Das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck. Ein Lager im Zentrum der Germanisierungspolitik

von Cédric Neveu

„Schirmeck, sagt mir nichts!“ Der Titel dieses Artikels von Jacques Granier fasst die relative geschichtswissenschaftliche Leere zusammen, die dieses Lager umgibt.1 Alles in allem sind nur drei französischsprachige Publikatio- nen über die Geschichte Schirmeck-Vorbrucks zu verzeichnen, keine davon aus akademischen Kreisen. Im Gegensatz dazu sind das Zwangsrekrutierten- lager Tambov oder das Lager Natzweiler-Struthof im Elsass weithin bekannt und Gegenstand zahlreicher Publikationen. Dabei geben „Die Hölle von Strut- hof und das Fegefeuer von Schirmeck“, um einen Ausdruck von Jacques Gra- nier aufzugreifen, das Schicksal wieder, das die Region während des Zweiten Weltkriegs erlitt: einerseits Natzweiler, der in das Konzentrationslagersystem eingebundene sinnbildliche Ort der Deportation der „Nacht-und-Nebel-Häft- linge“ (NN)2; andererseits Schirmeck-Vorbruck, wo das Annexionsprojekt der Nationalsozialisten mit repressivem Vorzeichen umgesetzt wurde. Der heutige Umgang mit diesen beiden historischen Orten allerdings, Natzweiler als Centre européen du résistant déporté (CERD) – Internatio- nales Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers – und Schirmeck-Vor- bruck, das unter einer Ansammlung von Wohnhäusern fast vollständig ver- schwunden ist, drückt auf beredte Weise das geringe Interesse aus, das dem annektierten Elsass und Lothringen zuteil wurde. Das Lager der „NN“-Häft- linge hat das der Elsässer und Lothringer zum Verschwinden gebracht, das obere Lager hat das untere in Vergessenheit geraten lassen.3

1 Vgl. Jacques Granier, Schirmeck. Sicherungslager Vorbrück bei Schirmeck im Elsass, 1968, S. 268; ders., Schirmeck, connais-pas!, in: Saisons d’, n° 114, Strasbourg 1991, S. 267-279. 2 Zu den Nacht-und-Nebel-Häftlingen vgl. Christel Trouvé, Die „Nacht- und Nebel“- Häftlinge 1942–1945, in: Dachauer Hefte, 21, 2005, Häftlingsgesellschaft, S. 50-65. 3 Als international ausgerichtetes Zentrum des Widerstandsgedenkens reflektiert das CERD die besondere Situation des annektierten Elsass nicht. Das im Jahr 2005 er- 62 Cédric Neveu

Das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck, dieses Lager mit besonderem Status und besonderer Funktionsweise, nahm jedoch einen wichtigen Platz im Prozess der Germanisierung und Nazifizierung ein, der damals in den drei annektierten heutigen französischen Departements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle durchgeführt wurde. Dabei standen Elsass und Lothringen nicht unter fremder Besatzung, sondern waren faktisch annektiert und hatten eine deutsche Zivilverwaltung. Tausende Personen, Elsässer und Lothringer, aber auch Deutsche, Polen, Italiener, Russen oder Tschechen waren in Schirmeck- Vorbruck interniert. Über diese Personen ist sehr wenig bekannt. Erst im Jahr 2004 haben die Fondation pour la Mémoire de la Déportation (FMD) – die Stiftung für die Erinnerung an die Deportation – und die Universität Caen durch die Veröffentlichung des „Livre-Mémorial des déportés de arrê- tés par mesure de répression“ zumindest teilweise die Forschungslücke zu den in Schirmeck-Vorbruck Internierten gefüllt.4 Der zweite Teil des Gedenk- buchs, das die zur Unterdrückung von Widerstand bzw. aus Repressionsgrün- den Deportierten namentlich verzeichnet, ist Elsass-Lothringen gewidmet. Anhand dieser mit kurzen historischen Begleittexten versehenen Namenslis- ten konnte die Besonderheit dieser Region besser bekannt gemacht und die Forschung dazu angeregt werden, sich mit der Geschichte der annektierten französischen Gebiete zu befassen. Die Geschichte des Lagers Schirmeck-Vorbruck zu schreiben, bedeutet vor allem mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit konfrontiert zu werden: dem geringen Umfang der dem Forscher zur Verfügung stehenden Quellen. Im Bureau des Archives des Victimes des Conflits Contemporains (BAVCC), des dem französischen Verteidigungsministerium unterstehenden Archivs für Opfer zeitgenössischer Konflikte in Caen sind über dieses Lager nur Quel- lenfragmente erhalten. Dabei handelt es sich um einen Teil der Originalkartei

öffnete Mémorial d’Alsace-Moselle in Schirmeck-Vorbruck versucht hingegen, diese Erinnerungslücke zu füllen. Das Mémorial widmet sich generell der Geschichte des Elsass’ und Lothringens und befasst sich dabei u. a. auch mit dem SL Schirmeck-Vor- bruck. Mit Barbara Hesse als Impulsgeberin versucht das Museum, eine möglichst breite Dokumentation (originales Archivmaterial, Augenzeugenberichte, Fotografien etc.) der in Frankreich und Deutschland aufbewahrten Materialien zusammenzustellen. Vgl. die Website des Museums www.memorial-alsace-moselle.com, 1.9.2007. 4 Vgl. Fondation pour la Mémoire de la Déportation (Hg.), Livre-Mémorial des déportés de France arrêtés par mesure de répression et dans certains cas par mesure de persé- cution 1940–1945, Paris 2004. (Gedenkbuch für die bei Repressionsmaßnahmen und teilweise bei Verfolgungsmaßnahmen festgenommenen Häftlinge aus Frankreich).