Sendung vom 11.4.2014, 21.00 Uhr

Olga Peretyatko Opernsängerin im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende

Mende: Ganz herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Wir haben heute eine Opernsängerin zu Gast, eine junge Sängerin, die unter Opernfans schon längst als ein Weltstar gehandelt wird. Ich kann Ihnen versprechen, in einigen Jahren wird man sie kennen wie vielleicht Enrico Caruso oder Maria Callas. Olga Peretyatko ist heute unser Gast. Schön, dass Sie gekommen sind. Peretyatko: Danke für die Einladung. Mende: Für Sie läuft es momentan wie am Schnürchen: Sie haben die tollsten und größten Engagements, singen an den herrlichsten Häusern, an der Met, an der Mailänder Scala, an den ganz großen Häusern weltweit wie z. B. auch in Paris. Peretyatko: Und auch in München, denn wir sind ja hier in Deutschland, und in Berlin usw. Ja, das sind alles schöne Häuser, in denen ich in dieser Spielzeit gesungen habe. Mende: Es kommt in der nächsten Zeit ein Bildband über Sie heraus, ein Buch, das hinter die Kulissen Ihrer Karriere blickt. Es wird den Titel tragen, "Olga in Wonderland", und es wird ein Fragezeichen dahinter stehen. Fühlen Sie sich denn wirklich so ein bisschen wie Alice im Wunderland, weil alles in Erfüllung geht, was Sie sich mal gewünscht haben? Peretyatko: Ja, das ist eine wunderschöne Welt und wir haben da wirklich auch sehr viel zu zeigen, denn hinter den Kulissen passiert ja so viel. Niemand sieht die viele Arbeit und die Wunder, die hinter den Kulissen geschehen. Mende: Was steht denn hinter dieser Karriere? Es gibt ja diesen berühmten Satz, man brauche 10 Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration. Das heißt, das meiste ist Schweiß und damit harte Arbeit. Peretyatko: Ja, das ist wahr. Und man braucht auch gute Nerven. Die sind notwendig. Wenn man z. B. eine Aufführung macht, die in alle Welt übertragen wird, dann ist das schon krass, wie ich sagen muss. Aber man darf in so einem Moment einfach nicht daran denken, sondern man sollte einfach nur das machen, was man kann und immer gemacht hat – egal wo man singt, sei es an der Met oder in der Arena von Verona. Ich sage immer, dass ganz viel versteckte Arbeit hinter dem Erfolg steht: Das ist wie bei einem Eisberg, man sieht nur zehn Prozent davon. Was unter dem Wasser ist, kann man nur erahnen. Mende: Blenden Sie bei so einer großen Übertragung mit Millionen von Zuschauern das innerlich aus? Konzentrieren Sie sich nur auf das Orchester, auf den Dirigenten, auf das Mikrophon, weil Ihnen in diesem Moment alles andere egal sein muss? Peretyatko: Auf das Mikrophon darf ich mich auf keinen Fall konzentrieren (lacht). Mende: Das vergessen Sie lieber. Peretyatko: Ja, ich vergesse das alles und mache alles so wie z. B. in der Generalprobe. Ich bin übrigens ein Probentyp: Ich mag das Proben. Heute in unserer Zeit ist es ja doch ein bisschen merkwürdig, dass niemand mehr probt. Alle kommen einfach nur vom Flughafen, schminken sich, gehen auf die Bühne und singen. Man verliert dabei doch ein wenig die Intimität der eigentlichen Opern-Arbeit. Auch im Hinblick auf den Regisseur, den Dirigenten ist das so: Alles ist heute viel chaotischer und absolut hektisch. Man muss da schon gute Nerven haben und die Ruhe bewahren können. Mende: Es gibt ja Sänger, die brauchen das, die haben das gerne, die sagen: "Ich brauche diesen Moment der Unsicherheit, er inspiriert mich, weil ich weiß, jetzt, genau jetzt muss es funktionieren!" Sie jedoch sind wohl jemand, der gerne probt und probt und probt, um dann gut vorbereitet auf die Bühne zu gehen. Peretyatko: Nun, gut vorbereitet muss man immer und auf jeden Fall sein. Man sollte vielleicht nicht immer gleich zwei Monate lang proben, aber zehn Probentage wären für eine Produktion schon nicht schlecht. Ja, aber ansonsten brauchen wir das, das stimmt: Wir brauchen das alle, denn wir erzielen einfach bessere Resultate, wenn wir inspiriert sind. Mende: Ich habe inzwischen sehr, sehr viele Aufnahmen mit Ihnen gesehen, denn das Internet ist voll mit Aufnahmen von Ihnen. Peretyatko: Dagegen kann ich leider nichts machen. Mende: Es stimmt, das sind nicht immer wirklich professionelle Aufnahmen. Aber man sieht dennoch immer, dass Sie eine unglaubliche Sicherheit und Gelassenheit ausstrahlen. Sind Sie tatsächlich so gelassen, wenn es zur Sache geht? Peretyatko: Nun, wenn man dann erst mal auf der Bühne steht, sollte man in der Tat Gelassenheit ausstrahlen. Aber eigentlich ist das Technik, ich bin nämlich ein Technikfreak. Das hängt mit der Vorbereitung zusammen, die man seit Jahren eingeübt hat. Das sollte eben wie z. B. bei einer Balletttänzerin sein: Wenn man ihr zusieht, scheint das alles ganz leicht zu sein. Wenn man wie jetzt bei der Olympiade den Sportlern zusieht, dann scheint das auch alles sehr leicht zu sein. Aber in Wirklichkeit ist das natürlich überhaupt nicht so. Mende: Der Zuschauer soll ja nicht mitzittern mit dem Sänger. Peretyatko: Ja, absolut nicht. Mende: Sondern er soll ... Peretyatko: ... einfach nur dasitzen und genießen. Mende: Wo schauen Sie eigentlich hin, wenn Sie auf der Bühne stehen? Schauen Sie zum Dirigenten runter und hoffen, dass der Einsatz kommt? Oder haben Sie einen Punkt, den Sie anfixieren? Peretyatko: Nun, dafür proben wir ja, um nicht die ganze Zeit auf den Dirigenten schauen zu müssen. Wenn es ein Konzertabend ist, dann steht der Dirigent ja hinter einem und man sieht ihn nicht. Ich hatte vor einiger Zeit ein wirklich merkwürdiges Konzert, bei dem der Dirigent ungefähr 20 Meter hinter mir war. Das ist dann schon ein komisches Gefühl. Ich konzentriere mich jedenfalls nur auf die Musik und dann geht es los. Mende: Wir schauen uns jetzt mal eine kurze Filmeinblendung an, um Sie auf der Bühne zu sehen. Das ist ein Ausschnitt aus einer Oper von Rossini, nämlich aus "". Entstanden ist diese Aufnahme in Pesaro im Jahr 2012. Wir danken jetzt schon mal der Decca dafür, dass wir daraus einen kurzen Einspieler bringen dürfen. Peretyatko: Ja, vielen Dank an die Decca. Filmeinblendung: (Peretyatko in der Rolle der Matilde in der Oper "Matilda di Shabran" von ) Mende: Haben Sie diesen Dirigenten eigentlich gelegentlich angeschaut? Peretyatko: Ab und zu schon. Mende: Ich muss jetzt leider alle Männer, die uns zuschauen, enttäuschen: Olga Peretyatko ist bereits verheiratet, und zwar mit diesem Dirigenten . Peretyatko: Ja, wir haben fünf Tage nach der letzten Vorstellung von "Matilde di Shabran" geheiratet. Mende: Da haben Sie geheiratet? Peretyatko: Ja. Diese Aufnahme soeben beweist übrigens, dass Rossini nicht nur wahnsinnig schöne Koloraturen geschrieben hat, sondern auch lyrische, sinnliche Momente hat. Rossini hat davon wirklich sehr, sehr viele. Mende: Spüren Sie denn, dass er selbst auch ein Sänger gewesen ist und mit einer Sängerin verheiratet war? Peretyatko: Das ist wie bei Mozart: Man muss schon wissen, für wen er eine Partie geschrieben hat und was er in dieser Zeit selbst erlebt hat. Das ist ganz, ganz interessant, ich habe nämlich gerade Briefe gelesen, in denen ganz viele interessante Sachen stehen. Mende: Man weiß z. B., dass Rossini mit seiner Frau sehr viel gestritten hat. Peretyatko: Ja, aber später, nicht am Anfang. Mende: Wie ist das, wenn Ihr Mann dirigiert und Sie singen? Gibt es da hinterher zu Hause Diskussionen, bei denen Sie sagen: "Mensch, Michele, da hättest du mir doch mal einen Einsatz geben können!"? Oder sagt er: "Olga, schau mich an an dieser Stelle, du weißt doch, was ich gerne möchte von dir!"? Peretyatko: Ja, das sagt er tatsächlich ab und zu. Aber ansonsten streiten wir nicht, denn dafür gibt es Proben. Und wir streiten auch grundsätzlich nicht, weil wir ja beide etwas von unserem Fach verstehen, wenn ich das so unbescheiden sagen darf. Er ist jedenfalls wirklich ein unglaublicher Musiker. Mit ihm zu singen, ist für mich wie atmen, das ist ganz normal. Und so haben wir uns auch kennengelernt. Mende: Das heißt, Sie haben erst zusammen gearbeitet und sind sich dann erst nähergekommen bzw. haben sich ineinander verliebt. Peretyatko: Ja, erst Monate nachher. Mende: Ich möchte gerne noch einmal darauf kommen, wohin Sie schauen bei einer Aufführung. Es gibt ja diese berühmten Bilder, an denen man vorbeiläuft und das Gefühl hat, dass einem die Augen dabei folgen. Es gibt Sänger, bei denen es egal ist, wo man als Zuschauer sitzt, ob im vierten Rang oder ganz vorne im Orchestersessel: Immer hat man das Gefühl, sie würden nur genau auf einen schauen. Das ist natürlich nur eine Einbildung, das ist klar. Gehört es auch zur Technik eines Sängers zu wissen, wohin man schaut, wenn man in den Zuschauerraum hineinschaut? Peretyatko: Das hängt davon ab, denn bei Konzerten ist das sowieso ein bisschen anders. Bei einem Konzert sieht man das Publikum. Auf der Opernbühne sieht man eigentlich nie sein Publikum: Da ist vor einem nur ein schwarzes, dunkles Etwas. Und oben drüber sind sehr, sehr viele Lichter. Deswegen sieht man, wenn überhaupt, gerade mal die Menschen in den ersten beiden Reihen. Bei einer anderen Produktion in Pesaro, nämlich als Desdemona in "" im Jahr 2007, war es an einem Abend so, dass ich in der ersten Reihe einen Japaner "gefunden" habe und von da an alles in seine Richtung gesungen habe. Er hat mir dann später Briefe geschrieben, in denen er mir mitgeteilt hat, dass er sich wirklich sehr komisch gefühlt habe dabei: so, als ob die ganze Vorstellung nur für ihn stattfinden würde. So mache ich das jetzt ab und zu, weil das vermutlich ein sehr starker Effekt ist. In Essen bei einem Tourneekonzert vor Kurzem war das z. B. sehr witzig: Ich sehe da in der ersten Reihe eine Dame mit einer knallroten Strumpfhose. Ich konnte von da an nirgendwo anders mehr hinschauen: Ich habe nur noch in Richtung dieser roten Strumpfhose geschaut. Das war wirklich schlimm. Mende: Das hat Sie also irritiert? Peretyatko: Ja, ab und zu sieht man da einfach Sachen und dann sagt man sich: "Was machst du da schon wieder, Olga! Konzentrier dich!" Aber die Zuschauer bekommen das in der Regel nicht mit. Mende: Liebe Zuschauerinnen, wenn Sie also demnächst in ein Konzert von Olga Peretyatko gehen, ziehen Sie sich bitte keine roten Strumpfhosen an oder andere extrem auffällige Dinge, die Frau Peretyatko verwirren könnten. Wie viele Heiratsanträge bekommen Sie eigentlich pro Monat? Peretyatko: Das verrate ich nicht. Mende: Aber es gibt Liebesbriefe, die bei Ihnen eintrudeln? Peretyatko: Ja, die gibt es. Mende: Was machen Sie mit denen? Peretyatko: Lesen, gerne lesen und lächeln. Und ab und zu antworte ich auch darauf. Und das war's dann. Mende: Haben Sie sich das alles, als Sie in St. Petersburg ein kleines Mädchen gewesen sind, so vorgestellt? Sie kommen ja aus einer Musikerfamilie, Ihr Vater ist ebenfalls Sänger. Peretyatko: Nein, ich habe wirklich nicht gedacht, dass ich Sängerin werde. Mein Papa wusste das hingegen ganz sicher und deswegen bin ich ihm da auch sehr dankbar. Als ich drei Jahre alt war, habe ich gesungen und getanzt, habe ganz laut auf dem Stuhl Gedichte vor Publikum rezitiert usw. Ich brauchte jedenfalls immer schon Publikum, das war für mich sehr, sehr wichtig: Egal, was ich gemacht habe, alle mussten zuschauen. Ja, ich genieße es, vor Publikum aufzutreten. Es gibt natürlich leichteres und schwereres Publikum und das Publikum unterscheidet sich auch von Land zu Land, aber letztlich ist es egal, wo man singt: Man gibt einfach sein Bestes, singt so, als wäre das der letzte Abend überhaupt. Dann klappt das auch. Mende: Wir haben Sie jetzt gerade in dieser Szene gesehen: Wenn Sie so etwas singen, woran denken Sie denn in diesem Moment? Oder läuft da ein Programm ab, weil Sie das so gut geprobt haben? Peretyatko: Wie gesagt, ab und zu denke ich an rote Strumpfhosen. Ein sehr berühmter russischer Bass hat einmal eine sehr schöne Arie gesungen. Hinterher sagten alle, wie unglaublich schön und gefühlvoll das gewesen sei, und fragten ihn, woran er denn dabei gedacht habe. Er sagte: "An das Bier, das ich hinterher trinken werde!" Natürlich muss man solche Abschweifungen vermeiden, das ist klar. Aber wenn man solche Arien wie diese hier zu singen hat, fällt das leicht: Es geht um Amore! Es geht um die Liebe! Es ist mir sogar ab und zu passiert, dass ich, wenn ich "amore" gesungen habe, in den Orchestergraben geschaut habe (lacht). Mende: Zu Ihrem Mann Michele. Peretyatko: Ja. Mende: Zwinkert er Ihnen manchmal zu? Gibt es da so eine private Kommunikation? Peretyatko: Nein, nein, da geht es um ganz andere Dinge, an die man da denken muss. Mende: Müssen Sie manchmal vorausdenken, wie es im Stück weitergeht? Oder ist es Ihnen immer ganz klar, wie es weitergeht an einer bestimmten Stelle? Gerade bei Rossini, den Sie sehr viel singen, ist das ja sehr, sehr schwierig, denn durch die Koloraturen und die Wiederholungen der Arien könnte man ja auch mal in eine falsche Strophe geraten. Peretyatko: Bei Rossini besteht diese Gefahr weniger. Bei Mozart, bei Händel, bei Bach kann einem das schon ab und zu passieren: Da kann man sich wirklich irgendwann mal wie in einem Loop fühlen. Einmal ist mir das wirklich passiert: Das war eines meiner ersten Konzerte überhaupt als Opernsängerin auf der Bühne vor Publikum. Ich habe damals noch studiert in St. Petersburg und ich habe eine Arie von Händel aus "Rodelinda" gesungen. Da ist es mir tatsächlich passiert, dass ich nicht mehr gewusst habe, wo ich jetzt bin: "Bin ich jetzt noch im Teil A oder schon in B oder gar in C? Oh Gott, was mache ich jetzt?" Das Resultat war: Ich musste von vorne anfangen. Meine damalige Lehrerin Larissa Gogolevskaya war sehr streng mit mir. Ich habe geweint, aber sie hat nur gesagt: "Wenn du das noch einmal machst, dann musst du dir einen anderen Beruf suchen!" Das war wirklich ganz streng. Mende: Haben Sie eigentlich auch bei Ihrem Vater Gesangsstunden genommen? Peretyatko: Nein. Er ist Chorsänger, er ist Bariton und er sagt übrigens immer, dass Bariton und lyrischer Sopran ganz normaler Gesang ist, während alles andere pathologisch sei. Ich gehöre also seiner Meinung nach mit meinem Koloratursopran in die pathologische Abteilung. Aber auch solche Bass-Sänger wie Franz-Josef Selig, diese ganz, ganz tiefen Bässe, hält er für pathologisch. Mende: Weil Sie sozusagen außerhalb der normalen Stimmgrenzen singen, während ein Mezzosopran und ein Bariton in einer normalen Sprechlage singen. Peretyatko: Wir sind nicht normal, sagt er. Aber ich würde auch sagen, wir sind alles andere als normal. Mende: Waren Sie eigentlich immer schon ein Sopran? Denn Sie haben ja eine relativ dunkle Sprechstimme: Da könnte man eigentlich vermuten, dass sie Mezzosopran singen. Peretyatko: Nein, ich war nicht immer Sopran. Es gibt übrigens in dieser "Matilde di Shabran" auch Stellen, in denen ich bis b-Moll nach unten gehe. Aber ich hatte nach unten immer schon einen großen Stimmumfang und ich spreche ja auch tief und bin groß, d. h. ich habe immer Alt gesungen im Chor. Alle dachten daher von mir: "Wenn überhaupt, dann bist du eine Mezzosopranistin!" Ich habe daher bei meiner ersten Gesangslehrerin – das war noch vor Gogolevskaya – mit Dalila und Carmen angefangen! Ich war darüber eigentlich ganz froh, denn ich mag die Carmen so sehr: Sie gehört zu meinen absoluten Favoriten. Ich dachte also: "Gut, wunderbar, das ist doch ein starker Charakter." Aber z. B. auch bei der "Zarenbraut", die ich an der Scala und in Berlin gesungen habe, ist meine Partie, die der Marfa, eine Sopranrolle. Diese Marfa ist natürlich ganz naiv und stirbt auch am Ende. Nein, genauer gesagt ist es sogar so, dass sie zuerst vergiftet wird, dann wird sie verrückt und am Ende stirbt sie doch. Das ist aber ganz normal. Mende: In diesem Fach ist das wirklich ganz normal: Da werden die Frauen meistens verrückt am Ende. Peretyatko: Ja, und am Ende sterben sie – immer. Es gibt in diesem Stück aber noch eine andere Partie, eine Mezzosopranistin, die wirklich sehr passionshaft ist. Das habe ich auch gesungen! Diese Rolle entspricht einfach meinem Charakter: Ich bin so und kann eigentlich gar nicht anders. Auch wenn ich Gilda singe, geht es mir so: Gilda kann man nämlich auf ganz verschiedene Art und Weise anlegen und singen: als rein naives Mädchen und sonst nichts oder als naives Mädchen mit Charakter. Denn sie gibt immerhin ihr Leben für den Geliebten und für ihren Vater. Ich finde, dafür braucht es schon einen starken Charakter, um das überhaupt so entscheiden zu können. Und man muss schon auch ein bisschen sich selbst auf die Bühne bringen. Das ist nicht immer zwingend notwendig, aber die eigene Persönlichkeit merkt man hinter der Rolle doch immer. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, dass man auch die Stärke dieses Charakters zeigen muss. Auch in "" ist das so: Sie agiert gegen alle Regeln. Das ist schon sehr interessant. Mende: Das heißt, Sie hinterfragen die Rollen sehr wohl. Das Klischee bei den Koloratursopranistinnen ist ja, dass diese meistens sehr hübsch sind, dass aber in ihrem Leben Schlimmes passiert, das sie passiv hinnehmen. Da wendet sich die ganze Welt gegen sie, weil es da meinetwegen alte Familienfehden usw. gibt ... Peretyatko: Ja, vor allem die Männerwelt wendet sich gegen sie. Mende: Meistens ist es ja so, dass der Tenor und der Bariton sich um die Sopranistin streiten: Das ist die klassische italienische Oper, wie man sagt. Sie hingegen versuchen sehr wohl, in diesen Koloraturen weitere Ebenen zu finden. Bleiben wir doch mal bei der "Lucia di Lammermoor"; sie hätte ja auch sagen können: "Gut, dann ist es halt nicht der, dann nehme ich halt den anderen, den mir meine Familie bzw. mein Bruder bestimmt hat." Sie jedoch ist treu. Peretyatko: Sehen Sie, und das war dann das Ende der Oper. Mende: Ja, das wäre dann das Ende der Oper überhaupt. Gibt es da eine Partie, die Sie gerne singen würden, wenn sich Ihre Stimme weiterentwickelt? Es ist ja schön, wenn sich eine Stimme entwickelt und dramatischer wird. Ich denke da z. B. an die Norma: Ist das eine Partie, die Sie reizen würde – wenn es schon nicht die Carmen ist, die für Ihr Fach ja vermutlich doch nie kommen wird? Peretyatko: Ich glaube, die Norma kommt sowieso: nicht jetzt, aber in acht bis zehn Jahren, da bin ich mir sicher. Es ist, wie gesagt, sehr gut, dass ich eigentlich aus dem Mezzosopranfach gekommen bin. Denn es braucht für so eine Rolle wirklich ganz viel: ganz viel Fleisch, ganz viel Körper in der Mittellage usw. Ich gewinne das jetzt mit der Zeit. Ich würde sagen, dass das ein Joker ist, wenn dieser Umfang von heute nicht mehr da ist. Aber das muss man auf natürliche Weise sich entwickeln lassen und dann muss man einfach abwarten, dann wird alles o.k. Man darf also nie forcieren, denn das wäre ein großer Fehler. Wir Menschen sind ab und zu sehr, sehr ungeduldig. Aber wenn man als Sänger oder Sängerin zu ungeduldig ist, dann ist es oft sehr schnell vorbei mit der Stimme. Das will ich aber nicht, sondern ich habe vor, lange zu singen. Mende: Sie haben sehr lange eine Partei nicht angenommen, die natürlich bei einer Frau, die die Erscheinung hat wie Sie, immer wieder auf der Hand liegt: Das ist die Violetta aus "La Traviata" von Giuseppe Verdi. 2015 aber werden Sie sie angehen. Peretyatko: Ja. Mende: Haben Sie dafür sozusagen Ihre Stimme befragt? Oder haben Sie Berater? Oder liegt das am Respekt vor dieser Partie, denn da gab es ja doch sehr viele große "Violettas" in der Geschichte. Peretyatko: Ja, da kommt alles zusammen. Man muss schon ein bisschen erfahrener sein, um die Violetta singen zu können. Und natürlich, Maria Callas ist an allem "schuld". Mende: Die ist an vielem "schuld", denn bei der Norma ist es ja genauso: Da steht sie quasi auch als unerreichtes Ideal vor einem. Peretyatko: Man hat immer diesen Geist von Maria Callas vor sich und man wird immer mit ihr verglichen. Das ist ganz normal. Aber es war einfach so, dass sie die Erste gewesen ist, die auf der Bühne wirklich glaubwürdig war, die nicht nur da gestanden ist und gesungen hat. Sie hat halt damit angefangen und jetzt müssen wir, also alle anderen, viel mehr können als früher. Mende: "Glaubwürdig": Das ist wohl das zentrale Stichwort hier. Haben Sie sich selbst eigentlich mal gefragt, warum Sie singen, was Sie mit dem Singen erreichen wollen? Außer dass Sie am Bühnenausgang die Gage bekommen und Autogramme geben? Peretyatko: Ha, schön wäre es, wenn es so schnell ginge mit der Gage. Nein, im Ernst, ich habe schon sehr früh verstanden – bereits in der Zeit, als ich in Berlin studiert habe –, dass die menschliche Stimme wirklich andere Qualitäten als ein Instrument hat: Die Leute kommen, um einen zu hören, und vergessen dann alles um sich herum. Sie kommen natürlich, um zu vergessen, um ihre Probleme, ihre Sorgen zu vergessen. Durch meine Stimme kann ich da ganz andere Türen bei ihnen öffnen, denn das ist pure Emotion. Ich spreche ja ganz oft über Technik, aber die Technik ist nur die Basis: Sie erlaubt einem, zum Eigentlichen zu kommen, auf ein anderes Niveau zu kommen. Und die Technik erlaubt es einem dann auch, glaubwürdig zu sein. Noch etwas zur Schönheit: Ich selbst finde mich ja überhaupt nicht schön. Natürlich gibt es in jedem Opernhaus eine große Abteilung, die nur für das Schminken der Sängerinnen und Sänger da ist. Ich kann mich schön machen auf der Bühne, um glaubwürdig zu sein. Das ist auch Teil meiner Arbeit. Ich muss dabei immer an Fjodor Schaljapin denken ... Mende: ... an diesen großen russischen Bass ... Peretyatko: ... der schon lange gestorben ist. Er hat sich immer selbst geschminkt. Das war Teil seiner Vorbereitung und war für ihn so etwas wie eine Meditation. Ich mache das auch immer selbst, wenn ich darf. Normalerweise teilen wir uns aber diese Arbeit: Jemand macht meine Haare und ich mache mein Gesicht selbst, denn da habe ich inzwischen doch viel Erfahrung gewonnen. Wie gesagt, das ist Teil der Arbeit. Es ist z. B. so, dass ich nicht über 80 Kilo wiegen darf, weil die Sache sonst lächerlich wird. Ich fühle mich auch selbst schlecht auf der Bühne, wenn ich hier ein Pölsterchen habe und dort und dort auch. Oder wenn der Rock zu kurz ist usw. Das muss alles stimmen, das ist alles ein zusammengehörendes Ganzes. Und vor allem: Schöne Gesichter sieht man vom dritten Rang aus nicht mehr. Das heißt, man muss viel mehr haben und können und zeigen, um auch dort noch glaubwürdig zu wirken. Mende: Ich widerspreche jetzt doch mal heftig, dass Sie nur ein Produkt unserer Maske hier beim BR sind. Denn ich habe Sie ja auch vorhin schon gesehen, als Sie gekommen sind und bevor Sie geschminkt waren. Peretyatko: Ach, das glauben Sie. Da war ich natürlich auch schon geschminkt. Mende: Ich gebe allerdings zu, dass ich mir ein bisschen die Frage gestellt habe, wie Sie denn heute aussehen wollen. Das hier ist Ihre erste CD gewesen: Hier auf diesem Cover sehen Sie aus, wie ich Sie auch empfinde, nämlich wie ein sehr natürlicher Mensch und ein freundlicher und lächelnder Mensch. Sie haben nun vor Kurzem eine neue CD herausgebracht, die den Titel "Arabesque" trägt. Darauf kann man nun eine Olga Peretyatko sehen, die ich kaum erkennen würde. Entspricht dieses Bild dem, wie Sie gerne sein möchten, so ein bisschen abweisend? Peretyatko: Ich wollte einfach eine andere Olga sein. Ich bin schon ziemlich vielseitig und das ist einfach auch der Joker, den man ausspielen sollte. Wir haben für diese CD viele Fotos gemacht, auch welche in schwarz-weiß und mit diesem Kleid. Und hierbei dachte ich auf einmal an Sophia Loren. Mende: Das habe ich mir auch gedacht. Aber das sieht jetzt richtig cool aus, wie man das heute nennt. Peretyatko: Genau. Aber wenn man auf der Bühne steht, dann soll man eben auch sehr cool bleiben. Mende: Sind Sie denn cool? Peretyatko: Ich hoffe. Mende: Viele Menschen, die wie Sie in der Öffentlichkeit stehen, sind das ja nicht immer. Sie geben z. B. ein Solokonzert und da kommen 1500 Leute ins Konzert. Ist Ihnen da mal der Gedanke gekommen, dass diese Leute alle nur wegen Ihnen kommen? Denn wenn Sie in der Oper singen, dann ist es ja so, dass die Leute kommen, um die Oper zu hören, um Ihre Kollegen singen zu hören und u. a. auch Sie. Bei "Matilde di Shabran" war z. B. Juan Diego Flórez mit dabei, dieser sehr peruanische Tenor. Aber wenn Sie einen Arienabend geben und dabei eine ganze Halle füllen, dann ist es doch so, dass diese Menschen nur wegen Ihnen kommen. Peretyatko: Ja, das ist doch schön! Mende: Ja, schon, aber das könnte doch auch sehr belastend sein. Peretyatko: Da werde ich dann natürlich alles geben, was ich habe! Mende: Aber eigentlich ist das doch etwas ganz Merkwürdiges, denn diese Leute könnten ja auch zu Hause ganz in Ruhe auf dem Sofa sitzen. Nein, sie machen sich chic und wollen Olga hören. Als ich mir diese beiden Cover nebeneinander angeschaut habe, ist mir auf einmal der Gedanke gekommen, dass Sie vielleicht im Grunde Ihres Wesens schüchtern sind. Peretyatko: Wir sind alle schüchtern. Mende: Vielleicht wollen Sie ja auch ein bisschen einen Kreis um sich ziehen, der Sie ein bisschen unnahbarer macht als auf diesem ersten Coverbild. Denn dieses erste Cover zeigt eine Olga, auf die man zurennt und sagt: "Du warst ganz grandios!" Das heißt, man duzt Sie sofort und herzt Sie auch. Und hier auf dem anderen Cover sieht man eine Olga, zu der man sagen würde: "Gnädige Frau, Sie waren ganz wunderbar heute Abend!" Peretyatko: Beides ist schön. Man kann mir auch auf Facebook eine persönliche Message schreiben. Und Tausende machen das auch. Gut, ich weiß nicht so genau, ob Sie richtig liegen, aber ich kann Ihnen versprechen, dass das dritte Cover wieder ganz anders aussehen wird. Lassen Sie sich überraschen. Mende: Da bin ich sehr gespannt, was da dann kommen wird. Peretyatko: Dafür werde ich mir bestimmt etwas ganz, ganz Besonderes ausdenken, um Sie zu überraschen. Mende: Ich bin wirklich gespannt. Wir hören Sie jetzt ja hervorragend Deutsch sprechen, Sie sprechen aber überhaupt viele Sprachen: Wie viele können Sie denn? Peretyatko: Ich kann Italienisch, weil ich einfach ganz viel auf Italienisch singe. Man muss dafür einfach Italienisch können. Obwohl mein Italienisch erst durch Michele wirklich besser geworden ist. Mende: Ihr Mann ist Italiener. Peretyatko: Ja, zu Hause wird die ganze Zeit Italienisch gesprochen. Ab und zu habe ich da sogar das Gefühl, dass ich mein Deutsch verliere. Aber in Wirklichkeit kann ich inzwischen ganz schnell von einer Sprache in die andere wechseln. Wissen Sie, was noch im Jahr 2003 für mich ganz, ganz schlimm gewesen ist? Das Telefonieren! Wenn ich eine Person nicht sehen konnte, die Augen, die Reaktionen des Gesprächspartners nicht sehen konnte, dann war das ganz schlimm für mich. Wenn ich zu Hause war, habe ich mich vor dem ersten Telefongespräch des Tages immer zuerst komplett angezogen und mich fertig gemacht, als würde ich rausgehen. Mende: Das war vor Facebook und vor Skype, also vor der Möglichkeit der Videotelefonie. Peretyatko: Ja, das war in den Jahren 2002 und 2003. Ich war wirklich vor jedem Telefonat ganz angespannt und hoch konzentriert. Heute geht das viel, viel besser, heute geht das sehr leicht. Früher brauchte ich immer mindestens zwei Tage, um die Sprache wechseln zu können, um zwischen Italienisch, Deutsch, Englisch und Russisch wechseln zu können. Auch mein Französisch wird inzwischen immer besser. Mende: Sie sprechen also selbstverständlich Russisch, dann auch Französisch ... Peretyatko: Mein Französisch steht da eigentlich an letzter Position. Die Reihenfolge lautet Russisch, Italienisch, Deutsch und Englisch und dann erst Französisch. Mende: Was heißt denn, "ich liebe dich" auf Russisch? Peretyatko: Ja lyublyu tebya. Mende: Das ist z. B. schon komplizierter als "ti amo". Peretyatko: Sagen wir mal so: Es ist anders. Mende: Kommen Sie manchmal durcheinander? Peretyatko: Nein, ja, ja. Ab und zu passiert es mir schon, dass mich jemand etwas auf Deutsch fragt und ich auf Italienisch antworte. Wenn ich dann ein erstauntes Gesicht sehe, dann merke ich schon, dass ich wahrscheinlich in die falsche Sprache gerutscht bin. Ja, ja, da passieren einem auch ganz viele witzige Sache. Mende: Ich frage das deswegen alles, weil mir aufgefallen ist, dass viele großartige Sängerinnen und Sänger viele Sprachen können. Auch Elina Garan ča z. B. kann sehr viele verschiedene Sprachen: Sie lernt das mit unglaublicher Leichtigkeit, sie lernt das z. B. beim Fernsehschauen. Sie konnte kein Wort Deutsch, als sie zum ersten Mal nach Deutschland gekommen ist. Sie hat dann am Abend immer nur Fernsehshows gesehen und dabei Deutsch gelernt. Kann man sagen, dass das bei Sängerinnen und Sängern eine Begabung ist, die mit dem Ohr und dem Gehirn zusammenhängt? Hat man sehr viel schneller und leichter einen Zugang zu einer fremden Sprache, wenn man musikalisch ist? Peretyatko: Ja, für Sängerinnen und Sänger ist das wirklich ein bisschen leichter, denn wir singen ja in diesen Sprachen. Ja, Elina ist wunderbar, ihr Deutsch ist hervorragend, wirklich unglaublich. Wir haben miteinander immer nur Deutsch gesprochen. Das mit den Sprachen ist einfach Teil unserer Arbeit: Um glaubwürdig zu sein, muss man die Sprache beherrschen, in der man singt. Leider. Deswegen habe ich bis jetzt die französischen Partien immer abgelehnt. Gut, bei der Olympia in "Hoffmanns Erzählungen" ist das nur eine Szene, das geht schon. Aber ansonsten ist es einfach so: Um als Sänger glaubwürdig zu sein, muss man die Sprache, in der man singt, auch selbst sprechen können. Mende: Aber Sie lernen auch relativ schnell Fremdsprachen, oder? Peretyatko: Ja, schon. Mende: Haben Sie für sich eigentlich so etwas wie ein drittes Ohr? Sie als Sängerin hören Ihre eigene Stimme ja anders, als wir Zuhörer sie hören. Bei Ihnen geht das nämlich direkt über die Knochen ins Ohr, während wir Zuhörer ja einen Raum dazwischen haben. Haben Sie die Fähigkeit, sich im Raum zu hören? Peretyatko: Das hängt vom Raum ab. Aber man sollte sich nicht so viele Gedanken machen: "Es kommt nichts zurück! Ich höre mich so schlecht! Die Luft ist hier so trocken ..." Wenn man in technischer Hinsicht wirklich stabil ist, dann macht man das, was man immer macht, ohne zu forcieren oder so, weil man sich nicht hört, weil man meint, man müsste lauter singen. Das Gefühl zu haben, man müsste lauter singen, ist überhaupt das Schlimmste, was einem passieren kann. Nie forcieren, nie Druck auf die Stimme ausüben: Das ist das A und O. Mende: Man darf also nie verkrampfen. Peretyatko: Auf keinen Fall. Und man muss eben ruhig bleiben, das ist einfach so. Wenn man nicht ruhig ist, dann kann man den eigenen Atem nicht kontrollieren, und wenn man Schnappatmung hat, kann man nicht singen. Man nimmt bei jeder zweiten Note seinen Atem und braucht sonst keine Kontrolle mehr: Das ist schon ein bisschen so etwas wie Meditation. Wir müssen dafür Yoga machen, müssen Atemübungen machen usw. Das gehört alles mit dazu. Mende: Sie sind ja Ihr eigenes Instrument. Peretyatko: Genau. Mende: Dieses Instrument verändert sich ja. Einmal im Monat hat eine Frau eine gewisse körperliche Veränderung, die sie auch spürt. Vielleicht hat man gerade aber eine Vorstellung. Oder man hat Kopfweh, hat schlecht geschlafen, sodass das "Instrument" sozusagen nicht in so guter Verfassung ist wie sonst. Besteht die Kunst auch darin, sich auf diese Wechsel des "Instruments" immer wieder exakt einstellen zu können, um dabei jedes Mal das Optimale herauszuholen? Peretyatko: Ja, aber das ist etwas sehr Persönliches. In Russland ist es z. B. so, dass eine Sängerin einmal im Monat zu Hause bleiben darf – und zwar sogar dann, wenn sie an diesem Abend eine Vorstellung hätte. Mende: Das war früher auch in Deutschland in den Verträgen so festgelegt. Peretyatko: Wirklich? Das ist eigentlich sehr clever, denn das ist wirklich eine sehr persönliche Angelegenheit, und wenn man da nicht aufpasst, können ganz schlimme Sachen passieren. Aber wie gesagt, heute ist das einfach anders und für uns Sänger ist es leider nicht so optimal, wie wir uns das wünschen würden. Das heißt, man muss immer aufpassen, muss auf sich selbst hören, muss darauf achten, wie es einem geht und wie man sich fühlt. Wenn ich aufwache, ist das Erste, was ich mache, ein kleiner Stimmtest. Ich prüfe sozusagen, ob noch alles da ist, ob alles in Ordnung ist. Mende: Mit diesem kleinen Summen am Morgen können Sie schon feststellen, ob die nötigen Schwingungen vorhanden sind, ob Schleim auf den Stimmbändern ist oder nicht usw. Haben Sie eigentlich ab und zu den Albtraum, einzuschlafen und am nächsten Morgen ohne Stimme aufzuwachen oder nicht mehr zu wissen, wie das mit dem Singen geht? Ist das ein für Sänger typischer Albtraum? Peretyatko: Mein Albtraum ist, dass ich noch in der Garderobe bin, aber auf der Bühne schon meine Musik erklingt. Oder dass ich meinen Einsatz höre, aber die Bühne, den Bühnenzugang nicht finden kann. Das ist mein Albtraum, den ich ganz, ganz oft habe. Oder ich habe den Albtraum, dass ich mit einem schönen Kleid und toller Frisur auf der Bühne stehe und die Musik anfängt und ich diese Musik überhaupt nicht kenne. Das ist mein zweiter Albtraum. Text vergessen! Auch das ist ein Albtraum. Mende: Haben Sie es schon mal erlebt, dass der Text plötzlich weg war? Oder sind Sie immer so gut vorbereitet, dass das nicht passieren kann? Peretyatko: Ein Blackout passiert einfach ab und zu. Man muss halt immer sehr konzentriert an die eigene Partie denken, man muss immer nach vorne denken: "Was kommt jetzt? Was singe ich jetzt? Was denke ich jetzt? Was muss ich jetzt denken?" Das heißt, man sollte nicht an rote Strumpfhosen denken dabei. Man muss sich einfach auf den Charakter konzentrieren, den man zu singen hat. Mende: Sie haben ja einen großen Kontrolleur, und zwar immer dann, wenn Sie eine Vorstellung geben und Ihr Mann Michele Mariotti dirigiert. Er ist ein großer Dirigent, einer, der wirklich eine große Karriere gemacht hat. Darf er Ihnen hinterher sagen: "Olga, die und die Stelle hat mir gar nicht gefallen!"? Oder würden Sie dann in die Luft gehen und ihm die Augen auskratzen? Peretyatko: Nein, nein, wir sprechen ganz viel über Musik, über das Theater. Wenn er eine neue Oper lernt, dann fragt er mich immer: "Was denkst da in Sachen Artikulation? Was wäre da besser? Wie singst du diese Phrase hier?" Ich frage dann meistens, wer das singen wird, und wenn er mir den Namen gesagt hat, antworte ich ihm: "Aha, sie oder er wird das vermutlich so und so machen." Normalerweise habe ich damit auch immer recht. Ich sage jedenfalls immer, was meine Meinung ist, sage ihm also: "Hier an dieser Stelle musst du den Sängern erlauben zu atmen, denn atmen müssen sie ja so und so, und weil dann diese Stelle kommt ..." Wir Sänger mögen eigentlich Michele Mariotti sehr, weil er zusammen mit uns Atem schöpft. Das kommt nämlich ansonsten nicht so ganz oft vor. Alle, die mit ihm gearbeitet haben, fühlen sich sehr sicher dabei, was auch nicht so oft vorkommt sonst. Wenn er z. B. mal sein Tempo gefunden hat, dann bleibt er auch bei diesem Tempo, und zwar an jedem Abend! Das ist unglaublich. Ich war in Turin mit ihm und er hat "Norma" dirigiert. Die Vorstellung begann immer um 19.30 Uhr und um genau 23.02 Uhr war sie zu Ende – egal was bis dahin passiert ist. Er arbeitet da wirklich genau wie ein Uhrwerk. Mende: Er hat also so ein genaues Zeit- und Tempoempfinden, dass man sich auf das verlassen kann, was man in den Proben mit ihm einstudiert hat. Peretyatko: Ja, und er spürt auch sehr gut, wie man sich fühlt als Sänger. Das ist etwas ganz, ganz Seltenes unter den Dirigenten. Mende: Sind Sie jetzt eigentlich fertig als Sängerin? Können Sie sagen: "Ich kann es jetzt und das reicht für die nächsten Jahre"? Oder arbeiten Sie weiter an Ihrer Stimme? Peretyatko: Immer, man arbeitet immer weiter an der Stimme. Es ist so, wie Sie vorhin ganz richtig gesagt haben: Unser Körper macht viele Veränderungen durch, jeden Tag, jeden Monat sowieso und über die Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte will ich noch gar nicht sprechen. Es ist jedenfalls so, und man muss immer aufpassen, was gerade passiert. Ich merke z. B., dass ich die und die Phrase heute anders singe als vor einigen Monaten. Ich kann das z. B. mit Blick auf die Gilda ganz genau sagen: Ich singe sie seit 2007, und heute fällt mir das alles viel leichter als früher. Und das ist natürlich gut so. Es gibt aber auch Fälle, bei denen das Gegenteil passiert und die Sache nicht mehr so leicht geht wie früher. Mende: Da wird es dann vermutlich Zeit, diese Partie ad acta zu legen. Peretyatko: Nein, man muss sie einfach überarbeiten. Man muss wirklich immer wieder neu anfangen, muss alleine mit drei Noten anfangen. Ja, man muss wirklich immer wieder zurückgehen, sich wie eine Studentin fühlen und von vorne anfangen. Mende: Sie haben ja zuerst in St. Petersburg angefangen und kamen dann nach Berlin, wo Sie an der dortigen Hochschule studiert haben. Heute arbeiten Sie regelmäßig mit einer Sängerin, die in recht fortgeschrittenem Alter noch eine erstaunlich großartige Stimme hat. Singen zu lernen ist ja in erster Linie ein technischer Vorgang. Das heißt, da geht es um die Bildung des "Instruments". Gleichzeitig müssen Sie aber auch lernen, mit diesem "Instrument" umzugehen. Gibt es ab und zu Momente, in denen sozusagen der Groschen fällt? Gibt es Momente, in denen Sie sagen: "Ja, an dieser Stelle habe ich verstanden, worauf es ankommt"? Oder ist das immer eine lange Phase, innerhalb der sich das ergibt? Peretyatko: Das ist eine sehr lange Phase. Und dass ich mit ihr regelmäßig zusammenarbeite, stimmt leider nicht: Es wäre schön, wenn das regelmäßig wäre, aber sie arbeitet sehr viel und ich arbeite sehr viel. Wie gesagt, man muss immer wieder zurückkommen an den Anfang und auf die Ratschläge von Menschen aus dem eigenen Fach hören. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Ich nehme immer alles auf, denn egal, wo ich bin, ich muss kontrollieren, was ich singe, wo ich zu tief gesungen habe usw. Ich muss das alles kontrollieren; ich bin ein kleiner Kontrollfreak. Das ist schlimm, ich bin wirklich eine schreckliche Person. Wenn wir nicht zusammen arbeiten, dann arbeite ich natürlich monatelang alleine. Mende: Das heißt, Sie nehmen diese Stunde auf und arbeiten dann alleine weiter? Peretyatko: Ja, es reicht mir, wenn ich von ihr einen Impuls bekomme, mit dem ich dann auch alleine weiterarbeiten kann. Man muss allerdings wissen, wie man am besten alleine arbeiten kann. Das ist ganz wichtig. Heute unterrichte ich ab und zu ein oder zwei Mädchen – ich mache das eigentlich nicht so ganz gerne, weil das viel Energie kostet. Gesangsunterricht zu geben, ist schon ein recht eigenartiger Job, wie ich sagen muss. Letztlich muss jeder Sänger verstehen, dass er alleine auf der Bühne steht, dass es da keinen Coach und keine Gesangslehrerin mehr gibt, sondern dass er da alleine ist. Diese Selbständigkeit muss man eben auch lernen. Denn man ist es ja selbst, der nach einer Vorstellung, nach einer Aufnahme die Analyse macht, d. h. man muss lernen, sich selbst kontrollieren zu können. Leo Nucci, der italienische Bariton, der schon viele Male "meinen" gesungen hat wie z. B. auch in der Arena von Verona, hat ein ganz merkwürdiges Geheimnis: Er manipuliert vor dem Auftritt immer ein bisschen an seinem Ohrläppchen herum ... Mende: Damit er sich besser hört? Peretyatko: Ja, er biegt sich ein wenig das Ohrläppchen nach vorne und hört dann einfach alles besser. Das ist toll. Das kann auch jeder selbst sofort ausprobieren. Man muss ja nur einmal in der Oper die Hand ans Ohr legen: Man stellt fest, dass man dadurch sofort anders hört. Das alles müssen wir wissen und verstehen. Man muss z. B. wissen, wie die Akustik funktioniert. Das ist wichtig, denn egal, welche Akustik in einem Raum herrscht, man muss immer gleich gut singen. Mende: Es reicht ja nicht, den Mund aufzumachen und schon kann man singen. Das läuft so ja nicht. Peretyatko: Singen nicht, aber hören kann man dann schon. Mende: Eine glückliche physiologische Konstellation z. B. der Räume im Kopf, die richtigen Stimmbänder, die eine schöne Stimmfarbe ergeben, haben ja viele Menschen. Aber nur die allerwenigsten Menschen können so schön singen wie Sie. Können Sie denn kurz erklären, was Sie da machen vom Zwerchfell bis zum Mundraum und den Lippen? Was stellen Sie da ein, wenn Sie sich auf Ihre Technik konzentrieren? Peretyatko: Oh, für diese Erläuterungen bräuchte ich mindestens zwei Stunden. Mende: Versuchen wir es doch mal in zwei Minuten. Peretyatko: Kurz und knapp gesagt ist es so, dass der eigene Körper ein Instrument ist. Man darf also nicht nur von einer Stelle aus singen, darf auch nicht nur an die Resonanzräume denken usw., denn beim Singen spielt alles zusammen. Man muss also z. B. eine Balance finden, um in Ruhe Atem schöpfen zu können. Wichtig zu wissen ist, wo und wann wir Atem schöpfen. Es ist nämlich nicht so, wie ich selbst das früher noch gedacht habe, dass man da z. B. vor einer Stelle eine riesengroße Menge Luft holt, um dann so lange wie möglich ohne weiteres Luftholen singen zu können. Ich ändere meine Gesangstechnik gerade ein wenig dahingehend, dass das alles noch weiter nach unten wandert in meinem Körper. Mende: In Richtung Zwerchfell? Peretyatko: Nein, noch tiefer, denn es geht darum, dass wirklich der ganze Körper mitatmet. Das Ganze ist so, als wäre man ein riesengroßer Luftballon, eine große Wolke. Das ist für mich wirklich eine sehr interessante Vorstellung: Wenn ich eine lange Phrase vor mir habe, dann denke ich dabei immer an eine Wolke. Ich nehme meinen Atem und dann balanciere ich – wie ein Akrobat. Dazu kommt natürlich, dass man seine Resonanzräume aktiviert. Und man trägt ja eine Maske, ist geschminkt, wenn man singt. Die Maske ist o.k., wenn man z. B. keinen Schnupfen hat. Das heißt, jeder Tag ist anders, man muss jeden Tag aufs Neue die eigenen Resonanzräume aktivieren. Und man muss auch seinen Mund benutzen. Das ist mit Worten nicht so einfach zu erklären, denn ich müsste das eigentlich alles zeigen. Wenn ich jemanden unterrichte, dann zeige ich daher auch immer ganz viel. Mende: Zeigen Sie mir doch mal was. Peretyatko: Nein, das geht hier nicht. Mende: Es gibt ja so bestimmte Gesangsübungen, die man kennt. Gibt es da eine, von der Sie sagen, dass selbst ich das jeden Morgen machen könnte, damit sich meine Stimme entwickelt? Peretyatko: (Lacht) Singen ist ja überhaupt eine sehr gesunde Sache. Auch für den Geist, wissen Sie. Mende: Tja, da fehlt es wahrscheinlich bei mir: Ich singe zu wenig! Peretyatko: Um mich aufzuwärmen, mache ich am Anfang z. B. folgende Übung: Ich summe und gehe dabei mit meiner Stimme rauf und runter und öffne sozusagen den Raum hinter meinen geschlossenen Lippen. Mende: Das heißt, Sie schaffen einen Raum. Peretyatko: Ja, es gibt ganz viele Sachen, die sich durch kleine Veränderungen des eigenen Körpers ergeben. Mende: Gibt es denn etwas, was Sie an sich noch gerne ändern würden? Ich bin ja ein alter Meckerer: Ich habe unheimlich viele Aufnahmen von Ihnen gehört und muss sagen, dass ich vor allem mit Blick auf diese CD "Arabesque" – bis auf das Foto ... Peretyatko: ... ich weiß. Mende: ... sagen muss: Das kann man eigentlich nicht schöner singen! Peretyatko: Doch, das kann man schon. Ich bin eine Perfektionistin und sage mir immer, wenn ich mich selbst höre: "Das da kann man schöner machen und dieses auch." Obwohl ich mit meiner zweiten CD eigentlich schon sehr zufrieden bin – auch mit dem Coverfoto! Mende: Gut, über das Foto werden wir uns vermutlich nicht einig werden. Ich danke Ihnen jedenfalls ganz herzlich für Ihr Kommen. Ich wünsche Ihnen auf Ihrem Weg noch alles, alles Gute. Bleiben Sie vor allem gesund und schenken Sie uns weiterhin so viele schöne Stunden des Gesangs. Peretyatko: Danke schön. Mende: Alles Gute, Frau Peretyatko. Und Ihnen, meine Damen und Herren, natürlich auch ein herzliches Dankeschön für Ihr Interesse an dieser Sendung.

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