PETER STEINBACH

Kurstädte und Badeorte des 19. Jahrhunderts als politische Bühne: Das Beispiel und die Perspektiven der „kleinen Weltstadt" Baden-Baden

Achtzehn Gedanken zum Thema zialer, kultureller und politischer Kommunikations­ und Umgangsformen hatte. Sie prägten das 19. Jahrhundert und 1. In den europäischen Erholungsorten ­ die es in ihrer spe­ machten aus der altständischen Adelsgesellschaft eine Bür­ zifischen Funktion und in ihrer räumlich differenzierenden gergesellschaft, die in die Zukunft wies. Erscheinung erst seit dem 19. Jahrhunderts gibt ­ spiegelt sich nicht nur der Aufstieg des Bürgertums, sondern eine 4. Ist die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Entste­ grundlegende historische Entwicklung, die spezifisch euro­ hung einer neuen Schicht des Bürgertums geprägt, so lässt päisch ist. So lässt sich beispielhaft an den großen und be­ sich die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Ten­ deutenden, nicht selten literarisch verdichteten Kurorten denz zur Nationalstaatsbildung und zur Nationalisierung die Entstehung neuer Kommunikations­ und Umgangsfor­ der politischen Kultur charakterisieren. Die Nationalstaaten men sichtbar machen, die die entstehende «neue Gesell­ verstärkten politische Konflikte, die ideologisiert und mit schaft" als ein menschliches Beziehungsgefüge prägen. An destruktiver Vehemenz in den kriegerischen Konflikten aus­ einzelnen Kommunikat ions­Achsen ­ den Wandelhallen. getragen wurden, die nicht nur die Stellung Europas in der Kurparks und Spazierwegen, den Parkhäuschen, Silzplät­ Welt nachhaltig erschütterten, sondern auch eine neue Pha­ zen, den Spielfeldern und Reitwegen ­ lässt sich dies bis se in der Geschichte des Bürgertums einleiteten. Mit dem heute spürbar machen. Hinzu kommen Pavillons, Kurhäu­ Abstieg des Bürgertums begann auch ein Abschied von bür­ ser, Konzertmuscheln, Passagen, die vor allem dem Zweck gerlichen Lebensformen. Dieser Prozess veränderte auch dienen, menschliches Miteinander zu praktizieren und zu die Kurorte, die bis dahin als Weltkurorte galten und nun präsentieren. deutlicher der Daseinsvorsorge dienten. An die Stelle der Sommerfrische trat die Kur, die als Sozialleistung begriffen 2. Das 19. Jahrhundert gilt in politischer Hinsicht als das Zeit­ wurde alter der bürgerlich­liberalen euro­atlantischen Doppelre­ volution. Dieser Begriff deutet den Umbruch politischer 5. In dem gesellschaftlichen Leben, das sich an den Bade­ Willensbildung an. der zugleich neue Formen politischer und Kurorten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts grei­ Kommunikation zur Voraussetzung hat. Dabei geht es nicht fen lässt, wird vor allem das von der Industrialisierung mit nur um Rhetorik, sondern auch um Lektüre, um Musik, um den durch sie forcierten sozialen Fragen zunächst nicht be­ Diskussion. Das 19. Jahrhundert wird als „langes Jahrhun­ einflusste gesellschaftliche Miteinander sichtbar. Es spiegelt dert" bezeichnet. Es umfasst die Jahrzehnte zwischen 1776 sich in diesen Orten stärker als in den großbürgerlich ge­ und 1918 und macht vor allem im Zeitraum bis 1848 die prägten Wohnvierteln der expandierenden Groß­ und In­ nicht selten revolutionär durchgesetzte Veränderung der dustriestädte. Dies macht die bedeutenden Badeorte zur ständischen Zuschreibungs­ in die moderne I.eistungsge­ Besonderheit europäischer Kulturgeschichte. Deshalb ist es sellschaft sichtbar. sinnvoll, in ihnen eine epochenspezifische Lebensform sichtbar zu machen. Die großen Badeorte spiegeln zugleich 3. Dieser Wandel von der ständischen Gesellschaft zur bür­ zwei Dimensionen: Sie sind geprägt durch die Nationalkul­ gerlichen Gesellschaft prägt die Badeorte, die in besonderer turen, in denen sie wurzeln ­ zugleich reflektieren sie eine Weise die Überschneidung der beiden Lebensbereiche Adel universal angelegte europäische Kultur, die weit über die und Bürgertum nicht nur verdeutlichen, sondern auch er­ Grenzen des europäischen Kontinent ausstrahlt. Sogehören ahnen lassen, welche Folgen diese Überlagerung von Le­ sie zwar zur Geschichte des Jahrhunderts der Revolutionen, bensformen und Lebensstilen für die Entstehung neuer so­ des Kapitalismus, des Bürgertums. Zugleich machen sie 212 Rolle der Kurstädte im Europa des 19. Jahrhunderts

aber auch Verzögerungen des sozialen Wandels sichtbar Namen bewahren. Diese Orte werden geradezu ein Syno• und spiegeln Elemente einer Völker verbindenden Univer- nym für eine Exklusivität, die durch Spielbanken, Promena• salkultw, die die sozial- und kulturhistorischen Entwicklun• den und Gebäude von spezifischer Gestalt ganzen Orten gen auf eine weniger dramatische Weise prägten als Indust• eine Art mondäner Ausstrahlung gibt: Vielfach verfügen sie rialisierung. Urbanisierung und Binnenwanderung. über Veranden, Terrassen oder Balkone und gelten bis heute als eindrucksvolle Zeugnisse einer spezifischen Bäderarchi• 6. In den Bade- und Kurstädten spiegelt sich so gleichsam tektur. die Abenddämmerung eines ganzen Zeitalters, das mit der europäischen „Urkatastrophe" (George Kennan) des Ersten 9. Weil die Kurstädte und Badeorte die Angehörigen der Well kriegs vergeht, die Welt von gestern im Sinne von Stefan oberen Schichten zusammenführten, entwickeln sie sich Zweig. I lief reflektiert sich ein /.eilaller, das l leinrich Mann zu unverwechselbaren Orten einer Stände übergreifenden in seinen Erinnerungen nur noch „besichtigen" zu können Kommunikation und nicht seilen auch politischer Gesprä• meinte, vielleicht, weil sein Bruder Thomas Mann mit den che, die dem politischen Verlauf des 19. Jahrhundert eine Buddenbrooks Geist und Gestalt des bürgerlichen 19. Jahr• Richtung geben. Außenpolitisch bleibt es durch politische hunderts auf eine nicht zu übertreffende Weise zur An• Kongresse und Verhandlungen geprägt - trotz der revoluti• schauung gebracht hat - mit seinen Denk-, Kommunika• onären Unruhen, der Nationalstaatsbildungen und Unab• tions- und Umgangsformen. Auch in anderen Romanen hängigkeitserklärungen. Die Bildung der Nationalstaaten spiegeln sich Lebensstile und Kommiinikationsformen des verändert das Machtgefüge Europas. 19. Jahrhunderts, die universale Bedeutung erlangen, weil sie die Lebensweise anderer Schichten prägen: Der Adel ver• 10. Die Spitzen des mitteleuropäischen Adels, die regieren• bürgerlicht, das Bürgertum versuch! sich zu feudalisieren. den Häupter, suchen im Sommer vor allem in Mitteleuropa Auch die proletarische „unterständische Lebensweise" ori• die im 19. Jahrhundert entstehenden Kurstädte auf - diese entiert sich an den Wertvorstellungen des Bürgertums. Die• Orte treten oftmals an die Stelle der Sommerschlösser und se Überlagerungen gesellschaftlicher Lebensweise lässt sich Sommersitze. Sie werden dabei zwar zum gesellschaftlichen bis heute als Abglanz in den großen Hotels des 19. Jahrhun• Treffpunkt herrschaftlicher Häuser, zugleich aber entfalten derts, in Villen, Spielbanken. Theatern und Promenaden sie eine stilbildende Kraft. Denn durch das entstehende Sys• sichtbar machen. tem der Massenmedien wird über ihren Aufenthall berich• tet, über Verhalten, Kleidung, Vorlieben und das gesell• 7. In der Tat waren Kurstädte des 19. Jahrhunderts Zentren schaftliche Leben. der Erbauung, der Zerstreuung und der Kommunikation. Zugleich aber bekamen sie eine zunehmende politische Be• 11. Charakteristisch ist für viele dieser Orte, dass sie eine deutung, denn sie entwickelten sich vielerorts zu einer poli• Anziehungskraft entfalten, die die europäischen Führungs• tischen Bühne für die Diplomatie. Sie ziehen in der Mitte schichten erfasst und die Orte verändert. Weil Europa mul• Europas auf eine andernorts so nicht vorzufindende Weise tikonfessionell ist, entstehen an den europäischen Badeor• deshalb nicht nur das Großbürgertum und den Adel an und ten Kirchen unterschiedlichen Typs. Sie versinnbildlichen lassen eine neue politische Führungsschicht entstehen, die eine wachsende konfessionelle Toleranz, die in einem merk• ihre Abgeschlossenheit überwindet, indem sie Einfluss, würdigen Kontrast zu den säkularen mentalen nationalpoli• Reichtum, gesellschaftlichen Verkehr vermengt, sondern in tischen Verengungen im Europa der Nationalstaaten steht. ihnen vermischen sich Sphären des Privaten und des Öffent• Dies lässt sich an bedeutenden Badeorten wie lichen. Diese Überlagerung ist eine Kennzeichen der Moder• und Baden-Baden zeigen. Baden-Baden steht dabei für die nisierung: Politisierung, Demokratisierung und Polarisie• Zusammenkunft deutscher Herrscherhäuser in den erst• rung sind eine Folge. klassigen, bekannten und stilbildenden Hotels, während Wiesbaden seinen Ruf auf die Vorliebe Kaiser Wilhelms II. 8. Eine der Bühnen, die diesen Prozess des Politikwandels gründet. deutlich werden lassen, sind die Kurslädte und Badeorte. In ihnen entwickelt sich eine Besonderheit, die in dieser Aus• 12. Gerade die Verknüpfung wichtiger politischer Ereignisse prägung, (ieschlossenheit und Dichte nur in West- und Mit• mit den immer attraktiver werdenden Bade- und Kurorten teleuropa anzutreffen ist. Ihr Bild wird bestimmt durch machen sie bekannt und geben ihnen eine neue und wichti• erstklassige Hotels, die bis weit in das 20. Jahrhundert ihren ge Bedeutung als Orte der Kommunikation, der Diplomatie Kurstädte und Badeorte des 19. Jahrhunderts als politische Bühne 213

und der politischen Neuorientierung. Diese Bedeutung halll nahme, die sich dann im Laufe der Jahrzehnte im Aufblühen aus dem 19. Jahrhundert in das 20. Jahrhundert nach. Der von Seebädern wie Westerland auf Sylt niederschlägt, aber Waffenstillstand von 1918 ist ebenso mit dem Namen eines auch die Attraktivität der Ostseebadeorte und Inseln - wie Kur- und Badeortes verknüpft wie die überraschende Rück• Hiddensee - sowie der Nehrungen - Nidda - begründet. kehr des im Ersten Weltkrieg besiegten Deutschen Reichs in Ihre Bekanntheit nimmt zu, weil Schriftsteller wie Gerhard das Konzert der europäischen Diplomatie in Rapallo oder Hauptmann und Thomas Mann die Seesommerfrische be• die grundlegende Neuorientierung des deutsch-französi• kannt machen. Theodor Fontane hatte sich noch mit den schen Verhältnisses in Locarno. Das Treffen zwischen Harzorten begnügt und zum Gegenstand eines Romans ge• Chamberlain und Hitler in Bad Ciodesberg 1938 ist schließ• macht. lich nur noch ein fader Nachklang dieser Diplomatie vor Ausbruch des Massenzeitalters und der weltanschaulich und 16. In den Badeorten angesiedelte Romane begründeten rassenideologisch gerechtfertigten „totalen Kriegsführung". nicht nur ihre Bekanntheit, sondern auch ihre Idee. Bekannt wurden aber vor allem die Badeorte, die sich in der öffentli• 13. In den Bade- und Kurorten, die in ganz Europa im Laufe chen Wahrnehmung im 19. Jahrhundert als eine neuartige des 19. Jahrhunderts entstehen, wird ein verändertes Um- „politische Bühne" für diplomatische Aktionen niederschlu• weltbewusstseins, ein sich entwickelndes Gesundheitsver• gen. Im 17. und 18. Jahrhundert hatte sich der Namen man• ständnis, vor allem aber auch das Stände. Klassen und cher Orte im Zusammenhang mit Friedenschlüssen einge• Schichten übergreifende Kommunikationsverhalten sicht• hrannt: Münster und Osnabrück, schließlich Rastatt oder bar, das das „bürgerliche Zeitalter" (Eric Hobsbawn) prägt. Wien hatten eine Bekanntheit erlangt, die ihren Namen fast Es ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Vorliebe für zum Symbol einer neuen politischen Ordnung machte. Die mondäne Aufenthalte in den neu entstehenden „Grand• Badeorte des 19. Jahrhunderts konnten diese prägende Be• hotels". Vor allem in ihnen, die sich nur selten über das Jahr• deutung niemals erlangen. Dennoch signalisierten sie eine hundert hinaus erhalten, spiegeln sich auch Weltverständ• das Zeitalter prägende Wirkung. So stand Bad Kissingen für nis und Selbstbewusstsein des 19. Jahrhunderts. die Zweifel Bismarcks an seiner Mission - er schien resignie• ren zu wollen. Bad Gastein war nicht nur der Ort der Begeg• 14. Das 19. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch den Ab- nung zwischen dem Habsburger Kaiser Franz-Joseph I und schluss der europäische Expansion, durch zunehmende po• Wilhelm I., Marienbad und Karlsbad waren nicht nur der litische, nicht selten kriegerisch ausgetragene Konflikte um Treffpunkt europäischer Intellektueller, Bad Ems war kei• Hegemonie im imperialistischen Zeitalter, nicht zuletzt neswegs nur der Ort, der durch die von Bismarck redigierte aber durch die Verlagerung der europäischen Konflikte an und deshalb verschärfte Depesche mit dem Ausbruch des die Peripherien der expandierenden Kolonialreiche. Charak• Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 verbunden ist, teristisch für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Revo• sondern es handelte sich um europäische Orte, die durch lutionen, die zugleich das Selbstbewusstsein und die zivili• diese politischen Ereignisse bekannter wurden. satorische Selbstgewissheit erschüttern. Sie begründen die Sehnsucht nach Ruhe, die angeblich zur ersten Bürgerpflicht 17. Einer der Orte, die mehr als 100 Jahre mit dem außen• wird, nach Kontemplation, nach Ausstieg aus dem Alltag. politischen Geschehen verbunden werden müssen, ist ohne Sommersitze waren bis dahin das Vorrecht des begüterten Zweifel Baden-Baden. Dies zu betonen, ist keineswegs Aus• Adels und vor allem der herrschenden Häuser. druck eines übersteigerten Lokalpatriotismus. Vielmehr spie• gelt sich in den mit Baden-Baden verknüpften Ereignissen 15. Aufblühende Badeorte - hier müssen Marienbad. Karls• die Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts, das für Höhen bad genannt werden - ermöglichen auch Vertretern des und Tiefen wie die großen Kriege, aber auch für die Fundie• wohlhabenden, gebildeten Bürgertums den Rückzug in die rung der deutsch-französischen Zusammenarbeit und ihre „Sommerfrische". In der Regel befinden sich diese Orte im Vertiefung zu einer von politischen Irritationen letztlich Binnenland, in der Nähe von Quellen, von Bergen, in ge• nicht mehr beeinflussbaren Freundschaft steht. mäßigter Höhenlage. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen einige See-Orte dazu. Die Ostfrie• 18. Deshalb wird die Bedeutung von Baden-Baden nur im sischen Inseln und die Kaiserbäder auf Usedom propagieren Verbund europäischer Kurorte deutlich. die Idee der gesundheitsfördernden Seeluft und damit der Luftveränderung, eine die Gesundheit stabilisierende Maß• 214 Rolle der Kurstädte im Europa des 19. Jahrhunderts

Baden-Baden - Beispiel für einen Weltkurort Baden und zum Opfer nationalsozialistischer Besatzungs• politik. Die Befreiung von der NS-Herrschaft machte weite Baden-Baden, im 19. Jahrhundert immer wieder nicht nur Teile des deutschen Südwesten und einen Sektor der ehe• als „Weltkurort", sondern regelmäßig als „europäische Som• maligen „Reichshauptstadt Berlin" zur französischen Besat• merhauptstadt" bezeichnet, hat mit dem neu eingerichteten zungszone. Stadlmuseum eindrucksvoll seine örtliche Geschichte er• schließen können. Es macht unter anderem deutlich, wel• Die französische Präsenz in Berlin symbolisierte auch die che Bedeutung Baden-Baden als römischer Badeort, als französische „Mitverantwortung für Deutschland als Gan• Kurort und als Zentrum eines deutsch-russischen Kultur• zes". Das wurde zunächst als belastend empfunden und lei• austausches hatte. Die Zeitgeschichte wird reflektiert, aber tete dennoch eine Wende zur sich verstärkenden Nähe ein, auf beeindruckende Weise auf die Kaiserzeit, die Weimarer die schließlich die Grundlagen für eine Entwicklung schuf, Republik und das Dritte Reich konzentriert. Jede Überle• die Voraussetzung der europäischen Einigung in allen As• gung zur Geschichte Baden-Badens hat in diesem Museum pekten wurde. Diese dramatische Geschichte der Spannun• einen ebenso wichtigen Ausgangs- wie Zielpunkt. gen, Wandlungen, Austauschbeziehungen und schließlich des Erfolges der deutsch-französischen Freundschaft bedarf Mit der architektonisch bemerkenswerten Kunsthalle (ne• einer Darstellung und inhaltlichen Auseinandersetzung, ben dem kongenial damit verbundenen Frieder-Burda- denn sie ist die Grundlage europäischer Gemeinsamkeit Museum). dem Konversationshaus, dem Spielcasino. dem und markiert so recht und ganz konkret die entscheidende Theater sowie dem Friedrichsbad verfügt die Stadt über Grundlinie der Nachkriegszeit: Deutschlands „langer Weg Magnetpunkte - die ergänzt werden durch das Brahms- nach Westen" (Heinrich August Winkler) als Ausdruck einer 1 laus, durch das Ensemble bedeutender Hotels des 19. Jahr• kulturellen Annäherung und Angleichung unter Wahrung hundert, darunter Brenners Park-Hotel, durch das Vor• regionaler und nationaler Besonderheiten in einem Europa gebäude des modernen Festspielhauses, den ehemaligen der Pluralitäten. Baden-Badener Kaiser-Bahnhof -, durch die sich ebenfalls manche Möglichkeit ergibt, die kulturelle Bedeutung des Auf den ersten Blick wird Baden-Baden assoziiert mit der Ortes von internationaler Bedeutung anschaulich werden mondänen Welt des 19. Jahrhunderts. Aus dem Blick zu ge• zu lassen. Immerhin war Baden-Baden im Jahre 1863 Treff• raten droht, dass die Stadt Baden-Baden nach 1945 lange punkt des französischen Kaisers Napoleon III. mit den deut• Zeit ein Drehpunkt der deutsch-französischen Beziehungen schen Königen und bedeutenden Landesherren. Nun galt es war. Hier fanden wichtige, geradezu Weichen stellende Be• als „kleinste Weltstadt". Immer wieder trafen hier wichtige gegnungen statt, die die deutsch-französische Kooperation Politiker und Staatsmänner zusammen, so wie sich seit den beförderten. sechziger Jahren immer wieder die Staatsspitzen aus Frank• reich und Deutschland trafen und in den sechziger Jahren In Baden-Baden befand sich fast fünfzig Jahre das Zentrum zwar nicht die europäische Integration einleiteten, aber der französischen Militärverwallung in Deutschland mit 1962/63 die Bundesrepublik und Frankreich zum Motor der einer der größten französischen Militärstützpunkte. Diese europäischen Einigung machten. Funktion prägte die Stadt in vielerlei Hinsicht und machte zugleich eine Besonderheit der alliierten Besatzungsmächte Damals hatte sich eine spannungsreiche Beziehungsge• deutlich, denn im Laufe der Jahre t rat der bedrohliche Cha• schichte gerundet, die einen ersten Höhepunkt mit den Zer• rakter der Besatzungsmächte in den Hintergrund. Die Mili• störungen im Pfälzischen Krieg gefunden hatte. Wenig spä• tärs, die ursprünglich erklärt hatten, sie kämen nicht als ter schloss sich ein kriegerischer, verfassungsgeschichtlich Befreier, sondern als Sieger, wurden zu Partnern, die sich auf allerdings positiv zu würdigender Abschnitt mit den napole• vielfältige Weise mit der Bevölkerung arrangierten, deren onischen Revolutionskriegen an. 1830 und dann während Wahrnehmungen beeinflussten, sich aber auch selbst verän• der Revolutionszeit von 1848 folgte eine äußerst schwierige derten. So wandelte sich durch die Besatzungsmacht in po• Phase mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. litisch-kultureller Hinsicht entscheidend das Bewusstsein Der deutsche Südwesten wurde zur schweren Belastung für der Nachkriegsdeutschen. die deutsch-französischen Beziehungen. Denn das Elsaß wurde zum „Reichsland", im Zuge des Versailler Vertrages Der Südwestfunk in Baden-Baden wurde nicht nur zu einem wieder Teil Frankreichs, nach 1940 Bestandteil des Gaues anspruchsvollen Kultursender, sondern auch zur Dreh- Kurstädte und Badeorte des 19. Jahrhunderts als politische Bühne 215

Scheibe des kulturellen Austausches zwischen Deutschland Frankreich machen Konturen eines kulturellen Austausches und Frankreich. Seit dem Beginn der Neuzeit war die Rhein• und einer politischen Annäherung auch im Alltäglichen schiene territorialpolitisch ebenso umkämpft wie um• deutlich, die den südwestdeutschen Raum zum Kernland stritten. Sie wurde zum Bezugspunkt einer nationalen des Kulturaustausches machte. So wurde das Gebiet des Identitätsbestimmung in Deutschland und Frankreich, von Oberrheins zu einer der wichtigsten Austauschzonen in der •Marianne und Germania". Diese Konflikte reichten weit in Kultur beider Länder. die Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts hinein, wurden aber mit der Entstehung der Nationalismen in den beiden Früh wurde so deutlich, dass Grenzen nicht nur trennen, großen Anrainer-Staaten verbunden. vielmehr auch verbinden. Grenzen sind historisch entstan• den. Sie markieren Räume, aber auch Austauschzonen. In Dass sich diese nicht selten militärisch und konfliktreich auf• Baden-Baden lässt sich das besonders deutlich zeigen. Da• geladene deutsch-französische Nachbarschaftsgeschichte mit nimmt der im 19. Jahrhundert zur „kleinen Weltstadt" keineswegs nur in den nationalistischen Zuspitzungen des gewordene Ort, begünstigt durch die Natur, noch einmal die 19. und 20. Jahrhunderts erschöpfte, zeigte die Konfessions-, Kommunikationsbedingungendes 19. Jahrhunderts auf und Kultur-, die Sprach- und Revolutionsgeschichte des südwest• knüpft im 20. Jahrhundert in vielfältigen kulturellen und po• deutsch-ostfranzösischen Raumes. Vor allem seit 1789/90 litischen Manifestationen an. Diese Tendenz verstärkte sich wird deutlich, in welchem Maße Mitteleuropa durch die im Zuge der Europäischen Integration, die Baden-Baden Wertvorstellungen der französischen Moderne geprägt wur• auch durch die Nähe zu Straßburg und Karlsruhe als der de. Baden nahm dabei eine wichtige Vorreiterrolle ein. deutschen Hauptstadt des Rechts beeinflusste und sie so at• traktiv macht für die Diplomatie, bis hin zu der Feier des 60. Die Entstehung des Großherzogtums Baden mit einer denk• Gründungstages der NATO als Institution, die den Frieden bar modernen Verfassung, die Auswirkungen der Reform• nicht nur verteidigte, sondern sicherte und an die diploma• zeit und die Zwischenstellung Badens zwischen dem Deut• tiegeschichtliche Vergangenheit des Badeortes anknüpfte. schen Bund und später auch dem Deutschen Reich und

19th Century health resorts and fashionable as a political stage: The example and the perspectives of the „small cosmopolitan city" Baden-Baden

The 19th Century spas reflect the radical changes that this mer capital" due to the fact that heads of states often meet Century brought. Ihe aristoeratie culture and the class Soci• here. This results in specific architecture, bul also in rec- ety are replaced by a civil society characterized by new reational and entertainment offers that shape the culture. forms of communication, which can be noticed particularly Its relevance remains even after the changes brought about in the bathing, spa and health resorts that develop during by the World Wars - until recently, because Baden-Baden is the 19th Century. Of special importance are the world-class the location of a decisive meeting between Adenauer and De spa resorts that represent a new lifestyle and mode of inter- Gaulle and continues to be an important location in terms action and, at the same time. bridge the social gap between of diplomatic history even afterwards: a "small cosmopoli• the old and the new ruling classes. Baden-Baden is a signifi- tan city" that sets trends. cant example for this type of spas. It is called „Europe's Stim•

Stations thermales et villes d'eaux ä la mode du 19e siecle comme scene politique: I'exemple et les perspectives de la «petite ville metropole» Baden-Baden

Les stations balneaires et thermales du 19'' siecle refletent balneaires, thermales et de repos qui commencent ä se for- les changements profonds que ce siecle apportait. La bour- mer pendant le 19'' siecle. Les stations thermales mondaines geoisie remplace la culture nobiliaire et la societe d'ordres: ont une importance speciale: elles representent un nouveau eile est caracterisee par des nouvelles formes de communi- style de vie et de contact et elles surmontent les divisions cation qui se notent particulierement bien dans les stations sociales entre les classes dirigeantes passees et nouvelles. 216 Rolle der Kurstädte im Europa des 19. Jahrhunderts

Baden-Baden en est un exemple significatif. On I'appelle Cette importance reste aussi apres les deux guerres mondi- « capitale europeenne de Fete », parce qu'ici des chefs d'Etat ales - jusquä notre temps, car Baden-Baden est lieu d une se rencontrent souvent. Ce fait porte ä une architecture spe- rencontre decisif entre De Gaulle et Adenauer, et apres cet cifique des structures thermales, mais aussi ä des offres de evenement Ja ville continue ä faire date en matiere de diplo- recreation et de divertissement qui faconnent la culture. matie - une « petite metropole » qui lance le style.