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ormal läuft alles korrekt ab: Von Tessa Szyszkowitz, Diesen Dienstag fällen die FVolksvertreter des Vereinig- igentlich ist Rachel Johnson Journalistin und ten Königreichs ihr Urteil über den Romanautorin, aber seit ihr Bruder Boris Brexit. EGroßbritannien in den Brexit getrieben hat, Am 29. März des kommenden ist sie Expertin für „Borisologie“ geworden. Nur zö- Jahres wird Großbritannien ge- gerlich hat sie zugestimmt, mit profil zu sprechen. mäß Artikel 50 des EU-Vertrags „Ich liebe meinen Bruder, das ist klar“, sagt die ener- die Europäische Union verlassen. getische Mutter dreier Kinder: „Ich versuche, den Allerdings weiß niemand, was privaten Boris vom politischen zu trennen.“ bei der Abstimmung im Unter- Willkommen bei den Johnsons. Der Brexit spal- haus passieren wird. Die Wahr- tet nicht nur Großbritannien, der Riss geht oft auch scheinlichkeit, dass der von der durch die Familien. Das Paradebeispiel sind die vier Regierung ausverhandelte Ver- Geschwister Johnson. Zwei waren bis vor kurzem trag eine Mehrheit bekommt, Drei Minister im Kabinett von . Der 54-jäh- wird allgemein als gering einge- rige Boris – bekannt als charismatisches, redseliges schätzt. Aber was dann? Schwergewicht der britischen Konservativen – trat Die Austrittsbefürworter sind gegen als Außenminister im Juli aus Protest gegen The- in mehrere Lager zerfallen, die resa Mays sanften Brexit-Plan zurück. wütend darüber streiten, wie der Boris Jo, der 46-jährige Nachzügler, war bis November richtige Brexit auszusehen habe. Der Austritt Staatssekretär im Transportministerium. Er ist im Gleichzeitig würden sie alle es Vergleich zum flamboyanten großen Bruder ein eher der Regierung niemals verzeihen, Großbritanniens unauffälliger Typ. Aber der noch viel größere Un- wenn der Austritt aus der EU aus der EU spaltet terschied ist: Jo ist Proeuropäer. Auch er trat zurück doch nicht zustandekäme. – allerdings, weil er statt Mays Deal lieber gar keinen Der Zwist um den Brexit nicht nur das Brexit wollte. reicht bis tief in die Familien hi- Land, sondern Und dann gibt es noch die beiden Sandwich-Ge- nein (Seite 65); in Nordirland auch viele schwister Rachel (53) und Leo (52). Als Jo ein zwei- fürchtet die Bevölkerung eine tes Referendum forderte, um den EU-Austritt abzu- „harte“ Grenze (Seite 68), und in Familien: wenden, applaudierten beide auf Twitter: „Irrsinnig der benachbarten Republik Ir- beispielsweise stolz auf dich, Bruder Jo!“, schrieb Rachel. „Wir brau- land sehen Intellektuelle die chen ein Referendum, das auf Fakten beruht @ „Rückkehr der Empire-Vergan- die Johnsons, BorisJohnson“, rüffelte Leo den größeren Bruder. genheit“ (Seite 70) heraufdräuen. deren ältester Längst tragen die vier Blondschöpfe ihre Strei- So verworren all das auch Sohn den tereien öffentlich aus. Die Meinungsschere im Hau- sein mag: In wenigen Tagen se Johnson geht immer weiter auf. Der Brexit hat müssen die Abgeordneten ent- Brexit verursacht die Identitätskrise der Briten zum Ausbruch ge- scheiden: „Aye“ oder „No“. hat – sehr zum bracht. Ein Streifzug durch ein Land, Die für ihre sprichwörtliche Gelassenheit und ih- in dem Angst und Verunsiche- Ärger seiner ren Pragmatismus bekannte britische Gesellschaft rung herrschen. Geschwister. ist tief verunsichert: Niemand weiß, wie der Austritt aus der EU am 29. März 2019 vor sich gehen wird. Was geschieht, wenn er stattfindet. Und was los sein wird, wenn er doch ausbleibt. Der Brexit ist ein irr- witziges Gesellschaftsdrama geworden, und die Johnsons spielen dabei tragende Rollen. „Wenn wir diesen Deal annehmen, werden wir de facto eine Kolonie!“, rief Boris letzte Woche im House of Commons, dem britischen Unterhaus, in dem er seit seinem Rücktritt auf den Hinterbänken der Tories sitzt. Von dort aus heizt er die Stimmung DAVID M. BENETT/GETTY IMAGES (5) M. BENETT/GETTY IMAGES DAVID gegen die eigene Parteichefin an: „Aus reinem Bam- FAMILIENBANDE Vater Stanley, Geschwister mel stellen wir sicher, dass wir niemals die Freihei- Rachel, Boris und ten nützen werden können, die der Brexit uns ge- (v.l.n.r.). ben hätte sollen!“ Ausnahmsweise ist das nicht gelogen. Der Aus- trittsvertrag, den die konservative Premierministe- rin mit der EU ausgehandelt hat, ist in der Tat kein großer Wurf. Sollte er entgegen aller Erwartungen diesen Dienstag doch noch vom Parlament ange- nommen werden, dann wird der 29. März 2019 nicht als triumphaler Unabhängigkeitstag gefeiert wer- den.

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Aus dem Brexit ist ein schmählicher Abgang ge- servative Politiker. Boris machte als Brüssel-Korre- worden. Die meisten EU-Regeln müssten die Briten spondent des „Daily Telegraph“ Furore mit fulmi- immer noch auf Jahre mittragen, ohne über sie mit- nanten Kommentaren, die nicht immer faktenfest bestimmen zu dürfen. Denn Mays Kompromiss ver- waren. Jo dagegen begann bei der gediegenen „Fi- sucht, es allen Seiten recht zu machen. Deshalb ist nancial Times“. auch keiner zufrieden. Den EU-Feinden ist der Der 52-jährige Leo leitet als Finanz- und Nach- Scheidungsvertrag nicht hart genug, den EU-Freun- haltigkeitsexperte eine BBC-Radioshow. Er nennt den geht er zu weit. seine Schwester Rachel, die 2017 aus Protest gegen Noch wahrscheinlicher ist aber, dass die briti- die Brexit-Politik der Tories den proeuropäischen schen Parlamentarier sich nicht hinter Mays Deal Liberaldemokraten beitrat und unter anderem als stellen und nicht nur politisches Chaos ausbricht, Kolumnistin für die „Mail on Sunday“ schrieb, „eine sondern bei den Johnsons auch familiäres: „Pest- Mini-Atombombe gegen Langeweile“. Der neue, eu- minster“ – so nennt Rachel Westminster, das poli- rophobe Chefredakteur der Zeitung sah das offen- tische Zentrum des Königreichs boshaft – „werden bar anders: Er feuerte Rachel im vergangenen wir beim Weihnachtsessen zu umgehen versuchen.“ Herbst. Aber wie bloß? Über allen thront Vater Stanley, der seine Söhne Sollte die Premierministerin mit ihrem Plan gerne in Fernsehstudios begleitet. Johnson Senior scheitern, dann steht auch ihr politisches Schicksal lernte die Europäische Union kennen, als er erst in zur Disposition. Die Tory-Rebellen werden versu- der EU-Kommission und dann bis 1984 für die Kon- chen, die Parteichefin nach einem Misstrauensvo- servativen im Europäischen Parlament saß. Im Fern- tum mit einem harten Brexitier zu ersetzen, um sehprogramm „Brexit Blind Dates“, bei dem die BBC dann einen harten Brexit oder sogar einen Austritt EU-Feinde mit EU-Freunden zum Dinner mit Ka- ohne Abkommen mit der EU anzustreben. Jeremy mera einlädt, setzte sich der 78-jährige, als Schür- Corbyn von der Labour-Partei will Neuwahlen er- zenjäger bekannte Single, Ende November mit ei- zwingen und selbst in Downing Street einziehen, ner halb so alten Brexit-Befürworterin an den Tisch: um dann einen sanften Austritt mit der EU auszu- „In der Familie sind wir uns jetzt alle einig. Die Re- handeln. Das proeuropäische Camp beider Seiten gierung ist mit dem Brexit gescheitert“, erzählte er wiederum will ein zweites Volksbegehren zum The- völlig gelassen. ma. Sein Sohn Boris ist nicht nur als Politiker in Stan- Vorerst hat das Brexit-Chaos immerhin dazu ge- leys Fußstapfen getreten. Auch er gilt als unstet. Frü- führt, dass die Johnsons sich in einem einig sind: her konnte man ihn auf Privatfesten bis lang in die „Theresa Mays Plan ist eine tote Ente“, grinst Rachel. Nacht hinein tanzen sehen, immer umschwirrt von „Der Brexit hat das Land, die Parteien und die Fami- Frauen. In diesem September zerbrach seine Ehe. lien entzweit. Die Nation vor die Wahl zwischen Es ist nicht das einzige, was in diesem Jahr zu ei- zwei sehr unattraktiven Optionen zu stellen – Va- nem Ende kommen könnte. sallentum und Chaos – ist ein Versagen britischer Seit Jahren galt Boris als potentieller Parteichef Staatskunst, das wir seit der Suez-Krise nicht mehr und Premierminister der Konservativen. Als Bür- erlebt haben“, hat Bruder Jo in seinem Rücktritt- germeister von London bis 2016 war er äußerst be- schreiben argumentiert. liebt, der repräsentative Job kam seinem Talent als Jo klingt derzeit fast wie sein großer Bruder Boris gescheiter Hofnarr und charismatisches Enfant Ter- – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Boris, der rible entgegen. 2014 noch Zeit gefunden hatte, eine Biografie über Angeblich war er bis zum 21. Februar 2016 nicht seinen Helden Winston Churchill zu schreiben, sicher gewesen, ob er sich für oder gegen den wühlt gerne in der britischen Geschichte nach kna- EU-Austritt aussprechen sollte. Dann schrieb er eine ckigen historischen Begriffen mit hoher sentimen- In- und eine Out-Kolumne für den EU-skeptischen taler Aufladung. Das ist gewissermaßen eine Fami- „Daily Telegraph“ und schickte am Ende jene ab, die lientradition, die auch Vater Stanley pflegt – die ihm besser gefiel und als Startschuss für seine er- Johnsons sind akademisch anspruchsvolle, sozial- hoffte Karriere als Nachfolger des damaligen Pre- liberale englische Konservative. Alle Kinder waren mierministers David Camerons geeigneter erschien. auf Eliteschulen und in Cambridge an der Univer- Man kann die Entwürfe in Tim Shipmans Buch „All sität. In der Familiengeschichte aber gibt es auch out war“ nachlesen – in die Brexit-Kolumne hat ein paar europäische Einsprengsel wie die De Pfef- Johnson eindeutig mehr Herzblut investiert. So wur- fels, ein süddeutsches Adelsgeschlecht. Boris beruft de er zum Anführer der EU-Feinde. sich manchmal auch auf nicht näher bestimmte tür- Inzwischen hat sich die Szene zu seinem Nach- kische Ahnen. Aber nur, wenn er gerade jemanden teil verändert. Boris’ Unwahrheiten in der Bre- lustvoll provozieren will. xit-Kampagne haben den Realitäten der Austritts- Die vier Geschwister sind dem Papa wie aus dem verhandlungen nicht standgehalten. Im EU-Binnen- Gesicht geschnitten. Allen sitzt der Schalk in den markt bleiben und gleichzeitig die „Ketten Brüssels“ Augen, alle haben sein strohblondes Haar, das nur abzuwerfen, wie er versprochen hatte, wird nicht im Falle von Rachel den Anschein einer Frisur trägt. möglich sein. Will Großbritannien wirtschaftlich eng Das gesprochene und geschriebene Wort ist die vernetzt sein, wird es auch Regeln der EU befolgen wichtigste Waffe im Kampf um ihr tägliches Brot. müssen. „Der Traum vom Brexit stirbt!“ hatte Boris Boris und Jo wurden erst Journalisten, dann kon- bei seinem Rücktritt im Juli gerufen. Um im Spiel

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um die Nachfolge Mays zu bleiben, rückte er ge- muss. Sollten jene recht behalten, denen nichts Nach 1998 habe die geöffnete Grenze die Region meinsam mit den Tory-Rebellen immer weiter mehr einfällt, was eine harte Grenze noch aufhal- völlig verändert. Der grenznahe County Armagh galt nach rechts und hält heute schon ein „No-De- Verfluchtes Land ten kann, werden die Iren wohl lieber teureren vom Beginn des Bürgerkriegs 1969 bis in die al“-Szenario für „längst nicht so schlimm wie In Nordirland und der Republik Irland blicken Schnaps kaufen, als vor Checkpoints zu warten. 1990er-Jahre als „Banditenland“. Die IRA hatte weit- manche Leute denken“. die Bewohner bange auf die Abstimmung in McGenity fürchtet aber viel mehr als den Verlust gehend die Kontrolle am Boden. Die britische Ar- Die Enttäuschung über den Brexit, über den seines Wohlstands. Er redet von seinem zweigeteil- mee bewegte sich nur mit Helikoptern. Sie blockier- keine rechte Freude mehr aufkommen will, trifft London. Wird ein „Nein“ zum Brexit-Deal von ten Leben: „Ich bin in einem Kriegsgebiet aufge- te Straßen und sprengte Brücken, um den Waffen- jetzt auch ihn. Sein Stern scheint im Sinken zu Premier Theresa May eine harte Grenze mit wachsen und frage ich mich oft, wie ich das ge- schmuggel zu unterbinden. sein. „ hat Großbritannien rui- schafft habe. Und jetzt lebe ich seit 20 Jahren wie Mit der offenen Grenze kamen Jobs in den Land- niert“, schreibt die „Sunday-Times“-Journalistin sich bringen und das Friedensabkommen von ein normaler Mensch.“ Bald könnte es damit vorbei kreis. Früher isolierte Städte wie Newry profitierten SCHNAPSHÄNDLER Jenni Russell. „Seine Schwächen sind nun für 1998 zerstören? sein, fürchtet McGenity. Er ist überzeugt davon, dass DAMIAN MCGENITY aufgrund ihrer geografischen Nähe vom Auf- alle offensichtlich: sein fauler Widerwille, De- sein „normales Leben“ und jenes aller anderen Nor- Bleiben bald die schwung Irlands. tails wahrzunehmen; seine Vorliebe für Gepol- diren davon abhängt, was künftig auf dem Faughill Kunden aus? Junge Männer konnten Arbeit dies- und jenseits ter zum Nachteil von Gedanken; seine Verach- Mountain und rundherum geschieht. der Grenze finden. Sie gründeten Familien, bauten tung für das Business.“ Immer öfter wird statt Von Cedric Rehman, Armagh County Der Nordire lädt zu einer Fahrt entlang des Ber- Häuser, und obwohl die Region immer noch stramm Johnson der ehemalige Brexit-Minister Domi- ges ein. Er steuert seinen Geländewagen über eine zur irisch-republikanischen Sinn Féin stand, ver- nic Raab als möglicher Nachfolger von Theresa ie vier Wachtürme der britische Armee stan- Landstraße, die es bald nicht mehr geben könnte. schwanden die Paramilitärs aus den Dörfern. Jene, May genannt. den wie die dreibeinigen Herrscher aus John „Jetzt sind wir in Irland“, sagt McGenity, als er an ei- die den Kampf nach 1998 fortsetzen wollten, fan- Die Geschwister beobachten das mit Sorge. DCristophers Science-Fiction-Romanen auf nem Gebäude vorbeifährt, auf dem ein Plakat für den eine Bevölkerung vor, die gerade im Begriff war, Trotz ihrer politischen Differenzen pflegen die dem Faughill Mountain – nur dass sie sich nicht be- „Money Change“ wirbt. Etwa 100 Meter später ruft sich mit IKEA-Möbeln einzurichten oder Urlaub in Johnsons ein recht intensives Familienleben. Als wegten. Anders als die von Außerirdischen gesteu- er: „Willkommen im Vereinigten Königreich.“ Thailand zu machen. Die Jugend von Armagh hat- Boris beim Parteitag der Konservativen im erten Maschinen in Christophers Büchern verharr- So geht die Fahrt weiter. Die Straße kreuzt iri- te Besseres zu tun, als Bomben zu legen. Herbst seine große Brexit-Rede hielt, saßen Stan- ten die Metallungeheuer an der Grenze zwischen sches Territorium und setzt ihren Verlauf in Groß- Damian McGenity hält vor einem Schild wenige ley, Rachel und Jo loyal in der ersten Reihe und Nordirland und der Republik Irland als Augen und britannien fort. Die Route sei vor 1998 mit Beton- Kilometer vor Newry. Die gefürchteten Grenzanla- applaudierten. „Manches von dem, was er sagt, Ohren einer von Feinden umzingelten Armee an blöcken gesperrt und teilweise von der IRA gen erheben sich schwarz auf gelbem Untergrund. stimmt ja durchaus“, sagt Rachel fast trotzig, „der Ort und Stelle. (Irisch-Republikanische Armee, eine paramilitäri- Das Plakat wirkt wie ein Abbild der Albträume vie- Brexit der Premierministerin ist nicht gut für Fast pausenlos hätten Helikopter ihre Kreise um sche Organisation, die auch mittels Terror für die ler Nordiren. Das Schild der „Border Communities Großbritannien.“ die Türme und das Fort der britischen Armee auf Abspaltung Nordirlands vom Vereinigten Königreich against Brexit“ fordert Respekt für das Votum der Aber ist daran nicht auch Boris schuld, der dem Grenzhügel gezogen, erinnert sich Damian Mc- kämpfte, Anm.) vermint gewesen, erzählt er – eine Nordiren gegen den Brexit beim britischen Refe- den ganzen Prozess überhaupt ins Laufen ge- Genity und versucht, das Geräusch der Rotoren zu Straße, die keine Länder verbnad, sondern in Ab- rendum im Juni 2016. McGenity gehört zu den ers- bracht hat? „Ich bin nicht für meinen Bruder beschreiben. „Es klang wie ein Schwarm wütender schnitten zerrissen zwischen den Fronten lag. Eine ten Mitgliedern der nordirischen Organisation der verantwortlich“, sagt Rachel im Gespräch mit Hornissen“, sagt er. Ausnahme sei das im grenznahen County Armagh Brexit-Gegner. Das EU-Parlament zeichnete seine profil. Sie erzählt, dass sie geweint habe, als sie Der 45-Jährige wischt das Foto von der britischen aber nicht gewesen, erzählt McGenity: „Es gab Dör- Organisation 2017 mit dem Europäischen Bürger- früh morgens am 24. Juni 2016 das Ergebnis des Grenzanlage auf dem Display seines Smartphones fer, die vielleicht ein paar Hundert Meter von ein- preis aus. Doch was hilft es, wenn nach einem Nein EU-Referendums erfuhr. Mit 51,9 zu 48,1 Pro- mit dem Daumen weg und steckt das Mobiltelefon ander entfernt sind, aber dazwischen lag ein oder des britischen Unterhauses bei der anstehenden Ab- zent war das Ergebnis denkbar knapp für einen in die Manteltasche. Er schaut durch das Fenster ei- zwei Mal die Grenze. Da konnte es einen ganzen Tag APPELL stimmung über Theresa Mays Brexit-Deal am 11. De- Austritt ausgefallen. nes Hotels auf den Faughill Mountain gegenüber. dauern, um das andere Dorf zu erreichen.“ Die Öffnung der Grenze zember Realität werden könnte, wovor das Plakat Rachel, Jo und Leo wollen deshalb eine zwei- Seit das Fort und die Festung 2006 verschwunden brachte Jobs und ein warnt? Die Region ist auf Touristen und Ende der Gewalt. te Volksabstimmung. Regierung und Parlament sind, ist auf dem Bergrücken nichts mehr von einer Investoren aus dem Süden angewiesen. halten sie für handlungsunfähig, das Volk solle Grenze oder dem Bürgerkrieg zu sehen. Eine harte Grenze könnte sie fernhalten. entscheiden. Für die Familie wäre das erneut Irgendwo knallt ein Schuss. Spielt einem die Fan- „Bis zu 30 Prozent der Jobs hängen di- eine Prüfung. tasie einen Streich? Nein, Touristen aus Irland kä- rekt von Irland ab“, sagt McGenity. Doch „In diesem Fall werden meine Brüder wohl men inzwischen zum Tontaubenschießen auf den schlimmer als drohende Arbeitslosigkeit auf beiden Seiten der Kampagne stehen. Boris bis in die 1990er-Jahre heftig umkämpften Berg, er- seien die Kontrollen selbst für die Regi- für Leave und Jo für Remain.“ Rachel hofft da- zählt McGenity. Während die Iren aus dem Süden on. „Die Menschen hier sehen sich als rauf, dass in diesem Fall die simple Frage gestellt des Faughill Mountain auf Wurfscheiben schießen, Iren. Aber sie haben durch die offenen wird: „Wollen Sie ohne Deal aus der EU ausschei- flanieren die Nordiren in der nächstgelegenen Stadt Grenzen das Gefühl, dass die Einheit den oder unter den bestehenden Konditionen Newry an Mauern vorbei, in denen immer noch Ein- schon fast da ist. Wenn die Leute wie- drin bleiben?“ Theresa May hat ein neues Ple- schusslöcher aus der Zeit vor 1998 klaffen. der vor Checkpoints stehen, ist das für biszit bisher jedoch ausgeschlossen. McGenity könnte von dem Sofa in dem Hotel auf- sie so, als hätte es das Karfreitagsabkom- Dass leidenschaftliche Brexitiere wie Boris stehen und zu Fuß zu Arbeit gehen. Er betreibt eine men nie gegeben“, sagt McGenity. Johnson und erneut mit dem Postfiliale am Fuß des Berges, 300 Meter vom Staats- Vielleicht ist sein Land verflucht. Mc- EU-Skeptiker Jeremy Corbyn ein Referendum gebiet der Republik Irland entfernt. Der Nordire lebt Genity erinnert daran, wie die IRA in ausfechten, halten selbst glühende Europäer für nur zu einem geringen Teil davon, Pakete anzuneh- Armagh schon in den 1960er-Jahren gefährlich. Es könnte nach hinten losgehen und men. Er verkauft in einem der Filiale angeschlosse- von der Wut junger Männer über die den Brexit bestätigen: „Am besten wäre es na- nen Lebensmittelgeschäft vor allem Schnaps. Die Grenze und das trostlose Leben in ih- türlich, wenn wir den Artikel 50 einfach wieder Kunden kommen aus Irland, weil die Regierung Al- rem Schatten profitierte. Jetzt drohen zurückziehen und alles so bleibt, wie es ist“, kohol immer stärker besteuert. Aber die Iren haben neuer Zorn, neue Trostlosigkeit – und seufzt Rachel Johnson. es leicht, der Nüchternheit zu entkommen: Wenn vielleicht auch eine neue Generation der Mitten im Brexit-Chaos ist nichts mehr aus- sie am Wochenende vorglühen, steht nicht selten IRA, fürchtet der Nordire: „Manche sa- zuschließen. Für Gesprächsstoff – und Zoff – ist eine Flasche Whisky aus dem Norden auf dem Tisch. gen, das könne nicht mehr passieren, beim Weihnachtsessen der Johnsons in diesem Jetzt hat McGenity Angst, dass er sich bald von aber das haben sie auch über den Bre-

Jahr jedenfalls gesorgt. n CEDRIC REHMAN / AFP; FAITH PAUL seiner wichtigsten Einnahmequelle verabschieden xit gesagt.“n

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Einwanderung beschränken würde. Dieser Traum ist jetzt zerplatzt – mit ihm übrigens auch Johnson, „Wie ein Ballon, der zusammenschrumpft wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen ist. dem die Luft profil: Die Briten haben beide Weltkriege gewonnen. Sie haben ihr Empire relativ friedlich aufgelöst, sind ausgegangen ist“ in der EU vielleicht etwas am Rande gestanden, wa- ren aber durchaus wichtig. Warum sind sie jetzt in Der irische Autor Fintan O’Toole über eine so tiefe Identitätskrise gerutscht? Dominanz und Unterwerfung im Weltbild O’Toole: Die Briten sind immer noch vom Zweiten Weltkrieg besessen – auch deshalb, weil sie nach ih- der Briten und die EU als „Trojanisches rem Sieg nicht bekamen, was sie sich erwartet hat- Pferd der Deutschen“. ten. Deutschland wurde besiegt. Doch in kurzer Zeit wurde das vernichtend geschlagene Land wieder aufgebaut, hatte eine boomende Wirtschaft und wurde die treibende Kraft in der EU. Bei den Briten dagegen lief es nicht so glanzvoll. Deshalb glauben rofil: Freunde und Feinde der EU wollen bei- die EU-Feinde, dass Deutschland heimlich den Krieg pde gegen den sanften Austrittsdeal von Pre- doch gewonnen hat und die EU in Wahrheit das Tro- mierministerin Theresa May stimmen. Sind janische Pferd der Deutschen ist. Dominic Raab trat die Briten am Brexit irre geworden? nicht zufällig als Brexitminister mit den Worten zu- Fintan O’Toole: Als Boris Johnson im Juli als Außen- rück, er wolle sich von der EU nicht „tyrannisieren“ minister zurücktrat, sagte er: „Der Traum vom Bre- lassen. xit stirbt.“ Ich dachte: „Warum Traum?“ Der Austritt profil: Spielt es auch eine Rolle, dass Großbritanni- aus der EU sollte, wenn schon, ein politisches Pro- en sich bis heute nicht richtig von seinem Empire jekt sein. Doch Johnson hat tatsächlich geträumt – verabschiedet hat? davon, sich von Brüssel zu befreien, und davon, dass O’Toole: Mit dem Brexit ist die Empire-Vergangen- Britannien dann wieder im Zentrum der Welt ste- heit zurückgekehrt. In der Denkweise der Imperia- hen würde. Aus diesem Traum sind die Brexiteers listen gibt es nur Herrscher und die Untertanen. Des- nun aufgewacht. Die Realität sieht leider nicht ro- halb sprechen Brexit-Befürworter gerne davon, dass sig aus. Britannien von der EU „kolonisiert“ werde. Norma- profil: Verstehen Sie die Wut auf Theresa May? lerweise wäre diese Haltung irgendwo am Rande O’Toole: Die Enttäuschung musste kommen. Der Bre- der Gesellschaft angesiedelt. Das hat sich im Chaos xit wurde in der Stunde des Triumphes, als Nigel Fa- des Brexit verändert. rage (damals Chef der Austrittspartei UKIP, Anm.) profil: Kann man den Brexit als Aufstand der Eng- vom „Unabhängigkeitstag“ sprach, zur Niederlage. länder lesen? Es konnte danach nur bergab gehen. Der Brexit war O’Toole: Die Entwicklung ist dramatisch. Das Briti- viel zu gut, um wahr zu sein. Boris Johnson hatte sche steht unter Druck. Viele Engländer sagen seit versprochen, dass man die Vorteile der EU wie den einigen Jahren nicht mehr, dass sie Briten seien, freien Handel weiter nützen, aber gleichzeitig die sondern bezeichnen sich vielmehr als Engländer. England aber hat kein Parlament, keine Partei, kei- ne Zeitung. Der Brexit wurde zu einem falsch plat- Fintan O’Toole, 60, zierten Ausdruck der englischen Identitätssuche. lehrt Literatur an der Universität Deshalb kann aus dem Brexit auch nichts Vernünf- Princeton (USA) und schreibt für tiges werden. Denn er ist ja nicht die Antwort auf „The Irish Times“ und „The New die Frage, welche Rolle England in Großbritannien spielen soll. York Review of Books“ Texte über profil: Sie haben den Brexit-Prozess mit sadomaso- seine britischen Nachbarn. Sein chistischen Softporno-Bestseller „Fifty Shades of jüngstes Buch trägt den Titel Grey“ verglichen. Halten Sie das wirklich für ange- „Heroic Failure: Brexit and the Po- messen? litics of Pain“ („Heldenhafte Nie- O’Toole: Es bisschen Spaß muss erlaubt sein. Ich soll- derlage: Brexit und die Politik te eigentlich einen Preis dafür bekommen, dass ich des Schmerzes“). Die Londoner als Literaturprofessor die ganze Trilogie gelesen habe. Wie im Denken der Imperialisten geht es in Zeitung „“ bezeich- diesem Buch um Dominanz und Unterwerfung. Und nete O’Toole 2011 als „einen der wie beim EU-Austritt geht es in „Fifty Shades of Grey“ 300 wichtigsten britischen Intel- hauptsächlich um Bürokratie und darum, wer sich lektuellen“ – obwohl er Ire ist. wem wie unterwirft. Das ähnelt dem Bild, das die imperialistisch geprägten Briten von ihrer Bezie- hung zur EU haben. Eine gesunde Beziehung zwi- schen Erwachsenen sieht so jedenfalls nicht aus.

TESSA SZYSKOWITZ Interview: Tessa Szyszkowitz

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