2 GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 16 EMBURG X LU GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS

KLASSE VERBINDEN MIMMO PORCARO | BEPPE CACCIA VERONIKA DUMA | SAM GINDIN | HILARY WAINWRIGHT RAUL ZELIK | MIRIAM PIESCHKE | BERND RIEXINGER 2 CATARINA PRINCIPE | CHRISTOS GIOVANOPOULOS U.A. 2016

Die US-amerikanische Zeitschrift Jacobin diskutiert Fragen marxistischer Theorie wie sozialistischer Strategie und Praxis. 2010 von Bhaskar Sunkara gegründet, hat sie sich dort seitdem zu einer führenden Stimme der US-amerikanischen Linken entwickelt. Mit seinem originellen Design und einer für die Linke in den USA ungewöhnlich undogmatischen und zugleich radikalen Perspektive auf Analyse und Politik hat Jacobin in der Post-Occupy-Ära eine WEGDENKEN offensichtliche Leerstelle geschlossen. Das Magazin erscheint vier Mal im Jahr in einer Aufl age von 20 000. Die Reichweite der Webseite geht noch weit darüber hinaus. Auf die vielen Texte und Analysen – auch zu aktuellen Fragen – greifen bis zu 700 000 Leser* innen im Monat zu. Ähnlich wie die LuXemburg versteht sich Jacobin als ein ›organisierendes Medium‹, das kritische Analy- sen einer breiten Leser*innenschaft zugänglich macht und für einen radikalen Politikwechsel, einen ›democratic ‹ eintritt. KLASSE VERBINDEN wurde als Sonderausgabe der beiden Zeit- schriften gemeinsam produziert. In transnationaler Perspektive stellt es Fragen nach einer neuen Klassenpolitik, nach der Rolle einer »verbindenden Partei« darin sowie nach Chancen und Widersprüchen der munizipalistischen Bewegungen und Praxen. Ein Teil der Texte wird demnächst auch auf Englisch erscheinen. Interessierte LuXemburg-Leser*innen können den Jacobin zum Kennenlernen zum halben Preis abonnieren: http://bit.ly/jacobinlux »Die einzige Lösung …«: das nach der französichen Arbeits­ ministerin benannte Gesetz »Loi el Khomry« wegpusten, Nuit debout, Paris, April 2016, © Conny Hildebrandt

LUX_1602_U2.indd 2 24.08.16 17:45 Es gibt zwei distinkte Logiken:

die Logik der Einheit und die der Vielheit,

die strategische Logik, die es erlaubt,

die politische Macht des Kapitalismus anzugreifen,

und die kooperative Logik, die es erlaubt,

die heutigen asymmetrischen gesellschaftlichen

Verhältnisse zu verändern.

Mimmo Porcaro in diesem Heft

Es geht um eine Strategie,

in der die Fähigkeit der Menschen,

eigene materielle Macht aufzubauen,

die Voraussetzung dafür ist,

die Macht des Staates zu unterlaufen:

ein Prozess, der nicht die Machthabenden austauscht,

sondern das Wesen der Macht selbst verändert.

Christos Giovanopoulos in diesem Heft

Verbinden Verankern Verbreitern Warum sich die Vielen auch Wie Gewerkschaften mit der Wie Solidaritätsnetze in Griechen- mal einigen sollten LINKEN in die Offensive kommen land materielle Macht aufbauen Von Mimmo Porcaro Von Bernd Riexinger Von Christos Giovanopoulos

_LUX_1602.indb 1 25.08.16 11:02 Schwerpunkt: Klasse verbinden

Verbinden Verankern 8 Occupy Machiavelli 46 Ein unmoralisches Angebot Warum sich die Vielen Wie die Gewerkschaften mit auch mal einigen sollten der LINKEN in die Offensive Von Mimmo Porcaro kommen könnten Von Bernd Riexinger 16 Lost in the Crowd? Gedanken zu Porcaros 54 Selbstorganisierung jenseits ›strategischer Partei‹ der Plätze Von Mario Candeias Warum sich die Gewerk- schaften mit den spani- 22 Verlockungen der sanften schen mareas so schwer tun Austerität Von Nikolai Huke Warum die Linke in Portu- gal die sozialdemokratische 60 Erneuerung durch Social Regierung toleriert Movement Unionism? Von Catarina Príncipe und Warum neue Methoden Carlos Carujo allein die Gewerkschaften nicht auf die Beine bringen 28 Jeremy Corbyn: Zurück in Von Sam Gindin die Zukunft? Wie die Chancen auf eine linke Erneuerung der Labour Party stehen Von Hilary Wainwright

34 Goodbye Sanders? Warum die ›politische Revo- lution‹ nicht am Ende ist Von Ingar Solty

Luxemburg Online: Sanders und die Hegemonie- krise des Neoliberalismus Von Jan Rehmann

2 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 2 25.08.16 11:02 Klasse Verbinden

Verankern Verbreitern Antworten auf die Krise des autoritären Neoliberalismus kom- 68 Europa der Kommunen men derzeit von rechts. Politik ist zum Geschäft wortgewandter Wie wir zu einem neuen Expert*innen geworden und die Demokratie präsentiert Munizipalismus kommen sich als den Interessen und Begehren der Vielen entzogenes Von Beppe Caccia Management des Status quo. Angesichts der Vernageltheit der politischen Institutionen stellt sich dringlich die Frage nach 74 It’s the austerity, stupid! linken Handlungsmöglichkeiten. Wie die Kommunen die In dieser Konstellation haben sich soziale Kämpfe vielerorts europäische Krise ausbaden auf die kommunale Ebene verlagert. Es braucht eine Basis der müssen Organisierung im Alltag der Einzelnen, um linke Politik durch- Von Felix Wiegand setzungsfähig zu machen. In den USA stellen lokale Bündnisse Stadträte und Bürgermeister. Sie streiten gegen Zwangs- 82 Mehr als Helfen und räumung, für eine lokale Anhebung des Mindestlohns oder Organisieren einen kommunalen Personalausweis für Migrant*innen ohne Wie die Solidaritätsnetze Papiere. In Spanien haben Aktive aus der 15 M-Bewegung in Griechenland materielle Bürgerplattformen gegründet. Im Bündnis mit oder unabhängig Macht aufbauen von linken Parteien konnten auch sie Rathäuser übernehmen Von Christos Giovanopoulos und in vielen Städten (mit-)regieren. Teils sind die Erfolge noch überschaubar, aber: Sie stellen den korrupten Eliten veränderte 90 Populare Macht und Praxen entgegen – ein ›Regieren von unten‹. Die Kommune – bolivarianische Revolution im emphatischen Sinne des Wortes – soll als Ort der Politik und Was wir von der partizi- Selbstorganisierung zurückgewonnen werden. Vorsichtige Ver- pativen Demokratie in suche in diese Richtung gibt es auch hierzulande. Es gilt neue Venezuela lernen können Formen zu entwickeln, um populare Politiken zu verbreitern Von Andrés Antillano und in unterschiedlichen Milieus der Subalternen zu verankern. Wie lassen sich die disparaten Teile der KLASSE VERBINDEN? 98 Kontrovers: LuXemburg 2/2016 fragt nach den Chancen munizipalistischer Rebellische Städte Politik. Was können Plattformen erreichen, die Menschen Warum die kommunalen einbinden, die mit ›Politik‹ bisher nichts zu tun hatten? Wie Regierungen in Spanien lassen sich hier verbindende Praxen entwickeln, die das globale nicht vor Anpassungen Austeritätsregime infrage stellen? Welche Rolle können linke gefeit sind und was sie Parteien darin spielen, welche die Gewerkschaften? Und wie dennoch erreicht haben müssen (auch linke) Institutionen umgebaut werden, um eine Raul Zelik vs. Hanno Bruch- Teilhabe der Vielen zu ermöglichen und gleichzeitig strategi- mann und Mario Candeias sche Entscheidungen treffen zu können?

INHALT | Luxemburg 2/2016 3

_LUX_1602.indb 3 25.08.16 11:02 Luxemburg Online: Auf dem Weg zu einem Europa der rebellischen Städte Von Kate Shea Baird

Luxemburg Online: 44 Bildstrecke: Nuit debout Neue Klimapolitilk in Barcelona Von Amaranta Herrero

108 Vom kurzen Flirt zur langfristigen Beziehung Warum die Linke in benachteiligten Stadtteilen (nicht) nur gewinnen kann Von Miriam Pieschke

114 Wundermittel Volks- entscheid? Wo die Chancen und Gren- zen für die mietenpolitische Bewegung liegen Von Stephan Junker, Susanna Raab und Hannah Schurian

122 Das Rote Wien Warum sich ein Ausflug in die Geschichte lohnt Von Veronika Duma und Hanna Lichtenberger Nuit debout © Rémy Soubanère Nuit debout © Rémy

4 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 4 25.08.16 11:02 RUBRIKEN

130 Name der Zeit Das neue Mittelalter Von Kolja Möller

132 Ende Gelände im Gerechtigkeitsdilemma Warum der Kohleaus- 93 Bildstrecke: Ende Gelände stieg nicht bis 2040 warten kann Von Hannes Lindenberg und Tadzio Müller

138 Rosa-lux kompakt

Luxemburg Online: Brexit: Ist das ein OXI? Von Moritz Warnke

Luxemburg Online: Brexit: Wenn du trauern musst, tu es jetzt Von Owen Jones

Luxemburg Online: Der Putschversuch

gegen Erdoğan Moritz Richter Ende Gelände 2016, Von Murat Çakır

Lux&Beyond: Der Kampf um das neue Arbeitsgesetz Von Thomas Sablowski

144 Impressum

INHALT | Luxemburg 2/2016 5

_LUX_1602.indb 5 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 6 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 7 25.08.16 11:02 Occupy Machiavelli

Mimmo Porcaro Mario Candeias

Zwischen verbindender und strategischer Partei

Mimmo Porcaro

Die Krise der Massenpartei als eine Form politischer Organisation der subalternen Klassen war Ende des 20. Jahrhunderts offenkundig: Gerade wegen des Erfolgs jenes Parteityps war dies eine irreversible Krise. Die Massenpartei war dadurch gewachsen, dass sie Einzelne und Assoziationen in großer Zahl einbezog. Mit der Heterogenität dieser Subjekte umzugehen, brachte indes zunehmend Probleme. Es war ihr gelungen, »die Massen in den Staat hineinzuführen«. Im Zuge dessen hat- ten sich jedoch aktive Parteimitglieder in Manager verwandelt und die Parteifüh- rung war Teil der Elite des kapitalistischen Staates geworden, Regierungsschicht. Von da an verwandelte sie sich erst zur professionalisierten und dann zu einer Allerweltspartei (Kirchheimer 1965), zu einer catch-all party. Der teilweise Erfolg der Partei der subalternen Klassen hatte also dazu geführt, dass die subalternen Klassen nicht länger über eine Partei verfügten. Das Nachdenken über die verbindende Partei entstand in dieser Situation. Aus- gehend von verschiedenen Überlegungen bei Gramsci (1996) und in der nord- amerikanischen Linken (vgl. u.a. Brecher/Costello 1990) lag es nahe, angesichts einer zunehmenden Heterogenität der Subjekte und der Kulturen bei der Suche nach einem neuen Parteimodell an die Form einer Koalition zu denken: eine Form, die die Partei mit Bewegungen, Gewerkschaften, Gemeindestrukturen, unabhän-

8 luxemburg 2/2016 | Klasse Verbinden

_LUX_1602.indb 8 25.08.16 11:02 gigen Medien und anderen Zusammenschlüssen verbinden würde. Eine solche Occupy Koalition hätte die Möglichkeit, sich zu einer wirklichen Föderation zu entwickeln oder ihr Handeln auf politische Übereinkünfte zu gründen, in jedem Falle jedoch (und das war das eigentlich Neue) sollten alle beteiligten politischen Strukturen in Machiavelli der Lage sein, die Führungsrolle zu übernehmen. Die eigentliche politische Partei, die ›formale Partei‹, sollte nicht länger über das Monopol des politischen Han- delns verfügen: Politisch zu agieren kam nunmehr dem Ensemble verschiedener Institutionen der subalternen Klassen zu, der ›realen Partei‹. Die vormals einzig der Mas- senpartei zugefallenen Aufgaben – politische Mimmo Porcaro ist Vordenker der Rifondazione Bildungsarbeit, theoretische Praxis, Organi- Communista. Seit Jahrzehnten sammelt er als or- sation der Kämpfe – sollten nun von den ver- ganischer Intellektueller in der kommunistischen Tradition Erfahrungen in Staatsapparaten und schiedensten Akteuren übernommen werden, Partei-Bewegungen Italiens. Diese brachte er als und politische Führung würde nicht länger als Fellow mit ans Institut für Gesellschaftsanalyse Kommando auftreten, sondern sich in Aus- der Rosa-Luxemburg-Stiftung und schreibt dazu fortlaufend – unter anderem in dieser Zeitschrift. handlungen unter Gleichen und in der Suche nach Konsens herstellen (vgl. Porcaro 2011 und Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Ge- 2013). Da dem Moment von Wahlen keine allzu sellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, Mitbegründer dieser Zeitschrift und forscht große Bedeutung beigemessen wurde, schrieb unter anderem zu den neuen Partei-Bewegungs- man dem Typus der verbindenden Partei das Konstellationen in Spanien und Griechenland. Potenzial zu, die in der Massenpartei angeleg- ten etatistischen Tendenzen zu vermeiden und zum idealen Instrument einer Politik ›von unten‹ zu werden. Die Entstehung der globalisierungskritischen­ Bewegung schließlich bekräf- tigte die Vielfalt der emanzipatorischen Subjekte und unterstrich­ diese Richtung. Viele sahen in einer ver­bindenden Partei, die Bündnisse schmiedete, die Form, die der neuen Phase gesellschaftlicher Konflikte am angemessensten war. Im Unter- schied zur Massenpartei traute man es ihr zu, die verschiedenen Subjekte zu verei- nen, ohne sie einzugliedern, und so die gesellschaftliche Heterogenität politisch zu führen – jene Heterogenität, die für die Massenpartei eine Grenze markiert hatte.1 Die semantische Ambiguität der Rede von der verbindenden Partei (insofern da- mit sowohl die von der ›formalen Partei‹ allein ausgehende verbindende Funktion als auch das Ergebnis der Selbstorganisierung des Ensembles der ›realen Partei‹ gemeint sein konnte) wirkte selbst wiederum positiv, denn sie ließ Raum für die verschiedenen Möglichkeiten, die Fragen solcher Verbindungen anzugehen. Kurz und gut: Die verbindende Partei schien der Schlüssel, in den gegenwärtigen Ge- sellschaften einen Konsens herzustellen und auf der Grundlage von Pluralismus und Selbstbestimmung soziale Veränderungen herbeizuführen.

Verbinden | Luxemburg 2/2016 9

_LUX_1602.indb 9 25.08.16 11:02 Fünfzehn Jahre später Fünfzehn Jahre später müssen wir eingestehen, dass diese Erwartungen zum gro- ßen Teil enttäuscht wurden. Mit Ausnahme einiger wichtiger lateinamerikanischer Erfahrungen hat der Typus der verbindenden Partei keine wirkliche Verbreitung gefunden, und es lassen sich auch kaum politische Erfolge benennen. In Europa wurde eigentlich nur in Griechenland eine verbindende Partei aufgebaut, wenn auch deren Misserfolg nicht der Form geschuldet ist. Die Front de gauche erinnert, was ihre Organisation angeht, eher an traditionelle politische Erfahrungen, und die LINKE hat erst kürzlich begonnen, das Thema zu diskutieren (vgl. Kipping/ Riexinger 2013 und Debatte in LuXemburg 2/2014). In Italien schien es, als könne sich die verbindende Partei dank der Annäherung zwischen einer sich erneuern- den neokommunistischen Partei (Rifondazione Communista) und einem Geflecht von radikalisierten sozialen Bewebungen behaupten: Letztlich entwickelte sich je- doch kein wirkliches Bündnis, und so kam es, dass die Regierung von 2006 in einer schwierigen Situation nur halbherzig agierte, mit katastrophalem Ausgang. Wie auch immer: Die globalisierungskritische Bewegung konnte oder wollte keine verbindende Partei schaffen, und den Parteien der radikalen Linken gelang es nicht, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Das soll freilich nicht heißen, das Konzept sei erledigt, sondern lediglich, dass es, auch wenn es auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, gewisse Probleme birgt.

Neue Volksparteien Ein wichtiges Symptom dieser Probleme ist das Aufkommen eines neuen Typus von Partei der subalternen Klassen, wie ihn heute Podemos in Spanien, aber auch der Movimento Cinque Stelle (M5S) in Italien verkörpern, die sich beide als ›Par- teien der Bürgermobilisierung‹ definieren lassen. Im Unterschied zur verbin- denden Partei tritt diese neue Partei als Einheit auf, als ein politisches Subjekt, das sich unmittelbar, ohne Vermittlung anderer sozialer Organisationen, auf die Einzelnen bezieht. Während für die verbindende Partei die Frage der politischen Machtübernahme im Verhältnis zu einer Strategie der gesellschaftlichen Verände- rung ›von unten‹ nachgeordnet war, zielt der neue Parteityp geradewegs auf eine Regierungsübernahme. Diese erscheint als wesentliche Vorbedingung jeder anderen Veränderung. Um ein Empowerment der Bürger*innen voranzutreiben, setzen die Expert*innen der E-Demokratie auf digitale Technologien, die eine Ausweitung di- rekter Demokratie sowohl im Staat als auch innerhalb der Partei ermöglichen sollen. Schließlich versuchen diese Parteien, der traditionellen Entgegensetzung von links und rechts zu entgehen. Unabhängig davon, ob sie wie Podemos linke oder wie der M5S rechte Wurzeln haben, basiert ihre Rhetorik auf dem kleinsten gemeinsa-

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_LUX_1602.indb 10 25.08.16 11:02 men Nenner, den konstitutionelle Linke und Rechte teilen: der Wertschätzung der Demokratie, verstanden als die Möglichkeit freier Entscheidung der Bürger*innen, und zwar jeder und jedes Einzelnen. In der »flüchtigen Moderne« (Baumann), in der vermittelnde Instanzen und Bürokratien an Bedeutung verlieren und die sicht- baren politischen Protagonisten nicht länger Gruppen sind, sondern Individuen und ihre vielfältigen Aggregationen, scheint sich diese neue Partei also geschmei- dig zu bewegen. Obwohl ihre Forderung nach Demokratie sehr unbestimmt bleibt, hat die Rigidität, mit der die herrschenden Klassen heute ihre Privilegien verteidi- gen, nicht selten zur Folge, dass sie trotz ihres offenkundigen Minimalismus de- stabilisierend wirkt. Eine Partei der Bürgermobilisierung scheint somit der heuti- gen gesellschaftlichen Situation viel angemessener als der Typus der verbindenden Partei. Dementsprechend wäre jene möglicherweise das überlegene Modell für die Partei der subalternen Klassen.

Die Lehren der Krise Diese Schlussfolgerung führt freilich nirgendwohin, zumal sie von einer falschen Fragestellung ausgeht: Denn wir müssen uns nicht fragen, welche Partei der ge- sellschaftlichen Realität angemessen ist, sondern welche in der Lage wäre, diese zu verändern. Es geht nicht darum, bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse gut zu repräsentieren, sondern in deren Widersprüche einzugreifen, um sie zuzuspitzen: Fehlt es der verbindenden Partei an Ausstrahlung, so liegt das nicht daran, dass sie soziologisch inadäquat ist, sondern daran, dass sie uns nicht hilft, in einer neuen, durch die Krise der Globalisierung und der kapitalistischen Ökonomie geprägten Situation politisch handlungsfähig zu werden. Das hinter dieser Parteivorstellung stehende theoretische Modell gründet auf einer Reihe von (zweifelhaften) Annah- men. Es geht davon aus, dass (a) die Globalisierung die potenziell der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Ressourcen vermehren werde, (b) dass das fortwährende Anwachsen ökonomischer und sozialer Selbstorganisation allmählich den Kapita- lismus ersetzen könne, (c) der Staat eine immer geringere Rolle spielen werde und die Kapitalmacht kein wirkliches Zentrum aufweise, (d) alle popularen Kämpfe daher den gleichen Stellenwert besäßen und es wenig Sinn habe, über Strategie und Taktik nachzudenken, und (e) die Strategie so oder so der Synergie der Bewe- gungen, das heißt, aus deren Verbindung entspringe. Doch die Krise ist eine strenge Lehrmeisterin, die zumindest in diesem Punkt orthodoxen Marxismus lehrt: Sie verringert auf drastische Weise die Ressourcen, die den popularen Schichten und ihrer Selbstorganisation zur Verfügung stehen, beseitigt alle verbliebenen Spuren eines »demokratischen Kapitalismus« (Streek 2013) und setzt den Sozialismus erneut auf die Tagesordnung (Porcaro 2016). Sie

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_LUX_1602.indb 11 25.08.16 11:02 macht die zentrale Rolle des Staates für das Überleben des Systems nachdrücklich deutlich und zwingt uns, uns Fragen der Strategie zuzuwenden. Denn selbst wer die Gefahren eines etatistischen Sozialismus kennt und sich der vielgestaltigen und eben nicht nur politischen Natur kapitalistischer Macht bewusst ist, muss anerkennen, dass eine radikale Alternative heute mit einer zumindest vorüberge- henden Eroberung der Staatsmacht einhergehen muss. Auch wenn es letztlich um die Dezentralisierung von Eigentum und Macht gehen soll, müssen doch zunächst die allgemeinen, von Staat und Privateigentum annektierten Machtressourcen zu- rückerobert werden. Eine schwierige Aufgabe, heute jedoch weniger schwierig als gestern: Die Instabilität des Systems führte dazu, dass ein langer Stellungskrieg abbrach und einem Bewegungskrieg den Weg freigemacht hat, in dem es häufiger zu einer schnellen Verschiebung der Kräfteverhältnisse kommt.

Klassenfragen Die Bedeutung der Strategie wiederzuentdecken heißt auch zu erkennen, dass es Aufgabe der Strategie ist, Verbindungen herzustellen, und nicht umgekehrt. Nur durch strategische Vermittlung oder entlang eines politischen Programms ist es mög- lich, unterschiedliche Bewegungsknoten zu verbinden; vor allem aber ist es nur so möglich, das Problem einer zunehmenden Spaltung zwischen qualifizierten und entqualifizierten Arbeitskräften anzugehen, insofern Erstere sich tendenziell eher liberalistischen Positionen verbunden fühlen, während Letztere eher Anhän- ger protektionistischer Vorstellungen sind. Die verbindende Partei weicht diesem Problem aus, wenn sie glaubt, die gesellschaftlichen Assoziationen zu einen, sei gleichbedeutend damit, das ›Volk‹ zu einen. Sie misst dem Klassencharakter der Assoziationen, auf die sie sich bezieht, nicht ausreichend Gewicht bei. In der ge- genwärtigen Situation sind Letztere weniger politische oder gewerkschaftliche Strukturen, sondern repräsentieren vor allem Arbeits- und Subsistenzformen mitt- lerer und gehobener Klassenfraktionen des Proletariats. Ihr Agieren im Stil von Experten definiert sich gewöhnlich als links, doch faktisch schließt es den Großteil der Subalternen aus. Und auch wenn sie in zugespitzten Krisenzeiten vielleicht den Konflikt mit Staat und Großunternehmen suchen, so ziehen sie doch norma- lerweise Verhandlungen vor, denn in ihrem Lebensunterhalt sind sie in der Regel auf öffentliche und private Subventionen angewiesen. Kurzum, es handelt sich um im Wesentlichen konservative gesellschaftliche Institutionen. Es muss uns daher nicht erstaunen, wenn all jene Teile des ›Volkes‹, die an der Konservierung des Bestehenden kein Interesse haben und sich in der geheimnisvollen Welt der Gover- nance nicht wiedererkennen, sich lieber auf populistische und autoritäre Parteien oder eben die Parteien der Bürgermobilisierung beziehen. Letztgenannte indes

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_LUX_1602.indb 12 25.08.16 11:02 sind, insofern sie beanspruchen, die Unterscheidung von links und rechts zu über- winden und unmittelbar eine Übernahme der Regierung anzustreben, zumindest das Symptom dessen, was tatsächlich zu tun wäre: nämlich das ›Volk‹ einen, nach dem Staat greifen.

Die strategische Partei Die Lohnabhängigen um ein sozialistisches Programm versammeln; ein Bündnis mit anderen popularen Schichten schließen; die Kräfte an den Knotenpunkten des Klassenkampfs bündeln, um die dominante Kapitalfraktion anzugreifen, in einem Kapitalismus, dessen Fortbestand heute vor allem der Staat garantiert: Das sind grundlegende Aufgaben einer Partei, wie wir sie brauchen, einer strategischen Partei. Dieser Partei kommt unter anderem die Funktion zu, bestimmte Wahrheiten ins Gedächtnis zu rufen, nämlich die Notwendigkeit einer unmissverständlichen sozia- listischen Alternative und einer Reihe revolutionärer Brüche an den entscheidenden Stellen des Machtgefüges sowie einer Taktik, die all dies erst möglich macht. Um diese Wahrheiten nicht zu vergessen, darf die strategische Partei sich weder mit Bewegungen identifizieren noch beanspruchen, das ›Bewusstsein‹ von außen in sie hineinzutragen. Stattdessen muss sie ein Knotenpunkt eigenständiger Arbeit sein, außerhalb der Bewegungen, um die richtigen Ideen, die im Verlauf von Kämpfen ständig entstehen und wieder vergessen werden, zu verdichten und zu ordnen. Aus heutiger Sicht ist die genaue Gestalt einer solchen Partei nicht vorherzusa- gen. Die Aufgabe einer historisch-konkreten Analyse besteht nicht darin, Probleme zu bestimmen, die in der Zukunft warten und deren Lösung von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Kämpfen abhängen wird. Erst recht gilt dies im Fall der strategischen Partei, insofern sie eher ein Ensemble von Praxisformen verkörpert als eine Institution im eigentlichen Sinn: Sie identifiziert sich nicht mit dieser oder jener Partei oder Organisation, sondern existiert in all jenen Tendenzen, die inner- halb einer Partei oder Organisation bereit sind, vorgegebene organisatorische Struk- turen, Machtpositionen und Kalküle infrage zu stellen, sobald diese dem grundle- genden strategischen Ziel entgegenstehen. Sie ist daher eine Partei, deren Aufgabe nicht darin besteht, sich zu institutionalisieren, und wenn sie sich eine Organisation gibt, dann weniger um den materiellen Fortbestand einer Idee sicherzustellen, son- dern vor allem um vorhandene Institutionen zu erschüttern, ganz gleich, ob es sich dabei um kapitalistische, populare oder künftige sozialistische Institutionen handelt. Die Notwendigkeit einer popularen Partei steht also außer Frage. Sie erfüllt die Funktion, an Wahlen teilzunehmen, und agiert innerhalb des Staates, der Gewerk- schaften und gesellschaftlicher Organisationen, zugleich muss sie enge Verbindun- gen zu all diesen Institutionen halten. Doch laufen solche Institutionen unweiger-

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_LUX_1602.indb 13 25.08.16 11:02 lich Gefahr, vom bestehenden System der Macht kooptiert zu werden, und diese Gefahr wird umso größer, je weiter die Krise sich zuspitzt und je dringlicher sich die Notwendigkeit eines politischen Bruchs zeigt. Die strategische Partei ist deshalb der Körper, der einer solchen Kooption entgegenwirkt. Je nach Situation, in der sie agiert, kann sie außerdem verschiedene Formen annehmen: Sie kann als kleine und bewegliche Partei auftreten, die mit allen an vorderster Front in Verbindung steht, oder sie kann eine transversale Führungsgruppe sein, die sich aus in den verschiedenen Bewegungsorganisationen aktiven Zellen zusammensetzt. Unter gewöhnlichen Umständen werden solche Zellen unabhängig voneinander agieren, doch zugleich sind sie in Krisensituationen in der Lage, sich zusammenzuschlie- ßen und einen Block zu bilden. Und vielleicht wird sie auch ganz anders aussehen.

Widersprüche und Paradoxien: Der Eine und die Vielen Wie auch immer sie aussehen wird, die strategische Partei wird zweifellos nicht vollkommen sein, denn keine politische Form ist frei von Fehlern und jede Lösung wirft neue Fragen auf. Die Kunst des politischen Handelns besteht nicht darin, vollendete Formen zu entwerfen, sondern darin, die Grenzen der vorgeschlage- nen Lösungen immer schon einzubeziehen. Die wesentliche Grenze des Modells der strategischen Partei ist nicht die Tendenz, zum Staat zu werden, wie es für die Massenpartei oder den Typus der bolschewistischen Partei charakteristisch ist. Wie die verbindende Partei weiß auch die strategische Partei, dass sie nicht ›alles‹ sein, nicht alle Funktionen übernehmen kann und sich daher nicht mit dem Staat identifizieren darf. Die Grenze der strategischen Partei ist vielmehr der Konflikt zwischen der Notwendigkeit, eigenständig zu sein, um die gesellschaftlichen Verhält- nisse offen anzusprechen, und der Notwendigkeit, Teil der Vielen zu sein, um der vielgestaltigen Macht des Kapitals entgegenzutreten. Eine Lösung dieses Konflikts zeigt uns Machiavelli. Er lässt uns wissen, dass nur »ein Mann allein« in der Lage ist, einen neuen Staat zu gründen, denn dazu ist eine Einheit von Absichten und Zielen absolut unumgänglich. Doch zugleich weiß er darum, dass hernach einzig die Vielen in der Lage sind, den Staat zu len- ken, denn während eine Vielzahl an Meinungen in der Phase der Gründung ein Hindernis darstellt, wird sie dann zu einem konstitutiven Moment, das den neuen politischen Körper in die Lage versetzt, sich der kommenden Vielzahl von Ereig- nissen zu stellen (vgl. Machiavelli 2007, I, 9). Machiavelli unterscheidet zwei Zeit- abschnitte: die Gründung des Staates und seine Führung. Doch lässt sich diese Unterscheidung auch auf zwei distinkte Logiken beziehen, die beide, wenn auch in unterschiedlichem Maß, in jeder Phase des revolutionären Prozesses präsent sind: die Logik der Einheit und die der Vielheit, die strategische Logik, die es erlaubt,

14 luxemburg 2/2016 | Klasse Verbinden

_LUX_1602.indb 14 25.08.16 11:02 die politische Macht des Kapitalismus anzugreifen, und die kooperative Logik, die es erlaubt, die heutigen asymmetrischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu verän- dern. Machiavellis Größe besteht darin, dass er beide Logiken aufzeigt, ohne zwi- schen ihnen eine wie auch immer geartete Hierarchie vorzugeben. Keine der beiden ist abzustreifen und der Vorrang der einen oder anderen ist einzig von der konkreten Situation abhängig. Weder lassen sich im Namen der Einheit die Vielen auslöschen, wie es der Stalinismus tat, noch ist, wie im Anarchismus, der Umkehrfall möglich. Der Konflikt zwischen beiden ist nur zu lösen, wenn man ihre ontologische Eben- bürtigkeit anerkennt und den Konflikt als einen Widerspruch im eigentlichen Sinn begreift, in dem beide Seiten nur dank ihrer Entgegensetzung existieren. Ein solcher Widerspruch kann sich nur dann in eine positive Entwicklung übersetzen, wenn jede der beiden Seiten (Partei und Bewegung, Einheit und Viel- heit) selbst einen Teil der Eigenschaften der anderen annimmt. Es ist Aufgabe der strategischen Partei, die Vielheit hervorzuheben (und damit das bleibende Ver- mächtnis der verbindenden Partei), da es unmöglich ist, eine erfolgreiche Strategie zu entwickeln, ohne die verschiedenen Interessen, Werte und Standpunkte der Vielen anzuerkennen. Die politische Bewegung andererseits darf sich nicht länger lediglich als informelle Strömung begreifen, als reines kreatives Chaos. Bleibt eine Bewegung nur Strömung und Chaos, wird sich sehr bald eine Partei (und vielleicht zuvor noch ein Staat) finden, um ihr eine subalterne Rolle zuzuweisen. Gelingt es der Bewegung hingegen, sich selbstbestimmt eine eigene Form und eine eigene Ein- heit zu geben, und schafft sie sich als Bewegung stabile politische Institutionen, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden, hätten tatsächlich die Vielen als Viele politisches Gewicht und nicht nur als durch eine Partei oder einen Staat geeinte Kraft. Das Paradox der strategischen Partei schließlich besteht darin, dass es zu ihren Funktionen gehört, angesichts der Dominanz des politischen Individualismus und der Krise vermittelnder Instanzen die Herausbildung genau solcher Instanzen zu fördern und die Bewegung dazu zu drängen, eigene Formen zu finden. Nur so kann es gelingen, dass der Partei ein stabiles Pendant gegenübersteht, das dafür sorgt, dass die unausweichliche ›Einsamkeit‹ der strategischen Entscheidung sich nicht in einen Monolog verwandelt, sondern ein Moment in einem ständigen Dialog wäre.

Aus dem Italienischen von Thomas Atzert

1 Das kulturelle Klima jener Debatten, die insbesondere im Umfeld der 1991 nach der Spaltung der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) gegründete Rifondazione Comunista geführt wurden, findet ein Echo beispielsweise bei Fabio de Nardis (2009).

Verbinden | Luxemburg 2/2016 15

_LUX_1602.indb 15 25.08.16 11:02 Lost in the Crowd? Gedanken zu Porcaros »strategischer Partei«

Mario Candeias

In Zeiten großer Dringlichkeit ist die verbindende Partei gescheitert. Porcaro drängt in Richtung auf eine strategische Partei, die schnell und massenwirksam das Notwendige tut. Doch wie vermeiden wir, dass weder »die unausweichliche ›Einsamkeit‹ der strategischen Entscheidung sich [...] in einen Monolog verwan- delt« (15), noch dass sich die strategische Initiative in der Menge verliert?1

Wer führt? Die gesellschaftlichen Mobilisierungen in Spanien und Griechenland schienen mit Blick auf verbindende Perspektiven einen großen Sprung zu ermöglichen. Diese an unzähligen Orten zugleich stattfindende molekulare Organisierung hatte kein Zentrum, sie gründete auf vermittelnden Strukturen: einer verbindenden Partei, die angesichts einer fragmentierten sozialen und politischen Situation nicht mehr als klassische Massenpartei mit Avantgardeanspruch, aber auch nicht einfach als Koalition unterschiedlicher Parteien funktionieren kann, sondern als »Koalition unterschiedlicher Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlicher Organisatio- nen«, von denen jeder »zum Anführer der gesamten Front« werden kann (Porcaro 2013). Je nach politischer Konjunktur und strategischer Notwendigkeit ging die Füh- rung des Gesamtsubjekts von einem Teil des Mosaiks auf einen anderen über. In Spanien beispielsweise von der 15M-Bewegung über die Plattform der Hypo- thekenbetroffenen (PAH) und Podemos zu den kommunalen Plattformen und schließlich Unid@s Podemos während der letzten Parlamentswahl; oder in Grie- chenland von den anarchistischen Bewegungen und Gewerkschaften zu den Em- pörten und dann zu Syriza in Verbindung mit den Solidaritätsstrukturen. Angesichts der Erfahrung in Griechenland macht Porcaro nun das strategi- sche Moment gegenüber dem verbindenden stark. Eine strategische Partei muss in der Lage sein, den geschichtlichen Moment zu erkennen, die Initiative zu er- greifen, voranzugehen und im Gehen andere zu überzeugen. Sie ist dabei keine eigenständige Entität, keine abgeschlossene Gruppe. Je nach Konstellation kann sie »als kleine und bewegliche Partei« auftreten oder »eine transversale Führungs- gruppe sein, die sich aus in den verschiedenen Bewegungsorganisationen aktiven Zellen zusammensetzt« (14).

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_LUX_1602.indb 16 25.08.16 11:02 Mit den Grenzen von Partei- und Regierungsprojekten wie in Griechenland und Spanien wird deutlich, dass die Führungsfunktion der Partei im engen Sinne im- mer nur ein konjunktureller Moment in einem beweglichen Verhältnis von Partei, Bewegung und Subalternen innerhalb komplexer gesellschaftlicher Kräfteverhält- nisse sein kann. Keineswegs übernimmt die Bewegung die Vorarbeit, um dann die Führungsfunktion an die Partei abzugeben. Doch wie eine Strategie formulieren, die die Vielen überzeugt? Porcaro schreibt: »Aufgabe der Strategie ist es, Verbindungen herzustellen, nicht umgekehrt.« Tat- sächlich entsteht aus der Zusammenkunft der Vielen nur in Ausnahmen eine Stra- tegie. Es braucht andere Orte, Zellen von Gleichgesinnten, ob es um strategische Kerne in Bewegungen oder in Parteien geht. Doch es genügt nicht, eine verbinden- de Strategie zu formulieren. Wenn sie nicht gemeinsam formuliert wird, bleibt sie wirkungslos. Das Mosaik muss also aktiv zusammengebracht und verbunden wer- den, immer wieder. Es muss produziert, ja organisiert werden, um neben einem besseren Verständnis für Differenzen das Gemeinsame hervorzubringen. Doch Vermittlung und Verbindung brauchen Zeit. Dies stößt auf Probleme der Dringlichkeit. Hier bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen dem Reich- tum und der Inkohärenz der Vielheit auf dem Wege einer verbindenden Partei und der Kohärenz der strategischen Partei. Nur Letztere kann in spezifischen Konjunkturen des »Bewegungskrieges« (Gramsci), jene rasche Initiative entfalten, die nötig ist. Dies geht notwendigerweise einher mit einer Überforderung anderer Teile, die die Veränderungen nicht im gleichen Tempo nachvollziehen, wenn das Wissen nicht schnell genug verallgemeinert wird. Es braucht daher ein Verständnis für die Not- wendigkeit eines Raums für Experimente von ›unten‹ – aber eben auch von ›oben‹. In der realexistierenden Partei die LINKE dominiert die Tendenz, jede Initiative durch Bedenken, unendliche Rückkopplungs- und Entscheidungsschleifen zu zer- setzen: Wenn sie nicht durch jede Gliederung bewilligt und in diesem Prozess bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet wird, verendet sie nahezu folgenlos. Vor diesem Hintergrund hat eine Partei mit schmaler und hierarchischer Or- ganisation, mit weniger vermittelnden Instanzen und direkterer Kommunikation zwischen Führung und ›Massen‹ (wie Podemos) Vorteile gegenüber einer übli- chen demokratischen Parteistruktur oder auch gegenüber horizontalen Konsens- modellen – solange die Führung ›gut’ ist. Im Übergang zur institutionellen Politik kommt es jedoch immer wieder zu einer zu starken Institutionalisierung der stra- tegischen Funktion, hinter der die verbindende Funktion zurücktritt. Eine Aufgabe in diesem Zusammenhang wäre, als Teil einer konstituierenden Macht die »Ins- titutionen zu erschüttern« (13), Verfestigungen und Bürokratisierung offen und beweglich zu halten – auch innerhalb der eigenen Organisationen.

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_LUX_1602.indb 17 25.08.16 11:02 Denn koppelt sich die strategische Partei ab und hat keine Rückbindung mehr, kann sie rasch die Sensibilität für die Veränderung des Moments verlieren, die Strategie wird unangemessen. Dies traf nach den Kommunalwahlen im Mai 2015 auf Podemos zu, aber auch auf die Gruppe um Tsipras nach dem Wahlsieg im Januar 2015 und dann vollständig entkoppelt nach dem OXI des Referendums sechs Monate später. Hier wäre eine »transversale Führungsgruppe« (14) sinnvoller als hierarchi- sche Modelle. Das Spannungsverhältnis zwischen verbindender und strategischer Partei ließe sich produktiv bearbeiten, wenn »jede der beiden Seiten [...] selbst einen Teil der Eigenschaften der anderen annimmt« (15). Die einen verbinden, suchen den Kontakt zu den Bewegungen und Nachbarschaften, die anderen for- mulieren Strategien, bewegen sich in Staat und Parlamenten – so kann die Arbeits- teilung nicht funktionieren (vgl. Candeias 2016). Diese Fragen der Führung waren auch in Griechenland bei Syriza, der ersten real entwickelten verbindenden Partei, nicht geklärt.

Das Scheitern der verbindenden Partei Unzählige Riots und Generalstreiks waren wichtige symbolische Aktionen zu Be- ginn der Krisenproteste ab 2009, erschöpften sich jedoch rasch. Der entscheidende Punkt kam, den Platzbesetzungen in Nordafrika und Spanien folgend, mit der Be- setzung des Syntagma-Platzes in Athen. Dort begann auch der Aufstieg Syrizas, weil es den Mitgliedern gelang, nicht mit den üblichen Symbolen und Fahnen für ihre Partei zu werben, sondern sich als Aktive in die Debatten einzumischen, eine Infra- struktur für die Platzbesetzung bereitzustellen und vor allem zuzuhören. Es gelang ihnen die Stimmungen, Leidenschaften und politischen Botschaften aufzunehmen. Syriza symbolisiert einen Verdichtungspunkt, der die zivilgesellschaftliche Selbstor- ganisierung und den Protest in die Perspektive der Ergreifung der Regierungsmacht übersetzte. Sie repräsentierte den Geist des Protests für viele jenseits der direkt poli- tisch Aktiven, nicht zuletzt in den unteren gesellschaftlichen Klassen und Gruppen. Die Partei verband dies mit einem weitgehenden Umbau der eigenen Orga- nisation und entwickelte enge, ja organische Verbindungen mit den Bewegungen: Das Netzwerk Solidarity for all wurde gegründet, um die Solidarstrukturen landes- weit zu vernetzen und zu stärken. Jede und jeder Abgeordnete führt einen relevan- ten Teil ihrer bzw. seiner Bezüge in einen Fonds ab und stellt jeweils mindestens ein/e Mitarbeiter*in für die Arbeit in Bewegung frei. Die Partei war insofern für den Aufbau dieser Strukturen bedeutsam und steht damit für einen neuen Typus von Partei, der am ehesten durch Mimmo Porcaros Begriff einer »verbindende Partei« charakterisiert werden kann. Dass dieser konkrete Versuch gescheitert ist, hat viele Gründe (vgl. ebd.). Es gelang Syriza beispielsweise kaum sicherzustellen,

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_LUX_1602.indb 18 25.08.16 11:02 dass umgekehrt Impulse aus den Bewegungen in die Partei hineinwirkten, wie es noch zu Zeiten der Besetzung des Syntagma-Platzes der Fall gewesen war. »Wir haben keine aktive Beziehung zur Gesellschaft« aufrechterhalten, so der ehema- lige Generalsekretär Tasos Koronakis (2015). Und obwohl es weitreichende Ver- änderungen in der Organisationsstruktur gab, wurde »das Führungsmodell der Partei [...] nicht verändert«, es »glich eher einer Struktur, um Entscheidungen zu legitimieren als deliberative, gemeinsame Entscheidungen zu befördern« (ebd.). Die unverzichtbare Rolle von gesellschaftlichen Bewegungen ist in der Linken weithin anerkannt und doch dominiert weiterhin die Vorstellung eines linear aufstei- genden politischen Organisationsprozesses: Am Anfang stehen der Protest und die Bewegung, daraufhin folgt der Aufbau einer neuen und/oder der Umbau alter linker Parteien, die schließlich antreten, um Wahlen für sich zu entscheiden, die Macht zu erobern und ›richtige’ Politik umzusetzen. Bewegungen haben ihren Platz, aber die Vorstellungen der Machteroberung bleiben altmodisch, parlamentszentriert, etatis- tisch. Doch dieses traditionelle Verhältnis zur Regierung »ist nicht mehr tragfähig. Der Staat kann nicht bereitstellen, was Menschen benötigen« (Karitzis 2015). Stattdessen müsste klar sein, dass die Übernahme der institutionellen Regie- rungsmacht nicht der Moment der Ablösung des Bewegungsmoments ist. Vielmehr müsste noch verstärkt Selbstorganisierung in allen Bereichen angeregt werden. Es müssten neue verbindende Praxen zwischen den unterschiedlichen Funktionen von Regierung, Partei, Bewegung und gesellschaftlichen Selbstorganisationen ent- wickelt werden, statt stellvertretend für die Bewegungen und die Wähler*innen zu agieren und diese von Fall zu Fall anzurufen, um für die Regierung zu mobilisieren. Dass der konkrete Versuch einer verbindenden Partei in Griechenland geschei- tert ist, bedeutet nicht unbedingt, dass das Konzept falsch ist. Es handelt sich hier nicht um eine Frage der Parteiform, sondern der mangelnden strategischen Orien- tierung und der falschen Arbeitsteilung. Verbindende Praxis quer zu den Spaltungs- linien innerhalb der Partei und der gesellschaftlichen Linken zu entwickeln, sollte Aufgabe aller Teile der Linken sein, zumindest der jeweiligen Führungsgruppen (und nicht einiger weniger Verbindungspersonen oder Vermittlungsintellektueller). Zentral wäre dabei nicht nur, die Autonomie der Bewegungen zu gewähr- leisten, sondern auch die der Partei gegenüber der Regierung. Syriza drohte von Anfang an »die Gefahr einer vollständigen Vereinnahmung durch Regierungsver- pflichtungen, unter Aufgabe des wichtigsten Bestandteils der bisherigen Erfolgs- strategie der Partei« (Papadopoulou et al. 2015). Die Partei wurde gegenüber Re- gierung und Parlament marginalisiert. Sie spielte keine eigene Rolle mehr. Auch die Mitglieder wurden »zu keinem Zeitpunkt und in keiner Frage zurate gezogen« (Panagiotakis 2015). Ein klassischer Fehler: die Unterordnung der Partei unter die

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_LUX_1602.indb 19 25.08.16 11:02 Regierung, statt sie als eigenständige gesellschaftliche Kraft, als Ort der offenen Debatte und Organisierung zu begreifen.

Institutionen aufbrechen und Gegenmacht aufbauen Eine alte Erkenntnis erweist sich dabei wieder als zutreffend: Als Linke in die Insti- tutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidarstrukturen aus der Zivilgesell- schaft und damit eine weitreichende Partizipation aller popularen Klassen zu ver- ankern (vgl. Zelik in diesem Heft). Dabei gilt es, über die eigene Klassenspezi- fik des Mosaiks der politisch aktiven Teile der Bevölkerung hinauszugehen. Eine Verbindung der aktiven Teile der Bevolkerung und allerlei linker Organisationen und Bewegungen reicht nicht aus. Es gilt, einen Schritt weiterzugehen, eine auf- suchende Praxis zu entwickeln, die jene einbezieht, die von der Politik abgeschrie- ben wurden und Letztere abgeschrieben haben. Aus solchen Erfahrungen heraus gilt es systematisch und massenhaft transformative Organizer*innen auszubilden, eine Bewegungsschule für Vermittlungsintellektuelle, wenn man so will. Eine wirkliche Transformation kann nicht durch den Staat erfolgen. Oder wie es bei Nicos Poulantzas heißt: »Eine Transformation des Staatsapparats […] kann sich nur auf ein gesteigertes Eingreifen der Volksmassen in den Staat stüt- zen – sicherlich mit Hilfe der gewerkschaftlichen und politischen Vertreter der Volksmassen, aber auch durch die Entfaltung ihrer eigenen Initiativen innerhalb des Staates. [Sie wird] sich nicht auf eine bloße Demokratisierung des Staates be- schränken können, [sondern] muss von der Entfaltung neuer Formen der direkten Basisdemokratie und der Verbreitung von Netzen und Zentren der Selbstverwal- tung begleitet werden.« (Poulantzas 1978, 289f) Oder wie Andreas Karitzis (2015) es ausdrückt: »Die Eskalation von Seiten der Eliten erfordert eine Gegenstrategie, die die Menschen ermächtigt, eine Position einzunehmen, um auf alternative Wei- se die grundlegenden Funktionen einer Gesellschaft selbst zu übernehmen.« Es bedarf dazu eigener »stabiler Institutionen« jenseits des Staates, »die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden« (15) können, wie Porcaro es ausdrückt. Vor allem aber müssten sie schon heute eine »materielle Macht« (vgl. Giovanopoulos in diesem Heft) aus- bilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktiven Ressour- cen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um gegenüber den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C. Die Solida- ritätsinitiativen können wichtige organisatorische Schulen für solche Kämpfe sein. Sie sind potenziell auch ein wirksames Gegenmittel gegen (rechten) Populismus

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_LUX_1602.indb 20 25.08.16 11:02 und können Abhängigkeiten gegenüber einer (linken) Regierung mindern sowie Klientelismus vorbeugen. Sie beschränken sich nicht auf bürgerschaftliches Engage- ment, das die Defizite des ausgedünnten Sozialstaates kompensiert, sondern zielen mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und der direkten Aneignung auf seine Re- konstruktion und seinen demokratischen Umbau. Ausbau und Demokratisierung des Sozialstaates sollen aus dieser Perspektive Mittel und Entscheidungsmacht in die Zivilgesellschaft umleiten. »In and against the state« (Holloway). Die strategische Partei kann »nicht ›alles‹ sein« (14), meint Porcaro – Regierungs- partei und gegen den Staat gerichtete Bewegung etwa. Das ist richtig. Doch als Teil einer verbindenden Partei kann sie die Funktion übernehmen, Partei und Regierung zu trennen und zu vermitteln und »die Bewegungen dazu drängen, eigene Formen zu finden«, etwa kommunale oder darüber hinaus gehende Plattformen, die eigenstän- dig ein Gegengewicht zu Tendenzen der Verselbständigung einer ›guten Regierung‹ ausbildet. Wer weiß, vielleicht sollten wir demnächst in Berlin damit beginnen?

Literatur Candeias, Mario, 2013: Wo bitte geht’s zum Winterpalast? Transnationale Resonanzen und blockierte Transformation, in: LuXemburg 3-4/2013,10–21 Ders., 2016: Die verbindende Partei im Praxis-Test, in: Prokla 182, 153–166 Brecher, Jeremy/Costello, Tim, 1990 (Hg.): Building Bridges. The Emerging Grassroots Coalition of Labor and Community, New York Gramsci, Antonio, 1996: Anmerkungen zur Politik Machiavellis, Heft 13, in: ders., Gefängnishefte, Bd. 7, hg. u. übers. v. Bochmann, Klaus et al., Hamburg, 1533–1622 Karitzis, Andreas, 2015: The Dilemmas and Potentials of the Left: Learning from Syriza, in: Socialist Regis- ter 2016, 374-381 Kipping, Katja/Riexinger, Bernd, 2013: Verankern, verbreiten, verbinden. Projekt Parteientwicklung. Eine strategische Orientierung für DIE LINKE, www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-partei- entwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden/ Kirchheimer, Otto, 1965: Wandel des westdeutschen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1/1965, 20–41 Koronakis, Tasos, 2011: Linkspartei auf dem Syntagma-Platz, in: LuXemburg 4/2011, 36–41 Ders., 2015: Nach dem Coup. Partei und Bewegung – Ende der verbindenden Partei?, Beitrag auf der Tagung »Zerfall der EU oder demokratische Reorganisation von links. Wie weiter mit Europa?«, 13.11.2015 in Berlin Machiavelli, Niccolò, 2007: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Stuttgart Nardis, Fabio de, 2009: La Rifondazione comunista, Mailand Nunes, Rodrigo, 2013: Drei Thesen zur Organisationsfrage, in: LuXemburg 3-4/2013, 58–65 Panagiotakis, Michaelis, 2015: Humanitäres Management eines Protektorats?, in: LuXemburg-Online, Sept. Papadopoulou, Elena/Spourdalakis, Michalis, 2015: Zwei Monate Syriza-Regierung: Schwierigkeiten und Herausforderungen, in: LuXemburg-Online, April Porcaro, Mimmo, 2013: Mass party, connective party, strategic party, North American Left Dialogue der Rosa-Luxemburg-Stiftung, http://left-dialogue.blog.rosalux.de/2013/01/30/ Ders., 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft, in: LuXemburg 4/2011, 28–34 Ders., 2013: Occupy Lenin, in: LuXemburg 1/2013, 132–139 Ders., 2016: Tendenzen des Sozialismus im 21. Jahrhundert, Hamburg Poulantzas, Nicos, 1978: Staatstheorie, Hamburg Streeck, Wolfgang, 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin

1 Sofern nicht anders angegeben, Zitate aus dem Beitrag von Porcaro in diesem Heft.

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_LUX_1602.indb 21 25.08.16 11:02 Verlockungen der sanften Austerität warum die Linke in portugal die sozialdemokratische regierung toleriert

Catarina Príncipe und Zum ersten Mal in der Geschichte Portugals Carlos Carujo regiert die sozialdemokratische Partido Socialista (PS) mit parlamentarischer Unter- stützung der Linken – dem Linksblock, Bloco de Esquerda, und der portugiesischen Kom- munistischen Partei (PCP). Diese Entwicklung wirft zwei Fragen auf: Wie ist es dazu gekom- men und wie kann es weitergehen? Am 4. Oktober 2015 fanden in Portugal Parlamentswahlen statt, bei denen das rechte Wahlbündnis Portugal à Frente (PaF), das in den letzten Jahren die schärfsten Kürzungen der jüngeren Vergangenheit durchgesetzt hatte, den Sieg davontrug. Mainstream-Kommen- tatoren interpretierten dies als Zustimmung der Bevölkerung zur Austeritätspolitik der Rechtskonservativen. Dies ist jedoch vor- schnell. In absoluten Zahlen war der Anteil der Stimmen für die Rechte nämlich gesunken, während der der radikalen Linken gestiegen war. Der Linksblock (BE) konnte sogar sein bis dahin bestes Ergebnis einfahren. BE und PCP erhielten 10,2 und 8,2 Prozent. Außerdem war

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_LUX_1602.indb 22 25.08.16 11:02 eine Intervention der Europäischen Zentral- nur zehn Millionen Einwohner*innen Portu- bank wahlbeeinflussend, die es Portugal in gals sind in den letzten Jahren ausgewandert. letzter Minute ermöglichte, die Auflagen der Da es nicht möglich ist, über Austeri- Troika zu erfüllen, ohne ein zweites Hilfspaket tätspolitik zu sprechen, ohne die Frage der beantragen zu müssen. Das gab der Rechten Schulden aufzuwerfen, spielte auch diese einen erheblichen Auftrieb, und es zeigt, dass Problematik eine wichtige Rolle. Obwohl die die europäischen Institutionen bereit sind, Staatsverschuldung stets als Rechtfertigung ihre eigenen Grundsätze zu relativieren, wenn für die Austeritätspolitik herangezogen wird, es darum geht, die Linke zu destabilisieren. hat Letztere das Problem der öffentlichen Hinzu kam, dass es der Sozialdemokratie nicht Schulden keineswegs gelöst. Ganz im Ge- gelungen war, sich als schlagkräftige Oppositi- genteil: Sie hat es verschärft. Das liegt nicht onspartei zu präsentieren. Ihr Programm blieb zuletzt daran, dass es den Apologeten der Aus- schwammig und ihr Wahlkampf war lahm und teritätspolitik gar nicht um einen wirklichen voller rhetorischer Widersprüche. In jedem wirtschaftlichen Aufschwung geht, sondern Fall gewann die PaF die Wahlen trotz und nicht wegen ihrer Wirtschaftspolitik. Mit 36,9 Prozent der Stimmen verfehlte sie außerdem C atarina Príncipe ist in unterschiedlichen sozialen die absolute Mehrheit. Und fast 20 Prozent der Bewegungen aktiv – insbesondere gegen das euro­päische Krisenregime. Sie ist Mitglied Sitze gingen an Abgeordnete, die nicht nur die von Bloco de Esquerda, der portugiesischen Austeritätspolitik, sondern den Kapitalismus ­Linkspartei, und schreibt regelmäßig für Jacobin.

insgesamt ablehnen. Eine solche Situation Carlos Carujo ist Philosoph und Gründungsmit- ist einmalig in der neueren portugiesischen glied des Bloco de Esquerda. Politik – und sie macht deutlich, wie sehr die Krise die Bevölkerung polarisiert hat. darum, soziale Errungenschaften zurückzu- Die Kampagne des Bloco drängen. Wie sich politisch an das Problem Austerität ist seit Jahren das alles bestimmen- der Unrechtmäßigkeit der Schulden anknüp- de Thema in der portugiesischen Politik. Der fen lässt, war deshalb für die portugiesische Linksblock reagierte darauf, indem er sich auf Linke eine zentrale Frage, und zwar nicht nur Fragen von Arbeitslosigkeit, Prekarität und im Sinne einer Grundsatzhaltung, sondern den Abbau des Sozialstaats fokussierte. Wich- im Sinne realpolitischer Forderungen – denn tig war außerdem die Frage der Geflüchteten: ohne Umschuldung und Neuverhandlung der Portugal hat in den vergangenen Jahren den Zinsen ist eine Revitalisierung der portugiesi- größten Zustrom an Migrant*innen in seiner schen Wirtschaft faktisch unmöglich. Geschichte erlebt, während zeitgleich mehr Ein weiteres Kernthema der Kampagne war die Menschen das Land verließen, als in den Zukunft Portugals in der Europäischen Union 1960er Jahren vor der Militärdiktatur geflohen und in der Eurozone. Die anderen Parteien ver- sind. Über eine halbe Million der insgesamt suchten, den Linksblock als verantwortungslos

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_LUX_1602.indb 23 25.08.16 11:02 darzustellen. Sie argumentierten, die Erfah- Linksblock könne eine solche Regierung rung mit Syriza habe gezeigt, dass eine linke unter drei Bedingungen unterstützen: eine Partei, die eine explizite Anti-Austeritätspolitik Erhöhung der Renten, ein Verzicht auf weitere verfolge, nicht in der Lage sei, ein Mitglieds- Absenkungen der Sozialabgaben und ein Ende land der EU zu regieren. Diese Kampagne der Arbeitsmarktliberalisierung. zeigte jedoch keine allzu große Wirkung. Dies war ein kluger Schachzug, denn Entsprechend erklärte der Linksblock er zwang die PS, sich wirtschaftspolitisch zu erstmals öffentlich, dass man bereit sei, die positionieren und ihre Loyalitäten zu klären. Eurozone zu verlassen, sollte sich ein solcher Allerdings beruhte er auf Annahmen, die sich Schritt als notwendig erweisen, um die Aus- als unzutreffend erweisen sollten, nämlich terität zu beenden und Souveränität wieder- zum einen, dass die PS die Wahlen gewinnen zugewinnen. »Keine weitere Aufopferung für und der Linksblock nur wenige Stimmen den Euro!« wurde zum wichtigen Motto ihrer erhalten würde und dass die PS sich weigern Wahlkampagne. Damit erzielte der Linksblock würde, mit der Linken zu verhandeln. die besten Ergebnisse in seiner Geschichte. Da keine der großen Parteien die absolute Mehrheit errang, wurden Koalitionsverhand- Von der Opposition zur Tolerierung lungen aufgenommen. Das gute Ergebnis Die Möglichkeit, mit den Sozialdemokraten des Linksblocks und die Initiative, der PS zusammenzuarbeiten, wurde eigentlich nur als Bedingungen für eine Zusammenarbeit zu rhetorische Volte ins Spiel gebracht. Bei einem unterbreiten, rückten dabei ins Zentrum. Die Bundesparteitag 2014 hatte noch eine große PS-Führung wusste, dass sie keine Verhand- Mehrheit gegen jedes Bündnis mit den ›Sozia- lungen mit Parteien rechts von ihr führen listen‹ gestimmt. Viele warfen ihnen vor, eine konnte. Der politischen Kultur des Landes »sanfte Austeritätspolitik« zu verfolgen und sind Große Koalitionen fremd, und wäre die keine wirkliche Alternative zur Troika-Politik PS als Juniorpartner in eine rechte Regierung anzubieten. Schließlich war es die PS geführte eingetreten, hätte dies die politische Krise Vorgängerregierung, die das ursprüngliche verschärft und ihre Identität weiter verwässert. Abkommen mit der Troika unterzeichnet und Also rief sie die Linke dazu auf, eine als unumgänglich dargestellt hatte. Aber auch Minderheitsregierung der PS zu unterstützen. umgekehrt konnte sich die PS eine Zusammen- Diese Konstellation verursachte eine fast arbeit mit der Linken kaum vorstellen. Eher zwei Monate dauernde politische Krise. Der hofften sie angesichts der verbreiteten Kritik an Präsident der Republik, Aníbal Cavaco Silva, den Sparmaßnahmen der rechten Regierung eine Galionsfigur der portugiesischen Rechten, auf einen regelrechten Durchmarsch bei den startete einen letzten Versuch, die Rechte an Wahlen. Im letzten Moment überraschte die Macht zu hieven, doch ohne Erfolg. Und dann die Sprecherin des Linksblocks, Cata- der Linksblock konnte, nachdem er selbst den rina Martins, mit dem Vorschlag, eine linke ersten Schritt getan hatte, von seiner Position Regierung zu bilden. Sie deutete an, der nicht mehr abrücken. Nach langen Diskussi-

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_LUX_1602.indb 24 25.08.16 11:02 onen wurde ein Abkommen zwischen der PS Linksparteien bis heute eine hohe Popularität. und dem Linksblock sowie zwischen der PS Dies wird jedoch aus zwei Gründen nicht und der PCP unterzeichnet, das die Grundlage von langer Dauer sein: Erstens werden PCP des Haushalts für 2016 bildete. Am 26. No- und Linksblock den Eindruck, sie seien nur vember 2015 trat schließlich eine sozialdemo- für die positiven Maßnahmen verantwortlich kratische Regierung mit der parlamentarischen und nicht auch beispielsweise für die Anhe- Unterstützung der Linken ihr Amt an. bung der Mineralölsteuer, mittelfristig nicht ­aufrechterhalten können. Zweitens wird sich Sanfte Austerität, die Zweite die Austeritätspolitik weiter verschärfen, sobald Linksblock und PCP hatten zwar jeweils eige- die EU-Kommission und der IWF den Druck ne Abkommen mit der PS ausgehandelt, beide auf die portugiesische Regierung erhöhen. beruhten jedoch auf demselben Kompromiss: Das erste Alarmsignal in diese Rich- Die Linke würde dem Haushaltsentwurf und tung ertönte bereits während der Haus- einigen anderen Gesetzen zustimmen, jedoch haltsverhandlungen mit der Kommission. außerhalb der Regierung bleiben und sich Diese argumentierte mit dem Europäischen vorbehalten, auch weiterhin alternative Poli- Fiskalpakt, um die Spielräume für die von tiken zu verfolgen. So war es ihr möglich, die der Linksregierung geplante Politik eines verbreitete Forderung nach einer Beendigung konsumgetriebenen Binnenwachstums zu der schlimmsten Sparmaßnahmen aufzugrei- beschneiden. Außerdem nötigten der IWF und fen, ohne sich der PS zu sehr anzunähern. die EU-Kommission der PS die Zustimmung Das Abkommen enthielt unter anderem zu sogenannten zusätzlichen Maßnahmen die Rücknahme von Gehaltskürzungen im ab (die der Öffentlichkeit nicht bekannt sind), öffentlichen Dienst und der Privatisierung des sollten die Defizitziele nicht erreicht werden. öffentlichen Nahverkehrs. Auch wurde eine Insgesamt gerät das Regierungsprogramm geringe Anhebung des Mindestlohns und der zunehmend unter Druck, was nicht überrascht, Familienbeihilfen für Einkommensschwache hatten doch die Linksparteien immer argumen- beschlossen. Schließlich war die PS gezwun- tiert, dass das makroökonomische Szenario der gen, einige ihrer neo­liberalen Positionen PS unrealistisch sei und die entsprechenden aufzugeben – darunter den Wunsch, die Politiken nicht jenes ­Wirtschaftswunder Sozialabgaben der Unternehmen zu senken. erzeugen würden, das nötig wäre, um die vom Doch andere wichtige Themen wie die Fiskalpakt vorgeschriebene Defizitobergrenze Staatsverschuldung wurden nicht angefasst einhalten zu können. Eine oft bemühte linke und stattdessen an Arbeitsgruppen delegiert, Plattitüde wird hier tatsächlich wahr: »Sanfte die keinerlei Einfluss haben.Die verbreitete Austerität ist keine Alternative.« Ablehnung der Sparpolitik verschaffte dem Denn etwas mehr soziales Bewusstsein Abkommen großen Zuspruch in der Öffent- bedeutet noch keine Absage an weitere Ausga- lichkeit, und da einige geplante Kürzungen benkürzungen oder die Austeritätspolitik ins- zurückgennommen wurden, genießen die gesamt. Man ist auch noch weit davon entfernt,

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_LUX_1602.indb 25 25.08.16 11:02 den Sozialstaat mit angemessenen Ressourcen Haushaltskürzungen und die fortschreitende ausstatten zu können oder einen echten Versuch Deregulierung des Arbeitsmarkts. 2011 haben der Umverteilung zu unternehmen. Die Verein- sie das Troika-Memorandum mit unterzeichnet. barung – die unter der Maßgabe getroffen wur- Die portugiesische Regierung weiß, dass sie de, sich an die Spiel­regeln der EU zu halten – nicht einfach von dem Weg abweichen kann, macht also exemplarisch deutlich, dass es zum den die europäische Bürokratie – angeführt von gegenwärtigen Zeitpunkt in einer abhängigen der deutschen Bourgeoisie und unter dem Dik- südeuropäischen Volkswirtschaft wie Portugal tat des internationalen Finanzkapitals – vorgibt. nicht einmal einen minimalen Spielraum für Es ist also an der antikapitalistischen Linken, sozialdemokratische oder keynesianische Politik diese Auseinandersetzung zu organisieren und gibt – oder wenn, dann nur unter Missachtung entsprechenden Druck zu entfalten. der Vorgaben der Troika. Die Regierung ist also Portugal erlebt nach einer Phase extremer nicht in der Lage, die mittelfristigen Probleme Austerität gegenwärtig eine gewisse Entlas- der portugiesischen Wirtschaftspolitik anzuge- tung. Da die Regierungsvereinbarung noch hen: weder die Staatsverschuldung, die Krise Unterstützung genießt und die geplanten des nationalen Bankensystems, die gemeinsame Maßnamen bereits zur Hälfte erfüllt wur- europäische Währung noch andere Hinder- den, wäre es kontraproduktiv, den Sturz der nisse einer nachhaltige Wirtschaftspolitik und Regierung zu fordern. Die Linke befindet sich nachhaltiger öffentlicher Investitionen. Ohne außerdem im Aufschwung. Die Führungsper- eine Vorstellung davon, wie eine andere Art der sonen des Linksblocks erfreuen sich öffentli- europäischen Kooperation aussehen könnte, ist cher Beliebtheit und die Partei hat Tausende es zwar vielleicht möglich, die gravierendsten neuer Mitglieder gewonnen. Sparmaßnahmen kurzfristig abzuwehren, doch Sich darauf auszuruhen und die Regierung es ist nahezu unmöglich, die Abwärtsspirale­ unkritisch zu unterstützen, wäre jedoch ein einer stetigen Verarmung zu stoppen. politisches Desaster. Denn das würde die Linke für die Verlockungen einer ›sanften Austerität‹ Was also tun? empfänglich machen und sie zwingen, in der Wie genau und wann sich der internationa- Zukunft weitere Sparmaßnahmen zu verteidi- le politische Druck entfalten oder wie die gen, um nicht für ein Scheitern der Vereinba- Wirtschaftskrise sich weiterentwickeln und rung verantwortlich gemacht zu werden. Sie auswirken wird, lässt sich nicht vorhersagen. muss hier also eine kritische Haltung bewah- Aber eines steht fest: Der Druck wird weiter ren und dies auch öffentlich deutlich machen. steigen. In der jüngeren Geschichte der PS gibt Der Linksblock hat momentan am meisten es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Partei zu verlieren. Er trägt nicht nur die Mitverant- ernsthaft dazu bereit wäre, für Beschäftigte und wortung für die Hauptpunkte der Vereinba- deren soziale Rechte einzutreten. Eine wirkliche rung, er verfügt außerdem weder über eine Arbeiterpartei war sie nie und ihre Abgeord- breite Basis, noch ist er zu einer anhaltenden neten tragen eine (Mit)-Verantwortung für die politischen Mobilisierung fähig. Die Sozialisten

26 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 26 25.08.16 11:02 können die Vereinba- rung jederzeit unter irgendeinem Vorwand aufkündigen und die Kommunisten verfü- gen über eine stabile Wählerbasis. Der Links- block jedoch ist ›ver- wundbarer‹. Er muss einerseits ein hartes Durchgreifen der Institutionen fürchten und andererseits eine Neuorientierung von Wechselwähler*innen. »Ne da(vi)mo Beograd« – »Wir geben Belgrad nicht her« und Sollte sich die PS für eine Fortführung des »Wir ertränken es nicht«, so die Losung eines Protests gegen Austeritätsprogramms entscheiden, dürfte der den Abriss von Gebäuden in der Belgrader Innenstadt, wo am Ufer der Save ein mondänes business district entstehen soll. Linksblock schnell in eine schwierige Situation © Matija Jovanovic geraten, da er bei einem Bruch der Vereinba- rung höchstwahrscheinlich für das Scheitern des Linksblocks besteht eine starke strukturel- einer fortschrittlichen Regierung verantwort- le Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung. lich gemacht würde. Zudem ist dessen Führung bisher nicht in der Wir sollten deshalb versuchen, schon Lage, ein offensives Programm vorzulegen. jetzt Haltelinien aufzuzeigen, bis zu denen Sie hangelt sich von Tag zu Tag, reagiert auf eine Regierungsunterstützung denkbar wäre. aktuelle Ereignisse und trifft kurzfristig poli- Die Durchsetzung eines von der EU gefor- tische Entscheidungen, statt eine Bewegung derten Sparpakets wäre sicherlich nicht zu von unten aufzubauen. akzeptieren. Das eigentliche Problem besteht Um eine wirkliche Alternative sowohl allerdings darin, massenhaften Widerstand zur harten als auch zur sanften Austerität zu gegen die Sparpolitik wiederzubeleben, oder entwickeln, muss die antikapitalistische Linke anders ausgedrückt: die Frage zu beantworten, an der Basis ansetzen und ihre Praxen und wie antikapitalistische Politik in Europa heute Prioritäten neu ausrichten. Das angestrebte eigentlich aussehen müsste. Ziel sollte der Aufbau einer gesellschaftlichen Die Anti-Austeritäts-Bewegung, die und politischen Bewegung sein, die in der Massendemonstrationen gegen die Troika- Lage ist, Austerität in all ihren Erscheinungs- Politik organisiert hat, ist verschwunden. Es formen zu bekämpfen. gibt in Portugal kaum nennenswerte Selbst­ organisation von unten und sogar innerhalb Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann

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_LUX_1602.indb 27 25.08.16 11:02 jeremy Corbyn: Zurück in die zukunft?

Hilary Wainwright Um es vorwegzunehmen: Die Wahlerfolge einer Handvoll linker Politiker – Alexis Tsipras in Griechenland, Pablo Iglesias in Spanien und Jeremy Corbyn in Großbritannien – sind eher ein Zeichen für die Schwäche und den Legitimationsverlust des gegenwärtigen politischen Systems als echte Hinweise auf eine gangbare politische Alternative. Denn trotz seines beispiellosen Erfolgs hat Corbyn über die Partei, die er vermeintlich führt, keine wirkliche Kontrolle. Die Parteielite weigert sich, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der sie seit Jahrzehnten als linker Hinterbänkler provoziert hat, ja sie sabotiert ihn geradezu. Und der tiefe Riss durch die britische Gesell- schaft, den das BREXIT-Votum Ende Juni 2016 offenbart hat, verweist darauf, dass sich große Teile der Subalternen von der herrschenden Politik abgewendet haben. Deren verbreitetes Gefühl von Ohnmacht und Vernachlässigung wendet sich nun gegen Einwander*innen und die EU gleichermaßen. Unterhalb eines echten Umbaus der Institutionen und neuer demokra-

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_LUX_1602.indb 28 25.08.16 11:02 tischer Formen wird deshalb die Corbyn’sche zu unterstützen und an der Macht teilhaben zu »New Politics« nicht möglich sein. lassen – populare Kräfte mit der Fähigkeit zu In dieser Situation stellen sich drei transformatorischer Politik. Fragen. Erstens: Wie konnte ein Politiker, der so unverblümt und entschlossen für radikal Die Wurzeln einer hybriden Bewegung linke Positionen eintritt, es überhaupt schaffen, Die Ursprünge der ungerichteten Bewegung, siegreich aus dem Führungsstreit einer Partei die sich um Corbyn gesammelt hat, liegen hervorzugehen, die die Linke in den eigenen mitunter weit zurück. Tony Benn propagierte Reihen stets in Schach gehalten hat? Zweitens: bereits 1972 eine »New Politics«, die – ange- Weisen die Begleitumstände dieses bemerkens- sichts der weltweiten Mobilisierung gegen den werten Sieges auf bestimmte Machtressourcen Vietnamkrieg – zugleich internationalistisch hin, die sich für eine Transformation der und auf das spezifisch britische Problem des Labour Party im Sinne der von Corbyn ausgeru- Westminsterschen Parlamentarismus und fenen »New Politics« mobilisieren ließen? Und der Labour Party fokussiert sein sollte. In den drittens: Lässt sich Corbyns Beharren darauf, dass es eine Alternative gibt, in eine praktische Strategie für den Wahlkampf verwandeln? Hilary Wainwright ist aus der linken Szenerie in Fest steht, dass Corbyn nur erfolgreich Großbritannien nicht wegzudenken. Seit Jahr- zehnten ist sie Antikriegsaktivistin, Feministin, sein kann, wenn eine großer Teil der arbeiten- Bewegungstheoretikerin und Teil der Anti-Auste- den Bevölkerung glaubt, seine Regierung sei ritäts-Bewegung UK Uncut, seit Neustem gehört nicht nur imstande, die aktuelle Sparpolitik zu sie zum Unterstützerkreis von Jeremy Corbyn. Sie beenden, sondern könne auch eine gesellschaft- swsist außerdem Chefredakteurin von Red Pepper, einer Partnerzeitschrift der LuXemburg. liche Mehrheit mobilisieren, um eine pro- grammatische Alternative zu New Labour und den regierenden Tories umzusetzen. Konkret müsste das heißen: weitere Privatisierungen Jahrzehnten seither – in denen Benns Versuch, verhindern, demokratische Formen öffentlichen in seiner Funktion als Minister die Industrie Eigentums ermöglichen, Leiharbeit und andere radikal zu reformieren, scheiterte, Thatcher die Formen prekärer Arbeit abschaffen sowie faire Gewerkschaftsbewegung niederrang und New Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen für Labour die Parteilinke ins Abseits drängte – ist alle durchsetzen. Mit anderen Worten: Corbyns eine Generation von Aktivist*innen herange- Zukunft hängt davon ab, ob er die traditionelle wachsen, für die ein Bündnis mit der Labour parlamentarische Logik, wonach Menschen ihre Party undenkbar schien. Auf bescheidene und Macht an ihre politischen Vertreter*innen ab- doch wirksame Weise haben sie – ähnlich geben, durchbrechen kann. Bei Corbyns »New wie ihre politischen Pendants, die Bewegung Politics« geht es gerade darum, dass politische der Indignados in Südeuropa und Occupy in Vertreter*innen die Bühne der Partei (und den USA – ihren eigenen Politikstil definiert: später des Staates) nutzen, um populare Kräfte direkte, nicht durch Parteien vermittelte

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_LUX_1602.indb 29 25.08.16 11:02 tige Kombination. Sie erhielten außerdem Beistand von vielen Gewerkschafter*innen, die seit Jahren gegen die verschiedenen Neuauflagen des Thatcherismus kämp- fen, aber dabei nie Unterstützung ihrer Partei erfahren haben. Die Frage lautet: Kann diese hybride Bewegung die Labour Party zur ihrer Partei Protest gegen den Abriss von Gebäuden in der Belgrader Innenstadt, © Matija Jovanovic machen? Oder ist die Bewegung lediglich eine vorrübergehende ›Besetzerin‹ des Raums, den gesellschaftliche Intervention. Einige dieser Corbyn geschaffen hat, dem jedoch bald der Aktivist*innen stellten nun den kreativen Kern Strom abgedreht wird und dem die Räumung von Corbyns Kampagne. durch Gerichtsvollzieher und Polizei droht? Dann gibt es noch die ältere, Corbyns Bisher sprudeln die beiden Hauptenergie- eigene Generation, die wie Benn in den späten quellen der Bewegung recht konstant – Partei- 1960er und den 1970er Jahren von den »New mitglieder und öffentliche Glaubwürdigkeit. Politics« geprägt wurde. Diese Linken waren So kam eine YouGov-Meinungsumfrage unter wegen Benn in die Labour Party eingetreten Labour-Party-Mitgliedern kürzlich zu dem (fühlten sich später vom Blairismus abge- Ergebnis, dass die Unterstützung für Corbyn stoßen) und gehörten zu den Ersten, die im seit seiner Wahl auf 66 Prozent angestiegen Vorfeld des Irakkriegs lokale Veranstaltungen sei. Die Kampagne gegen ihn stützt sich haupt- machten, Flugblätter verteilten und Busse sächlich auf die angebliche Unwählbarkeit des nach London organisierten, wo 2003 zwei langjährigen Abgeordneten, wobei die Blairis- Millionen Menschen gegen den drohenden ten auch von Fassungslosigkeit angetrieben Krieg auf die Straße gingen. Diesen älteren werden: Wie konnte die Linke überhaupt all Aktivist*innen verlieh Corbyns zunächst zag- diese Jahre der Niederlagen überleben? Doch hafte Kandidatur für den Parteivorstand wie- das hat sie zweifellos. Die Anziehungskraft, die der eine Stimme. Sie entwickelten eine lokale von Corbyn und seinem langjährigen Ver- Infrastruktur für seine Kampagne, die dann bündeten und derzeitigen Finanzminister im durch die jüngere Generation auf die sozialen Schattenkabinett, John McDonnell, ausgeht, ist Medien ausgedehnt wurde – eine schlagkräf- nicht einem speziellen Charisma geschuldet,

30 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 30 25.08.16 11:02 das Führende von Geführten unterscheidet Wähler*innen. Ob er allerdings über genügend und Letztere in passiver Ehrfurcht verharren Spielraum verfügt, um die politische Agenda lässt. Im Gegenteil: Die Hauptquelle seiner der Partei vorzugeben, bleibt abzuwarten. Attraktivität und seiner Stärke ist Corbyns Nah- barkeit. Bei seinen Veranstaltungen feiert er Momentum mit den Menschen, zeigt sich stets mitfühlend, Corbyns Versuch, die Energie seiner Kam- bezieht sich auf die Themen ihres täglichen pagne – die den treffenden Namen Momen- Lebens und beweist mit seiner Kandidatur, tum trägt – zu institutionalisieren und ihre dass es tatsächlich möglich ist, diese geteilten Dynamik aufrechtzuerhalten, ist darauf ausge- Erfahrungen in eine Ressource für kollektive legt, genau dafür einen Freiraum zu schaffen. Macht zu verwandeln, für eine aktive und Die Führung dieser Organisation besteht aus hoffnungsvolle Solidarität. Ementsprechend derselben generationellen Mischung wie auch lautete sein Kampagnen-Motto auch: »Jez, we die Kampagne selbst. can« (Jez als Abkürzung von Jeremy). Momentum steht vor der Herausforde- Corbyns Aufrichtigkeit und sein be- rung, die Transformation der Labour Party scheidener Stil kommen in der Öffentlichkeit voranzutreiben, eine wirkliche Alternative nach wie vor gut an. Von all den persönlichen zu New Labour und der Tory-Herrschaft zu Angriffen gegen ihn – weil er sich angeblich entwerfen und all das in eine praktische falsch verbeuge, falsch kleide oder die National- Wahlkampfstrategie münden zu lassen. Die hymne nicht singe – haben die meisten ihr Ziel Frage ist, ob und wie überhaupt eine andere verfehlt. Eines der anschaulichsten Beispiele Labour Party aufgebaut werden kann, die in der für Corbyns »New Politics« war seine Verwand- Lage ist, eine landesweite Parlamentswahl zu lung der Prime Minister’s Questions (Fragen gewinnen – angesichts der heute wesentlich ge- an den Ministerpräsidenten von Mitgliedern ringeren Schlagkraft der industriellen Arbeiter- des House of Commons) in eine People’s klasse. Die Führung innerhalb einer ziemlich Question Time: Über soziale Medien gab er verkümmerten Partei zu übernehmen, deren ›normalen‹ Leuten die Möglichkeit, Fragen an Kampagnen größtenteils aus unvermittelten Cameron zu stellen. Dieser konnte die Fragen Appellen an potenzielle Unterstützer*innen aus Angst vor der öffentlichen Reaktion nicht bestehen, ist etwas völlig anderes als der lange einfach in seiner üblich arroganten Manier Marsch durch die Institutionen, wie ihn Rudi beiseiteschieben. Die People’s Question Time Dutschke vor Augen hatte. Die Institution hat enorm dazu beigetragen, dass Corbyn sich Labour Party wurde in einer Gesellschaft ge- in den ersten Wochen im Amt stabilisieren schaffen, die heute so nicht mehr existiert, was und auch so manche Zweiflerin von seinem wiederum bedeutet, dass für einen ›erfolgrei- Willen zur politischen Erneuerung überzeu- chen Marsch‹ die Veränderung der Gesellschaft gen konnte. Seine Trümpfe sind die massive genauso erforderlich ist wie eine Veränderung Unterstützung durch die Parteibasis sowie die des Verhältnisses der Labour Party zur Gesell- gewachsene Glaubwürdigkeit in den Augen der schaft. Und dann geht es auch noch darum, die

Verbinden | Luxemburg 2/2016 31

_LUX_1602.indb 31 25.08.16 11:02 parteieigenen Organisationen neu aufzustellen. allem aber zielen diese Anstrengungen nicht Ein kompliziertes Unterfangen. lediglich darauf, gewählte Regierungen zu beeinflussen, sondern darauf, die alltägliche Ein neues Terrain Unterdrückung und Ungerechtigkeit, auf Corbyn hat die Führung der Labour Party zu denen die neoliberale Ordnung basiert, zu einem Zeitpunkt übernommen, an dem das unterbrechen. Inmitten der Trümmer der neoliberale Paradigma sowohl die Partei als Sozialdemokratie versuchen sie aus dem auch den Staat vollkommen durchdrungen Widerstand heraus neue emanzipatorische hatte. Die Aushöhlung des Sozialstaats und Beziehungen zu schaffen, die auf Gegenseitig- die Abschaffung des progressiven Steuersys- keit und Demokratie beruhen. tems haben nicht nur die materielle Grund- Viele Initiativen arbeiten an Sozialökono- lage für eine öffentliche Daseinsvorsorge mien, die auf gemeinsamem oder kooperativem zunichtegemacht, sondern auch jeden Ansatz Besitz beruhen und stellen so – auf der Mikroe- einer halbewegs regulierten Volkswirtschaft. bene – die Profitlogik infrage. Sie zeigen, dass Eine Mischwirtschaft, in der Profite eines eine auf sozialistischen Prinzipien gegründete produktiven kapitalistischen Sektors besteuert Wirtschaftsweise möglich ist. Andere wiederum und darüber soziale Absicherung und öffentli- arbeiten (zum Teil mit der Unterstützung fort- che Infrastruktur zum Wohle aller gewährleis- schrittlicher Gemeinderäte) an der Vernetzung tet werden konnten, gehört der Vergangenheit von Kooperativen und Genossenschaften in den an. Sie ist durch einen globalen Finanzkapi- Bereichen Energie, Landwirtschaft, Nahrungs- talismus ersetzt worden, in dem Kapitalflüsse mittelproduktion und Kultur. Bündnisse von die Politik bestimmen statt umgekehrt. In den Beschäftigten und Kommunen, die gemeinsam Ländern der Eurozone dienen von oben auf- die Privatisierung öffentlicher Dienstleistun- gezwungene Verträge und Sparpakete dazu, gen (etwa der Wasserversorgung) verhindert fortschrittliche Reformen zu verhindern. haben, versuchen nun, diese demokratisch zu Die Kapitalseite hat den Nachkriegskon- organisieren und in Commons zu überführen. sens aufgekündigt – und zwar endgültig. Prekär Beschäftigte, die von den traditionellen Es können zwar hier und dort noch Siege Gewerkschaften lange vernachlässigt wurden, errungen werden, allerdings nur, wenn machen ihre ökonomische Macht in Eigenregie außerparlamentarische Bewegungen den Staat geltend. Und auch Gewerkschaften experimen- unter Druck setzen und die Unterstützung tieren mit neuen Organisationsformen. Unite – sympathisierender Politiker*innen erhalten. die größte Gewerkschaft in Großbrittanien und Glücklicherweise gibt es jedoch sowohl in Unterstützerin von Corbyn – hat Ortsgruppen Großbritannien als auch in anderen geschun- gegründet, in denen sich auch Erwerbslose denen Ländern viele Anzeichen einer neuen organisieren können und die sich in lokale Art des Widerstands. Ein Merkmal dafür ist Auseinandersetzungen einbringen (vgl. Bader die Mobilisierung aller möglichen Ressour- in LuXemburg 1/2014). Außerdem setzt Unite cen und Ebenen der politischen Macht. Vor auf direkte Aktionen, die sie sich bei UK Uncut,

32 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 32 25.08.16 11:02 dem landesweiten Bündnis gegen die Sparpoli- verbreiten. Sie entwickelten eine neue Sprache tik, abgeschaut hat, um Druck auf die Zulieferer der Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit derjenigen Firmen auszuüben, mit denen sie und stellten dem ›Ich‹ der Marktkonkurrenz gerade verhandelt. ein kollektives ›Wir‹ entgegen. Sie entwarfen Menschen, die von Sozialleistungen Lebensmodelle eines Sozialismus, der nicht abhängig und von den Sparmaßnahmen nur auf den Staat setzt, auch wenn er der Un- besonders betroffen sind, beginnen sich zu terstützung einer anderen Art von Staat bedarf. organisieren und richten ihre Forderungen Dies haben sie mit Corbyn, der ein plurales direkt an Abgeordnete oder Gemeinderatsmit- Verständnis von gesellschaftlichem Eigentum, glieder. Zunehmend nutzen zivilgesellschaft- Regulierung und Intervention vertritt, gemein. liche Netzwerke den kommunalen Raum, Common Weal hat die Hoffnung geweckt, dass um Öffentlichkeit zu schaffen und materielle etwas Besseres als die herrschenden Zustände Macht zu mobilisieren (vgl. Giovanopulous in möglich ist, und hat so Menschen, die sich diesem Heft). Und obwohl sie oft Parteien wie längst von politischen Prozessen verabschiedet Podemos oder Personen wie Corbyn unterstüt- hatten, die Zuversicht zurückgegeben, dass zen, legen die Menschen in diesen Initiativen sie etwas beeinflussen können und über großen Wert auf ihre Unabhängigkeit als Machtressourcen verfügten. Ein Merkmal des Bedingung für eine nachhaltige Arbeit. Corbyn’schen Sozialismus. Diese neue Art der Demokratie muss auch Eine andere Demokratie auf die Arbeitswelt ausgedehnt werden. Dazu Wenn es der Momentum-Kampagne gelingt, muss die Linie, die Gewerkschaften traditionell solche Initiativen zu unterstützen, könnte sie zwischen politischen und ökonomischen Fra- dazu beitragen, eine breite Bewegung aufzu- gen ziehen, aufgehoben werden. Sie mag Ende bauen und damit eine Grundlage für einen des 19. Jahrhunderts, als die Gewerkschaften Sieg Corbyns bei den Wahlen 2020 zuschaf- die Labour Party als parlamentarische Vertre- fen. Eine solche Bewegung könnte dann auch tung gründeten, sinnvoll gewesen sein. Heute schon Bündnisse und transformative Initiati- ist sie falsch – insbesondere dann, wenn wir ven für die Zeit nach den Wahlen anstoßen. uns vor Augen führen, dass Arbeiter*innen Besonders die Initiativen von Common sich heute in ganz verschiedenen Kämpfen Weal, einer einflussreichen Organisation in engagieren und ihre Gewerkschaften oh- Schottland, die die dortige Unabhängigkeits- nehin in eine politische Richtung drängen. kampagne (Radical Independence Campaign) Aktivist*innen – auch die von Momentum – mit vorangetrieben hat, waren hilfreich für das können diese Prozesse beschleunigen, indem Corbyn-Lager. Hier beteiligten sich vor allem sie helfen, politische und wirtschaftliche junge parteiunbhängige Menschen, sehr viel Fragen zusammenzudenken, um so auf einen radikaler als die Scottish National Party. Die Systemwechsel hinzuarbeiten. Kampagne hatte das Ziel, wirtschaftspolitische Alternativen von unten auszuarbeiten und zu Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann

Verbinden | Luxemburg 2/2016 33

_LUX_1602.indb 33 25.08.16 11:02 Goodbye Sanders? Warum die ›politische Revolution‹ noch nicht am Ende ist

Ingar Solty Manche seiner Unterstützer*innen mögen enttäuscht sein, dass nicht zum demokratischen Präsidentschaftskandida- ten gekürt wurde. Angesichts des Momentums seiner Kampagne schien für einen Augenblick das Unmögliche möglich. Allerdings war ein Sieg Sanders von Anfang an undenkbar – zu groß sind die Machtressourcen des Partei- Establishments und zu manipulativ ist der Wahlprozess, wie die Mitte Juli 2016 geleakten E-Mails der Parteiführung noch einmal bezeu- gen, in denen die Entschlossenheit, Sanders Kandidatur um jeden Preis zu verhindern, offensichtlich wurde. Anstatt einem histori- schen Pessimismus zu verfallen, ist es darum sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, dass Sanders bereits jetzt vieles erreicht hat.

Was Sanders erreicht hat: Acht Thesen Die Sanders-Kampagne hat erstens gezeigt, dass sich ein erfolgreicher Wahlkampf auch ohne die Unterstützung finanzkräftiger Lobby- Gruppen führen lässt. Mit fünf Millionen

34 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 34 25.08.16 11:02 Kleinstspenden von durchschnittlich unter 30 Exit aus der Krise (wie Sanders sie verkörpert) US-Dollar konnte er eine Kampagne lancie- und einem imperialen Neoliberalismus (wie ren, die jeder Korruption unverdächtig war ihn Clinton verkörpert). Damit hat Sanders und einen Maßstab für künftige Generationen sechstens einen dritten Pol aufgezeigt, jenseits setzt. Sanders hat zweitens die US-Wahlen des neoliberalen Status quo auf der einen politisiert und seine Gegner gezwungen, sich und einer auf Entsolidarisierung setzenden zu seinen Forderungen zu verhalten. Diese Kritik der nationalistischen und rassistischen Forderungen konnte Sanders drittens in der Rechten auf der anderen Seite. Angesichts US-Politik verankern: kostenlose Hochschul- dieses ›populistischen Moments‹ ist es ihm bildung, kostenlose Gesundheitsversorgung, gelungen, ein politisch entfremdetes weißes ein bundesweiter Mindestlohn von 15 US-Dol- Working-Class-Wählerklientel in vermeintlich lar, die Entflechtung der Banken, ein Fracking- republikanischen Staaten wie West Virginia Verbot, das Ende für antidemokratische und für die Linke zurückzugewinnen. Und zwar geopolitische ›Investitionsschutzabkommen‹ dadurch, dass er die Vision einer besseren wie TPP und TTIP und ein Ende imperialis- tischer Kriege. Was bis dato als unrealistisch galt, ist heute eine Vision für Millionen Ingar Solty ist seit Mai 2016 Referent für Friedens- US-Amerikaner*innen. Die »Grenzen des und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschafts- analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redak- Möglichen« (Fernand Braudel) haben sich teur dieser Zeitschrift. Er arbeitet zu Fragen der verschoben. Ein Mindestlohn von 15 US-Dollar internationalen politischen Ökonomie. beispielsweise wird derzeit in vielen Großstäd- ten, aber auch in immer mehr Bundesstaaten umgesetzt. Viertens hat die Sanders-Kampagne Zukunft gezeichnet hat und nicht durch die für viele Menschen wichtige Momente poli- bloße Warnung vor drohendem Faschismus. tischer Bildung und eine Klassenperspektive Siebtens hat Sanders ein neues Interesse an auf die herrschende Politik vermittelt. Dazu marxistischer Theorie insbesondere in der gehört die Einsicht, dass eine Umsetzung der Generation der sogenannten Millennials ent- genannten sozialen Forderungen in einem flammt, die wesentlich weiter links steht als reichen Land zwar möglich ist, allerdings alle vorhergehenden Generationen. Dadurch nur gegen den Widerstand der herrschenden wird es möglich, über Sanders hinaus auch Kräfte, und dass es dazu nicht nur einer Mas- die Grenzen seines konfliktorientierten Sozi- senmobilisierung, sondern einer ›politischen aldemokratismus zu diskutieren, der zum Teil Revolution‹ bedarf. Fünftens konnte die Macht vor strukturellen Veränderungen (etwa einer des demokratischen Partei-Establishments Sozialisierung der Banken) zurückschreckt. geschwächt werden: Die Sanders-Kampagne Damit ist achtens eine neue Generation von hat den inneren Klassengegensatz der Partei Aktivist*innen rund um die Sanders-Kampa- offengelegt und den grundlegenden Gegen- gne entstanden, die allerdings politisch noch satz zwischen einer Strategie des High-Road- relativ unerfahren ist, weshalb unklar ist, wie

Verbinden | Luxemburg 2/2016 35

_LUX_1602.indb 35 25.08.16 11:02 lange sie sich halten kann. Linke Organisatio- Aktivist*innen strategisch unter einem nen berichten allerdings, dass ein Viertel oder (neuen) Namen zu bündeln und mit einer sogar ein Drittel ihrer neuen Mitglieder und gemeinsamen Infrastruktur auszustatten, um Sympathisant*innen von Sanders motiviert zu verhindern, dass die Millionen Aktiven wurde. Die US-Linke wird aus dieser Phase wieder ins Private ›verschwinden‹ oder sich damit insgesamt gestärkt hervorgehen und in lokalen Kämpfen verlieren. Hierfür geistert kann strategisch darauf aufbauen. Doch wel- der Slogan einer »Tea Party von links« herum, che Strategien könnten und sollten das sein? die eine Clinton-Regierung auf die gleiche Weise unter Druck setzen könnte, wie die Wie es weitergehen kann: Tea-Party-Bewegung es vor, während und Drei Strategiehorizonte nach den Zwischenwahlen von 2010 mit den Auf diese Herausforderung gibt es keine Republikanern getan hat. Damals gewannen einfachen Antworten. Sanders hat sich eine Anti-Establishment-Kandidat*innen bei den enorme politische Macht verschafft und ist zur Vorwahlen und verschoben die republika- nationalen politische Figur geworden: Drei- nische Fraktion im Kongress deutlich nach zehn Millionen Menschen haben ihn gewählt, rechts. Tea-Party-Gouverneure organisierten Zehntausende haben ihre Jobs gekündigt oder im ganzen Land Angriffe auf die gewerk- ihr Studium unterbrochen, um in seiner Kam- schaftlich organisierten Beschäftigten im pagne aktiv zu werden. Eine Wahlkampagne ist öffentlichen Dienst, implementierten harsche aber noch keine Bewegung, sie endet, wenn der Austeritätspolitiken und legten im Konflikt Wahlzyklus vorbei ist. Wie ließe sich also diese um die Schulden der USA mehrfach die Re- temporäre Macht in einen neuen Aggregatzu- gierung lahm. Ziel der Netzwerkstrategie ist es stand und in etwas Dauerhaftes überführen? also nicht nur, außerparlamentarischen Druck Grundsätzlich scheinen drei Strategie- auf die Demokraten auszuüben, sondern die horizonte denkbar: (1) die Schaffung eines »Democrats in name only« bei Vorwahlen nationalen strategischen Netzwerks und einer systematisch zu schlagen. Mit dieser Innen- außerparlamentarischen Bewegung, (2) die Außen-Strategie verbindet sich die Hoffnung, Gründung einer neuen dritten Partei unab- die Demokraten von einer Partei der Wall hängig von den Demokraten, (3) die Fortset- Street zu einer Partei der Arbeiterklasse zu zung des Wahlkampfes in anderer Form. Es machen. Um deren Tragfähigkeit einzuschät- wird sich zeigen müssen, inwiefern sich diese zen, muss man sowohl die Partei selbst wie Ansätze wechselseitig ausschließen oder ob auch das gesamte Parteiensystem genauer eine Kombination aus ihnen möglich und betrachten, das sich in einem entscheidenden erfolgversprechend sein könnte. Transformationsprozess befindet. War es den Parteieliten der Republikaner 2012 (und Eine linke Tea Party? Die Netzwerkstrategie davor) am Ende doch gelungen, den Unmut Die Netzwerkstrategie ist zunächst eine der Basis zu umschiffen und den Aufstieg außerparlamentarische. Die Idee wäre, starker rechtspopulistischer Kandidat*innen

36 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 36 25.08.16 11:02

zu verhindern, ist dies 2016 anders: Die Protest gegen den Abriss von Gebäuden in der Belgrader Innenstadt 2016, © Matija Jovanovic Nominierung von Donald Trump (gegen den zuletzt nur noch der Tea-Party-Architekt Ted verlassen nun die Partei und laufen teilweise Cruz in Stellung gebracht werden konnte) zu Clinton über. Setzt sich dieser Trend fort zeigt den Kontrollverlust des Establishments und werden die Republikaner zumindest auf über die eigene Partei. Auch wenn es Trump Bundesebene zu einer autoritär-nationalisti- voraussichtlich nicht gelingen wird, Präsident schen Partei, die nicht in der Lage ist, Mehr- zu werden, hat er das Gesicht der Partei verän- heiten für die Präsidentschaft zu erzielen, dert. Er steht für einen neuen Protektionismus dann verändert dies zwangsläufi g auch die (insbesondere gegen China und Mexiko) und Rolle der Demokratischen Partei. Je mehr die eine außenpolitische Kombination von Neo- Bundes-Demokraten zum zentralen Vehikel isolationismus und brutalem Autoritarismus der transnational-imperialen Kapitalinteressen (Folterprogramme, generelle Einreiseverbote werden, umso unwahrscheinlicher wird ein für Muslime etc.). Dies ist schockierend für Umbau der Partei und eine ›Übernahme‹ von das transnationali sierte US-Kapital und seine links. politischen Interessensvertreter, die auf eine Auch wäre zu diskutieren, ob die Tea-Par- staatlich abgesicherte, imperial durchgesetzte ty-Analogie wirklich trägt, denn die Parteieliten kapitalistische Globa lisierung vertrauen. Sie der Republikaner (wie die der Demokraten)

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_LUX_1602.indb 37 25.08.16 11:02 standen den Tea-Party-Zielen einer harschen auf keiner Ebene. Sie stehen für einen anderen Austeritätspolitik und Bekämpfung der Politikinhalt (prokapitalistisch vs. pro Beschäf- Gewerkschaften im öffentlichen Dienst nicht tigte) und für ein anderes politisches Subjekt grundsätzlich entgegen. Sie verurteilten ledig- (Drittwegs-Technokratie vs. Mobilisierung von lich deren dogmatische – und finanzpolitisch unten gegen den Machtblock). Entsprechend riskante – parlamentarische Blockadepolitik. müsste der Druck außerhalb der Partei um ein Die Tea Party war 2010 ein Katalysator für die Vielfaches höher sein. Dies gilt insbesondere Exit-Strategie der Eliten aus der globalen Krise, im Hinblick auf Forderungen wie kostenlose die auf innerer und äußerer Abwertung zur Hochschulbildung und Krankenversicherung, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit beruht. die eine massive Umverteilung voraussetzen Im Vergleich dazu liegen zwischen der klas- würden und deshalb ohne eine hohe Besteu- senkonfliktorientierten Sozialdemokratie von erung der großen Vermögen und (Kapital-) Sanders und dem imperialen Neoliberalismus Einkommen völlig undenkbar sind. des dritten Weges von Clinton Welten. Dieser Die Stärke von Sanders war, dass er Gegensatz darf dabei nicht als ›ideologisch‹ seine Kernforderungen aus unmittelbaren missverstanden werden, sondern ganz materi- gesellschaftlichen Nöten entwickelt hat: ein ell im Sinne eines inneren Klassengegensatzes Lohn, von dem man leben kann, eine Bildung, innerhalb der Partei. Hier liegt eine zentrale die nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig Herausforderung für eine populare Linke im ist und einen nicht lebenslang verschuldet, Unterschied zum Rechtspopulismus. Der Gesundheit, die keine Ware ist, etc. Gleichzeitig Rechtspopulismus braucht keine Massenmo- ist es aber so, dass die Verwirklichung dieser bilisierung, um bestehende Kräfteverhältnisse basalen Forderungen eine quasi-revolutionäre zu verändern: Er kann einem Teil der Bevölke- Situation voraussetzen oder schaffen würde. rung eine Verbesserung der eigenen Lage im Die politische Macht und Durchsetzungsfähig- Rahmen des bestehenden Austeritätsregimes keit der Netzwerkstrategie kann also ohne eine versprechen – eben auf Kosten anderer. Die Basis in der organisierten Arbeiterbewegung (Sanders-)Linke hingegen kann ihre uni- nicht funktionieren.1 Die Sanders-Kampagne versalistischen Forderungen nur umsetzen, hat zwar den Richtungskampf zwischen ihrer wenn sie die Kräfteverhältnisse zugunsten der konfliktorientierten Sozialdemokratie und Subalternen radikal verschiebt. Die Republika- Clintons politischem Projekt tief in die US-Ge- ner ließen sich von der Tea Party leicht(er) nach werkschaftsbewegung hineingetragen. Mehrere rechts verschieben, weil sie über die Fronten Gewerkschaften wie die Postal Workers, die hinweg eine neoliberale Orientierung teilten, Communication Workers, die National Nurses bei den Demokraten ist die Frage der ›Links- United und United Electrical haben sich hinter wende‹ dagegen keine graduelle, sondern eine Sanders gestellt und zahlreiche Basisgewerk- fundamentale Entweder-oder-Frage. Letztlich schaften der Dienstleistungsgewerkschaft kann es zwischen der Sanders- und der Clinton-Plattform keinen Kompromiss geben, Beide Bilder: Belgrad 2016 © Matija Jovanovic

38 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 38 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 39 25.08.16 11:02 SEIU haben gegen die undemokratischen und ist extrem anfällig für Polarisierungen Entscheidungen ihrer Führungen zugunsten und Spaltungen der Linken. Denn die von Clinton aufbegehrt. Trotzdem ist es so, dass jeweilige Positionierung hängt stark davon ab, mittlerweile auch die ›Sanders-Gewerkschaften‹ wo man sich als Linker befindet: In solide de- wieder die Reihen hinter Clinton schließen. mokratischen Staaten wie Washington war es Die Republikaner scheinen also gewis- durchaus möglich, Drittpartei-Sozialist*innen sermaßen offener für Graswurzelrevolten als wie Kshama Sawant für den Stadtrat von die Demokraten, die das Phänomen Sanders Seattle gegen Establishment-Demokraten ins bislang auffällig unbeschadet überstanden Rennen zu schicken und Erfolge zu erringen. haben. Paul Heideman und Danny Katch In anderen stärker umkämpften Staaten, (2016) weisen darum zu Recht darauf hin, Kreisen und Städten droht jedoch dauerhaft »wie schwierig es sein wird, Sanders’ Vision die Logik des ›kleineren Übels‹ zu obsiegen – einer transformierten Partei in eine politische also angesichts eines drohenden Wahlsiegs Realität zu übersetzen«. der Rechten dann doch demokratisch zu wählen statt eine linke Drittpartei. Insgesamt Eine Alternative schaffen: ist eine einfache Antwort auf die Frage nach Die Drittparteien-strategie der dritten Partei angesichts der Problem- Je versteinerter die Demokratische Partei lagen unmöglich. In den unterschiedlichen erscheint, umso schlagkräftiger müssen Regionen gilt es unterschiedliche Strategien Strategien werden, die für den Aufbau einer zu verfolgen und mit verschiedenen Ansät- dritten Partei optieren. Dieser Schritt ist alles zen zu experimentieren. Für die US-Linke andere als leicht, führt man sich die lange besteht die Herausforderung darin, hier Geschichte des Scheiterns von Drittparteien keinen fundamentalen Gegensatz und im politischen System der USA, in dem das keine Spaltungslinie aufzumachen, sondern Mehrheitswahlrecht gilt, vor Augen. Histo- die Vielfalt der Strategien innerhalb eines risch gesehen sind alle Drittparteien trotz ein- nationalen Netzwerks zu diskutieren und zu zelner Achtungserfolge gescheitert, der letzte verbinden. Ein Anstoß hierfür war das von Versuch wurde in den 1990er Jahren von der der Krankenpflegergewerkschaft NNU und Labor Party USA unternommen. Für eine anderen Sanders-Aktivist*innen veranstaltete Wahlrechtsreform in Richtung Proporzsystem »People’s Summit« im Juni 2016 in Chicago, zu mobilisieren, wird schwierig werden. Zwar auch wenn die strategischen Fragen dort noch ist die Legitimations- und Repräsentations- zu wenig und unzureichend erörtert wurden.2 krise tief und das System verlangt nach einer Reform, aber da keine der beiden Parteien ein Erobern und Erneuern: Interesse hat, einen solchen Systemwechsel Fortsetzung der Wahlkampagne zu vollziehen, stellt sich die Frage, wer ihn Der dritte strategische Horizont ist die Fort­ durch- und umsetzen könnte. Die Debatte setzung einer Wahlkampagne, die Sanders hierzu steht in jedem Fall noch am Anfang grundlegende Forderungen weiter voran-

40 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 40 25.08.16 11:02 treibt. Zu Beginn der Sanders-Kampagne gierten‹ die Wahl entscheiden. Später verkehrte waren viele radikale Linke skeptisch bis sich seine Strategie faktisch ins Gegenteil: Er feindselig und lehnten einen Vergleich mit versuchte, eben diese Superdelegierten davon dem Aufstieg Jeremy Corbyns in Groß- zu überzeugen, dass er verglichen mit der britannien ab (vgl. Wainwright in diesem unpopulären Clinton die real besseren Chan- Heft). Dem lag die nüchterne Einschätzung cen habe, Trump zu schlagen. Als auch diese zugrunde, dass das demokratische Establish- Strategie fehlschlug, legte er den Fokus auf ment eine ­Sanders-Nominierung niemals eine mögliche Demokratisierung und Linksver- zulassen ­würde. Die linke Angst war deshalb, schiebung der Partei: Die populären Sanders- dass Sanders die Basis der Demokraten mit Forderungen sollten ins Wahlprogramm einer linken Kampagne enthusiasmieren eingehen. Auch hier hat er schließlich seine und mobilisieren würde – etwas, was Clinton Positionen verändert. Zu Beginn hatte er trotz niemals gelingen würde, da sie faktisch kein aller Widerstände betont, eine Unterstützung­ Angebot an die arbeitende Bevölkerung Clintons sei für ihn nur denkbar, wenn die macht –, um am Ende bloß als Katalysator für wesentlichen Forderungen seiner Kampagne die unvermeidliche Kandidatin der Eliten zu in das Programm eingehen. Real gelang es ihm dienen. Diese Katalysatorfunktion war dabei aber lediglich, fünf Delegierte in das 16-köpfige ganz buchstäblich gemeint: etwa in Bezug Wahlprogramm-Komitee zu entsenden. Im auf Sanders’ Liste mit den zwei Millionen Ergebnis sind zwar einzelne Forderungen in Unterstützer*innen, die für Clintons Kam­ das Programm eingeflossen (etwa gleichbe- pagne äußert nützlich wäre. rechtigter Zugang zu Schwangerschaftsabbrü- Solche Ängste konnten vielfach wider- chen unabhängig von der finanziellen Lage, legt werden – so erklärten etwa Sanders- ein Ansatz zur leichteren Studienfinanzierung Aktivist*innen im Rahmen des »People‹s etc.), doch unterm Strich bleibt all das ein Summit«, dass sie keine Kontaktdaten an unbefriedigender Kompromiss. Die entschei- Clintons Kampagne weitergeben werden. Zu- denden klassenpolitischen Forderungen, die, gleich waren viele Linke zu Recht verstört, als wenn umgesetzt, die strukturelle Kapitalmacht Sanders schlussendlich doch seine Unterstüt- und Profite wirksam einschränken würden, zung für Clintons Kandidatur aussprach und wurden vom Establishment­ der Demokraten signalisierte, er könne sich sogar vorstellen, weitgehend abgeschmettert. Dazu gehören ein Amt in ihrer Regierung zu übernehmen – die Forderungen nach einer Kopplung des eine Regierung, die er in ihrer Gesamtheit Mindestlohns an die Inflationsrate, einer bisher scharf angegriffen hat. allgemeinen öffentlichen Gesundheitsversi- Sanders’ ursprüngliches Projekt war es, cherung, einem Verbot von Fracking und einer genügend Delegierte zu gewinnen, um zu Ablehnung des immens unpopulären transpa- verhindern, dass die nicht rechenschaftspflich- zifischen Handelsabkommens TPP. tigen und von der Parteielite ernannten (also So hatten die Verhandlungen um das nicht demokratisch legitimierten) ›Superdele- Wahlprogramm durchaus einen öffentlichen

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_LUX_1602.indb 41 25.08.16 11:02 Bildungseffekt: Die Wahlkampfinszenierung lassen könnte. Eine auf Dauer gestellte von Clinton als ›realistische‹, sozial orientier- Institution wie das »People’s Summit« wäre te Reformerin wurde entlarvt: etwa wenn in hier ein erster Schritt in die richtige Rich- den sozialen Medien dokumentiert wurde, tung. Ein strategischer Schlüssel liegt darin, wie ihre Delegierten im Programm-Komitee die Lösung der Drittparteifrage nicht übers die Forderung nach einem Mindestlohn von Knie zu brechen. Es gilt, unter dem Dach 15 US-Dollar kalt abblitzen ließen. Solche der ›Sanderistas‹ auf verschiedenen Ebenen offenen Auseinandersetzungen machen eine Politik in und gegen die Demokraten zu einerseits Interessengegensätze sichtbar und organisieren, die sich in den sozialen Kämp- haben damit einen potenziell politisieren- fen an der Basis, in Gewerkschaften und in den Effekt. Zugleich zeigt der Kampf ums anderen sozialen Bewegungen verankert. Wahlprogramm jedoch klar die Grenzen der Dass offenbar ausreichend finanzielle und Erneuerung und Veränderbarkeit der Demo- personelle Ressourcen geblieben sind, um kratischen Partei auf. Sanders Wahlbüros in den einzelnen Staaten als soziale Räume für den Aufbau eines sol- Die nächsten Schritte chen Netzwerks einer ›verbindenden Partei‹ Was bleibt ist die Frage, wie Sanders inner- zu erhalten, ist hierfür ein ermutigendes halb dieses strategischen Horizonts agieren Zeichen. wird. Einige Mitstreiter*innen haben ihm nahegelegt, das Angebot von , der Präsidentschaftskandidatin der kleinen Grünen Partei, anzunehmen und mit ihr als Vize ins Rennen zu gehen. Sanders ist hierauf zu Recht nicht eingegangen: Ohne mediale Literatur Heideman,Paul/Katch, Danny, 2016: The Democrats Pull Repräsentation und ohne reale Chance würde Their Act Together, in: Socialist Worker, 12.7.2016 er sein Momentum sofort verlieren und die Risse in der Demokratischen Partei kitten. 1 Eine Idee davon, wie Verbindungen zwischen Würde er auf diese Weise gar Trump zur der Sanders-Kampagne und der Gewerkschaftsbe- Präsidentschaft verhelfen, wäre die US-Linke wegung aussehen können, vermittelt der Streik der Kommunikationsarbeiter*innen in New York während auf Jahre hinweg diskreditiert. Andere drän- der Vorwahlen. Hier wurde die Sanders-Unterstützerliste gen Sanders dazu, mit seinem politischem erfolgreich umfunktioniert, um Gelder für den Streikfonds zu sammeln. Eine ›verbindende Partei‹ müsste solche Gewicht die sogenannten Berniecrats und Kooperationen intensivieren und sich dabei auf einen unabhängigen Sozialist*innen zu unterstüt- bewegungsorientierten Gewerkschaftsansatz beziehen, der umgekehrt die Notwendigkeit einer politischen (Partei-) zen, die auf lokaler Ebene und in den Einzel- Organisation erkennt (vgl. Gindin in diesem Heft). staaten ins Rennen gehen. Diese Strategie ist 2 An dieser Strategiekonferenz nahmen fast 3 000 Personen teil. Sie stellte einen ersten Versuch dar, nur im Rahmen eines nationalen Netzwerkes die Sanders-Kampagne in etwas Kontinuierliches zu sinnvoll, das einen ›dritten Pol‹ der Solidarität überführen. Aus ihr gingen mehrere einzelstaatliche Breakout-Netzwerke hervor. Es besteht zudem die Idee, dauerhaft erfahrbar und sichtbar werden diese Art von Zusammenkünften zu institutionalisieren.

42 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 42 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 43 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 44 25.08.16 11:02 In Frankreich bewegt sich etwas: Seit dem 31. März 2016 wird re- gelmäßig zu landesweiten Demonstrationen mobilisiert, an denen sich bislang über eine Million Menschen beteiligt haben. Und das, obwohl seit den Anschlägen vom 13. November 2015 der Ausnah- mezustand herrscht, der nach dem Attentat von Nizza am 14. Juli 2016 erneut verlängert wurde. Fast täglich besetzen Schüler*innen, Studierende, Arbeiter*innen, Ge­werkschafter*innen, Arbeitslose, Sans papiers und Obdachlose an vielen Orten in der Republik um 18 Uhr öffentliche Plätze. Sie fordern die Rücknahme des »loi travail«, der neoliberalen Änderung des Arbeitsrechts. Diese ›französischen Agenda 2010‹ sieht unter anderem die Abschaffung der 35-h-Wo- che vor, hebelt de facto die Tarifautonomie der Gewerkschaften aus und setzt Kündigungsschutz und Mindestlohn außer Kraft. Nuit debout! Aufrecht durch die Nacht!

Die politische Klasse in Frankreich steht der neuen sozialen Bewe- gung nach wie vor sprach- und machtlos gegenüber. Versuche, die Proteste politisch zu vereinnahmen oder unter massivem ­Aufgebot staatlicher Ordnungskräfte gewalttätig niederzuschlagen, liefen ins Leere. Auch die Fußball-Europameisterschaft, die im Juni und Juli in Frankreich stattfand, konnte die Bewegung nicht stoppen. Für den 15. September wird zu einem neuen landesweiten Aktionstag mobilisiert. »On lâche rien!« lautet der Refrain der Hymne der Nuit- debout-Bewegung, die sich längst nicht nur gegen das Arbeitsge- setz richtet: Wir lassen nicht locker. Wir geben nicht auf! Alternati- ven sind möglich! Beide Bilder: © Rémy Soubanère

_LUX_1602.indb 45 25.08.16 11:02 ein unmoralisches Angebot Die LINKE als Partei gewerkschaftlicher Erneuerung

Bernd Riexinger Die Gründung der Partei die LINKE im Jahr 2007 steht auch für eine Schwächung der sozialdemokratischen Hegemonie innerhalb der Gewerkschaften. Diese war seit den 1990er Jahren brüchig geworden, doch insbesondere im Zuge der Massenproteste gegen die Agenda- 2010-Politik hatten sich Teile der Gewerkschaf- ten endgültig von der neoliberalisierten SPD gelöst. Die Linke konnte in diese Lücke vorsto- ßen und sich als starke Minderheitenströmung in den Gewerkschaften etablieren. Gleichzeitig steht sie vor der Aufgabe, ihre Verankerung bei den gewerkschaftlich organisierten Lohnabhän- gigen auszubauen und ihren ›Gebrauchswert‹ für die Kämpfe um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu erhöhen.1 Nicht zuletzt um solche Herausforderun- gen politisch angehen zu können, arbeiten Katja Kipping und ich seit 2012 an einer erneuerten Parteikultur und einer veränderten Strategie der LINKEN als »verbindende Partei« (vgl. Kipping/Riexinger 2015).2 Dahinter steht die Einsicht, dass eine Veränderung der Kräfte-

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_LUX_1602.indb 46 25.08.16 11:02 verhältnisse in der Gesellschaft die Grundlage Aufbrüche in der Defensive – dafür ist, die politischen Kräfteverhältnisse im neue Streikerfahrungen unterstützen Staat verschieben und die ›Regierungsfrage‹ Die Kehrseite des von neoliberalen Ökonomen überhaupt stellen zu können. Sozialistische und der Bundesregierung beschworenen Parteien dürfen sich nicht auf die parlamen- »German Miracle«, der erfolgreichen Über- tarische Repräsentation bereits existierender windung des tiefen Einbruchs im Zuge der gesellschaftlicher Kräfte beschränken. Ihre Weltwirtschaftskrise 2008/09, ist die verstärk- Funktion besteht darin, aktiv die Klassenmacht te Spaltung und Prekarisierung der Arbeits- der Lohnabhängigen und eine gesellschaftliche und Lebenswelt. Millionen Menschen, 25 bis Hegemonie für emanzipatorische und sozialis- 30 Prozent aller Lohnabhängigen, arbeiten in tische Ziele aufzubauen. Mit der Aufkündigung befristeten Beschäftigungsverhältnissen, als des sozialstaatlichen Klassenkompromisses Leiharbeiter*innen, mit Werkverträgen oder in im neoliberalen Kapitalismus haben sich die Minijobs. Die Einführung des Mindestlohns Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit von 8,50 Euro durch die Bundesregierung hat zugunsten der Kapitalseite verschoben. Der Gebrauchswert einer sozialistischen Partei muss also darin bestehen, organisierte Macht Bernd Riexinger ist seit 2012 Kovorsitzender aufzubauen, gemeinsame Interessen und der Partei die LINKE. Davor war er viele Jahre Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart. politische Ziele der unterschiedlichen Teile der Lohnabhängigen zu formulieren und zu vertreten. Mit dem Konzept der verbinden- den Partei geht einher, dass sich die LINKE den größten Niedriglohnsektor Europas nicht nicht nur als parlamentarische Vertretung beseitigt. Auch jenseits des Niedriglohnsektors der Lohabhängigen versteht, sondern als kommen viele mit ihrem Verdienst kaum über ›organischer‹ und treibender Teil der Gewerk- die Runden. schaftsbewegung selbst. Im Unterschied zu Der IG Metall, mit über zwei Millionen Lenins Parteikonzept bedeutet dies aber nicht, Mitgliedern größte Einzelgewerkschaft Europas, die Gewerkschaft der Partei (die das Monopol ist es gelungen, ihren Organisationsgrad zu des politischen Kampfes hat) unterzuordnen. stabilisieren und moderate Lohnsteigerungen Es geht um Bündnisse auf Augenhöhe und um zu erzielen. Aber auch in den Industriebe- die Entwicklung einer eigenständigen Arbeit trieben und im boomenden Exportsektor gibt in den Gewerkschaften. Diese muss sich daran es eine sich verfestigende Spaltung zwischen messen lassen, ob sie geeignet ist, die Mehrheit sogenannten Kernbelegschaften und den der Lohnabhängigen (inklusive der Erwerbslo- 20 bis 40 Prozent prekär Beschäftigten. Die sen) anzusprechen, solidarische Verbindungen Auslagerung von Arbeit in Werkvertragsfirmen zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen ist mit Tarifflucht, Lohn- und Sozialdumping aufzubauen und mit eigenständigen Zielen in verbunden. Gleiches gilt für Privatisierungen die Basis der Sozialdemokratie hineinzuwirken. und die Ausgliederung von Beschäftigten aus

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_LUX_1602.indb 47 25.08.16 11:02 Krankenhäusern und anderen öffentlichen kaum noch organisiert und trägt außerdem zur Einrichtungen in privat geführte Unternehmen. stärkeren Verankerung der LINKEN an der Basis Diese Entwicklung hat fatale Folgen für die der Gewerkschaften bei. Organisations- und Durchsetzungsmacht der Um diese Verankerung an der Basis wollen Gewerkschaften. Die Reichweite der Tarifver- wir uns in den nächsten Jahren verstärkt bemü- träge ist dramatisch zurückgegangen: Nur noch hen. Angesichts begrenzter Ressourcen ist es 51 Prozent der Beschäftigten im Westen und 37 dabei sinnvoll, Schwerpunkte zu setzen, um an Prozent im Osten fallen darunter. Dies hat nicht exemplarischen Konflikten und Branchen den zuletzt unmittelbare Folgen für die Entwicklung Gebrauchswert einer linken Partei für die Lohn- der Löhne: Zwischen tarifgebundenen und abhängigen insgesamt konkret zu machen und nichttarifgebundenen Beschäftigten liegt der spürbare Erfolge zu erreichen. In einem ersten Lohnunterschied bei rund 18 Prozent. Schritt wollen wir uns dabei auf die Sozial-, In den letzten Jahren haben sich nach Gesundheits- und Pflegeberufe konzentrieren. Jahrzehnten mit relativ niedriger Streikaktivität Im Bereich der sozialen Dienstleistungen sind neue Streikbewegungen etwa im Einzelhandel, mittlerweile mehr Menschen beschäftigt als im Bewachungsgewerbe, in Callcentern, in in der Exportindustrie. Die Politik der Unterfi- der Nahrungsmittelindustrie, im Reinigungs- nanzierung und Ökonomisierung des Sozialen gewerbe, in der Gastronomie sowie von ist Teil des neoliberalen Exportmodells. Diese Erzieher*innen oder Pflegekräften im Kranken- zumeist von Frauen geleistete Arbeit mit haus entwickelt. In diesen Streiks im Dienst- Menschen wird gegenüber der Arbeit in der leistungssektor sind auch neue Akteure auf den Exportindustrie abgewertet. Plan getreten: Die Beteiligung von Frauen und Einen historischen Erfolg in diesem Feld auch von Migrant*innen ist hoch. An diese Ten- haben Anfang April 2016 die Pflegekräfte denzen in den Klassenkämpfen anzuknüpfen am Berliner Klinikum Charité errungen: und diese zum Ausgangspunkt einer politi- den ersten Tarifvertrag für mehr Personal schen Offensive zu machen, ist der Kern der und weniger Stress im Krankenhaus. Der gewerkschaftspolitischen Strategie einer verbin- Arbeitskampf wurde jahrelang unter starker denden Partei. Es ist eine zentrale Aufgabe der Einbeziehung der Beschäftigten vorbereitet, LINKEN, Ansätze gewerkschaftlicher Erneue- was nicht zuletzt durch neue Ansätze wie die rung, von mehr Konfliktorientierung und einer »Tarifberater*innen« (Wolf 2015) gelungen ist. Demokratisierung von Streiks zu unterstützen. Durch einen sogenannten Betten- und Stati- Einen Beitrag dazu leistet die Partei, indem sie onsschließungsstreik konnte auch in sensiblen Räume für den Erfahrungsaustausch zwischen Bereichen wie der Intensivpflege eine hohe Streikaktiven aus verschiedenen Unternehmen Streikfähigkeit erreicht und so wirtschaftlicher und Branchen schafft, in denen wechselseitige Druck ausgeübt werden. Die Forderung nach Lernprozesse stattfinden können und sich mehr Personal und weniger Arbeitsstress er- eine solidarische politische Kultur entwickeln möglichte zudem Bündnisse mit Patient*innen kann. Dies wird von den Gewerkschaften allein und anderen Beschäftigtengruppen. Aktive aus

48 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 48 25.08.16 11:02 Partei und sozialen Bewegungen gründeten »Wasser kocht bei 100 °C, Frankreich bei 49.3«, Anspielung auf Artikel 49.3 der französischen Verfassung, mit dessen Hilfe die ein Bündnis zur Unterstützung des Streiks, Novellierung des Arbeitsrechts ohne parlamentarische Abstim- denn letztlich geht es um gute Gesundheitsver- mung durchgesetzt wurde, Paris, Mai 2016, Vincent Nakash/AL Paris-Sud sorgung und gute Arbeit statt Dauerstress für alle Menschen. Slogans wie »Mehr von uns ist tigte, Patient*innen und anderen Interessierte besser für alle« oder »Streiken gegen die Burn- mitmachen. Perspektivisch geht es darum, out-Gesellschaft« bringen das auf den Punkt. die verschiedenen Auseinandersetzungen von Das Beispiel Charité schlägt längst Wellen, in den Krankenhäusern über die Kitas bis zu den vielen Krankenhäusern bundesweit werden die Schulstreiks zu verbinden und zu einem gesell- Erfahrungen aus Berlin diskutiert und betriebli- schaftspolitischen Kampf um die Aufwertung che Aktionen vorbereitet. sozialer Dienstleistungen sowie den Ausbau Im Rahmen einer Kampagne gegen prekä- von guter Bildung, Pflege und Gesundheitsver- re Arbeits- und Lebensverhältnisse (»Das muss sorgung für alle zu machen. drin sein«) versuchen wir den Kampf um mehr Personal in den sozialen Dienstleistungen auch Politische Offensive für ein neues politisch zu unterstützen und an die betriebli- Normalarbeitsverhältnis chen Auseinandersetzungen anzuknüpfen. In Einen wirklichen Ausweg aus der Defensive offenen Kampagnengruppen können Beschäf- bietet jedoch nur ein branchenübergreifen-

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_LUX_1602.indb 49 25.08.16 11:02 tigen Aufwertung der sozialen Arbeit nur bedingt erreicht. Die immer noch sozi- aldemokratisch gepräg- ten Gewerkschaftsap- parate sind auf diese Herausforderungen schlecht vorbereitet. Obwohl die SPD außer der Einführung eines (lückenhaften und zu niedrigen) Mindest- lohns in der Großen Koalition kaum Wortspiel mit rève (Traum) und grêve (Streik) bei einer Ver- Verbesserungen für die Lohabhängigen erreicht sammlung von Nuit debout, Paris, März 2016,© ND_Paris/flickr hat, halten die Gewerkschaftsführungen an der Aufbruch der Gewerkschaftsbewegung. einer Art Stillhalteabkommen mit der Großen Denn: Gelingt es einmal in einem bewunderns- Koalition fest. Im Gegenzug für den Verzicht werten Kampf, wie im Einzelhandel 2014, den der Regierung auf sozialpolitische Frontalan- Angriff auf den lächentarifvertragF abzuweh- griffe verzichten sie darauf, Kämpfe zu bündeln ren, flüchten mehr und mehr Betriebe aus dem und mit einer politischen Mobilisierung gegen Tarifvertrag. Der wichtige Streik bei Amazon prekäre Arbeit und Tarifflucht den Konflikt mit dauert auch deshalb Jahre, weil es objektiv der neoliberalen Politik zu suchen. schwierig ist, mit einer Belegschaft, in der In dieser Situation ist es die Aufgabe der viele befristet arbeiten und die einem starken LINKEN, die Diskussion um das politische Personalwechsel unterliegt, Arbeitskämpfe Mandat der Gewerkschaften voranzutreiben voranzubringen, die die Kapitalseite unter und zum Motor eines politischen Aufbruchs ökonomischen Druck setzen. 2015 streikten gegen Deregulierung und Prekarisierung zu Zehntausende in den Sozial- und Erziehungs- werden. Dazu bringen wir das Projekt eines diensten für eine deutliche Lohnerhöhung und »neuen Normalarbeitsverhältnisses« (vgl. Rie- damit auch für eine größere gesellschaftliche xinger 2016 a) in die gewerkschaftliche Diskus- Anerkennung ihrer wichtigen, aber unterbe- sion ein. Es soll dazu beitragen, die Interessen zahlten Tätigkeiten. Aber unter dem Druck unterschiedlicher Klassenmilieus aufzuneh- von Schuldenbremse und Finanznot in den men und solidarisch zu verbinden. Gegen die Kommunen wurde sogar in diesem gut orga- neoliberale Herrschaft durch Spaltung geht es nisierten und streikfähigen Bereich mit einem um ein Bündnis aus Erwerbslosen, verschiede- längeren Arbeitskampf das Ziel einer nachhal- nen Gruppen prekär Beschäftigter, den (noch)

50 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 50 25.08.16 11:02 tariflich abgesicherten Beschäftigten in der Ein neues Normalarbeitsverhältnis kann jedoch Industrie und im öffentlichen Sektor (insbe- nur als Teil eines Übergangs hin zu einem sondere der wachsenden Zahl im Bildungs-, anderen gesellschaftlichen Entwicklungspfad Gesundheits- und Pflegebereich) sowie den durchgesetzt werden, der einen Ausbau des Angehörigen sogenannter urbaner linker Öffentlichen in Richtung sozialer Garantien Milieus, das heißt vor allem höher qualifizierte für gute Gesundheitsversorgung, Bildung und und junge Menschen. Pflege, bezahlbare Wohnungen, Energieversor- Dabei kann an übergreifende Problemla- gung und Mobilität für alle einschließt. Auch gen und an von ganz vielen geteilte Ansprü- angesichts der tiefen Krise der EU braucht es che auf ›gute Arbeit‹ angeknüpft werden: dringend eines wirtschaftspolitischen Kurs- Es muss wieder zur Regel werden, dass die wechsels in Deutschland. Die Forderung nach Menschen tariflich reguliert und sozialver- radikaler Umverteilung des Reichtums muss sicherungspflichtig arbeiten, dass die Löhne offensiv gestellt werden – genauso wie diejenige die Existenz sichern und für eine den Lebens- nach einer demokratischen Entscheidung über standard sichernde Rente reichen. Eine neue Investitionen. Diese könnten beispielsweise in Regulierung kann kein einfaches Zurück zum die Förderung genossenschaftlichen Eigentums alten Normalarbeitsverhältnis (mit der Norm: fließen. Durch den Aufbau eines öffentlichen Vollzeit und rigide Arbeitszeiten, lebenslange Zukunftssektors, in dem sowohl Forschung und Betriebszugehörigkeit) sein. Es geht um einen Entwicklung als auch industrielle Produktion Hegemoniekampf von links: Arbeit muss für auf der Grundlage neuer Technologien und alle sicher, kürzer, geschlechtergerecht und in Form öffentlicher Unternehmen, Koopera- gerecht verteilt, selbstbestimmt und demokra- tiven und Genossenschaften ökologisch und tisch (mit-)gestaltet werden (vgl. ebd.). Statt demokratisch weiterentwickelt werden, können Massenerwerbslosigkeit, Dauerstress und technologische Innovationen demokratisch und Existenzangst braucht es eine Umverteilung mit Blick auf gesellschaftlich sinnvolle Ziele von Arbeit – auch zwischen den Geschlech- gestaltet werden. In der radikalen Perspektive tern. Überstunden und Entgrenzung auf der einer sozialökologischen Wirtschaftsdemokratie einen Seite und strukturelle Unterbeschäf- ist der notwendige Umbau von Industrie, tigung durch Minijobs und unfreiwillige Energieversorgung und Mobilität mit Schritten Teilzeit können durch ein neues flexibleres zur Vergesellschaftung der Schlüsselsektoren Arbeitszeitregime, das um eine 30- statt um zu verbinden. Dies kann heute kaum noch im eine 40-Stunden-Woche kreist, überwunden nationalstaatlichen Rahmen geschehen. werden. Anders als die einseitig auf Flexibi- In den nächsten Jahren wollen wir daran lisierung setzenden Konzepte der SPD und arbeiten, diese Initiative für ein neues Normal­ der Grünen geht es um soziale Absicherung arbeitsverhältnis in den Gewerkschaften zu (durch Lohnausgleich, Anhebung des Ren- verankern. Als Einstiegsprojekt kann es dazu tenniveaus), kürzerer Arbeitszeiten und die geeignet sein, bis weit in die Sozialdemokratie Umverteilung der Produktivitätsgewinne. hinein breite Bündnisse für die Wiederherstel-

Verankern | Luxemburg 2/2016 51

_LUX_1602.indb 51 25.08.16 11:02 lung der sozialen Grundlagen der Demokratie werden statt wie bisher im Einvernehmen mit zu schließen. Die Linke ist aber in Deutsch- der Kapitalseite. Tarifflucht durch Auslagerun- land derzeit nicht in der Lage, den Kampf gen und Werkverträge muss gesetzlich verboten um die Hegemonie insgesamt zu gewinnen. werden. Mit einer solchen Perspektive könnte Nach Jahren der Niederlagen geht es für die ausgehend von Branchenauseinandersetzungen Gewerkschaftsbewegung zunächst darum, wie im Einzelhandel und bei Amazon der Erfolgeund Verbesserungen der Lebensver- gesellschaftspolitische Kampf gegen prekäre hältnisse durch Organisierung und sozialen Arbeit besser geführt werden. Protest zu erringen. Dazu ist es erforderlich, gewerkschaftliche Kämpfe zu bündeln und Gemeinsamer Aufbruch gegen den politischen Konflikt mit der neoliberalen Neoliberalismus und Rechtspopulismus Politik offensiv aufzunehmen. Zwei Bünde- Der Kampf gegen Prekarisierung und Spal- lungspunkte sind denkbar: tungsprozesse ist auch eine politische Schick- 1 | Der von ganz unterschiedlichen Beschäftig- salsfrage für die Gewerkschaftsbewegung. Die tengruppen geteilte Anspruch auf existenzsi- Erfahrungen der Entfesselung von Konkurrenz chernde, gute Löhne und eine planbare Zukunft: und Unsicherheit im Alltag sind der Nährboden Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass infolge für den Aufstieg rechtspopulistischer und auto- des seit der neoliberalen Rentenreform der ritärer Kräfte. Der Blick über die Grenzen in die Schröder-Regierung sinkenden Rentenniveaus europäischen Nachbarländer zeigt: Wir befinden Löhne unter 12 Euro zu Altersarmut führen. uns inmitten einer tief greifenden Krise und Fast jedem Zweiten, der ab 2030 in Rente geht, Erosion der Sozialdemokratie und damit verbun- droht eine Rente unterhalb der Armutsgrenze. den der sozialen Grundlagen der Demokratie. Zwei Drittel der Bürger*innen trauen der Die Rechten stoßen in die Lücke der Repräsenta- Großen Koalition nicht zu, die Lawine der tion, die auch eine neoliberalisierte Sozialdemo- Altersarmut aufzuhalten. Die Gewerkschaften kratie hinterlassen hat. Seit Jahren weisen Un- werden die Rentenfrage zu einem Schwerpunkt tersuchungen auf eine relativ starke Verbreitung im Bundestagswahljahr 2017 machen. Die rassistischer, nationalistischer und autoritäter LINKE wird sich in die anstehende Auseinan- Denkmuster in den Gewerkschaften hin. Bei dersetzung um die Rente einmischen und den den regionalen Wahlen im März dieses Jahres Zusammenhang von Rentenfrage und schwa- schnitt die rechtspopulistische Alternative für cher Lohnentwicklung infolge prekärer Arbeit Deutschland (AfD) unter Gewerkschafter*innen und Tarifflucht thematisieren. überdurchschnittlich stark ab: Über 15 Prozent 2 | Kampf gegen Tarifflucht:Ob Tarifverträge der Gewerkschaftsmitglieder in Baden- allgemeinverbindlich sind, ist im Kern eine Württemberg und 24 Prozent in Sachsen-Anhalt politische Machtfrage. Die Gewerkschaften stimmten für die AfD, obwohl diese Partei ein müssten darum kämpfen, dass es zukünftig gewerkschaftsfeindliches Programm hat. Es reicht, wenn Anträge auf Allgemeinverbind- besteht die Gefahr, dass es der Rechten gelingen lichkeit von den Gewerkschaften allein gestellt könnte, das Feld der Auseinandersetzung um

52 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 52 25.08.16 11:02 soziale Fragen dauerhaft rassistisch zu verschie- ppDie zentrale Herausforderung für die Ge- ben. Viele Menschen halten eine Umverteilung werkschaftsbewegung und die LINKE besteht des Reichtums kaum für möglich und grenzen jedoch darin, die soziale Frage neu zuzuspitzen: sich im alltäglichen Konkurrenzkampf um ein hin zu einem Kampf gegen die Superreichen Stück vom (in der Alltagswahrnehmung kleiner und Profiteure von Armut und Ungerech- werdenden) ›Kuchen‹ nach ›außen‹ und ›unten‹ tigkeit. Gemeinsam mit Gewerkschaften, ab. In diesem Fatalismus manifestiert sich nicht Sozialverbänden, Attac, Migrantenverbänden, zuletzt die zentrale Schwäche der gesellschaft- Flüchtlingsunterstützer*innen und antifa- lichen Linken, schrittweise Veränderungen im schistischen Initiativen wollen wir eine neue Alltagsbewusstsein herbeizuführen. Die LINKE Initiative für eine Umverteilung des Reichtums versteht sich in dieser Situation als organisieren- voranbringen, um gute Arbeit, armutsfeste de Kraft, als verbindende Partei eines gesell- Renten, gute Gesundheitsversorgung, Pflege, schaftlichen Bündnisses gegen Neoliberalismus Bildung und bezahlbaren Wohnraum für und Rechtspopulismus (vgl. Riexinger 2016 b). Menschen zu verwirklichen. ppDie Vernichtung der Lebensgrundlagen für Hunderte Millionen Menschen vor allem Literatur im globalen Süden durch Landnahme, die Kipping, Katja/Riexinger, Bernd, 2015: Die kommende Demo- Ausplünderung von Ressourcen und durch die kratie. Sozialismus 2.0, www.die-linke.de/nc/die-linke/ nachrichten/detail/zurueck/nachrichten/artikel/die-kom- Folgen ökologischer Krisen und Kriege führten mende-demokratie-sozialismus-20 zu starken Migrationsbewegungen. Das Kapital Porcaro, Mimmo, 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft, in: LuXemburg 4/2011, 28–34 hat Migration historisch immer genutzt, um die Riexinger, Bernd, 2016 a: Wege zum Infrastruktursozialismus. Für ein Neues Normalarbeitsverhältnis, in: Luxemburg Konkurrenz unter Lohnabhängigen zu ver- 3/2015, 82–87 schärfen und Spaltungen zu befördern. Es gilt Ders. 2016b: Für eine Revolution der Gerechtigkeit. Herausfor- derungen der LINKEN im Kampf gegen Neoliberalismus den Kampf um die Köpfe an der Gewerkschafts- und Rechtspopulismus, www.sozialismus.de/fileadmin/ basis zu führen: klare Kante gegen Rassismus users/sozialismus/Leseproben/2016/Sozialismus_ Heft_05-2016_L4_Riexinger_Linke.pdf und Nationalismus zu zeigen und gleichzeitig Wolf, Luigi, 2015: »Mehr von uns ist besser fur alle!«. Die für eine gemeinsame Organisierung im Kampf Streiks an der Berliner Charité und ihre Bedeutung fur die Aufwertung von Care-Arbeit, in: Fried, Barbara/Schurian, um gleiche Rechte und Lebensbedingungen Hannah (Hg.): UM-CARE – Gesundheit und Pflege neu einzutreten. organisieren, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Materialien, Berlin, 23–31 ppGemeinsam mit vielen Gewerkschaftsaktiven und anderen progressiven Teilen der Zivilge- 1 Auch unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanz- sellschaft bauen wir breite Bündnisse gegen krise konnte die LINKE bei der Bundestagswahl 2009 17,1 die Rechtsentwicklung auf. So ist das Bündnis Prozent bei den Gewerkschaftsmitgliedern erzielen, die SPD kam auf 33,5 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte »Aufstehen gegen Rassismus« entstanden, das Merkels CDU große Zugewinne bei den Gewerkschaftsmit- 10 000 ›Stammtischkämpfer*innen‹, ausbilden gliedern und lag mit 32,4 Prozent fast gleichauf mit der SPD (35,9 Prozent). Die LINKE kam auf elf Prozent – angesichts der und so die ideologische Auseinandersetzung Krise der Partei 2012 ein gutes Ergebnis. mit der AfD in den Stadteilen, Schulen, Verei- 2 Der Begriff wurde ursprünglich in den Diskussionen im Umfeld der Rifondazione Communista entwickelt (vgl. Porcaro nen und in den Betrieben intensivieren will. 2011 und in diesem Heft).

Verankern | Luxemburg 2/2016 53

_LUX_1602.indb 53 25.08.16 11:02 Selbstorganisierung jenseits der Plätze Gewerkschaften und mareas in Spanien

NiKolai Huke Die Platzbesetzungen in Spanien und Grie­ chenland fanden in linken Debatten hierzu­ lande breite Beachtung, Gleiches gilt für die neuen linken Parteien Syriza und Podemos. Gewerkschaftliche Proteste in Südeuropa stie­ ßen hingegen auf eine deutlich geringere Re­ sonanz.1 Eine intensivere Auseinandersetzung wäre jedoch durchaus produktiv: In Spanien etwa wurden nicht nur die fatalen Auswirkun­ gen der Austeritätspolitik auf Arbeitsbedin­ gungen und Möglichkeiten gewerkschaftlicher Gegenmacht sichtbar, sondern es entstanden auch innovative Formen basisdemokratischer Selbstorganisierung von Beschäftigten (vgl. Huke/Tietje 2014a; Huke 2016).2

Gewerkschaften in der Krise Die ökonomische Krise und ihre austeritäts­ politische Bearbeitung hatten für die Gewerk­ schaften in Spanien dramatische Konsequenzen und stellten etablierte Strategien infrage. Die instabile Entwicklung und die steigende Arbeitslosigkeit schwächten die gewerkschaftli­

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_LUX_1602.indb 54 25.08.16 11:02 che Handlungsmacht in den Unternehmen, und vorsahen. Nur punktuell reagierten sie mit ihre schwerfälligen Organisationsstrukturen militanteren und hartnäckigeren Protesten wie erschwerten es ihnen, auf die rasch aufeinander­ mehrmonatigen Erzwingungsstreiks in einzel­ folgenden Maßnahmen (Kürzungen im öffent­ nen Betrieben und symbolischen Generalstreiks lichen Dienst, Abbau des Kündigungsschutzes, (vgl. Haas/Huke 2015; Huke/Tietje 2014b). Restrukturierungen und Privatisierungen im Begründet wurde die defensive und Bildung- und Gesundheitsbereich, Rentenkür­ korporatistische Ausrichtung vonseiten der zungen, Reformen der industriellen Beziehun­ Gewerkschaften teilweise mit fehlender gen etc.) angemessen zu reagieren. Der Staat Konfliktfähigkeit, aber auch damit, dass über trat den Gewerkschaften in verhärteter Form konfrontativere Strategien keine besseren Ergeb­ entgegen, während etablierte Mechanismen der nisse zu erzielen seien. Ein Gewerkschafter der Partizipation, der Aushandlung und des sozialen CC.OO. wies im Interview darauf hin, dass die Dialogs fast vollständig zum Erliegen kamen. Beschäftigten in Griechenland mehrere Jahre Krisen einzelner Unternehmen sowie Angriffe versucht hatten, Widerstand gegen die Austerität auf das System der industriellen Beziehungen – nicht zuletzt die Verankerung eines Vorrangs betrieblicher Tarifverträge vor Flächentarifverträ­ Nikolai Huke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an gen – hatten zur Folge, dass gewerkschaftliche der Eberhard Karls Universität Tübingen und forscht zu sozialen Bewegungen und Krisen der Demokratie Auseinandersetzungen auf das betriebliche in Spanien. Er ist unter anderem in der Assoziation Terrain verlagert wurden. Ein immer größerer für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) aktiv. Teil gewerkschaftlicher Ressourcen musste aufgewendet werden, um die Einhaltung von Flächentarifverträgen in den Betrieben durchzu­ zu mobilisieren. »Aber es hat ihnen nicht gehol­ setzen. Verarmung und Prekarisierung erhöhten fen, die Kürzungen zu stoppen« (Interview vom den Druck auf Beschäftigte, auch unsichere 17.7.2012). Die Gewerkschaften drohten in der individuelle Arbeitsverträge unterhalb der Folge in eine Abwärtsspirale zu geraten: Zuge­ tariflichen Standards zu unterschreiben. ständnisse aufgrund fehlender Konfliktfähigkeit Die spanischen Mehrheitsgewerkschaften schwächten ihre gesellschaftliche Legitimität Comisiones Obreras (CC.OO.) und Unión und damit wiederum ihre Konfliktfähigkeit, was General de Trabajadors (UGT) ließen sich in weitere Zugeständnisse zur Folge hatte. vielen Fällen auf umfassende Zugeständnisse ein, in der Hoffnung, weitere Verschlechterun­ Basisdemokratische Selbstorganisierung gen vermeiden zu können. Sie stimmten der Teilweise durchbrochen wurde diese Dynamik Erhöhung des Renteneintrittsalters ebenso zu durch gesellschaftliche Mobilisierungen, die wie Lohnkürzungen auf betrieblicher Ebene, von den Platzbesetzungen der Bewegung 15-M um Arbeitsplätze zu erhalten, und akzeptierten ausgelöst wurden. Kennzeichen der Proteste Sozialpakte mit den Arbeitgeberverbänden, waren eine Politik der ersten Person, basis­ die Lohnsteigerungen unterhalb der Inflation demokratische Versammlungen (assambleas),

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_LUX_1602.indb 55 25.08.16 11:02 ziviler Ungehorsam und eher inklusive statt ein Vertreter der linken Bildungsgewerkschaft polarisierenden Forderungen. Kollektive Confederación de Sindicatos de Trabajadores politische Forderungen wurden ausgehend de la Enseñanza (STEs) die Bildungsproteste von individuellen Problemen formuliert. Die in Madrid (Interview vom 18.3.2014). Im konsensorientierte und partizipative Form der Gesundheitsbereich war die Dynamik ähnlich. Bewegungen ging mit einer akzeptierenden Das Netzwerk P.A.T.U. Salud etwa entstand aus und wertschätzenden ›Politik der Zuneigung‹ Versammlungen in sechs von Privatisierung einher und hatte eine Feminisierung der Politik bedrohten Krankenhäusern in Madrid. Indem zur Folge (vgl. Huke 2016). es die Betroffenen zum Ausgangspunkt machte, Aus Protesten gegen Kürzungen, Restruk­ gelang es dem Netzwerk, eine aktivierende turierungen und Privatisierungen im Bildungs- Wirkung zu entfalten, berufs- und statusgrup­ und Gesundheitsbereich entstanden in einigen penübergreifend zu mobilisieren und ideologi­ Regionen Bewegungen, die von Beschäftigten sche Konflikte weitgehend zu vermeiden. Viele ausgingen und in ihrer Grammatik durch machten die Erfahrung, eine Stimme zu haben 15-M geprägt waren – die marea verde und und Leute um sich herum organisieren zu marea blanca. Das organisatorische Zentrum können. Das hatte es vorher nicht gegeben – es der erfolgreichsten regionalen mareas bildeten war ein Erbe der 15-M-Bewegung. Vollversammlungen innerhalb einzelner Zentral für Mobilisierungserfolge der Einrichtungen, in denen Beschäftigte mit an­ mareas war es, dass »wir, die das vorangetrieben deren Betroffenengruppen wie Patient*innen, haben, Beschäftigte in unseren Einrichtungen Eltern, Schüler*innen oder Nachbar*innen waren, ohne Gewerkschaften dazwischen. gemeinsam die Proteste koordinierten. Diese […] Die Leute haben uns zugehört, weil sie wurden teilweise von Gewerkschaften initiiert, wussten, dass unser einziges Interesse das von entwickelten jedoch rasch eine eigene Dynamik Beschäftigten war« (Aicart 2013). Netzwerken sowie eigenständige Strukturen, innerhalb wie P.A.T.U. Salud gelang es, auch jene zu derer bisweilen eine nichtgewerkschaftliche mobilisieren, die Demonstrationen bisher oder gar antigewerkschaftliche Stimmung immer ferngeblieben waren, wenn deren Bild herrschte, die auch schon die Bewegung 15-M von Gewerkschaften oder politischen Parteien durchzogen hatte. In dem Maße, wie jedoch geprägt wurde. Mit »gewerkschaftlichen oder deutlich wurde, dass und wozu Gewerkschaften linken Bannern hätte es keine massiven mareas nützlich sein können, konnte diese Ablehnung blancas gegeben« (Ruiz-Giménez 2014, 33). teilweise überwunden werden. Über die Vollver­ Ausgehend von den Versammlungen wurden sammlungen entwickelte sich eine horizontale sowohl im Bildungs- als auch im Gesundheits­ Mobilisierung. In jedem Institut, in jeder bereich nicht nur Demonstrationen, sondern Schule gab es Unterstützungsgruppen, die sich auch temporäre Besetzungen (encierros) und nach Stadtteilen versammelten sowie wichtige unkonventionelle Protestformen wie Hausbe­ Demonstrationen und Streiks organisierten, suche bei Verantwortlichen (escraches) organi­ die von Eltern unterstützt wurden, beschreibt siert. Elternverbände riefen erstmalig in der

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_LUX_1602.indb 56 25.08.16 11:02 spanischen Geschichte mit zum Streik auf. Auf Demonstration gegen die Änderung des Arbeits­ gesetzes, Paris, Juni 2016 © Philippe Lelièvre den Balearen wurde aus basisdemokratischen Strukturen heraus ein mehrwöchiger Streik, inklusive Streikkasse, organisiert. Während sich die Asociación Nacional de Pro­ An den Vollversammlungen waren Leute fesorado Estatal (ANPE) und Central Sindical aus sehr unterschiedlichen Gewerkschaften Independiente y de Funcionarios (CSI-F), eher und solche, die keiner Gewerkschaft ange­ konservative sektorale Gewerkschaften, kaum hörten, beteiligt. Zentrales Prinzip war dabei beteiligten, taten dies CC.OO. und UGT schon – eine Politik der ersten Person: Gab es in einer sie versuchten dabei allerdings, die Dynamik Einrichtung etwa eine Versammlung der unter Kontrolle zu behalten. In ihren Augen marea verde, bestand sie aus den Lehrer*innen dienten Versammlungen eher dazu, Meinungs­ und Eltern dieser Einrichtung, in einem bilder einzuholen, Entscheidungen sollten Stadtteil waren es die Bewohner*innen dieses jedoch innerhalb der Gewerkschaftsorgane ge­ Viertels. »Niemand repräsentiert niemanden, troffen werden. Linke Minderheitsgewerkschaf­ auch wenn alle wissen, dass ich von STEs bin« ten spielten demgegenüber eine aktivere Rolle (Interview vom 18.3.2014). innerhalb der mareas: »Wir haben uns von Die unterschiedlichen Gewerkschaften Anfang an total aktiv beteiligt, aber ohne die gingen sehr verschieden mit den mareas um. Vollversammlungen kontrollieren zu wollen,

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_LUX_1602.indb 57 25.08.16 11:02 AFEM in Madrid verfügten die Bewe­ gungen über keine von den Gewerkschaften unabhängige Streik- und Mobilisierungsfä­ higkeit – beide waren wechselseitig aufei­ nander angewiesen. Trotz Teilerfolgen – in Madrid etwa konnte ein umfassendes Privatisierungspro­ gramm im Gesund­ heitsbereich verhindert »Wo ist die Demokratie?«, Paris, April 2016, werden – gelang es den basisdemokratischen Nicolas Vigier Bewegungen nur begrenzt, dauerhaft tragfä­ sondern von unten an der Entscheidungsfin­ hige Organisationsstrukturen zu entwickeln. dung partizipierend, mit unseren Vorschlägen, Während Streiks und permanente Mobilisierun­ unseren Ideen« (ebd.). Durch die Aktivierung gen bei vielen Betroffenen rasch Ermüdungs­ der Beschäftigten gelang es den neuen Struk­ erscheinungen zur Folge hatten, entfalteten turen teilweise, die Gewerkschaftsverbände andere Teile der Bewegungen eine aktivistische unter Zugzwang zu setzen. Ein Beispiel hierfür Dynamik. Frustrationen aufgrund ausbleibender war der unbefristete Streik im Bildungsbe­ unmittelbarer Erfolge trugen dazu bei, dass die reich auf den Balearen. Die Gewerkschaften Mobilisierungen an Kraft verloren. Auch war sahen zunächst keine Möglichkeit eines für einige die individuelle Arbeitsbelastung auf längerfristigen Streiks, Vollversammlungen Dauer nur schwer mit den zeitaufwendigen in den Bildungseinrichtungen hatten jedoch politischen Aktivitäten vereinbar. eine derart aktivierende Wirkung innerhalb des Lehrerkollegiums, dass sich schließlich Erfolgreich scheitern auch die Gewerkschaften am Streikaufruf Die Krise der Gewerkschaften und die mareas beteiligten. Angeführt wurde der Streik von der zeigen, dass spektakuläre Ereignisse – etwa basisdemokratischen assemblea de docents, die Wahlerfolge und anschließende Niederlagen die Vollversammlungen koordinierte. linker Parteien, Generalstreiks, aber auch Mit Ausnahme der balearischen assemblea Demonstrationen und Platzbesetzungen – nur de docents und dem im Kontext der Krise zumin­ einen kleinen Teil sozialer Auseinandersetzun­ dest teilweise einer basisdemokratischen Logik gen um die Auswirkungen von Austeritätspo­ folgenden Berufsverband von Mediziner*innen litik und ökonomischen Krisen ausmachen.

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_LUX_1602.indb 58 25.08.16 11:02 Deutlich relevanter für gesellschaftliche kann mehr eine Führungsrolle beanspruchen. Gegenmacht sind weit weniger öffentlichkeits­ Zugleich aber sollte vermieden werden, dass wirksame Prozesse der alltäglichen Organisie­ Pluralität in Spaltung umschlägt. Daher bedarf rung, des Aufbaus von Organisationsstrukturen es der Entwicklung einer Mosaiklinken« (Can­ und eines kontinuierlichen, mit Frustrationen deias/Völpel 2014, 205). Eine leichte Aufgabe, und Niederlagen verbundenen »erfolgreichen so zeigt der Blick auf die Konflikte zwischen Scheiterns« (Candeias/Völpel 2014, 11). Die basisdemokratischer Selbstorganisation und Bilanz der mareas ist in diesem Zusammenhang Gewerkschaften in den mareas, ist das Projekt eine ambivalente, wie ein Vertreter der balea­ einer derartigen Mosaiklinken aber nicht. rischen assemblea de docents erklärt: »Wenn wir mit den negativen Aspekten anfangen, sehen Literatur Aicart, Iñaki, 2013: Enmarcamos esta huelga dentro de la wir, dass wir es mit dem Streik nicht geschafft lucha contra la LOMCE, www.alasbarricadas.org/noti­ haben, unsere Forderungen durchzusetzen. […] cias/node/26636, Ders., 2014: Cada reconeixement de la nostra lluita és una In Bezug auf die positiven Aspekte sehen wir, clatellada que reben els gestors del desgavell educatiu a les Balears, www.plataforma-llengua.cat/assembleado­ dass wir eine nie dagewesene Organisation der cents/ Beschäftigten aller Inseln erreicht haben […]; Candeias, Mario/Völpel, Eva, 2014: Plätze sichern! ReOrgani­ sation der Linken in der Krise: Zur Lernfähigkeit des Mo­ mit dem unbefristeten Streik haben wir die Bil­ saiks in den USA, Spanien und Griechenland, Hamburg dung an die erste Stelle der öffentlichen Debatte Gallas, Alexander/Nowak, Jörg/Wilde, Florian (Hg.), 2012: Politische Streiks im Europa der Krise, Hamburg gerückt […] und zwei historische Werkzeuge in Haas, Tobias/Huke, Nikolai, 2015: Spanien – ›Sie wollen mit Kämpfen wieder aufgewertet: den unbefristeten allem Schluss machen‹, in: Bieling, Hans-Jürgen/Buhr, Daniel (Hg.), Europäische Welten in der Krise. Arbeits­ Streik und die Streikkasse« (Aicart 2014). beziehungen und Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, Die mareas zeigen, dass basisdemokratische Frankfurt a.M., 165–190 Huke, Nikolai, 2016: Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und eine stärkere gesell­ Selbst­organisation und Überfall auf die Institutionen, schaftliche Einbettung von Arbeitskämpfen Münster Ders./Tietje, Olaf, 2014a: Gewerkschaftliche Erneuerung in die Chance eröffnen, zumindest zeitweilig der Eurokrise. Neue Organisationsformen der spani­ Abwärtsspiralen und defensive korporatistische schen Gewerkschaften während des Protestzyklus ab 2011, in: Prokla 44 (4), 531–548 Strategien von Gewerkschaften zu durchbre­ Dies., 2014b: Zwischen Kooperation und Konfrontation. chen. Selbst in relativ ausweglos erscheinenden Machtressourcen und Strategien der spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT in der Eurokrise, in: Situationen werden so politische (Teil-)Erfolge Industrielle Beziehungen 21 (4), 371–389 möglich. Gleichzeitig wird deutlich, dass soziale Ruiz-Giménez, Juan Luis, 2014: Experiencia de la lucha socio sanitaria en España: Yo Sí Sanidad Universal y Marea Bewegungen durch ihre Flüchtigkeit und ihre Blanca, in: Rescoldos 31, 28–40 prekären Organisationsstrukturen nur begrenzt in der Lage sind, gewerkschaftliche Apparate 1 Eine Ausnahme bildet der Band von Gallas et al. 2012. 2 Der Text basiert auf Interviews mit Gewerkschafter*innen zu ersetzen. Es ist daher notwendig, in sozia­ und Aktiven der mareas, die im Rahmen des von der len Auseinandersetzungen unterschiedliche Hans-Böckler-Stiftung geförderten Promotionsprojekts »Sie repräsentieren uns nicht. Soziale Bewegungen und Krisen der Organisationsmodelle produktiv zu vermitteln. Demokratie in Spanien« geführt wurden. »Kein Teil der pluralen Linken, keine Partei, 3 Die stärkste Dynamik entfalteten die Bewegungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich in Madrid sowie im keine Gewerkschaft, keine linke Avantgarde Bildungsbereich auf den Balearen.

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_LUX_1602.indb 59 25.08.16 11:02 Erneuerung durch Social Movement Unionism?

Warum neue Methoden allein die Gewerkschaften nicht auf die Beine bringen werden

Sam Gindin Klassische gewerkschaftliche Organisierung, die auf den Betrieb zielt, ist out, eine Zusam- menarbeit mit sozialen Bewegungen hingegen ist in – darin sind sich nordamerikanische Gewerkschaftsaktivist*innen einig. In Debatten zur Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung steht social movement unionism für das maximal Vorstellbare: kämpferische Gewerkschaften mit demokratischen Strukturen, die ein Bewusst- sein für soziale Gerechtigkeit und Klassenfra- gen haben und als Teil einer übergreifenden sozialen und politischen Bewegung agieren. Zwar haben diese Ansprüche oftmals mehr mit Wunschdenken als mit den Realitäten eines social movement unionism zu tun, dennoch sollte man der Ansatz nicht gänzlich verwer- fen. Inwiefern also kann dieses Konzept dazu beitragen, festgefahrene Denk- und Funktions- weisen der Gewerkschaften aufzubrechen?

Ursprünge Verfechter*innen eines social movement unionism beziehen sich auf die Zeiten des

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_LUX_1602.indb 60 25.08.16 11:02 rapiden Wachstums der Industriegewerk- den, etwa in Südafrika, Brasilien, Südkorea und schaften während der Weltwirtschaftskrise in auf den Philippinen. Diese antikapitalistischen den 1930er Jahren. Was damals funktionierte, Kämpfe für Demokratie und Koalitionsfreiheit kann für heute möglicherweise inspirierend erscheinen heute sehr weit weg von der engen sein. Die Gewerkschaftsforscherin Jane gewerkschaftlichen Agenda in den kapitalisti- McAlevey beispielsweise stellt insbesondere schen Metropolen. Gerade durch ihre Veran- die kommunistische Praxis des deep organizing kerung in den Communities haben sie eine heraus, bei der gewöhnliche Arbeiter*innen breite Ausstrahlungskraft entwickelt und waren als Organizer*innen in Betrieben wie in prägend für einen social movement unionism. Communities aktiv wurden. Sie organisierten Neue Bedeutung erhielt das Konzept Sitzstreiks, verhinderten Zwangsräumungen schließlich, als es den traditionellen Ge- und unterstützten Demonstrationen von werkschaften zuletzt nicht mehr gelang, die Erwerbslosen. Mithilfe ihrer Communities neoliberalen Angriffe auf die Beschäftigten konnten Transportarbeiter*innen ganze Städte und deren Errungenschaften abzuwehren. lahmlegen. Statt dem exklusiven Solidaritäts- konzept berufsständischer Gewerkschaften verfolgten sie eine Organisierung über Sam Gindin war jahrzehntelang Leiter der For- berufliche, ethnische und geschlechtliche schungsabteilung der kanadischen Automobil-Ge- werkschaft CWA. Zwischen 2000 und 2010 lehrte Spaltungen hinweg. Zentral war der Aufbau er an der York University in Toronto, wo er sich einer Gruppe von engagierten ›Kadern‹, deren insbesondere mit der Frage einer Reorganisierung Aufgabe es war, die Basis zu motivieren und der Linken und verbindenden Politiken zwischen organisatorische wie politische Ressourcen Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, NGOs und Erwerbslosen- sowie Armenbewegungen aufzubauen. Allerdings nannten die Aktiven befasst hat. Er ist Mitbegründer und Redakteur der ihre Praxis damals nicht social movement linken Internetplattform Socialist Project sowie in unionism – die Verbindung von Betrieb und verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv. Community war ihnen völlig selbstverständ- lich, ebenso wie die Notwendigkeit breiter Bündnisse angesichts der massiven Angriffe Beispielhaft steht hier die Chicagoer Leh- der Gegenseite. Prekäre Lebensbedingungen rergewerkschaft (Chicago Teachers Union/ bildeten für (fast) alle Beschäftigten eine CTU), deren neue Führung nicht mehr Realität. Gewerkschaftliche Organisierung war allein auf Tarifverhandlungen und politische die prägende soziale Bewegung der Zeit und Lobbyarbeit setzen wollte, um die Probleme sollte es auf Jahrzehnte hinaus bleiben. im Bildungssystem anzugehen. Gemeinsam Ein weiterer Ursprung des Konzepts liegt mit den Eltern nahmen die Beschäftigten in den Auseinandersetzungen um Demokratie nun strukturellen Rassismus und Klassen- und Menschenrechte, die nicht zuletzt von verhältnisse als Bildungshürden ins Visier. Gewerkschaftler*innen in den 1970er und Der Aufbau einer stabilen Mitgliederbasis war 1980er Jahren im globalen Süden geführt wur- dafür eine wichtige Voraussetzung.

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_LUX_1602.indb 61 25.08.16 11:02 Während grundlegende gesellschaftliche Frontstellungen sind einer zunehmend Veränderungen – gar Sozialismus – oft ein abs- komplexen Gemengelage gewichen, vor der traktes Ideal bleiben, verspricht social movement auch Gewerkschaften im globalen Norden unionism konkrete und realistische Schritte, stehen: Ein globaler Konkurrenzdruck, eine die in der prekären Lage der Gewerkschaften fragmentierte Arbeiterklasse, die Auflösung sowohl Mitgliedern wie Führung alternativlos historisch gewachsener Communities und erscheinen. Und doch: Verglichen mit den Sitz- die Ausbreitung einer globalisierten Konsum- streiks der 1930er und den Massenprotesten kultur und imperialen Lebensweise haben der 1960er Jahre bleiben die Kampagnen heute die Handlungsbedingungen verändert. In zumeist lokal, beschränkt und sporadisch. Eine Brasilien etwa sind die einst sozialistischen wirkliche Ausweitung lässt – trotz zunehmend und regimekritischen Gewerkschaften heute brutaler Angriffe der Arbeitgeberseite – auf damit beschäftigt, die Integration ihrer Basis sich warten. Woran liegt das? in den kapitalistischen Weltmarkt genauso zu organisieren wie die Zustimmung zur Defizite Austeritätspolitik einer vermeintlich linken Eine Ursache liegt gerade in den gewerk- Regierung. schaftlichen Erfolgen der Vergangenheit, die Selbst die CTU stößt in ihrem beispielhaf- die internen Organisationsstrukturen wie die ten Kampf immer wieder an Grenzen eines lo- Handlungsbedingungen von Gewerkschaften kal beschränkten, vereinzelten social movement dramatisch verändert haben. Die zunehmende unionism. So erfuhr die Gewerkschaft während Eigenständigkeit der Industriegewerkschaften ihres Streiks 2012 wenig Unterstützung von und ihre Institutionalisierung als Tarifpart- anderen Gewerkschaften und ist innerhalb ner seit den 1930er Jahren ließen eine enge der landesweiten Lehrergewerkschaft bis Verbindungen zu den Communities über- heute in der Minderheit. Selbst auf dem flüssig erscheinen. Auch die Besserstellung Höhepunkt ihres Erfolgs konnten sie und bestimmter Beschäftigtengruppen seit den ihre Unterstützer*innen Schulschließungen 1960er Jahren, etwa im öffentlichen Dienst, letztlich nicht verhindern. Die aktuellen Bud- machte eine übergreifende und gemeinsame get- und Rentenkürzungen wären lediglich in Antwort auf die aufkommende neoliberale einem überregionalen, ja landesweiten Kampf Gegenoffensive komplizierter. Die Fixierung zu adressieren gewesen. Diesen kann die CTU auf tarifliche Fragen (contract unionism) ver- aber allein nicht organisieren. engte die Gewerkschaftsarbeit in einer Weise, Ein weiteres Problem ist, dass viele An- die den heutigen Herausforderungen nicht hänger des social movement unionism soziale (mehr) gewachsen ist. Bewegungen und Gewerkschaften tendenziell Auch in den ehemals autoritär regierten als getrennte Formationen betrachten und an Ländern des globalen Südens haben sich die beide sehr unterschiedliche Maßstäbe anle- Bewegungen im Zuge ihres erfolgreichen gen. Während die Defizite von Gewerkschaf- Kampfs um Bürgerrechte verändert. Klare ten hinsichtlich mangelnder Mobilisierungs-

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_LUX_1602.indb 62 25.08.16 11:02 fähigkeit und interner Demokratie umfassend Nantes, Juli 2016, © Val K., collectif Bon Pied Bon Œil diskutiert werden, trifft ähnliche Kritik die sozialen Bewegungen seltener – häufig wer- konkrete Ideen, wie mit dem kapitalistischen den sie in ihrer Bedeutung eher überschätzt. Staat und seiner gut organisierten herrschen- So gibt es in Nordamerika gegenwärtig den Klasse umzugehen wäre. kaum eine breite soziale Bewegung und im Der größte Hemmschuh für einen effek- Vergleich zu den Gewerkschaften sind deren tiven social movement unionism ist und bleibt Ressourcen recht beschränkt. Zwar treten sie jedoch der Widerstand innerhalb der Gewerk- berechtigterweise für Demokratie und Partizi- schaften, sich auf wirkliche Veränderungen pation ein, ihre institutionelle Schwäche führt einzulassen. Denn als bloße Ergänzung der in der Praxis aber nicht selten zu informellen bisherigen Arbeit kann das Konzept nicht Hierarchien und undemokratischen Abläufen. funktionieren. Es reicht nicht, Bündnisse mit Dadurch dass sie oft Ein-Punkt-Bewegungen anderen Bewegungen zu schließen, sondern die und an Identitätspolitik orientiert sind, ist ihre eigenen Strukturen müssen radikal umgebaut politische Perspektive oft in ähnlicher Weise werden und wirkliche Klassenpolitik muss wie- beschränkt wie die der Gewerkschaften. Der der ins Zentrum rücken. Dies impliziert nicht antikapitalistische Elan bringt radikale Pro- nur ein neues Verhältnis zu den Mitgliedern, testformen hervor, aber es gibt viel zu wenig sondern auch zu anderen Gewerkschaften und

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_LUX_1602.indb 63 25.08.16 11:02 zur Community. Es bedarf einer veränderten dass Beschäftigte im privaten Sektor für eine internen Ressourcen- und Arbeitsverteilung, ökologisch nachhaltige und friedliche indus- einer Veränderung der Rolle, Rekrutierung und trielle Produktion und deren demokratische Ausbildung von Funktionär*innen sowie natür- Planung kämpfen. Oder noch konkreter könnte lich auch anderer Prioritäten und Strategien. es heißen, dass Automobilarbeiter*innen die Konversion ihrer Arbeitsplätze voran- Klasse treiben, um durch ihre Jobs die ökologische Der social movement unionism muss nicht in Krise zu mindern, statt sie zu verschärfen. Abgrenzung zum ›alten‹ marxistischen Fokus Bauarbeiter*innen könnten einen öffentlichen auf Klassenverhältnisse stehen, sondern kann Wohnungsbau und die ökologische Sanie- daran anschließen. Kim Moody und Marta rung bestehender Wohnungen fordern. Die Harnecker beispielsweise nennen für einen sol- Gewerkschaften selbst müssten ihre Orga- chen Ansatz einige Voraussetzungen. Sie halten nisationsinteressen hinter klassenpolitische zwar an der zentralen strategischen Bedeutung Interessen zurückstellen. Prekäre Bereiche zu der Arbeiterklasse fest, betonen jedoch, dass organisieren sollte dazu dienen, eine solide zu ihr längst nicht nur Beschäftigte im engen Klassenbasis aufzubauen und gegenseitige Sinne gehören. In ihrem Klassenverständnis Solidarität zu befördern – und nicht dem An- sind alle Menschen, die auf Lohn oder andere stieg von Mitgliedern und Beitragszahlungen. geldwerte Leistungen zur Sicherung ihres Die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften Lebensunterhalts angewiesen sind, Teil der müsste einer Kooperation weichen, die hilft, Arbeiterklasse – ob gewerkschaftlich organisiert den Organisierungsgrad insgesamt zu erhöhen oder nicht. Entsprechend spielen ›Klassenfra- und neue Formen der Solidarität zu erproben, gen‹ in allen Lebensbereichen eine Rolle und etwa in lokalen oder regionalen Gewerkschafts- längst nicht nur am Arbeitsplatz. Wenn tradi- und Beschäftigtenversammlungen. Werden tionelle Arbeitskämpfe sich also mit Kämpfen Mitglieder entlassen, dürften sie selbstverständ- in den Communities verbinden, beziehen sie lich nicht aus der Organisation herausfallen, sich nicht auf ein Außen, sondern auf Teile der sondern könnten eine tragende Funktion in der eigenen Klasse und somit potenziell auf ihre Organisierung von Erwerbslosen übernehmen. eigenen Interessen, die allerdings über den Arbeitsplatz hinausreichen. Schließlich betonen Die Linke Harnecker und Moody, wie wichtig es ist, die Statt also social movement unionism auf einen Institutionen der Arbeiterklasse zu demokrati- ›Ansatz‹ oder einen statischen Kriterienkata- sieren und eine größtmögliche Partizipation der log zu reduzieren, sollte er als umfassende Re- Mitglieder zu ermöglichen. orientierung der Gewerkschaftsarbeit begriffen Was würde das in der Praxis bedeuten? werden. Es geht um eine dynamische Antwort Dass Beschäftigte des öffentlichen Dienstes auf das Versagen der bestehenden Gewerk- einen Kampf um hochwertige, demokratisch schaftsarbeit und erfordert komplexe und tief verwaltete soziale Dienstleistungen anführen; greifende Veränderungen.

64 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 64 25.08.16 11:02 Für eine marxistische Linke war die organi- einem social movement unionism tatsächlich die sierte Arbeiterklasse stets der zentrale (wenn Macht der Arbeiterklasse zu stärken. auch nicht einzige) Akteur gesellschaftlicher Hier lohnt erneut ein Blick auf die CTU. Veränderung. Gewerkschaften wurden als Die Tatsache, dass beispielsweise in dieser notwendiges Mittel der Selbstverteidigung Gewerkschaft eine Vielzahl von Sozialist*innen gesehen, deren revolutionäres Potenzial aber aktiv ist, ist eine häufig übersehene Erfolgsbe- begrenzt ist. In der gegenwärtigen Krise dingung ihrer Arbeit. Sie bringen ihr analyti- gelingt es den Gewerkschaften jedoch nicht sches und strategisches Wissen ein, ihre Kon- einmal mehr, diese elementare Aufgabe richtig takte zu lokalen Kämpfen sowie Ausdauer und wahrzunehmen. In den Debatten um social Motivation, die über konkrete (Miss-)Erfolge movement unionism wird entsprechend das Aus- hinausreichen. Auch wenn CTU-Aktivist*innen maß und die Tiefe der internen Probleme der gerade versuchen, ihre Erfahrungen lokal und Gewerkschaften häufig unterschätzt – ebenso überregional zu verbreiten, so sind sie letztlich wie die Schwachpunkte sozialer Bewegungen. auf eine organisiertere Form der Unterstützung Schwache Gewerkschaften mit schwachen angewiesen: Um ihre Dynamik und ihren sozialen Bewegungen zu verbinden mag ein Kampfgeist zu erhalten, müsste ihre Arbeit von paar Vorteile haben, doch letztlich müssen breiteren politischen Kämpfen flankiert werden, solche Bündnisse pragmatisch und vorläufig die sie ohne darauf fokussierte Organisationen bleiben. Die Summe mangelhafter Teile kann und deren Zeit, Ressourcen, Fertigkeiten und nur ein mangelhaftes Ganzes ergeben. Kontakte nicht führen kann. Darum bedarf es im Grunde einer (oder auch mehrerer) zusätzlicher Institutionen, die Fazit sich explizit mit der Frage staatlicher Macht und Das verbreitete Interesse an einem social deren Stabilität auseinandersetzen (vgl. Porcaro movement unionism ist erfreulich. Das Problem in diesem Heft). Dies ist kein Aufruf zur Grün- ist allerdings, dass die real existierenden Ge- dung einer weiteren Partei. Eine solche Orga- werkschaften eine solche Entwicklung aus sich nisation dürfte sich nicht auf Wahlen und Partei- heraus nicht anstoßen können. Die vielverspre- politik beschränken, sondern müsste versuchen, chenden Beispiele sind bislang allesamt Aus- sowohl aus Gewerkschaften als auch aus sozia- nahmen geblieben. Angesichts dieser Situation len Bewegungen das Beste herauszuholen und bedarf es einer sozialistischen Partei – und zwar deren Zusammenspiel zu verbessern. Zugleich einer, die sich weniger über bestimmte politi- müsste sie aber die politischen Fähigkeiten der sche Forderungen definiert als darüber, dass Subalternen selbst fördern: die Fähigkeiten zur sie langfristig eine Strategie zum Aufbau der Analyse, Strategiebildung und Organisierung. Klasse entwickelt. Insbesondere muss sie einer Eine solche Organisation – die gleichermaßen Tendenz der Gewerkschaften entgegenwirken, innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaften konkrete Vorteile für einzelne Beschäftigten- agieren und eine dezidiert sozialistische Idee gruppen auszuhandeln oder zu verteidigen. Wir vertreten müsste – ist unverzichtbar, um mit brauchen eine Organisation, die die Fähigkeiten

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_LUX_1602.indb 65 25.08.16 11:02 der Subalternen stärken und Strategien zum Jahren ist es einer Kampagne gegen prekäre Aufbau und zur Ausübung von Macht entwi- Arbeitsbedingungen in den USA gelungen, ckeln kann (vgl. Giovanopoulos in diesem Heft). Öffentlichkeit für das Thema herzustellen Marxist*innen haben die sozialistische Partei und in einzelnen Städten und Bundesstaa- traditionell als das Mittel zur Überwindung des ten Lohnerhöhungen durchzusetzen. Aber Kapitalismus betrachtet. Heute scheint eine sol- der von der Dienstleistungsgewerkschaft che Partei wichtig, um weitreichende Reformen SEIU und der United Food and Commercial innerhalb des Kapitalismus zu erkämpfen, zu Workers International Union (UFCW) unter- erhalten und zu verallgemeinern. stützte Kampf der Walmart-Beschäftigten wird Die spontane Entwicklung eines social solange keinen echten Durchbruch bedeuten, movement unionism hat ihre Grenzen, und wie er im Rahmen klassischer Gewerkschafts- dessen Verallgemeinerung hängt langfristig strategien verbleibt. Auch die Forderung nach vom Aufbau einer organisierten gesellschaft- einem Mindeststundenlohn von 15 US-Dollar lichen Linken ab. Es sind also nicht allein die konnte zwar überraschende Unterstützung Gewerkschaften, die einer Verbreitung des mobilisieren, eröffnet aber keine Perspektive, social movement unionism im Wege stehen, wie Beschäftigte mehr Einfluss auf ihre sondern es ist die Abwesenheit einer solchen Arbeitsbedingungen, ihre soziale Absicherung gesellschaftlichen Linken. Ein breit veranker- und die Stabilität ihrer Arbeitsplätze gewin- ter social movement unionism bleibt damit ohne nen. Ähnliches gilt für die Präsidentschafts- die Reorganisation einer klassenbasierten kampagne von Bernie Sanders, die viele Leute Linken unmöglich. Das mag weit hergeholt mobilisiert hat, aber bei der noch völlig unklar scheinen angesichts des gegenwärtigen Stands ist, was langfristig von ihr bleiben wird (vgl. sozialer Kämpfe und der Schwäche einer hierzu Solty in diesem Heft). Befördert sie radikalen Linken. Noch unrealistischer ist es eher Illusionen über einen nächsten Wahl- jedoch anzunehmen, ein wirkliches Umsteu- kampf? Vertieft sie den Zynismus gegenüber ern ließe sich ohne eine übergreifende linke Wahlen? Oder führt sie Millionen Menschen Organisation bewerkstelligen. All das ist keine vor Augen, dass radikale Veränderungen nur Frage politischer Präferenzen, sondern eine jenseits der Demokratischen Partei ansetzen schlichte Notwendigkeit. können? Wir können den Aufbau so einer Orga- Klar ist: Kampagnen und soziale Kämpfe nisation nicht dem Zufall überlassen oder sind flüchtig. Ihre Dynamik lässt sich ohne sta- hoffen, dass die Verhältnisse sie selbst hervor- bile demokratische Strukturen kaum aufrechter- bringen. Es wird sie nur geben, wenn wir sie halten. Nur, wenn die Arbeiterklasse in diesem kollektiv voranbringen. Sollte uns dies nicht Sinne kollektiv handlungsfähig ist, wird sie direkt gelingen, müssen wir in eine konzen- langfristig in der Lage sein, radikale Reformen trierte Diskussion darüber einsteigen, wie es und wirkliche Veränderung durchzusetzen. langfristig gelingen kann. Zwei Beispiele hel- fen, dies zu veranschaulichen: In den letzten Aus dem Englischen von Max Henninger

66 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 66 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 67 25.08.16 11:02 Europa der Kommunen Von Bürgerplattformen zu rebellischen Städten

B eppe Caccia Die Diskussion um einen neuen Munizipa- lismus hat seit den spanischen Kommunal- wahlen im Mai 2015 Fahrt aufgenommen, bei der sogenannte Bürgerplattformen erstmals Kandidat*innen für das Bürgermeisteramt und für die Stadtparlamente stellten. In zahl- reichen Städten – darunter Madrid, Barcelona, Valencia, Zaragoza und La Coruna – sind diese neuen Bündnisse nun an der Regierung, in anderen bilden sie die stärkste Oppositi- onskraft. Zwei Momente sind entscheidend für diese Entwicklung: Das ist zum einen das Entstehen neuer politischer Kräfte im spanischen Staat. Die junge Partei Podemos ist in fast allen Städten Teil dieser Bündnisse und die sozialen Bewegungen dominieren seit dem 15. Mai 2011 die politische Szene. Darü- ber hinaus spielen eine Reihe übergreifender Faktoren eine Rolle: Dies ist die kapitalistische Finanzialisierung sowie die Bedeutung von kommunalen Austeritätspolitiken innerhalb des europäischen Krisenmanagements. Vor diesem Hintergrund ist die Erfahrung von

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_LUX_1602.indb 68 25.08.16 11:02 Barcelona en Comù besonders spannend: Das Städte unter europäischem Krisenregime Bündnis war nicht nur imstande, einschnei- Diese Tendenz hat sich unter dem autoritären dende Veränderungen in der politischen europäischen Krisenmanagement der letzten Imagination wie der politischen Realität acht Jahre noch verstärkt. Sowohl die Finan- anzustoßen, sondern hat außerdem der Frage zialisierung öffentlicher Schulden als auch alternativen Regierens auf kommunaler Ebene die Austeritätspolitiken haben die Ebene der in ganz Europa neue Aufmerksamkeit ver- Kommunen ins Visier genommen. Seit den schafft (vgl. Zelik sowie Bruchmann/Candeias frühen 2000er Jahren erhielten Kommunal- in diesem Heft). verwaltungen verstärkt Zugang zu Finanzpro- Dass sich diese neue Politik ausgerechnet dukten und Derivatenmärkten, während ihnen in Barcelona, einer der wichtigsten europäi- staatliche Mittel stetig gekürzt wurden. Es kam schen Städte, entwickelt, spricht für ihre Kraft. zu einem exponentiellen Anstieg der Verschul- Metropolen sind heute der Raum gesell- dung – wobei diese eng an die Bewegungen der schaftlicher Produktion und Reproduktion globalen Finanzmärkte gekoppelt war. Auch die par excellence: durchzogen von Logistikzonen und Strukturen eines Plattform-Kapitalismus (Sascha Lobo), Orte, an denen neue Formen B eppe Caccia ist Philosoph, Post-Operaist und der Ausbeutung mehr als irgendwo sonst arbeitet zur Geschichte des politischen Denkens. Er ist in sozialen Bewegungen aktiv, unter greifen, ideale Experimentierfelder eines anderem bei Blockupy International. Er ist Mitglied neoliberalen Finanzkapitalismus, der qua des Kollektivs EuroNomade und im Board von Verschuldung, Schuldverschreibungen und European Alternatives. Von 2001 bis 2005 war er Immobilienspekulation einen permanenten stellvertretender Bürgermeister in Venedig. Angriff auf den gesellschaftlich produzierten Wohlstand darstellt. Doch unsere Städte sind auch Orte erbarmungslose Anwendung innerstaatlicher des Widerstands und der Erfindung neuer Stabilitätspaktkriterien auf der kommunalen Lebensformen. Es sind Orte, an denen neue Ebene wird mit Ressourcenknappheit gerecht- soziale Konflikte, Formen der Kooperation fertigt. Tatsächlich handelt es sich aber um die und der unabhängigen Kultur entstehen. Den strukturelle Konsequenz einer europäischen heutigen Metropolen kommt eine ähnliche Politik, die auf eine Kürzung staatlicher Ausga- Rolle zu wie der Fabrik in der vorhergehenden ben im Bereich öffentlicher Dienstleistungen, fordistischen Epoche: Sie sind Terrain von insbesondere der sozialen Daseinsvorsorge Auseinandersetzungen, Orte der Ausbeutung (als vermeintlich ›unproduktivem‹ Bereich) sowie des Widerstands, von Herrschaft sowie zielt (vgl. Wiegand in diesem Heft). Zu die- von Emanzipation, ein Schauplatz unauflösli- sem neoliberalen Angriff gehören auch eine cher Spannungen zwischen widerstreitenden Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen in gesellschaftlichen Kräften und Machtverhält- den Kommunen sowie der Verkauf oder besser nissen (vgl. Harvey 2012). gesagt der Ausverkauf von Vermögenswerten,

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_LUX_1602.indb 69 25.08.16 11:02 die zuvor als öffentliche Güter galten, in denen staaten charakteristisch war. Teils speiste er sich sich ein über Jahrzehnte geschaffener gesell- aus Überbleibseln des Ancien Régime, doch schaftlicher Reichtum materialisiert. Schaut meist verbündete er sich mit der entstehenden man sich an, wie weitreichend die nationalen Arbeiterbewegung. Dies war Gegenstand einer Staatshaushalte unter dem Diktat der Europä- Auseinandersetzung zwischen Proudhon und ischen Zentralbank seit 2011/12 reorganisiert Marx, wobei Letzterer später im Kontext der wurden, findet man diese rendsT bestätigt. Pariser Kommune von 1871 zugestand, dass die Städtische Widerstandsbewegungen, die Verbreitung von Kommunen in anderen Städten versuchen, Alternativen ›von unten‹ aufzu- Frankreichs durchaus einen strategischen bauen, sind insofern ein wichtiger Teil neuer Vorteil innerhalb des revolutionären Prozesses sozialer Kämpfe, weil sie diesen Prozessen ent- hätte bedeuten können. gegentreten (vgl. Juncker et al. in diesem Heft). Und selbst innerhalb der Grenzen des Wie andere Bürgerplattformen hat Barcelona en spanischen Staates gibt es eine Tradition, die Comù es geschafft, diese Erfahrungen zu poli- vom Denken Francesc Pi i Margalls (1863) tisieren und zu verstärken, indem sie Teilberei- ausgeht, einem katalanischenr Philosophen che verbunden und soziale Bewegungen und und Politiker. Mergall hatte ein föderalistisches bürgerschaftliche Initiativen mit ›alten‹ und Konzept entworfen, das auf einer Dezentralisie- ›neuen‹ politischen Kräften zusammengeführt rung der Verwaltung und bilateralen Abkom- hat. Sie hat dies mit dem erklärten Willen ge- men zwischen den Kommunen beruht (vgl. tan, eine gesellschaftliche Mehrheit zu erringen Observatorio Metropolitano 2014). und diese in eine Wahlmehrheit zu überführen. In den 1990er Jahren lebte der munizi- Sie wollte die Stadtregierung übernehmen, um palistische Diskurs wieder auf. Bedeutend war echte Veränderungen anstoßen zu können. der kommunalistische Entwurf von Murray Bookchin, der 1987 schrieb: »Die unmittelbare Eine lange Geschichte von ›freien Städten‹ Absicht des libertären Munizipalismus ist es, In der Diskussion um einen neuen Munizipalis- die öffentliche Sphäre als Gegenentwurf zu mus lohnt der Blick auf verschiedene historische einer zentralistischen Verstaatlichung stark zu Vorläufer. Hannah Arendt zeichnete in »Vita Ac- machen und im wahrsten Sinne des Wortes ein tiva« (1958) die altgriechische poleis geradezu als Maximum an Demokratie zu ermöglichen; Ins- Paradigma städtischen Lebens. Die mittelalter- titutionen zu schaffen, die den Bürger*innen zu lichen Städte in Italien und anderswo galten als politischer Macht verhelfen.« Nach Murray kann Orte der Befreiung von Untertanenschaft – die es keine Politik ohne Beteiligung der Communi- Redewendung »Stadtluft macht frei« steht dafür ty geben, wobei sein Konzept von Community – und die kleinen »Republiken zur Zeit der Kö- eine freie Assoziation von Bürger*innen auf nigreiche« verfügten über ein gänzlich anderes kommunaler Ebene vorsieht, deren wirtschaftli- Souveränitätsmodell. Später ist der Widerstand che Autonomie von Grassroots-Organisationen gegen Zentralisierungsprozesse interessant, wie und von anderen Zusammenschlüssen gestützt er zur Zeit der Entstehung moderner National- und in regionalen Netzwerken organisiert wird.

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_LUX_1602.indb 70 25.08.16 11:02 Dem Aufstand der Zapatisten im Januar 1994 ist es zu verdanken, dass die politische Idee gemeinschaftlicher Selbstverwaltung Verbrei- tung erfuhr und im Kontext des Global Justice Movement genau die Argumente lieferte, die sowohl die lokalen partizipatorischen Prozesse in Lateinamerika unterstützten als auch die gegen imperialistische Tendenzen gerichteten Netzwerke wie das Forum of Local Authorities als Teil des Weltsozialforums.

Gemeinde, Kommune, Common-Wealth Will man also einen neuen munizipalistischen Horizont eröffnen, braucht man einen födera- listischen Ansatz, der auf starken materiellen sozialen und egalitären Prinzipien fußt. Mit etwas Mut könnte man auch einfach sagen: Wir brauchen einen neuen Klassenstandpunkt. Auch lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Kommune (in ihrer Doppelbedeutung als ursprüngliche lokale Institution und als historisch-revolutionäres Beispiel) und der »Ich, ich habe meinen Rettungsschirm«, Paris, Juni 2016, JeanneMenjoulet&Cie/flickr Idee der Commons herstellen. In der Com- mons-Debatte (vgl. u.a. Hardt/Negri 2010) ist In der Sprache von Barcelona en Comù heißt Common die kollektive – von der Multitude dies Bürgerprotagonismus, auch wenn der betriebene – Produktion einer materiellen darin enthaltene Begriff der Staatsbürgerschaft wie immateriellen Realität, die ihrer privaten (citizenship) nicht unproblematisch ist. Denn oder öffentlichen Aneignung (z.B. durch den Staatsbürgerschaft selbst ist ein Moment von Staat) vorausgeht. Vor diesem Hintergrund Differenzierung und Exklusion aus genau der müssen wir die Bedeutung von Demokratie Rechtssphäre, die man normalerweise mit theoretisch wie praktisch neu überdenken. Staatsbürgerrechten in Verbindung bringt. Ada Kurz gesagt, muss Demokratie heute als Colau hat sich deshalb im Namen der Stadt Bar- kollektive politische Entscheidungsfindung celona für die Gründung eines Netzwerkes von verstanden werden, als eine Entscheidung der sogenannten »Shelter-Cities«, Zufluchtsstädten, Vielen über das ihnen Gemeinsame. Der neue eingesetzt. Mit dieser inklusiven Idee von Munizipalismus impliziert in diesem Sinne Staatsbürgerschaft positionierte sie sich gegen den Versuch, das Konzept und die Praxis von die Abschottungspolitik der nationalen Regie- Demokratie neu zu erfinden. rung wie die der europäischen Institutionen.

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_LUX_1602.indb 71 25.08.16 11:02 Auch der Begriff Protagonismus verdient Be- sind imstande, jeglichen lokalen Kontext mit achtung. Es ist an der Zeit, sich von bestimm- seinen spezifischen sozialen, politischen und ten ›partizipativen‹ Illusionen der globalen institutionellen Dynamiken in ein ernstzuneh- munizipalistischen Welle der frühen 2000er mendes Laboratorium zu verwandeln. Jahren zu verabschieden. Beim Protagonis- Einer der häufigsten Fehler an solchen mus geht es nicht um formalisierte Konsul- Punkten, ist es, analytische Modelle zu basteln, tationsprozesse, sondern darum was, wie und bei denen alles genau zusammenpasst. Von vor allem von wem entschieden wird. Diese solchen Konstrukten ausgehend, wird dann Fokussierung auf die politische Entscheidung ist die abstrakte Zentralität dieses oder jenes die eigentliche Errungenschaft der Bewegung politischen Prinzips behauptet. Wir sollten uns der Plätze. Diesen unterschiedlichen Kämpfen hüten, die munizipalistischen Erfahrungen mit gegen Ungleichheit ist es gelungen, den flot- unserer gesamten Hoffnung auf einen funda- tierenden Signifikanten von ›denen da oben‹ mentalen Umschwung zu überfrachten – auch und ›denen da unten‹ mit sozialer Bedeutung wenn Europa diesen sicherlich nötig hätte, zu füllen. Die Oligarchien haben kollektive um es vor völliger Desintegration zu schützen. Ressourcen und die Produktion des gesell- Und trotzdem sind diese Erfahrungen ein schaftlichen Reichtums an sich gerissen. Und wichtiges Gegenmittel gegen die gefährliche die munizipalistische Bewegung versucht, Rückkehr der Nationalismen. Sie sind ein die Rhetorik der »99 Prozent gegen die ein Experimentierfeld für innovative Praktiken Prozent« in eine konstitutive politische Praxis eines Bürgerprotagonismus und können zu überführen, und zwar mit der Perspektive zur Wiederherstellung des sozialen Gefüges einer Transformation der Metropole und ihrer beitragen, welches nach vier Jahrzehnten Institutionen, um »grundlegende Rechte und neoliberaler Politik ziemlich mitgenommen ist. ein für alle Menschen lebenswertes Leben« Wollen wir allerdings Demokratie und soziale zu sichern, und zwar auf der Grundlage einer Gleichheit in Europa wirklich auf die politische »auf soziale und ökologische Gerechtigkeit Agenda setzen, müssen wir uns an eine Mehr- aufbauenden Wirtschaft« – so heißt es in den Ebenen-Logik herantrauen und von der Theorie Prinzipien von Barcelona en Comù. des »gesellschaftlichen Konstitutionalismus« Die iberischen Bürgerplattformen ins- lernen (Joerges et al. 2004). Um die drama- pirieren europaweit ein Umdenken, das sich tische Asymmetrie innerhalb der derzeitigen nicht mehr auf soziale und politische Praxen Machtverhältnisse umzukehren, müssen Kräfte auf lokaler Ebene beschränken lässt. Dennoch gebündelt und eine Vielzahl von Initiativen wäre es falsch, von einem Modell zu sprechen. artikuliert werden. Deshalb geht es beim neuen Barcelona ist eher ein exemplum in dem Sinne, Munizipalismus auch nicht darum, im ›kleinen dass es die herrschende Verteilung politischer Rahmen‹ zu arbeiten, darum, dass Initiativen Rollen infrage stellt. Der Geist dieses munizi- ›von unten‹ dort leichter einen Zugang finden palistischen Diskurses und die Auswirkungen, als auf der nationalen und transnationalen die er auf die politische Vorstellungskraft hat, Ebene. Auch wenn der Ansatz teils durchaus

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_LUX_1602.indb 72 25.08.16 11:02 nach einer Rhetorik des »klein, aber fein« Daraus ergibt sich eine zentrale Herausfor- klingt oder nach der lokalistischen Ideologie derung: Gegen jede lokalistische Versuchung der »kleinen Vaterländer«. müssen wir diese Beschränkungen angehen und dazu Netzwerke rebellischer Städte Grenzen des Munizipalismus überwinden aufbauen (wie Gerardo Pisarello sie in Bezug »Wahlen zu gewinnen ist nicht das gleiche wie auf David Harvey so trefflich nennt). Städte, eine Stadt zurückzugewinnen« (Shea Baird, die in der Lage sind, produktive Verbindungen 2015). Regierung und Macht sind zwei ver- zwischen Kämpfen und sozialen Bewegungen, schiedene Dinge, auch wenn ein neuer Regie- aber auch mit transformationsorientierten rungsansatz vielleicht in der Lage ist, die Fallen politischen Parteien aufrechtzuerhalten, und einer repräsentativen Logik zu vermeiden. Die zwar auf nationaler Ebene sowie in Bezug auf Krise der politischen Repräsentation ist ernst die noch entscheidenderen transnationalen und irreversibel. Zentral ist hier das gespaltene Aktivitäten in Europa und im Mittelmeerraum. Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Die Verlagerung der Souveränität von oben Die Bürgerplattformen haben die spanischen nach unten, von den Institutionen hin zu Kommunalwahlen mit einer klaren Botschaft den Bürger*innen, ist notwendige Vorausset- gewonnen: Es geht ihnen nicht darum, »die zung, um Räume zu öffnen, in denen man Kämpfe zu repräsentieren«, sondern stattdessen ein demokratisches, von unten kommendes darum, die Stadt selbst zu regieren und dabei Souveränitätsmodell installieren kann. Nur so echte Veränderungen herbeizuführen. können wir ein sprunghaftes Umschwenken Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, eine von Enthusiasmus zu Desillusionierung und Dialektik offenzuhalten zwischen konstituie- von Euphorie zu Depression vermeiden. renden und konfliktorientierten Dynamiken gesellschaftlicher Mobilisierung auf der einen Aus dem Englischen von Svenja Bromberg Seite und kreativen und öffnenden institu- tionellen Praktiken (innerhalb der konstitu- ierten Macht) auf der anderen. Ein solcher Literatur Bookchin, Murray, 1996 [1987]: Die Agonie der Stadt – Auf- Prozess wird aber notwendigerweise an die stieg und Niedergang des freien Burgers, Graefenau internen und externen Grenzen stoßen, mit Candeias, Mario, 2015: Demokratische Rebellion. Einige Lehren nach der Kommunal- und Regionalwahl im denen selbst die radikalste und innovativste lo- spanischen Staat, www.rosalux.de/news/41522/demokra- kale Erfahrung konfrontiert ist. Denn inmitten tische-rebellion.html Hardt, Michael/Negri, Antonio, 2010: Common Wealth. Das des dichten Geflechts aus wirtschaftlichen und Ende des Eigentums, Frankfurt a.M. sozialen, medialen und politischen Verhältnis- Joerges, Christian/Sand, Inge-Johanne/Teubner, Gunther, 2004 (Hg.): Constitutionalism and Transnational Gover- sen, die das Leben der Metropole durchziehen, nance, Oxford stellt sich die Frage der Machtverhältnisse. Jede Observatorio Metropolitano, 2014: La Apuesta Municipalista. La Democracia Empieza por lo Cercano, Traficantes de Entscheidung einer Stadtverwaltung wird von Suenos, Madrid rechtlichen und institutionellen, finanziellen Shea Baird, Kate, 2015: Rebel Cities: the Citizens Platform in Power, www.redpepper.org.uk/rebel-cities-the-citizen- und ökonomischen Restriktionen beeinflusst. platforms-in-power/

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_LUX_1602.indb 73 25.08.16 11:02 It’s the austerity, stupid! zwischen kommunalem sparzwang und einer ›Stadt für alle‹

Felix Wiegand Die Ankunft der Geflüchteten, ihre Versor- gung und ihr Zugang zu Wohnraum, Bildung oder Arbeit, die Organisation des alltäglichen Zusammenlebens und das Entstehen neuer sozialer Gefüge – all diese Herausforderungen und die Fragen, ob und wie »wir das schaffen« (Angela Merkel) und in welche Richtung sich unsere Gesellschaft dabei verändern wird, haben sich im vergangenen Jahr zuallererst auf der lokalen Ebene gestellt. Dies liegt nicht nur daran, dass sich Handlungschancen und -notwendigkeiten hier unmittelbarer ergeben als auf übergeordneten Ebenen des Politischen. Vielmehr sind die Städte und Gemeinden in ihrer Funktion als Kommunen, als lokaler Staat auch formal für die Bereitstel- lung weiter Teile der »öffentlichen Daseinsvor- sorge« (Ernst Forsthoff) oder des »kollektiven Konsums« (Manuel Castells) verantwortlich. Der Sommer der Migration hat einmal mehr offengelegt, dass diesbezüglich große Lücken bestehen. Vielerorts war und ist die Versorgung der Geflüchteten nur durch

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_LUX_1602.indb 74 25.08.16 11:02 das ehrenamtliche Engagement unzähliger in den letzten Jahrzehnten zu erklären, so ist Helfer*innen und den Aufbau selbstorgani- zunächst offensichtlich, dass diese im Wesent- sierter Solidarstrukturen möglich. Gleichzeitig lichen den Konjunkturzyklen folgt. Charak- dient diese als »Überforderung« titulierte Krise teristisch ist demnach eine wellenförmige (lokal-)staatlicher Leistungserbringung den Bewegung des Finanzierungssaldos, deren Dy- herrschenden Parteien als Legitimation für eine namik von den großen Wirtschaftskrisen so- Rückkehr zur Abschottungspolitik. Sie folgen wie den dazwischenliegenden Phasen relativer der Argumentation der gesellschaftlichen Rech- ökonomischer Prosperität bestimmt wurde. ten, die die offensichtlichen Versorgungsmängel Diese Rückkoppelung ergibt sich unmittelbar (etwa bei bezahlbarem Wohnraum) nutzt, um aus der Funktionsweise der Kommunalfinan- alte und neue Bewohner*innen gegeneinander zen (vgl. Reiner 2010). Sowohl einnahmeseitig auszuspielen und Geflüchtete für eine real (Gewerbesteuer und Gemeindeanteil an der vorhandene Misere verantwortlich zu machen. Einkommensteuer) als auch ausgabenseitig Gegen solche Deutungen lässt sich (Sozialleistungen) werden zentrale Para- anhand der tatsächlichen Handlungsbedin- gungen lokaler Politik beispielhaft zeigen, dass die Ursache der Probleme nicht in der Felix Wiegand ist Sozialwissenschaftler und arbei­- Ankunft der Geflüchteten, sondern in der t­et am Institut für Humangeographie der Goethe- Universität Frankfurt am Main. Er ist in der Inter- neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte ventionistischen Linken aktiv und bemüht sich in liegt. Da wiederum die politischen Spielräume verschiedenen Initiativen um ein »Frankfurt für Alle«. der Städte und Gemeinden maßgeblich über ihre Haushaltssituation bestimmt werden, ist die Entwicklung der Kommunalfinanzen meter maßgeblich von der wirtschaftlichen von entscheidender Bedeutung. So wie ein Entwicklung beeinflusst. Infolgedessen Mangel an finanziellen Ressourcen in der übersetzen sich Wirtschaftskrisen regelmäßig Vergangenheit die materielle Grundlage für in Finanzkrisen des lokalen Staates. Ebenso die Durchsetzung einer unternehmerischen, stehen die kommunalen Haushalte dort, wo neoliberalen Stadt- und Kommunalpolitik die ökonomische Entwicklung aufgrund eines bildete, markiert heute ein hartes Regime Strukturwandels krisenhaft verläuft (etwa im kommunaler Austerität das Terrain, auf dem Ruhrgebiet oder in Teilen Ostdeutschlands), sich die aktuellen Kämpfe vollziehen und auf dauerhaft unter Druck. dem eine notwendige sozialpolitische Offensi- Da die grundlegenden Einnahmen- und ve von links ansetzen könnte. Ausgabenparameter der Kommunen auf den übergeordneten Ebenen des Staates gesetzlich Zur Funktionsweise festgelegt werden, bleiben den Kommunen in der Kommunalfinanzen Krisensituationen nur geringe Handlungsopti- Versucht man die Entwicklung der finanziel- onen. Sie versuchen zum einen, über die Erhö- len Handlungsfähigkeit des lokalen Staates hung lokaler Steuern, Beiträge und Gebühren,

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_LUX_1602.indb 75 25.08.16 11:02 die Veräußerung kommunalen Vermögens der öffentlichen Daseinsvorsorge räumlich oder riskante Finanzgeschäfte die Einnahmen konzentrieren, waren und sind sie von dieser kurzfristig zu steigern. Zum anderen erfolgen Politik und ihren Folgen besonders betroffen. Kürzungen bei Sachinvestitionen und beim Beispielhaft ist das Feld der Steuerpoli- Personal sowie bei all jenen sozialen Infra- tik: Beginnend in den späten 1970er Jahren strukturen, deren konkreter Leistungsumfang, wurde die Gewerbesteuer schrittweise derart wie im Fall der Kinder-, Jugend- und Famili- beschnitten, dass sie heute nur mehr auf den enarbeit, nicht genau festlegt ist, oder die, wie Ertrag einiger weniger (Groß-)Unternehmen Schwimmbäder, Stadtteilbibliotheken und erhoben wird. Als Konsequenz hat sich die Theater, als ›freiwillig‹ gelten – deren Existenz Steuerbelastung für die Wirtschaft verringert, beziehungsweise Zugänglichkeit gleichzeitig die Konjunkturanfälligkeit der kommunalen aber sehr direkt über die Lebensqualität und Haushalte dagegen massiv erhöht. Aufgrund die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilha- ihrer prozentualen Beteiligung an den be breiter Bevölkerungsschichten entscheidet. Gemeinschaftssteuern waren die Kommunen gleichzeitig auch direkt von den umfangrei- Folgen des neoliberalen Staatsumbaus chen Steuersenkungen betroffen, die in den Diese Funktionsweise der Kommunalfinanzen letzten Jahrzehnten nicht zuletzt von der ist freilich nicht naturgegeben, sondern selbst rotgrünen Bundesregierung auf nationaler das Ergebnis politischer Kräfteverhältnisse. Ebene vollzogen wurden. Diese Entwicklung Eine angespannte Finanzlage und umfangrei- wiegt besonders schwer, da die parallel che Leistungseinschränkungen sind in vielen vorangetriebenen Reformen der sozialen Si- Städten und Gemeinden bereits im Verlauf cherungssysteme sowie die Etablierung neuer der 1980er Jahre, spätestens jedoch seit den Leistungen und Standards ohne ausreichende 1990er Jahren auch über konjunkturelle Gegenfinanzierung eine Kostenverschiebung Schwankungen hinweg zum Normalzustand von oben nach unten in Gang gesetzt haben. geworden. Dies lässt sich nicht allein mit der Zuletzt wurde diese Tendenz durch die Über- generell sinkenden Wachstumsdynamik seit nahme der Kosten einzelner Sozialleistungen dem Ende des Fordismus erklären. Vielmehr durch den Bund zwar gebremst, nicht jedoch handelt es sich um ein Resultat der umfas- grundsätzlich umgekehrt. Im Ergebnis leiden senden Neoliberalisierung staatlicher Politik die Kommunen daher bis heute besonders sowie des damit verbundenen Siegeszugs von unter der strukturellen Unterfinanzierung des Austerität als »politischem Projekt« (Ingo deutschen (Sozial-)Staates. Stützle) – das heißt der Verallgemeinerung und institutionellen Festschreibung des Ideals Das Regime kommunaler Austerität eines ausgeglichenen Staatshaushalts. Da die Das Fehlen finanzieller Ressourcen wirkt Kommunen innerhalb des föderalen Staatsauf- sich vor allem deshalb unmittelbar auf die baus am unteren Ende der Hierarchie stehen, politische Handlungsfähigkeit von Städten und aber auch weil sich hier die Leistungen Gemeinden aus, weil sie nur sehr begrenzt

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_LUX_1602.indb 76 25.08.16 11:02 Haushaltsengpässe durch Kreditaufnahme sieren und in ihrem Umfang begrenzt sind, ausgleichen können. Vermittelt über die erscheinen diese Programme kaum geeignet, Gemeindeordnung und die Kommunalaufsicht die finanzielle Situation der Städte und Ge- der Länder sind sie einer vergleichsweise meinden dauerhaft zu verbessern. Stattdessen strengen Haushaltsdisziplin unterworfen. reihen sich die harten Konsolidierungsmaß- Obwohl die kommunalen Verbindlichkeiten nahmen, zu denen sich die teilnehmenden weniger als zehn Prozent der staatlichen Ge- Kommunen vertraglich verpflichten, in die samtverschuldung ausmachen, wurden diese Kürzungspolitik der letzten Jahrzehnte ein, Regelungen in den letzten 30 Jahren weiter während gleichzeitig die lokale Demokratie verschärft. Damit wurde auf Ebene der Kom- und die verfassungsrechtlich garantierte kom- munen eine Institutionalisierung von Aus- munale Selbstverwaltung weiter eingeschränkt terität vorweggenommen, die für Bund und werden (vgl. für Hessen Eicker-Wolf 2015). Länder erst mit der Einführung der Schulden- bremse Realität geworden ist. Exemplarisch ist Zeiten und Räume kommunaler Austerität hierfür das »Haushaltssicherungskonzept« zur Angesichts der beschriebenen Entwicklungen Überwachung der kommunalen Haushaltsfüh- lässt sich konstatieren, dass das Regime rung, das in den meisten Bundesländern zur kommunaler Austerität eine zentrale Form Anwendung kommt. Mit der in den 2000er ist, in der die Dynamiken und Widersprüche Jahren aus der Privatwirtschaft übernomme- der neoliberalen Entwicklungsweise in der nen doppelten Buchführung ›Doppik‹ wird die Bundesrepublik gegenwärtig ihren Ausdruck Rationalität einer permanenten finanziellen finden. Auf die offenkundigen Parallelen zum Knappheit auch dort als handlungsleitende Modus der Krisenbearbeitung auf europäischer Maxime verankert, wo die Haushaltssituation Ebene verweist – wenn auch unfreiwillig – die de facto politische Handlungsspielräume Parole »Wir sind Griechenland«, mit der einzel- eröffnen könnte. ne Ruhrgebietskommunen in der jüngsten Demgegenüber zielen sogenannte Krise versucht haben, auf ihre dramatische Sparkommissare, die von den Ländern finanzielle ituationS aufmerksam zu machen. vereinzelt eingesetzt werden, um vor Ort Neben dem Umfang der Kürzungsmaßnah- auch gegen den Willen der gewählten men besteht eine wichtige Differenz gegenüber Gemeindevertreter*innen Maßnahmen zur der europäischen Austeritätspolitik jedoch in Haushaltskonsolidierung durchzusetzen, auf der Geschwindigkeit der Prozesse: Hierzulande besonders stark verschuldete Städte. Gleiches erfolgte die Durchsetzung kommunaler Auste- gilt auch für die kommunalen ›Rettungsschir- rität weniger im Rahmen einer kurzfristigen, me‹, die unter anderem als Reaktion auf die offen autoritären politischen Offensive, einer Einführung der Schuldenbremse aufgelegt sogenannten ›Schock-Strategie‹ (Naomi Klein). wurden. Da die darin enthaltenen Finanz- Vielmehr handelt es sich um einen langfris- hilfen vielerorts lediglich die zuvor erfolgten tigeren Prozess, der ‚scheibchenweise‘ und Kürzungen von Landeszuweisungen kompen- ungleichzeitig über einen Zeitraum von 30 bis

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_LUX_1602.indb 77 25.08.16 11:02 40 Jahren verlief.1 Damit sind Gewöhnungs- Die lokalen Folgen der Austeritätspolitik und Normalisierungseffekte verbunden, die Mit der Frage der sozialräumlich ungleichen eine Politisierung und die Formulierung von Entwicklung sind bereits die immensen Alternativen erschweren. Dies gilt umso mehr, gesellschaftlichen Folgen angesprochen, die das als die Herausbildung des kommunalen Auste- Regime kommunaler Austerität hat. Während ritätsregimes mit dem Prozess der Neolibera- der milliardenschwere Investitionsstau im lisierung städtischer und kommunaler Politik Bereich der physischen Infrastruktur zuletzt Hand in Hand ging, wodurch sich die reale sogar von Unternehmensverbänden oder Einschränkung von Handlungsspielräumen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel als Gefahr und die ideologische Affirmation von Privati- für den ›Standort Deutschland‹ problematisiert sierungs- und Kürzungspolitiken wechselseitig wurde, erfahren die im engeren Sinn sozialen verstärken und stabilisieren konnten. und politischen Auswirkungen dieser Politik In diesem Zusammenhang ist entschei- weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit. dend, dass die hier sehr allgemein dargestellte Neben den negativen Auswirkungen auf die Entwicklung in der Realität lokal spezifisch und Beschäftigungsverhältnisse sind diesbezüglich höchst ungleich verlaufen ist. So hat die Auste- zuallererst die eklatanten Versorgungslücken ritätspolitik der letzten Jahrzehnte zuallererst zu nennen, die entstehen, wenn Kommunen strukturschwache Kommunen getroffen und Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge die dort ohnehin geringen Ressourcen zur Ge- privatisieren, sogenannte freiwillige Leistungen staltung der örtlichen Belange weiter geschmä- kürzen oder die Gebühren und Eintrittsprei- lert. Etwa in schrumpfenden Regionen wurde se für Kitas, Museen oder Schwimmbäder so eine kumulative Abwärtsspirale befördert. erhöhen. Derartige Maßnahmen wirken Obwohl Austerität auch in prosperierenden sozial höchst selektiv, da sie vor allem jene Kommunen eine materielle und insbesondere Bevölkerungsgruppen negativ betreffen, die ideologische Wirkung entfaltet, sind diese eher wie Geringverdiener*innen, Arbeitslose, in der Lage, über geringe Steuersätze oder Migrant*nnen oder Alleinerziehende besonders gezielte Stadtentwicklungsmaßnahmen die auf staatliche Leistungen angewiesen sind. In eigene Position in der interkommunalen Kon- der kommunalen Austeritätspolitik der letzten kurrenz zu verbessern. Dieses Muster setzt sich Jahrzehnte liegt somit eine der zentralen zudem innerhalb der Städte und Gemeinden Ursachen für die Krise der sozialen Reproduk- fort, wo einzelne Nachbarschaften und Viertel tion samt ihrer hochgradig vergeschlechtlichten häufig ganz unterschiedlich mit Leistungen der Implikationen (vgl. Winker 2012). Auf der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgestatten sind. Ebene der Subjekte finden der Abbau sozialer In der Konsequenz hat das Maß an sozialräum- und kultureller Infrastrukturen zudem in licher Ungleichheit in Deutschland zuletzt ein nachhaltigen Erfahrungen der Deklassierung, Rekordniveau erreicht, das sich in der nach- Exklusion und Ohnmacht ihren Niederschlag. haltigen Peripherisierung ganzer Landstriche In Verbindung mit dem realen Verlust niederschlägt (vgl. Albrech et al. 2016). kommunalpolitischer Steuerungsmöglichkeiten

78 luxemburg 2/2016 | Klasse Verbinden

_LUX_1602.indb 78 25.08.16 11:02 ist in diesen subjektiven Erfahrungen auch eine »Reise in die Prekarität, nein danke – Rücknahme des Arbeitsge- setzes«, Nantes, Juli 2016, © Val K., collectif Bon Pied Bon Œil mögliche Ursache dafür zu suchen, dass die Beteiligung an Kommunalwahlen insbesondere und Gemeinden die (post-)politische Szenerie in struktur- und finanzschwachen Gemeinden bestimmt, die durchaus über Mittel für eine nur noch äußerst gering ausfällt und viele alternative, sozial orientierte Kommunalpolitik Parteien beklagen, kaum mehr motivierte verfügen würden. Kandidat*innen für kommunalpolitische Ämter zu finden. Obwohl Kommunalpolitiker*innen »Stadt für alle« statt Austerität und insbesondere Bürgermeister*innen in und Spaltung Umfragen immer noch deutlich bessere Ver- Wie die vergangenen Monate gezeigt haben, trauens- und Zufriedenheitswerte aufweisen als erleben wir eine neue Qualität gesellschaft- Bundes- und Landespolitiker*innen, herrscht licher Polarisierung – mit dem aus linker offenkundig auch hier ein Legitimationsdefizit Perspektive grundlegenden Konstruktionsfeh- und eine Krise der (lokalen) Repräsentation. ler, dass diese sich nur zwischen dem neoli- Diese Situation wird dadurch weiter befeuert, beralen Lager von Merkel & Co. sowie jenem dass die austeritätspolitische Rhetorik von der der rassistischen, nationalistischen Rechten Alternativlosigkeit einer ›sparsamen‹ Haus- zu vollziehen scheint. Demgegenüber tritt der haltsführung häufig auch in jenen Städten dritte solidarische Pol bisher ›lediglich‹ über

Verbreitern | Luxemburg 2/2016 79

_LUX_1602.indb 79 25.08.16 11:02 seine Praxis konkreter Hilfe und über seine sozialer Spaltung verknüpfen lässt (vgl. Recht antirassistische Positionierung, nicht jedoch auf Stadt – Ruhr 2014) oder wie beim Bündnis als politisches Projekt in Erscheinung, das »Never mind the Papers« in Hamburg mit soziale Unterstützung mit politischer Verän- Fragen von Migration und Antirassismus. derung zu verbinden versucht. Um diesen Vielmehr hat sich in den vergangenen Pol zu artikulieren, wäre eine sozialpolitische Monaten auch der Kreis derer, die selbst aktiv Offensive von links notwendig, die Fragen der sind oder politisch adressiert werden können, Entstehungsbedingungen und der Verteilung erheblich über das klassische Bewegungsmi- des gesellschaftlich produzierten Reichtums, lieu hinaus erweitert. Diese Neuzusammen- der gemeinsamen Lebensweise und der setzung der Gruppe der Aktiven reicht von Demokratie in den Fokus rückt und so das den Geflüchteten selbst über die unzähligen Konfliktterrain in Richtung Klassenauseinan- Unterstützer*innen bis hin zu all jenen, die dersetzung verschiebt. sich im Protest und Widerstand gegen Pegida und AfD politisiert haben. Neben einer neuen Chancen … Vielfalt innerhalb des Bewegungsspektrums Für eine solche Offensive bietet sich die lokale erscheint auch die Verbreitung einer politi- Ebene als Ausgangspunkt an. Gerade unter schen Haltung bemerkenswert, die sich nicht den Bedingungen kommunaler Austerität zuallererst aus einer allgemeinen Einsicht wird der Gegensatz zwischen dem privaten in die Verhältnisse, sondern aus direkter Reichtum einiger weniger und Milliarden- Betroffenheit und dem individuellen – und überschüssen in der gesamtstaatlichen Haus- gleichzeitig massenhaft geteilten – Gefühl haltsbilanz einerseits und dem Mangel an einer unmittelbaren Handlungsnotwendigkeit Ressourcen zur Gewährleistung einer sozialen speist. Schließlich hat das letzte Jahr, trotz Infrastruktur für alle andererseits unmittelbar aller Schwierigkeiten, eine für deutsche sichtbar. In den Konflikten um die Zustän- Verhältnisse ungewöhnlich breit geteilte digkeiten, Ressourcen und demokratischen Erfahrung der alltäglichen Solidarität und Qualitäten des lokalen Staates eröffnet sich kollektiven Selbstermächtigung hinterlassen, somit die Möglichkeit, Kämpfe um konkrete an die sich politisch anknüpfen lässt. Verbesserungen des Status quo mit einem grundlegenden Angriff auf die herrschende … und Herausforderungen Krisen- und Austeritätspolitik zu verbinden. Trotz günstiger Bedingungen steht jeder Für derartige Interventionen scheint die Versuch einer sozialpolitischen Offensive von Situation mit Blick auf die ›subjektive Seite‹ links jedoch vor einer Reihe von Herausfor- der Bewegungen aktuell durchaus vielver- derungen. Diesbezüglich erscheint erstens sprechend. So existieren nicht nur gewisse problematisch, dass die gesellschaftliche Linke Erfahrungswerte, wie sich auf lokaler Ebene gerade in jenen sozialen Milieus und geogra- beispielsweise die Perspektive von »Recht auf fischen Räumen, die besonders von Austerität Stadt« mit dem Problem von Austerität und und den damit verbundenen Versorgungslü-

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_LUX_1602.indb 80 25.08.16 11:02 cken betroffen sind, nur sporadisch präsent los in diesem Heft) wäre diesbezüglich auch ist. Dieser Verdoppelung der sozialräumlichen die systematische Auswertung der hierzulande Ungleichheit in der eigenen Politik müsste gesammelten Erfahrungen hilfreich. Insofern aktiv entgegengewirkt werden – etwa durch derartige Projekte ohne eine Veränderung der ein Projekt solidarischer (Klassen-)Orga- (austeritäts-)politischen Rahmenbedingungen nisierung, das, wie etwa die Plattform der auf den übergeordneten Ebenen des Staates Hypothekenbetroffenen in Spanien (PAH), kaum Erfolgsaussichten haben, stellt sich explizit sozial und politisch ausgerichtet ist. schließlich viertens die Herausforderung einer Wie voraussetzungsvoll sich die Verknüpfung ebenenübergreifenden Strategie. Analog zur dieser beiden Logiken real gestaltet, zeigt sich Austeritäts- und Krisenpolitik der Herrschen- etwa in den »Stadt für alle-Initiativen«, die in den und den aktuellen Bemühungen zur den letzten Monaten gegründet wurden, um Restabilisierung des europäischen Grenzre- die Vernetzung der solidarisch Aktiven mit gimes müsste auch die gesellschaftliche Linke einer spektrenübergreifenden Diskussion um versuchen, ihre lokale Praxis stärker als bisher die Notwendigkeit (stadt-)politischer Interven- mit einer Orientierung auf überregionale tionen zu verbinden. Eine zweite Herausfor- Dynamiken und den europäischen Raum der derung besteht darin, politische Formen der Kämpfe zu verbinden. Die nächste Gelegen- kollektiven Verständigung, Allianzbildung und heit, dies praktisch werden zu lassen, bietet Organisierung zu (er-)finden, die der Hetero- sich im Rahmen eines von Blockupy und genität der politischen Subjekte und Akteure vom Bündnis »Aufstehen gegen Rassismus« angemessen sind, zugleich aber offensiv in ausgehenden Aktionswochenendes am 2. und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen 3. September in Berlin, im Herzen der Bestie. einzugreifen vermögen. Damit geraten drittens unweigerlich die Institutionen des lokalen Staates in den Blick. Literatur Albrech, Joachim/Fink, Philipp/Tiemann, Heinrich, Dies betrifft zum einen das Verhältnis von 2016: Ungleiches Deutschland: Soziookonomischer Disparitatenbericht 2015, http://library.fes.de/pdf-files/ ehrenamtlichem Engagement und selbstor- wiso/12390.pdf ganisierten Solidarstrukturen zu staatlichen Eicker-Wolff, Kai, 2015: Zur Austeritätspolitik der Kommu- nen in Hessen, Arbeitspapier des DGB Hessen-Thü- Stellen. Die Notwendigkeit der Unterstützung ringen Nr. 10 unter Mitarbeit von Gökay Demir, http:// der bestehenden Initiativen, aber auch die hessen-thueringen.dgb.de/++co++db8aa552-2eb9-11e5- 8a1c-52540023ef1a Problematik der politischen Repräsentation Recht auf Stadt – Ruhr, 2014: Von Detroit lernen! Manifest des darin aufscheinenden gesellschaftlichen für ein Recht auf Stadt im Ruhrgebiet, www.rechtauf- stadt-ruhr.de/files/2014/08/Von-Detroit-lernen.pdf Pols der Solidarität verweist zum anderen Reiner, Sabine, 2010: Städte und Gemeinden in Not, in: auf die Frage nach den Möglichkeiten und LuXemburg 4/2010, 50–58 Winker, Gabriele, 2012: Die Erschöpfung des Sozialen, in: Grenzen linker Kommunalpolitik. Neben der LuXemburg 4/2012, 6–13 Analyse entsprechender Projekte zu anderen Zeiten (vgl. Lichtenberger et al. in diesem 1 Die Anpassungen in Ostdeutschland unmittelbar Heft) und an anderen Orten (vgl. Giovanopou- nach der Wende bilden hier eine wichtige Ausnahme.

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_LUX_1602.indb 81 25.08.16 11:02 Mehr als Helfen und Organisieren Von Solidarity for all zum Aufbau materieller Macht

Christos Giovanopoulos »Die Beteiligung der Menschen an der Entwicklung, Ausübung und Kontrolle öffentlicher Angelegenheiten ist notwendig, um den Protagonismus zu erreichen, der eine umfassende Entwicklung der Menschen erst garantiert – und zwar sowohl individuell als auch kollektiv.« (Artikel 62 der Bolivarianischen Verfassung Venezuelas von 1999)

Um diesen Anspruch zu verwirklichen, nennt die Verfassung Venezuelas – beispielsweise in Artikel 70 – eine Reihe weiterer Formen, mit denen Menschen ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten entfalten können, wie etwa »Selbst- verwaltung, Kooperativen aller Art [...] und an- dere Zusammenschlüsse, die vom Prinzip der gegenseitigen Zusammenarbeit und Solidarität geleitet sind« (Harnecker 2015, 70). Die Solidaritätsbewegung in Griechenland, die Ende 2011 entstanden ist, lässt sich als wesentliches Moment eines solchen Prozesses verstehen. Sie ist aus den Platzbesetzungen

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_LUX_1602.indb 82 25.08.16 11:02 und Versammlungen im Sommer 2011 und die Produktivkräfte des Landes weiter hervorgegangen und hat den Anti-Troika-Bewe- schwächen. Wie verändert sich die Rolle der gungen angesichts der zunehmend spürbaren Solidaritätsbewegungen, wenn die Krise der sozialen Folgen der Austeritätspolitik eine neue sozialen Reproduktion zum Dauerzustand Gestalt gegeben. Es ging nicht zuletzt darum, wird und die Hoffnung vieler Initiativen, die Fähigkeit der Gesellschaft, sich politisch durch die Wiederherstellung der staatlichen zur Wehr zu setzen, zu erhalten. Versorgung wieder schnell ›überflüssig‹ zu Konkret wurden in vielen Bereichen werden, schwindet? Was heißt es, unter diesen selbstorganisierte Strukturen aufgebaut: von Umständen einfach ›weiterzumachen‹ mit der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern der täglichen Solidaritätsarbeit? Wird unter über Experimente solidarischer Ökonomie veränderten politischen Bedingungen auch in selbstverwalteten Kooperativen bis hin der Kampf gegen die Folgen der Austerität zu Märkten ohne Mittelsmänner. All diese zum business as usual? Wie lässt sich verhin- Bemühungen, ob spontan oder geplant, ob dern, dass die Solidaritätsnetzwerke mehr und gescheitert oder erfolgreich, lassen sich als Momente des schrittweisen Aufbaus politischer Macht von unten begreifen. Sie sind Anstoß Christos Giovanopoulos ist Mitbegründer des und Träger eines popularen Protagonismus, griechischen Netzwerks Solidarity for All und der das politische Feld in Griechenland massiv bei HUB for Social Economy, Empowerment and Innovation aktiv. umgepflügt hat. Und genau darin liegt ihre richtungsweisende Bedeutung – nicht etwa darin, dass sie für einen Staat eingesprungen sind, der unfähig war, die Menschen angemes- mehr auf die Aufgabe reduziert werden, die sen zu versorgen. Letzteres entspräche eher humanitären Kosten der Memoranden abzu- David Camerons Modell der »Big Society«, der fangen, und sie ihr Potenzial als Wegweiser, neoliberalen Strategie, den Wohlfahrtsstaat Hoffnungsträger und Motor gesellschaftlicher durch die Zivilgesellschaft zu ersetzen. Diese Veränderung verlieren? Wird der Widerstand, Rolle haben die Solidaritätsnetzwerke jedoch wird der Kampf um Veränderung vom bloßen von Anfang an völlig zu Recht zurückgewiesen. Kampf ums Überleben absorbiert? Doch was bedeutet diese Haltung heute, Das sind einige der grundlegenden nach dem dritten Memorandum? Wie geht Herausforderungen, vor denen die Solidari- man mit einer Regierung um, die zwar aus tätsbewegung seit dem ›Coup‹ der Troika im dem Widerstand gegen die Troika und die August 2015 steht. Die einende Vision, die der Memoranda hervorgegangen ist, sich nun Diskurs der Hoffnung und die Möglichkeit aber gezwungen sieht, ebenjene neoliberalen eines Bruchs mit dem neoliberalen Mantra Finanz- und Strukturanpassungsmaßnahmen TINA (There Is No Alternative) darstellten, selbst durchzusetzen? Maßnahmen, die zu hat sich zerschlagen. Das hat die Bewegung einer Verschärfung der Austerität führen demoralisiert und verunsichert und zu einer

Verbreitern | Luxemburg 2/2016 83 (vorübergehenden) politischen Lähmung cherweise eine Neubestimmung der Prioritäten geführt. Man bleibt der Solidaritätsarbeit treu erforderlich, die momentan von den dringends- und macht weiter, aber es gibt eine große ten alltäglichen Bedürfnissen diktiert werden. Zurückhaltung, sich in der neuen Gemenge- Kann die Solidaritätsbewegung sich dieser lage politisch zu artikulieren. So riskiert die Herausforderung stellen? Die Erfahrung zeigt, Bewegung jedoch, sich selbst auf die Funktion dass Menschen gerade dann mobilisierbar eines Versorgungsmechanismus zu reduzieren sind, wenn sie sich als Teil wichtiger sozialer – genau das, was sie nie wollte. Bewegungen und Ereignisse erleben, wenn sie Gleichzeitig darf man nicht vergessen, positive Ideen und Emotionen damit verbin- dass die Solidaritätsbewegungen ihre Aktivi- den. Demgegenüber wird die Mobilisierungs- täten nie programmatisch artikuliert haben. kraft durch demoralisierende Diskurse, wie Ihre Politik bestand vielmehr darin, Prioritäten sie aktuell um das ›bloße Überleben‹ geführt zu verschieben, um auf konkrete Bedürfnisse, werden, geschwächt. Die jüngsten Erfahrungen veränderte Herausforderungen und Dynami- in der Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten ken politischer Kämpfe reagieren zu können. bestätigen dies: Sie haben eine große politische Es ging darum, mit der eigenen Solidaritäts- Relevanz und sind wichtiger Ausdruck eines arbeit die Widerstandsfähigkeit der Menschen popularen Protagonismus. In ihnen zeigt sich, zur stärken. Die politische und die soziale dass Solidarität weder als Idee noch als Praxis Ebene der Auseinandersetzungen wurden an mobilisierender Kraft eingebüßt hat.1 Die verschränkt: Die Kämpfe gegen Austerität und selbstorganisierten Solidaritätsnetze haben die Troika haben sich mit dem Alltäglichen, unter Aufbietung all ihrer Kräfte die Kultur, dem Persönlichen und dem Lokalen verbun- die Erfahrungen und Strukturen gebildet, in den, wodurch sich zugleich die soziale Basis denen sich ein popularer Wille der Massen des politischen Kampfs verbreiterte. So sind ausdrücken kann. Dies macht die Frage umso durch Beteiligung und Selbstorganisation neue wichtiger, was das Selbstbild dieser Bewegung Paradigmen entstanden, die Ausgangspunkt ist und welche Ziele sie sich unter den jetzigen für weitreichende politische Maßnahmen und Umständen setzt. Strukturveränderungen sein können. Die entscheidende Herausforderung Wenn kein Weg ans Ziel führt – in der jetzigen Situation besteht also darin, schaffe einen neuen! politisches Selbstvertrauen und Handlungs- Wie also ließe sich eine gemeinsame Erzäh­lung fähigkeit zurückzugewinnen – auch wenn erneuern oder besser: eine neue schaffen –eine der Druck zunimmt und der Bedarf nach Erzählung, die das vorhandene Potenzial so materiellen Ressourcen nicht zuletzt angesichts bündelt, dass sowohl die konkrete Arbeits- der Demoralisierung der Bewegung steigt. Im fähigkeit wie auch die politische Macht der Kern geht es darum, den Diskurs der Hoffnung Bewegungen gestärkt wird? In der politischen wiederzubeleben. Diese strategische Herausfor- Kultur der Solidaritätsbewegungen kam es derung ist aber anspruchsvoll. Sie macht mögli- nie darauf an, ein einheitliches Programm zu

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_LUX_1602.indb 84 25.08.16 11:02 entwerfen, auf das sich ihre vielfältigen Teile »Was, wenn wir die Regierung stürzten?«, Nantes, März 2016, © Val K., collectif Bon Pied Bon Œil hätten einigen müssen. Stattdessen ging es darum, auf Basis der eigenen Erfahrungen und und ›Zivilgesellschaft‹« (GFH 25, §5, 2195), also Praxen genau die Dinge weiterzuentwickeln keinesfalls nur auf die politische Sphäre be- und zu verbreitern, die die Bewegung in dop- schränkt. Aktuell gelingt es den Eliten in einem pelter Weise wirksam machten: als ein Raum zunehmend autoritären Neoliberalismus aber der partizipativen Demokratie und als eine genau nicht mehr, diese Einheit herzustellen. Keimzelle neuer selbstverwalteter Strukturen Ihre Hegemonie ist brüchig geworden. Aber und transformatorischer Politiken. auch »die subalternen Klassen sind per defi- Dieses politische Potenzial gewinnt ange- nitionem keine vereinheitlichten und können sichts der gegenwärtigen (Repräsentations)- sich nicht vereinheitlichen, solange sie nicht Krise2 besondere Bedeutung, die noch einmal ›Staat‹ werden können« (ebd.). Um ein solches deutlicher wird, wenn wir uns vergegenwärti- ›Allgemeines‹ herzustellen, gilt es deshalb gen, was Antonio Gramsci über den Charakter neue organische Beziehungen zwischen den von ›Führung‹ geschrieben hat: Die »ge- entstehenden sozialen Infrastrukturen und den schichtliche Einheit« der führenden Klasse sei politischen Institutionen zu entwickeln – ein »das Ergebnis der organischen Beziehungen konstituierender Prozess, in dem den Solida- zwischen Staat oder politischer Gesellschaft ritätsbewegungen eine strategisch wichtige

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_LUX_1602.indb 85 25.08.16 11:02 Rolle zukommt. Ein Prozess, der es ermöglicht, zum Ausdruck. Eine Strategie, in der die unter den gegenwärtigen historischen Bedin- Fähigkeit der Menschen, eigene souveräne gungen und gesellschaftlichen Kräfteverhält- Macht aufzubauen, die Voraussetzung dafür nissen handlungsfähig zu werden und zugleich ist, die Macht des Staates und die damit diese Bedingungen und Kräfteverhältnisse zu verbundenen Machtbeziehungen zu unterlau- verändern, und der es dann den Bewegungen fen und umzugestalten: ein Prozess, der nicht und politischen Akteuren erlaubt, im Prozess die Machthabenden austauscht, sondern das der Veränderung hegemonial zu werden. Wesen der Macht selbst verändert. Die tragende Rolle, die die Solidaritäts- Mit Blick auf die Erfahrungen in Latein- bewegungen gespielt haben, als es darum amerika formuliert Marta Harnecker, dass »un- ging, die politische Macht in Griechenland sere Regierungen einen Staatsapparat erben, zu erobern, verdeutlicht, dass sie sich weder dessen Eigenschaften in einem kapitalistischen auf eine humanitäre Rolle zurückziehen noch System gut funktionieren, aber ungeeignet darauf beschränken dürfen, Alternativen oder sind für den Weg hin zu einer menschlichen und autonome Zonen in einem weiterhin unge- solidarischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, rechten System zu schaffen. Im Gegenteil: Sie die nicht nur die Menschen ins Zentrum ihrer müssen den Prozess der Konsolidierung von Entwicklung stellt, sondern sie auch zu den Macht als eine notwendige Bedingung dafür handlungsmächtigen Akteuren dieses Verände- verstehen, überhaupt hegemonial werden und rungsprozesses macht« (2015, 105, Herv. d. Verf.). gesellschaftliche Veränderung anstoßen zu Sie fordert deshalb: »Die Fundamente des können; und zwar dadurch, dass sie versu- neuen politischen Systems müssen so errichtet chen, gesellschaftliche Mehrheiten zu gewin- werden, dass sie einen geeigneten Raum für die nen und selbst Mainstream zu werden, statt Beteiligung des Volkes bieten und die Menschen Nische zu bleiben. Dieser Ansatz verbindet darauf vorbereiten, auf allen Ebenen Macht auszu- also den Aufbau von popularer Selbstermäch- üben, von der einfachsten bis zur komplexesten tigung und Handlungsfähigkeit mit dem Entscheidung. Auf diese Weise sind sie an der Aufbau politischer und materieller Macht Schaffung eines neuen Staates von unten beteiligt, von unten. Für Letzteres stellen die Solidari- oder eines Nicht-Staates, der an die Stelle des alten tätsbewegungen mit ihren selbstverwalteten Staates tritt.« (Ebd. Herv. d. Verf.) Kooperativen und unzähligen Graswurzelin- Von diesem ›Öffentlichen von unten‹ itiativen (von Kulturkollektiven bis zu Eltern- müssen darum neue Praktiken und Formen vereinen) ein einzigartiges Ökosystem dar der Basisbeteiligung, Selbstverwaltung und und ein Potenzial für ein vielfältiges ›neues Emanzipation ausgehen und verallgemeinert Öffentliches von unten‹: ein Öffentliches, werden. Den Solidaritätsstrukturen kommt das von der herrschenden politischen Sphäre dabei eine Schlüsselrolle zu, die nicht leicht klar unterschieden, aber nicht abgetrennt auszufüllen ist. Trotz der unmittelbaren ist. Darin kommt eine andere Strategie der Zwänge des Alltags müssen sie ihre politische Konsolidierung von Macht jenseits des Staates Arbeitsweise auf eine neue Ebene heben:

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_LUX_1602.indb 86 25.08.16 11:02 erstens, indem sie die Praxen der Gegensei- »Ankündigung des Traumes!«, Wortspiel mit grève: »Préavis de grève« heißt Streikankündigung; daneben: »Ungerechte Gesetze tigkeit zwischen Menschen sowie zwischen verweigern«, Thierry Ehrmann/flickr Strukturen weiter vorantreiben. Das kostet zwar viel Mühe, hat aber unmittelbare Effekte: Beide Initiativen haben jedoch auch Praktiken Es verbreitert die jeweilige ökonomische entwickelt, die ein darüber hinaus gehendes Basis, stärkt aber auch die Beteiligungskultur transformatorisches Potenzial besitzen und und das soziale Beziehungsgeflecht der zum Vorbild einer anderen Politik werden beteiligten Communities. Zweitens ist es können: beispielsweise die Wiederverwen- notwendig, konkrete Politiken zu formulieren, dung und Weitergabe von Medikamenten und die aus den eigenen Praxen entstehen. Solche die Verteilung von Lebensmitteln in Netzwer- transformatorischen Konzepte müssen in die ken ohne Zwischenhändler. Diese Politiken Öffentlichkeit gebracht und auf die politische basieren auf einer Beteiligung von unten und Agenda gesetzt werden. können sowohl das öffentliche Gesundheits- Bisher haben etwa die Solidaritätskliniken system als auch bestehende Handelsstruktu- einen universellen Zugang zur Gesundheits- ren und Landwirtschaftspolitiken strukturell versorgung gefordert und die Without-midd- verändern. Die Kampagne zur Wiederverwer- lemen-Bewegung (Bewegung für Märkte ohne tung und Weitergabe von Medikamenten etwa Mittelsmänner)3 bezahlbare Lebensmittel. stärkt die Idee und Praxis von Gesundheit als

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_LUX_1602.indb 87 25.08.16 11:02 einem Gemeingut, im Sinne eines common ihn stützen und in reale Gestaltungsmacht good und weniger als einer staatlichen Dienst- verwandeln. Die Solidaritätsbewegung in leistung. Damit gehen andere gesundheitspoli- dieser Hinsicht als einen Akteur zu begreifen, tische Vorstellungen einher, nicht nur was die der Gegenmacht durch Selbstermächtigung Beziehung zwischen Leistungsanbieter*innen von unten aufbaut, geht mit zwei neuen und -empfänger*innen im Gesundheitssystem Herausforderungen einher: angeht, sondern auch hinsichtlich anderer Erstens muss die Arbeit über die Sphäre Funktionen dieses Systems. Ähnlich ist es im der Distribution und der sozialen Reproduktion Fall der Without-middlemen-Bewegung und hinaus erweitert werden und auch die Sphäre der selbstverwalteten Kooperativen. Sie brin- der Produktion verändern. Das erfordert einen gen das Thema der Ernährungssouveränität Wandel: weg von losen Netzwerken hin zu auf den Tisch und damit auch die Frage nach integrierten Ökosystemen der Solidarität und einer Umgestaltung des gesamten produkti- einer kooperativen Ökonomie, die sowohl dem ven Sektors des Landes. kapitalistischen Markt wie dem Staat etwas Mit der Formulierung solcher Politiken entgegensetzen. So ist die Entwicklung von Pro- entfernt man sich nicht nur von den Beschrän- duktionsstätten (und damit auch potenziellen kungen und Machbarkeitsvorstellungen der Arbeitsplätzen) für viele Solidaritätsstrukturen Rettungspakete, sondern eröffnet auch eine eine Möglichkeit, ihre eigene Unabhängigkeit andere soziale Vision: eine Welt, die den zu sichern und die Zahl der auf Hilfe ange- Bedürfnissen der Menschen entspricht und an wiesenen Menschen zu reduzieren. Auf einer deren Realisierung sie mitwirken wollen. Ein anderen Ebene ist es so, dass der sogenannte solcher Prozess kann das horizontale Organi- Dritte Sektor zwischen privater und staatlicher sierungsmodell der Solidaritätsbewegungen Wirtschaft in Griechenland nicht zuletzt als zu einem Raum für neue (populare) Politiken Folge der ökonomischen Strukturanpassungs- machen, er bringt Aktivitäten und Institutio- maßnahmen und der anhaltenden Massenar- nen hervor, die konstitutiv sein können für ein beitslosigkeit stark wächst. Damit eröffnet sich ›neues Öffentliches von unten‹. ein neues Feld sozialer Auseinandersetzungen, das eng mit der Entwicklung (und Verallgemei- Politischer Wandel braucht nerung) einer anderen Produktions-, Zirkula- materielle Macht tions- und Konsumtionsweise verbunden ist. Die Verallgemeinerung solcher Politiken kann Genau hier könnten die Basisbewegungen der jedoch nur durch politische Macht – das heißt Solidarität, die selbstverwalteten Kooperativen durch Willen, Durchsetzungskraft und öko- und ›Commoners‹ zu Schlüsselakteuren eines nomische Nachhaltigkeit – gelingen, die den neuen integrierten Öko(nomie)systems werden, herrschenden Interessen, Strukturen und Ge- das Produktion wie Reproduktion umfasst. Ein wohnheiten dadurch etwas entgegensetzt, dass System, das nicht im beschränkten nationalen sie ihre eigenen schafft. Genau hier braucht Rahmen verbleibt, sondern transnationale der politische Wille materielle Strukturen, die Synergien und Vernetzungen hervorbringt.

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_LUX_1602.indb 88 25.08.16 11:02 Für diesen Prozess sind allerdings Techno- rativen und kollektiven Praktiken verbindet und logien und Infrastrukturen notwendig, die weiterentwickelt, könnte eine neue einende den Erfordernissen und kollektiven Praktiken Erzählung hervorbringen und gleichzeitig dieses Ökosystems entsprechen und folglich die politische und materielle Macht dieses die materiellen Voraussetzungen schaffen, Ökosystems praktisch stärken. Auf diese Weise die es erhalten können. Hier liegt die zweite wird der Konflikt mit dem Neoliberalismus und große Herausforderung: Die verfügbaren seinen postdemokra­tischen Superstrukturen technologischen Mittel und das zunehmen- wieder eine greifbare real(istisch)e Option – de Interesse von IT-Aktivist*innen und die es uns erlaubt, uns eine Welt jenseits des Wissenschaftler*innen könnten gemeinsam Kapitalismus auszumalen. neue integrierte Technologien für ein solch neues Ökosystem hervorbringen. Sie müssen Aus dem Englischen von Hannah Schurian derart beschaffen sein, dass sie a) die kollek- tiven Praxen an der Basis so verkörpern, dass Literatur sich deren sozialen Beziehungen und Organi- Gramsci, Antonio, 2012: Gefängnishefte, hg. v. Klaus Boch- sationsformen mit der Anwendung verbreitern. mann und Wolfgang Fritz Haug, Hamburg Harnecker, Marta, 2015: A World to Build: New Paths toward Zugleich müssen sie b) dazu beitragen, dass Twenty-First Century Socialism, New York sich organisatorisch wie produktiv die Effizienz und die Kapazitäten vervielfachen, dass kollek- 1 Laut einer Umfrage, die das unabhängige Forschungsin- tive wie individuelle Fähigkeiten, Wissen, und stitut dieNEOsis und das Forschungsunternehmen company Public Issue letzten Januar auf dem Höhepunkt der sogenann- Ressourcen verknüpft werden und sich ver- ten Flüchtlingskrise durchgeführt haben, geben beachtliche mehren. Auf diese Weise könnte eine Verallge- 58 Prozent der griechischen Bevölkerung, also 5 Millionen Menschen, an, durch Spenden praktische Solidarität mit meinerung gelingen, ohne dass die horizontale Geflüchteten geübt zu haben. Und 4 Prozent gaben an, sich selbst aktiv zu engagieren (ungefähr 45.000 Menschen). In- partizipative Organisations- und Handlungslo- teressant ist auch, dass 21 Prozent die EU für die Flüchtlings- gik der Graswurzelbewegungen verlorengeht. krise verantwortlich machen, weitere 21 Prozent den Krieg im Nahen Osten und 19 Prozent den Westen beziehungsweise Weiterhin müssen die Technologien c) den die Großmächte. Auch wenn die Hintergründe vielfältig sind, Übergang von Solidaritätsstrukturen zu ma- machen die Zahlen deutlich, dass dieser Solidaritätsarbeit ein Moment des Widerstands innewohnt sowie eine Identifikation teriellen Infrastrukturen unterstützen. Dafür mit den ›Verdammten dieser Erde‹. brauchen die Beteiligten wie auch das gesamte 2 Das Ergebnis der letzten griechischen Parlaments- wahlen im September 2015 bestätigt die seit 2008 anhal- Ökosystem materielle Macht und Stabilität, um tende Tendenz zur Wahlenthaltung: Es gab 43,4 Prozent sie gegenüber äußerem Druck zu schützen. Nichtwähler*innen, der bis dato höchste Wert. Während die Zahl der eingetragenen Wähler*innen gegenüber den Wahlen Dafür ist auch und insbesondere die Herausbil- vom Januar 2015 um 109.159 gesunken ist, ist die Zahl der dung eines kollektiven Gemeininteresses – und Nichtwähler*innen um 764.061 gestiegen – das sind fast doppelt so viel wie die Zahl der Wähler*innen der drittstärks- nicht nur gemeinsamer Ideen – notwendig, das ten Partei bei diesen Wahlen. einend und mobilisierend wirkt. 3 Die Without-middlemen-Bewegung ist ein seit 2011 aktives Netzwerk von Kooperativen, die die Verteilung und Dieser Prozess, der ein ›Öffentliches von den Handel von Lebensmitteln auf offenen Märkten organi- unten‹ mit einem ›integrierten ökonomischen sieren. Durch den direkten Kontakt mit Landwirt*innen und Kooperativen werden Zwischenhändler*innen umgangen, Ökosystem‹ aus Solidaritätsstrukturen, Koope- deren Aufschläge die Lebensmittel üblicherweise verteuern.

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_LUX_1602.indb 89 25.08.16 11:02 Populare Macht und bolivarianische Revolution

munizipalismus in venezuela

Andrés Antillano Angesichts des Siegs der Opposition bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 und der fortschreitenden Wirtschaftskrise ist die weitere politische Entwicklung in Venezuela ungewiss. Ungewiss ist ebenso, was von den partizipativen Strukturen auf kommunaler Ebene, die in der Ära Chávez aufgebaut wurden, Bestand haben wird. Eine der wichtigsten Errungenschaften der bolivarianischen Revolution besteht ohne Zweifel darin, das Konzept der partizipatori- schen Demokratie weiterentwickelt zu haben, was die Diskussion der Linken weit über die eigenen Landesgrenzen beflügelt und ihren politischen Horizont erweitert hat. So ist es ge- lungen, die venezolanische Bevölkerung über verschiedene Mechanismen und Institutionen an zentralen Planungs- und Entscheidungs- prozessen zu beteiligen. Als die maßgeblichen zu nennen sind die Sozialprogramme der Regierung (Misiones), die Runden Tische zu Problemen der Infrastruktur (Mesas Técnicas), die städtischen Landkomitees (Comités de

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_LUX_1602.indb 90 25.08.16 11:02 Tierra Urbana), die kommunalen Räte (Con- verfassunggebenden Prozess, Mobilisierungen sejos Comunales) und deren übergeordneten gegen rechte Umsturzversuche, Proteste gegen Zusammenschlüsse (Comunas).1 bürokratisierte Behörden, partizipative Planun- Die kommunalen Räte und Comunas gen im Zusammenhang mit der Wasserversor- sind eine Antwort auf die Beschränkungen gung, städtische Landkomitees, bolivarianische der repräsentativen Demokratie, zugleich ist Zirkel, Genossenschaften, lokale Planungsräte mit ihnen eine Verlagerung der popularen und eben die Comunas.4 Macht verbunden: weg von der Produktions- In der von der Regierung 2007 vorgeschla- sphäre hin zu den Territorien.2 Während sich genen Verfassungsreform kam den Comunas Klassenkämpfe früher in erster Linie um als Instrument zur Beteiligung der Bevölkerung Produktionsprozesse herum organisierten (in eine zentrale Bedeutung zu. In Artikel 16 wurde Fabriken, auf Plantagen usw.), haben Dein- eine neue Machtgeometrie vorgeschlagen, dustrialisierungsprozesse, das Scheitern von mit der die territoriale Struktur Venezuelas importsubstituierenden Entwicklungsstrategien ausgehend von den Comunas neu geordnet in Lateinamerika, der Neoliberalismus und die »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey) dazu geführt, dass das Territorium bei der Ent- Andrés Antillano ist Aktivist in der venezola­ stehung gesellschaftlicher Subjekte und ihres ni­schen Stadtteilbewegung und Mitglied des Movimiento de Pobladores. Er arbeitet als Widerstands eine immer wichtigere Rolle spielt. Sozialwissenschaftler an der Universidad Central Die Bewohner*innen armer Nachbarschaften de Venezuela und ist seit 30 Jahren in Basisbe­ und ihre Kämpfe – gegen Vertreibung und für wegungen aktiv. Wohnraum, gegen Bergbauprojekte oder für öffentliche Infrastruktur – haben den popularen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten ihren werden sollte.5 Ihr Aufbau steht in engem Zu- Stempel aufgedrückt. sammenhang mit den Konzepten von popularer Schon vor der Machtübernahme von Chá- Macht und sozialistischer Gesellschaft und vez, nämlich mit dem Kollaps der repräsentati- soll den Menschen die Möglichkeit eröffnen, ven Demokratie, der durch den Volksaufstand Territorium6 und Geschichte kollektiv selbst im Februar 1989 manifest wurde, nahm die zu gestalten. Die Comuna soll verschiedene Partizipation – in Form sozialer Kämpfe – ra- Organisationen und Akteure eines Territoriums sant zu. Das ›Volk‹3 eroberte die Straße. Dank zusammenbringen und gesetzgebende, exeku- der Mobilisierung und direkter Aktionen wurde tive, regulierende und verwaltende Funktionen es zur Macht; es entstand eine Demokratie der übernehmen. Sie soll koordinieren, planen, Straße, die sich der ›Demokratie‹ der Paläste Finanzmittel vom Staat verlangen, Konflikte lö- und politischen Führungen widersetzte. Mit sen, eigene politische Forderungen entwickeln der bolivarianischen Revolution radikalisierte und diese gegenüber dem Staat vertreten. sich dieser Prozess und nahm neue spontane Schon in den ersten programmatischen und institutionelle Formen an: Debatten zum Texten der bolivarianischen Revolution

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_LUX_1602.indb 91 25.08.16 11:02 tauchen die Begriffe Comuna und Kommu- Ausdruck der Kämpfe und einer allgemein wich- nestaat (Estado Comunal/Comunero7) als tiger werdenden Rolle der subalternen Klassen. alternative Konzepte zu den Institutionen und Beispielsweise sind die Mesas Técnicas de Agua Verwaltungseinheiten des bürgerlichen Staa- ein wichtiges Mittel zur Beteiligung der unteren tes auf. Ergänzt wurde diese in den folgenden Klassen an der öffentlichen Verwaltung der Was- Jahren mit von der Basis erhobenen Forderun- serversorgung, der aufgrund der allgemeinen gen nach mehr Partizipation und popularer Wasserknappheit in venezolanischen Groß- Macht. Doch es war vor allem Chávez, der das städten große Bedeutung zukommt. In ihrem Konzept ab 2005 ins Zentrum der Debatte Widerstand gegen die Angriffe der Rechten und und der popularen Praxis rückte. in der Alltagsorganisierung in Krisenmomenten Mindestens vier Faktoren trugen zu (wie während der Unternehmeraussperrung diesem Prozess bei: Ende 2002) lernten die Subalternen, Macht aus- 1 | Das Scheitern der rechten Putschversuche zuüben und erlangten somit Selbstbewusstsein und die Konsolidierung der bolivarianischen und Anerkennung als politische Subjekte. Revolution: Die Jahre zwischen 2001 und 3 | Der Bedeutungsverlust anderer Partizipati- 2004, in denen die Unternehmerverbände im- onsformen: Auch wenn in den ersten Jahren mer wieder zum Instrument der Aussperrung der bolivarianischen Revolution verschiedene griffen, Massendemonstrationen organisierten neue Organisationsformen entstanden, und Umsturzversuche anzettelten, verliefen verloren diese in dem Maße an Bedeutung, wie extrem turbulent. Obwohl in dieser Zeit große sich der politische Horizont der Subalternen er- Fortschritte gemacht wurden (so wurden etwa weiterte. Die Entwicklung hin zur Comuna als das Gesundheitsprogramm Barrio Adentro größerer und übergeordneter Einheit popularer und andere Misiones eingeführt, der Analpha- Organisierung war eine Antwort darauf, dass betismus besiegt und die Ölindustrie wieder andere Partizipationsformen an ihre Grenzen unter Kontrolle des venezolanischen Staates gestoßen waren. Die Kämpfe auf der Straße gebracht), ist die Agenda jener Jahre von der halfen, Angriffe von rechts abzuwehren, schu- Notwendigkeit beherrscht, die Revolution vor fen aber keine Selbstverwaltung. Die ersten der Rechten zu schützen. Erst der deutliche Formen der Ko-Regierung8 waren sektoriell Sieg beim Abwahlreferendum gegen Präsi- ausgerichtet (wie die städtischen Landkomi- dent Chávez 2004, das das bolivarianische tees, Genossenschaften oder Runden Tische Lager mit 59 Prozent der Stimmen gewann, zur Wasserversorgung) oder blieben räumlich eröffnete die Möglichkeit, auf der Grundlage beschränkt (wie die kommunalen Räte). der Kämpfe ein eigenes Projekt zu entfalten. 2 | Der Erfolg der popularen Kämpfe: Die in Unter dem Motto Ende Gelände trafen sich im Mai 2016 an die den Jahren 2001 bis 2006 erprobten Partizipa- 4 000 Klimaaktivist*innen aus aller Welt in der Lausitz – dem zweitgrößten deutschen Braunkohlerevier. Durch massenhaften tionsformen und die Übertragung der Macht zivilen Ungehorsam legten sie die Produktion lahm und forderten auf populare Institutionen waren keine Zuge- den Ausstieg aus der besonders umweltschädlichen Braun­ kohleförderung. Beide Bilder: Ende Gelände 2016, oben: Ilias ständnisse oder Geschenke ›von oben‹, sondern Bartolini , unten: © Alain Appel

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_LUX_1602.indb 92 25.08.16 11:02 _LUX_1602.indb 93 25.08.16 11:02 4 | Der strategische Bezug auf den Sozialis- finanziert wird, gibt es auch selbstverwaltete mus: Der Appell, Comunas aufzubauen und Comunas, die sich mit eigenen Ressourcen damit die Volksmacht zu erweitern, fiel zu- oder durch von der Gemeinschaft kontrollierte sammen mit der zunehmend sozialistischen Produktionsmittel finanzieren – also nicht von Ausrichtung der bolivarianischen Revolution. Zahlungen des Staates abhängig sind. Auf dem Weltsozialforum von Porto Alegre 2005 bezeichnete Chávez erstmals den Sozia- Schwierigkeiten und Herausforderun- lismus als einzige Alternative zum Kapitalis- gen beim Aufbau der Comunas mus. Die Natur des bolivarianischen Sozia- Diese Form der Organisierung und des lismus, der Demokratie und Partizipation als Ausbaus lokaler Macht stößt jedoch auch auf grundlegende Bestandteile des revolutionären Grenzen. Viele der gegenwärtigen Probleme Projekts begreift und sich damit von sozia- haben mit dem Entstehungsprozess der listischen Regimen im 20. Jahrhundert und Comunas als auch mit den strukturellen Rah- ihrem starken Etatismus und Bürokratismus menbedingungen zu tun. Venezuela ist au- abgrenzt, verleiht der Comuna eine besondere ßerordentlich stark von seinen Öleinnahmen Funktion – sowohl als langfristige Perspektive abhängig, und die Beziehungen zwischen als auch als konkretes Instrument für einen Gesellschaft und Staat (der unter Chávez anderen, eigenständigen Sozialismuss. die Verfügungsgewalt über die Erdöleinnah- Es gibt im ganzen Land um die 3 000 men zurückerobert hat) sind dadurch stark funktionierende Comunas, ergänzt durch deformiert. Ich möchte auf Grundlage einer etwas 50 000 kommunale Räte und andere Feldstudie, die wir in den letzten zwei Jahren lokale Organisationen. Sie stellen ein gewal- in drei Comunas von Caracas durchgeführt tiges Experiment gesellschaftlicher Partizi- haben, einige dieser Probleme aufzeigen. pation und Selbstregierung ›von unten‹ dar. Die popularen Klassen kümmern sich um Ressourcenökonomie versus Produktion die Produktion und Verteilung von Gütern In unserer Feldstudie haben wir die enge und Dienstleistungen, sorgen für den Bau Beziehung zwischen popularer Macht und von Wohnungen und eine Verbesserung materieller Produktion feststellen können. der öffentlichen Infrastruktur. Es entstehen Wenn diese Macht nicht auf Praktiken der Stadtplanungs-, Kultur-, Bildungs- und Produktion, Aneignung und Verteilung von Rechtsprechungsprojekte ›von unten‹. Die Gütern beruht, verwandelt sie sich in eine Comunas können sich außerdem mit anderen Verwaltungsinstanz ohne Fähigkeit zur Gestal- Comunas und Organisationen zusammen- tung des kollektiven Lebens. schließen und gemeinsam Entwicklungspläne erarbeiten. Bemerkbar macht sich dies Die Beziehung zum Staat besonders bei der Produktion und Verteilung Ein zweites (oben bereits skizziertes) Problem von Gütern und Dienstleistungen. Auch wenn beim Aufbau der popularen Macht ist ihr die Mehrzahl dieser Projekte durch den Staat Verhältnis zum Staat. Dieser verfügt mit

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_LUX_1602.indb 94 25.08.16 11:02 der Ölrente über ein Machtinstrument, was oftmals zur Einmischung oder Bevormundung genutzt wird. Mit diesem Hinweis soll nicht gesagt werden, dass die Comunas jede Beziehung zum Staat abbrechen sollten. Während des Übergangs zu neuen Formen der Staat- lichkeit übt der Staat notwendigerweise Schutz-, Koordinations- Ende Gelände 2016, Break free und Souveränitätsfunktionen aus und bietet Staates, womit die Herrschaft des Staatsappa- Dienstleistungen und Güter an, die nicht rates überwunden und er in die Dienste des von den Basisorganisationen zur Verfügung ›Volkes‹ gestellt wird. Kommt es nicht dazu, gestellt werden können. Und doch ist die wird der bürokratische Apparat die neuen komplexe Beziehung zwischen Comunas und Machtformen ›von unten‹ ersticken oder sie Staat Ausdruck eines politischen Kampfs, in ein Anhängsel beziehungsweise einen nämlich der Auseinandersetzung darum, wer Transmissionsriemen der bürokratischen tatsächlich die Macht innehat – die Bürokratie Macht verwandeln. oder das ›Volk‹. Die Beziehungen zwischen popularer Die Trennung zwischen Führenden Macht und Staat können von Kooperation, und Geführten Reziprozität oder Konflikt bestimmt sein, sie Ein häufig zu beobachtendes Problem ist die können sogar die verschiedenen Merkmale Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen gleichzeitig aufweisen. Aber solange die in den Comunas selbst, also die Spaltung in Comunas von der Macht des Staates abhängig Führende und Geführte. Sprecher*innen oder bleiben, besteht die Gefahr der Unterwerfung. Aktivist*innen einer Comuna degradieren Die Idee des Kommunestaates beruht die anderen Mitglieder oftmals zu passiven darauf, dass sich die Commuas Kompetenzen Zuhörer*innen und Entscheidungen werden und Ressourcen zur lokalen Selbstregierung nur von einer kleinen Gruppe gefällt. Dabei aneignen, aber auch über die strategische Aus- handelt es sich um einen sich selbst verstär- richtung der Politik im Land mitentscheiden. kenden Prozess: Umso weniger die lokale Das impliziert eine Transformation des alten Bevölkerung beteiligt ist, desto weniger wird

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_LUX_1602.indb 95 25.08.16 11:02 sie sich für Aktivitäten oder Projekte der schen Armen- und Reichenvierteln, zwischen Comunas interessieren. Wenn eine Person produktiven und Rentiersregionen usw. oder eine Gruppe alles allein entscheidet und überwunden werden. Die Rentenökonomie als Versorger*in gegenüber der Community befördert allerdings lokalistische Tendenzen: auftritt, dann schafft sich damit eine ›Klientel‹, Man begibt sich in Konkurrenz mit anderen mit der die eigene Macht gesichert werden Nachbarschaften um staatliche Mittel, anstatt kann. Dabei werden Kritiker*innen und strukturelle Ursachen zu bekämpfen, die ein Abweichler*innen häufig als Oppositionelle Territorium gegenüber anderen benachteili- oder Kriminelle denunziert und ausgegrenzt. gen. Bisweilen lässt sich dies auch innerhalb Die Aneignung kollektiver Macht durch einer einzelnen Comuna beobachten, sodass einige wenige und die Trennung zwischen beispielsweise nur diejenigen Gebiete, in Führenden und Geführten sind mit den denen die mächtigeren Mitglieder der Organi- Kerngedanken der Comunas nicht vereinbar, sation wohnen, von staatlichen Finanzhilfen denn sie reproduzieren die Herrschaftslogik. profitieren. Eine Führungsgruppe wird zur Regierung im Kleinen, die Probleme ›löst‹ und hinter dem Fazit Rücken der Comuna regiert. Dies untermi- Der Aufbau der popularen Macht in Venezuela niert den egalitären Charakter des sozialisti- war ein neuartiges und mutiges Projekt. Wie schen Projekts, das Gemeinsame zerfällt und zu Beginn dargelegt, handelte es sich um wird für Einzelinteressen instrumentalisiert. einen schöpferischen Prozess ›von unten‹, der schon lange, bevor populare Macht gesetzlich Die Beziehung mit dem Territorium und verankert und ›von oben‹ gefördert wurde, der ›Lokalismus‹ entstand. Doch in ihrer Entwicklung ist Chávez (2009) hat frühzeitig auf die Gefahren diese populare Macht mit schwerwiegenden des ›Lokalismus‹ hingewiesen. Die Comuna Problemen konfrontiert, bei denen es sich müsse als eine territorial verankerte Einheit letztlich um die zentralen Probleme der in ein Gesamtsystem eingebunden sein. Das venezolanischen Gesellschaft selbst handelt – Lokale, das sich auf das eigene Territorium nämlich um die konkrete Form des Kapitals beschränkt, ohne Verbindungen mit anderen und seiner Herrschaft. Die Beschränkung Strukturen zu entwickeln, sei reaktionär. Die dieser Macht auf die Verteilung von (sich an- Comuna selbst stellt eine Antwort auf den gesichts der Wirtschaftskrise verknappenden) Lokalismus früherer Formen der popularen Pfründen, ihre Verwandlung in einen Trans- Organisation dar. Ihre Verortung in einer missionsriemen des bürgerlichen Staates neuen Machtgeometrie bedeutet, das Verhält- (der seinen Klassencharakter nicht eingebüßt nis zu größeren territorialen Einheiten (der hat), die Restauration alter Herrschafts- und Stadt, der Region, dem Land und der Welt) zu Ausschlusspraktiken auf kleinster Ebene, die erkennen, denn nur dann können existierende Reproduktion von Korruption, Ineffizienz, Ungleichheiten zwischen Territorien, zwi- Postengeschacher und Klientelismus – das

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_LUX_1602.indb 96 25.08.16 11:02 sind die realen Gefahren, die sich zu verschär- Institutionen auf die politische Sphäre überwinden. Während in den kommunalen Räten (Consejos Comunales) jeweils 9 fen drohen. einige Hundert Menschen, also Nachbarschaften, organisiert Vor diesem Hintergrund ist die Frage sind, repräsentieren die Comunas als neu geschaffene territoriale Einheiten (zusätzlich zu den traditionellen nach dem Charakter der popularen Macht neu kommunalen Verwaltungsstrukturen) mehrere Zehntausend zu stellen. Statt sie als eine den Menschen Menschen. Sie sind für die Wohnraumversorgung und die öffentliche Infrastruktur zuständig, aber auch für Aufgaben nähere Verwaltungspraxis oder als neue im Produktionsbereich und beim Vertrieb. Es handelt sich Institutionenarchitektur zu verstehen, gilt es, vom Anspruch her um Basiseinheiten einer sozialistischen Demokratie, die die Trennung zwischen politischer und ihren subversiven und radikalen Charakter ökonomischer Sphäre aufzuheben suchen (Anm. d. Übers.). 2 Antillano nimmt hier Bezug auf eine Debatte, die in den neu zu formulieren. Die Ausübung der Macht 1970er Jahren sowohl in Südeuropa als auch in Lateinamerika ist nur dann popular, wenn sie sich den geführt wurde. Ihre zentrale These lautete, dass sich die Klassenkämpfe von den Produktionsstätten an die Lebensorte Strukturen und Logiken der auf Enteignung (die Barrios und proletarischen Viertel) verlagerten. Heute und Beherrschung der Subalternen beruhen- ist der Begriff der sozioterritorialen Kämpfe ein Schlüsselbe- griff der lateinamerikanischen Linken. Gemeint sind damit den Macht entgegenstellt. Populare Macht sowohl urbane Stadtteilbewegungen als auch die Kämpfe von ist Gegenmacht. Sie ist der Bruch mit jenen Bäuer*innen, Indigenen und Afros gegen ihre Vertreibung aufgrund von Bergbau- und Energieprojekten (Anm. d. Übers.). ökonomischen, politischen, sozialen und kul- 3 Pueblo (Volk) und clases populares (Volksklassen oder turellen Logiken, die Herrschaft und Ausbeu- populare Klassen) sind nach wie vor zentrale Begriffe der linken Gesellschaftsanalyse in Lateinamerika. Da ›Volk‹ in tung hervorbringen. Aus diesem Grund läuft den Einwanderungsgesellschaften des Subkontinents fast jeder Versuch der bürokratischen Kontrolle, nie als ethnisches Subjekt, sondern eigentlich immer als Synonym für die unteren Klassen oder als staatsbürgerliches Kooptation, Zähmung oder Befriedung des Projekt verstanden wird, ist eine rassistische Deutung poder popular auf die Beseitigung von dessen ausgeschlossen (Anm.d.Übers.). 4 Vgl. auf Deutsch u.a. Azzellini (2010) sowie zur Selbst- Grundlagen hinaus. organisierung der Krisenjahre Zelik et al. (2004). 5 Die Verfassungsreform, mit der der Chavismus Vene- zuela offiziell in ein sozialistisches Land verwandeln wollte, Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Bei- wurde von der Bevölkerung in einem Referendum abgelehnt. trags aus demBuch »Jóvenes, cultura productiva y Die Comunas wurden jedoch durch einfache Gesetze als Rechtssubjekte verankert (Anm.d.Übers.). nuevo poder« (2015). 6 Territorium wird hier erneut als Sammelbegriff verwen- det, der den Lebensort einer Community beschreibt – das kann sich auf eine städtische Nachbarschaft, eine bäuerliche Aus dem Spanischen von Raul Zelik Gemeinschaft, aber auch auf Indigenen-Land beziehen (Anm.d.Übers.). 7 Estado Comunal ist der vom Chavismus verwendete Begriff. Kleber spricht vom Estado comunero. Hier wird Literatur beides mit Kommunestaat übersetzt. (Anm.d.Übers.) Azzellini, Dario, 2010: Partizipation, Arbeiterkontrolle und 8 Der Begriff der cogestión beschreibt die Mitverwaltung die Kommune, Hamburg von Communitys. Er wird auch für betriebliche Mitbestim- Chávez, Hugo, 2009: Aló Teórico #1. 11 de Junio 2009, mung verwendet, meint hier aber das gemeinsame Regieren www.youtube.com/watch?v=lUjfnetMbyM von Bevölkerung und Staat (Anm.d.Übers.). Ramírez, Kleber, 2006: Historia Documental del 4 de febre- 9 Das von Antillano angesprochene Phänomen wird im ro. Editorial El Perro y la Rana, Caracas Zusammenhang von ›Bürgerhaushalten‹ oft beschrieben: Zelik, Raul/Bitter, Sabine/Weber, Helmut, 2004: made in ve- Arme Nachbarschaften werden durch Bürgerbeteiligung nezuela. notizen zur bolivarischen revolution, Hamburg/ eher getrennt als geeint. Sie konkurrieren untereinander um Berlin Finanzmittel, anstatt sich wie früher gemeinsam gegen die Marginalisierung zu wehren. Bisweilen sorgen Wortführer in den Communities sogar dafür, dass nur der Teil des 1 Mit der Gründung von Comunas 2009 wollte die Chá- Viertels, in dem sie selbst wohnen, von den Geldern profitiert vez-Regierung die Beschränkung bürgerlich-demokratischer (Anm.d.Übers.).

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_LUX_1602.indb 97 25.08.16 11:02 RebelLische Städte – Erfolg oder Frust? Raul Zelik Mario Candeias & Hanno Bruchmann

Im Treibsand der Institutionen Municipalismo? Der Begriff des Munizipalismus geistert Raul Zelik schon länger durch die Debatten der instituti­ onenkritischen Linken (vgl. Caccia in diesem Im Mai 2015 eroberten linke Kandidat*innen Heft). In der anarchistischen Debatte wird die zahlreiche Rathäuser im spanischen Staat.1 Konföderation freier Gemeinden oft als Modell Diese ›munizipalistische Linke‹ konnte zwar einer Kommune-Gesellschaft propagiert. Am auf die Unterstützung von Podemos und deutlichsten wurde dieses Konzept von Murray anderen Linksparteien zählen, versteht sich Bookchin vertreten, dessen ›libertärer Muni­ aber durchaus als Alternative zur klassischen zipalismus‹ von einer basisdemokratischen Parteienpolitik. Die meisten derjenigen, die Politik in Gemeinden und Stadtteilen ausgeht. Barcelona En Comú, Ahora Madrid oder Bookchins Hauptargument hat etwas für sich: die galizischen mareas gegründet haben, Die ›Face-to-face-Demokratie‹ ist unverzichtba­ ­kommen aus sozialen Bewegungen: den re Grundlage jeder echten politischen Teilhabe. Platzbesetzungen der Bewegung des 15. Mai In den 1990er Jahren entwickelte der Mu­ (15M) oder der Plattform gegen Zwangs­ nizipalismus dann aber auch in der Praxis eine räumungen (Plataforma de Afectados por la gewisse Relevanz. In Italien beteiligten sich Hipoteca/PAH). Ihr Ziel war es, den gesell­ vom Zapatismus beeinflusste Bewegungslinke schaftlichen Aufbruch in die Institutionen zu an kommunalen Wahlbündnissen (die unter tragen, ohne dessen radikaldemokratischen anderem das Rathaus von Venedig eroberten) Anspruch aufzugeben. Doch nach einem und träumten von einem Netzwerk rebellischer Jahr Regierungszeit fällt die Bilanz durch­ Städte. Zu einem ernstzunehmenden Projekt wachsen aus. wurde der Munizipalismus vor allem durch

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_LUX_1602.indb 98 25.08.16 11:02 Unabhängigkeitsbewegungen, die in Erman­ Raul Zelik ist Schriftsteller und freier Autor. Er gelung eines eigenen Staates den Aufbau von veröffentlichte zuletzt den Essayband »Im Multi- Parallelinstitutionen in den Blick nahmen. versum des Kapitals« (2016) sowie »Continuidad 1999 gründeten 2 000 baskische Gemeinderäte o Ruptura« (2016). Seit Mai 2016 ist er Mitglied eine Art Nationalversammlung der Kommunen im Bundesvorstand der LINKEN. (Udalbiltza), die über gemeinsame Haus­ Hanno Bruchmann ist Mitarbeiter des Instituts Solidarische Moderne und Mitglied dieser haltsmittel verfügte und über die spanisch- Redaktion. französische Landesgrenze hinweg einen Mario Candeias ist Direktor des Instituts für neuen institutionellen Rahmen schaffen sollte. Gesellschaftsanalyse und Mitbegründer dieser 2003 verbot der spanische Ermittlungsrichter Zeitschrift. Baltasar Garzón allerdings diesen Zusammen­ schluss und führende Vertreter*Innen von Udalbiltza wurden inhaftiert. gesellschaftliche Aufbruch in die Institutionen Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt verlängert werden könnte. Die rechtskonserva­ wurde der Munizipalismus 2011, als die tive Partido Popular (PP) und die sozialdemo­ Kurd*innen in Syrien ihre Selbstverwaltung kratische PSOE saßen die Massenproteste und als Konföderation von Gemeinden zu organi­ Generalstreiks nämlich einfach aus, der Elan sieren begannen. Interessanterweise beruft der Bewegung 15M drohte zu verpuffen. Vor sich diese Autonomiebewegung dabei einer­ diesem Hintergrund diskutierte ein Teil der seits auf den Anarchismus Bookchins, hat Linken über die Gründung einer ›spanischen andererseits aber auch den Aufbau von grenz­ Syriza‹ – eine Debatte, aus der schließlich überschreitenden Institutionen vor Augen. Ein Podemos hervorging. weiteres munizipalistisches Projekt entwickel­ Viele Bewegungslinke waren jedoch te sich in den 2000er Jahren in Katalonien. skeptisch, ob der Kampf um Regierungsposten Mit den Candidaturas d’Unitat Popular (CUP) die Protestbewegungen nicht völlig über­ entstanden auf lokalen Vollversammlungen fordern würde. Einige plädierten daher für beruhende und antiinstitutionell ausgerichtete Politikformen, die den bestehenden institutio­ Wahlplattformen, die in der Folge einen be­ nellen Rahmen stärker infrage stellen sollten. merkenswerten Aufstieg hinlegten: Kamen die Aus diesem Kontext entstand in Barcelona CUP 2003 auf 20 Gemeinderatssitze, waren es 2014 die Initiative Guanyem (Katalanisch für 2015 schon 400 (von insgesamt 9 000). »Lasst uns gewinnen«), die vornehmlich von Aktivist*innen der Bewegung gegen Zwangs­ Mit Guanyem in die Rathäuser räumungen PAH und der Gruppe Procès Cons­ Der Siegeszug der munizipalistischen Linken tituent (die einen verfassunggebenden Prozess im Frühjahr 2015 hatte dann aber vor allem ähnlich wie in Lateinamerika propagierte) damit zu tun, dass sich viele Aktivist*innen getragen wurde. Ziel war die Aufstellung einer nach dem allmählichen Abflauen der Sozi­ offenen linken Wahlliste, deren Zusammenset­ alproteste 2013 die Frage stellten, wie der zung auf Stadtteilversammlungen beschlossen

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_LUX_1602.indb 99 25.08.16 11:02 werden und deren wichtigstes Ziel darin beste­ als Spitzenkandidat der (mit Podemos und IU hen sollte, die Inwertsetzung Barcelonas für verbündeten) katalanischen Plattform En Comú den Massentourismus (die sogenannte Marca Podem antrat,2 ist ein marxistischer Hegemo­ Barcelona) zu stoppen. Dafür sollte allerdings nietheoretiker. Jaume Asens, stellvertretender keine klassische Koalition, sondern eine so­ Bürgermeister, kommt aus der Recht-auf-Stadt- genannte confluencia gebildet werden, bei der Bewegung. Die Gründungsgruppe von En sich die Rolle der Parteien darauf beschränken Comú, die aus ihrer Sympathie für zapatistische sollte, die direktdemokratisch legitimierten und libertäre Politikkonzepte keinen Hehl Kandidat*innen zu unterstützen. macht, steht für ein deutlich linkeres und Die Initiative fand schnell Nachahmer*in­ basisdemokratischeres Projekt als Podemos. nen im ganzen Land. In Madrid schlossen Trotzdem hat Barcelona En Comú in nur sich Bewegungslinke und Teile von Izquierda 12 Monaten eine erstaunliche Entwicklung Unida (IU) zu Ganemos zusammen und durchlaufen. Seit Mai 2016 regiert Ada Colau handelten mit Podemos und kleineren Parteien in Koalition mit der sozialdemokratischen ein offenes Vorwahlverfahren aus. Entspre­ Partit dels Socialistes de Catalunya (PSC), die chend heterogen war die Liste, die im Mai jahrzehntelang den Bürgermeister Barcelonas 2015 unter dem Namen Ahora Madrid zu den stellte und die Hauptverantwortung für die neo­ Kommunalwahlen antrat. Ähnlich formierten liberale Stadtentwicklung trägt. Die Gefahr, das sich auch die Kandidat*innen in Zaragoza, im bestehende Stadtmodell nur neu zu legitimie­ andalusischen Cádiz oder in den galizischen ren, ist auch schon in der Zusammensetzung Städten, wo die Unabhängigkeitspartei A Nova, von Barcelona En Comú selbst angelegt. Als das Podemos, Bewegungslinke und IU miteinan­ Projekt 2014 entstand, richtete es sich an das der kooperierten. Die Wahlergebnisse vom gesamte Spektrum links der Sozialdemokratie – Mai 2015 kamen schließlich einem Erdbeben unter Einschluss der linksgrünen Iniciativa per gleich. Listen links der Sozialdemokratie ge­ Catalunya Verds (ICV), die Barcelona in den wannen die Rathäuser von Madrid, Barcelona, 2000er Jahren mit der PSC regiert hatte. Manu­ Valencia, Zaragoza, Cádiz, Pamplona/Irunea, A el Delgado, Veteran der katalanischen Linken, Coruña, Santiago, Badalona ... wies schon vor dem Wahlsieg Ada Colaus in einem Interview auf diesen Widerspruch hin: Das Beispiel Barcelona »Wie sollen dieselben Personen, die das ›Modell Das Beispiel Barcelona zeigt jedoch, dass auch Barcelona‹ entwickelt haben, nun in der Lage der Munizipalismus nicht vor Anpassungspro­ sein, es zu bekämpfen?« (elcritic.cat, 14.5.2015) zessen gefeit ist. An der Führungsgruppe von Die Gruppe um Ada Colau traf also Barcelona En Comú, die intensiv mit den sozi­ bereits 2014 eine Grundsatzentscheidung: alen Kämpfen der Stadt verbunden ist, liegt das Das Vorhaben, eine Basisbewegung in den nicht. Bürgermeisterin Ada Colau ist langjährige Nachbarschaften aufzubauen, wurde zumindest Aktivistin der Bewegungen für menschenwürdi­ partiell aufgegeben. Stattdessen schloss man ges Wohnen. Xavier Domènech, der Ende 2015 ein Bündnis mit einem Teil des politischen

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_LUX_1602.indb 100 25.08.16 11:02 Establishments. Das brachte zwar Wählerstim­ Ende Gelände 2016, Paul Lovis Wagner men,3 erwies sich aber im Nachhinein durchaus auch als Hindernis für eine echte ›Machtop­ Verhandlungen einen Haushalt verabschieden tion‹. Manuel Delgado, der bereits 2012 für eine können, der die Sozialausgaben erhöht, man Kandidatur Ada Colaus plädiert hatte, antwor­ hat ein Programm zur Förderung von Genos­ tete auf die Frage, ob er die Gruppe um Colau senschaften aufgelegt und treibt zudem eine für Garanten des Politikwechsels halte: »Nein, feministische Gleichstellungspolitik voran. weil sie in einer Dynamik stecken, die Politiker Man hat darüber hinaus die Umwidmung von produziert, die nichts zu melden haben. Die Wohnungen in Ferienapartments und teure Stadtverwaltung von Barcelona ist ein Mons­ Prestigeprojekte (zumindest vorübergehend) trum, und die Leute, die in ihr entscheiden, gestoppt. Ein Wohnungsbauprogramm und sind nicht diejenigen, die offiziell regieren. […] neue Formen der Bürgerbeteiligung sind in Außerdem gibt es mächtige Interessen, die alles Vorbereitung. Außerdem hat sich Barcelona tun, um ihre Privilegien zu verteidigen.« (ebd.) zur Refugee-Welcome-Stadt erklärt – was allerdings eher symbolischen Charakter hat, Keine Reformen ohne Gegenmacht weil bislang nur wenige Dutzende Kriegs­ Was hat die linke Stadtregierung also erreicht? flüchtlinge aus Syrien und andern Ländern im Es gibt durchaus Erfolge: Man hat nach langen spanischen Staat angekommen sind.

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_LUX_1602.indb 101 25.08.16 11:02 Das alles ist erfreulich, doch man sollte sich hat in dieser Frage also nicht dazu beigetra­ auch nichts vormachen: In dem politisierten gen, die Macht der Subalternen zu erweitern. Klima Barcelonas wäre auch eine andere Im Gegenteil: Die Tatsache, dass ein glaub­ Stadtregierung zu sozialen Zugeständnissen würdiger Teil der Linken nicht mehr Partei gezwungen gewesen. Gerardo Pisarello hat das für Streikende ergreift, sondern ›zwischen Problem in einem Interview vom 26. Mai die­ Interessen vermitteln will‹, schwächt die ses Jahres mit der Zeitschrift elcritic.cat selbst Verhandlungsmacht der Gewerkschaft. skizziert: Barcelona En Comú verfüge nur über Ähnlich ist die Lage hinsichtlich des einen sehr kleinen Teil der Macht. Man habe Kampfes der sogenannten manteros, der etwa nur elf von 41 Sitzen im Gemeinderat und sei 300 illegalen Einwanderer*innen, die in daher auf Verhandlungen mit der PSC und der Barcelona ihr Geld mit informellem Stra­ katalanisch-republikanischen Esquerra Repub­ ßenverkauf verdienen. In den vergangenen licana de Catalunya (ERC) angewiesen. Die Jahren etablierten die Stadtregierungen dabei Verwaltungstechnokratie gehorche den Inter­ eine Art Laissez-faire-Politik: Die Stadtpolizei essen von Lobbygruppen oder widersetze sich ließ die Straßenhändler*innen stundenweise aus bürokratischer Trägheit jeder Veränderung. gewähren, vertrieb sie aber von bestimmten Und die öffentliche Meinung schließlich werde Orten. Unter der Regierung von Ada Colau von privaten Medienkonzernen beherrscht. hingegen machen bürgerliche Medien und Zwei aktuelle Konflikte zeigen, wie Geschäftsinhaber nun gegen die ›illegale problematisch es ist, wenn Linke als Stadtre­ Konkurrenz‹ mobil. In der Folge ist die städ­ gierung die Interessen ›aller Bürger*innen‹ tische Polizei mehrmals gewalttätig gegen die vertreten müssen und sich in sozialen Straßenhändler*innen vorgegangen. Obwohl Kämpfen nicht mehr eindeutig positionieren. die meisten Mitglieder von Barcelona En Comú Seit Monaten schwelt ein Tarifkonflikt mit wohl mit den manteros sympathisieren, hat es den U-Bahn-Beschäftigen, die mehrheitlich in Bürgermeisterin Ada Colau vermieden, den der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Konflikt mit der Polizeiführung und der öffent­ Confederación General del Trabajo (CGT) or­ lichem Meinung zu suchen und auszutragen. ganisiert sind. Die Stadtregierung hat sich in Die Beispiele verweisen auf einen dem Konflikt jedoch auf die Einschätzung der Zusammenhang, der für linke Transforma­ Verwaltungsdirektoren der Verkehrsbetriebe tionspolitik – egal, ob sie sich als reformistisch verlassen und gegenüber den Streikenden er­ oder radikal versteht – von zentraler Bedeu­ klärt, eine Steigerung der (relativ guten) Löhne tung ist: Regierungen an sich stellen eben habe für Barcelona En Comú keine Priorität. keine Machtoption dar (vgl. Giovanopoulos in Das Argument ist relativ unverschämt, wenn diesem Heft). Der Zwang, zwischen Interes­ man weiß, dass es bei den Verkehrsbetrieben sen vermitteln zu müssen, verhindert häufig zahlreiche hoch dotierte Beraterverträge für sogar, dass Regierungslinke zur Entfaltung Manager gibt. Die Tatsache, dass eine aufrech­ sozialer Gegenmacht beitragen. Das lässt sich te Linke wie Ada Colau Bürgermeisterin ist, auch in anderen Großstädten beobachten. In

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_LUX_1602.indb 102 25.08.16 11:02 Madrid beispielsweise verfolgt Bürgermeisterin einen und Gruppen entsteht, sondern natürlich Manuela Carmena eine Politik, die Konfronta­ vor allem auch darum, dass dieses Geflecht von tionen mit der öffentlichen Meinung, sprich alternativ-kulturellen Vorstellungen und linken den Medienkonzernen, scheut und sich von Positionen geprägt ist. der Linie der PSOE kaum unterscheidet. Und Die Linke kann es also drehen und wen­ in den meisten anderen ›rebellischen Städten‹ den, wie sie will. Sie wird immer wieder auf die sind die ehemaligen Bewegungslinken immer Frage zurückgeworfen, wie sich eine kapitalis­ noch damit beschäftigt, die Funktionslogik der muskritische, emanzipatorische Gegenhegemo­ Verwaltung zu durchdringen. Deutlich besser nie entfalten lässt. Nur wenn soziale Kämpfe, ist die Lage allerdings in kleineren Gemeinden. Bewegungen und Organisationen genügend In manchen Ortschaften gibt es jahrzehntelan­ Druck gegen die Macht der ökonomischen ge Erfahrungen in und mit linken Kommunal­ Lobbygruppen, Staatsbürokratien und Medien­ regierungen. Da die sozialen Strukturen hier konzerne aufbauen, ist Transformationspolitik verbindlicher, der Kontakt zu Bewegungen möglich. Das gilt auch für eine Politik auf enger und die Widerstände von Machtgruppen der Ebene von Stadtteilen und Gemeinden. und Medienkonzernen geringer sind, gibt es Wenn Munizipalismus hingegen in erster hier interessante transformatorische Ansätze. Linie bedeutet, dass Bewegungsaktivist*innen So haben einzelne andalusische Dörfer eine in sozialen Konflikten nicht mehr Stellung kollektive Wohnungsbaupolitik betrieben aufseiten der Subalternen beziehen können, und baskische Gemeinden weitreichende trägt er – ebenso wie klassische Parteiprojekte – Erfahrungen in direkter Demokratie und bei dazu bei, plebejische Macht zu beschneiden. der Rekommunalisierung von grundlegenden Nur wenn der neue Munizipalismus sich dieser Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen Anpassung verweigert, wird er dem Schicksal gesammelt. Doch interessanterweise werden der alternativen und grünen Parteien Europas diese Erfahrungen kaum reflektiert. Auch die entgehen können. Linke blickt in erster Linie darauf, was massen­ medial wahrgenommen wird.

Zusammenfassend könnte man sagen, 1 Ein erheblicher Teil der Bevölkerung (und gerade auch dass für munizipalistische Projekte dasselbe der Linken) in Katalonien, im Baskenland, in Galicien, auf den Balearen, in Valencia und Andalusien versteht sich nicht als gilt wie für institutionelle Politik auf höherer Spanier. In diesem Text wird daher statt des Begriffs Spanien, Ebene. Erstens ist für Veränderungen nicht die der auch eine umstrittene kulturelle Identität bezeichnet, der politische Begriff ›spanischer Staat‹ verwendet. Ausübung eines Regierungsamts entscheidend, 2 Die Liste En Comú Podem ist aus dem Stegreif zur sondern die Entwicklung sozialer Gegenmacht. stärksten Partei in Katalonien geworden und kam bei den spa­ nischen Parlamentswahlen im Juni 2016, an denen sich die Zweitens ist diese kein mediales Ereignis, son­ radikal-munizipalistischen CUP allerdings nicht beteiligten, dern das Ergebnis von Selbstorganisierung und auf 25 Prozent der Stimmen . 3 Allerdings stellt sich im Nachhinein die Frage, ob eine Mobilisierung der Bevölkerung. Dabei geht es Liste ohne die linksgrüne ICV, aber mit der linksradikalen nicht nur darum, dass ein tejido social (ein sozia­ CUP nicht auch auf über 20 Prozent gekommen wäre. Bei den Kommunalwahlen 2015 kam Barcelona en Comú auf 25,2 les Geflecht) von Initiativen, Nachbarschaftsver­ Prozent, die eigenständig kandidierende CUP auf 7,4 Prozent.

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_LUX_1602.indb 103 25.08.16 11:02 Widersprüche surfen – erinnert dies an die besten Seiten der Sozial­ Institutionen aufbrechen demokratie. Für Barcelona zieht die Bürgermeisterin Hanno Bruchmann und Mario Candeias Ada Colau nach einem Jahr folgende Bilanz: »Die tief greifendsten, wichtigsten und Es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Stadtregie­ nachhaltigsten Veränderungen erfolgen nicht rung bei einer anstehenden Zwangsräumung von einem Tag auf den anderen, sondern die Banken zwingt, Neuverhandlungen über als Summe kleiner Transformationen, die die Hypotheken aufzunehmen oder eine Verbesserungen in den Leben der Menschen Ersatzwohnung anzubieten. Bleiben diese bewirken: die Ausweitung der kostenfreien Bemühungen erfolglos, verpflichtet sich die Schulspeisung und von Wohngeld, die Kommune, eine Wohnung zu stellen. Für Anwendung des Gesetzes 24/2015, das den die Betroffenen geht es hier um existenzielle Stopp von Zwangsräumungen ermöglicht, Fragen, für die Stadt um die Rückgewinnung Sicherung von Ausweichquartieren und einer von Macht gegenüber einer hypertrophen Grundversorgung, mehr Kinderbetreuung ­Finanz- und Hypothekenmafia. Es ist auch und mehr Stellen für Lehrer*innen und keine Kleinigkeit, wenn Verträge über Groß­ Sozialarbeiter*innen. [...] Wir sind im ersten projekte oder Aufträge an private Konzerne Jahr aber auch in Sachen demokratischer überprüft, revidiert oder gekündigt werden. Kontrolle und Transparenz vorangekommen: Dies verleiht der öffentlichen Hand wieder die Der Haushalt und die Finanzen sind öffentlich Hoheit über die Finanzen, entreißt sie einer einsehbar. Außerdem haben wir ethische Clique korrupter Public-Private-Partnerships, Richtlinien bei der Vergabe öffentlicher die sich zuvor die Stadt zur Beute gemacht Aufträge eingeführt, um die Korruption zu hatten. Die Entlastung des Haushalts hat bekämpfen« (Colau 2016). unter anderem zu einer 26-prozentigen Die Grenzen der Gestaltungsmöglichkei­ Steigerung der A­ usgaben für Soziales geführt ten auf kommunaler Ebene, auch nach einer sowie zum Abbau von Schulden in der Höhe linken Regierungsübernahmen, sind bekannt, von einer Milliarde Euro pro Jahr. All das sind werden reflektiert und politisch diskutiert: die Maßnahmen der von Manuela Carmen in Ma­ wachsende Unterfinanzierung der Kommu­ drid geführten Regierung. Sie hat die opaken nen, die Verschuldung und die eingeschränk­ Machenschaften der Behörden durchforstet, ten Kompetenzen. Die mangelnde Organisie­ transparent gemacht, Haushalte offengelegt rung von Gegenmacht auf europäischer Ebene und Verwaltungsvorgänge vereinfacht. Zu und die verpasste Chance, die Regierung im diesem Zweck wurde eine Untersuchungs­ spanischen Staat zu übernehmen, verbessern kommission zu kommunalen Schulden und die Bedingungen nicht, obwohl gerade hier öffentlicher Auftragsvergabe eingerichtet. dringend Erleichterungen durch eine Anti- Wenn das typische sozialdemokratische Austeritäts-Politik nötig gewesen wären. Vor Maßnahmen sind, wie Raul Zelik nahelegt, diesem Hintergrund ist die Kritik Zeliks, die

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_LUX_1602.indb 104 25.08.16 11:02 Bilanz der ›Rebel Cities‹ sei »durchwachsen« Ende Gelände 2016, Fabian Melber und die gestandenen linken Aktivist*innen verfielen in den Rathäuser der Logik der Insti­ Völlig ungerührt zieht die Regierung seit tutionen, die sie verändern wollen, nicht ganz Jahren ihre Politik der Zwangsräumungen, überzeugend. Erfolge und positive Wirkungen Privatisierungen und Austerität durch. werden nur stichwortartig genannt, Probleme Nicht immer hat man die Wahl, ob man und Widersprüche, die zu erwarten waren, erst soziale Gegenmacht aufbaut und dann viel­ bereits als Scheitern ausgelegt. leicht in die Regierung geht. Die Erfahrung war ja gerade, dass die Massenmobilisierungen in Institutionen aufbrechen den vergangenen Jahren die Regierenden nicht Zelik meint, im politisierten Klima Barcelonas davon abgehalten haben, einfach weiterzuma­ wäre auch eine andere Stadtregierung zu so­ chen, ungeachtet aller Korruptionsskandale, zialen Zugeständnissen gezwungen gewesen. Krisen und Proteste. Ohne Durchsetzungspers­ Dies ist angesichts der tiefen Verankerung von pektive droht der Widerstand aber abzuflauen. Korruption in den Apparaten schon für Bar­ Daher galt es den Weg in die Institutionen celona zweifelhaft. In Madrid wären erst recht anzutreten. Das hat auch eine Mehrheit der keine Konzessionen von der konservativen Wähler*innen erwartet. Aber mit dem Einzug Partido Poppular (PP) zu erwarten gewesen. in die Rathäuser sollte(n) ja nicht nur die

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_LUX_1602.indb 105 25.08.16 11:03 Agenda der Regierung verändert werden, riguez 2016). Dies gilt für jede linke Regierung, sondern die Institutionen selbst. An erster aber es ist in Spanien derzeit auch deshalb Stelle stand deren Öffnung für die Expertise dringend nötig, weil jenseits der wenigen Perso­ der Bevölkerung und soziale Forderungen nen, die nun als verlängertes Schwänzchen an sowie die Förderung von Selbstorganisierung. der Spitze der Apparate sozusagen versuchen, All das sind wesentliche Ziele der munizipalis­ ›mit dem Hund zu wedeln‹, weder Barcelona en tischen Bewegung (Espinoza Pino 2016) und Comú noch Ahora Madrid über eigene entwi­ hier geht es in der Tat nur langsam voran: In ckelte Organisationen verfügen, die als Verstär­ Madrid wurden zwei Referate für Partizipation ker und Gegengewicht zur Absorptionskraft der und Transparenz eingerichtet. 79 Prozent der Institutionen wirken könnten. Befragten gaben in einer Studie der Stadtregie­ rung an, dies sei eine Verbesserung. Neun von Gegenmacht organisieren zehn Madrilenen sind der Ansicht, dass zum Zelik will mit zwei Beispielen belegen, dass Beispiel Bürgerhaushalte wichtig sind, um die die Regierungslinke nicht zur Entfaltung Beteiligung der Bevölkerung zu erhöhen. Die sozialer Gegenmacht beiträgt. Der von Mehrheit kennt das Partizipationsportal decide. anarchistischen Gewerkschaften organisierte madrid.es und spricht sich für eine Dezentrali­ Streik der U-Bahn-Beschäftigten in Barcelona sierung der Verwaltung aus. Doch bislang blei­ zeige, »dass ein glaubwürdiger Teil der Linken ben die Konsultationen der Bevölkerung eben nicht mehr Partei für Streikende ergreift, weitgehend Meinungsumfragen. Sie bieten sondern ›zwischen Interessen vermitteln der Stadtregierung Orientierung, ermöglichen will‹«. Das schwäche »die Verhandlungs­ aber keine politische Debatte, in der tatsächlich macht der Gewerkschaft«. Möglicherweise gemeinsame Projekte und Ziele jenseits der ist jedoch die Auseinandersetzung der Apparate ausgearbeitet werden könnten. Hier U-Bahn-Beschäftigten in diesem Moment steht ein Dezentralisierungsprozess an, der nicht die drängendste. Denn andere Kämp­ den Nachbarschaftsräten und Bezirken eine fe werden weiterhin gestützt: So streitet größere Entscheidungskraft überträgt. die Plattform der Hypothekenbetroffenen In jedem Fall gilt es von unten genau jenen (PAH) weiter gegen die zurückgegangenen Druck zu entfalten, der es den linken Stadtre­ Zwangsräumungsversuche, besetzt Häuser gierungen ohne eigene Mehrheit erleichtern und wird geduldet (vgl. el diario, 20.6.2016). würde, soziale Verbesserungen durchzusetzen. Anhaltende Mobilisierungen zeigen, dass die Hier könnten Regierung und Bewegung sich Ausgangsbedingungen für Gegenwehr besser gegenseitig produktiv unterstützen. »Wir und nicht schlechter geworden sind. Selbst müssen aufhören«, die neuen Kommunalregie­ Emanuel Rodriguez (2016), harter Kritiker rungen als »Ausdruck des 15M zu verstehen«, der neuen Stadtregierungen, konzediert: »Die die es für uns schon richten werden. Stattdes­ Fähigkeit, Gegenmacht auszuüben, ist mit sen müssen wir »Druck entfalten, damit sie das diesen Regierungen im Vergleich zu ihren geliehene Mandat entsprechend nutzen« (Rod­ Vorgängerinnen gewachsen.«

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_LUX_1602.indb 106 25.08.16 11:03 Im Ergebnis steigt die Beliebtheit der linken Das Problem liegt auch darin, dass es kaum kommunalen Regierungen: 72 Prozent der personelle Ressourcen gibt, und viele denken, Wähler*innen von Ahora Madrid sowie 55 dass eine Regierungsübernahme bedeutet, die Prozent der Wähler*innen der sozialdemokra­ bisherigen Ziele nun einfach in den Institutio­ tischen PSOE sind der Ansicht, das Leben in nen zu verfolgen. Stattdessen müsste es darum der Stadt habe sich verbessert. Bürgermeis­ gehen, gesellschaftliche Gegenmacht durch terin Carmena ist extrem beliebt und liegt in organisierte Zivilgesellschaft aufzubauen, weit­ Umfragen hinsichtlich ihrer Popularitätswerte gehend unabhängig vom kommunalen Staat. deutlich vor dem Staatspräsidenten.1 Auch die Hier teilen wir Zeliks Kritik, dass zu wenig Arbeit von Ada Colau schätzt die Mehrheit unternommen wird, um »eine Basisbewegung der Befragten als gut oder sehr gut ein,2 und in den Nachbarschaften aufzubauen«. Nur in bei den Parlamentswahlen am 26. Juni 2016 der Verbindung von popularer Gegenmacht schnitt das linke Wahlbündnis insbesonde­ und linker Stadtregierung kann sich eine echte re in den linksregierten Kommunen und Machtoption entwickeln. Dafür müssen Linke Regionen stark ab. Die wichtige Ressource der weiter an Strategien des Munizipalismus arbei­ Glaubwürdigkeit ist durch die Übernahme der ten, die kommunalen Regierungen weiterhin Regierungen auf jeden Fall gewachsen. kritisch begleiten und für weiterreichende Doch was heißt das für den Aufbau von Forderungen kämpfen. Durch das Ausbleiben Alternativen? Zelik sieht diese nur außerhalb eines Wechsels an der Spitze des spanischen existierender Institutionen des bürgerlichen Staats und die gegenwärtigen Machtverhältnis­ Staates: Für Veränderungen sei »nicht die se in der Europäischen Union wird die Lage Ausübung eines Regierungsamts entschei­ nicht einfacher. Es gibt aber keinen Grund, die dend, sondern die Entwicklung sozialer erfolgreiche munizipalistische Option voreilig Gegenmacht«. Und diese wiederum sei »kein aufzugeben. Weitere Widersprüche müssen mediales Ereignis, sondern das Ergebnis von gesurft werden. Selbstorganisierung und Mobilisierung der Bevölkerung«. Dies ist ein zwar sympathi­ sches Verständnis davon, wie gesellschaftliche Literatur Colau, Ada, 2016: Un año en común, https://barcelonaenco­ Veränderungen vonstattengehen, wird aber als mu.cat/es/post/un-ano-en-comun Espinoza Pino, Mario, 2016: Construir movimiento munici­ widerspruchsfrei, unmittelbar, eindeutig und palista, www.diagonalperiodico.net/blogs/funda/const­ vor allem als alternativ zu Regierungsprojek­ ruir-movimiento-municipalista-algunas-hipotesis.html Rodríguez, Emmanuel, 2016: Corresponsabilidad, compane­ ten postuliert. Mit dem Argument, dass bisher ro: doce meses de Ayuntamientos de cambio, in: Peridico eben keine Regierung eine echte Transfor­ Diagonal, 24.5.2016 mation bewirkt habe und es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen kommt, 1 https://conoce.ahoramadrid.org/los- wird der Ansatz, dass es einer Vielfältigkeit votantes-de-ahora-madrid-y-del-psoe-satisfechos- an Strategien, Ebenen und Akteuren bedarf, con-la-gestion-municipal-en-la-capital/ 2 www.eldiario.es/catalunya/barcelona/Colau-volveria- vorschnell aufgegeben. elecciones-despues-apoyos_0_524247889.html

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_LUX_1602.indb 107 25.08.16 11:03 Vom kurzen Flirt zur langfristigen Beziehung

Organisierung im kiez als transformatorisches Projekt

Miriam Pieschke »Wir müssen dahin, wo die Menschen sind. Wir dürfen nicht warten, bis sie irgendwann zu uns kommen. Wir müssen den Alltag zum Thema machen. Wenn wir nicht mit den Men- schen reden, machen es andere.« Angesichts der gegenwärtigen Polarisierung des politischen Feldes fordern viele linke Strateg*innen, le- bensweltliche Anliegen ins Zentrum sozialer Kämpfe zu stellen. Anhand konkreter Ausein- andersetzungen in den Städten und Gemeinden lassen sich gesamtgesellschaftliche Konflikte zuspitzen. Hier sollte eine »dringend notweni- ge soziale und politische Offensive von links« (Wiegand in diesem Heft) ansetzen. Was aber heißt es genau, die »sozialräumliche Prekarisie- rung« (Horst Kahrs) zum Ausgangspunkt eines linken Transformationsprojekts zu machen?

Zu Besuch im ›Brennpunkt‹ Im Stuttgarter Stadtteil Hallschlag sieht es nicht aus wie in einem ›Brennpunktviertel‹: Vierstö- ckige Mehrfamilienhäuser mit meist kleinen Wohnungen, viele in den späten 1920er Jah-

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_LUX_1602.indb 108 25.08.16 11:03 ren gebaut, stehen zwischen Grünflächen, die kalt, was die Bewohnerstruktur des Viertels Straßen sind wenig befahren, die Menschen deutlich verändert. Einen Beitrag hierzu leis- gehen zum Einkaufen oder mit dem Hund tet auch das Förderprogramms »Soziale Stadt«, spazieren. Der Fußballer Fredi Bobic ist hier das der SWSG als »Musterbeispiel für die in aufgewachsen. Und doch ist der Hallschlag Stuttgart praktizierte Innenentwicklung« (so ein sozial benachteiligtes Stadtquartier. Nach der SWSG-Geschäftsbericht von 2015) öffentli- dem Zweiten Weltkrieg diente das Viertel zu- che Mittel zur Verfügung stellt. Zudem führt nächst zur Unterbringung der sogenannten nun eine Straßenbahnlinie bis ins Viertel, die Heimatvertriebenen. Ab den 1970er Jahren den schnellen Zugang zur Innenstadt ermög- zogen Menschen zu, die aufgrund von Anwer- licht. Dabei ist es für die Bewohner*innen beabkommen nach Westdeutschland gekom- des Hallschlags wichtiger, mit dem Bus ins men waren. Viele von ihnen wohnen bis heute Nachbarviertel zu kommen, wo sie ihre Be- dort, ihre Kinder sind oft in der Nachbarschaft sorgungen preiswerter erledigen können. geblieben. Auch einkommensarme Menschen In diesem Viertel unternahm die Partei die LIN- ohne Migrationshintergrund leben hier. Vie- le beziehen Arbeitslosengeld II, der Anteil der Alleinerziehenden liegt über dem Stuttgar- Miriam Pieschke ist Referentin im Projekt »Jenseits ter Durchschnitt, ebenso die Verschuldung. der Prekarität« der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Zuvor hat sie in der außerschulischen Ju- Früher sei es hier auch gefährlich gewe- gendbildung und politischen Erwachsenenbildung sen, heißt es, aber inzwischen sei es ruhig. gearbeitet. Sie interessiert sich für die Frage, wie Lange Zeit war der Hallschlag ein Viertel für sich Alltagskämpfe mit gesamtgesellschaftlichen arme Menschen, die sich das Leben im teuren Anliegen verbinden lassen. Stuttgart nicht leisten konnten. Inzwischen hat die Gentrifizierung Einzug gehalten. Vie- le der ehemaligen Sozialbauten sind jetzt im KE im März 2016 im Vorfeld der Landtagswah- Besitz der Stuttgarter Wohnungs- und Städte- len einen Tag lang einen Anlauf im canvassing baugesellschaft (SWSG), einer GmbH mit ei- – jene Form der aufsuchenden Ansprache, die nem aufsummierten Gewinn der letzten zehn in den USA zum linken politischen Werkzeug- Jahre von über 130 Millionen Euro und einer kasten gehört. Bevor sich die Menschen auf den Eigenkapitalrendite von 4,9 Prozent. Dabei hat Weg zur Partei machen, klingelt diese an ihrer sich im gleichen Zeitraum ihr Bestand um fast Tür. Bei den Gesprächen ging es vor allem um 400 Wohnungen verringert.1 Die SWSG hat die Miete, aber auch um prekäre Arbeitsver- die ›Aufwertung‹ des Viertels zum Geschäfts- hältnisse. Die im Wahlkampf heiß diskutierte modell erhoben: Mieter*innen werden aus Flüchtlingsfrage war kaum Thema, wohl aber, ihren Wohnungen gedrängt, die dann moder- dass viele aus dem Hallschlag nicht wählen ge- nisiert werden. Manchmal werden die Häuser hen. Nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil gleich abgerissen und durch Neubauten er- sie ohne deutschen Pass nicht dürfen. »Ich setzt. Die Miete liegt dann bei bis zu 12 Euro wohne seit über 44 Jahren in diesem Land,

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_LUX_1602.indb 109 25.08.16 11:03 aber mitentscheiden darf ich nicht«, fasste Dies schlägt sich auch in der Alltagserfahrung dies eine Frau zusammen, die in Stuttgart als nieder. So macht es für die Bewohner*innen Altenpflegerin arbeitet. An diesem Frühlings- des Hallschlags tatsächlich kaum einen Un- tag öffneten sich derLINKEN viele Türen und terschied, welche Partei die Landesregierung meist waren die Reaktionen positiv. Vielleicht führt. Alle im Aufsichtsrat der SWSG vertre- liegt das daran, dass hier sonst selten Leute tenen Parteien haben – mit Ausnahme der vorbeikommen, um über Politik zu reden. Es LINKEN – der Wohnungsbaugesellschaft die überrascht nicht, dass es der Partei zwei Wo- Mieterhöhungen gestattet. Das Vertrauen in chen vor dem Urnengang auch um potenziel- die Demokratie geht verloren, wenn nur noch le Wähler*innen ging. Diese vermutet sie vor eine gut organisierte Elite die eigenen Anlie- allem in sozial benachteiligten Stadtvierteln: gen im politischen Prozess durchsetzen kann. Hier wählen Menschen seltener, aber wenn sie Gerade sozial benachteiligte Menschen schei- wählen, dann viel eher die LINKE als anders- nen daher ein recht klares Bild von ihrer po- wo. Und doch ging es im Hallschlag um mehr. litischen Repräsentation zu haben. Gehen sie nicht wählen, dann aus einem nachvollzieh- Prekarisierung als Hindernis baren Grund. Dieser Verlust von Vertrauen in für Beteiligung? die Institutionen des Parlamentarismus trifft Die Wahlbeteiligung im Hallschlag lag bei der auch linke Parteien und Initiativen, sie gelten Landtagswahl 2011 bei 47,1 Prozent. Im Stutt- oft als etabliert und als Teil eines Systems, in garter Durchschnitt lag sie bei 73,1 Prozent. Der dem es egal ist, was mit den Menschen ›da Bezirk gehört zu jenen mit besonders niedriger unten‹ passiert. Nicht die Prekarisierten gehen Wahlbeteiligung, ein Rekordtief gab es bei den so der Demokratie verloren, sondern es ist die Gemeinderatswahlen 2009 mit 22,4 Prozent. Demokratie, die den Prekarisierten und damit Ein Paradebeispiel für kollektive Wahlenthal- überhaupt verloren geht. tung in sozial benachteiligten Stadtvierteln, für »Prekarität erzeugt Menschenhass«, »Klassenwahlverhalten« (Kahrs 2015), bei dem schreibt der französische Stadtforscher Loïc sozialräumliche Prekarisierung und dauerhaf- Wacquant« (2015, 8). Sie untergrabe »die Bereit- tes Nicht-Wählen korrelieren. Eine Studie der schaft, sich mit anderen zu identifizieren und Bertelsmann-Stiftung zur Bundestagswahl 2013 Bindungen einzugehen, und damit die Voraus- stellt fest, dass überdurchschnittlich viele Men- setzung für Solidarität« (ebd.). Doch springt die schen aus sozial schwachen Milieus nicht zur Prekarisierungsforschung hier häufig zu kurz. Wahl gegangen sind (vgl. Schäfer et al. 2013, 13). Der Soziologie Thomas Goes (2015, 430) kriti- Arbeitslosigkeit, Bildungsstand und Kaufkraft siert schon lange die verbreitete Einschätzung, haben maßgeblichen Einfluss auf die Wahlbe- Prekarität sei eine Art unüberwindbares Hin- teiligung, so die Forscher. Die Bundestagswahl dernis für kollektives Interessenhandeln: »Die 2013 war damit »sozial prekär« (ebd.). Das be- empirischen Befunde zeigen deutlich, dass deutet, dass politische Repräsentation hierzu- Annahmen, die eine einseitig disziplinieren- lande eine klassenspezifische Schieflage hat. de, entsolidarisierende und negativ individuali-

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_LUX_1602.indb 110 25.08.16 11:03 sierende Wirkung von Prekarisierungsprozes- se auf direkt und indi- rekt Betroffene nahele- gen, zu kurz greifen.« Goes hatte bei prekär Beschäftigten und ih- ren regulär beschäftig- ten Kolleg*innen nach »Protestrohstoff« ge- sucht. Er fand bei den Befragten verschiedene Ressourcen für Mobili- sierung und Solidarität, darunter auch solche, Besetzung des Vattenfall-Kraftwerrks in der Lausitz, die sich nicht exklusiv gegen Schwächere rich- Ende Gelände 2016, Paul Louis Wagner/350org ten, sondern diese miteinbeziehen (ebd., 434). Wie so oft hängt dies aber von den Handlungs- Werbeflächen und Einkaufzentren, mit seinem bedingungen und von den Perspektiven ab. Fast Food, das wie Luft schmeckt, und jeder Für viele Linke scheint vor diesem Hin- Menge sinnloser Verträge« (Precarias ala Deri- tergrund ein Engagement im direkten Lebens- va 2004). Der Kampf darum, das Wohnviertel umfeld der Menschen, im Stadtviertel, in der zu einer »Sorgegemeinschaft« (ebd.) zu ma- Nachbarschaft erfolgsversprechend. Hier gibt es chen, zu einem Ort des solidarischen Zusam- konkrete Ansatzpunkte für politisches Handeln. menlebens, hat damit einen gleichberechtigten Zudem sind hier die Auswirkungen von Sparpo- Platz neben Kämpfen um Arbeitsverhältnisse. litik und Sozialabbau unmittelbar spürbar, die Nachbarschaft ist der Ort, an dem sich Erfah- Und sie wehren sich doch… rungen von Entsicherung verdichten. Denn der Das zeigt sich auch im Kellerbezirk Hallschlag: zentrale Ort für die Organisierung und Kämpfe Im Viertel gibt es Widerstand gegen Gentrifi- prekarisierter Arbeiter*innen ist »nicht notwen- zierung. Bereits 2009 hat sich eine Initiative digerweise der Arbeitsplatz (wie auch, wenn von Bewohner*innen gegen Mieterhöhungen, dieser oft gleichzeitig das eigene Zuhause ist überzogene Betriebskosten, Modernisierungs- oder das von anderen oder er alle paar Monate androhungen und den Abriss der Wohnhäu- wechselt und die Chance, mit einem Team von ser gegründet. Die Initiative konnte erreichen, Kolleg*innen lange genug zusammenzuarbei- dass die turnusmäßige Mieterhöhung von zehn ten, um einander kennenzulernen, eins zu Tau- auf sechs Prozent gesenkt wurde, einige ge- send ist), sondern das großstädtische Umfeld, plante Häuserabrisse wurden zumindest ver- durch das wir täglich navigieren, mit seinen schoben. Dass die SWSG abrissbedrohte Woh-

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_LUX_1602.indb 111 25.08.16 11:03 nungen auch an Geflüchtete vergibt, konnte (Bourdieu 1982), und genau dieses Gefühl die Initiative ebenfalls für sich nutzen. Denn gilt es zu stärken. Menschen in benachteilig- zu der zunächst befürchteten Entsolidarisie- ten Stadtvierteln sind Expert*innen ihres ei- rung kam es im Hallschlag nicht. Vielmehr genen Lebens, daher bieten ihre Erfahrungen kämpfen alte und neue Mieter*innen inzwi- zentrale Bezugspunkte für die Organisierung. schen gemeinsam darum, ›ihre‹ Häuser zu Wird ihnen zugehört, setzt dies gleichzei- erhalten. Der örtliche Ableger des Unterstüt- tig der politischen Entmutigung etwas entge- zungsbündnisses für die Geflüchteten »Stutt- gen. Parteistrukturen könnten noch stärker gart hilft« arbeitet mit der Mieterinitiative zu- als bisher strukturelle Unterstützung, Ermu- sammen. Und auch die Kleiderkammer im tigung und Ermöglichung bieten. So lässt Hallschlag wurde für alle Menschen geöffnet, sich das bergen, was die Aktivist*innen der ob neu angekommen oder schon lange da. Precarias a la Deriva (2004) bereits vor über In dieser Initiative waren Mitglieder der zehn Jahren als einen Schatz bezeichnet ha- LINKEN schon lange vor der Landtagswahl aktiv. ben: das Verbindende der fragmentierten Ar- Umso glaubwürdiger konnten sie nun an den beiterklasse, dass nicht »einfach da« ist, son- Türen ihrer Nachbar*innen klingeln, alte Kon- dern durch Austausch und Organisierung takte auffrischen und neue knüpfen. Vor dem entdeckt werden muss (vgl. ebd., 43 ff). Hintergrund solcher Erfahrungen will die Um dies praktisch zu machen, lohnt ein LINKE zukünftig stärker darauf setzen, lang- Blick auf die US-amerikanische Tradition des fristig Selbstorganisierungsprozesse in so- Transformative Organizing, das gerade in sozial zial benachteiligten Stadtvierteln zu unter- benachteiligten Stadtvierteln zur Anwendung stützen, wo es sie schon gibt, und sie (mit-) kommt. Denn es bietet beides: Techniken, um anzuschieben, wo sie noch fehlen. Dabei gewinnbare Auseinandersetzungen zu iden- sollen Alltagsanliegen im Mittelpunkt ste- tifizieren und einen Plan zu entwickeln und hen: zu hohe Mieten, schlecht ausgestatte- umzusetzen (»plan to win«). Zugleich bettet es te Schulen, schlechte Anbindung an den öf- diesen Werkzeugkasten ein in eine umfassen- fentlichen Personennahverkehr, fehlende de Perspektive von Gesellschaftsveränderung. Ärzteversorgung und Kitas und so weiter. Das Transformative dieses Ansatzes liegt in Aber diese Strategie wirft in jedem einer Organisierungsstrategie, die linke Gesell- Stadtviertel neue Fragen auf: Welche The- schaftsanalyse, politische Bildung, die Ausein- men brennen den Menschen auf den Nä- andersetzung um soziale Orte, die Kämpfe im geln? Welche Aktivitäten gibt es bereits und um den öffentlichen aum,R neue Formen dazu? Ist die Partei vor Ort schon aktiv? Wie politischer Arbeit und basisdemokratischer Ent- ist ihr Verhältnis zu anderen Initiativen? scheidungsfindung ebenso wie Bündnisarbeit und Aktionsformen miteinander verbindet. Die LINKE im Stadtbezirk War das canvassing wie im Hallschlag Politische Partizipation hängt auch davon ab, eher ein kurzer Flirt, geht es beim transfor- ob Menschen sich handlungsmächtig fühlen mative organizing um den Aufbau einer lang-

112 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 112 25.08.16 11:03 fristigen Beziehung. Mehr werden heißt hier, Zur Inspiration lohnt ein letzter Blick nach linken Antworten auf die Krise und denen, Stuttgart: Die Mieterinitiative geht in ihrer die gemeinsam danach suchen wollen, mehr Auseinandersetzung die nächsten Schritte: Gewicht zu verschaffen. (Selbst-)Organisie- Mit einer großen Kampagne will sie die SWSG rung und deren Unterstützung durch eine dazu bringen, zukünftig auch auf die sechs- Partei sollen also zusammenwirken. Dauer- prozentige Mietsteigerung zu verzichten. Und hafte Präsenz im Alltag kann so dem rechten im Hallschlag hat die LINKE bei den Landtags- Agenda-Setting ein linkes entgegensetzen. wahlen die Fünf-Prozent-Hürde geknackt. Die Bewohner*innen des Hallschlags, die nicht Kampf um Souveränität wahlberechtigt sind, brauchen im Kampf um Die Wahlerfolge autoritär-populistischer Partei- ihre Souveränität allerdings andere Antwor- en zeigen auch, dass eine noch so genaue lin- ten, als dies eine Landtagswahl bieten kann. ke Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse Und so stehen die Aktivist*innen vor der nicht ausreicht, um Menschen für ein linkes Herausforderung, den Kampf um preiswerte Veränderungsprojekt zu gewinnen, sondern Wohnungen mit dem Kampf um mehr Souve- dass es eine Perspektive braucht, die über das ränität aller Bewohner*innen des Viertels zu Kritisierte hinausgeht. Utopiefähig zu sein – ein verknüpfen. Zum Glück gibt es im Hallschlag Jenseits des Bestehenden glaubhaft zu entwer- viele stabile Beziehungen. fen und im Kampf darum einzutreten –, muss daher ein Moment von Organisierungsprozes- Literatur sen sein. Teil einer solchen Zukunftsvision kön- Bourdieu, Pierre, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik nen in prekären Zeiten so dringend benötigte der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. Candeias, Mario, 2016: Demokratie entgren- solidarische Orte im Wohnumfeld sein, Struk- zen, in: LuXemburg 1/2016, 126–127 turen, die von gegenseitiger Sorge getragen Goes, Thomas E., 2015: Zwischen Disziplinierung und Ge- genwehr. Wie Prekarisierung sich auf Beschäftigte werden. Darum lohnt es, gemeinsam zu ringen. im Großhandel auswirkt, Frankfurt a.M./New York So reihen sich Projekte zur Organisierung Kahrs, Horst, 2015: Ziemlich viel Klasse. Prekarisierung und politische Partizipation, in: LuXemburg 1/2015, 74–79 in sozial benachteiligten Stadtvierteln ein in Precarias a la Deriva, 2004: Streifzüge durch die Kreis- Kämpfe um die Zurückgewinnung von Souverä- läufe feminisierter prekärer Arbeit, transversal, http://eipcp.net/transversal/0704/precarias1/de nität auf allen Ebenen der Politik (vgl. Candeias Dies., 2014: Was ist Dein Streik? Militante Streifzü- 2016). Gestaltungsmacht im eigenen Wohnum- ge durch die Kreisläufe der Prekarität, Wien Schäfer, Armin/Vehrkamp, Robert/Gagné, Jérémie Felix, feld zu erringen, kann ein erster Schritt sein. 2013: Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität Dazu reicht ein kurzfristiger Flirt nicht aus, es der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, www. wahlbeteiligung2013.de braucht lange und mühselige Beziehungsar- Wacquant, Loïc, 2015: Schattenseiten einer gespalte- beit, damit eine stabile Basis entstehen kann. nen Stadt. Ein Kaleidoskop der Lebenslagen des ur- banen Prekariats, in: LuXemburg 1/2015, 6–13 Parlamentarische Repräsentation muss mit einer langfristigen­ Alltagsorganisierung kom- biniert werden, bei der lokale Initiativen und 1 Zur SWSG vgl. Fraktionsgemeinschaft SÖS LINKE Plus, Bezirksbeirat Bad Cannstatt (2015), http://soeslinkeplus. die LINKE gleichberechtigt zusammenarbeiten. de/2015/11/antrag-zum-mietpreisstopp-bei-der-swsg/

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_LUX_1602.indb 113 25.08.16 11:03 Wundermittel Volksentscheid? Chancen und Grenzen für die mietenpolitische Bewegung

Stephan Junker, Susanna Raab Steigende Mieten sind für die Menschen in und Hannah Schurian Berlin das beherrschende Thema. In keiner anderen deutschen Stadt steigen sie so rasant. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware und weder der private Wohnungsmarkt noch die kommunalen Wohnungsunternehmen schaffen hier Abhilfe. Diese Situation ist auch ein Ergebnis politischer Entscheidungen: Seit den 1990er Jahren wurden 220 000 landes- eigene Wohnungen privatisiert und jährlich verlieren Tausende weitere Wohnungen die Sozialbindung. Neu sind diese Erkenntnisse nicht, seit Langem prangern stadtpolitische Gruppen und Mieterinitiativen die Wohnungspolitik des Senats an. Mithilfe neuer Organisierungs- prozesse und regelmäßiger Demonstrationen ist es in den letzten Jahren jedoch gelungen, das Thema ganz oben auf die Agenda zu setzen – ein beachtlicher Erfolg, wurde doch vonseiten des Senats lange behauptet, es gebe kein Mietenproblem. Trotz einzelner Erfolge und gewonnener Abwehrkämpfe gegen

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_LUX_1602.indb 114 25.08.16 11:03 Zwangsräumungen und Privatisierungen gemischtes Fazit. Wir wollen im Folgenden konnte jedoch kein wirklicher Kurswechsel nicht nur über den konkreten Verlauf der erreicht werden – erst recht keiner, bei dem Kampagne und den MVE im Spannungsfeld die Berliner*innen hätten mitreden dürfen. zwischen realpolitischem Teilerfolg und Der Unmut über die Ignoranz der Politik der Gefahr einer Vereinnahmung durch die kam 2014 im Volksentscheid zum Erhalt des Senatspolitik reflektieren, sondern allge- Tempelhofer Felds zum Ausdruck: Die Bebau- mein über real- und bewegungspolitische ungspläne des Senats wurden mit eindeu- ­Potenziale und Beschränkungen von Volks- tigem Votum abgelehnt. In dieser Situation entscheiden. entstand die Idee eines Mietenvolksentscheids (MVE), der die Wut der Berliner*innen auf Worum ging es im die Senatspolitik aufgreifen und dieser eine Mietenvolksentscheid? politische Stimme geben sollte. Der Mietenvolksentscheid zielte auf einen Wie schon im Volksentscheid zur Berli- Gesetzentwurf für eine neue soziale Wohn- ner Energieversorgung 2013 beteiligte sich die raumversorgung und beruhte auf drei Säulen: Interventionistische Linke Berlin (IL) an dem entsprechenden Bündnis. Verschiedene Über- legungen spielten hier eine Rolle: Wir sahen Stephan Junker ist in der Interventionistischen die Möglichkeit, konkrete Verbesserungen zu Linken (IL) aktiv und war für diese im Koor- dinierungskreis des Mietenvolksentscheids. erkämpfen, die die Verdrängung zumindest Außerdem schreibt er seine Masterarbeit zu abschwächen und die Mieterbewegung in die Klassenpositionen und Klasseninteressen. Offensive bringen würden. Wir sahen außer- Susanna Raab ist angehende Sozialwissenschaft- dem das Potenzial, verschiedene Kämpfe in lerin. Auch sie war für die IL Berlin im Koordinie- der Stadt zu bündeln und sie insbesondere rungskreis des Mietenvolksentscheids. über das linke Spektrum hinaus zu erweitern. Hannah Schurian ist seit Juli 2016 Referentin für soziale Infrastrukturen im Institut für Gesell- Schließlich wollten wir über den Gesetzent- schaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. wurf hinaus die Richtungsforderung nach Wie die beiden anderen war sie mit der IL Berlin einer Vergesellschaftung von Wohnraum am Mietenvolksentscheid beteiligt. stärken.1 Wir begriffen das Ganze als ein Projekt »revolutionärer Realpolitik« im Sinne Rosa Erstens sollte ein fest finanzierter ohnW - Luxemburgs. Ein Projekt, das einerseits auf raumförderfonds den Ankauf und Neubau konkrete Verbesserung zielt, aber gleichzeitig von Wohnungen ermöglichen, die von sechs auf einen Prozess der Veränderung und landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Organisierung, der schrittweise die Grenzen verwaltet werden sollten. Zweitens sollten des politisch Machbaren verschieben kann. diese Wohnungsbaugesellschaften in Anstal- Gut eineinhalb Jahre nach dem Start ten öffentlichen Rechts umgewandelt werden des Mietenvolksentscheids ziehen wir ein und sich damit an einer gemeinwohlorientier-

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_LUX_1602.indb 115 25.08.16 11:03 ten Wohnraumversorgung statt an Rendi- Die Tücke des Gesetzes: Realpolitik tezielen orientieren. Dies sollte auch mehr und Richtungsforderungen öffentliche ontrolleK und Mitbestimmung Die Stärke des Volksentscheids, konkret der Mieter*innen ermöglichen. Das dritte umsetzbare Maßnahmen zur Abstimmung Element war ein einkommensabhängiges zu stellen, war auch eine große Schwierigkeit. Sozialwohngeld für die Mieter*innen im alten Damit ein Gesetzesvorhaben wenig Angriffs- sozialen Wohnungsbau, die akut von Verdrän- fläche bietet und schnell die formalen Hürden gung bedroht sind. nimmt, müssen enge rechtliche Vorgaben Diese Idee zog zahlreiche Interessierte erfüllt sein.2 So mussten die Kernforderungen an. Ein breites Bündnis aus Gruppen und schon zu Beginn in einem schmerzhaften Einzelpersonen traf sich in einem wöchent- Prozess zurechtgestutzt werden. Wegen be- lichen Aktivenplenum, während ein Koordi- stimmter landesrechtlicher Einschränkungen nierungskreis (Ko-Kreis) für Ansprechbarkeit entschied das Bündnis, sich auf den kommu- nach außen sorgte und für die Infrastruktur nalen und sozialen Wohnungsbau zu konzen- zuständig war. Als IL Berlin waren wir in trieren. Der gesamte private Wohnungsmarkt beiden Gremien präsent. Andere tragende blieb so außen vor, und damit drei Viertel der Gruppen waren die Initiative Kotti & Co, die Mietwohnungen in Berlin. Wichtige Forde- seit mehreren Jahren Sozialmieter*innen am rungen und stadtpolitische Akteure konnten Kottbusser Tor in Kreuzberg organisiert (vgl. folglich nicht eingebunden werden. Die IL Kaltenborn in LuXemburg 4/2012), sowie Berlin hatte deshalb vor, den Volksentscheid Aktive des linken Studierendenverbandes durch eine Kampagne zu begleiten, die wei- SDS und eine Reihe von Einzelpersonen. Die terreichende Forderungen hätte thematisieren im Ko-Kreis eingebundenen Expert*innen können. Diese nahm jedoch nie an Fahrt spielten von Beginn an eine zentrale Rolle auf – auch weil die anstehenden Aufgaben und waren maßgeblich an der Formulierung und erforderlichen Diskussionen im Bündnis des komplexen Gesetzestexts beteiligt. fast alle unsere Ressourcen banden. Ein Volksentscheid folgt einem strikten Wir sahen in dem Gesetzentwurf Zeitplan. Um ein Gesetz zur Abstimmung dennoch viel Potenzial und den Grundstein stellen zu dürfen, müssen in zwei Phasen für eine soziale Wohnraumversorgung. Unterschriften gesammelt werden. Schon Zugleich versuchten wir, möglichst weitge- in der ersten Phase zeigte sich das große hende Richtungsforderungen zu verankern, Mobilisierungspotenzial. Eine Vielzahl von deren Umsetzung vielleicht nicht reibungslos Gruppen und Einzelpersonen beteiligte sich, funktioniert hätte, die aber das Potenzial die Presseresonanz war groß und die Dyna- gehabt hätten, einen Transformationsprozess mik beachtlich. Statt der geforderten 20 000 anzustoßen. Solche Forderungen sind jedoch konnten bereits nach sieben Wochen 50 000 insofern juristisch riskant, als immer die Unterschriften an die Senatsverwaltung Gefahr besteht, dass das gesamte Verfahren übergeben werden. aus formalen Gründen gekippt wird. Ent-

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_LUX_1602.indb 116 25.08.16 11:03 sprechend waren sie im Bündnis umkämpft. Ende Gelände 2016, Paul Louis Wagner Zusätzlich steckt der Teufel im Detail: Wie etwa demokratisiert man eine städtische im Verwaltungsrat der neu zu schaffenden Wohnungsbaugesellschaft? Wie lassen sich Anstalten öffentlichen Rechts zuzusichern, die Interessen der aktuellen und potenziel- erschien vielen als zu weitgehend, weil es len Mieter*innen vereinbaren, wie die der unter Umständen die Regelungskompetenz Beschäftigten mit denen von stadtpolitischen des Gesetzentwurfs überschritten hätte. Bewegungen? Die Interessenlagen sind Nicht nur an diesem Beispiel wird komplex, und es war notwendig, auch andere deutlich, dass das Projekt, ein neues Gesetz Akteure in der Stadt wie etwa ver.di oder den zu formulieren, tendenziell dazu zwingt, sich Flüchtlingsrat Berlin einzubinden. Genau die Logiken der herrschenden Institutionen hier liegt eine Chance des Volksentscheids: weitgehend zu eigen zu machen. Die eigenen Er kann Diskussionsräume öffnen, um Forderungen müssen entsprechend möglichst solche Richtungsforderungen gemeinsam zu passförmig zu bestehenden Strukturen entwickeln und konkret auszubuchstabieren. formuliert werden, können diese kaum Mit weitgehenden Demokratisierungsfor- überschreiten. Beispielhaft ist hier auch die derungen konnten wir uns allerdings nicht Orientierung an Durchschnittsmieten als durchsetzen: Dem Senat keine Mehrheit Maßstab für Mietsubventionen im sozialen

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_LUX_1602.indb 117 25.08.16 11:03 Wohnungsbau: Während die Durchschnitts- same Lernprozesse und eine Politisierung der miete eine dynamische Größe ist, die eine Auseinandersetzung ermöglicht? Gelungen Mietsteigerung langfristig nur verlangsa- ist eine solche Beteiligung dort, wo sich neue men, aber nicht aufhalten kann, wäre eine Kiezgruppen rund um bestehende Initiativen Mietobergrenze hier eine sehr konkrete und formiert haben, die nicht nur Unterschriften zugleich radikalere Forderung gewesen. sammeln, sondern auch andere Aktivitäten Um solche Abwägungen zu treffen, in Angriff nehmen wollten. Zusätzlich haben braucht es nicht (allein) juristische Sach- wir versucht, eine zentrale Struktur aufzu- kenntnis und Fachdebatten, sondern auch ei- bauen, die Interessierte mit Informationen, ne politisch-strategische Auseinandersetzung. Einladungen, Kontaktadressen versorgt – also Diese zu organisieren ist jedoch schwer, wenn auch diejenigen mitnimmt, die sich nicht das Machbare im Vordergrund steht und sich in bestehenden (Basis-)Gruppen zu Hause die neu eröffnete Diskussionsräume schnell fühlen. Eine Beteiligung der Vielen über das wieder bürokratisch schließen. Sammeln hinaus war aber schwierig. Außer- dem gelang es uns nicht, das Aktivenplenum Movement-Building per Volksentscheid? zu einem zentralen Ort der strategischen Als IL verfolgten wir von Anfang an zwei Diskussion zu machen, mit dem Ergebnis, parallele Ziele: realpolitische Erfolge und die dass am Ende Detailwissen und fachliche Stärkung der mietenpolitischen Bewegung. Kompetenz nur bei Wenigen lagen. Es wäre Beides hing eng zusammen: Gerade Men- hier eine Vermittlungsebene nötig gewesen: schen, die sich nicht als linke Aktivist*innen Neben den fachpolitischen Expert*innen und verstehen, engagieren sich vor allem dann, Aktivist*innen hätten wir mehr Menschen wenn sie konkret etwas erreichen können. gebraucht, die die Fachfragen hätten so über- Eine Radikalisierung von Forderungen kann setzen können, dass sie für andere politisch so auch als Lernprozess in gemeinsamen diskutierbar geworden wären. Dass genau Kämpfen erst entstehen. Wir haben erlebt, das fehlte, fiel in der Anfangsphase wenig welche Mobilisierungskraft von einer Initia- ins Gewicht. Es rächte sich jedoch, als unser tive ausgeht, die ein Anliegen von Menschen Gegenüber die Strategie änderte und wir als trifft, das politisch nicht repräsentiert ist. Bündnis reagieren mussten. Keine der Parteien in Berlin steht für einen mietenpolitischen Paradigmenwechsel. »Wo In der Falle: Einbindung kann ich gegen steigende Mieten unterschrei- statt Ermächtigung ben?«, war eine häufig gehörte Frage an Im Sommer 2015 sah sich der Mietenvolks- unseren Info-Ständen. entscheid mit einer Strategie der Einbindung Am Unterschriftensammeln kann sich und Einschüchterung konfrontiert. Die SPD jede*r beteiligen. Was aber heißt Beteiligung bot Gespräche an und versprach eine mieten- über das Sammeln hinaus? Wie kann ein Mit- politische Kurskorrektur in Form eines Geset- mach-Volksentscheid aussehen, der gemein- zes zur sozialen Wohnraumversorgung, mit

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_LUX_1602.indb 118 25.08.16 11:03 der einige unserer Forderungen aufgegriffen Aufbau von Gegenmacht auch im anstehen- werden sollten. Zugleich drohte sie mit einer den Wahlkampf weiter erschweren würde. Klage vor dem Landesverfassungsgericht, Es wäre in dieser zugespitzten Situation sehr die aufgrund unvorhergesehener rechtli- hilfreiche gewesen, wenn wir unterschied- cher Schwächen des Gesetzestextes sogar liche Szenarien und unsere Perspektiven aussichtsreich gewesen wäre. Das Bündnis darauf bereits im Vorfeld der Kampagne sah sich in einer Zwickmühle: Auf der einen diskutiert hätten. Seite bestand die Gefahr, sich in jahrelangen juristischen Streitigkeiten aufzureiben und Was bleibt? Versuch einer Bilanz das politische Momentum zu verlieren; auf Es bleibt umstritten, ob der MVE als Erfolg der anderen Seite die Möglichkeit, einen oder Scheitern, Etappensieg oder Rückschlag Teilerfolg zu erreichen, dabei aber der SPD zu werten ist. Argumente lassen sich für alle Wahlkampfhilfe zu leisten und eine Schwä- Einschätzungen finden. Für unsere Bewer- chung der mietenpolitischen Bewegung in tung ist nicht zuletzt die Art und Weise der Berlin zu riskieren. Entscheidungsfindung relevant. ieW mit den Eine vom Ko-Kreis bestimmte Gesprächs- Angeboten von SPD und Senat umzugehen gruppe nahm an den Verhandlungen teil. ist, wurde beispielsweise nicht mit allen am Es gelang jedoch auch hier nicht, zugleich Bündnis Beteiligten diskutiert und erst recht eine breite Diskussion in den Strukturen des nicht gemeinsam entschieden. Manche hätten Bündnisses und darüber hinaus zu führen. lieber eine öffentliche Konfrontation mit der Dies hätte Zeit erfordert und wäre der SPD gesucht, anstatt hinter geschlossenen Tü- Forderung der SPD nach Vertraulichkeit und ren zu verhandeln. Eine andere Option wäre schnellen Entscheidungen zuwidergelaufen. gewesen, jenseits von Verhandlungstisch und In dieser Situation auf die Bremse zu treten Verfassungsgericht mit der Unterschriften- und einen anderen Modus einzufordern, war sammlung für einen neuen Gesetzesentwurf nicht einfach und ist zumeist unvereinbar mit Druck aufzubauen. Diese Debatten nicht dem politischen Angebot, auf ›Augenhöhe‹ zu gemeinsam geführt zu haben, war ein verhandeln. folgenschwerer Fehler. So ließ ein Projekt, Am Ende der Verhandlungen stand das ursprünglich auf Selbstorganisierung und ein von der Mehrheit der Gesprächsgruppe Selbstermächtigung abzielte, erneut das Ge- unterstütztes Kompromissgesetz. Im Bündnis fühl entstehen, dass andere entscheiden. Die gab es jedoch heftige Kontroversen, in denen Mobilisierung der Vielen droht so zu einem auch die unterschiedlichen Perspektiven der Instrument zu werden, um ›auf Augenhöhe‹ Akteure deutlich wurden: Während für die mit der Politik zu agieren – die Ermächtigung einen vor allem konkrete Verbesserungen wie gerät als Ziel aus dem Blick. Das ist eine etwa Mietsenkungen im sozialen Wohnungs- problematische Form der Realpolitik, die auf bau ausschlaggebend waren, sahen wir als IL ein konkretes Ziel fokussiert und langfristige darin eine Vereinnahmungsstrategie, die den Veränderungen ausblendet.

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_LUX_1602.indb 119 25.08.16 11:03 All das ist nicht der bösen Absicht Einzelner werden weiterhin vor allem private Investoren geschuldet, sondern hängt auch mit dem gefördert, sodass wir es eher mit der sozialen Instrument des Volksentscheids zusammen Abfederung einer weiter auf privatwirtschaftli- und mit den damit verbundenen Arbeits- ches Wachstum setzenden Standortpolitik zu strukturen. Dem explizit entgegenzuwirken tun haben. und demokratische Entscheidungsprozesse Bewegungspolitisch besteht die Gefahr, zu organisieren, bedeutet viel Arbeit. Offene dass ein anfänglicher Erfolg im Nachhinein und einladende Strukturen ergeben sich nicht zur Niederlage wird. Statt des Gefühls der von selbst, sondern müssen aufgebaut und Ermächtigung blieb bei vielen Ernüchterung: ›gepflegt‹ werden. Diese sollten jedoch als Das ›Abfanggesetz‹ erscheint als Ergebnis von wichtige Ressource statt als Bürde betrachtet Expertengesprächen, nicht als gemeinsam und die damit verbundenen Aufgaben auf erkämpfter Etappensieg. Ob der MVE lang- vielen Schultern verteilt werden. Nur so fristig eher demobilisierend wirkt oder die ist es möglich, Wissen weiterzugeben und Mieterbewegung vorangebracht hat, ist jedoch damit auch einen produktiven Umgang mit offen. Der Weg zu einer grundlegenden Widersprüchen, der Komplexität der Heraus- ­Veränderung der Verhältnisse ist schließlich forderungen und möglichen Rückschlägen zu nicht linear und schließt zyklische Lernerfah- finden (vgl. Zelik sowie Bruchmann/Candeias rungen ein. in diesem Heft). Zum Schluss die Frage: Lässt sich das Realpolitisch betrachtet war der Mie- Instrument des Volksentscheids für grund- tenvolksentscheid ein Teilerfolg: Das im legende politische Veränderung nutzen? Wie November 2015 verabschiedete »Gesetz über wir gesehen haben, sind die Ansprüche an ein die Neuausrichtung der sozialen Wohnraum- solches Projekt unterschiedlich. Entscheidend versorgung in Berlin« sieht eine (wenn auch ist aus unserer Sicht, die Durchsetzung von unzureichende) Mietsubvention für einkom- konkreten Verbesserungen und die langfristi- mensschwache Haushalte im sozialen Woh- ge Stärkung einer Bewegung als Ziele zusam- nungsbau und eine Ausweitung von Krediten menzudenken. In einem Widerspruch stehen zur Schaffung von ozialwohnungenS vor.3 sie dann, wenn die Reform zum alleinigen Weitere Zugeständnisse sind die Festschrei- Ziel wird und weitergehende Möglichkeiten bung des sozialen Versorgungsauftrages der aus der Hand gegeben werden. Es geht nicht kommunalen Wohnungsunternehmen sowie allein darum, die Lage zu verbessern, sondern die erstmalige Verankerung eines Mitsprache- auch darum, in gemeinsamen Kämpfen rechts der Mieter*innen. Zusätzlich wurden die Grenzen von Reformen zu erkennen millionenschwere Investitionen zur besseren und schrittweise radikalere Forderungen zu Wohnraumversorgung beschlossen. Mieten- entwickeln. Um das Instrument des Volks- politisch ist all das dennoch kein großer Wurf. entscheids für eine solche Politik nutzbar zu Es fehlen strukturelle Veränderungen und ein machen, muss aber dieses Spannungsfeld neues stadtpolitisches Leitbild. Mit mehr Geld bewusst sein. Wir müssen Strukturen entwi-

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_LUX_1602.indb 120 25.08.16 11:03 ckeln, die nicht nur konkrete Verbesserungen Für unsere zukünftige Kampagne gilt es nun, erkämpfen, sondern auch Erfahrungen der vielfältige und niedrigschwellige Anknüp- Ermächtigung organisieren. fungsmöglichkeiten zu bieten – sowohl inhaltlich wie aktionistisch. Trotz der Zuspit- Wie weiter? zung auf Richtungsforderungen müssen viele Wie könnte ein Neuanfang nach dem MVE in konkrete Forderungen Platz haben. Gerade in Berlin aussehen? Um eine breite politische der Planung ist es wichtig, vielfältige Aktions- Diskussion darüber zu führen, haben wir im formen zuzulassen und zu fördern. Begonnen Februar 2016 eine stadtpolitische Aktivenkon- haben wir im Juni 2016 mit einer Social- ferenz organisiert. Ziel war es, eine Kampagne Media-Kampagne und Aktion zum symboli- zu entwickeln, um den Senat im kommenden schen Einzug ins millionenschwere Berliner Wahlkampf unter Druck zu setzen und dem Stadtschloss und mit der Ausarbeitung eines Eindruck entgegenzuwirken, die SPD habe wohnungspolitischen Forderungskatalogs. die mietenpolitische Frage ›gelöst‹. Zugleich Die Zuspitzung bei gleichzeitiger Breite und wollten wir die mietenpolitische Bewegung Vielfalt bleibt eine Herausforderung, auch nach dem Volksentscheid wieder zusammen- weil in Berlin weiterhin viele stadtpolitische führen, und hier aus unseren Erfahrungen Gruppen unverbunden nebeneinander her lernen. Schon in der Planung bemühten wir arbeiten. Der Mietenvolksentscheid war hier uns, offen mit möglichst vielen Akteuren trotz aller Unzulänglichkeiten eine wichtige zu kommunizieren, sie zur Vorbereitung Erfahrung, die gezeigt hat: In einem breiten einzuladen und nach ihren Ideen zu befragen. Bündnis kann die stadtpolitische Bewegung Zugleich ist klar, dass wirkliche Beteiligung Ungeahntes erreichen. und Mitverantwortung nicht allein durch offe- ne Einladungen und Ideenabfragen entstehen. Vielmehr bedarf es der persönlichen Über-

zeugungsarbeit in kleineren Treffen, für die es 1 Zum Konzept der Vergesellschaftung, wie es in der weiterhin oft an Kapazitäten fehlt. Interventionistischen Linken diskutiert wird, vgl. http:// gruppedissident.blogsport.de/images/vergesellschaftung_il- Dennoch ist es auf der Konferenz gelun- web.pdf gen, ein gegenseitiges Vertrauen wiederher- 2 Langwierige Prüfungen oder Verfassungsklagen hätten etwa dazu führen können, den anvisierten Abstimmungster- zustellen. In den Strategiedebatten wurden min, die Abgeordnetenhauswahl 2016, zu verfehlen. Dies ist gemeinsame Linien deutlich: eine Stärkung eine bekannte Verzögerungstaktik des Berliner Senats, um Volksbegehren an der niedrigen Wahlbeteiligung scheitern und Demokratisierung des öffentlichen zu lassen. So geschehen im Fall des Energievolksentscheids Wohnungsbestands und das Zurückdrängen 2013. 3 Vgl. hierzu eine kritische Bewertung der Mieterinitia- profitorientierter Investoren. Mit der Forde- tive Kotti & Co unter: https://kottiundco.net/2015/10/09/ rung nach »Wohnraum für Alle« haben wir unglaublich-fuer-berlin-trotzdem-nicht-genug/ 4 Die Kampagne »Wohnraum für Alle« ist Teil des die Wohnungsfrage für Geflüchtete mit der Zusammenschlusses »Berlin für Alle«, in dem sich unter- allgemeinen Wohnungsmisere zusammenge- schiedliche Initiativen gemeinsam für soziale Rechte und den Ausbau einer sozialen Infrastruktur engagieren. Infos bracht (vgl. Wiegand in diesem Heft).4 unter: http://berlinfueralle.org/

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_LUX_1602.indb 121 25.08.16 11:03 D as rote Wien Sozialistische Stadt im konservativen Staat

Veronika Duma und Das Rote Wien (1919–1934) stellt bis heute Hanna Lichtenberger für verschiedene progressive Kräfte einen emphatischen oder auch kritisch-solidarischen Orientierungspunkt linker Stadtpolitik dar. International war und ist das gesellschaftspo- litische Reformprojekt der Zwischenkriegszeit vor allem durch den sozialen Wohnungsbau bekannt. Aber auch umfassende Reformen in der Sozial- und Gesundheitspolitik sowie ein breit angelegtes Erziehungs-, Kultur- und Bildungsprogramm charakterisierten das kommunalpolitische Projekt bis zu dessen Zerschlagung im Jahr 1934. Das Rote Wien war eine historisch spezifische, sozialdemokratische Antwort auf noch heute aktuelle gesellschaftspolitische Fragen, wie jene nach der Verteilung des ge- sellschaftlichen Reichtums, nach dem Zugang zu sozialer und öffentlicher Infrastruktur oder der (Re-)Organisation der Reprodukti- onsarbeit. Vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen linker (Stadt-)Politik – den Kämpfen um das Recht auf Wohnen, den

122 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 122 25.08.16 11:03 Anti-Austeritäts-Protesten oder Strategien erlangte die Sozialdemokratie die Mehrheit gegen Rechts – richten wir den Blick auf die- der Stimmen. Von der bis 1920 auf Bundes- ses historische Projekt der Kommunalpolitik ebene bestehenden Koalitionsregierung aus inmitten der krisenhaften Zwischenkriegszeit Sozialdemokratie und konservativ-katholischer sowie auf die Frage nach den Möglichkeiten Christlich-Sozialer Partei wurden wohlfahrts- und Grenzen fortschrittlicher Stadtpolitik in und sozialstaatliche Maßnahmen durchge- einem konservativ regierten Staat. setzt, die eine unmittelbare Verbesserung der Lebensverhältnisse bedeuteten, etwa der Acht- Entstehungs- und Durchsetzungs- stundentag, bezahlter Urlaub, das Betriebs- bedingungen rätegesetz, die Gründung der Arbeiterkammer Noch heute prägen die Bau- und Infrastruk- oder ein Gesetz zum Mieter*innenschutz. turmaßnahmen der Zwischenkriegszeit das Befördert wurde das Reformprojekt zudem Stadtbild Wiens. Auch in anderen europäi- durch die Beschaffenheit der österreichischen schen Städten wie Frankfurt am Main (Neues Sozialdemokratie. Deren Stärke beruhte vor Frankfurt) oder Zürich (Rotes Zürich) wurden nach dem Ersten Weltkrieg städtische Reform- projekte angestoßen, keines war jedoch derart Veronika Duma ist Historikerin und wissenschaft­ umfassend angelegt wie das des Roten Wiens. liche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Universität Wien. Eine zentrale Bedingung für die Durchset- zung des Projekts war eine starke Arbeiter-, Hanna Lichtenberger ist Politologin und Histori­ kerin. Sie arbeitet am Institut für Politikwissen­ Frauen- und Rätebewegung nach dem Ersten schaften der Universität Wien. Weltkrieg. Die gesellschaftspolitische Situation war geprägt von Hunger, massiver Arbeits- und Wohnungslosigkeit sowie einer politi- allem auf der organisatorischen Integration schen Polarisierung. Gegen Kriegsende erlebte verschiedener radikaler und revolutionärer das Land eine Welle von Demonstrationen Strömungen. Während Teile der Partei und Streiks. In den Fabriken und Stadtteilen mit dem politischen Gegner verhandelten, Wiens, aber auch in anderen Industriege- konnten sie diesem zugleich mit dem Druck bieten wurden nach dem Vorbild der Russi- der Bewegungen Zugeständnisse abringen schen Revolution sowie der Räterepubliken (Perspektiven 2010). In diesem Zusammen- in Deutschland und Ungarn Arbeiterräte hang spielte auch der bis heute bestehende gebildet. Die sozialrevolutionäre Situation Bezug auf die Einheit der Partei eine große nach dem Zerfall der Monarchie eröffnete den Rolle. Anders als in Deutschland gab es Raum für gesellschaftliche Veränderungen. keine großen Abspaltungen und die Kom- Mit der Ausrufung der Republik Österreich im munistische Partei konnte sich neben der November 1918 wurde das lang umkämpfte Sozialdemokratie – abgesehen von der Zeit allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer der Illegalität unter Austrofaschismus und und Frauen realisiert. In den ersten Wahlen Nationalsozialismus – nicht behaupten. Bei

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_LUX_1602.indb 123 25.08.16 11:03 den Wiener Gemeinderatswahlen erreichte die Stadtpolitik in der Zwischenkriegszeit Sozialdemokratie stets die absolute Mehrheit. Der Fokus der Sozialdemokratie richtete sich Die Stimmengewinne bedeuteten, dass nicht auf den Aufbau des kommunalpolitischen nur Arbeiter*innen sozialdemokratisch wähl- Projekts in Wien. Umstrukturierungen in ten, sondern die Partei auch Stimmen aus den allen Lebensbereichen sollten den »neuen neuen Angestelltenschichten des öffentlichen Menschen« formen und die Antizipation einer und privaten Sektors an sich binden konnte. sozialistischen Gesellschaft in einer Stadt Zugleich zeigten sich rasch die Heraus- ermöglichen. Die ideologische Grundlage forderungen einer sozialistischen Stadt im dieses Ansatzes war der Austromarxismus: konservativen Staat. Die Partei war außerpar- Ein Projekt zwischen Revolution und Reform lamentarisch – durch den Schutzbund (ihr anstrebend, sollte die Sozialdemokratie über militärischer Arm), die Gewerkschafts- und den Weg des Stimmzettels zum Sozialismus Arbeiterbewegung auf der Straße und in den schreiten. Die politische Strategie konzentrier- Betrieben – präsent, ihre Stellung im Roten te sich darauf, in der Stadt Hegemonie aufzu- Wien stellte einen realen Machtfaktor dar. Die bauen (Rabinbach 1989). Stadt verfolgte ein politisches Projekt, das im Die Stadtregierung intervenierte mit Gegensatz zum Kurs der Bundesregierung einem massiven Investitions- und Infrastruk- und teilweise auch zum Verhalten der stärker turprogramm in die wirtschaftliche Krise der reformistisch-konsensorientierten Bundes- Nachkriegszeit. Sie tat dies von Beginn an partei der Sozialdemokratie stand. Das Rote unter massiver Kritik bürgerlicher und rechter Wien war jedoch von konservativ dominierten Kräfte. In der Opposition zur Politik der So- Bundesländern umgeben. Bereits zu Beginn zialdemokratie fanden die Bundesregierung, der 1920er Jahre verschob sich das Kräftever- der Hauptverband der Industrie, Banken, hältnis sukzessive zuungunsten der Arbeiter- Unternehmen, die Kirche und die faschisti- und Frauenbewegung, in der öffentlichen schen und paramilitärischen Verbände der Debatte wurde der Aufruf wiederholt, den Heimwehren zusammen (Tálos/Manoschek »revolutionären Schutt« zu entfernen. Nach 2005, 8). dem Ende der Koalition 1920 war die Sozial- Die finanzielle Basis für die Reformen demokratie zudem an keiner Bundesregierung schuf die Stadtregierung durch eine breit an- mehr beteiligt. 1922 weitete sich – ähnlich wie gelegte steuerliche Umverteilung. Möglich war in Deutschland – die kriegsbedingte Inflation dies, nachdem Wien im Jahr 1922 zu einem aus. Der Währungsverfall endete erst, als der eigenen Bundesland geworden war und damit Völkerbund deklarierte, die Garantien für in der Steuerpolitik einen größeren Hand- eine Auslandsanleihe zu übernehmen. Der lungsspielraum gewonnen hatte. Die nach Plan zur ›Sanierung‹ des Staatshaushaltes dem Finanzstadtrat Hugo Breitner benannte sah Einnahmensteigerungen und Ausgaben- Breitner-Steuer wurde auf Luxusgüter und senkungen vor, die zulasten breiter Teile der -konsum wie Automobile, Pferde(rennen) oder Bevölkerung durchgeführt wurden. Hauspersonal erhoben. Zentral war zudem

124 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 124 25.08.16 11:03 die sozial gestaffelte Wohnbausteuer, die Der Karl-Marx-Hof ist einer der bekanntesten Bauten des Roten Wiens und beherbergt neben Wohnungen für etwa insbesondere auf Villen und Hausbesitz zielte, 5 000 Menschen zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen wie Wohnungen von Arbeiterhaushalten aber Wäschereien, Bäder, Kindergärten, eine Bibliothek, Arztpraxen und Geschäftslokale. Keith Ewing/flickr mehr oder weniger unbelastet ließ. Mithilfe eines breit angelegten Kon- junkturprogramms wurde massiv in die modernen Pflegeheimen und der allgemeinen soziale und öffentliche Infrastruktur und in medizinischen Versorgung. Die Stadtverwal- Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen investiert tung trieb eine Schulreform mit reformpä- sowie im Reproduktionsbereich eine Welle der dagogischen Ansätzen voran und baute das Kommunalisierung und Verstaatlichung in Angebot der Erwachsenenbildung aus. Überall Gang gesetzt. Das kam vielen der heute unter wurden Bibliotheken, oft in Gemeindebau- dem Begriff Care verhandelten Bereiche – von komplexen, eröffnet. Ein weitverzweigtes Netz der Sozialpolitik über die Pflege und Versor- an öffentlich subventionierten Vereinen hatte gung bis hin zur Erziehung und Bildung – in sich die kulturelle Bildung der Gesellschaft Form von infrastrukturellen Maßnahmen und auf die Fahnen geschrieben und vertrat damit beträchtlichen Ressourcen zugute. Es erfolgte ein umfassendes Erziehungs- und Moder- der Ausbau von Fürsorge- und Betreuungsein- nisierungsprojekt. Zugleich wurde über die richtungen für Kinder und Jugendliche, von Errichtung neuer Brücken, Straßen, Parks und

Verbreitern | Luxemburg 2/2016 125

_LUX_1602.indb 125 25.08.16 11:03 Promenaden die städtebauliche Umgestaltung nahmen fungierten zugleich als Arbeitsbe- vorangetrieben. (Weihsmann 2002; Podbrecky schaffungsprogramm. Die Stadtregierung 2003, Mattl 2000) unterstützte auch die Siedlungsbewegung, wobei tendenziell eher Skepsis gegenüber Entkommodifizierung des Wohnraums dem Modell des Ein- und Mehrfamilienhauses und sozialer Wohnungsbau bestand. Gemeindebauten setzten sich als do- Im 19. Jahrhundert war Wien, damals minierende Bauform durch. Die bürgerlichen Reichshaupt- und Residenzstadt der K.-u.-K.- Kräfte wetterten gegen die Geldverschwen- Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, mit dung der »roten Burgen«, denen eine mili- über zwei Millionen Einwohner*innen zu tärische Funktion unterstellt wurde. Als die einer Großstadt angewachsen. 1910 war Wien Bauarbeiten am Karl-Marx-Hof begannen, der nach London, New York, Paris und Chicago um die 1 400 Wohnungen umfasste, hieß es, die fünftgrößte Stadt weltweit. Arbeitsmigra- dieser drohe einzustürzen. Als das berühmte tion aus verschiedenen Teilen der Habsbur- Amalienbad entstand, warnte man davor, die germonarchie ließ das industrielle Zentrum Ausstattung würde von den proletarischen expandieren. Überbelegte Wohnungen in Nutzer*innen gestohlen werden. Häusern der Gründerzeit ohne Licht und Bei den im Roten Wien errichteten Luftzufuhr, Elendsviertel und Zinskasernen, Gemeindebauten handelte es sich um in denen mehrere Generationen auf kleins- mehrgeschossige Wohnblocks, deren begrünte tem Raum hausten, waren Kennzeichen der Innenhöfe Licht und Sonne garantieren sowie Wohn- und Lebensverhältnisse breiter Teile ein Gemeinschaftsgefühl und Solidarität unter der Bevölkerung. Die Mieten waren hoch, den Bewohner*innen stärken sollten. Die sogenannte Bettgeher wechselten Schlafstel- Wohnblöcke waren an lokale Infrastruktur- len im Schichtbetrieb, und die als Wiener einrichtungen wie Konsumgenossenschaften Krankheit bezeichnete Tuberkulose oder die und Bildungseinrichtungen angeschlossen, typische Proletarierkrankheit Rachitis waren was eine Nahversorgung und die Organisation weit verbreitet. des Alltags erleichtern sollte. Die Wohnungen, Der massiven Wohnungsnot nach dem die in der Regel über eine Wohnküche, ein Ersten Weltkrieg begegnete die Stadtregierung Zimmer und manchmal ein zusätzliches zuerst mit der Errichtung von Notquartieren, Kabinett verfügten, waren zwischen 38 und teils durch die Aneignung leerstehender 48 Quadratmeter groß und mit fließendem Gebäude. Sie wandte sich gegen die Speku- Wasser und Toiletten ausgestattet. Auch For- lation mit Wohnraum und kaufte sukzessive derungen der Frauen- und Arbeiterbewegung Grundstücke auf. Im Jahr 1924 war sie die fanden Eingang in die neuen Formen des größte Grundbesitzerin in Wien. In mehreren kommunalen Wohnungsbaus. Diskussionen Etappen wurden zwischen 1923 und 1934 über um Rationalisierung und Zentralisierung der 60 000 neue Wohnungen gebaut (Podbrecky Hauswirtschaft spiegelten sich architektonisch 2003, 16). Die umfangreichen Baumaß- in der Errichtung von Kinderbetreuungsstät-

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_LUX_1602.indb 126 25.08.16 11:03 ten, Zentralwaschküchen, dem sogenannten das Rote Wien jedoch immer stärker unter Einküchenhaus und der Wohnküche wider. Druck (Maier/Maderthaner 2012). Beabsichtigt war, klassische ›weibliche‹ Reproduktionsarbeiten von staatlicher Seite Krise und Austerität zu übernehmen und so die durch Lohnarbeit, Während in den USA die Regierung Roosevelt Haushalt und Kindererziehung mehrfach mit dem New Deal, einem Programm von Ar- belasteten Proletarierinnen zu entlasten. Die beitsbeschaffungsmaßnahmen und konjunk- in der Fachliteratur geäußerten Einschätzun- turpolitischen Interventionen, auf die Weltwirt- gen zu den wohlfahrtsstaatlichen Einrich- schaftskrise reagierte, setzte die österreichische tungen betonen einerseits die Verbesserung Bundesregierung in der Ersten Republik eine der Lebensverhältnisse der Arbeiter*innen, Politik der Austerität durch. Die ›Rettung‹ des andererseits das Moment der Kontrolle und Staates in der Krise durch Völkerbundanleihen Disziplinierung sowie der Verfestigung war an Konditionen gebunden, Vertreter des der geschlechtersezifischen Arbeitsteilung. Finanzkomitees des Völkerbundes reisten nach (Gruber 1998, 57; Hauch 2009, 157; Pirhofer/ Österreich und entwarfen gemeinsam mit Sieder 1982). der Regierung ein weiteres ›Sanierungspro- Mit den Gemeindebauten sollte ebenso gramm‹. Der Abbau der sozialen Infrastruktur, wie mit den kommunalisierten Unterneh- von Arbeitsplätzen und Arbeitnehmerrechten men und Dienstleistungen kein Gewinn wurde maßgeblich durch sogenannte Not- erwirtschaftet werden. Die Stadtverwaltung verordnungen vorangetrieben, womit das übernahm bereits in Gemeindehand befindli- Parlament und demokratische Entscheidungs- che Betriebe (zum Beispiel Gas-, Wasser und findungsprozesse umgangen wurden. In den Elektrizitätswerke, Verkehrsbetriebe) und Medien der Arbeiterbewegung wurde die auch setzte die Kommunalisierung fort (Müllab- heute wieder aktuelle Frage »Wer zahlt für die fuhr, Kanalisation etc.). Die Wohnungsmiete Krise?« aufgeworfen: wurde kostendeckend berechnet und betrug »Die Krise! Geschäftsleute verlangen 1926 um die vier Prozent eines durchschnitt- Steuererleichterungen, Fabrikanten den lichen Arbeitermonatslohns (Podbrecky 2003, Abbau der ›sozialen Lasten‹ […]. Doch existiert 19). Die Vergabe der Wohnungen folgte einem die Krise […] nicht erst recht bei denen, über gestaffelten Punktesystem. Ein zentrales Krite- die nie gesprochen wird, bei den Arbeitern, rium waren neben Bedürftigkeit wie Woh- Angestellten und Beamten? Erst recht! Denn nungslosigkeit, Arbeitsverlust oder Kriegsin- an ihnen will man Lohn ersparen, Fürsor- validität, ob jemand »in Wien geboren« war. gekosten sparen, sie müssen mehr Steuern Dies zählte vier Mal so viel wie die österreichi- zahlen, damit die direkten Steuern abgebaut sche Staatsbürgerschaft (Weihsman 2003, 37). werden können […]. In Zeiten der Krise sollen Damit galt der Grundsatz: Wer in der Stadt alle geschützt werden, nur arbeitenden Men- lebte, sollte hier auch wohnen bleiben können. schen, besonders Frauen und Jugendlichen Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 geriet wird noch genommen.« (Die Frau 3/1931, 4)

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_LUX_1602.indb 127 25.08.16 11:03 Regierung und Vertreter des Finanzkomitees der »notleidenden« Wirtschaft auf Kosten der des Völkerbundes verheimlichten nicht, dass »notleidenden Arbeiterschaft« vor. sie die parlamentarische Demokratie als Auf Bundesebene versuchte die Sozial- Störfaktor der ›Sanierung‹ empfanden. Die demokratie, Ideen für Arbeitsbeschaffungs- Etablierung autoritärer Strukturen wurde mit programme, Investitionen sowie eine Umver- dem Verweis auf wirtschaftliche Notwendig- teilung über das Steuersystem einzubringen, keiten gerechtfertigt. Die Sozialdemokratie doch es blieb bei Vorschlägen. Im Zuge der kritisierte die Politik der Kürzungen, trug sie militärischen Niederschlagung der Arbeiterbe- aber dennoch auf Bundesebene teilweise mit. wegung im Februar 1934 setzte das austrofa- Die Zerschlagung des wohlfahrtsstaatlichen schistische Regime die Stadtregierung ab und Projekts des Roten Wiens weist Ähnlichkeiten einen Regierungskommissär an deren Stelle mit den autoritär durchgesetzten neoliberalen ein. Eine der ersten Maßnahmen der austrofa- Maßnahmen in Reaktion auf die jüngste Krise schistischen Verwalter im Roten Wien war die auf (Blyth 2013; Duma/Hajek 2015, Duma et Aufhebung des progressiven lokalen Steuer- al. 2014) und erinnert zugleich an den immer systems. Die steuerliche Umverteilung von geringer werdenden Handlungsspielraum von oben nach unten wurde rückgängig gemacht. Kommunen unter dem Druck der Schulden- Das Projekt des öffentlichen Wohnbaus wurde bremse (Wiegand in diesem Heft). weitestgehend beendet, der Mietzins erhöht, Im Verlauf der damaligen Krise stieg der das Sozialversicherungsnetz und die soziale Druck der bürgerlich-konservativen Bundesre- Infrastruktur wurden abgebaut. gierung auf die Kommunalverwaltung Wiens, Einsparungen vorzunehmen und Abgaben Resümee einzutreiben (Vgl. z.B. Die Frau 8/1931, 2 und Trotz der heute veränderten politischen 10/1933, 7; Arbeiter-Zeitung, 11. 6.1931, 1–4). Konstellationen und der unterschiedlichen Zugleich schlug sich die Krise im Haushalt Zusammensetzung der gesellschaftlichen der Stadt nieder. Während auf Bundesebene Linken eröffnet die Aktualisierung dieser Fra- ein Austeritätskurs eingeschlagen wurde, gestellungen Möglichkeiten, auf Erfahrungen versuchte Wien insbesondere im Bereich des oder Strategien aufzubauen. In ganz Europa Wohnungsbaus das Investitionsprogramm gibt es Kämpfe gegen Zwangsräumungen weiterzuführen – wenn auch in verringertem (auch von Mieter*innen von kommunalen Ausmaß. Sitzungen des Wiener Gemeinde- Wohnungen), Forderungen nach der Nutzung rates standen »im Zeichen der Sparsamkeit« von leerstehenden Gebäuden und Wohnun- (Arbeiter-Zeitung, 13.6.1931, 5). Die Kommu- gen für neu Ankommende (zum Beispiel nistische Partei, die weder im Parlament Geflüchtete) führen an vielen Orten zu noch im Gemeinderat vertreten war, aber das Mobilisierungen der Linken. Die Erfahrungen Projekt des Roten Wien stets kritisch beglei- des Roten Wiens zeigen, dass auf kommuna- tete, protestierte gegen den Sparkurs. Sie ler Ebene weitreichende transformatorische warf der »Roten Gemeinde« die Entlastung Ideen in einer Situation zur Realität werden

128 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 128 25.08.16 11:03 konnten, in der massiver Druck ›von unten‹ ebenso wie die der parlamentarisch organi- aufgebaut werden konnte. sierten Kräfte in all ihren Widersprüchen Trotz der Tatsache, dass auch Wien von strategisch zusammenzudenken und sich den Verdrängungsprozessen und steigenden Mie- gegenwärtig Zumutungen wie der Austeri- ten nicht ausgenommen ist, weist die Stadt tätspolitik und dem Aufstieg der Rechten zu noch heute ein relativ hohes Budget für den widersetzen. öffentlich subventionierten Wohnbau auf. Vo- raussetzung für das damalige Reformprojekt

war eine politische Kraft, eine Kombination Literatur aus Bewegungs- und Organisierungsprojekt, Blyth, Mark, 2013: Austerity. The History of a Dangerous Idea, New York die auf große Teile der Subalternen bauen und Duma, Veronika/Hajek, Katharina, 2015: Haushaltspolitiken. einen Raum für weitergehende Veränderun- Feministische Perspektiven auf die Weltwirtschaftskri- sen von 1929 und 2008, in: Kühschelm, Oliver (Hg.), gen eröffnen konnte. Zugleich zeigt das Bei- Geld-Markt-Akteure, Österreichische Zeitschrift für spiel des Roten Wiens, wie wichtig es ist, die Geschichtswissenschaften 26, 46–76 Dies./Konecny, Martin/Lichtenberger, Hanna, 2013: Krisen- Zentren der Macht auf lokaler, nationaler und bearbeitung im historischen Vergleich: Österreich und überregionaler Ebene in Angriff zu nehmen. Griechenland, in: Brie, Michael (Hg.): »Wenn das Alte stirbt …«. Die organische Krise des Finanzmarktkapita- Die Autonomie in der Steuerpolitik eröffnete lismus, Reihe Manuskripte 8, Rosa-Luxemburg-Stiftung, einen großen Handlungsspielraum, der Berlin, 157–190 Gruber, Helmut, 1998: The »New Women«: Realities and jedoch mit dem Eingreifen des Zentralstaates, Illusions of Gender Equality in Red Vienna, in: ders./ flankiert vom Völkerbund und schließlich Graves, Pamela (Hg.), Women and Socialism. Socialism and Women. Europe Between the Two World Wars, New mit der Etablierung des Austrofaschismus York/Oxford, 56­–94 Hauch, Gabriella, 2009: Machen Frauen Staat? Geschlech- zerstört wurde. Innerhalb der Linken wurde terverhältnisse im politischen System, in: dies., Frauen recht kontrovers über die richtige Strategie bewegen Politik. Österreich 1848–1938, Innsbruck u.a., 151–170 der Partei diskutiert. Die Sozialistin, Aktivistin Maier, Michaela/Maderthaner, Wolfgang, 2012: Im Bann und Sozialwissenschaftlerin Käthe Leichter, der Schattenjahre. Wien in der Zeit der Wirtschaftskrise 1929 bis 1934, Wien die während des Nationalsozialismus ermor- Mattl, Siegfried, 2000: Wien im 20. Jahrhundert, Wien det wurde, bezeichnete die Vermeidung der Perspektiven. Magazin für Linke Theorie und Praxis, »Wie Rot ist Wien?«, Sommer 2010, Nr. 11 Machtfrage als fundamentalen Fehler im Pirhofer, Gottfried/Sieder, Reinhard, 1982: Zur Konstitution Kampf gegen den Austrofaschismus. Die linke der Arbeiterfamilie im Roten Wien. Familienpolitik, Kul- turreform, Alltag und Ästhetik, in: Mitterauer, Michael/ Bewegung habe »den Glauben an die schöp- Sieder, Reinhard (Hg.), Historische Familienforschung, ferische Kraft der Arbeiterbewegung selbst, Frankfurt a.M., 326–369 Podbrecky, Inge, 2003: Rotes Wien. Gehen & Sehen. 5 Rou- das Selbstvertrauen in die eigene Aktions- und ten zu gebauten Experimenten. Von Karl-Marx-Hof bis Gestaltungskraft« verloren (Leichter 1933; zit. Werkbundsiedlung, Wien Rabinbach, Anson, 1989: Vom Roten Wien zum Bürgerkrieg, nach Rabinbach 1989, 140). Der Blick auf Wien historische Entwicklungen sollte dazu dienen, Tálos, Emmerich/Manoschek, Walter, 2005: Zum Konstituie- rungsprozess des Austrofaschismus, in: Tálos, Emme- aktuelle Ansätze einer emanzipatorischen rich/Neugebauer, Wolfgang (Hg.), Austrofaschismus. Politik zu stärken. Dabei kommt es darauf Politik–Ökonomie–Kultur 1933–1938, Münster, 6–27 Weihsmann, Helmut, 2002: Das Rote Wien. Sozialdemokrati- an, die Dynamiken von sozialen Bewegungen sche Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934, Wien

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_LUX_1602.indb 129 25.08.16 11:03 Der Name der Zeit Kolja Möller

Ein neues Mittelalter durch eigene politische Selbstorganisierung Die Geflüchteten sind das Proletariat unseres geprägt war. Es war zunächst nur der sichtbare Zeitalters. Wie in einem Brennglas verdichten Ausdruck der kapitalistischen Modernisierung sich die Krisen des globalen Kapitalismus in als sozialer Tendenz: Am Proletariat werde »kein ihrem Schicksal. Und wie in einem Brennglas besondres Unrecht«, sondern »das Unrecht treten auch seine Strukturmerkmale hervor: schlechthin« verübt. Sein Leiden trage »univer- Weder eine alles überwölbende internationale sellen Charakter«. Gemeinschaft noch die einzelnen Nationalstaa- Genau deshalb wird vom Standpunkt des ten regieren die Welt, sondern eine fragmen- Proletariats ein universelles Emanzipationspro- tierte Landschaft aus Staatsapparaten, inter- und jekt denkbar, das die »Auflösung der bisherigen supranationalen Politikregimen, imperialen Weltordnung« in eine geradezu notwendige Interessen und systemischen Eigenlogiken. Option verwandelt. Unabhängig davon, ob die Ein Blick auf die Konfliktkonstellationen der Proletarier frühsozialistische Flugschriften letzten Monate genügt: Die EU, die Vereinten studieren, gar nicht lesen können oder an den Nationen, das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die lieben Gott glauben, entsteht hier der Stoff, um sicherheits- und sozialpolitischen Apparate der die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft vom Nationalstaaten bis hin zum Islamischen Staat Kopf auf die Füße zu stellen. Die vordergründige sind beteiligt. Ein neues Mittelalter beginnt, das Ohnmacht des Proletariats verschränkt sich mit durch überlappende Kompetenzen und Ord- einem hintergründigen Machtpotenzial. nungskämpfe langer Dauer geprägt sein wird. Heute sind es die Geflüchteten, an denen sich das »universelle Leiden« ablesen lässt. Das Unrecht Schlechthin Das Wechselspiel aus Macht und Ohnmacht Als der junge Karl Marx in seiner »Kritik der wiederholt sich: Während progressive Regie- H­egelschen Rechtsphilosophie« von 1844 die rungen daran scheitern, leichte Korrekturen in Figur des Proletariats erstmals ausführlich der Steuerpolitik durchzusetzen, haben es die bemühte, hatte er noch nicht das politisch orga- nur minimal koordinierten Geflüchteten mit nisierte Industrieproletariat des ausgehenden 19. ihren aus Not geborenen Bewegungskalkülen Jahrhunderts vor Augen. Mit dem Proletariat sei geschafft, die Europäische Union in eine weitere eine soziale Gruppe aufgetreten, die noch nicht Krise zu stürzen, die CDU zu spalten, eine

136 luxemburg 2/2016 | Klasse VERBINDEN

_LUX_1602.indb 130 25.08.16 11:03 beispielslose Solidaritätsbewegung in Gang zu setzen und Grenzregime zu unterlaufen. Kolja Möller arbeitet im Forschungszusammen- Wir leben in einem Zeitalter der Migration. hang »Normative Ordnungen« an der Goethe- Die Rede von der »Lösung« der »Flüchtlingskri- Universität Frankfurt am Main. Er schreibt zu Fragen internationaler politischer Soziologie und se« durch die »Beseitigung der Fluchtursachen« Theorie. Zuletzt erschien von ihm »Formwandel ist Opium fürs Volk. Ein Zurück zum Zustand der Verfassung. Die postdemokratische Verfasst- geordneter Nationalstaatlichkeit ist weder realis- heit des Transnationalen« (2015). tisch noch normativ überzeugend. Die transnati- onale soziale Frage wird sich nicht einfach durch politischen Beschluss ›lösen‹ lassen. Die Kernfra- Gesichter und Personen, die das, was gesell- gen lauten: Wie kann unter diesen Bedingungen schaftlich an vielen Orten der Bundesrepublik das menschliche Leben geschützt werden? an Fluchthilfe geleistet wird, und das, was Stand Wie können die politischen Effekte des neuen wissenschaftlicher Forschungen zu Migration ist, transnationalen Proletariats auch zu progressiven auch sichtbar machen. Veränderungen beitragen, die heute zumindest Dies gilt umso mehr, da die Handlungs- eine europäische Dimension haben müssen? Wie fähigkeit linker Parteien in dieser Frage an sind die erstarkenden autoritären Strömungen strukturelle Grenzen stößt. Parteien legitimieren und damit verbundenen Gefahren abzuwehren? sich am Ende über Wahlen. Die Geflüchteten ha- ben aber kein Wahlrecht, was sie auf absehbare Repräsentation und Solidadrität Zeit für Parteipolitik uninteressant macht. Hier Gegenwärtig wäre schon viel gewonnen, wenn müssen linke Parteien dem Druck, stimmungs- die gesellschaftliche Linke in Europa – ähnlich opportunistisch zu handeln, widerstehen, ohne wie der zahlenmäßig unbedeutende und verbil- ihre Anschlussfähigkeit an öffentliche Debatten dungsbürgerlichte »Bund der Kommunisten« in aufzugeben. Sie wären aber auch aus inhaltli- den 1840er Jahren – ihre advokatorische Rolle chen Gründen schlecht beraten, sich einzig an verstünde: Ihre Aufgabe ist es, den Standpunkt der Logik des politischen Systems auszurichten: des transnationalen Proletariats (mit) zu reprä- Werden sie in diesem Sinne zu Systemparteien sentieren. Schlechtes Gewissen angesichts der und reihen sich in den Mainstream ein, schnei- eigenen Privilegien kann man sich sparen. Die den sie sich von den systemkritischen Triebkräf- Zugänge zu wissenschaftlicher Expertise, zu ten der transnationalen sozialen Frage ab. verschiedenen Öffentlichkeiten und rechtliche Diese disparate Ausgangslage bringt uns Möglichkeiten sollten genutzt werden, um den notwendigerweise wieder zur alten Idee der So- Standpunkt des transnationalen Proletariats zur lidarität zurück: Wie können Verbindungslinien Geltung zu bringen. Die veröffentliche Meinung entstehen? Wie können die jeweiligen Hand- darf nicht den Köpfen der ›Pegidisten‹, den lungslogiken in ein Verhältnis gebracht werden, Intellektuellen der neuen Rechten oder AFD- bei dem sie sich gegenseitig stärken? Denn um Politiker*innen überlassen werden. Die Solidari- die Ohnmacht zu überwinden, brauchen wir tätsbewegung für Geflüchtete braucht dringend beides: Repräsentation und Solidarität.

derName name d derer Zeits zeit | Luxemburg 2/2016 131137

_LUX_1602.indb 131 25.08.16 11:03 Ende Gelände im Gerechtigkeitsdilemma Warum der Kohleausstieg nicht bis 2040 warten kann

Hannes Lindenberg und 14. Mai 2016, Lausitz. Das Aktionswochenende, Tadzio Müller an dem das klimaaktivistische Bündnis »Ende Gelände« den Anti-Kohle-Protest in die Braun- kohle-Region Lausitz tragen wollte, übertrifft alle Erwartungen. Ungefähr 4 000 Menschen aus 20 Ländern blockieren die Kohlebagger, Transportzüge und das Kraftwerk Schwarze Pumpe. Der quantifizierbare Effekt: Das Kraft- werk wird für 24 Stunden auf 20 Prozent seiner maximalen Leistungsfähigkeit gedrosselt, ein Meiler nur im Notbetrieb gehalten. So weit, so gut. Aber der Klimawandel kann nicht Kraftwerk für Kraftwerk, Kohlegrube für Kohlegrube aufgehalten werden. Klimage- rechtigkeit muss politisch erkämpft werden. Langfristig dürften deshalb andere Ergebnisse dieses Wochenendes schwerer wiegen. 1 | Internationalisierung Die junge Klima(gerechtigkeits)bewegung weist einen hohen Grad an Internationalisie- rung auf: Von den gut 4 000 Aktivist*innen kamen mindestens 1 500 aus dem meist euro- päischen Ausland. Blickt man auf die Aktionen

132 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 132 25.08.16 11:03 des letzten Jahres – von »Ende Gelände« im Dies überrascht, da Kraftwerke und deren Rheinland bis zu den taktisch gescheiterten, reibungsloser Betrieb im staatlichen Interesse aber politisch wichtigen Aktivitäten rund um liegen. Warum also wurde die Blockade nicht den Klimagipfel im Dezember 2015 in Pa- gestoppt oder die Protestierenden von den ris – lässt sich konstatieren, dass die Klimabe- Schienen geräumt? wegung derzeit zur Wiederherstellung eines Offensichtlich ist: Die Brandenburger europäischen Bewegungsraums beiträgt. Der Politik ließ sich nicht vor den Karren des Internationalisierungsgrad zeigte sich auch in damaligen Betreibers der Lausitzer Braunkoh- der Kampagne »Break Free from Fossil Fuels«, leindustrie Vattenfall Europe Mining spannen. in deren Rahmen vor allem das Klimanetzwerk Sie ließ die Aktivist*innen weitgehend gewäh- 350.org Aktionen auf fünf Kontinenten koordi- ren, weil die politischen Kosten eines härteren nierte. Es gibt Parallelen zu den frühen Jahren Durchgreifens höher eingeschätzt wurden als der globalisierungskritischen Bewegung. der entstandene Schaden. Warum aber war es 2 | Taktische Fortschritte politisch so ›teuer‹, gegen die Klimabewegung Nach den Gruben- und Baggerblockaden des vergangenen Jahres hatte Ende Gelände es dieses Mal auf die gesamte Kohleinfrastruktur Hannes Lindenberg studiert Forst- und Umweltwis- abgesehen, also auch auf Kohlezüge und das senschaften und war zuletzt Praktikant am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg- Kraftwerk Schwarze Pumpe. Dadurch gelang Stiftung. Er ist in der Umweltbewegung aktiv und es, in Deutschland erstmals ein laufendes hat die Proteste zu »Ende Gelände« mit organisiert. Kraftwerk (fast) zum Stillstand zu bringen. Tadzio Müller ist Referent für Klimagerechtigkeit Inhaltlich und politisch sollte mit der Erwei- und Energiedemokratie im Institut für Gesell- terung des Aktionsfeldes darauf hingewiesen schaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er werden, dass sich die Debatte nicht nur auf ist seit vielen Jahren in der Klimagerechtigkeitsbe- wegung aktiv, publiziert über globale Gerechtig- die offensichtliche Umweltzerstörung durch keitsbewegungen, die Kritik des grünen Kapitalis- Braunkohletagebaue beschränken darf. Von mus und zur Frage gesellschaftlicher Alternativen. der Schwarzen Pumpe ist der gedankliche Er ist ebenfalls aktiv im »Ende-Gelände-Bündnis«. Schritt hin zum Steinkohlekraftwerk in Berlin Mitte und dessen emissionsreicher Wärmepro- duktion nicht mehr weit. Von dort aus eröffnen vorzugehen? Ein Erklärungsversuch reicht in sich weitere Themenfelder wie etwa Stein- die ersten Jahre der großen Krise von 2008ff kohleimporte aus Ländern mit katastrophalen zurück. Damals machten sich einige Linke Sozialstandards und Arbeitsbedingungen. Sorgen, dass es grünen Kapitalfraktionen gelin- 3 | Legitimätsgewinne gen könnte, einen im Nachgang von Hurrikan Wer die Fernsehbilder von der »Kraftwerkser- Katrina und anderen extremen Unwettern als stürmung« gesehen hat, mag einen anderen gesellschaftliches Universalinteresse konstru- Eindruck gewonnen haben, aber alles in allem ierten Klimaschutz zu instrumentalisieren, um verhielt sich die Polizei sehr zurückhaltend. ihr partikulares Profitinteresse voranzutreiben

Ende Gelände | Luxemburg 2/2016 133

_LUX_1602.indb 133 25.08.16 11:03 – dass es also eine grünkapitalistische Hege- In diese Lücke konnte nun die radikale Klim- monie geben könnte (vgl. Kaufmann/Müller abewegung stoßen. Denn wie oben gefragt: 2009). Mittlerweile ist klar, dass die Anpas- Warum wurde »Ende Gelände« nicht von sungsfähigkeit des Kapitals in der organischen den Kraftwerksschienen geräumt? Weil die Krise über- und die Tiefe der Krise im Sinne Aktivist*innen glaubhaft versichern konnten, einer Legitimationskrise unterschätzt wurde. dass es ihnen tatsächlich vor allem um den Wer glaubt heute schon VW, wenn in Wolfsburg Klimaschutz geht und dass sie derzeit der über emissionsarme Autos schwadroniert wird? einzige Akteur sind, der Klimaschutz wirklich Wer geht davon aus, dass die Klimarahmenkon- ernst nimmt. Damit ist klar: Wer sie angreift, vention der UN tatsächlich das Klima schützen trifft das Weltklima. »Ende Gelände« konnte wird? Und doch wurde im Dezember 2015 in sich in den in Paris gestrickten Legitimi- Paris ein Klimavertrag vereinbart, in dem die tätsmantel hüllen, weil kein anderer Akteur Regierungen der Welt dreierlei deutlich mach- ihn sich erfolgreich anziehen konnte. Die ten: dass der Klimawandel ein gravierendes Tatsache, dass die Aktion nicht unterbunden Problem ist, dass er von Menschen verursacht wurde, war also kein Zeichen ihrer taktischen wird und dass die fossilen Brennstoffe dafür Irrelevanz, sondern ihrer für aktionistische, maßgeblich verantwortlich sind. Es wurde also, auf zivilen Ungehorsam setzende Politikfor- und darin liegt die eigentliche Relevanz von men ungewöhnlichen politischen Stärke. Paris, ein gesellschaftliches Universalinteresse am Klimaschutz formuliert, das aber unter den Die andere Seite der Medaille... gegebenen Bedingungen der organischen Krise, 14. Mai 2016, Schwarze Pumpe: Vor den die eben auch eine Legitimationskrise ist, nicht Toren des von Klimaaktivist*innen blockierten im oben genannten Sinne von Elitenfraktionen Kraftwerks sammeln sich in den Abendstunden besetzt werden kann. Es ist quasi ›herrenlos‹. knapp tausend Menschen, um gegen »Ende Das lange Zeit betriebene Greenwashing, mit Gelände« zu protestieren: Anwohner*innen, dem sich die Autoindustrie mit Kampagnen Angestellte von Vattenfall, Menschen mit Fah- zu Elektromobilität zur Vorreiterin des Klima- nen der kohlefreundlichen IG BCE, Hooligans, schutzes und damit zur Repräsentantin eines organisierte Nazis – viele sind dabei. Einige allgemeinen gesellschaftlichen Interesses der Redner*innen nutzen den Begriff Ökoter- machen konnte, ist vorbei. Zu unglaubwürdig roristen, andere singen Bergmannslieder. Aus war ihr Agieren und zu offensichtlich ist es der Demonstration heraus greifen 80 bis 100 inzwischen, dass Autos, die statt mit fossilen Personen die Klimaaktivist*innen mit Böllern Brennstoffen nun mit Strom fahren, der aus an, Autos von Journalist*innen werden von den überwiegend fossilen Brennstoffen gewonnen Straßen abgedrängt. Glücklicherweise wird nie- wird, keinen Gewinn für das Klima bringen. mand verletzt. Am Tag danach streifen Grup- Das partikulare Profitinteresse der Autoindust- pen organisierter Nazis durch die Umgebung rie kann also nicht länger als Universalinteresse des Klimacamps. Zwei Campbewohner*innen an einem stabilen Klima dargestellt werden. werden angegriffen, eine davon muss ins

134 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 134 25.08.16 11:03 Krankenhaus gebracht werden. Unter internati- Ende Gelände 2016, Moritz Richter onalen Aktivist*innen geht die Verwunderung um: »Why do the locals hate us?«. »Ende Gelände« nicht in der Lage, im Vorfeld Die verkürzte Antwort: weil »Ende Gelän- durch bessere politische Kommunikation den de« unter den gegebenen Bedingungen faktisch schwelenden Konflikt mit den Arbeiter*innen ihr Feind ist. Hier liegt ein Widerspruch, der und Anwohner*innen zu entschärfen? Nicht sich auch durch eine linke Diskurspolitik einmal, so haben einige dem Bündnis vor- nicht auflösen lässt, die seit Jahren darauf geworfen, mit den lokalen Anti-Braunkohle- beharrt, dass radikaler Klimaschutz und Gruppen, die in der »Klinger Runde« organi- regionale soziale Gerechtigkeit (Stichwort: siert sind, konnte die Kampagne im Vorfeld gerechte Übergänge) gleichzeitig organisiert einen gemeinsamen Nenner finden. Ist es werden müssen. Ein sofortiger Kohleausstieg wirklich so, dass die Klimaaktivist*innen ist, wieder unter den gegebenen Bedingungen, einfach die soziale Frage nicht ausreichend aber nicht dasselbe wie ein lang geplanter, wichtig nehmen? Hätte der GAU linksökolo- sozial abgefederter und im Rahmen deut- gischer Politik, die physische Auseinander- scher korporatistischer Politik umgesetzter setzung zwischen Klimaaktivist*innen und Kohleausstieg (vgl. Agora Energiewende Industriearbeiter*innen, nicht verhindert 2016). Und etwas detaillierter: Warum war werden können?

Ende Gelände | Luxemburg 2/2016 135

_LUX_1602.indb 135 25.08.16 11:03 Die Antwort auf diese, für eine Klimagerech- 2 | Um eine minimale Chance zu wahren, tigkeitsbewegung zentrale Frage ist nicht ganz den Klimawandel und damit das mittelfristige unkompliziert. Daher Schritt für Schritt. ›Umkippen‹ des globalen Klimasystems noch 1 | Der Klimawandel ist eine soziale Frage. Es aufhalten zu können, müsste die Weltgemein- ist kein Zufall, dass in der Mobilisierung immer schaft ziemlich schnell handeln und das 2015 wieder betont wurde, es ginge »schon lange in Paris beschlossene Ziel des 21. Weltklima- nicht mehr nur um Eisbären«. Das ging es noch gipfels in Angriff nehmen: den Anstieg der nie. Der Klimawandel bedroht nicht nur die globalen Durchschnittstemperatur bei deutlich Megafauna in der Arktis, er bedroht die Lebens- unter zwei Grad Celsius im Vergleich zum grundlagen von Abermillionen von Menschen, vorindustriellen Zeitalter halten und weiter- gerade die Ärmsten und Marginalisiertesten. gehende Anstrengungen unternehmen, den Am Klimawandel leiden im Schnitt jene am Temperaturanstieg bei 1,5 Grad zu stoppen. meisten, die am wenigsten dazu beigetragen ha- Diesbezüglich noch einmal zur sozialen Frage: ben. Der Meeresspiegel steigt und Bangladesch Noch beim UN-Klimagipfel 2009 in Kopen- säuft ab, während Holland schwimmende Städte hagen denunzierte eine Gruppe besonders baut. Und für viele Menschen im globalen klimavulnerabler Länder jedes Abkommen, das Süden kommen sämtliche Maßnahmen der ein Limit oberhalb von 1,5 Grad festschreibt, als Emissionsvermeidung wohl jetzt schon zu spät Selbstmordpakt. Aus einer globalen Gerechtig- – zu fortgeschritten ist die Temperaturerhöhung keitsperspektive sind 1,5 Grad alternativlos. bereits. Für diese Menschen müssen neue 3 | Um dieses ausgesprochen ambitionierte Lebensräume aufgetan werden. Dafür wie für Ziel tatsächlich zu erreichen – genauer um eine drastische Minderung der Emissionen sind eine 50-prozentige Chance zu haben, das Ziel vor allem jene Länder in der Bringschuld, deren zu erreichen –, müsste nach einer von Green- Reichtum sich aus der Gewinnung und der peace in Auftrag gegebenen Studie der globale Verbrennung fossiler Energieträger speist. Sie Emissionsnullpunkt 2034 erreicht sein. Für tragen die ›Klimaschuld‹. Wer den Klimawandel Deutschland bedeute dies unter anderem, gegen die soziale Frage ausspielt, wie das leider dass der gesamte in Deutschland produzierte in vielen Teilen der gesellschaftlichen Linken Strom bis 2030 aus erneuerbaren Energien immer wieder der Fall ist – von der Interven- stammen müsste. Dies würde in anderen tionistischen Linken über den Großteil der Bereichen wie Mobilität und Landwirtschaft deutschen Gewerkschaftsbewegung bis hin zu einen Puffer für die Dekarbonisierung lassen. Sozialpolitiker*innen der LINKEN – reduziert Die besonders emissionsintensive Braunkohle Fragen sozialer Gerechtigkeit entweder auf müsste hingegen schon 2025 vom Netz gehen, Fragen nationaler sozialer Gerechtigkeit oder denn: Deutschland ist Braunkohleweltmeister, auf Fragen strategischer Wahlarithmetik. Nach fördert und verbrennt davon mehr als jedes dem Motto: Sowohl in Bangladesch als auch in andere Land der Welt. Cottbus wird gelitten, aber die Leute in Cottbus 2025 also. Aus globaler Gerechtigkeitsper- können hierzulande halt wählen. spektive ist dieses Datum eines Braunkohle-

136 luxemburg 2/2016 | Klasse verbinden

_LUX_1602.indb 136 25.08.16 11:03 ausstiegs unanfechtbar. Interessant ist, dass es sollten wir offen und ehrlich begegnen, statt Greenpeace zu heikel war, mit der genannten – analog zu der Erzählung, die suggeriert, Kli- Studie in die Offensive zu gehen. Der Text maschutz lasse sich mit fortgesetztem gesamt- wurde im Prinzip begraben, die Organisa- wirtschaftlichen Wachstum kombinieren – so zu tion »leitet daraus heute noch keine neuen tun, als könne effektiver Klimaschutz (≈2025) Forderungen ab« (zitiert nach die tageszeitung problemlos mit lokaler und regionaler sozialer vom 25.2.2016). Gerechtigkeit, mit ›gerechten Übergängen‹ Und warum nicht? Weil ein Kohleaus- (≈2040) kombiniert werden. stieg bis 2025 in den Kohleregionen unter Wir stehen also vor zwei Wahrheiten: Ers- den gegebenen Bedingungen ökonomische tens, Klimaschutz ist unverzichtbar, wegen der und soziale Brachlandschaften hinterlassen globalen sozialen Gerechtigkeit, deshalb muss würde, mithin politisch kaum vertretbar ist. der Kohleausstieg bis 2025 erfolgen. Zweitens, Die Umsetzung der Forderung nach einem lokale soziale Gerechtigkeit ist unverzichtbar, sofortigen Braunkohleausstieg würde für deswegen braucht es ›gerechte Übergänge‹. Das die ungefähr 22 000 direkt in der Branche erste Ziel ließe sich angesichts der momenta- Beschäftigten nicht nur den Verlust ihrer nen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Arbeitsplätze bedeuten, sondern auch den auf der Basis bestehender Konzepte tatsächlich Verlust ihrer kollektiven Identität – also eine umsetzen. Das zweite, der ›gerechte Übergang‹, existenzielle Bedrohung. Dementsprechend von dem wir nur grob wissen, wie er aussehen sieht der bisher detaillierteste Plan für einen könnte, ist unter den gegebenen gesellschaftli- bundesweiten Braunkohleausstieg als das chen Bedingungen kaum zu realisieren. Ethisch endgültige Ausstiegsdatum 2040 vor. Nur: Aus ist diese Alternative nicht zu entscheiden – hier der Perspektive des Klimaschutzes ist 2040 gilt es die Debatte um ethische Begründungen ein völlig unzureichendes Datum. Wenn eines zwischen globaler Klimagerechtigkeit und lokal der reichsten Länder der Welt erst in 25 Jahren jeweils konkret verorteter sozialer Gerechtigkeit aus der Nutzung der dreckigsten aller fossilen weiter zu führen. Politisch aber muss entschie- Brennstoffe aussteigen will, warum sollten den werden. Also fordern wir an dieser Stelle sich ärmere Länder dann überhaupt bewegen? einen Braunkohleausstieg bis 2025, und zwar aus strategischen Gründen. Wenn wir von zwei Die Linke und das Klima Zielen eines erreichen können oder keines, Womit wir beim (un-)sozialen Dilemma linker dann wählen wir doch lieber einen möglichen Klimapolitik hierzulande angelangt sind: Sieg als eine doppelte Niederlage. Klimaschutz und globale Klimagerechtigkeit auf Kosten vieler Menschen in der Lausitz und im Literatur Rheinland oder ein regional gerechter Übergang Agora Energiewende, 2016: Elf Eckpunkte für einen Kohle- konsens, Berlin, www.agora-energiewende.de/fileadmin/ auf Kosten des Klimas und somit zahlloser Men- Projekte/2015/Kohlekonsens/Agora_Kohlekonsens_KF_ schen im globalen Süden heute und zukünftiger WEB.pdf Kaufmann, Stephan/Müller, Tadzio, 2009: Grüner Kapitalis- Generationen weltweit? Diesem Dilemma mus: Krise, Klima und kein Ende des Wachstums, Berlin

Ende Gelände | Luxemburg 2/2016 137

_LUX_1602.indb 137 25.08.16 11:03 rosa-lux kompakt

was war? Nuit debout – Aufrecht durch die Nacht! »Kämpfe um Europa« Diskussion zur Situation in Frankreich BDWI-Herbstakademie Seit dem 31. März werden in Frankreich jeden Abend 1.–4. September in Werftpfuhl öffentliche Plätze besetzt, um in Vollversammlungen Wir erleben eine Zeitenwende in Europa: Das neolibe- gegen die geplante neoliberale Gesetzesänderung des ral-imperiale Herrschaftsprojekt der EU befindet sich Arbeitsrechts zu protestieren. Nuit debout rief auch in einer tiefen Krise. Die EU steht kaum noch für die eine neue Zeitrechnung aus: Der März endet erst, wenn Hoffnung auf ein besseres Leben. Für Linke ist das kein ein Sieg errungen ist. Nicht nur in Paris, auch in vielen Grund zur Euphorie, im Gegenteil: Die herrschenden anderen französischen (Groß-)Städten und Banlieues Kräfte setzen Austeritätspolitik und Freihandel undemo- regt sich Widerstand gegen die allgemeine Tristesse kratisch durch. An den Außengrenzen wird Krieg gegen und den politischen Zustand des Landes, gegen das Geflüchtete geführt. Es stellen sich Schicksalsfragen: Europa der Austeritätspolitik. Über die Hintergründe Droht ein Zerfall der EU und ein Durchbruch reaktionär- und Entwicklungen der Bewegung und ihre Perspektive nationalistischer Kräfte? Wie kann die linke Perspektive in Europa diskutierten am ›58. März‹ Aktivist*innen und einer Neugründung Europas von unten verteidigt und Expert*innen aus Politik, Medien und Wissenschaft in wiederbelebt werden? Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. BdWi laden zur jährlichen Herbstakademie ein. Dokumentation Infos und Anmeldung http://www.rosalux.de/event/55782/ http://www.bdwi.de/termine/event_28679.html

W as kommt? mit Wem? »Algorithmen, Daten, Demokratie« Gemeinsam gewinnen! Konferenz, 2., 3. Dezember in Berlin Erneuerung durch Streik III Über unsere Welt legt sich ein feinmaschiges Netz an 30. September – 2. Oktober in FrankFurt/main Sensoren und Schnittstellen. Datenquellen und Algo- Von der Metall- und Elektroindustrie über die Bahn bis rithmen versprechen, alle Bereiche unseres Lebens, von zu Kitas und Post: Die Streiks des letzen Jahres stie- der Stadt über Schule und Arbeitsplatz bis hin zum ei- ßen auf Aufmerksamkeit, aber auch auf Widerstand genen Haushalt ›smart‹ zu machen. Auf dieser Grundla- der Unternehmen. Das Durchhaltevermögen der Ak- ge werden Entscheidungen getroffen, die den individu- tiven stimmt hoffnungsfroh. Um diese Auseinander- ellen Alltag und das öffentliche Leben beeinflussen. Sie setzungen gewinnen zu können, bedarf es allerdings sind aber kaum nachvollziehbar. Oft heißt das nicht nur großer Anstrengungen und neuer Strategien. Intransparenz, sondern konkrete Diskriminierung. Wie Die diesjährige Streik-Konferenz bringt haupt- verändert der Einsatz von Algorithmen die Spielregeln und ehrenamtl­ iche Gewerkschaftsaktive und politischen Denkens und Handelns? Wie wandeln sich Wissenschaftler*innen zusammen, um Erfahrungen Herrschaft, Kontrolle und Kapitalismus? auszuwerten, voneinander zu lernen und über innova- Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bringt Netz-Aktivist*- tive Strategien, Konfliktformen und Beteiligungsmög- innen, politisch Aktive, Wissenschaftler*innen und lichkeiten zu diskutieren. Interessierte zusammen, um über Konsequenzen Sie wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemein- der Digitalisierung, Potenziale für Organisierung und sam mit vielen regionalen Gewerkschaftsgliederungen politische Intervention zu diskutieren. und der ver.di-Jugend veranstaltet. Infos Infos und Anmeldung www.rosalux.de/event/56358 www.rosalux.de/streikkonferenz

_LUX_1602.indb 138 25.08.16 11:03 wer schreibt? »Die enthemmte Mitte« »Das Kommunistische« Studie zu rechtsextremen Einstellungen Bei der Frage, was heute links ist, wird gern »das Deutschland ist polarisiert: Eine deutliche Mehrheit Kommunistische« als Gespenst an die Wand gemalt. lehnt rechtsextremes Denken ab. Diejenigen, die es Und in der Tat wirkt es für viele zunächst als Be- teilen, sind aber bereit, ihre Ansichten mit Gewalt drohung individueller Freiheit, die im Namen des durchzusetzen. Auch aus der sprichwörtlichen »Mitte« Kommunismus systematisch unterdrückt wurde. kann »großes antidemokratisches Potenzial erwach- Aber da der real existierende Kapitalismus die soziale sen«. Ein Indiz dafür ist, dass die Abwertung bestimm- Spaltung auf die Spitze treibt, kommt auch das Ge- ter Gruppen zunimmt: Islamfeindschaft, Antiziganismus spenst nicht zur Ruhe. Denn »das Kommunistische« und die Abwertung von Asylsuchenden. Auch nimmt war und ist auch die schärfste Kampfansage gegen die Zustimmung zu einer antidemokratischen, autori- jede Ordnung des Privateigentums. Es trägt in sich tären Politik sowie die Akzeptanz von Gewalt zu, etwa die Hoffnung, dass Gemeineigentum und freie ge- um eigene Interessen durchzusetzen oder sich »gegen meinschaftliche Arbeit zur Befreiung von Ausbeutung Fremde durchzusetzen«, so die Autoren der Studie »Die jedweder Art beitragen können. enthemmte Mitte«, Oliver Decker, Johannes Kiess und In dem von Lutz Brangsch und Michael Brie heraus- Elmar Brähler. Die Studie wurde zusammen von der gegebenen Buch steht die kommunistische Idee auf swsRosa-Luxemburg-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung dem Prüfstand. Welche ›kommunistischen‹ Experi- und Otto-Brenner-Stiftung gefördert. mente und Initiativen sind für die aktuellen Kämpfe Download tragfähig? www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/ Leseprobe Mittestudie_Uni_Leipzig_2016.pdf www.vsa-verlag.de-Brangsch-Brie-Das-Kommunistische.pdf

Eine Woche und ein Jahr in Barcelona »Ist doch ein Kompliment...« Dokumentarfilm über Ada Colau Behauptungen und Fakten zu Sexismus »Die Bürgermeisterin« (Alcaldessa) von Barcelona Sexismus ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. schafft es nun auch in die spanischen Kinos. Der Re- Gleichwohl ist es schwer, ihn da zu benennen, wo er gisseur Pau Faus hat Ada Colau ein Jahr lang auf ihrem auftaucht. Die Argumente-Broschüre »Ist doch ein politischen Weg begleitet – vom Beginn ihrer Kandida- Kompliment...« will den Blick dafür schärfen, dass tur für Barcelona en Comù bis zur Wahl. Entstanden ist Sexismus ein strukturelles und interaktionelles Prob- eine Chronik, die nicht nur den historischen Sieg der lem unserer Gesellschaft ist, das angegangen werden Bewegungslinken dokumentiert, sondern auch Colaus muss. Wer Sexismus thematisiert, stellt immer auch Angst, zu einer jener Berufspolitiker*innen zu werden, die Frage nach der Macht, nach ihrer ungleichen die sie immer kritisiert hat. Der preisgekrönte Film wird Verteilung und nach Strategien, mit denen diese bald auch mit deutschen Untertiteln zu sehen sein. Die Verhältnisse aufrechterhalten werden. Es werden Vorgeschichte dieser Frau, die die Plattform der Hypo- Argumente geliefert, um gängige Mythen zu entkräf- thekenbetroffenen (PAH) mitaufgebaut hat, zeigt der ten, Behauptungen, die ein Sprechen über Sexismus Film »Sieben Tage bei der PAH Barcelona« vom selben unmöglich machen, zu konfrontieren und ungleiche Regisseur. Beide Filme entstanden mit Unterstützung Machtverhältnisse wie strukturelle Ungleichheit als der Rosa-Luxemburg-Stiftung. das zu benennen, was sie sind: Sexismus. Links Download www.alcaldessa.com/ www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Argumente/ www.youtube.com/watch?v=erTvQ1KSYis lux_argu_9_Sexismus.pdf

_LUX_1602.indb 139 25.08.16 11:03 AKTUELLE PUBLIKATIONEN

Anna Schiff IST DOCH EIN KOMPLIMENT … Behauptungen und Fakten zu Sexismus «luxemburg argumente» Nr. 9 40 Seiten, Juni 2016 Download unter: www.rosalux.de/publication/42416

Erscheint im September 2016

Christian Russau ABSTAUBEN Susanne Lang IN BRASILIEN OFFENES GEHEIMNIS Deutsche Konzerne Mythen und Fakten zu Überwachung im Zwielicht und digitaler Selbstverteidigung Eine Veröffentlichung «luxemburg argumente» Nr. 10 der Rosa-Luxemburg- 40 Seiten, August 2016 Stiftung in Kooperation Download unter: mit medico international www.rosalux.de/publication/42538 240 Seiten, 16,80 Euro ISBN 978-3-89965-721-0 VSA:Verlag

Erhard Crome (Hrsg.) FRIEDENSFORSCHUNG IN DEUTSCHLAND Anforderungen an eine «kritische Friedensforschung» «Materialien» Nr. 18 56 Seiten, August 2016 Download unter: www.rosalux.de/publication/42529

KAPITAL KRIMINELL Steuertricks, Spekulation, schmutzige Geschäfte: Wo der globale Finanzreichtum bleibt RosaLux 2-2016, 44 Seiten, Juli 2016 Download unter: www.rosalux.de/publication/42489

BESTELLUNG ALLER PUBLIKATIONEN UNTER TELEFON 030 44310-123 ODER [email protected]

140 luxemburg 2/2016

_LUX_1602.indb 140 25.08.16 11:03 Konkret_210x280_Was_Katrin_DRUCK_Layout 1 19.07.16 11:31 Seite 1 Was schenken

»nd« zwei Monate gedruckt und als App nur wir Katrin? * Es gibt Leute, die haben schon alles und wollen auch nix. Postmaterielle Kapitalismuskritik, 35 €

Konsumverweigerung, CO2-Einsparung: Super, niemand versteht das besser als wir. Trotzdem will man zum Wiegenfest nicht mit leeren Händen kommen. Was tun? Verschenken Sie das »nd«! Gerade nachdenkliche Geburtstagskinder wie Katrin (Jörn, Sibylle) freuen sich über noch mehr Durchblick. Mit unserem Verschenk-Abo KATRIN kommen Sie dabei geradezu prekär billig weg: Zwei Monate das »nd« gedruckt und als App für nur 35 €* – gleich ordern: (030) 29 78 18 00 · www.neues-deutschland.de/abo * Das Abo gilt nur für NeuabonnentInnen und verlängert sich NICHT automatisch.

SOZIALISTISCHE TAGESZEITUNG

luxemburg | 2/2016 141

_LUX_1602.indb 141 25.08.16 11:03 Ulrich Brand (Hrsg.) Christian Russau Dieter Klein Jan Hoff »Zu sagen, Lateinamerikas Linke Abstauben in Brasilien Gespaltene Machteliten Befreiung heute Ende des progressiven Deutsche Konzerne im Verlorene Transformati- Emanzipations- was ist, Zyklus? Zwielicht. Eine Veröffent- onsfähigkeit oder Renais- theoretisches Denken und Eine Flugschrift lichung der Rosa-Luxem- sance eines New Deal? historische Hintergründe bleibt die burg-Stiftung in Koopera- Eine Veröffentlichung der revolutionärste tion mit medico internat. Rosa-Luxemburg-Stiftung Tat.«

ulrich brand (hrsg.) Christian Russau Dieter Klein Jan Hoff lateinamerikas linke Abstauben Gespaltene Befreiung heute in Brasilien Machteliten Emanzipations- theoretisches Denken und historische Hintergründe

ende des progressiven zyklus?

Deutsche Konzerne Verlorene Transformationsfähigkeit im Zwielicht oder Renaissance eines New Deal?

In Kooperation mit VSA: VSA: VSA:

VSA: eine fl ugschrift

120 Seiten | € 11.00 240 Seiten | € 16.80 288 Seiten | € 16.80 400 Seiten | € 39.80 ISBN 978-3-89965-700-5 ISBN 978-89965-721-0 ISBN 978-3-89965-695-4 ISBN 978-3-89965-709-8 Sozialismus Gibt es noch linke Perspektiven in Über deutsche Global Player in Wie lern fähig sind Teile der Macht- Emanzipatorisches Denken steht monatlich im Abo Lateinamerika? Was kann die eu- Brasilien, ihre Machenschaften eliten heute? Kann aus einer De- an einem historischen Knoten- ropäische Linke von den dortigen und die Möglichkeiten des Wider- fensivlinken wieder eine Offensiv- punkt. Jan Hoff zeigt Inspirations- täglich auf Erfahrungen lernen? Ulrich Brand stands dagegen. linke werden? Was lehrt uns dazu quellen und emanzipationstheore- www.sozialismus.de befragt Expert*innen vor Ort. der New Deal in den USA? tische Perspektiven auf. www.vsa-verlag.de • www.facebook.com/VSA.Verlag • twitter.com/VSA_Verlag • VSA: Verlag Hamburg

Probelesen !? Forum Wissenschaft 2/2016 Reinschnuppern ? kostenfreies Reichtum und Ungleichheit Exemplar anfordern !! Beiträge zur Diskussion um Vermögens- verteilung und Machtverhältnisse Diskussionsforum für  Elemente & Strategien einer In gewerkschaftlichen und linken Kreisen gewann gewerkschaftlichen die Verteilung des materiellen Reichtums in Anti-Konzessionspolitik Deutschland vor einigen Jahren an Beachtung im Zusammenhang mit wachsender Armut als Folge  Texte zu und aus Theorie der »Agenda 2010«-Politik. & Praxis der internationalen Die ungleiche Vermögensverteilung ist auch ArbeiterInnenbewegung deswegen problematisch, weil die Vermögenden  Perspektiven jenseits betrieblicher erhebliche gesellschaftliche und ökonomische & nationaler Standortpolitik Macht entfalten. Eine Umkehr der anhaltenden Umverteilung von unten nach oben ist dringend  Berichte über nationale & erforderlich, um die materielle Existenz großer Teile internationale Arbeitskämpfe der Bevölkerung zu sichern und in der Konsequenz  Debatten und Kommentare zur die Demokratie zu stärken. Politik der Ökonomie Einzelheft: 8 € · Jahresabo: 28 € ZEITUNG FÜR SOZIALISTISCHE Niddastraße 64 60329 FRANKFURT Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen [email protected] und Wissenschaftler (BdWi)

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142 luxemburg | 2/2016

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Étienne Balibar Alex Demirović (Hrsg.) Europa: Krise und Ende? Transformation der aus dem Französischen übersetzt Demokratie - demokratische von Frieder Otto Wolf Transformation 2016 - 276 Seiten - 24,90 € 2016 - 305 Seiten - 29,90 € ISBN: 978-3-89691-842-0 ISBN: 978-3-89691-843-7

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Zeitschrift für Philosophie und Das Argument Sozialwissenschaften 317 Das jugoslawische Projekt W.F.Haug: Moment-Aufnahmen vom letzten Akt *** G.Kirn: Von der Partisanenrevolution zum J.Rehmann: Bernie Sanders und die neoliberale Marktsozialismus Hegemoniekrise M.Komelj: Die Partisanenkunst und der Surrealismus I.Landa: Der nietzscheanische Kommunismus von K.Zovak: Widersprüche der Arbeiterselbstverwaltung Alain Badiou A.Čakardić: Frauenkämpfe in Jugoslawien und danach L.Sève: Für eine Wissenschaft der Biographie K.Stojaković: Vom sozialistischen Staatsgründer zum sowie Nachrichten aus dem Patriarchat und nationalen Verräter? Tito und seine Biographen Rezensionen

Abo & Versand · [email protected] Einzelheft 13€ (im Abo 10€, zzgl. Versand) Redaktion Das Argument · I. Schwerdtner Tel: 030 - 611 -3983 www.inkrit.org/argument Kontakt: [email protected]

4 Ausgaben für 10 Euro! analyse&kritik Bestellungen: Zeitung für linke quer statt stellen lesen Quer www.akweb.de Debatte und Praxis

luxemburg | 2/2016 143

_LUX_1602.indb 143 25.08.16 11:03 impressum

Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis ISSN 1869-0424 Dieses Heft wurde als Sonderausgabe in Kooperation mit der US-amerikanischen Zeitschrift Jacobin produziert. Herausgeber: Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung V.i.S.d.P.: Barbara Fried, [email protected], Tel: +49 (0)30 443 10-404 Redaktion: Mario Candeias, Alex DemiroviĆ, Barbara Fried, Corinna Genschel, Christina Kaindl und Rainer Rilling Heftredaktion: Harry Adler, Moritz Altenried, Loren Ballhorn, Michael Brie, Hanno Bruchmann, Ferdinand Muggenthaler, Stefanie Kron, Tadzio Müller, Katharina Pühl, Hannah Schurian, Ingar Solty, Bhaskar Sunkara, Moritz Warnke und Florian Wilde Kontakt zur Redaktion: [email protected] Redaktionsbüro: Harry Adler, [email protected] Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Telefon: +49 (0)30 443 10-157 Fax: +49 (0)30 443 10-184 www.zeitschrift-luxemburg.de Join us on Facebook: http://www.facebook.com/zeitschriftluxemburg Twitter: http://twitter.com/luxemburg_mag Abonnement: Seit 2014 erscheint die LuXemburg kostenfrei. Bestellen unter: www.zeitschrift-luxemburg.de/abonnement Förderabonnement: Jede Spende ist willkommen. Copyleft: Alle Inhalte, sofern nicht anders ausgewiesen, laufen unter den Bedingungen der Creative Commons License: Lektorat: Text-arbeit. Lektorats- und Textbüro für Politik, Wissenschaft und Kultur; www.text-arbeit.net Titel- und Rubrikenillustration: © Adam Avery Grafik und Satz:Matthies & Schnegg – Ausstellungs- und Kommunikationsdesign, www.matthies-schnegg.com

Druck: DRUCKZONE GmbH & Co. KG, Cottbus, Druck auf PEFC zertifiziertem und säurefreiem Papier

144 luxemburg 2/2016 | Impressum

_LUX_1602.indb 144 25.08.16 11:03 1/2016 Hart an der Grenze Der ›Sommer der Migration‹ ist einem Winter rassistischer Übergriffe gewichen und dieser einem eine zeitsCHriFt der rosa-luxemburG-stiFtunG 1 16 reGieren im ausnaHmezustand 31 Frühjahr, das uns zwischen humanitärer Katastrophe und Wahlerfolgen der AfD erstarren lässt. Eine FluCHTbekämPFunG à la eu geSellSCHAFTSANAlYSe uND lINKe PrAxIS 20152016 miGration@Work siCHerHeit: ein Heisses eisen Für die linke? oFFene Grenzen als utoPie und realPolitik Bearbeitung der Fluchtursachen wird nicht versucht. Stattdessen Regieren mit und im Ausnahmezu- Hart an der Grenze GiorGio aGamben | maria osHana | bernd Willkommen und Wie Weiter? KaspareK | Marei pelzer | Bodo raMelow | HannaH scHurian |

umCare statt umkeHr emburg x inGar solty | barbara Fried | Peter birke | tine Haubner | stand. Das Gegenstück zur autoritären EU-Elite ist der grassierende Rechtspopulismus. Doch offenbart

issn 1869-0424 lu Fabian GeorGi | mario Candeias | david Harvey | u.a. die massenhafte Solidarität mit den Geflüchteten auch beeindruckende Formen der Selbstermächtigung und vorsichtigen Demokratisierung von unten. Wie können daraus Ansätze für weiterreichende Organisierung im Alltag entstehen? Projekte, mit denen die Linke Glaubwürdigkeit erlangen und den Rechten den sozialen Boden ihres Erfolgs abgraben kann?

Beiträge Giorgio Agamben | Peter Birke | Barbara Fried | Fabian Georgi | David Harvey | Horst Kahrs | Bernd Kasparek | Maria Oshana | Marei Pelzer | Bodo Ramelow | u.a.

April 2016, 144 Seiten

_LUX_1601_TITEL.indd 1 04.04.16 17:11 3/2015 smarte neue Welt

eine zeitSChrift der roSa-luxemBurg-Stiftung 3 Die Roboter kommen, die Arbeit geht? Mit Schlagworten wie »Industrie 4.0« oder »Zweites 15 digitaliSierung: StruKturWandel und hype 3 die roBoter Kommen, die arBeit geht? geSellSCHAFTSANAlYSe uND lINKe PrAxIS 2015 die KünStliCh KünStliChe intelligenz Maschinenzeitalter« werden Umbrüche in der Produktions- und Lebensweise verhandelt. Nicht lifelogging CyBorgS queer geleSen Smarte neue Welt evgeny morozov | ralf Krämer | tanja algorithmen, Kontrolle und demoKratie immer sind die strukturellen Veränderungen hinter der Ideologieproduktion auszumachen. CarStenSen | ChriStoph Spehr | Bernd riexinger | halina

populiSmuS und hegemonie emburg

x WaWzyniaK | franK paSquale | dagmar finK | niCK gentry

iSSn 1869-0424 lu vaSSiliS S. tSianoS | moritz altenried | antonio negri | u.a. Digitale Revolution betrifft jedoch nicht nur Produktions- und Arbeitsverhältnisse. Soziale Medien verändern Kommunikationsweisen, Lifelogging-Apps otimieren neoliberale Selbsttechnologien und mit Hilfe vernetzter Daten werden Mobilitätskonzepte wie Gesundheitsversorgung umgebaut, von den ökologischen Konsequenzen dieser SMART NEW WORLD ganz zu schweigen. Doch wer verfügt über all die Daten, Algorithmen und Infrastrukturen? Und wem gehört die frei werdende Zeit?

Beiträge Evgeny Morozov | Ralf Krämer | Tanja Carstensen | Christoph Spehr | Bernd Riexinger | Halina Wawzyniak | Frank Pasquale | Dagmar Fink | Moritz Altenried | Antonio Negri | u.a.

Dezember 2015, 144 Seiten

2/2015 DAS BISSCHEN BILDUNG

eine zeitschrift der rosa-luxemburg-stiftung 2 Wenn politische Alternativen schwach und Handlungsoptionen rar sind, bleibt oft der Ruf nach 15 was kann bildung von links? 2 master of activism geSellSCHAFTSANAlYSe uND lINKe PrAxIS 2015 ›Bildung‹ – auch in der Linken. So sehr Aufklärung linker Glutkern ist, so verquer ist die Hoff- bildungsfernweh child care crisis im zweifel PoPulismus das bisschen bildung ... Julika bürgin | uwe hirschfeld | nung, verbesserte Welt- und Selbsterkenntnis allein könnte eine Änderung der Verhältnisse #blacklivesmatter María Do Mar Castro Varela | Katrin reiMer-GorDinsKaya |

debatte neue klassenPolitik emburg x Paula bulling | alberto garzón | axel rüdiger | laurence voranbringen. Im Angesicht der eigenen Ohnmacht wird außerdem oft kritische Bildungsarbeit issn 1869-0424 lu cox | sabine hattinger-allende | david salomon u.a. auf Methoden, Moderation und die Vermittlung von skills verengt. Austerität, Vermarktlichung und die Entsicherung von Arbeit verändern unterdessen die Bedingungen von Bildung massiv: Die Räume werden enger, die Zeit wird knapper. Dabei ist die Notwendigkeit von Kritik und Alternativen größer denn je. Was also tun mit dem BISSCHEN BILDUNG?

Beiträge Julika Bürgin | Uwe Hirschfeld | María Do Mar Castro Varela | Alberto Garzón | Axel Rüdiger | Katrin Reimer-Gordinskaya | Laurence Cox | David Salomon | u.a.

August 2015, 120 Seiten _LUX_1502_FINAL.indd 1 23.07.15 12:57

1/2015 mehr als prekär Prekarisierung meint nicht mehr nur die Ausweitung unabgesicherter, schlecht bezahlter Arbeits- EinE ZEitScHRift dER RoSA-LuxEMbuRg-Stiftung 1 15 diE ZuKunft bEginnt HEutE 1 verhältnisse, sie ist in alle Lebensbereiche eingewandert: Zeitstress, die Unmöglichkeit, das KRiSE, KoMMuniKAtion, KAPitALiSMuS geSellSCHAFTSANAlYSe uND lINKe PrAxIS 2015 PREKÄR und WidERStÄndig fLücHtLingE und gEWERKScHAft ZiEMLicH viEL KLASSE eigene Leben planen zu können, Verdrängung aus den Städten und wachsende Reproduktionslü- MEHR ALS PREKÄR JuLiEt ScHoR | KAtJA KiPPing | noRbERt cARing foR StRAtEgy WoHLfAHRt | Loïc WAcquAnt | ingRid ARtuS | JAnA SEPPELt |

gESundHEitSvERSoRgung gAnZ AndERS? emburg x bERnd RiExingER | bARbARA fRiEd | AnnE StEcKnER | PEtER cken. Prekarisierung ist neue ›Normalität‹ – und doch betrifft sie nicht alle gleichermaßen, sind

iSSn 1869-0424 lu bREMME | JuLiA dücK | cHRiStiAn fucHS | HoRSt KAHRS u.A. die Möglichkeiten, mit vielfältigen Verunsicherungen umzugehen, klassenabhängig. Wo lassen sich dennoch geteilte Betroffenheiten ausmachen, die zum gemeinsamen Handeln anregen? Wie sind Bündnisse zwischen Kern und Rand, prekär Beschäftigten und Erwerbslosen oder zwischen PatientInnen und Pflegekräften zu schmieden? Wie kann Zukunft im Heute gestaltet werden?

BEITRÄGE Juliet Schor | LoÏc Wacquant | Norbert Wohlfahrt | Katja Kipping | Bernd Riexinger | Julia Dück | Peter Bremme | Ingrid Artus | Jana Seppelt | Christian Fuchs | Horst Kahrs | u.a.

April 2015, 120 Seiten

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LUX_1602_U3.indd 1 24.08.16 17:41 eIne zeITsChrIFT der rOsa-luXemBurG-sTIFTunG VerBIndende Oder sTraTeGIsChe parTeI Was kOmmT naCh sanders? sOCIal mOVemenT unIOnIsm dIe lInke und GeWerksChaFTlIChe erneuerunG munIzIpalIsmus und eIn eurOpa der kOmmunen reBellIsChe sTädTe Im sTressTesT ende Gelände Im GereChTIGkeITsdIlemma Issn 1869-0424

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