fairness erfordert – wir unterstützen erhält. Solidarität und wirtschaftliche Stärke beruhen auf das – eine Regelung – auch das ist schon angesprochen anderen Prinzipien. In diesem Zusammenhang sollte worden –, die den statistischen Effekt berücksichtigt. man sich auch klar machen, dass die exportorientierte Diejenigen Regionen, die ohne die Erweiterung unter deutsche Wirtschaft vom europäischen Binnenmarkt das 75-Prozent-Kriterium gefallen wären, die lediglich sehr stark profitiert. Anders formuliert: Unsere Wirt- durch die erweiterungsbedingte Absenkung des Brutto- schaft ist sehr stark auf den europäischen Binnenmarkt inlandsproduktes herausfallen, sind nur statistisch und konzentriert; neun unserer größten Handelspartner gehö- nicht real reicher geworden. Deshalb brauchen wir in ren zum europäischen Raum. Das Geld, das in Struktur- diesem Bereich gerechte Übergangsregelungen. politik investiert wird und azud dient, dass in den ent- sprechenden Regionen Nachfrage geschaffen wird, Diese Regelungen können sich aus verschiedenen müssen wir im Grunde genommen als ökonomischenElementen zusammensetzen: degressive Förderung, ge- Gewinn für Deutschland werten. Deshalb ist eine De- ringe Pro-Kopf-Fördersätze, flexiblere Kofinanzierun- batte über Nettozahlungen, die sich auf Soll und Haben gen. Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass für beschränkt, natürlich ein bisschen verkürzt. Trotzdem diese Regionen nicht nur Phasing-out, sondern eine an- spielt sie, was Vermittlung und Akzeptanz in der Bevöl- dere Förderungsstruktur bereitsteht. Ich denke dabei na- kerung angeht, politisch eine wichtige Rolle. türlich gerade an die neuen Bundesländer. Nach den neuen Zahlen, die mir vorliegen, sind es – ich muss fast Man muss sich einmal Folgendes vor Augen halten: sagen: leider – nicht wenige, sondern relativ viele Regio- Von 4 Euro für die Strukturpolitik fließen 3 Euro in die (B) nen, die auch weiterhin durch Strukturfonds gefördert(D) entsprechenden Regionen – das ist auch richtig so – und werden müssen. Man kann diese ökonomische Entwick- 1 Euro in Aufträge außerhalb der entsprechenden Re- lung bedauern, aber ich glaube, dass so sehr viele ost- gion. Davon profitiert der deutsche Export natürlich deutsche Regionen in dem Förderstrukturprogramm ganz besonders. Daher sollte man die Kritik an der bis- bleiben werden. herigen Strukturpolitik relativieren. Von den inhaltlichen Aspekten der Förderpolitik – las- Solidarität hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass sen Sie mich das abschließend sagen – ist die weitere wir das Regionalprinzip – für mich ist es im Rahmen Förderung der Nachhaltigkeit für uns besonders wich- von Strukturpolitik zentral – beibehalten. Wir sollten die tig. Die EU-Strategie zur nachhaltigen Entwicklung ist Bemessungsgrundlage – anders als es einige fordern – für uns im Rahmen der Strukturpolitik der zentrale An- nicht nach nationalstaatlichen Kriterien ausrichten. Viel- ker. In der Vergangenheit wurden unserer Meinung nach mehr sollte es in diesem Bereich tatsächlich eine solida- zu viele Projekte gefördert, die irreversible Umweltschä- rische Politik geben. Unserer Ansicht nach sollte Förde- den verursacht haben. Deshalb fordern wir, dass die rungswürdigkeit an den Verhältnissen auf regionaler Qualität der Entwicklung von Regionen und nicht nur Ebene bemessen werden. Man muss – mein Kollege rein quantitativ ökonomisches Wachstum bei der Ver- Stübgen hat das angesprochen – über die Kriterien für gabe der Fördermittel in den Mittelpunkt gerückt wird. die Förderungswürdigkeit einer Region wirklich rational Regionale Entwicklungskonzepte müssen einen ganz- diskutieren, damit man keinen falschen Ansatz verfolgt, heitlichen Ansatz verfolgen und soziale, ökonomische zum Beispiel indem man für verschiedene Regionen eine und ökologische Entwicklungsfaktoren in gleichberech- gemeinsame Bemessungsgrundlage anwendet, sodass tigter Weise berücksichtigen. Dieses Kriterium muss sie im Weiteren ihre Förderungswürdigkeit verlieren, ob- nach unserer Ansicht bei der Vergabe von Fördergeldern wohl nach wie vor deutlicher Handlungsbedarf besteht. berücksichtigt werden. Ich wiederhole: Wir sollten über die Kriterien für Förde- rungswürdigkeit rational diskutieren. Abschließend will ich anmerken, dass die Beratung in Aus meiner Sicht geht es aber nicht an, dass man in den Ausschüssen konstruktiv sein wird, weil wir in vie- der Frage der Erweiterung Solidarität hintanstellt. Eslen Punkten dicht beieinander sind. kann nicht richtig sein, dass wir in Bezug auf dieVer- Vielen Dank. gabe von Mitteln aus den Strukturfonds andere Krite- rien für die Förderung der europäischen Länder, die Mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN glied der Europäischen Union werden, als für die und bei der SPD) 4092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Selbst der Ausschuss der Regionen hat in seinen Leitli- (C) Das Wort hat die Abgeordnete Veronika Bellmann. nien die besondere Situation der Gebiete nach dem Ver- lust des Ziel-1-Status berücksichtigt. Er schlug deshalb die Annahme der Obergrenze von 0,45 Prozent des Brut- Veronika Bellmann (CDU/CSU): toinlandsprodukts der Gemeinschaft als Grundlage für Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Damen den Haushalt der Regionalpolitik nach 2006 vor. Der zu- und Herren Kollegen! Herr Steenblock, Sie haben Recht: ständige EU-Kommissar Michel Barnier setzte noch eins Strukturpolitik hat viel Gutes getan. Wie unschwer zu drauf: Er sprach sich für eine neueZiel-1-a-Förderung hören ist, komme ich wie viele meiner Kollegen, die hier aus, die sehr nahe am jetzigen Volumen liegen müsse heute schon gesprochen haben, aus Sachsen, einem Bun- und für einen sehr langen Zeitraum gelten solle. Das desland, das die regionale Strukturpolitik der EU wegen schließt die bestehenden Spielräume für das für Investitio- seiner wirtschaftlichen Schwäche sehr dankbar ange-nen so wichtige Beihilferecht über das Jahr 2006 hinaus nommen hat. mit ein. Die so genannte Ziel-1-Förderung hat in den ost- Nun könnte man damit glücklich und zufrieden sein, deutschen Ländern einen sehr hohen Stellenwert. Aus wenn dahinter auch noch eine befürwortende Stellung- unserem Antrag will ich deshalb nur diesen Punkt he- nahme der Bundesregierung stünde. Sie steht noch aus; rausgreifen. Am Ende der derzeitigen Förderperiodewir können uns überraschen lassen, was wir dazu noch 2003 werden die Entwicklungsrückstände in Ostdeutsch- zu hören bekommen. Wir werden sicherlich auch im land nicht aufgeholt sein. Der Aufbau Ost ist durch eine Ausschuss noch einiges miteinander zu diskutieren ha- verfehlte Politik leider zum Stillstand gekommen. Der ben. Beweis dafür ist, dass das Bruttoinlandsprodukt von 1998 bis 2003 um durchschnittlich 2,3 Prozent gesunken Alle Reformbestrebungen von deutscher Seite werden ist. daran zu messen sein, wie sie den Erfordernissen künfti- ger Regional- und Strukturpolitik in Ostdeutschland ge- Das Anliegen der ostdeutschen Bundesländer ist, die recht werden. Nach wie vor gilt der Merksatz – ich Förderung für die Ziel-1-Gebiete auch nach der EU-Ost- glaube, manche haben ihn sich noch nicht gehörig genug erweiterung in der gleichen Höhe wie bisher zu erhalten. hinter die Ohren geschrieben –: Wenn Ostdeutschland (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nicht auf die Beine kommt, wird auch der Aufschwung Jürgen Türk [FDP]) in ganz Deutschland nicht gelingen. In diese Förderkategorie kommen nur Regionen, deren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Bruttoinlandsprodukt 75 Prozent des EU-Durchschnitts- Abgeordneten der FDP) (B) (D) wertes unterschreitet. Nach dem Beitritt der neuen EU- Länder übersteigen die meisten Ziel-1-Regionen Ost- Aber leider ist von Bundesminister Clement bisher deutschlands die 75-Prozent-Marke, ohne tatsächlich – das nur unterschwellig eine Art Androhung – so habe ich es wurde hier schon des Öfteren angesprochen – an Wirt- zumindest empfunden – zu hören, dass alle Deutschen schaftskraft gewonnen zu haben. Es wird sozusagenwegen der EU-Hilfen und der damit verbundenen höhe- reich gerechnet. ren Beitragszahlungen leiden werden. Die Ostdeutschen als Prellbock der Nation? Ich weiß nicht, ob das so gut Wer den Gradmesser der 75 Prozent überschreitet, be- ist. Der Bundesminister sagte wörtlich: Mit Leistungskür- kommt im nächsten Förderzeitraum, also von 2007 biszungen, Steuererhöhungen für Verbraucher und Unterneh- 2013, nur noch die Hälfte der Förderung, das bedeutet, statt men, langsamerem Wirtschaftswachstum und – man höre 20 Milliarden nur noch 10 Milliarden. Nach unseren Be- und staune – mit einem schwachen Euro ist zu rechnen. rechnungen würde das zu einem Verlust von 75 000 Ar- beitsplätzen führen. Neuansiedlungen könnten nur noch Leistungskürzungen, Steuererhöhung und Nullwirt- mit 18 Prozent, statt bisher 35 Prozent der Investitions- schaftswachstum gibt es seit dem Amtsantritt von Rot- summe gefördert werden. Dadurch würde die Schaffung Grün. Das der EU-Strukturpolitik ab 2007 in die Schuhe neuer Arbeitsplätze enorm erschwert. zu schieben ist absolut vermessen. Gleichzeitig entsteht vor der Haustür Ostdeutschlands (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei eine Höchstförderzone, die noch dazu Lohnkostenvor- Abgeordneten der FDP) teile von bis zu 70 Prozent bietet. Man kann an einer Hand abzählen, wo in Europa, was die Unternehmensan- Wenn der Bundeswirtschaftsminister jetzt von einem siedlungen betrifft, zukünftig die Post abgeht und wer schwachen Euro spricht, obwohl dieser sich seit spätes- ins Abseits gerät. Diese Perspektive steigert in Ost-tens März auf dem Höhenflug befindet, verschlägt einem deutschland nicht gerade die Euphorie für Europa imdas wirklich fast die Sprache. Man muss fragen: Wo lebt Allgemeinen und für die Osterweiterung im Besonderen. der Mann eigentlich? Vielleicht, Herr Staatssekretär Deshalb muss mit regionaler Strukturpolitik gegenge- Staffelt, fragen Sie ihn einmal, ob er noch im vergange- steuert werden. nen Jahrhundert lebt. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten, die CDU/CSU- Unter diesen Umständen ist eine von Clement ange- Abgeordneten des Europäischen Parlaments und dessprochene nationale Kompensation für die Regionen, Deutschen Bundestages haben ihre Vorschläge zur künf- die den Ziel-1-Status verlieren, mehr als fraglich, man tigen Gestaltung der EU-Strukturpolitik vorgelegt.kann sogar sagen: verlogen. Aber die Ankündigungshäu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4093

Veronika Bellmann (A) figkeit steht bei Herrn Clement bekanntlich immer im 2 Milliarden Euro aus der Europäischen Union kommen, (C) Quadrat zur eigentlichen Umsetzung. sind Sachverhalte, die Sie hier völlig ausgeblendet haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Kretschmer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) [CDU/CSU]: Das ist leider richtig!) Ähnliches gilt auch für die Anstrengungen, die so- Pascal hat gesagt: Man muss die Tugenden wohl der von früheren Bundesregierungen als auch von die- Menschen nicht nach ihren außergewöhnlichen Ankün- ser Bundesregierung unternommen worden sind, um ge- digungen beurteilen, sondern nach ihrem täglichenrade in Ostdeutschland dafür Sorge zu tragen, die Benehmen. – Mit ihrem täglichen Benehmen ist diewichtigen Zentren der Wirtschaft, so gut es eben geht, in Bundesregierung noch immer nicht in der ostdeutschen ihrer Investitionstätigkeit zu unterstützen und das hohe Realität angekommen. Zeichen dafür: Die Solidarpakt- Maß der Solidarität für Ostdeutschland, das es in mittel sind degressiv gestaltet, die Investitionszulagen Deutschland in den letzten zwölf Jahren gab, sehr konti- werden gekürzt, die GA-Mittel werden gekürzt, die In- nuierlich und ohne große Diskussionen fortzusetzen. frastrukturmittel werden gekürzt, Mittel für den Ver- (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Das ist et- kehrswegebau in den Grenzregionen im Hinblick auf die was unfair!) EU-Osterweiterung sind praktisch nicht vorhanden. Stattdessen gibt es Programme, die im Osten nicht grei- Sie sollten bei solchen Reden die Kirche im Dorf lassen. fen: Jobfloater, den ich immer gern Jobflopper nenne, (Beifall bei der SPD) Hartz-Programm usw. Vor einem knappen Jahr hat der Deutsche Bundestag Es ist traurig, aber wahr: Der Osten kann sich auf die einen Antrag mit dem Titel „Die Gemeinschaftsauf- Bundesregierung nicht verlassen, sonst ist er verlassen. gabe‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ Da gehen wir lieber zur EU. Das ist sicherlich nicht un- als regelgebundenes Fördersystem erhalten“ angenom- bedingt der einfachere Weg, aber er verschafft unsmen. Es wurde gesagt, diese Gemeinschaftsaufgabe sei Planungssicherheit und Kontinuität für einen Sechsjah- ein flexibler Handlungsrahmen für die regionale Wirt- resförderzeitraum mit einmaligem Verhandlungsauf-schaftsförderung der Länder, der die Gleichbehandlung wand. Bei der Bundesregierung hätten wir bei sechsma- von strukturschwachen Regionen imStandortwettbe- ligem Verhandlungsaufwand vielleicht nicht einmal ein werb sichere und einen unproduktiven Subventionswett- Jahr Planungssicherheit. lauf um überregionale Ansiedlungen verhindere. Heute so, morgen so, Politik nach Kassenlage und Die Bundesregierung wurde in dieser Entschließung Belieben – das schafft kein Vertrauen. Es gibt ein schö- des Bundestages vom 27. Juni 2002 insbesondere aufge- (B) nes Bild: Ein Landwirt kann das Wachstum des Weizens fordert, zu prüfen, wie diese Gemeinschaftsaufgabe als (D) nicht beschleunigen, wenn er einfach nur an den Halmen unverzichtbares regelgebundenes System auch nach dem zieht. Ähnliches gilt für die EU-Strukturpolitik. Sie zu Jahr 2004 erhalten bleiben könne. Ferner sollte die Bun- reformieren, die Osterweiterung zu finanzieren unddesregierung darauf hinwirken, dass Bund und Länder nationale Regionen, die Hilfe brauchen, nicht aus dem die Wirksamkeit ihrer strukturpolitischen Aktivitäten Auge zu verlieren geht nicht ohne einen nennenswerten stärker und besser aufeinander abstimmen. Beitrag, sowohl ideell als auch materiell. Darauf hinzu- weisen ist der Sinn unseres Antrages. Der 32. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Ver- besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ orientiert Danke schön. sich an dieser Entschließung des Deutschen Bundesta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ges. Der 32. Rahmenplan wurde nach sorgfältiger Vorbe- reitung vom Bund-Länder-Planungsausschuss der Ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: meinschaftsaufgabe unter Vorsitz von Bundesminister Clement am 24. April 2003 einstimmig verabschiedet. Ich gratuliere Ihnen, Frau Kollegin Bellmann, im Na- men des Hauses zu Ihrer ersten Rede. Der Planungsausschuss hat auch eine Orientierungs- diskussion über die zukünftige regionale Investitionsför- (Beifall) derung in Deutschland geführt. Im Zusammenhang mit Föderalismusreform Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär der Diskussion um die bestand im Ditmar Staffelt. Planungsausschuss Einigkeit in der Frage, die Nutzung der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regio- nalen Wirtschaftsstruktur über 2006 hinaus zu vertiefen, Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- und zwar insbesondere mit Blick auf die Absicherung desminister für Wirtschaft und Arbeit: der Gemeinschaftsaufgabe Ost, auf die Sicherung eines Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nationalen regionalpolitischen Handlungsspielraums und Herren! Auch wenn Sie hier Ihre erste Rede gehalten ha- auf eine noch größere Wirksamkeit und Flexibilität der ben, liebe Frau Kollegin, lege ich doch großen Wert da- Gemeinschaftsaufgabe. rauf, dass Sie ein bisschen präziser mit dem umgehen, Ich erinnere daran – Sie waren zehn Jahre erfolgreich was Sie hier behaupten. Allein die Tatsache, dass wir in im Sächsischen Landtag tätig –, unseren nationalen Haushalt mehr als 2,3 Milliarden Euro für Verkehrsinvestitionen in den Grenzregionen einge- (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Acht stellt haben, und die Tatsache, dass dazu noch mehr als Jahre!) 4094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) dass auch die sächsische Staatsregierung hier mit amsolche Sonderbehandlung aus verschiedenen Gründen(C) Tisch gesessen hat. Es sind also nicht irgendwelche rot- ab. Dazu gehört vor allem, dass wir mit unserer Forde- grünen Hirngespinste, wie Sie das zu nennen pflegen, rung nach einer Konzentration der EU-Regionalförde- sondern es sind tatsächlich wohlausgewogene Erörterun- rung auf die Ziel-1-Regionen auch die Forderung nach gen der beteiligten Länder und der Bundesregierung.einer strikten Anwendung des 75-Prozent-Kriteriums Damit ist bereits ein wesentlicher Teil des künftigen Ar- verbinden. Ich sage das ganz ausdrücklich auch im Hin- beitsprogramms der Bund-Länder-Gremien der Gemein- blick auf die erweiterte Union und die Entwicklungen in schaftsaufgabe vorgezeichnet. den Beitrittsländern, die zum Teil nicht die allerschlech- testen sind. Lassen Sie mich zur Erläuterung angesichts der knap- pen Zeit nur dies sagen: Derregionalpolitische Hand- (Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse) lungsspielraum wird auch unserer Meinung nach be- dauerlicherweise durch die Europäische Union immer Um erreichte Fördererfolge in den aus der Förderung stärker eingeschränkt. Verlautbarungen aus Brüssel las- herausfallenden Ziel-1-Regionen nicht zu gefährden, sen weitere Einschränkungen befürchten. Die EU-Kom- setzen wir uns sodann für Übergangsregelungen im Rah- mission erwägt nach der Osterweiterung parallele Redu- men eines generellen, fairen Phasing-out, wie es neu- zierungen der EU-Regionalförderung und der nationalen deutsch so schön heißt, also im Rahmen eines so ge- Regionalförderung in Deutschland. Der Planungsaus- nannten Hinausgleitens, ein. Wie dies konkret aussieht, schuss hatte daher einen ausreichenden Spielraum der steht heute noch nicht fest. Dies wird abzustimmen sein. Mitgliedstaaten der EU zur eigenständigen Lösung ihrer Hier befinden wir uns wiederum mit den Bundesländern Regionalprobleme gefordert. in einem engen Dialog. (Beifall bei der SPD) Dabei ist zu berücksichtigen, dass es für seriöse Aus- sagen, inwieweit die neuen Länder den Ziel-1-Status Ich denke, das ist sehr wichtig. überhaupt verlieren, zu früh ist. Entscheidend dafür wer- den die wirtschaftlichen Daten der Jahre 2001 bis 2003 Es ist schade, dass Sie mir nicht mehr zuhören, Frau sein, sodass wir feststellen müssen, dass hier erst einmal Kollegin. Sie scheinen an Informationen nicht interes- evaluiert werden muss. Nach dieser Evaluierung wird siert zu sein, sonst hätten Sie wissen müssen, dass Herr sich am Ende darstellen lassen, wie die konkrete Situa- Clement mit Sicherheit nicht davon gesprochen hat, dass tion in Bezug auf diese Länder aussehen wird. der Euro im Moment in einer schwachen Phase ist. Das muss ein Missverständnis sein. Präsident Wolfgang Thierse: (B) (D) (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Das ist Herr Kollege Staffelt, gestatten Sie eine Zwischen- wörtlich aus der Leipziger Rede von Herrn frage? Clement!)

– Es mag ein Versprecher sein. Niemand glaubt, dass er Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- das wirklich gesagt hat. Zeigen Sie es mir einmal. Eine desminister für Wirtschaft und Arbeit: solche Politik sollte man nicht machen. Das ist eher un- seriös. Bitte.

(Beifall bei der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: Im vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird Bitte schön. deshalb ebenfalls – das begrüßen wir – auf eine Rückge- winnung regionalpolitischer Handlungsspielräume der Michael Kretschmer (CDU/CSU): Mitgliedstaaten abgezielt, wobei Sie dieses Ziel durch eine Reform der europäischen Strukturpolitik erreichen Herr Staatssekretär, schon heute kennt man die wirt- wollen. Unklar bleibt in Ihrem Antrag die Rolle der Bei- schaftliche Situation in den neuen Bundesländern. Die hilfekontrolle der EU-Kommission, für die in erster Li- können Sie beschreiben; das haben Sie bereits heute und nie eine „effizientere Gestaltung“ gefordert wird. Ichgestern in der Fragestunde getan. Sie wissen demzufolge möchte einen Schritt weitergehen und die Forderung er- auch, welche Anstrengungen in den kommenden Jahren heben, dass die Beihilfekontrolle der EU-Kommission aufgrund der wirtschaftlichen Situation nötig sind. den Mitgliedstaaten einen ausreichenden regionalpoliti- schen Handlungsspielraum belässt. Deswegen die Frage: Können Sie uns zum einen er- klären, ob aus Ihrer Sicht das finanzielle Volumen von Zur EU-Strukturpolitik wird im Unionsantrag zu ungefähr 20 Milliarden Euro, das in den Jahren 2006 bis Recht eine Zurückdrängung des Zentralismus gefordert. 2014 gezahlt würde, nötig ist? Wenn Sie nicht wollen, Mich irritiert allerdings die Forderung, diejenigen Regi- dass dieses Geld auf dem Weg über die Europäische onen, die wegen des beitrittsbedingt sinkenden EU-Brut- Union zur Verfügung gestellt wird, wie wollen Sie dann toinlandsproduktdurchschnitts nach 2006 aus der Ziel-1- zum anderen diese Mittel bereitstellen, die für den Auf- Kategorie herausfallen würden, in der kommenden För- bau Ost nötig sind, um die Erfolge, von denen Sie ge- derperiode gleichwohl weiterhin wie ein Ziel-1-Gebiet sprochen haben, und die Solidarität, die dem zugrunde behandeln zu wollen. Die Bundesregierung lehnt eine liegt, nicht zu gefährden? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4095

(A) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- fen, nicht aber der Aufbau neuer Subventionstatbestände (C) desminister für Wirtschaft und Arbeit: und neuer Grenzen und Mauern. Herr Abgeordneter, ich will Ihnen zum Ersten sagen, Danke schön. dass Sie nicht nur über ein Ziel-1-Gebiet in Deutschland sprechen dürfen. Sie müssen vielmehr sehen, was eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solche Förderung für die gesamte Europäische Union be- DIE GRÜNEN) deutet. Das heißt, Sie würden eines tun: Sie würden die 25-Prozent-Linie in entsprechender Weise aufstocken. Präsident Wolfgang Thierse: Zusätzlich zu den Gebieten, die jetzt im Rahmen der Ich erteile das Wort demKollegen Klaus Hofbauer, EU-Beitrittsstaaten zu fördern sind, würden weitere Ge- CDU/CSU-Fraktion. biete in Europa in die Förderung einbezogen. Dies ist fi- nanziell nicht durchzuhalten. Klaus Hofbauer (CDU/CSU): (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das war Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- nicht meine Fragestellung!) ren! Herr Staatssekretär, ich gebe Ihnen Recht: Die EU- Zum Zweiten sage ich Ihnen, dass sich die neuenOsterweiterung wird für uns ebenfalls einen großen Vor- Bundesländer gemeinsam mit der Bundesregierung auf teil bringen. Auch ich bin davon überzeugt, dass die Ost- nationaler Ebene überlegen müssen, welche Fördermög- erweiterung den Grenzregionen auf Dauer Vorteile brin- lichkeiten und -notwendigkeiten es gibt. Wenn Sie sich gen wird. Entscheidend ist aber, dass wir diesen Prozess daran erinnern, über wie viele Jahrzehnte hinweg es in aktiv gestalten und miteinander Akzente setzen. Hierzu den alten Ländern Fördertatbestände gegeben hat – ich sind die Politik, die Wirtschaft und die Kammern aufge- nenne nur die Zonenrandförderung und die Berlin-För- rufen. Wir brauchen für die Grenzregionen eine konzer- derung –, dann müssten Sie sich in diesem Bereich auch tierte Aktion. die Frage der Evaluierung stellen. Deswegen sind wir im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dialog mit den Regierungen der neuen Bundesländer. Ich bin sicher, dass wir eine gute Lösung für die neuen Aber wissen Sie, meine sehr geehrten Damen und Bundesländer finden werden. Herren, was uns in der Strukturpolitik zurzeit am meis- ten Schwierigkeiten bereitet? – Die fatale Wirtschafts- Meine Damen und Herren, ich hätte gern noch einund Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Die struktur- Wort zu denGrenzregionen gesagt, aber meine Zeit schwachen Gebiete leiden in ganz besonderem Maße un- läuft ab. ter der verkehrten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik (B) (Ute Kumpf [SPD]: Aber nur jetzt, nicht für von Rot-Grün. (D) immer! – Zuruf von der CDU/CSU: Die Rede- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zeit! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) Wir sind uns in diesem Hause sicherlich darüber ei- – Das sind die Spitzfindigkeiten, nachdem sich das Ge- nig, dass Strukturpolitik in den letzten Jahren erfolgreich witter verzogen hat. und richtig war und auch in Zukunft notwendig sein wird. Dabei muss uns aber vor allen Dingen im Hinblick Ich verweise nur auf eines: Die Grenzregionen schla- auf die Erweiterung und Einigung Europas bewusst sein, gen vor, dass es einen Gürtel von Förderregionen an den dass wir die Strukturpolitik auf allen Ebenen reformieren ehemaligen Außengrenzen geben soll. Hier gibt es über- müssen: die europäische Strukturpolitik, die nationale haupt nur zwei Arbeitsamtsbezirke in Bayern, die nicht Strukturpolitik und vor allen Dingen das Zusammenwir- als Fördergebiete ausgewiesen sind. Von daher erscheint ken beider Politiken. Ich teile die Auffassung meiner ein solcher Ansatz nicht sehr hilfreich zu sein. Vorredner, dass ein wesentliches Element der europäi- Erlauben Sie mir bitte noch eine letzte Bemerkung, da schen Strukturreform eine Rückgewinnung nationaler Sie hier das Thema EU-Osterweiterung mit der Formel Handlungsspielräume sein muss. Wir spüren bei der angesprochen haben, Sie wüssten schon, wohin die In- Gemeinschaftsaufgabe, was uns Brüssel alles vor- vestitionen gingen. Von allen Volkswirten, wirtschafts- schreibt. In der letzten Förderperiode haben wir nicht wissenschaftlichen Instituten und Analysten wird bestä- einmal eine Abgrenzung der Fördergebiete von Brüssel tigt, dass die Bundesrepublik Deutschland von der EU- genehmigt bekommen. Nicht einmal mit der Klage, Herr Osterweiterung erheblich profitieren wird. Ich gebe Ih- Kollege Müller, die wir gemeinsam vorgeschlagen und nen Recht, dass sich die Frage stellt, ob alle Regionen in angestrebt haben, sind wir durchgekommen. Die europä- Deutschland davon profitieren werden. Dass die grenz- ische Strukturpolitik wird also nur dann Erfolg haben, nahen Regionen besondere Probleme haben, steht ganz wenn auch größere nationale Spielräume eine Chance außer Frage. Allerdings geht es hier nicht nur um Förde- haben. Das müssen wir in diesen Wochen und Monaten rung, sondern auch darum, dass sich dort etwas bewegt erkämpfen, insbesondere im Hinblick auf die Verab- und die Dienstleister aufwachen, sich orientieren und in schiedung einer europäischen Verfassung. Kooperationen mit den Unternehmen auf der anderen (Beifall des Abg. Jürgen Türk [FDP]) Seite der Grenze einwilligen. Darum werbe ich gemein- sam mit den Industrie- und Handelskammern sowie den Leider Gottes – ich sage dies sehr klar und deutlich – ist Handwerkskammern für noch mehr Bewegung und un- in dem jetzigen Entwurf, soweit er uns vorliegt, im Grunde ternehmerische Initiativen. Nur das wird am Ende hel- genommen nur eine Festschreibung der bisherigen 4096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Klaus Hofbauer (A) Verträge enthalten. Wir müssen uns also verstärkt Gedan- die Osterweiterung neue Aufgaben und Ziele hervor-(C) ken darüber machen, was wir in Bezug auf die Struktur- bringt. politik in die europäische Verfassung einbringen wer- den. Ich bin der festen Überzeugung und unterstreiche Gehen wir in diesem Sinne den Weg gemeinsam an! dies: Wir brauchen auch in Zukunft eine europäischeDie Strukturpolitik ist notwendig. Wir sollten es mitein- Strukturpolitik. ander schaffen, weil Europa dadurch wirklich positiv ge- staltet wird. Ich komme zu ein paar Anmerkungen zur GA und insbesondere zur Unterrichtung durch die Bundesregie- Herzlichen Dank. rung. Der zweiunddreißigste Rahmenplan zeigt auf, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diese GA auch in den letzten Jahren erfolgreiche An- sätze verzeichnete. Aber es gibt natürlich auch Pro- Präsident Wolfgang Thierse: bleme, Herr Staatssekretär, zu denen Sie nichts gesagt haben. Die finanzielle Ausstattung der GA ist selbst- Ich schließe die Aussprache. verständlich nicht befriedigend. In Bezug auf die Grenz- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf regionen können Sie zwar sagen, dass alle bis auf zwei den Drucksachen 15/749 und 15/861 an die in der Tages- Landkreise über die GA „Verbesserung der regionalen ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Wirtschaftsstruktur“ gefördert werden. Es steht jedoch Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind fest, dass wir zum Beispiel die Höchstsätze nicht aus- die Überweisungen so beschlossen. schöpfen können, weil die finanziellen Voraussetzungen dafür fehlen. Wir müssen uns also insbesondere hinsicht- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: lich der nächsten Jahre hierüber Gedanken machen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwin mir, noch ein paar Sätze zu denGrenzregionen zu sa- Marschewski (Recklinghausen), weiterer Abge- gen. Herr Kollege Müller, auch Sie haben die Idee von ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sich gewiesen, Grenzregionen zu fördern. Wir werden Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter hier durch den Herrn Bundeskanzler beschützt. Er hat in Weiden etwas gesagt, das ich mit Genehmigung des – Drucksache 15/924 – Herrn Präsidenten wörtlich zitieren darf. Ich habe die Überweisungsvorschlag: Rede sogar dabei. Das ist die einzige Rede eines SPD- Innenausschuss (f) Mannes, die ich ständig bei mir trage. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (B) (, Parl. Staatssekretär: Welche Re- Haushaltsausschuss (D) den haben Sie sonst noch dabei?) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Ich habe einige dabei, aber von der SPD nur diese vom Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Herrn Bundeskanzler in Weiden. – Bundeskanzlerkeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Schröder hat dort „ein vernünftiges, auch materiell un- terlegtes Programm der Förderung der Grenzregionen“ Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen versprochen. Ich stelle hier ganz bescheiden fest, dass Martin Hohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. dies eines der vielen Versprechen von Herrn Schröder ist, die er nicht gehalten hat. Martin Hohmann (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dies müssten wir einfordern, aber nicht nur deshalb, Herr Staatssekretär, weil es der Herr Bundeskanzler ver- Dieses Land ist stark geworden und wird stark blei- sprochen hat. Ich bitte auch die besondere Situation in ben, wenn es im Innern gerecht zugeht. den Grenzregionen zu berücksichtigen. Das Lohngefälle, Das sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 6. Au- das Wirtschaftsgefälle und das Strukturgefälle sind we- gust 2002. der anderswo in Europa noch weltweit so rapide wie zwischen den Grenzregionen und den angrenzenden Bei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Max trittsländern. Hinzu kommt natürlich ein gewaltiges För- Stadler [FDP]: Haben Sie seine Rede dabei?) dergefälle. Darin besteht unser Problem. Deswegen bitte Ob es gerecht zugeht, darüber kann man grübeln und ich, diesen Gedanken nicht von sich zu weisen. Bücher schreiben. Wir als Politiker sollen nach Sehen Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie und Beurteilen handeln. Zu den wichtigsten Leitbegrif- mir noch eine Schlussbemerkung. Wir sollten diesen An- fen beim Handeln gehört in der Tat Gerechtigkeit. „Ge- trag, über dessen einen oder anderen Punkt sicherlichrechtigkeit“ war auch bei der Rede von Gerhard Diskussionsbedarf besteht, beraten. Hinsichtlich desSchröder als SPD-Vorsitzendem zum 140-jährigen Jubi- Themenbereiches Strukturpolitik sind wir bereit, eineläum der SPD ein häufig gebrauchtes Wort. gemeinsame Strategie zu entwickeln – im Hinblick auf (Ute Kumpf [SPD]: Waren Sie dabei?) Europa und im Hinblick auf die nationale Entwicklung und die Osterweiterung. Wir sollten jetzt Konzepte vor- – Es ist ausreichend berichtet worden. – Ich darf einige legen, weil in Europa die Weichen gestellt werden und Zitate bringen: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4097

Martin Hohmann (A) Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit – diese Grund- Warum? Die Einschätzung und Bewertung der deut- (C) werte von damals sind unsere Werte von heute. Da- schen Heimatvertriebenen unterlag nach dem Krieg star- ran wird sich nichts ändern. ken Schwankungen. Während zunächst alle Parteien den Vertriebenen und Flüchtlingen ein Rückkehrrecht quasi Oder: selbstverständlich einräumten, weil man sich eine end- Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit – das sind für gültige Vertreibung von 15 Millionen Menschen nicht uns keine statischen Begriffe. Alle drei sind Voraus- vorstellen konnte, gab es seit derOstpolitik von Willy setzung für einander und stehen in Beziehung zu- Brandt Dissonanzen. Die Anerkennung der machtpoli- einander. tisch geschaffenen Fakten nahm den Heimatvertriebenen letzte vage Hoffnungen. Oder: (Sebastian Edathy [SPD]: Auf was?) Wir sagen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Frei- heit und ohne Freiheit keine Solidarität. Damit standen die Heimatvertriebenen und die so ge- nannten fortschrittlichen und linken Kräfte, mit ihnen Ich komme zu den Grünen. Fast zur gleichen Zeit, im die SPD, seit den 70er-Jahren eher unversöhnlich in ver- Mai 2003, fasste der Parteirat von Bündnis 90/Die Grü- schiedenen politischen Lagern. Ausgrenzungen und Ab- nen einen Beschluss für die Bundesdelegiertenkonferenz grenzungen verschärften den Streit ebenso wie die in Cottbus. Auch darin war die Gerechtigkeit ein häufi- nationale Ich-Schwäche, die besonders von der neu ger Gast. Sie trat als einfache Gerechtigkeit, als Ge-aufgekommenen Partei der Grünen hingebungsvoll ge- schlechtergerechtigkeit und als internationale Gerechtig- pflegt wurde. keit auf. (Sebastian Edathy [SPD]: Nationale Ich- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Schwäche? Herr Hohmann, Sie reden mal wie- GRÜNEN]: Generationengerechtigkeit!) der an der Sache vorbei!) Weil Rot und Grün die Gerechtigkeit so herausstellen, So waren noch im Mai 1990 und Angelika schöpfen wir Hoffnung. Wir haben neue Zuversicht, mit Beer als Demonstrantinnen hinter einem Transparent unserem Antrag zur Entschädigung deutscher Zwangsar- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beiter gemeinsam voranzukommen. Denn Gerechtigkeit NEN]: Was ist denn das für eine schräge Rede?) verlangt im Kern: gleiches Leid, gleiche Entschädigung. Menschenrechte sind unteilbar. – hören Sie bitte zu – mit der Aufschrift „Nie wieder Deutschland!“ zu finden. Das hat sie nicht gehindert, zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) gleichen Zeit als Abgeordnete des Deutschen Bundesta- (D) Was wollen wir mit unserem Antrag erreichen? –ges Gerechtigkeit. Im Einzelnen möchten wir die Bundesre- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gierung auffordern, „einen Gesetzentwurf zu erarbeiten NEN]: Geht es jetzt um Zwangsarbeiter oder und … vorzulegen, der eine humanitäre Geste für Perso- geht es um nationale Identität?) nen vorsieht, die als Zivilpersonen aufgrund ihrer deut- schen Staats- oder Volkszugehörigkeit durch fremdedas nicht unbeträchtliche Bundestagssalär zu beziehen. Staatsgewalt während des Zweiten Weltkrieges und da- (Sebastian Edathy [SPD]: Herr Hohmann, jetzt nach“ Zwangsarbeit leisten mussten. Wir bitten für die wird es aber unsachlich!) deutschen Opfer von Zwangsarbeit um „eine Einmalzah- lung, vergleichbar der für die NS-Zwangsarbeiter ge- Gerade bei den Grünen – heute: Bündnis 90/Die Grü- schaffenen Regelung“. Wir ersuchen die Bundesregie- nen – wurde lange ein lieb gewordenes Bild gepflegt: die rung, „die Anzahl der nach einem solchen GesetzGleichsetzung der Vertriebenen mit dem äußerst rechten Antragsberechtigten zu ermitteln“, einen entsprechenden Spektrum der Politik, mit Revanchisten und Chauvinis- Gesetzentwurf zu erstellen und die finanzielle Ausstat- ten. Zwar hat es vereinzelte schrille Stimmen aus dem tung des Fonds zu regeln. Bereich der Vertriebenen gegeben. Mit übergroßer Mehrheit gehörten die Vertriebenen jedoch von Anfang Bei alledem ist zu bedenken, dass die Opfer von an zu dem wertvollen und tatkräftigen Aufbaupotenzial Zwangsarbeit sich in einem sehr fortgeschrittenen Alter unseres demokratischen Staates. Nicht zu vergessen ist befinden. Die Zeit drängt. Eine schnelle Regelung ist nö- insbesondere die Charta der Vertriebenen. Mit ihr ver- tig. zichteten die Vetrieben bereits im April 1950 auf Re- Um eine Regelung auch für deutsche Zwangsarbeiter vanche und Gewalt und verpflichteten sich, am Aufbau bemüht sich die Union im Bundestag seit Schaffung der eines friedlichen Europas mitzuwirken. NS-Zwangsarbeiter-Stiftung „Erinnerung, Verantwor- Die Grünen sollten daher ihr fortwirkendes Negativ- tung und Zukunft“. Im Einzelnen sind hier Fragen und bild und ihr altes Feindbild ablegen. Erst recht muss mit Initiativen von verschiedenen Unionsabgeordneten zu der Unterstellung Schluss sein, dass, wer an das Elend nennen. Bisher haben wir von Ihnen leider nur abschlä- der Vertreibung erinnere, den Holocaust verharmlose. gige Antworten erhalten. Dennoch resignieren wir nicht. Wir haben einen langen Atem. Wir kämpfen für eine ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy rechte Sache und wir wissen, dass wir heute in einer an- [SPD]: Das hat aber mit dem Antrag nichts zu deren Situation sind. tun!) 4098 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Martin Hohmann (A) Neue Hoffnung gibt hier – ich sage viel Gutes über ihn – In- Anblick hat meine Mutter ihr Leben lang verfolgt, (C) nenminister Otto Schily. Er hat sich, das sei dankbar an- trotz allem, was wir selbst durchmachen mussten. gemerkt, mehrfach mit Offenheit und Sensibilität dem Das war kein Einzelfall. Vergewaltigung, Hunger, Ent- Schicksal unserer Vertriebenen zugewandt. kräftung und Tod betrafen die Mehrheit dieser Frauen, Meine Damen und Herren, wenn ich zuvor gesagtdie Kinder nicht zu vergessen. habe, wir seien heute in einer neuen Situation, so bezieht Ich bin sicher, auch Sie von den Regierungsfraktionen sich das auf eine neue öffentliche Wahrnehmung des lassen diese Schicksale und dieses grausame Leid nicht Vertreibungsschicksals. Lassen Sie mich stellvertre- gleichgültig. Sie haben für unsere deutschen Landsleute tend drei Namen nennen: Professor Dr. Guido Knopp ist keinen Stein an der Stelle Ihres Herzens. Sie haben er- es gelungen, besonders mit seinen Fernsehbeiträgen zur kannt, dass es noch lange keine Vergötzung der Nation deutschen Zeitgeschichte, neues Interesse für die Zeit bedeutet, denjenigen einen Ausgleich zukommen zu las- des Zweiten Weltkrieges, seine Täter und seine Opfer zu sen, die stellvertretend für diese Nation leiden mussten. wecken. Dr. Jörg Friedrich hat mit seinem Buch „Der Sie waren die Deutschen, derer man habhaft werden Brand“ erstmals die Perspektive der mehr als 600 000 zi- konnte. Sie waren die Deutschen, die alles abbüßen vilen Opfer des Bombenkrieges in den Mittelpunkt ge- mussten. Sie waren die Deutschen, an denen die Rache- rückt. Schließlich hat die Novelle „Im Krebsgang“ des gefühle abgearbeitet wurden. Gemeinsam haben wir die Literaturnobelpreisträgers Günter Grass den Untergang Pflicht, diesen nun alten Überlebenden etwas von ihrer des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ thematisiert. Würde wiederzugeben. Damit lebten die deutschen Schicksale aus der Schre- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ckenszeit des ausgehenden Krieges wieder auf. Vielen abschließend auf die eingangs zitierten Kernbegriffe so- wurde klar, dass ein Verschleppungsschicksal jeden tref- zialdemokratischen und grünen Selbstverständnisses zu- fen konnte, der sich im sowjetischen Machtbereich auf- rückkommen, auf Gerechtigkeit und Solidarität. Unter hielt. Um die Sollzahlen an Arbeitssklaven für die Lager neuen Umständen stehen diese Begriffe neu auf dem des Gulag zu erfüllen, wurde der 12-jährige Junge aus Prüfstand. Es kann nicht sein, dass die IOM, die Interna- Breslau ebenso eingefangen wie die 17-jährige Ober- tional Organization for Migration, in der ganzen weiten schülerin aus der S-Bahn in Berlin-Mahlsdorf. Welt nach NS-Zwangsarbeitern sucht, um sie zu entschä- Diese neue Betroffenheit ist messbar. Sie ist demo- digen, und dass wir die deutschen Zwangsarbeiter vor skopisch erfasst worden. Vor zwei Monaten hat dasunserer eigenen Haustür im Regen stehen lassen. Emnid-Institut auf die Frage, ob auch deutsche Zivilis- (Beifall bei der CDU/CSU) ten, die Zwangsarbeit leisten mussten, eine Entschädi- (B) gung oder eine Geste der Wiedergutmachung erhalten Es kann nicht sein, dass für diese kleine Minderheit alter (D) sollten, eine Zustimmung von 80 Prozent registriert. In Menschen die Leitbegriffe Solidarität und Gerechtigkeit den östlichen Bundesländern lag die Zustimmung für das politische Leerformeln bleiben. Das wäre ideologisch Anliegen unseres Antrages sogar bei fast 90 Prozent. gepanzerte Kälte. Das wäre die Enttarnung der von Bun- deskanzler Schröder initiierten NS-Zwangsarbeiterent- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: schädigung als Polittheater. Hört! Hört!) Es kann nur eine Gerechtigkeit und nureine Men- Heute fragen insbesondere junge Menschen nach schenwürde geben. Wir von der Union haben die NS- Flucht, Vertreibung und Verschleppung. Sie wollen die Zwangsarbeiterentschädigung in der Hoffnung mitgetra- ganze Wahrheit wissen. Diese Wahrheit ist entsetzlich. gen, dass die jetzige Regierung auch für deutsche Wahrheit ist: Es hat rund zwei Millionen deutsche Zwangsarbeiter etwas Konkretes tut. Mitleid reicht Zwangsarbeiter gegeben. Wahrheit ist: Rund die Hälfte nicht. Als Unionspolitiker appellieren wir an die Kolle- von ihnen hat nicht überlebt. Wahrheit ist: Besonders ginnen und Kollegen vonden Regierungsfraktionen: viele Frauen und nicht wenige Kinder wurden Opfer der Dieses Land wird nur stark bleiben, wenn es im Innern Zwangsarbeit. Wahrheit ist: Die meisten von diesen gerecht zugeht. Wir verlangen Gerechtigkeit und Mit- Frauen waren sexuelles Freiwild für die enthemmte auf- empfinden, auch für deutsche Zwangsarbeiter. gehetzte Soldateska. (Beifall bei der CDU/CSU) Entwürdigung und Demütigung waren neben Hunger und Kälte Schicksal dieser Frauen. Ich zitiere aus dem Buch von Freya Klier „Verschleppt ans Ende der Welt“: Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy, … und wenn das nicht schnell genug ging mit dem SPD-Fraktion. Hacken, dann wurde zur Abschreckung mal eine er- schossen … Und zwischenrein wurden immer wie- der Frauen zum Vergewaltigen weggezerrt … Das Sebastian Edathy (SPD): Erschütterndste aber, so erzählte mir meine Mutter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich mal, als ich erwachsen war, das waren die Frauen- glaube, wir tun alle gut daran, egal welcher Fraktion wir leichen, die man so übel zugerichtet hatte … Eine angehören, uns zu bemühen, uns sachlich an das Thema Frau, die hatte gerade entbunden, da lag das Neuge- anzunähern, das die Union heute mit ihrem Antrag auf borene daneben und der Frau – sie war schon steif die Tagesordnung gesetzt hat. Das sage ich bewusst als gefroren – steckte ein Stock in der Scheide … Der Angehöriger einer Generation, die Jahrzehnte nach dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4099

Sebastian Edathy (A) Ende des Zweiten Weltkrieges geboren ist; ich gehöre sche Bürgerinnen und Bürger zur Zwangsarbeit herange- (C) dem Geburtsjahrgang 1969 an. zogen haben. Diese Forderung hat eine Reihe von Unionsabgeordneten parallel zur Verabschiedung des Gerade als Mitglieder des Bundestages haben wirStiftungsgesetzes bereits im Jahre 2000 erhoben. Nur eine besondere Verantwortung dafür, das Geschehene wenn dies nicht zum Ziel führe bzw. wenn sich die Bun- nicht vergessen zu lassen und uns immer wieder zu fra- desregierung nicht an die betreffenden ausländischen gen, ob wir die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Staaten wenden wolle, dann möge die Regierung einen gezogen haben, was von deutschem Boden in deutschem Gesetzentwurf vorlegen, auf dessen Grundlage analog Namen ausgegangen ist und was die Folge dieser Ge- zur Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter auch schehnisse war. frühere deutsche Zwangsarbeiter zu entschädigen seien. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist der Inhalt des Antrages der Union. DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich für die SPD-Bundestagsfraktion Ich glaube, deswegen ist es sinnvoll, zu Beginn einer hierzu folgende Stellungnahme abgeben: solchen Debatte noch einmal in Erinnerung zu rufen, Dass auch viele deutsche Bürger während des Zweiten was in den Jahrzehnten seit Gründung der Bundesrepu- Weltkrieges und unmittelbar danach Opfer von Gewalt blik durch den Gesetzgeber auf den Weg gebracht und und Willkür wurden, ist zutreffend. Es gilt – nein, es ist verwirklicht worden ist, um auch deutschen Opfern der selbstverständlich – das Leid dieser Menschen anzuerken- Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ein Stück Gerechtig- nen. Darüber gab es im Deutschen Bundestag im Übrigen keit und Anerkennung zuteil werden zu lassen, insbeson- nie Streit. Im Gegenteil: Das Kriegsgefangenenentschädi- dere wenn es sich um Opfer handelt, die ein besonders gungsgesetz, das Häftlingshilfegesetz und das Bundesver- schweres Schicksal zu tragen hatten. sorgungsgesetz – auch diesesdritte Gesetz zählt dazu – In diesem Zusammenhang ist an das Kriegsgefange- hatten zum Ziel, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, nenentschädigungsgesetz, aber auch an das Häftlingshil- die ein besonders hartes Los getroffen hatte, das über das fegesetz zu erinnern, das ja immer noch gilt. Die entspre- allgemeine schwere Schicksal der Bevölkerung eines chende Stiftung bewilligt insbesondere bei sozialenLandes, das Gott sei Dank einen Krieg verloren hatte, hi- Notlagen auch heute noch Zuwendungen für Menschen, nausging. die aus politischen Gründen interniert und als deutsche Bereits in den 50er-Jahren herrschte darüber Konsens, Staatsbürger seitens anderer Staaten zur Zwangsarbeit dass die Heranziehung von Deutschen zur Arbeitsleis- herangezogen worden sind. tung in der Folge des Zweiten Weltkrieges als allgemei- nes Kriegsfolgenschicksal zu bewerten sei. Hier wird Herr Kollege Hohmann, andererseits war es 50 Jahre (B) deutlich: Wir haben eine Meinungsverschiedenheit. Es(D) lang Konsens im Deutschen Bundestag, dass Verschlep- gilt: Das Leid, das Deutschland über andere gebracht pung zu dem Zweck, die Betroffenen als Arbeitskräfte hat, ist schlimm. Das Leid, das deutsche Bürger als einzusetzen, als allgemeines Kriegsfolgenschicksal be- Folge dessen erlitten haben, ist ebenfalls schlimm. Aber wertet worden ist. Mit ihrem Antrag „Entschädigung für beides gilt: All dieses Leid hatte seine Wurzeln im deutscher Zwangsarbeiter“ fordern CDU und CSU ab- Unrecht der NS-Zeit und damit in Deutschland. weichend von dieser Bewertung der Heranziehung deut- scher Bürger zur Zwangsarbeit als allgemeines Kriegs- Es ist nicht verständlich und sachlich begründbar, aus folgenschicksal nun die pauschale Entschädigungder Schaffung einer Stiftung für die Entschädigung aus- früherer deutscher Zwangsarbeiter. Es lohnt sich, den ländischer Zwangsarbeiter abzuleiten, man müsse nun Antrag der CDU/CSU einmal näher zu betrachten. auch für frühere deutsche Zwangsarbeiter eine Zusatzre- gelung schaffen. Lassen Sie mich in diesem Zusammen- Einleitend – Herr Hohmann hat den Bezug auch in hang Folgendes sagen: Wenn, wie ich glaube, die Union seiner Rede gerade hergestellt – wird direkt Bezug auf aus der Existenz der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ tung und Zukunft“ in unangebrachter Weise ableitet, es genommen, die der Deutsche Bundestag im Sommer bestehe nun die Notwendigkeit für eine Entschädigung 2000 zu errichten beschlossen hat. In Ihrem Antrag wei- auch deutscher Zwangsarbeiter, dann ist es sehr be- sen Sie darauf hin, dass durch diese Stiftung insbeson- fremdlich, wenn ausgerechnet der Kollege Hohmann das dere jene früheren Zwangsarbeiter berücksichtigt wer- Wort ergreift, der bei dem Gesetzgebungsbeschluss über den sollten, die als Bewohnerinnen und Bewohner diese Stiftung nicht mit Ja gestimmt hat. Osteuropas aufgrund des späten Falls des Eisernen Vor- hangs zuvor nicht die Möglichkeit hatten, von deutscher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Seite eine Entschädigung zu erhalten. DIE GRÜNEN) Auf dieser Grundlage, also mit dem Hinweis darauf, dass das eine späte Wiedergutmachung an die Opfer Präsident Wolfgang Thierse: deutschen Handelns ist, heißt es dann in dem Antrag der Kollege Edathy, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Union ohne einen sachlichen Zusammenhang aber, dass Kollegen Marschewski? dies nun auch für frühere deutsche Zwangsarbeiter gel- ten müsse. Daneben sagt die Union in ihrem Antrag, die Sebastian Edathy Bundesregierung solle sich nun an jene ausländischen (SPD): Staaten bzw. ihre Nachfolgestaaten wenden, die deut- Ja, bitte. 4100 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Ich komme zu den anderen beiden Punkten, die Sie(C) Herr Kollege Edathy, meine erste Frage: Opfer sind genannt haben. Ihre Frage war: Ist es dem Opfer nicht doch Opfer. Ist es nicht gleich, wer sie zu Opfern ge-letztlich gleichgültig, wer der Täter ist? Ihre Argumenta- macht hat? tion läuft darauf hinaus, die Situation des Opfers zu wür- digen. Wenn Leid, Bedrückung und Not verursacht wor- Meine zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass es viele den sind, dann muss man Abhilfe schaffen. – Ich glaube, Opfer gibt, die vom Kriegsgefangenenentschädigungs- man hätte diese Debatte in den 50er- und 60er-Jahren so gesetz und auch vom Häftlingshilfegesetz eben nicht er- führen können. Wenn man sich den Charakter der Ge- fasst worden sind? setzgebung anschaut, die Sie als nicht hinlänglich be- Meine dritte Frage: Halten Sie es für richtig, dass,zeichnet haben, beispielsweise mit Blick auf frühere wenn die betroffenen Menschen zum Kanzleramt gehen, Kriegsgefangene, frühere politische Häftlinge oder auf sie dort von niemandem empfangen werden und ihre Re- solche Internierte, die dauerhaft gesundheitliche Schä- solution beim Pförtner abgeben müssen? den davongetragen haben, dann wird man einsehen: Grundgedanke war, dass die Leistung des Staates eine (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Jetzt Eingliederungshilfe sein sollte. Die Leistung des Staa- haben wir ihn aber überfordert!) tes sollte dazu dienen, diesen Menschen den Start in ein geordnetes Leben zu ermöglichen. Sebastian Edathy (SPD): Wir führen diese Debatte 50 Jahre zu spät, Herr Herr Strobl attestiert mir Überforderung. Diese Auffas- Marschewski. Ich habe den Eindruck, dass sie seitens sung kann ich nicht teilen. Was ich wahrnehme, ist – das der Union auch deshalb geführt wird, um hier ein ver- will ich in aller Gelassenheit sagen –, dass die Unionmeintliches Defizit kenntlich zu machen, von dem ich nach 50 Jahren – ich nenne Bundeskanzler Kiesinger als der festen Überzeugung bin: Es ist in dieser Form nicht ein Beispiel – den Konsens darüber aufkündigt, dass vorhanden. Die Menschen, um die es geht, die Leid er- man Leid nicht gegeneinander aufrechnen darf und dass fahren haben, haben in den letzten 50 Jahren in der Bun- man sehen muss, wo die Ursachen für Leid liegen. desrepublik bzw. im östlichen Teil unseres Landes – die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Teil gehörte bis 1990 nicht zur Bundesrepublik – DIE GRÜNEN) gelebt. Ich halte dies für nicht den richtigen Zeitpunkt, diese Debatte zu führen. In diesem Zusammenhang – ich werde sofort auf das eingehen, was Sie gefragt haben, Herr Marschewski – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ will ich doch sagen: Man muss sich einmal vor Augen DIE GRÜNEN) (B) halten, dass Sie in Ihrem Antrag unter anderem der Re- (D) gierung nahe legen, an Russland heranzutreten, ein Präsident Wolfgang Thierse: Land, in dem als Folge des Zweiten WeltkriegesHerr Kollege Edathy, der Kollege Marschewski 21 Millionen Menschen gestorben sind, darunter 7 Milli- möchte noch einmal nachfragen. Wollen Sie das zulas- onen Zivilisten, um es aufzufordern, frühere deutsche sen oder weiterreden? Zwangsarbeiter zu entschädigen. Ich will deutlich sagen: Das wäre eine erbärmliche, beschämende und ge- Sebastian Edathy schichtslose Haltung, die Sie von der Regierung erwar- (SPD): ten. Ich bin damit einverstanden, wenn Herr Marschewski noch eine Frage stellt – nicht wieder drei. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Ich komme zu Ihren Fragen, Herr Marschewski. Zu Herr Kollege Edathy, verstehen Sie, dass ich Sie nicht Ihrem letzten Punkt, der Übergabe von Unterschriften verstehe? im Bundeskanzleramt, hat es meines Wissens aus der Unionsfraktion eine schriftliche Frage gegeben. Sie ist von der Regierung beantwortet worden. Es war wohl so, Sebastian Edathy (SPD): dass diese Übergabe nicht angekündigt worden war. Das Herr Kollege Marschewski, ich gehöre dem Bundes- heißt, diese Menschen kamen zum Bundeskanzleramt tag seit 1998 an. Wenn ich nicht falsch informiert bin, und haben erwartet, dass der Bundeskanzler sie persön- gehören Sie dem Bundestag schon einige Jahre länger lich empfängt. Die Menschen haben aber die Möglich- an. Wenn ich ebenfalls nicht falsch informiert bin, hat es keit gehabt, einem Beamten des Bundesgrenzschutzes vor 1998 eine 16-jährige Regierungszeit unter konserva- ihre Unterschriften zu übergeben. tiver Führung gegeben. Wenn Sie auf die Idee kommen, dass die Bundesregierung, die von Sozialdemokraten (Lachen bei der CDU/CSU) und Bündnis 90/Die Grünen gestellt wird, hier ein Ver- Ich denke, dies hätte man auch anders vorbereitensäumnis habe, während Sie 16 Jahre lang selber nicht können. So wie ich den Bundeskanzler kenne, hätte es dazu in der Lage, nicht willens oder nicht einsichtig wa- keine Probleme gegeben, einen Termin zu vereinbaren, ren, das zur Sprache zu bringen und zu regeln, was Sie an dem er diese Menschen empfangen hätte. Diesenjetzt als angebliches Versäumnis kennzeichnen, dann Punkt in die Debatte einzuführen finde ich ein bisschen kann ich das nur als unglaubwürdig und als Heuchelei kleinkariert, Herr Marschewski. betrachten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4101

Sebastian Edathy (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die rot-grüne Bundesregierung, die nach 1998 diesen(C) DIE GRÜNEN) Konsens durchbrochen und beschlossen hat, dass die Ar- beitsleistung in einer Zwangsarbeitshaft extra honoriert Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, Leid kann werden sollte. Sie haben neue Regeln geschaffen. man nicht gegeneinander aufrechnen; es summiert sich. Zwangsarbeit – auch das habe ich gesagt – ist für jeden Nachdem Sie diese Änderung vorgenommen und eine Betroffenen ein einschneidendes und schlimmes Ereig- Gruppe von Opfern herausgegriffen haben, nis. Dies aber schließt nun einmal unterschiedliche Be- wertungen hinsichtlich der Frage staatlicher Reaktionen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht aus. NEN]: Sie wissen, dass das falsch ist!) Ich frage Sie, meine Damen und Herren von dererscheint es mir nur recht und billig, das auch für andere Union: Was eigentlich ändert die Tatsache der Errich- zu tun. Stimmen Sie mir darin zu? tung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) kunft“ daran, dass wir hier immer eine grundsätzliche Übereinstimmung gehabt haben, dass das harte Schick- Sebastian Edathy (SPD): sal der deutschen Bevölkerung als Folge der barbari- schen Politik des Deutschen Reiches zu bewerten ist? Ich stimme Ihnen darin nicht zu, Herr Kollege Meine Antwort wäre: Das ändert nichts daran. Leider ist Hohmann. Auch trifft das, was Sie geschildert haben, es so, dass sich bei der Lektüre des Unionsantrages un- sachlich nicht zu. Ich beschäftige mich zwar nicht täg- vermeidlich der Eindruck aufdrängt, dass dieses Be-lich mit diesem Thema – das muss ich hinzufügen –, kenntnis zu geschichtlicher Verantwortung nunmehr aber ich habe mich sehr sorgfältig auf diese Debatte vor- relativiert werden und die Bewertung historischer Ver- bereitet. antwortung massiv verändert werden soll. Ansonsten Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, das zum hätte Ihr Antrag zumindest anders begründet werden1. Januar 1993 aufgehoben worden ist, ist gerade als müssen. Folge der Tatsache zustande gekommen, dass in der Re- Unabhängig von der Frage der Kriegsschuld, wie Sie gel jene ausländische Staaten, die Kriegsgefangene zu es in Ihrem Antrag versuchen, kann man dieses Thema schwerer Arbeit eingesetzt haben, diesen keinen nen- nun einmal nicht behandeln. Ich erlaube mir, den Kolle- nenswerten Geldbetrag mit auf ihren Weg zurück in die gen Hohmann zu zitieren. In einer Rede aus Bundesrepublik dem gegeben haben. Jahre 2001 sagte er mit Blick auf die Stiftung „Erinne- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: rung, Verantwortung und Zukunft“ – ich glaube, völlig Das sind doch keine Kriegsgefangenen!) (B) zu Recht –, dass Deutschland und die deutsche Wirt- (D) schaft eben nicht aufgrund rechtlicher, sondern aufgrund Das war der Grund für das Zustandekommen des politisch-moralischer Verpflichtung Entschädigung leis- Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes. Darin ist ge- ten. regelt worden, dass je nach Dauer der Haft bis zu 12 000 DM als Entschädigung und Hilfe für die Wieder- Gleichwohl – das will ich hier zusichern – werden wir eingliederung in ein – in Anführungsstrichen – „norma- im Innenausschuss Gelegenheit haben, Ihren Antrag im les“ Leben in Deutschland gewährt werden sollen. Detail sachlich zu beraten. Wir werden dabei allerdings seitens der SPD darauf achten, dass wir allen Versuchen Mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erin- zur Umdeutung unserer schwierigen Geschichte mitnerung, Verantwortung und Zukunft“ – Sie waren da- Nachdruck entgegentreten. mals Berichterstatter, haben sich aber am Ende gemein- sam mit 30 Abgeordneten der Union nicht dazu in der Präsident Wolfgang Thierse: Lage gesehen, das Gesetz mit zu verabschieden – haben wir die Konsequenz aus dem Fall des Eisernen Vorhangs Herr Kollege Edathy, der Kollege Hohmann möchte 1989/1990 gezogen, indem wir den vielen betroffenen Sie auch noch etwas fragen. Wollen Sie das zulassenMenschen in Osteuropa, denen wir keine direkte und un- oder nicht? mittelbare Hilfe gewähren konnten, eine Anerkennung von Deutschen für in Deutschland erlittenes Leid als Sebastian Edathy (SPD): späte Wiedergutmachung zukommen lassen wollten. Da- Ich halte das jetzt nicht für unbedingt erforderlich,mit hat Deutschland im Sinne der Wahrnehmung von weil ich zum Ende meiner Rede kommen möchte. Aber historischer Verantwortung Stellung bezogen. Herr Hohmann soll die Gelegenheit haben, als Berichter- Herr Hohmann, ich will an dieser Stelle auf einen statter der Union hier seine Frage zu stellen. Punkt zu sprechen kommen, in dem wir als Demokraten Gemeinsamkeit wahren sollten. Ich meine, wir wären Martin Hohmann (CDU/CSU): gut beraten, uns darauf zu verständigen. Darauf möchte Herr Kollege Edathy, stimmen Sie mir darin zu, dass ich zum Schluss meiner Rede zu sprechen kommen. der Sachverhalt doch etwas anders ist? Denn wir müssen (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ genau sein. In § 3 des Kriegsgefangenenentschädigungs- CSU]: Dann mach’s doch!) gesetzes war geregelt, dass die Entschädigung, die da- mals bei 1 DM pro Tag Lagerhaft lag, die Freiheitsent- Meine Mutter ist gebürtige Schwerinerin. Sie ist auf ziehung und die Arbeitsleistung abdecken sollte. Es war einem Bauernhof groß geworden und hatte drei Brüder, 4102 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Sebastian Edathy (A) einen jüngeren und zwei ältere. Die beiden älteren Brü- Es bleibt aber festzuhalten, dass Zwangsarbeit für je- (C) der sind im Krieg gefallen. Der Bauernhof meiner Groß- den Betroffenen ein schweres Schicksal ist. Deswegen eltern ist ihnen weggenommen worden. Sie sind zwei, ist es jetzt, nachdem wir die Stiftung „Erinnerung, Ver- drei Jahre später aus Gram gestorben. Sie hatten den In- antwortung und Zukunft“ vor drei Jahren ins Leben ge- halt ihres Lebens verloren. rufen haben, durchaus angebracht, über die Frage, die heute von der Union aufgeworfen worden ist, sachlich Ich habe mit meinem Onkel, dem jüngeren Bruderzu diskutieren. Das, was Kollege Edathy über die Ver- meiner Mutter – kein Akademiker, sondern ein einfacher antwortung des Nationalsozialismus und des Deutschen Mann; ein Arbeiter, der in einer Fabrik Teile zusammen- Reiches für die Leiden, die durch den Zweiten Weltkrieg geschraubt hat –, sehr oft über dieses Leid meiner Fami- entstanden sind, gesagt hat, ist zwar richtig, betrifft aber lie mütterlicherseits gesprochen. Er hat immer wieder wiederum nur einen Teilaspekt des Problems. Gerade gesagt: Wir haben schweres Leid erlitten. Er hat aberwegen der ursächlichen Verantwortung der Nazis wäre auch immer wieder gesagt: Die Verantwortung für dieses es tatsächlich inopportun, wenn nun die Bundesrepublik Leid können wir nicht den Russen zuschieben. Die Ver- Deutschland an andere Staaten mit der Forderung nach antwortung für dieses Leid liegt vielmehr bei uns selbst, Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter herantreten beim deutschen Volk, weil wir es zugelassen haben, dass würde. Das schließt aber nicht aus, dass wir im Namen ein Verbrecher wie Adolf Hitler nicht nur unser Land, der Bundesrepublik Deutschland das Leid, das auch sondern fast die ganze Welt ins Unglück gestürzt hat. deutsche Zwangsarbeiter erdulden mussten, benennen, Ich glaube, wenn wir uns wieder auf diesen Punkt be- anerkennen und finanziell entschädigen. sinnen, Herr Hohmann, dann kommen wir zu einer sach- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lich angemessenen Debatte, die frei von Polemik ist. Deswegen wird die FDP in den weiteren parlamenta- Vielen Dank. rischen Beratungen dem Antrag der Union im Grundsatz folgen. Freilich gibt es etliche Einzelfragen zu klären. So (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muss vom Bundesfinanzministerium genau dargelegt DIE GRÜNEN) werden, ob die Zahlungen, die der betreffende Personen- kreis schon erhalten hat, Eingliederungshilfen sind, die Präsident Wolfgang Thierse: dem Charakter nach nicht dazu dienten, Zwangsarbeit Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, – und sei es nur symbolisch – anzuerkennen. Es muss das Wort. des Weiteren geklärt werden, ob sich aus einem entspre- chenden Beschluss unerwünschte Präjudizwirkungen er- geben können. Die Kriegsfolgengesetzgebung ist ja an (D) (B) Dr. Max Stadler (FDP): sich abgeschlossen. Schließlich müssen wir darüber Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nachdenken, ob Zwangsarbeit nur dann entschädigt wer- ren! Ich möchte gern die Mahnung des Kollegen Edathy den soll, wenn sie mit zusätzlichen Erschwernissen ver- aufgreifen und jede Polemik unterlassen. Herr Kollege bunden war. So ist das in den Entschädigungsregelungen Edathy, wenn Sie aber behaupten, der vorliegende An- festgelegt, nach denen die Stiftung „Erinnerung, Verant- trag der Union komme 50 Jahre zu spät, dann muss ich wortung und Zukunft“ verfährt. Ihnen sagen, dass das nicht ganz richtig ist; denn wir ha- Wenn all diese Fragen befriedigend beantwortet sind, ben die gesamte Zwangsarbeiterdebatte 50 Jahre zu spät dann kann dem vorliegenden Antrag der Union ohne geführt. Wir sind außerdem nicht wegen des Falls des jede Polemik näher getreten werden. Eisernen Vorhangs zu einer Regelung der Entschädigung von Zwangsarbeitern gekommen. Das war nur ein Teil- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aspekt. Übrigens wollte Ihre Bundesregierung polnische Zwangsarbeiter davon ausnehmen. Diese wurden – Kol- Präsident Wolfgang Thierse: lege Beck weiß das sicherlich noch genau – erst nach Verhandlungen einbezogen. Nun hat Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort. Es hatte ganz andere Ursachen, dass der Deutsche Bundestag vor drei Jahren – viel zu spät! – das unsägli- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE che Leid, das den Zwangsarbeitern unter den National- GRÜNEN): sozialisten angetan wurde, mit einer symbolischen Ent- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- schädigungsleistung anerkannt hat. Ich möchte das jetzt lege Hohmann, Sie haben versucht – ich habe das eigent- nicht im Detail darstellen. Aber das ist wichtig für den lich auch erwartet –, die Debatte nach altem Muster zu heutigen Zusammenhang; denn schon in der damaligen polarisieren. Ich glaube, dass Sie Ihr Ziel nur so errei- Debatte hatten der Kollege Hohmann und andere Abge- chen können. Sie sollten aber aufgrund der Reden, die ordnete in der Tat versucht, im selben Atemzug über die ich zum Beispiel über das Heimkehrergesetz gehalten Frage der Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter – das habe, die Erfahrung gemacht haben, dass die von Ihnen ist das heutige Thema – zu diskutieren. Das habe ich na- beabsichtigte Polarisierung gerade bei meiner Person mens der FDP heftig kritisiert, weil die Gefahr bestand, nicht funktioniert. dass wir dadurch falsche historische Parallelen gezogen hätten. Das war nicht angemessen und nicht der richtige Sie haben den Grünen pauschal eine nationale Ich- Zeitpunkt. Schwäche vorgeworfen. Die Grünen als Gruppe, also die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4103

Silke Stokar von Neuforn (A) vielen Menschen, die in dieser Partei sind, haben Ihrer bei Regelungen zur Kriegsfolgenentschädigung ging. Ich (C) Meinung nach eine nationale Ich-Schwäche. habe festgestellt: Es war kein Versehen. Es war kein handwerklicher Fehler. Er hat damals gesagt: Es gibt Ich möchte versuchen, etwas zu meinem Begriff von keine Einzelfallgerechtigkeit. – Er hat damals gesagt: Es Heimat und zu meinem Begriff von Heimatverbunden- war richtig, keine Sondertatbestände aufzunehmen. – Er heit sagen. Das war für mich ein wichtiger Grund, Mit- hat damals als CDU-Bundeskanzler einen Satz gesagt, glied der Grünen zu werden, weil nämlich gerade der Er- den ich für sehr falsch und für zynisch halte: Wir wollen halt der Umwelt für mich ein Ausdruck tiefer investieren in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Heimatverbundenheit ist. Heimat hat für mich nichts mit Ideologie zu tun, sondern hat für mich etwas mit meiner Nachdem Sie jahrelang nur „Schlussstrichgesetze“ Heimatinsel Fehmarn, mit der Landschaft und den Men- – das gilt auch für das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz schen, die mir wichtig sind, zu tun. Es hat aber ebenvon 1992 – gemacht haben, bin ich froh, dass Rot-Grün nichts mit einer bestimmten politischen Ausrichtung und erkannt hat: Jawohl, es gibt noch Gerechtigkeitslücken; der nationalen Identität – Sie versuchen, in diese Debat- es gibt noch Opfer. Aus genau diesem Grunde haben wir ten immer wieder diesen Begriff einzubringen – zu tun. damals diese Stiftung ins Leben gerufen. Vorwürfe kön- Für mich stellt den wesentlichen Konsens, den wir alle nen wir Ihnen und nicht Sie uns machen. hier haben, und zwar Deutsche, Zugezogene, auch mein Danke schön. Kollege Josef Winkler, der sich heute in der Zuwande- rungsdebatte geäußert hat und erkennbar indischer Her- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kunft ist, unser Grundgesetz dar – das steht für mich und bei der SPD) auch für die Stabilität unserer Nachkriegsdemokratie –, unsere Verfassung, die – das merkt man in den innenpo- Präsident Wolfgang Thierse: litischen Debatten – Ihnen nicht mehr viel wert ist. Die Grundwerte unserer Verfassung beschreiben für mich Ich schließe die Aussprache. den Konsens, der bindend ist. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf Drucksache 15/924 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Ich denke, dass gerade auch meine Partei – ich möchte einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- hier zum Beispiel an Antje Vollmer erinnern – mit dersung so beschlossen. Aufarbeitung der Schuld des Nationalsozialismus über- haupt erst den Boden für diese Debatte bereitet hat. Ich Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf: gehöre zu dieser Generation. Die Karriere meines Groß- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter (B) vaters vom Polizeibeamten zum Major des Reichssicher- Gauweiler, Günter Nooke, (Bre- (D) heitsdienstes hat mich sehr beeindruckt. Ich habe mich men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion mit dieser Biografie aus meiner Familie viele Jahre be- der CDU/CSU fasst. Ich habe mich auch mit dem Trauma befasst, das meine Mutter erlitten hat, als sie die Dresdner Bomben- Gedenken an die Opfer des Bombenkriegs im nächte erleben musste. Versuchen Sie nicht, hier so zu Zweiten Weltkrieg tun, als wäre die Definition unserer Geschichte in Ihrer – Drucksache 15/986 – Partei gut untergebracht. Überweisungsvorschlag: Meine Partei hat gerade mit derAufarbeitung der Ausschuss für Kultur und Medien (f) Schuldfrage Auswärtiger Ausschuss , die wir gegen unsere Eltern durchsetzen Innenausschuss mussten, erst den Boden dafür bereitet, dass wir heute – ich Verteidigungsausschuss begrüße das; ich habe das auch in der letzten Debatte ge- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sagt – offen über deutsche Opfer reden können. Die Ta- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die buisierung der deutschen Opfer konnte erst beendet wer- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre den, nachdem es in der Gesellschaft eine Anerkennung keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. der deutschen Schuld gegeben hatte. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, genau dieses Verhältnis müs- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen sen wir sehen: Aus der Anerkennung der deutschenPeter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Schuld entwickelt sich bei uns im Lande eine freie De- batte auch zu den deutschen Opfern. Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): (Martin Hohmann [CDU/CSU]: Dann tun Sie Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und was für die!) Herren! Diese Debatte geht fast nahtlos von dem vorhe- rigen historischen Gesichtspunkt zu einem anderen über. Auf dieser Ebene können wir eine Diskussion über Op- Ein Kapitel des Koalitionsvertrags dieser Regierung, fer und Schuld führen. dessen Kanzler der 15. Deutsche Bundestag gewählt hat, In der Bewertung Ihres Antrags schließe ich michträgt die Überschrift „Moderne Gesellschaftspolitik“. In meinem Kollegen Edathy an. Ich möchte Sie einfach nur diesem Kapitel ist der Begriff „Erinnerungskultur“ zwar um etwas bitten: Lesen Siedoch bitte einmal die Rede nicht erfunden, aber wieder aufgebracht worden. Damit Ihres ehemaligen Bundeskanzlers Kiesinger nach, die er verbunden stellen sich zwei Fragen. Zum einen: Wie 1966 gehalten hat, als es um die Verlängerung der Frist transportiert unsere Kulturnation Erinnerungen? Zum 4104 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Dr. Peter Gauweiler (A) anderen: Wie lassen sich diese Erinnerungen kulturell Krefeld: 1 056 Tote; 29. Juni Köln: 4 380 Tote; 28. Juli (C) gestalten, pflegen und reflexiv verarbeiten? 1943 Hamburg: 45 000 Tote. Wir haben von dem Herrn Kollegen Edathy vorhin zu Warum hat Günter Grass sein Buch „Im Krebsgang“ Recht gehört, dass man Leid nicht aufrechnen soll. Das einen Tabubruch genannt? Er sagte, dass diese Themen ist richtig: Man soll Leid weder aufrechnen noch gegen- zwar in der Geschichte jeder Familie in Deutschland prä- rechnen. sent seien, dass diese Thematik aber in der öffentlichen Wahrnehmung und der damit verbundene Schauder um- In Deutschland gab es um die Weihnachtszeit einegangen würde, als ob es eine verrufene Stelle wäre. Die sehr weit gehende Debatte über das Buch eines Mannes, Frage des Ansprechens hat er in seinem Buch in einem der eher aus Ihrem Lager kommt. Ich meine den linksli- einzigen Satz auf den Punkt gebracht. Die Heldin seines beralen Historiker Jörg Friedrich; sein Buch heißt „Der Buches, Tulla, redet im Danziger Dialekt auf Paul, der Brand“. Es beschäftigt sich mit den Bombardierungen alles über das Schicksal der „Wilhelm Gustloff“ auf- der deutschen Zivilbevölkerung zwischen 1943 undschreiben soll, ein: 1945. In einer Stellungnahme zu diesem Buch und der damit verbundenen Debatte schreibt die „Süddeutsche Wie eisig die See gewesen ist und wie die Kinder- Zeitung“ – auch sie ist einer übertriebenen Distanz zum chen Kopp unter. Das musst Du aufschreiben; das sozialdemokratischen oder rot-grünen Lager unverdäch- bist Du uns schuldig als glücklich Lebender. tig – Folgendes – ich halte das für sehr wichtig –: Das ist unsere Schuldigkeit. Unser schöner, glückli- (Sebastian Edathy [SPD]: Eine Zeitung der cher Streit, den wir in diesem Haus während der Sit- Mitte!) zungswochen täglich führen können, ist das eine; aber die historische Verpflichtung – Herr Kollege, entschuldi- Ein aufgeklärtes Bewusstsein bedarf keiner halbier- gen Sie, ich habe Sie bisher nicht gekannt; aber die Dar- ten Erinnerung. Die Wahrnehmungssperren derstellung der Erlebnisse Ihrer eigenen Familie und Ihrer Nachkriegszeit sind längst aufgehoben. Die eigene Mutter, hat mich berührt – und die Schuldigkeit des Auf- Täterschaft ist weitgehend im historischen Ge-schreibens und des Nicht-vergessen-Lassens trägt der dächtnis der Deutschen verankert. ganze Deutsche Bundestag, die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland. – Das stimmt doch. – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Daher kann die Erinnerung an die eigenen Opfer des Abg. Sebastian Edathy [SPD]) getrost zurückkehren. Die Bundeskulturstiftung – das entspricht ihrem (B) Wer zuerst fragt, wem die Wahrheit nutzen könnte, Auftrag –, zu der sich dieses Haus bekennt, wird in Be- (D) anstatt festzustellen, welche Aussage wahr und welche reichen tätig werden, in denen die Kulturkompetenzen falsch ist, hat sich selbst um jede Glaubwürdigkeit ge- beim Bund liegen. Das sind beispielsweise der interna- bracht. Der Betreffende hat sich von der Tatsachenprü- tionale Kulturaustausch, die Hauptstadtkultur und die fung schon verabschiedet, bevor diese überhaupt begon- Erinnerungskultur. nen hat. Darum geht es. Jeder von Ihnen hat in seiner Abgeordnetenpost jede (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele Woche irgendeine Einladung für einen Erinnerungsmar- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ker der deutschen Geschichte. Ich habe die aus der letzten Der Begriff Erinnerungskultur, Herr Ströbele, wird Woche gesammelt. So bereiten wir im Deutschen Histo- in diesem Hause heute nicht zum ersten Mal benutzt. Bei rischen Museum – das finde ich großartig – eine Ausstel- diesem Tagesordnungspunkt wird er im Zusammenhang lung zur Erinnerung an den Besuch des amerikanischen mit der Bombardierung der Zivilbevölkerung Präsidenten in Kennedy vor. Für das Jahr 2004 sind große 1 000 Städten und Gemeinden, die im April/Mai 1943 Ausstellungen in Vorbereitung, weil sich dann zum begann, verwendet. Wir schreiben heute Anfang90. Mal die Monate Juni, Juli und August 1914 jähren Juni 2003. Es war vor genau 60 Jahren, als es bei denwerden. In dieser Zeit begannen in diesem Hause die De- Luftangriffen der Alliierten zur Zeit der Ruhrschlacht zu batten, die den Ersten Weltkrieg vorbereiten sollten. einem – ich zitiere Herrn Friedrich – „Zivilisations- Aber wir dürfen in dieser Erinnerungskultur doch kei- sprung“ kam. Ich zitiere weiter: nen dunklen Fleck lassen, vor allem nicht in dem Be- In dieser Zeit geriet die Bombardierung zur Mas- reich, der in jeder Familie – ich zitiere Ihren Wahlhelfer senausrottung. Günter Grass – als „Schauder“ vermerkt ist. Dieser Be- reich darf nicht mit einem Tabu belegt werden. Es ist In dieser Woche, der letzten und der vorletzten Woche schlimm genug, dass diese Debatte erst so spät und so vor genau 60 Jahren stieg die Anzahl der Opfer in der so spät am Abend und in so schwacher Besetzung als letzter genannten Ruhrschlacht sprunghaft an. Bis dato waren Punkt im Deutschen Bundestag geführt werden kann. – das war schlimm genug – im Schnitt 500 zivile Opfer Wir können dieses Thema nicht beiseite tun, weil es pro Tag zu beklagen. Bei der Bombardierung der Stadt der politischen Klasse – möglicherweise sogar querfeld- Wuppertal-Barmen starben in der Nacht zum 30. Mai ein – unangenehm ist. Das können wir nicht tun. Dem 3 500 Menschen. In den folgenden Wochen eskalierte müssten Sie sich gemeinsam widersetzen! die Situation weiter, bis zum Höhepunkt, der Operation Gomorrha: 12. Juni Düsseldorf: 1 300 Tote; 22. Juni (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4105

(A) Präsident Wolfgang Thierse: ganz ehrlich: Diese unverhohlene sprachliche Gleich-(C) Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Krüger- stellung mit dem Holocaust ist mir zuwider. Leißner, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Angelika Krüger-Leißner (SPD): Dennoch stellt das Buch sicherlich keine Apologie Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und keinen Revanchismus dar. Dafür bürgt auch der Au- Kollegen! Lassen Sie mich eine Bemerkung machen, be- tor, der zuvor die Verbrechen der Wehrmacht untersucht vor ich auf den Antrag zu sprechen komme. Historische hatte. Es ist vielmehr ein Anstoß für eine wissenschaftli- Debatten im Deutschen Bundestag unterliegen immer ei- che Diskussion, die zu Recht auch in der Öffentlichkeit ner besonderen Problematik. Die Gefahr, dabei eine be- geführt wird und damit ein wichtiger Teil des Umgangs stimmte Sichtweise auf die Geschichte politisch zu in- mit der Geschichte ist. strumentalisieren, ist nicht gering. Besonders groß ist die Sicherlich war es auch Anstoß für die Kollegen der Gefahr dann, wenn es um die Auseinandersetzung mit CDU/CSU, diesen Antrag vorzulegen, in dem sie eine dem Nationalsozialismus und – daraus resultierend – die Konzeption der Bundesregierung fordern, wie auf Frage nach dem Selbstverständnis der Deutschen geht. Bundesebene in angemessener Form der 60. Jahrestag der Zerstörung begangen werden soll. In der Begrün- Ich denke aber, Sensibilität und Vorsicht sind vor al- dung heißt es dazu, es sei sittliche Pflicht der Bundesre- lem dann nötig, wenn es um die Opfer geht. Hier ist eine publik, der Opfer in angemessener Weise zu gedenken. sachliche Sicht geboten, die weder die Trauer verbietet Ich muss zugeben, dass ich mit dem Begriff „sittliche noch eine Positionierung der Deutschen in der Opfer- Pflicht“ einige Probleme habe. Wenn ich ihn richtig ver- rolle ermöglicht und dabei das Leid der anderen verges- stehe, so meinen Sie, es sei unmoralisch, nicht aller Op- sen lässt. fer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Aber erlauben Die Deutschen als Opfer im Zweiten Weltkrieg sind Sie mir in diesem Zusammenhang folgende Erwähnung: in den letzten Jahren zunehmend ins Blickfeld geraten. Die Zerstörung von Dresden, Hamburg und vielen ande- Zunächst hat dieser Umstand die Vertriebenen betroffen. ren deutschen Städten war vor allem Resultat des natio- Ein wichtiger Auslöser – das hat Herr Gauweiler gerade nalsozialistischen Regimes in Deutschland erwähnt – war die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Un- Grass. Ich habe diese Auseinandersetzung mit der Ver- streitig!) treibung und dem Elend, das sie bedeutete, für sehr wichtig gehalten. Auch sie ist ein Teil der deutschen Ge- und sie war Resultat der vorausgegangenen Angriffe auf (B) schichte, ein Teil der Geschichte des Nationalsozialis- Rotterdam und Coventry. (D) mus und des Leids, das diese Diktatur brachte. Dies muss beim Gedenken bedacht werden. Dann Aus diesem Gedächtnis heraus ist die Ablehnung des – da gebe ich Ihnen Recht – ist es eine Pflicht, alle Op- Krieges in Deutschland stärker als in vielen anderenfergruppen in unsere Erinnerungskultur mit einzubezie- Ländern. Das haben wir erst kürzlich beim Irakkrieghen. Auch wenn die Trauer um die Opfer der Bomben- feststellen können. Die Politik der Bundesregierung hat nächte zumeist eine eher stille ist, so findet sie doch statt, diesem Umstand Rechnung getragen. und das schon seit vielen Jahrzehnten. Dass die wissenschaftliche Diskussion diesen Aspekt Was für die Vertriebenen gilt, gilt natürlich auch für des Zweiten Weltkrieges mehr ins öffentliche Interesse die Opfer der verheerenden Bombenangriffe auf Magde- gerückt hat, ist begrüßenswert. Unverständlich ist mir al- burg, Dresden, Hamburg und viele andere Städte inlerdings Ihre Forderung ach n einer Konzeption ausge- Deutschland. Bis zu 600 000 Tote, unzählige Verletzte, rechnet zum 60. Jahrestag. Ich fragte mich zunächst: zerstörte Städte und Kulturgüter, an all das muss manWarum? Ich erinnere mich, dass zum 50. Jahrestag, ei- sich erinnern. All das muss auch Teil der Erinnerungs- nem allgemein doch als wichtiger anerkannten Jubiläum, kultur sein. keine Konzeption gefordert wurde. War das aus Ihrer Im Grunde ist es das auch immer gewesen. Allerdings Sicht damals nicht notwendig oder fanden Sie es nicht fand die Erinnerung häufig im kleineren Kreis statt.richtig, das Ihrer damaligen Bundesregierung anzutra- Auch wenn es schon eine Aufarbeitung in der Litera- gen? tur und in der Wissenschaft gab, so hatte diese inUm einen anderen Vergleich anzubringen: Auch zum Deutschland selten die ganz große Öffentlichkeit. 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 gibt es keine Konzep- tion der Bundesregierung. Das ist sicherlich ein mindes- Auch das von Kollegen Herrn Gauweiler erwähnte tens ebenso relevantes Datum der deutschen Geschichte. Buch „Der Brand“ von Jörg Friedrich hat in letzter Zeit Schauen Sie, was sich in diesen Wochen und Monaten an sicherlich einen neuen Anstoß gegeben, diese Diskus- Aufarbeitung zu diesem Teil der Geschichte getan hat sion wieder zu entfachen. Ich persönlich kann nicht sa- und noch tun wird. gen, dass mir das Buch von Friedrich in jeder Hinsicht zusagt. Ich habe immer ein Problem, wenn die Sprache Bei den Gedenkstätten haben wir eine Konzeption einen Vergleich mit dem Holocaust suggeriert, Luft-vorgelegt, und das zu Recht. Es geschah auch auf schutzbunker zu Krematorien werden und Bombardie- Wunsch der Bundesländer, die um diese Unterstützung rung selbst zum Vernichtungskrieg wird. Ich sage Ihnen und um die finanzielle Hilfe des Bundes gebeten haben 4106 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Angelika Krüger-Leißner (A) und die die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung mit Vergessen wir nicht: Wir haben zwei funktionierende (C) der Bundesregierung gemeinsam wahrnehmen wollen. Museen, nämlich das Deutsche Historische Museum und Die Kulturhoheit der Länder wird dabei von uns selbst- das Haus der Geschichte, und auch das Zeitgeschichtli- verständlich berücksichtigt. che Forum in Leipzig, die sich intensiv mit diesen The- men beschäftigen. Die Konzeption, die Sie mit Ihrem Antrag fordern, ist aus meiner Sicht nicht nötig; denn Sie können selbst Der Antrag suggeriert, es gebe ein Defizit in der Auf- feststellen: Gedenken geschieht allerorts auf vielfältige arbeitung. Wenn wir uns anschauen, was Länder, Kom- Weise und tausendfach. Die Vielzahl an historischenmunen und viele Einrichtungen im Rahmen der Erinne- Ausarbeitungen und die große Menge an Veranstaltun- rungsarbeit tun, dann können wir erkennen, dass wir gen beispielsweise zum 17. Juni zeigen, dass sich dienicht skeptisch zu werden brauchen. Es ist vieles auf den Menschen ihr Erinnern selber schaffen. Sie haben Orte Weg gebracht. Ich würde eher fürchten, dass die Länder, zum Gedenken und Tage zum Gedenken. Sie können in Kommunen und die Verantwortlichen vor Ort sehr skep- einer Vielzahl historischer Ausarbeitungen Fakten und tisch werden, würden wir jetzt als Akteure auftreten. Meinungen über ihre Geschichte nachlesen. Was hier für Ich halte es für gefährlich, wenn es zu einer Form des den 17. Juni gilt, gilt ebenso für die Bombenangriffe auf Gedenkens führt, die Apologien und Aufrechnung der Deutschland. Opfer ermöglicht. Ich will dies dem Antrag nicht unter- stellen. Das nationale Gedenken darf aber nie Basis für Gerade in der Nachkriegszeit fand eine starke Ausei- einen neuen Nationalismus werden. Trauer um die Opfer nandersetzung mit den Opfern statt. Diese Erinnerungs- kann nie ohne Erkennen der Gründe geschehen. Dresden kultur schließt Vertriebene und Bombenopfer ein. Wir und Hamburg können nie ohneCoventry und Rotterdam haben ihr Leid in unser kollektives Gedächtnis mit auf- gedacht werden. Darüber sollte zwischen uns Einigkeit genommen. Ich erinnere daran: Es gibt einen Tag des bestehen. Auf keinen Fall dürfen wir die Opfer gegenei- Gedenkens, den Volkstrauertag, an dem in angemesse- nander ausspielen oder gar aufrechnen. Wir müssen mit ner Weise aller Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht den Empfindungen der Generation der Leidtragenden wird. Das hat auch der damalige Bundespräsident verantwortungsvoll umgehen. Roman Herzog in seiner Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus 1996 deutlich hervorge- Werte Kollegen der CDU/CSU, Ihre Forderung in hoben. diesem Antrag nach einer großen nationalen Aktion ist angesichts des in der Erinnerungskultur Erreichten nicht Es gibt viele Gedenkorte, die alle zum Gedenken an angemessen. Unser kollektives Gedächtnis, das geprägt die Opfer der Bombenkriege geeignet sind. An denist vom Wissen um die Vergangenheit und der kritischen (B) wichtigsten möchte ich hier besonders erinnern, nämlich Analyse des Geschehens, darf nicht zur Umsetzung einer (D) an die Neue Wache in Berlin, in deren Widmungstext es nationalen Erinnerungspolitik werden. Auch das sind wir heißt: den Opfern schuldig. Wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg Wir müssen die Erinnerung bewahren. Wir müssen und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Ge- auch in Zukunft darauf achten, dass die Mahnung weiter fangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben besteht. Denn das Gedenken an alle Opfer des National- gekommen sind. sozialismus – ob es Juden, ob es politisch Verfolgte, Ver- triebene oder die Bombenopfer sind – garantiert unsere Es gibt viele Veranstaltungen, und das nicht nur zum feste Haltung zur Demokratie. Das ist vor allem eine 60. Jahrestag. In Dresden beispielsweise laden jährlich menschliche und keine nationale Aufgabe. mehrere Initiatoren zum „GeDenken 13. Februar“ ein, dem Tag, an dem die Stadt zerstört wurde. Kirchen und Danke. Initiativen sind hier gleichermaßen tätig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben im Jahr 2005 vieler zu gedenken. Ich halte DIE GRÜNEN) es für falsch, eine Opfergruppe aus der Vielzahl heraus- zunehmen und eine staatliche Lenkung des Gedenkens Präsident Wolfgang Thierse: anzustreben. Es geschieht so viel in großen wie in klei- Ich erteile Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-Frak- nen Städten. Überall ist die Erinnerung an die Zerstörun- tion, das Wort. gen noch da und vielfach ist im Stadtbild das Leid noch spürbar. Diese Erinnerung müssen wir wach halten. Aber Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): eine staatliche Konzeption ist dafür nicht nötig. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Ich finde es wichtig, dass sich private Initiativen, Ver- Frau Kollegin Krüger-Leißner, ich muss gestehen, dass eine, Verbände, Einzelpersonen, Kirchen und vor allen Ihre Rede, die viele kluge und sensible Worte enthielt, Dingen der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei mir ein sehr ambivalentes Gefühl ausgelöst hat. Denn damit befassen und geeignete Formen der Aufarbeitung ich kann auch bei aufmerksamem Zuhören Ihrer Rede nicht und des Gedenkens finden. Eine Einmischung der Bun- verstehen, was dagegen einzuwenden ist, dass wir uns da- desregierung über die Unterstützung von Forschung und rum bemühen, für Hunderttausende von Opfern – ich be- Initiativen zu diesem Thema hinaus halte ich sogar für tone: Opfern – eine angemessene Form des Gedenken kontraproduktiv. zu finden. Wir sind uns völlig einig darin, dass ein sol- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4107

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) ches Gedenken nicht in Nationalismus abgleiten darf. Es Vielen Dank. (C) darf nicht aufgerechnet werden. Es muss auch klar sein, wer Täter und wer Opfer war. Aber wir sprechen hier – um (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) das ganz klar zu sagen – über Hunderttausende Getötete, vorwiegend Frauen und Kinder. Präsident Wolfgang Thierse: Wir haben in diesem Hause eine bestimmte Form der Ich erteile Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Erinnerungskultur entwickelt, sodass ich es für nichtBündnis 90/Die Grünen, das Wort. ausreichend empfinde, wenn Sie jetzt sagen: Es gibt doch schon so viele Initiativen; wir brauchen uns daher Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darum nicht mehr zu kümmern; dem kann sich der Deut- NEN): sche Bundestag entziehen. – Das sehe ich nicht so. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind Herr Dr. Gauweiler, der Antrag – wir begrüßen ihn abso- hier nicht im „Literarischen Quartett“. Insoweit beteilige lut – hat einen Mangel, den ich ansprechen möchte – viel- ich mich auch nicht an haarspalterischen Buchbespre- leicht können wir diese Dinge zusammenführen –: Auch chungen. Ich habe das Buch „Der Brand“ gelesen, weil ich bin wie Frau Kollegin Krüger-Leißner der Meinung, es ein provozierendes und radikales Buch ist. Da ich da- dass das Suchen nach einer angemessenen Form eines von ausgehe, dass diejenigen, die sich hier zu diesem solchen Gedenkens nicht primär Aufgabe der Bundesre- Buch geäußert haben, es ebenfalls gelesen haben, war gierung sein sollte. Der Bundestag, wir alle, das Parla-dieser Teil der Debatte für mich durchaus interessant. Ich ment, ist aufgerufen, eine angemessene Form des Geden- habe es als ein radikales Antikriegsbuch empfunden; das kens zu finden, die objektiv und weder nationalistischist meine Bewertung. noch revanchistisch ist. Meine Damen und Herren, ich halte es für richtig, Herr Dr. Gauweiler, ich darf Sie daran erinnern:dass sich die angemessenen Formen einer Erinnerungs- Schon bevor Sie in dieses Haus kamen, haben wir, der kultur aus dem Bundestag heraus entwickeln sollen. Das Bundestag, an einer anderen Stelle, als es um Erinne-gehört in die Fachausschüsse. Den Wiederaufbau der rungskultur ging, einen Erfolg erzielt. Damals ging es Dresdner Frauenkirche – ich habe ihn über die Jahre darum, ein Holocaust-Mahnmal zu errichten. Wir haben verfolgt – empfinde ich als die eindrucksvollste Form die Suche nach einer angemessenen Form aus der Ver- der Erinnerung und Wiedergutmachung, weil dieses antwortung der Bundesregierung gelöst und in die Ver- Symbol der Zerstörung mit großer Unterstützung aus antwortung des Bundestages übertragen. Wir haben frak- Großbritannien, Frankreich und den USA, also aus Län- tionsübergreifend eine, wie ich finde, gute Lösungdern, die an diesem Krieg beteiligt waren, wiedererrich- (B) gefunden. So etwas schwebt mir auch in Bezug auf Ihren tet wird. Wenn wir in den Ausschüssen darüber reden,(D) Antrag vor. Wir sollten die Suche nach einer angemesse- können wir uns vielleicht auch einmal Gedanken ma- nen Form des Gedenkens nicht auf die Bundesregierung chen, die über die deutsche Behandlung der Geschichte abschieben. Wir als Parlament selber haben die Aufgabe, hinausgehen und in denen es darum geht, wie man der eine Erinnerungskultur zu entwikkeln. Wir können uns vielen zivilen Opfer dieser verheerenden Kriege, die es dabei vielleicht der Zuarbeit externer Sachverständiger infolge des deutschen Angriffskriegs in Europa gegeben bedienen; ich denke an eine Anhörung und Ähnliches. hat, gerade im erweiterten Europa gedenken kann. Frau Krüger-Leißner, ich denke nicht daran, große Ich vertrete stets eine Gedenkkultur von unten, die Denkmäler zu errichten. Aber eine angemessene Form sich aus Erleben, aus Betroffenheit entwickelt und sich des Gedenkens sollten wir erreichen. Dies ist, wenn wir in der Begegnung mit anderen Menschen weiterentwi- den Opfern gerecht werden wollen, allerdings nur dann ckelt. Deswegen bin ich auch sehr stolz darauf, dass zu erreichen, wenn wir das fraktionsübergreifend tun, meine Heimatstadt Hannover seit vielen Jahren eine nicht in parteipolitische Polemik abgleiten und uns nicht enge Partnerschaft mit Hiroshima hat. In dieser Partner- wechselseitig unlautere Motive vorwerfen. schaft war es von Anfang an Tradition, dass nicht nur wir Hannoveraner der Opfer von Hiroshima gedachten. Wenn wir das schaffen, dann wäre das in der Tat eine Vielmehr war es ein gegenseitiges Gedenken. Auch große kulturpolitische Leistung, die dem Bundestag sehr Hannover ist im Zweiten Weltkrieg fast komplett zer- gut zu Gesicht stünde. Ich denke, dass wir alle es – egal was stört worden. Insbesondere in den großen industriell ge- in den letzten 60 Jahren passiert oder was hinterlassen wor- prägten Stadtgebieten, in denen die Arbeiter wohnten, den ist – den Hunderttausenden Opfern, die in diesenhat es sehr viele Opfer gegeben. Es war schon frühzeitig Bombennächten ihr Leben haben hergeben müssen,Teil unserer Stadtkultur, dieser Opfer bei gegenseitigen schuldig sind, dass der Bundestag auch dieser Opfer-Besuchen gemeinsam mit den Opfern in Hiroshima zu gruppe gedenkt. gedenken. Den Gedanken des internationalen Geden- kens möchte ich in unsere Debatte einbringen. Deswegen werden wir Ihrem Antrag in den Aus- schüssen prinzipiell zustimmen. Aber ich möchte an die Meine Damen und Herren, auch ich will in dieser De- beiden großen Fraktionen und vielleicht auch an die der batte keine Polarisierung. Im Zusammenhang mit der Grünen appellieren, dass wir hier im Parlament eineZerstörung Dresdens halte ich es für wichtig, die Debatte Konzeption suchen und dies nicht von der Bundesregie- über Militärstrategien einzubeziehen, die derzeit in Eng- rung verlangen. Wir selber sind aufgerufen, eine ange- land geführt wird. Für mich la utet das Ergebnis dieser De- messene Form des Gedenkens zu finden. batte: Auch wenn ein Verteidigungs- und Befreiungskrieg 4108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

Silke Stokar von Neuforn (A) geführt wird, der moralisch gerechtfertigt ist – inrer Identität kann freilich zum ersten Leitprinzip insofern (C) dieser Bewertung sind wir uns sicherlich einig; die Befrei- in Widerspruch geraten, als es gerade vor dem Hinter- ung vom Faschismus war ohne Frage moralisch gerechtfer- grund der Erfahrung des Holocaust den Befreiungskrieg tigt –, kann ein solcher Krieg völkerrechtswidrige Ele-als letztes Mittel – meine Vorredner sprachen davon – mente enthalten. Gerade aufgrund der Erfahrungen, die in nicht ausschließt. Deutschland, aber auch in London mit der Bombardie- rung ziviler Flächen gemacht wurden, ist es heute nicht Obwohl die eigenen Opfer somit in unserem kollekti- mehr möglich, gegen die zivile Bevölkerung in dieser ven Gedächtnis durchaus gegenwärtig waren und sind, Form Krieg zu führen. gibt es dennoch einen guten Grund, dass wir heute da- rüber diskutieren. Unser kollektives Gedächtnis wandelt Mein letzter Satz: Ich ziehe aus dieser Diskussion, die sich mit dem Generationswandel. Wenn wir uns in der ich nie für beendet halte, weil der Opfer immer wieder Runde umschauen, stellt sich die Frage: Wie viele von neu gedacht werden muss, die Lehre, dass ein Einsatz für uns haben den Krieg noch selbst erlebt? Wir haben auch eine europäische Friedenspolitik das Beste ist, was wir auf diesem Gebiet der Erinnerungskultur einen Generati- für die Opfer tun können. onswechsel in der gesamten Gesellschaft. Danke schön. Wenn wir aber nationale Tragödien nicht mehr kraft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN persönlicher Erfahrungen, kraft kollektiver Erinnerungen und bei der SPD) wahrnehmen können, wird die Erinnerung institutionali- siert, wie es auch bei anderen Ereignissen, zum Beispiel bei der Ermordung europäischer Juden, vielfältig ge- Präsident Wolfgang Thierse: schieht. Anderenfalls, wenn wir das nicht machen, droht Ich erteile dem Kollegen Günter Baumann, CDU/in den nächsten Jahren tatsäch lich ein Gedächtnisverlust. CSU-Fraktion, das Wort. Es ist gut, wenn wir um die Toten in anderen Ländern trauern, die dem Krieg zum Opfer fielen, der von Günter Baumann (CDU/CSU): Deutschland ausging. Aber wir dürfen unsere eigenen Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Toten nicht vergessen. Wenn wir auch in Zukunft aus der ren! Seit einiger Zeit läuft in den Medien, in der Öffent- Geschichte lernen wollen, müssen wir uns immer auch lichkeit der Bundesrepublik eine Debatte über die deut- dessen vergewissern, was unserem eigenen Volk durch sche Erinnerungskultur. In deren Zentrum stehen die die Hitlertyrannei widerfahren ist. Zerstörungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg Die Erinnerung an die Opfer von Dresden, Hamburg und die Opfer des Bombenterrors unter der deutschen (B) oder Köln – man könnte viele Städte nennen – zählt zu (D) Zivilbevölkerung. Verstärkt ist dabei der Ruf zu verneh- unserem nationalen Erbe. Die Stadt Dresden – Frau Kriegsopfer men, die Deutschen mögen sich endlich der Stokar, Sie sprachen davon –, deren historisches Zen- aus den eigenen Reihen mehr annehmen, als es bislang trum in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 fast geschehen ist. völlig zerstört worden ist, hat mit dem Wiederaufbau der Ich frage mich, warum wir diese Problematik gerade Frauenkirche unserer Erinnerungskultur ein eindruck- in der heutigen Zeit diskutieren. Ich persönlich glaube volles Denkmal gesetzt. nicht, dass wir unsere eigenen Opfer im Krieg in den Ich vertrete aber die Meinung, dass diese Erinnerung Jahren zuvor mit einem Tabu belegt haben. Jeder von nicht nur den Städten und Gemeinden überlassen werden uns, der nach 1945 geboren ist, kennt Familienschicksale darf, deswegen unser Antrag. Wir fordern die Bundesre- – wir haben heute von einigen gehört –, jeder hat über gierung auf, ein Konzept vorzulegen. Herr Kollege Otto, seine eigene Familiengeschichte etliches gehört, weiß ich gebe Ihnen Recht: Das kann auch der Bundestag sein. von Opfern und ist mit dem Verlust an Heimat konfron- Die Erinnerung soll eine gesamtnationale Aufgabe sein. tiert worden. Das sind Themen, die unsere gesamte deut- sche Nation betreffen. Wenn wir uns hier einigen könnten, wäre das eine Nein, wir leiden nicht an Gedächtnisverlust. Das zeigt gute Sache. auch die politische Debatte, wenn es um existenzielle Vielen Dank. Fragen von Krieg und Frieden geht. Politiker berufen sich oft auf die Grundwerte unserer Bundesrepublik, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sei es bewusst oder unbewusst. Zwei davon möchte ich bei Abgeordneten der SPD) nennen. Der erste lautet: „Nie wieder Krieg“. Damit drücken Präsident Wolfgang Thierse: wir aus, dass wir Deutschen – gerade weil wir auf unse- Ich schließe die Aussprache. rem eigenen Territorium unmittelbar Kriegsopfer waren – die Schrecken des Krieges so gut kennen, dass Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf wir die Verhinderung zukünftiger Kriege als Leitprinzip Drucksache 15/986 an die in der Tagesordnung aufge- unserer Identität annehmen wollen, egal welcher politi- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit schen Richtung wir angehören. einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Der zweite Grundwert lautet:„Nie wieder Dikta- tur“. Das demokratisch-freiheitliche Leitprinzip unse- Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4109

Präsident Wolfgang Thierse (A) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf(C) Brähmig, Ernst Hinsken, Edeltraut Töpfer, weite- Drucksache 15/933 an die in der Tagesordnung aufge- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Wassertourismus in Deutschland entwickeln sung so beschlossen. und stärken – Drucksache 15/933 – Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2003, Sportausschuss 9 Uhr, ein. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ich wünsche Ihnen allen einen kühlen Abend. Die Kollegen Annette Faße, Wilhelm Josef Sebastian, Die Sitzung ist geschlossen. Undine Kurth und Ernst Burgbacher haben ihre Rede- beiträge zu Protokoll gegeben.1) Damit kann ich die Aus- (Schluss: 21.37 Uhr) sprache schließen.

1) Anlage 2

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4111

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Rund 10 000 Kilometer lange Binnenwasserstraßen, zahlreiche reizvolle Seen sowie rund 23 000 Quadrat- kilometer Seewasserstraßen an Nord- und Ostsee ma- entschuldigt bis chen Deutschland zu einem attraktiven Wassersport- und Abgeordnete(r) einschließlich Urlaubsrevier mit zentraler Lage in Europa. Zudem ist es mit den europäischen Nachbarn in Ost und West sowie Altmaier, Peter CDU/CSU 05.06.2003 dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer auf dem Wasserweg verbunden. Hinzu kommen noch viele klei- Braun, Helge CDU/CSU 05.06.2003 nere Flüsse, die nur mit Kanus und Ruderbooten befahr- Bury, Hans Martin SPD 05.06.2003 bar sind. Deittert, Hubert CDU/CSU 05.06.2003* Der Wassertourismus als naturnahe Urlaubsform er- freut sich aufgrund des attraktiven Angebots in Deutsch- Glos, Michael CDU/CSU 05.06.2003 land immer größerer Beliebtheit. Allerdings sind die vielfältigen Möglichkeiten zur touristischen Nutzung des Griefahn, Monika SPD 05.06.2003 Wassers hierzulande bei weitem noch nicht ausge- Grosse-Brömer, Michael CDU/CSU 05.06.2003 schöpft. Zu diesem Fazitkommt die Grundlagenunter- suchung zum Wassertourismus, die vom Bundeswirt- Hartnagel, Anke SPD 05.06.2003 schaftsministerium in Auftrag gegeben wurde und deren Ergebnisse jüngst veröffentlicht worden sind. Hintze, Peter CDU/CSU 05.06.2003

* Die Studie versucht zunächst eine Abgrenzung der Hörster, Joachim CDU/CSU 05.06.2003 verschiedenen Sparten des Wassertourismus vorzuneh- Kauder (Bad Dürrheim), CDU/CSU 05.06.2003 men. Untersucht hat sie insbesondere den Wassertouris- Siegfried mus im engeren Sinne. Dazu gehören Wasserwandern, wie zum Beispiel der Kanutourismus, Segeln, Motor- Kramme, Anette SPD 05.06.2003 bootfahren, Bootchartertourismus, Surfen, Wasserski, Lintner, Eduard CDU/CSU 05.06.2003* Tauchen, Angeln, Fischen und auch Trendsportarten wie Rafting oder Canyoning. Natürlich sind auch alle Spar- ten der Schifffahrt Teil des Wassertourismus. Insbeson- (B) Möllemann, Jürgen W. fraktionslos 05.06.2003 (D) dere Hochsee- und Flusskreuzfahrten liegen im Trend Neumann (Bramsche), SPD 05.06.2003 und verzeichnen steigende Gästezahlen. Bei den Fluss- Volker kreuzfahrten war im Jahr 2002 ein Umsatz von 265 Mil- Raidel, Hans CDU/CSU 05.06.2003* lionen Euro zu verzeichnen. Dies entspricht einer Steige- rung von 200 Prozent gegenüber 1995. Schröder, Gerhard SPD 05.06.2003 Zum Wassertourismus im weiteren Sinne rechnet man Dr. Uhl, Hans-Jürgen SPD 05.06.2003 alle Aktivitäten am Wasser, wie beispielsweise Strand- und Campingtourismus, Strandsport, Ruderbootverleihe Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 05.06.2003 und vieles mehr. Maritime Großveranstaltungen, Werf- Margareta DIE GRÜNEN tenbesichtigungen oder Schifffahrtsmuseen bezeichnet die Studie als „mit dem Wassertourismus verbundene * für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union Segmente“. Die Segmente des Wassertourismus sind also sehr vielfältig. Dies macht eine allgemeingültige Definition und die Erfassung der Daten so schwierig. Anlage 2 Eine gezielte Förderung des Wassertourismus – so das Ergebnis der Studie – trägt zum Ausbau des Tourismus Zu Protokoll gegebene Reden sowie zur Stärkung der touristischen Wettbewerbsfähig- zur Beratung über den Antrag: Wassertouris- keit Deutschlands innerhalb der europäischen Konkur- mus in Deutschland entwickeln und stärken renz bei. (Tagesordnungspunkt 17) Damit wird die Bundesregierung in ihrem Handeln bestätigt, die den Wassertourismus als wichtiges Markt- Annette Faße (SPD): Es ist Sommer und die Ferien- segment längst erkannt hat. So hat die Bundesregierung zeit steht vor der Tür. Auch in diesem Jahr werden wie- bereits 1999 den Wassertourismus in ihren tourismuspo- der Millionen Deutsche ins europäische Ausland reisen litischen Bericht einfließen lassen. Neben der wirtschaft- oder auch weiter, um Sonne und Meer zu genießen und lichen Bedeutung dieses touristischen Segments wird da- sich am Strand zu erholen. Dabei wird noch allzu oftrin auf die finanzielle Beteiligung des Bundes an der vergessen, dass wir direkt vor der Haustür zahlreicheSubstanzerhaltung der ostdeutschen Wassersportreviere Möglichkeiten haben, Urlaub auf, am und im Wasser zu sowie auf die Vereinfachung gesetzlicher Regelungen verbringen. hingewiesen. 4112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Auf deutschen Gewässern gelten eine Vielzahl von Orientierung und Hilfe bei der Planung und Umsetzung (C) gesetzlichen Bestimmungen, die für touristische Nutzer muss zunächst eine bundesweite einheitliche Erfassung und insbesondere Laien kaum durchschaubar sind. Ins- und Bewertung der wassertouristischen Infrastruktur besondere das Nutzungsrecht für deutsche Wasserstra- vorgenommen werden. ßen ist sehr komplex. Landesweite Entwicklungskonzepte gibt es bisher nur Daher hat der Bundesverkehrsminister im Jahr 2000 in fünf Bundesländern: Berlin, , Mecklen- die so genannte Charterscheinregelung eingeführt. Der burg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen- auf drei Jahre befristete Feldversuch beschränkt sich auf Anhalt. Der Grund liegt in den ungleichen naturräumli- das Gebiet von der Müritz-Elde-Wasserstraße über den chen Voraussetzungen der einzelnen Bundesländer. Den- Plauer See und die Stör-Wasserstraße bis zur Müritz-noch ist der Wassertourismus für alle Bundesländer ein Wasserstraße und die Obere-Havel-Wasserstraße. Dane- Thema. Daher ist eine länderübergreifende Kooperation ben ist auch die Saar bis zur deutsch-französischenfür das Marketing unerlässlich. Grenze mit dem Charterschein befahrbar. Der Charter- Weiteren Handlungsbedarf zeigt die Grundlagenun- schein, der sich am französischen Modell orientiert, gilt tersuchung hinsichtlich der zielgruppengerechten Ver- nur für Boote, die kürzer als 13 Meter sind und derenknüpfung wasser- und landseitiger touristischer Ange- Höchstgeschwindigkeit 12 Stundenkilometer im stillen bote auf. Die Region Berlin/Brandenburg bietet sich Wasser nicht überschreitet. beispielsweise hervorragend an, den Wasser- mit dem Der Bundesverkehrsminister hat dem Verkehrsausschuss Städtetourismus zu verbinden. Am Sandstrand Sonnen- unlängst – kurz vor Abschluss des Feldversuchs – einenbaden, mit der Motoryacht die Stadt erkunden, am ersten Ergebnisbericht vorgelegt. Insgesamt kann festge- Abend im Biergarten den Sonnenuntergang am Wasser stellt werden, dass sich das Charterscheinsystem bewährt beobachten. Einen schöneren abwechslungsreicheren hat. Wasser- und Schifffahrtsämter sowie Wasserschutz- Urlaub kann ich mir kaum vorstellen. Dies gibt es eben polizeien bestätigen, dass Führer von Charterbooten vor- nicht nur am Meer oder in Amsterdam. Mit mehreren sichtig fahren und sich rücksichtsvoll verhalten. Unsi- 100 Kilometern schiffbaren Flüssen und Kanälen sowie cherheiten in bestimmten Situationen, wie zum Beispiel sieben Seen liegt Berlin inmitten des größten Wasser- in Schleusen, können durch Ergänzungen bei der forma- sportreviers Europas. lisierten Einweisung behoben werden. Rhein, Neckar, Main, Mosel und Donau liegen eben- Die Einführung des Charterscheins hat die Entwick- falls in landschaftlich schönen Lagen. An ihren Ufern lungschancen des Wassertourismus schon ein gutesgibt es zahlreiche historische Städte, die zum Besichti- Stück vorangebracht. Je nach Größe des Unternehmens gen einladen. Auch hier lässt sich noch reichlich Poten- (B) und des Angebots macht der Anteil der mit Charter-zial erschließen und mit anderen touristischen Angebo- (D) schein vermieteten Boote zwischen 15 und 30 Prozent ten verknüpfen. des Gesamtumsatzes aus. Darüber hinaus sind inzwi- Voraussetzung für die sportliche Nutzung der Wasser- schen auch Auswirkungen für Bootsschulen bemerkbar. straßen ist natürlich deren Instandhaltung. Die Bundesre- Befragungen durch Charterunternehmen haben ergeben, gierung investiert in Bau, Betrieb und Unterhaltung des dass 75 Prozent der Kunden, die ein Boot mit Charter- Wasserstraßennetzes insgesamt jährlich 1,5 Milliarden schein geführt haben, sich im folgenden Herbst ausbil- Euro. den lassen, um den Sportbootführerschein zu erwerben. In der Erschließung historischer, romantischer Kanäle Aufgrund der Erfolge hat das Bundesverkehrsminis- liegt eine weitere Reserve. Ein gutes Beispiel ist der Fi- terium grundsätzlich seine Bereitschaft erklärt, die Rege- nowkanal nordöstlich von Berlin. Er wird seit 1988 ge- lung geographisch auszudehnen. Dazu sollen alle in Be- meinsam mit dem Land Brandenburg grundinstandge- tracht kommenden Wasserstraßen aufgenommen und es setzt. Dazu gehört die denkmalgerechte Wiederherstellung der unternehmerischen Entscheidung überlassen werden, der historischen Schleuse Eberswalde, die im September ob auch kleinere Wasserstraßen im Charterbetrieb ange- 2001 rechtzeitig zu ihrem 170. Geburtstag wieder für den boten werden sollen. Verkehr freigegeben wurde Das Ergebnis sind nachhaltige Anders als in anderen europäischen Urlaubsrevieren, Impulse für die Region. wie in Irland, Frankreich, England oder den Niederlan- Eine andere Verknüpfungsmöglichkeit liegt im Fahr- den, wo der Urlaub mit und auf dem Boot zum festenradtourismus. Radwanderungen an historischen Binnen- touristischen Programm gehört, sind die Möglichkeiten wasserstraßen gewinnen zunehmend an Bedeutung für des Bootsurlaubes in den deutschen Revieren in der Öf- den Fremdenverkehr. Um die Kapazitäten in diesem Be- fentlichkeit noch zu wenig bekannt. Hinsichtlich der Öf- reich noch weiter auszuschöpfen, haben die Regierungs- fentlichkeitsarbeit wird das Themenjahr 2004 der Deut-fraktionen beschlossen, in diesem Jahr erstmals 10 Millio- schen Zentrale für Tourismus „Faszination Wasser – Meere, nen Euro für den Bau von Radwegen an Bundeswasser- Flüsse und Seen in Deutschland“ einen wichtigen Beitrag straßen bereitzustellen. Ähnlich der Deutschen Alleen- leisten können. straße stelle ich mir einen Deutschen Wasserwanderweg sehr reizvoll vor. Auch an dieser Stelle zeigt sich der Be- In erster Linie ist es wichtig, dass es zu einer länderüber- darf an länderübergreifender Kooperation. greifenden Angebotsgestaltung und zu einer bundesweiten Abstimmung der bisher fast ausschließlich auf Landes- 6,3 Millionen deutsche Wassersportler und ein Um- ebene durchgeführten Marketingaktivitäten kommt. Alssatz von 1,67 Milliarden Euro lassen darauf schließen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4113

(A) dass der Wassertourismus in Deutschland über gute Ent- So lang die Wasserstraßen in Deutschland sind, so(C) wicklungschancen mit beträchtlichem Wirtschaftpoten- breit ist das Spektrum der Aktivitäten, die wir hier be- zial und Arbeitsplätzen verfügt. Die rot-grüne Bundesre- trachten wollen. Zum einen verknüpfen wir alles das da- gierung wird dieses touristische Marktsegment dahermit, was an sportlicher Aktivität auf und im Wasser weiter fördern, um seine Potenziale voll zu erschließen. möglich ist: Kanusport, Motorbootfahren, Segeln, Dabei werden wir darauf achten, dass die notwendige Surfen, Wasserski, Tauchen, Angeln, Fischen und Balance zwischen Naturschutz und Wassersport gewahrt auch die Trendsportarten der letzten Jahre wie Rafting bleibt. Dies liegt auch im wirtschaftlichen Interesse.und Canyoning. Der andere große Bereich ist der der Schließlich wollen die Wasserurlauber einen naturnahen Schifffahrt, die in verschiedenster Ausprägung die Frei- Urlaub erleben. zeitgestaltung der Menschen prägt, angefangen von der Die Wassertourismus-Studie zeigt eine Reihe vongroßen Flusskreuzschifffahrt über die Fahrgastschifffahrt Handlungsmöglichkeiten auf, deren Umsetzung wir nun bis hin zur Fährschifffahrt. prüfen müssen. Zu diesem Zweck haben die Regierungs- Wenn man diese Aktivitäten alle anspricht, so muss fraktionen eine öffentliche Anhörung zum Thema „Was- man vor allem eines feststellen: Es gibt in Deutschland sertourismus“ beantragt. Diese wird am 2. Juli stattfin- bereits zahlreiche und erfolgreiche Konzeptionen und den und Wassersportverbänden, Reedereien usw. dieProgramme, die aber in Form von bundeslandweiten Möglichkeit geben, ihre Erfahrung und Vorschläge mit Konzepten oder Untersuchungen vorliegen. Vor allem in einzubringen. den neuen Bundesländern und in Norddeutschland exis- Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Anhörung erst tieren breit angelegte Grundlagen zur Ausnutzung und abwarten und auswerten; denn sie wird sicherlich noch Gestaltung der Ressourcen. weitere wichtige Erkenntnisse bringen. Leider hat die Es kann Sie nicht überraschen, dass ich an dieser Opposition darauf bestanden, ihren Antrag heute zu be- Stelle auch die kurz nach Stellung unseres heute zur De- raten. Obwohl wir uns ja scheinbar einig sind; denn au- batte stehenden Antrages erschienene Grundlagenstudie ßer den Faziten der Grundlagenuntersuchung konnte ich „Wassertourismus“ gerne mit heranziehe. Die Hambur- keine neuen Aspekte finden. Aber gut, so leisten wir hier ger Messe- und Congress GmbH hat mit mit dem Deut- einen nicht unwichtigen Beitrag zur Öffentlichkeits-schen Tourismusverband unter Förderung des Bundes- arbeit. ministers für Wirtschaft und Arbeit eine wichtige Untersuchung vorgelegt, die die Situation analysiert so- Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Heute bera- wie kurz-, mittel- und langfristige Handlungsvorschläge ten wir einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterbreitet, die sich weitestgehend auch mit unseren (B) zum Thema „Wassertourismus in Deutschland“. Vorstellungen decken. (D) Es ist unser Anliegen, auf die Bedeutung dieses äu- Sicherlich darf ich vor diesem Hintergrund davon ßerst breit gefächerten touristischen Segments aufmerk- ausgehen, dass uns alle über die Fraktionsgrenzen hin- sam zu machen. Es ist aber auch unser Anliegen, dieweg die Überzeugung eint, dass dieses Thema für uns Handlungsmöglichkeiten des Bundes in diesem Bereich alle wichtig ist und wir in diesem Bereich auch als Bund aufzuzeigen und geeignete Maßnahmen anzuregen, um etwas tun müssen und sollten. dem Wassertourismus in Deutschland zu einer höheren Bedeutung zu verhelfen, eine bessere Koordination und Gerne zitiere ich aus dieser Studie an dieser Stelle: Verknüpfung der Einzelmaßnahmen in den Bundeslän- „Insbesondere die wassertouristischen Initiativen dern und Regionen zu ermöglichen und den Wasser- zeigen deutlich, worauf es jetzt und zukünftig im sportbereich in Deutschland zu einem postiven Image- Wassertourismus ankommt: auf die Verknüpfung faktor für unser gesamtes Land zu machen. wasser- und landseitiger Angebote und die Stär- In ökonomischen Begriffen ist die so genannte Erst- kung von Kooperationen über alle Handlungsebe- ausstattung ein wesentliches Merkmal der internationa- nen und wassertouristisch relevanten Akteure hin- len Arbeitsteilung und ein wesentlicher Faktor dafür, wo aus. Dahinter steht die Erkenntnis, dass etwas am effektivsten produziert werden kann. Vor un- Wassertourismus mehr ist, als das reine Wasser- serem heutigen konkreten Hintergrund kann man die sporterlebnis auf dem Wasser.“ „natürliche Erstausstattung“ Deutschlands für das Pro- Auch die Studie sagt übrigens, dass alle vorliegenden, dukt Wassertourismus als hervorragend bezeichnen, prä- bundeslandweiten wassertouristischen Entwicklungs- destiniert dafür, auch international eine herausragende konzepte als „vorbildlich“ bezeichnet werden können. Rolle zu spielen. In Europa gibt es schiffbare Binnenge- Die Vernetzung diese guten Einzelansätze scheint als wässer in einer Länge von etwa 40 000 Kilometern. Das nächster Schritt daher einfach auf der Hand zu liegen. 10 000 Kilometer lange Netz von Bundes- oder Landes- wasserstraßen in Deutschland ergänzt um eine geogra- „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot alleine“. Über- phisch breit gestreute Seenlandschaft sowie schließlich setzen wir dies einmal in unsere Begriffe der heutigen 23 000 Quadratkilometern an Seewasserstraßen Debatte, an so muss man feststellen, dass Wassertourismus Nord- und Ostsee liegt nicht nur räumlich inmitten die- nicht nur vom Wasser alleine leben kann. Es reicht heute ser europäischen Struktur, es kann auch im übertragenen nicht, die geeignete Wasserfläche oder -strecke anzubie- Sinne Zentrum einer entwicklungsfähigen Wachstums- ten; es muss immer eine Infrastruktur an Land geschaf- branche sein. fen werden, die die Aktivität umrahmt. Vielleicht ist der 4114 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) Flusskreuzfahrer noch halbwegs autonom, aber insbe- Deutschland sehr schwer, ein Boot zu chartern und zu(C) sondere Boote brauchen Anlegestellen, Rastplätze, sani- führen. Es muss denkbar sein, hier eine Vereinfachung täre Anlagen an Land, Tank- und Entsorgungsmöglich- herbeizuführen. Der laufende Pilotversuch in einigen keiten oder auch Restauration und Hotellerie. Bundesländern zur Einführung eines Charterscheines scheint ja positve Ergebnisse zu zeigen, sodass wir auf Wir müssen uns verdeutlichen, dass die Hemm-diesem eingeschlagenen Weg eine neue Regelung treffen schwelle, wassertouristische Angebote anzunehmen,sollten. deutlich sinkt, wenn eine Infrastruktur „drumherum“ ge- schaffen wird, die den Menschen etwa die Frage beant- Ein wesentliches Thema ist natürlich das Außenmar- wortet: Wo ruhe ich mich aus? Wo esse ich? Wo schlafe keting für eine Vielzahl von verknüpften Angeboten: So ich? Wenn wir heute einerseits darüber klagen, dass die wie es Sinn macht, dass nicht jeder kleinere Kurort oder Binnennachfrage stagniert und andererseits wissen, dass eine einzelne Touristenattraktion selbst ein breites Au- der Umfang der Freizeit steigt und deren Gestaltung für ßenmarketing betreibt, sondern dies auf höherer Ebene die Menschen wichtiger wird, was anderes kann unsbündelt, so macht es sicher auch Sinn, Wassertourismus dann einfallen, als durch Schaffung von Rahmenbedin- in Deutschland koordiniert darzustellen und zu vermark- gungen die Nachfrage nach Tourismusdienstleistungen ten. in Deutschland durch Deutsche anzukurbeln? Wenn dann auch noch ausländische Gäste aufmerksam werden Ich hoffe, dass wir vor dem Hintergrund der von mir und zu uns kommen: umso besser! Ein florierender Was- zitierten Studie und auf der Basis unseres Antrages einen sertourismus in Deutschland kann wichtige Wachstums- gemeinsamen Ansatz finden, um wichtige und lohnens- impulse für verschiedenen Branchen geben: angefangen werte Wege zur Förderung des Wassersports in Deutsch- von den Bootsbauern und den Sportartikelherstellern bis land beschreiten. Die vereinbarte Anhörung im Touris- hin zu Reiseveranstaltern, Gastronomie und Hotellerie. musausschuss wird uns in Kürze sicher noch weitere wertvolle Hinweise geben. Man sollte die Dimension dieser Ausgabeströme nicht unterschätzen. So wird das Potenzial der Interessenten für Surfen auf 1,2 bis 3,8 Millionen Deutsche geschätzt, Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE beim Kanufahren auf 1,2 bis 1,4 Millionen und bei den GRÜNEN): Mit etwa 6,4 Millionen Menschen, die sich Tauchern auf 1,2 bis 3,2 Millionen. Es ist klar, dass die- zumindest gelegentlich auf, im oder unter Wasser befin- ses gesamte Potenzial nicht auszuschöpfen ist und dass den, hat sich der Wassersport längst zu einem Breiten- viele an Wassersport Interessierte auch ins Ausland rei- sport entwickelt. sen, um ihren Interessen nachzugehen. Für Deutschland Die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums (B) jedoch gilt es, sich aus diesem Kuchen ein möglichst (D) großes Stück abzuschneiden, um insbesondere auch at- kürzlich herausgegebene Grundlagenuntersuchung traktive Wochenend- und Kurzreisen ohne große Fahrt- „Wassertourismus in Deutschland“ belegt das große In- strecken im eigenen Land zu ermöglichen. Ich bin jeden- teresse, das wir diesem Tourismussegment zumessen. falls überzeugt, dass man in diesem Bereich das offenbar Der Wassersport gehört zu den besonders naturorientier- latent vorhandene Nachfragepotenzial wecken, aktivie- ten Sportarten. Der enge Kontakt zu einer möglichst un- ren und in Form von realer Nachfrage abrufen kann. berührten Natur besitzt einen hohen Stellenwert. Die Verstädterung und Bewegungsarmut einerseits, die Zu- Wassertourismus in Deutschland ist ein europäisches nahme an Freizeit und Mobilität andererseits führen zu Thema: Wenn ich oben davon sprach, dass Deutschland einer immer stärkeren Nachfrage nach Erholung und eine herausragende Rolle einnehmen kann, so muss dies Sport in der freien Natur. kein krasses Konkurrenzdenken zu Nachbarländern aus- lösen. Im Gegenteil: Nicht nur in Deutschland selbst Mit der wachsenden Zahl der sportlich Aktiven wach- können Angebote verknüpft werden, auch verschiedene sen auch die Ansprüche an die wassersportliche Infra- nationale Angebote können und sollen ineinander über- struktur – aber auch die Konflikte, vor allem mit dem gehen. In den Zeiten, da der ehemalige Ostblock sich ge- Naturschutz. Ihr Antrag spart diesen Aspekt des Wasser- öffnet hat und viele Staaten kurz vor dem Eintritt in den tourismus weitgehend aus, wie er insgesamt trotz seiner gemeinsamen EU-Markt stehen, sollten wir diesen Ge- lobenswerten Kürze bemerkenswert viel Allgemein- danken fördern. Eines unserer zentralen Anliegen ist die plätze enthält. Vielleicht wäre es Ihrem Anliegen doch Schaffung einer Koordinierungsinstanz unter Federfüh- dienlicher gewesen, die im Ausschuss vereinbarte Anhö- rung des Bundes, aber in enger Zusammenarbeit mit den rung mit den Verbänden abzuwarten, statt mit einem Ländern und Tourismusorganisationen. Nicht das Rad Schnellschuss Aktivität weitgehend nur zu suggerieren. neu erfinden, aber eine Vielzahl von Rädern zu einem funktionierenden Räderwerk zu vereinen, dies sollte der Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag die Bundes- Leitgedenke dabei sein. regierung dazu auf, bei Maßnahmen des Natur- und Um- weltschutzes die Belange der Verbände der Wassersport Was wir auch tun sollten – so empfiehlt es uns auch Treibenden angemessen zu berücksichtigen. In meiner die Studie –, ist, für eine weitestgehende Deregulierung Funktion als tourismus- und naturschutzpolitische Spre- der gesetzlichen Vorschriften sorgen, um eine Entfaltung cherin meiner Fraktion möchte ich mich vor allem die- der Aktivitäten der Menschen zu ermöglichen. Eines der sem Aspekt zuwenden, aber nicht ohne vorweg anzu- plausibelsten Beispiele: Ein nach unserer Auffassung zu merken, dass der Naturschutz nach Art. 75 Grundgesetz strenges Führerscheinrecht im Bootsbereich macht es in hoheitliche Aufgabe der Länder ist und Sie sich für Ihre Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003 4115

(A) diesbezügliche Forderung an die BundesregierungZonierung für Angler entwickelt. Sie zeigen, zu welchen (C) schlichtweg den falschen Adressaten ausgesucht haben. Zeiten die Angler besonders empfindliche Bereiche mei- den sollen, und enthalten interessante Informationen zu Es ist nun einmal das Merkmal des Natursports, dass den Gebieten. Die Einhaltung der Vereinbarungen wird er bevorzugt an solchen Stellen der Natur stattfinden soll und stattfindet, wo deren Verwundbarkeit besondersnun von ehrenamtlichen Revierlotsen kontrolliert. groß ist. Noch gibt es Uferpartien voller Artenvielfalt Wichtig für die Konfliktprävention sind auch Beteili- und auf bestimmten Flussabschnitten befinden sich na- gung an und Information über Vorhaben, die den Was- tional bedeutsame Raststätten von Wasservögeln, die ab- sersport tangieren. Auch das ist im neuen Bundesnatur- solut keine Störung vertragen. Hieraus resultieren dieschutzgesetz geregelt. Wir haben in dieser Hinsicht die klassischen Konflikte zwischen dem Naturschutz und Belange der Wassersport treibenden Sportverbände be- den Interessen von Wassersportlern. Begünstigt durch reits gefördert und von den Verbänden wurde und wird verbesserte Ausrüstungen, immer neue Geräte unddas auch anerkannt. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Bootsarten hat die zeitliche und räumliche Ausdehnung Kollegen von der Opposition, hier noch mehr erreichen von Freizeitaktivitäten in und am Wasser in Bereichewollen, dann sorgen Sie dafür, dass bei den anstehenden stattgefunden, bei denen früher natürliche Grenzen ge- Novellierungen der Landesnaturschutzgesetze die Betei- setzt waren. Es gibt kaum noch unerreichbare Gebiete ligungs- und Informationsrechte ausgebaut werden. Uns oder Jahreszeiten, in denen kein Wassersport betrieben haben Sie dabei immer an Ihrer Seite. wird. Hier brauchen wir in der Tat einen fairen, für alle Es gibt jetzt sogar die gesetzliche Möglichkeit, dass tragfähigen Interessenausgleich zwischen Wassersport, Natursportverbände als Naturschutzverbände anerkannt den Belangen des Naturschutzes und denen der Ruhe su- werden. Allerdings ist hierbei strikt darauf zu achten, chenden Touristen. Ich will eines aber deutlich heraus- dass nur solche Sportverbände anerkannt werden, die tat- stellen: Die Probleme, die wir in und auf Flüssen undsächlich auch Naturschutzorganisationen sind. Bächen haben, sind zumeist ursächlich nicht dem Natur- Dass Sie, Herr Brähmig, Herr Hinsken, eine Verein- sport anzulasten. Vielmehr ist es so, dass wir es heitlichung in der Befahrensregelung auf den Gewässern in Deutschland in den letzten Jahrzehnten geschafft haben, ganz Deutschland fordern, verwundert mich schon. Ich praktisch unser gesamtes Fließgewässersystem künstlich glaube nicht, dass das tatsächlich im Interesse der Was- zu verändern – zu kanalisieren, zu begradigen –, undsersportler liegt. Vielmehr sprechen sich diese doch ge- zwar aus häufig zweifelhaften Gründen. gen generelle Regelungen aus, weil diese notwendige re- Ruhe, Ungestörtheit und Abgelegenheit, wie immer gionale Differenzierungen ausschließen. Wenn etwas (B) Sie es nennen wollen, das ist jedenfalls zu einer unserer sinnvoll ist, dann ist das meines Erachtens die Festle-(D) seltensten Ressourcen geworden. Wir brauchen deshalb gung eines einheitlichen Verfahrens, in dem Befahrens- eine naturverträgliche Ausgestaltung der Erholungsnut- regelungen vor Ort getroffen werden. Aber hierüber und zung und vor allem Fairnessregeln des Natursports ge- über noch vieles mehr werden wir in der Anhörung und genüber der Natur. Die wichtigste Fairnessregel für den im Ausschuss noch ausgiebig diskutieren können. Natursport sollte sein, dass die Natur schlicht und ein- fach keinen Schaden erleiden darf. In den Lebensstätten Ernst Burgbacher (FDP): Der Wassertourismus ist von störungsempfindlichen Tierarten bedeutet das zu- schon heute ein bedeutendes und lohnendes Segment. nächst: Während der Brutzeit und Jungvogelaufzucht Dabei ist eine Definition des Begriffs „Wassertouris- müssen die Menschen sich fernhalten. Viele Konflikte mus“ nicht einfach. Eine mit Mitteln des Bundesministe- haben sich in der Vergangenheit allein an dieser ganz riums für Wirtschaft und Arbeit geförderte Studie zum einfachen und selbstverständlichen Regel entzündet. Ihre Wassertourismus in Deutschland fasst darunter zunächst Einhaltung sollte so selbstverständlich werden wie die alle Tourismusangebote zusammen, in denen das offene Hinnahme von Einschränkungen aus wasserwirtschaft- Meer, Küstengewässer, Seen, Flüsse und Kanäle die na- lichen Gründen. türliche Grundvoraussetzung für touristische Aktivitä- Das neue Bundesnaturschutzgesetz hilft uns bei der ten darstellen. Die Studie differenziert zwischen Wasser- Bewältigung von Konflikten. Es setzt verstärkt auf frei- tourismus im engeren und weiteren Sinne – Segeln, willige Vereinbarungen anstelle des Ordnungsrechts. Wo Rudern, Schwimmen, Angeln, Surfen, Tauchen, Motor- immer ein Spielraum gegeben ist oder Vereinbarungen boot, Wasserski, Flussreisen oder beispielsweise die Tra- und Selbstverpflichtungen einen wirklich effizientenditionsschifffahrt – und den mit dem Wassertourismus Schutzmechanismus ermöglichen, soll dieser Weg auf verbundenen Segmenten, bei denen das Thema Wasser jeden Fall versucht und beschriften werden. zwar eine Rolle spielt, aber eher passiv erlebt wird. Ein gutes Beispiel wurde mir heute vorgestellt, näm- 6,34 Millionen Deutsche betreiben „mehr oder weni- lich die Kooperationsvereinbarung zum Projekt „Natur- ger aktiv“ Wassersport. Beim Wassertourismus handelt schutz und Wassersport auf dem Greifswalder Bodden es sich um einen entwicklungsstarken Wirtschaftszweig und Strelasund“, abgeschlossen zwischen WWFmit noch ungenutzten Potenzialen. Handlungsbedarf be- Deutschland und dem Landesanglerverband Mecklen- steht insbesondere bei der Verknüpfung von wasser- und burg-Vorpommern. Gemeinsam wurden freiwillige Ver- landseitigen Angeboten, das heißt bei der Schaffung von einbarungen zum Schutz des Gebietes erarbeitet undzielgruppengerechten Angeboten. Dabei ist ein ange- Karten mit einer detaillierten zeitlichen und räumlichen messener Ausgleich von Wassersport und Naturschutz 4116 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 48. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2003

(A) zu berücksichtigen. Kooperationen zum Nutzen aller Be- muss auf Ideologie beim Hochwasserschutz und Fluss- (C) teiligten sind hier erfolgversprechend. Rechtliche Rah- ausbau verzichten. menbedingungen wie Führerscheinregelungen sind zu Eine andere Forderung des DTV ist, „entsprechende erleichtern. Erstrebenswert sind ein bundesweiter Was- zielgruppengerechte Angebote zu schaffen“. Gemeint serwanderwegeplan sowie ein übergreifendes Marke-sind damit Gastronomie, Beherbergung und sonstige ting. Einkäufe im Bereich des „Wassertourismus“. Genau hier Wassertourismus hat Zukunft und kann Arbeitsplätze aber liegt die größte Schwäche der rot-grünen Bundes- schaffen. Die bisherigen Zuwächse lassen für die Zu-politik: Kaum eine ökonomische Herausforderung, der kunft weiteres Wachstum erwarten. Eine gezielte Förde- Rot-Grün nicht mit einer Steuer- oder Abgabenerhöhung rung des Wassertourismus, so die Studie, trage zum Aus- begegnet. Die beschlossene Erhöhung der Tabaksteuer bau des Tourismus sowie zur Stärkung der touristischen und die von den Grünen geforderten höheren Steuern auf Alkohol und Branntwein können beispielhaft genannt Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands innerhalb der euro- werden. Diese Steuererhöhungen in Deutschland haben päischen Konkurrenz maßgeblich bei. die aktuelle Konjunktur- und Konsumflaute nochmals Dennoch stehen die aktuelle Politik der rot-grünenverschärft. Das wiederum geht insbesondere zulasten der Bundesregierung zu den Ergebnissen der Untersuchung Tourismusbranche. Wenn die Menschen weniger Geld in in einem merkwürdigen Widerspruch. So berichtet der den Taschen haben, sparen sie zuallererst hier. Solange DTV, dass die Nachfrage nach Kreuzfahrten sich kon- Rot-Grün die falschen steuer-, wirtschafts- und arbeits- stanter Zuwächse erfreut. Im Jahr 2002 wurden beimarktpolitischen Rahmenbedingungen setzt, wird die Flusskreuzfahrten rund 221 000 deutsche Passagiere re- gesamte Tourismusbranche leiden. gistriert. Sie generierten einen Umsatz von 265 Millio- Es ist gut, wenn wir neue Stärken des Deutschland- nen Euro. Das entspricht einer Steigerung gegenüberTourismus herausstellen. Die Initiative der DZT begrüße dem Vorjahr um 18 Prozent. Welchen Beitrag zur Verste- ich ausdrücklich, der Antrag der Union wird von uns un- tigung dieser Zuwächse soll aber eine grüne Verhinde- terstützt. Leider wird die Wirkung bei der verfehlten Po- rungspolitik darstellen, dieausschließlich Risiken zur litik von Rot-Grün nur gering sein. Sinnvolle Initiativen Leitschnur für politische Entscheidungen macht? Wer im Tourismus sind gut, eine neue Politik wäre noch die Wachstumsbranche Wassertourismus feiern möchte, wichtiger!

(B) (D)

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