DISS-Journal Zeitschrift des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung 33 (2017)

Aus dem Inhalt

Autoritarismus im Namen der Frauenrechte

Racial Profiling im öffentlichen Diskurs

Der „kleine Mann“ und sein großer Auftritt

Volk, völkisch, völkische Bewegung

Gespräche über Dekadenz im Institut für Staatspolitik

Das Nichtverbot der NPD aus Sicht der NPD

„Faschos sind doof“ – ein beliebtes Narrativ

Die FAZ und die populis- tische extreme Rechte

Wie Großbritannien sich Feiern! Trotz alledem! am Brexit abarbeitet 30 Jahre DISS Drei Jahrzehnte, ist das kurz oder lang? Seit 1987 forscht das DISS zu den Themen Rassismus und Einwanderung, zur extremen Rechten, zu Antisemitismus und Diskurstheorie. Mit dem Er- scheinen dieses DISS-Journals feiern wir das 30-jährige Bestehen Impressum des Instituts. DISS-Journal, hg. vom Duis- burger Institut für Sprach- und Nach wie vor sind Analysen und Interventionen der kritischen Sozialforschung (DISS)Siegstr. 15, 47051 Duisburg Sozialforschung dringend notwendig. In dieser Ausgabe Tel.: 0203/20249 Fax: 0203/287881 beschäftigen wir uns deshalb mit der Normalisierung von Racial [email protected] www.diss-duisburg.de Profiling und mit dem kleiner gewordenen Sagbarkeitsfeld für die Blog: www.disskursiv.de

Kritik an Grundrechtsverletzungen. Außerdem geht es um die Redaktion: Robin Heun, Margarete Jäger, Geschichte der völkischen Bewegung und die Aktualität völkischer Siegfried Jäger, Helmut Kel- lershohn, Jobst Paul, Rolf van Diskurse. Weitere Themen sind das Narrativ vom „dummen Nazi“ Raden, Hans Uske, und die wirkmächtige Sozialfigur des „kleinen Mannes“. Wir Layout und Satz: Hans Uske, Rolf van Raden beleuchten, wie die NPD auf ihr Nicht-Verbot reagierte und wie Schutzgebühr: 4 EUR und die populistische extreme Rechte in der FAZ verhandelt kostenfrei für Mitglieder des wurden. DISS-Förderkreises Racial Profiling Autoritarismus im Namen der Frauenrechte

Die gesellschaftspolitischen Folgen der Silvester-Ereignisse

Von Isolde Aigner

Die sexuellen Übergriffe an Frauen in Die politischen Folgen gressiv, sondern vielmehr ängstlich, ver- Köln und anderen Großstädten an Sil- der Silvester-Ereignisse unsichert und beschämt4. vester 2015 haben innerhalb weniger Tage eine öffentlich-mediale Debatte Nur wenige Wochen nach Silvester kommt Die Normalisierung von Grundrechts- um sexualisierte Gewalt ausgelöst, die es zu einer Verschärfung des Asylrechts mit verletzungen in der Berichterstat- wochenlang die Titelseiten dominierte. dem „Asylpaket II“, das unter anderem der tung um Silvester 2016 Dabei trat insbesondere eine Ethnisie- Einschränkung des Familiennachzugs und rung von Sexismus1 in Erscheinung, in- der Beschleunigung der Abschiebeverfah- Innerhalb der öffentlich-medialen Bewer- dem sexualisierte Gewalt vor allem Ein- ren dient. Auch das Sexualrecht wird ver- tung des Polizeieinsatzes nach Silvester wanderern und Geflüchteten, also den schärft, geht zugleich aber auch mit einer 2016 zeichnete sich schließlich eine mas- ‚Anderen’ zugeschrieben wurde. Zwar Verschärfung des Aufenthaltsrechts für sive Diskrepanz ab. Während institutio- gab es damals auch Gegendiskurse, die Migrant_innen einher. Wer zu einer Stra- neller Rassismus und Grundrechtsverlet- eine rassistische Instrumentalisierung fe von mindestens einem Jahr verurteilt zungen hingenommen und normalisiert der Silvester-Ereignisse2 kritisierten und wird, soll das Aufenthaltsrecht verlieren. wurden, wurde jede kleinste Kritik an zurückwiesen, wie zum Beispiel die me- Das Ausspielen von Frauenrechten gegen der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der dienwirksame Kampagne #ausnahmslos, Ausländerrechte war eine der ersten direk- Polizei nicht nur sofort zurückgewiesen, die innerhalb weniger Tage von 10.000 ten Konsequenzen der Ethnisierung von sondern auch skandalisiert. Menschen unterzeichnet wurde3. Trotz- Sexismus innerhalb der Silvester Ereig- Die Verhältnismäßigkeit des Einsat- dem haben seit Silvester 2015 vor allem nisse. Weitere folgten. Am Silvesterabend zes wurde von Politik und hegemonialen rassistische, marginalisierende und au- 2016 setzte das NRW-Innenministerium Medien überwiegend positiv bewertet toritäre Handlungen und Haltungen und die Polizei auf ein massives Polizei- – gerade auch mit dem Bezug auf die ge- innerhalb Politik und Medien an Zug- aufgebot und auf das grundrechtsverlet- wahrten Frauenrechte. TAZ-Redakteurin kraft gewonnen und prägen das Land. zende sogenannte Racial Profiling, bei Simone Schmollack verteidigte das Vor- Emanzipatorische Effekte im Sinne einer dem junge Männer, denen das ethnische gehen der Polizei: „‚Racial Profiling’ hin Selbstermächtigung von Frauen sind bis Täterprofil (‚nordafrikanische Herkunft’) oder her“ – das Durchgreifen des neuen heute weitgehend ausgeblieben. von Silvester 2015 zugeschrieben wird, Polizeipräsidenten habe das erreicht, was „verdachtsunabhängig“ kontrolliert wur- alle von ihm erwartet hätten, nämlich kei- den. Der Kölner Polizeipräsident Jürgen ne massenhaften Übergriffe gegen Frau- Mathies wies den Vorwurf der Verletzung en (Alle dürfen sich sicher fühlen, taz v. von Grundrechten durch diese Kontrollen 04.01.2017). Schmollack grenzte sich in 1 Eine Ethnisierung von Sexismus zeichnet zurück und begründete das Vorgehen der ihrem Artikel von dem Redaktionskolle- sich nach Margarete Jäger dadurch aus, dass Polizei mit dem aggressiven Verhalten der gen Daniel Bax ab, eine der ganz wenigen bestimmte sexistische (oder frauenfeindliche Haltungen und Verhaltensweise zum Charak- Männer und damit, dass von einem über- Stimmen, die eine Gegenposition einnah- teristikum einer bestimmten ‚Ethnie’ gemacht wiegenden Teil mit Straftaten zu rechnen men und einen institutionellen Rassismus werden, indem beispielsweise behauptet wird, gewesen sei. Am frühen Abend um etwa kritisierten: „Die Kritik an rassistischen dass türkische oder muslimische Männer se- 20 Uhr zeige sich in Köln ein vollkommen Polizeikontrollen sollte in Deutschland xistisch seien und Frauen in besonderer Weise anderes Bild. Besonders auffallend war die eigentlich Bürgerpflicht sein, nach Na- unterdrückten. massive Polizeipräsenz. Der Bahnhof und zizeit und NSU-Affäre. Stattdessen wird 2 Silvester-Ereignisse bezeichnen das diskursi- sein Vorplatz, der im Vorjahr um diese sie diffamiert. (In der weißen Blase, taz ve Ereignis um Silvester. Zeit recht voll war, wirkte verhältnismäßig v. 04.01.2017) Kurz flammte Empörung 3 Eine ausführliche Analyse zu der Ethnisie- rung von Sexismus innerhalb der Silvester- leer, die Stimmung unter den Menschen auf, nachdem ein Tweet der Kölner Polizei Ereignisse findet sich in: Aigner, Isolde/Jäger, friedlich. Trotzdem kam es am Bahnhof zu bekannt wurde in dem diese schrieb, dass Margarete/Wamper, Regina (2016): Destruk- entsprechenden Kontrollen: Jugendliche sie gerade mehrere ‚hundert Nafris’ [nord- tive Wirkungen. Die rechten Instrumentali- Jungen wurden systematisch vor Augen afrikanische Intensivtäter] überprüfe, die sierungen der Silvesterereignisse in Köln In: der Passant_innen eingekreist, kontrol- Häusler, Alexander/Virchow, Fabian (Hrsg.): 4 Diese Beschreibungen gehen auf meine ei- Neue soziale Bewegung von rechts? Hamburg: liert und festgehalten. Die von Polizisten genen Beobachtungen am Silvesterabend 2015 VSA Verlag. eingekesselten Jungen wirken nicht ag- und 2016 am Kölner Hauptbahnhof zurück.

2 DISS-Journal 33 (2017) Racial Profiling

Diese Neufassung könnte eine diskrimi- nierende Berichterstattung (weiter) beför- dern und rassistisch aufgeladenen Debat- ten in die Hände spielen. Gerade die Sil- vester Ereignisse haben deutlich gemacht, dass das öffentlich (-mediale) Interesse an der Herkunft der (vermeintlichen) Täter mit rassistischen, diskriminieren- den Zuschreibungen verbunden war, die der Entlastung der Mehrheitsgesellschaft dienten und eine notwendige Debatte um Sexismus (in der Mehrheitsgesellschaft) blockierten. Die Silvester-Ereignisse und eine me- diale Verschränkung des Flucht- und Umstritten, aber jetzt dauerhaft im Sortiment: Pfefferspray im Drogeriemarkt. Terrorismusdiskurses in Folge des terro- ristischen Anschlags in Berlin haben sich am Hauptbahnhof festgehalten würden auch von Parteikolleg_innen (u.a. Katrin zudem auf den Wahlkampf in NRW 2017 (obwohl logischerweise noch unklar war, Göring-Eckardt) massiv kritisiert, bis sie ausgewirkt. Medien und Politik spülten ob es sich tatsächlich um ‚nordafrikani- schließlich ihre Äußerung relativierte das Thema „innere Sicherheit“ regelrecht sche Intensivtäter’ handele). Als der Po- und einknickte. Das Sagbarkeitsfeld um hoch, machten es zu einem zentralen The- lizeipräsident Mathies sich entschuldigte, grundrechtliche Fragen schrumpfte inner- ma (z.B. im Kandidatencheck des WDR) weil der Begriff nicht offiziell hätte -ver halb weniger Tage in sich zusammen, in und thematisierten (angebliche) Gefahren wendet werden sollen, ebbte die Empö- dem die Kritik an den Grundrechtsverlet- im öffentlichen Raum. So wird die Wahl- rung jedoch schnell wieder ab. Eine Kritik zungen an Silvester 2016 am Kölner Ein- siegerin CDU bei der von ihr geforderten an der alleinigen Verwendung des Begriffs, satz nahezu unsagbar wurden. Und auch Schleier-Fahndung, die eine verdachtsun- der auf institutionellen Rassismus bei der als die Polizei Wochen später bekannt abhängige Kontrolle ermöglicht und so ein Polizei verweist, blieb weitgehend aus. geben musste, dass die allerwenigsten der Einfallstor für eine rechtlich legitimierte Politik und Medien waren sich weit- kontrollierten Personen eine nordafrika- diskriminierende Polizeipraxis darstellt, gehend einig, dass größere Vorkomm- nische Herkunft hatten, rief dies kaum vermutlich mit wenig Widerstand zu rech- nisse in der Silvesternacht nur aufgrund Empörung in der Öffentlichkeit hervor. nen haben. des Vorgehens der Polizei, ausgeblieben An diese gesellschaftspolitische Entwick- Eineinhalb Jahre nach Silvester 2015 waren. Zum einen lässt sich das nicht lung knüpft die Entscheidung des deut- wird es zunehmend schwieriger, autori- beweisen, zum anderen wäre ein institu- schen Presserats im März 2017 an, den täre und rassistische Politiken im Namen tionelles, aber nicht-repressives Vorgehen Pressecodex bzgl. der Berichterstattung der Frauenrechte abzuwenden. Umso not- durchaus möglich gewesen. So hätte z.B. über Straftaten zu verändern: „In der Be- wendiger ist es, sie weiter zu entlarven, zu- das (grüne) Schulministerium im Vorfeld richterstattung über Straftaten ist darauf rückzuweisen und als das zu bezeichnen flächendeckende Maßnahmen (z.B. Kon- zu achten, dass die Erwähnung der Zu- was sie sind: Eine Instrumentalisierung senstrainings) in weiterführenden Stufen gehörigkeit der Verdächtigen oder Täter von Frauenrechten, bei der Frauen als anordnen können. Auch hätte sich das zu ethnischen, religiösen oder anderen Subjekte keine wirkliche Rolle spielen! Land NRW zusammen mit der LAG Jun- Minderheiten nicht zu einer diskriminie- genarbeit (die institutionellen Rassismus renden Verallgemeinerung individuellen in Folge von Silvester zurückweist) über Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit mögliche Maßnahmen beraten können. soll in der Regel nicht erwähnt werden, Isolde Aigner ist Mitarbeiterin des DISS. Eine Kritik am Einsatz der Polizei wur- es sei denn, es besteht ein begründetes de sowohl von Politik als auch von den öffentliches Interesse. Besonders ist zu meisten Medien deutlich zurückgewiesen. beachten, dass die Erwähnung Vorurteile zug besteht. Hintergrund der Richtlinie ist die Vermeidung von Diskriminierungen innerhalb Besonders augenscheinlich wurde das am gegenüber Minderheiten schüren könnte“ der Berichterstattung. Schon in der Debatte um 5 Umgang mit der Grünen-Vorsitzenden (Deutscher Presserat, Online-Auftritt). Silvester 2015 wurde vermehrt gefordert, die Simone Peter - eine der wenigen Spitzen- 5 Die ursprüngliche Richtlinie des Presseko- Herkunft der Täter_innen innerhalb von Be- politiker_innen, die die Verhältnis- und dex besagte, dass in der Berichterstattung über richterstattungen grundsätzlich zu nennen. Der Rechtmäßigkeit des Einsatzes in Frage Straftaten die Zugehörigkeit der Verdächtigen Deutsche Presserat diskutierte deshalb im Früh- oder Täter_innen zu religiösen, ethnischen jahr 2016 in einer nicht-öffentlichen Sitzung stellte. Peters Kritik löste einen regelrech- oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt eine Veränderung seiner Richtlinie, entschied ten Aufruhr aus, sie wurde als verblen- werden sollten, wenn für das Verständnis des sich damals aber mit einer breiter Mehrheit da- det, weltfremd, irrational bezeichnet und berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbe- gegen.

DISS-Journal 33 (2017) 3 Racial Profiling

„‚Nafris’ – wo ist das Problem?“

Oder: Der aktuelle Umgang mit ‚Racial Profiling’ als Indiz für eine Rechtsverschiebung des öffentlichen Diskurses

Von Thomas Kunz

Unter ‚Racial Profiling’ ist laut einer Studie des Deutschen Instituts für Menschen- tieren. Insofern intervenieren Versuche rechte (DIM) aus dem Jahr 2013 die Praxis zu verstehen, „das physische Erschei- einer Relativierung von ‚Racial Profiling’ nungsbild, sogenannte ethnische Merkmale oder die ‚Rasse’ einer Person als Ent- in einen Diskurs um die Bestimmung scheidungsgrundlage fur polizeiliche Maßnahmen wie Personenkontrollen, Ermitt- von Zugehörigkeit, indem sie diesen lungen und Überwachungen heranzuziehen.“ (Cremer 2013, 6). Sowohl die Praxis mittels pauschaler Kontextualisierung des ‚Racial Profiling’ als auch die Kritik daran sind in der Bundesrepublik kein neues mit Kriminalitätsbedrohung ethnisieren Thema. Bereits in der Vergangenheit wurden von Polizei und Strafverfolgungsbehör- und auch den formalen Aufenthaltssta- den angewandte rassistische Kontrollpraktiken pointiert kritisiert. tus von damit in Verbindung gebrachten Personen in Zweifel ziehen. So betrachtet Auch die Rechtsprechung hierzu wurde in vehementer als bislang relativiert, son- ist das gesellschaftliche Auseinanderset- der Vergangenheit in den Medien aufge- dern diese Praxis wurde als solche sogar zungsfeld um ‚Racial Profiling’ ein zentra- griffen (vgl. ebd.). Hierbei zeichnete sich explizit gefordert: „Ja zu ‚Racial Profi- les strategisches Terrain zur Verankerung bislang eine durchaus ablehnende Grund- ling’ – es kann Leben retten“ (Welt N24 ausgrenzender Diskurspositionen und haltung gegenüber dieser Praxis ab.1 2017, o.S.). So entsteht der Eindruck, dass kann der Verschiebung und Ausweitung Die gesellschaftliche Auseinanderset- stereotype Begriffe zunehmend als un- entsprechender Sagbarkeitsräume dienen. zung im Nachgang zur sogenannten Köl- problematisch wahrgenommen werden: Es zeigt sich bereits, dass die Neue ner Silvesternacht 2015 und die darauf- „‚Nafris’ – wo ist das Problem?“ (Ebd.) Rechte hier interveniert und den Begriff folgende Silvesternacht 2016 rückten das Auch wenn es sich bei solchen Zi- ‚Racial Profiling’ offensiv als politische Thema nun noch vernehmlicher in den taten um zuspitzende Äußerungen aus Forderung lanciert. im Nachgang zum öffentlichen Fokus. Dies geschah jedoch zudem tendenziell rechtskonservativen Anschlag auf den Berliner Weihnachts- auf eine Weise, die angesichts der in der Medien handelt, ist es angesichts dieser markt Ende 2016 und der Debatte um die Vergangenheit artikulierten Kritiken an Entwicklung angeraten, statt der unbe- Silvesternacht in Köln 2016 veröffentlich- dieser institutionell-rassistischen Praxis stritten weiterhin wichtigen juristischen te beispielsweise die AfD in Berlin ein so- überraschte. Die zunächst skeptischen Dimension von ‚Racial Profiling’ stärker genanntes Sicherheitskonzept. Darin ver- bis kritischen Einschätzungen, die zu deren Bedeutung innerhalb der migra- langte sie zur Bekämpfung von „Krimina- Bedenken gaben, dass pauschalisierende tionspolitischen Debatte in den Blick zu lität und Terror [...] die Überwachung und Aussagen über „Nordafrikaner“ und eine nehmen und danach zu fragen, welche gezielte Beobachtung bestimmter Aus- rassistische Kontrollpraxis der Polizei und symbolischen Implikationen mit dieser länder- und Einwanderergruppen“ (Der anderer Behörden, die mit solchen Grup- Praxis verbunden sind beziehungsweise Tagesspiegel 2017, o.S.). Bemerkenswert penkonstruktionen operieren, höchst verbunden sein können. Schließlich ist war hier auch die ausdrückliche Forde- problematisch seien, wurden nicht nur die Willkür, mit der unveränderliche Kör- rung nach „ethnischem Profiling“ (ebd.). permerkmale herangezogen werden, ganz Gleichfalls interessant an dieser Aussage 1 Die Studie des DIM betont allerdings, dass wesentlich als Prozess der Zuweisung ist auch eine Querverbindung, die zum ‚Racial Profiling’ bzw. ‚Ethnic Profiling’ in symbolischer Zugehörigkeits- bzw. Nicht- Thema der Polizeilichen Kriminalstatis- der Bundesrepublik weder seitens Politik noch zugehörigkeitspositionen zu interpre- tik gezogen wird: „Grundlage dafür solle seitens einer breiten Öffentlichkeit thematisiert würden (vgl. ebd.). Dies ist insofern richtig, als dass das Thema bis dato keine ausgedehnte „Schließlich ist die Willkür, mit der unveränderliche Medienrezeption gefunden hat. Auch in einer kritischen Kommentierung zur Praxis des ‚Ra- Körpermerkmale herangezogen werden, ganz wesentlich cial Profiling’ in der Zeitschrift Cilip. Bürger- rechte & Polizei wird festgehalten, dass die po- als Prozess der Zuweisung symbolischer Zugehörigkeits- litische Diskussion erst am Anfang stehe (vgl. Busch 2013, S. 3). bzw. Nichtzugehörigkeitspositionen zu interpretieren.“

4 DISS-Journal 33 (2017) Racial Profiling eine Ausdifferenzierung der Kriminali- lichkeit zugeschrieben. Die polizeiliche lik beträchtlich größer ist als im letzten tätsstatistik sein, die bundesweit verein- ‚Bekämpfung des Landfahrerunwesens’ Jahre vor Beginn des zweiten Weltkrie- heitlicht werden und stets auch bei deut- – sprich: der Sinti und Roma – auch in ges im Deutschen Reich“, woran sich schen Staatsbürgern den Migrationshin- der Bundesrepublik ist mittlerweile auch schließlich zeige, dass „im Vergleich zum tergrund erfassen müsse. Zudem sprach innerhalb der Polizei als dunkler Fleck Jahre 1938 […] die kriminalpolizeiliche er [AfD-Fraktionschef Georg Pazderski, in der eigenen Geschichte anerkannt. Verbrechensbekämpfung noch nicht wie- TK] sich gegen ‚Political Correctness’ in Noch bis 1982 führte man im Informa- der den früheren Stand erreicht“ habe. der Statistik aus.“ (Der Tagesspiegel 2017, tionssystem INPOL ein Suchmerkmal (Ebd.) Hier wurde das Jahr 1938 gewis- o.S.) Jenseits des Befundes, dass hier ein- ‚Zigeunername – ZN’. Und es brauchte sermaßen als Benchmark für den Stand mal mehr die rechte Strategie deutlich weitere zwei Jahrzehnte, bis die versteckte kriminalpolizeilicher Verbrechensbe- wird, Rassismuskritik durch den Hinweis Sondererfassung unter der Rubrik ‚Häu- kämpfung im Jahr 1953 herangezogen. auf eine sogenannte Political Correctness fig wechselnder Aufenthaltsort – HWAO’ Der sich hier manifestierende unkriti- zu delegitimieren, wird die Diskussion verschwand.“ (Busch 2013, S. 6) sche Rückbezug auf statistische Werte ist um ‚Racial Profiling’ mit der Ausgestal- Die geschichtlichen Vorläufer und his- zu deuten als Ausdruck und Beleg eines tung der Kriminalstatistik verknüpft, die torischen Kontinuitäten ethnisierender Verständnisses von gesellschaftlicher bislang in der öffentlichen Debatte keine Kategorien reichen indes viel weiter zu- wie polizeilicher Vergangenheitsbewäl- große Rolle spielte. rück und sind tief eingeschrieben in die tigung, welches „sich von Feindbildern Logik der Wahrnehmungsraster von Poli- und Kontrollvorstellungen der NS-Kri- Keine Kritik an ‚Racial Profiling’ ohne zei und Strafverfolgungsbehörden. In den minalpolitik nur teilweise distanzierte.“ Kritik an ethnisierenden Kategorien in statistischen Beschreibungen sogenann- (Roth 2011, S. 53) der Polizeilichen Kriminalstatistik ter Kriminalität in der Bundesrepublik Das Aufzeigen und die Thematisie- war das Konstrukt der „nichtdeutschen rung dieser historischen Bezüge soll und Bei der Analyse und Kritik des ‚Racial Tatverdächtigen“ von Beginn an fest ver- kann nicht die Arbeit von Polizeibehör- Profiling’ sollte deshalb eine grundsätz- ankert. Was heute „Nafris“ sind, waren den im faschistischen Deutschland und liche Kritik an ethnisierenden Kategori- damals „Landfahrende“, „reisendes Ver- in der Bundesrepublik gleichsetzen. Al- en im Sicherheitsdiskurs mit einbezogen brechertum“ „Amerikaner“ und „Polen“ lerdings zeigt es, wie weit ethnisierende werden. Letztere sind strukturell und (vgl. BKA 1954, 80ff.). Wanderung bzw. Argumentationsfiguren historisch zu- relativ breit in der institutionellen Beob- Wanderungsmotive sowie ethnisierende rückreichen und in die Routinen eben achtung und Bearbeitung von Phänomen, Merkmale, die damit identifiziert werden, auch der Strafverfolgungsbehörden in die als Kriminalität gerahmt werden, eta- galten den Strafverfolgungsbehörden also der Bundesrepublik Deutschland einge- bliert. Insofern besteht eine unmittelbare schon in der ersten bundesdeutschen Ge- schrieben sind. Das Beispiel der PKS für inhaltliche Verbindung zwischen ‚Racial samtkriminalstatistik als besonders sus- das Jahr 1953 belegt, wie sehr polizeiliche Profiling’ und beispielsweise der schein- pekt und wurden also berücksichtigt. Feindbildkonstruktionen in der jungen bar selbstverständlichen Heranziehung Und da es auch sicherheitspolitisch Bundesrepublik bereits das Wanderungs- ethnisierender Kategorien in der Poli- keine Stunde Null gegeben hat, wäre ein motiv aufgriffen und die Unterscheidung zeilichen Kriminalstatistik (PKS). Hier- Blick in die der bundesdeutschen PKS zwischen „deutsch“ und „nichtdeutsch“ an wird allerdings noch weniger Kritik historisch vorhergehende sogenannte fortschrieben. Dieses Hinüberwirken geübt als an den spektakulären Fällen Reichskriminalstatistik ebenfalls auf- lässt sich – neben personellen Kontinu- des ‚Racial Profilings’. Doch auch hinter schlussreich und kann Kontinuitäten itäten im Polizeiapparat – auch durch dieser weniger dramatisch erscheinenden nachspüren. Aussagen in der PKS des Feindbildkontinuitäten erklären: „Dies Praxis steht die ethnisierende Logik, die Jahres 1953 deuten zumindest darauf lag nicht zuletzt daran, dass die von der auch das ‚Racial Profiling’ unterfüttert. hin, wie es um die Wahrnehmung krimi- Kriminalpolizei verfolgten Gruppen auch Zugegeben, die statistische Erfassung nalpolizeilicher Aktivitäten im National- nach 1945 stigmatisiert waren. Kaum je- schlägt sich nicht notwendig unmittel- sozialismus durch den bundesdeutschen mand interessierte sich nach dem Krieg bar in alltäglichen Kontrollpraxen nieder Polizeiapparat der frühen 1950er Jahre für das Schicksal der ermordeten Sinti und generiert auch keine zur medialen bestellt war: „Auf 100.000 Personen der und Roma oder der als ‚Berufsverbrecher’ Verwertung geeigneten Einzelfälle. Das Wohnbevölkerung umgerechnet ergibt oder ‚Asoziale’ verfolgten Menschen. Im eine gehört jedoch wie das andere zum sich [...] für die Bundesrepublik 1953 Gegenteil: Sinti und Roma wurden wei- herrschenden Sicherheitsdispositiv. Dies eine Kriminalitätsbelastungsziffer von terhin polizeilich erfasst, die alten Kar- legt auch die nachfolgende Einschätzung 1.171 Tätern gegenüber 679 Tätern im teikarten weiter genutzt. So baute bereits nahe: „Racial Profiling findet [...] nicht Deutschen Reich 1938. Damit liegt die 1946 die Vorgängerbehörde des späteren nur bei Identitätskontrollen statt. Immer Kriminalitätsbelastung heute um 72,5 bayerischen Landeskriminalamtes eine wieder wurde und wird bestimmten eth- % über der von 1938.“ (BKA 1954, o.S.) Sonderdienststelle zur Bekämpfung der nischen Minderheiten oder Immigran- Hieraus wurde geschlossen, „dass die ‚Zigeuner’ und ‚Landfahrer’ auf, die erst tInnengruppen eine besondere Gefähr- Kriminalität 1953 in der Bundesrepub- 1965 aufgelöst wurde.“ (Hölzl 2011, S. 93) DISS-Journal 33 (2017) 5 Racial Profiling

Die Einschränkung der Freiheit der „anderen“ vermittelt, die „uns“ angeblich Literatur Sie-Gruppe als Gewähr der Sicherheit nicht beträfe. Mehr noch: die Einschrän- der Wir-Gruppe kung der Freiheit der „anderen“ wird als BKA – Bundeskriminalamt (Hg.) Gewährleistung „unserer“ Sicherheit ra- (1954): Polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland 1953. Wies- Die Diskussionen um ‚Racial-Profiling’ tionalisiert. Folglich scheinen Einschrän- baden. lassen sich aber auch als Hinweise auf kungen nicht nur akzeptabel, sondern ge- Busch, Heiner (2013): „Institutionali- Verschiebungen im Sicherheitsdiskurs boten und werden offensiv gefordert. Hier sierter Rassismus: Racial Profiling nicht entlang der wir/sie-Differenz lesen. He- verschränkt sich der Sicherheitsdiskurs nur bei Kontrollen“ in: Cilip 104, S. 3-11 rangezogen wird hierzu die Drohkulisse mit dem Integrationsdiskurs, der maß- (https://www.cilip.de/2013/12/05/institu- eines staatlichen Kontrollverlustes, der geblich von der Fiktion einer ethnisch- tionalisierter-rassismus-racial-profiling- mit dem Migrationsthema bzw. ethnisie- homogenen Mehrheits- bzw. Aufnahme- nicht-nur-bei-kontrollen/; Download: 20. renden Hinweisen gekoppelt wird: „Die gesellschaft geprägt ist, welche einseitig Februar 2017). Gewalt- und Straftäter in Köln sollen Anpassungserwartungen an sogenannte Cremer, Hendrik (2013): „Racial Profi- überwiegend nordafrikanischer und ara- MigrantInnen adressiert. Die Gewähr ling“ – Menschenrechtswidrige Personen- bischer Herkunft sein. [...] Gerade im Zu- jener Freiheit wird als Gegenleistung dis- kontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespoli- sammenhang mit dem Flüchtlingsstrom ponibel gehalten. Solange die erwünschte zeigesetz Empfehlungen an den Gesetzge- ber, Gerichte und Polizei, hrsg. vom Deut- muss geklärt sein, wie der Staat mit seinen Anpassung (an Leitkultur etc.) nicht er- schen Institut fur Menschenrechte. Berlin. Grundrechten darauf reagieren will. Der folgt, werden Freiheitsrechte der „ande- Der Spiegel, Nr. 3/2016, „Staatsohn- zunehmende gefährliche Kontrollverlust ren“ zur Diskussion gestellt. macht. Rechtsfreie Räume, hilflose Polizei ist nicht weiter hinnehmbar.“ (Westfäli- Man muss somit eingestehen, dass – können wir uns noch sicher fühlen?“ sche Nachrichten 2017, o.S.; Hervorh. TK) es eine signifikante Rechtsverschiebung Der Tagesspiegel (2017): „Pazderski „Die Kölner Ereignisse hatte [sic!] eine des Diskurses in Richtung einer von ei- befürwortet ‚ethnisches Profiling’“ (http:// neue Debatte über die Flüchtlingspolitik ner breiteren Öffentlichkeit akzeptierten www.tagesspiegel.de/berlin/sicherheits- in Deutschland und einen Kontrollverlust Nennung und Berücksichtigung von eth- konzept-der-berliner-afd-pazderski-befu- des Staates ausgelöst.“ (Reuters 2017, o.S.; nischen Merkmalen gibt. Es ist des Weite- erwortet-ethnisches-profiling/19214210. Hervorh. TK) Und auch das Nachrichten- ren zu konstatieren, dass es hier zu einer html; Download: 2. Februar 2017). magazin Der Spiegel schlug im Nachgang höchst problematischen Veränderung des Hölzl, Martin (2011): „Legenden mit zur sogenannten Kölner Silvesternacht gesellschaftlichen Sagbarkeitsraums ge- Langzeitwirkung. Die deutsche Polizei und ihre NS-Vergangenheit“ in: Deutsche von 2015 in diese Kerbe. Der Begriff kommen ist. Die abschließende Frage ist, Hochschule der Polizei; Dierl, Florian; „Kontrollverlust“ wurde zwar nicht expli- wie dem begegnet werden kann? Zentra- Hausleitner, Mariana; Hölzl, Martin; Mix, zit verwendet, doch wenn auf dem Titel les Anliegen muss es sein zu vermitteln, Andreas (Hg.): Ordnung und Vernich- unter dem Schlagwort „Staatsohnmacht“ dass die beobachtbare symbolische Unter- tung. Die Polizei im NS-Staat. Dresden, S. gefragt wird: „Rechtsfreie Räume, hilflose scheidung zwischen „unserer“ Sicherheit 90-101. Polizei – können wir uns noch sicher füh- einerseits und der Freiheit der „anderen“ Reuters (2017) „Polizei verhindert er- len?“ legt das abgebildete fahruntaugliche andererseits grundsätzlich auf die wir/sie- neute Silvester-Übergriffe in Köln“ (http:// Polizeifahrzeug die Antwort darauf nahe. Differenz zurückgreift. Diese gelte es folg- de.reuters.com/article/deutschland-k-ln- (Vgl. Spiegel 2016.) Rechtsfreie Räume lich in Frage zu stellen. Dreh- und Angel- polizei-idDEKBN14L175; Download: 12. können hier als Synonym für einen Kon- punkt für solch eine Intervention wäre die Januar 2017). trollverlust (der Polizei = Staat) gedeutet offensive Geltendmachung eines neuen, Roth, Thomas (2011): „Die Krimi- werden. anderen universellen Zugehörigkeitsver- nalpolizei“ in: Deutsche Hochschule der Polizei; Dierl, Florian; Hausleitner, Mari- Das altbekannte Mantra konservativer ständnisses, welches die ethnisch-völki- ana; Hölzl, Martin; Mix, Andreas (Hg.): SicherheitspolitikerInnen, nachdem kei- schen Schubladen überwindet. Bis dahin Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im ne Freiheit ohne Sicherheit möglich sei, bleibt nur, im Handgemenge der argu- NS-Staat. Dresden, S.42-53. welches in der Vergangenheit immer wie- mentativen Auseinandersetzung die eta- Welt N24 (2017): „Ja zu ‚Racial Pro- der als Alibi für überwachungsstaatliche blierte Grenzziehung zwischen Sie- und filing’ – es kann Leben retten“ (https:// Intensivierungen von Sicherheitspolitik Wir-Gruppe zu unterlaufen – so schwer www.welt.de/debatte/kommentare/artic- diente, erfährt dadurch eine ethnisch- dies auch scheinen mag. le160799587/Ja-zu-Racial-Profiling-es- völkische Zuspitzung: Da die „anderen“ kann-Leben-retten.html; Download: 7. pauschal als Projektionsfläche von Be- März 2017). drohung „unserer“ Sicherheit fungieren, Westfälische Nachrichten (2017): „Ge- wird die im Sicherheitsdiskurs in der Ver- fährlicher Kontrollverlust“ (http://www. gangenheit skandalisierte Einschränkung wn.de/Kommentar/2016/01/2225205- Uebergriffe-in-Koeln-Gefaehrli- von Freiheitsrechten nunmehr als eine Prof. Dr. Thomas Kunz lehrt an der Frank- cher-Kontrollverlust; Download: 7. März Einschränkung von Freiheitsrechten der furt University of Applied Sciences. 2017). 6 DISS-Journal 33 (2017) Der „kleine Mann“

Der „kleine Mann“ und sein großer Auftritt – mal wieder

Von Wolfgang Kastrup

Es sind Wahlkampfzeiten und die Politik entdeckt mal wieder den „kleinen Mann“ bzw. die „kleinen Leute“, um korrekt ge- schlechtsneutral und im Plural zu reden. So Martin Schulz, SPD Kanzlerkandidat und neuer Hoffnungsträger für die so- zialdemokratische Seele. Er fordert Re- spekt für die „kleinen Leute“, die er bei den Busfahrern, Krankenschwestern, Kellnern und Polizisten zu finden glaubt. Wenn man mit Milliarden Banken geret- tet habe, müsse man nun mit Milliarden Familien entlasten. (vgl. WAZ v. 02.03.17) Anscheinend, so muss man schlussfol- gern, hat es bisher an diesem Respekt gefehlt. Und das, obwohl die Parteigenos- sen doch seit etlichen Jahren in der Regie- „Der kleine Mann ist – und bleibt – eine der wirkungsmächtigen Sozialfiguren, die rung mit Verantwortung tragen. das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Foto: AMPELMANN GmbH/Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Aber augenscheinlich galt der politische haupt, der „kleine Mann“ und wofür steht tungslogik. In dem Begriff „kleiner Mann“ und ökonomische Respekt, so muss man er? Klar ist, dass seine Wirkungsmacht drückt sich ein Klassenverhältnis aus, das weiter folgern, bisher nur der Rettung der gesellschaftlich äußerst begrenzt ist, d.h., auf ein Herrschaftsverhältnis verweist. Banken. Schulz lässt sich feiern und koket- er ist wenig einflussreich und braucht des- Auch wenn die heutige gesellschaftliche tiert damit, dass er, „Sohn einfacher Leute“, halb auch starke Fürsprecher*innen. Dies Sozialstruktur feiner differenziert ist, als zu seiner Herkunft stehe und deshalb wis- impliziert, dass er finanziell nicht auf Ro- Klassenstruktur wird sie weiterhin über se, wie „einfache Leute“ denken und wel- sen gebettet ist, ein Durchschnittsverdie- die kapitalistischen Produktionsverhält- che Sorgen und Probleme der Alltag mit ner eben, vielfach auch als ‚schweigende nisse bestimmt. Die Lebenschancen des sich bringe. Den Bezug auf den „kleinen Mehrheit‘ bezeichnet. Für das Einfordern „kleinen Mannes“, der „kleinen Leute“ Mann“ oder die „kleinen Leute“ benutzt seiner Interessen gegen ‚die da oben‘, gegen sind so klassenstrukturell bedingt, trotz nicht nur die SPD, sondern auch die an- die politische und ökonomische Elite, geht neuerer Differenzierungsformen in Form deren Parteien greifen darauf zurück. „Der er selten auf die Straße. Und sowieso weiß von Geschlecht, Milieu, Lebensweisen kleine Mann ist – und bleibt – eine der wir- er, dass bei Fehlverhalten ‚die Großen‘ lau- und transnationalen Veränderungen. Die kungsmächtigen Sozialfiguren, die das 20. fen gelassen werden, während der ‚kleine kapitalistischen Eigentums- und Produk- Jahrhundert hervorgebracht hat. Ein Vor- Mann‘ gehängt werde. Er hat die ‚Zeche tionsverhältnisse, die für die gesellschaft- führmodell und ein Phantom. Eine Phrase, zu zahlen‘, denn ‚mit ihm kann man es ja liche Verteilung des Reichtums bestim- die immer dann Konjunktur hat, wenn es machen‘. Auch in der Literaturgeschichte mend sind, entscheiden über die klassen- im gesellschaftlichen Gebälk knirscht. Die ist das Kollektivsubjekt „kleiner Mann“ spezifischen Lebenschancen. Und noch Rentendebatte, die Diskussionen um TTIP, vielfach Thema gewesen, so z.B. in Hans immer bestimmt der „stumme Zwang der die sogenannte Flüchtlingskrise: Eifrig wie Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? ökonomischen Verhältnisse“ (Marx) über lange nicht mehr konkurrieren derzeit Nils Markwardt (vgl. oben) verortet ihn die Nachfrage nach Arbeit und damit den die selbsternannten Anwälte des kleinen soziologisch als Sammelbegriff „irgendwo Arbeitslohn. Die Reproduktionskosten Mannes wieder mal um dessen Mandat.“ zwischen oberer unterer Mittelschicht und der Ware Arbeitskraft sind entscheidend (Markwardt, Nils: Kleiner Mann, warum? unterer oberer Unterschicht“. für deren Wert. Das schließt auch die In: der Freitag v. 19.05.2016) Schichtmodelle ignorieren aber oft- Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ein, Wenn so häufig über ihn gesprochen mals die kapitalistischen Produktionsver- wo trotz gewerkschaftlicher, oft aber nur wird, stellt sich die Frage: Wer ist das über- hältnisse als Ausdruck sachlicher Verwer- halbherziger Gegenwehr, ein Ausspielen

DISS-Journal 33 (2017) 7 Der „kleine Mann“

zwischen Stammbelegschaften, prekär von ‚denen da oben‘, von der Elite, von den Beschäftigten und scheinselbstständigen Mächtigen einerseits korrespondiert auch Arbeitskräften stattfindet. mit einem völkischen Denken anderer- Die Ansichten, das Bewusstsein des seits, mit einem Nationalismus, der ohne „kleinen Mannes“, der „kleinen Leute“ einen Rassismus nicht zu haben ist. Es ist sind weder per se emanzipatorisch oder das berüchtigte Treten nach unten, gegen gar revolutionär. Geprägt sind sie eher als die, die angeblich sozial noch ‚tiefer stehen‘, Forderungen an den Staat, für Gerech- gegen unerwünschte Zuwander*innen, tigkeit und einen sozialen Ausgleich zu gegen Muslime, gegen sogenannte sorgen. Die Grundlagen kapitalistischer Sozialschmarotzer*innen. Unterstellt wird Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hg.) Eigentums- und Produktionsverhältnisse eine politische und kulturelle Homogenität Der Kampf um Räume werden quasi als naturwüchsig akzeptiert. des Volkes und als solches habe man das Neoliberale und extrem rechte Konzepte Der Staat, angeblich eine neutrale Instanz, Recht, die Regierenden an ihre Pflicht ge- von Hegemonie und Expansion wird für die Kritik in Anspruch genom- genüber dem deutschen Volk zu erinnern. Edition DISS Band 34 , 224 S, 19,80 Euro men, nicht das zu bekommen, was einem Es geht also nicht um die Ursachen der ma- im Namen der Gerechtigkeit zusteht. Dies teriellen Lebensbedingungen im Konkur- Der Band widmet sich aktuellen Aneig- kann sich auf die Höhe der Löhne und der renzkapitalismus, sondern es geht um die nungsweisen und Transformationen ge- Renten beziehen, aber auch auf Probleme Sortierung in Deutsche und unerwünschte sellschaftlicher und politischer Räume der Sicherheit, der Kriminalitätsbekämp- Ausländer*innen. Wenn die Ausgrenzung und untersucht darauf bezogene Diskur- se. Im Mittelpunkt stehen urbane Räume, fung, der Höhe der Mieten oder der zu und Abschottung nicht konsequent genug die unter einem gewaltigen Verände- hohen Managergehälter. Gerechtigkeit umgesetzt wird, steigert sich die Kritik zu rungsdruck stehen, der die städtische Be- wird dabei als eine übergeordnete Norm Wut und Hass und brennenden Flücht- völkerung soziokulturell und sozialräum- anerkannt, die es einzuhalten gelte, die lingsheimen. lich immer weiter auseinander zu rücken aber je nach dem eigenen Interesse inter- Abschließend dazu einige Bemerkun- droht. Der zweite Schwerpunkt, ›Europa pretiert wird. Die Klagen an die Adresse gen des Psychoanalytikers Wilhelm Reich als hegemoniales Raumkonzept‹, beschäf- des Staates werden von diesem allerdings (1897-1957), in den 1960er und 1970er tigt sich mit einer globalen geopolitischen nicht als ungerechtfertigter Angriff ge- Jahren der Studentenbewegung heftig und Perspektive, die sich aus der derzeitigen wertet oder als unzulässige Kritik an der kontrovers diskutiert, der 1946 bezüglich Krise des Euroraums ergibt. staatlichen Regierungsweise, sondern des „kleinen Mannes“ Folgendes verfasste: Gerechtigkeit als Norm wird anerkannt „Du stattest Mächtige mit mehr Macht oder und selbst als Ausdruck des Handelns in Ohnmächtige mit bösem Willen aus, um Anspruch genommen. Staatliche Herr- dich zu vertreten. Zu spät entdeckst du, daß schaft soll gerecht sein. Und so wird, ge- du immer wieder der Betrogene bist.“ […] rade zu Wahlkampfzeiten, Gerechtigkeit Du bist ein ‚kleiner, gemeiner Mann‘. Ver- zu einem Dauerbrenner und zu einem steh den Doppelsinn dieser Worte: ‚klein‘ Konkurrenzmittel zwischen den Parteien. und ‚gemein‘….“ […] Deine Befreier sa- Gerecht soll es zugehen auf der Grundlage gen dir, daß deine Unterdrücker Wilhelm, einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die Nikolaus, Papst Gregor der 28., Morgan, selbst nicht in Frage gestellt wird. Deshalb Krupp, Ford heißen. Deine ‚Befreier‘ hei- gehört Gerechtigkeit konstitutiv zu einer ßen Mussolini, Napoleon, Hitler, Stalin. Ich gesellschaftlichen Ideologie, die immer sage dir: Dein Befreier kannst nur du sein!“ wieder den „Naturgesetzen der Produkti- (Reich, Wilhelm 2013: Rede an den kleinen on“ (Marx) angepasst werden muss. Mann, zuerst 1948, Frankfurt/ M., 14/17). Helmut Kellershohn, Wolfgang Kastrup (Hg.) Die Sozialfigur des „kleinen Mannes“ Kapitalismus und / oder Demokratie? ist jedoch ambivalent. Die Abgrenzung Wolfgang Kastrup ist Mitarbeiter des DISS. Beiträge zur Kritik „marktkonformer“ Demokratieverhältnisse „Die Sozialfigur des ‚kleinen Mannes‘ ist ambivalent. Die Edition DISS Band 36, Münster: Unrast 140 S., 18 Euro. Der Band widmet zum einen dem Ver- Abgrenzung von ‚denen da oben‘ einerseits korrespondiert hältnis von Demokratie, Neoliberalismus und Kapitalismus. und thematisiert auch mit einem völkischen Denken andererseits, mit einem dabei auch die Frage einer Fundamental- Demokratisierung von Politik und Ge- Nationalismus, der ohne Rassismus nicht zu haben ist.“ sellschaft.

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Volk, völkisch, völkische Bewegung Von Helmut Kellershohn

Seit etwa 30 Jahren erfährt der Begriff Volk, der seit dem 18. Jahrhundert zu den Grundbegriffen der historisch-po- litischen Sprache gehört, eine erneute Aufwertung im Zusammenhang der Entstehung rechtspopulistischer und völkischer Bewegungen. Von Bedeutung sind in diesem Kontext zudem Sub- stantivkomposita und -derivationen wie Volksgemeinschaft oder Volkstum sowie Adjektiv- und Verbverbindungen wie völkisch oder umvolken sowie seman- tisch eng anschließende Begriffe wie Nation oder Rasse. Der folgende Artikel gibt einen knappen Überblick über die Entwicklung des völkischen Verständ- nisses von Volk, die immer auch im Zusammenhang mit den Konjunkturen völkischer Bewegungen gesehen werden muss. Völkisch-antisemitisches Flugblatt aus Duisburg, 1919. Quelle: Stadtarchiv Duisburg.

1.

Jörn Retterath hat idealtypisch drei Haupt- durchhaltenden ethnisch-kulturellen bzw. rivalisierenden, gelegentlich sich befeh- varianten des Volksbegriffs herausgear- ‚rassischen’ Homogenität wird das Volk denden Gruppierungen gekennzeichnete beitet (Retterath 2014, 98): Erstens das zu einem überzeitlichen Kollektiv-Subjekt Sammelbewegung mit verschiedenen, sich Volk als plebs oder – abwertender – Pö- hypostasiert, dem die Individuen (die teils überlappenden – schwerpunktmäßig bel, womit „die Angehörigen der ‚unteren ‚Deutschen’, die ‚Italiener’ etc.) unterge- antisemitisch, alldeutsch/pangermanisch, Schichten’, das – in der feudalen Ständege- ordnet sind. Sie werden im Wesentlichen lebensreformerisch, eugenisch, kulturell sellschaft im Gegensatz zu den Herrschen- nur als Teil dieses quasi-sakralen Volkes und bzw. oder religiös ausgerichteten – den stehende – ‚einfache Volk’“ gemeint wahrgenommen. Das Attribut völkisch Teilbewegungen […].“ (Puschner 2003, seien; zweitens Volk als demos, worunter drückt, so Günter Hartung, eine „verab- 446) Diese in sich disparate Formation „die Vorstellung einer ‚Gemeinschaft’ al- solutierende Beziehung zum eigenen Volk gruppierte sich Puschner zufolge um die ler Bewohner des Staates, basierend auf aus, in der dieses die Stelle eines obersten Ideen- und Diskursfelder Sprache-Rasse- gleichen politischen und rechtlichen Teil- Wertes“ (Hartung 1987, 1175f.) einnimmt. Religion. Gemeint sind (Puschner 2001, habemöglichkeiten subsumiert“ werde; In diesem Sinne „wurde das Adjektiv zu- 15ff.) 1. ein deutschtümelnder Sprach- und drittens Volk als ethnos, womit „das erst innerhalb der deutschnationalen Be- purismus, der sich gegen die ‚Überfrem- Konzept einer auf gemeinsamen Merk- wegung in der Habsburgermonarchie ver- dung’ der deutschen Sprache richtete malen wie gleiche Abstammung, Sprache wendet und seit den 1880er Jahren von de- und die Muttersprache, anknüpfend an und Kultur beruhenden ‚Gemeinschaft’ ren reichsdeutschen Sympathisanten, aber Herder und Fichte, als „kostbares Gefäß“ bezeichnet“ werde. auch von verschiedenen antisemitischen der „deutschen Bildung“ und Ausdruck Die Vorstellung des Volkes als einer Gruppierungen übernommen.“ (Walken- des deutschen Wesens feierte sowie den Abstammungs- und generationsübergrei- horst 2007, 98) Zur Selbstbezeichnung Kampf um die „Reinheit der deutschen fenden „Zeugungsgemeinschaft“ ist kon- einer neuartigen Sammlungsbewegung Sprache“ als Voraussetzung für eine stitutiv für völkisches Denken. Durch die diente es dann um 1900. Uwe Puschner „Deutsche Wiedergeburt“ betrachtete; 2. genealogische Rückbindung an einen frei- definiert diese klassische Völkische Be- teils biologistisch, teils spiritualistisch ar- lich nur mythisch zu fassenden Ursprung wegung wie folgt: „Eine organisatorisch gumentierende Rassenlehren, die gewis- (im Kontext etwa der Germanenideolo- wie in ihren Anliegen vielgestaltige, von sermaßen den „Generalschlüssel zum Ver- gie) sowie die Unterstellung einer sich, bisweilen skurrilen Elementen, mitunter ständnis“ der völkischen Weltanschauung trotz aller ‚Überfremdungs’-Vorgänge, auch von gegenläufigen Strömungen und ausmachen, indem sie Rasse zum schick-

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salsbestimmenden Faktor der Einzelnen dikalnationalismus im Vorfeld des Ersten wie des Volkes bzw. der Völker erkoren Weltkrieges. und darauf aufbauend Rassenerneue- Nach der Niederlage des Deutschen rungsprogramme (Eugenik, Rassenhygie- Reiches und der Novemberrevolution ne) entwickelten sowie den traditionellen 1918/19 erlebte die Völkische Bewegung Antijudaismus auf eine neue ideologische im Kampf gegen die Republik einen auch Basis stellten („Jude bleibt Jude“); 3. reli- in quantitativer Hinsicht erheblichen giöse Erneuerungs- und Erlösungslehren, Aufschwung (vgl. Deutschvölkischer die entweder einem „deutschen“ Christen- Schutz- und Trutzbund), war aber nicht in tum das Wort redeten oder neuheidnische der Lage, sich als massenwirksame Bewe- Ersatzformen (Deutschgläubige, Germa- gungspartei zu etablieren. Parteipolitische nengläubige) kreierten, die im Kern davon Formierungen wie etwa die Deutschvöl- ausgingen, „daß aus deutschem Blute das kische Freiheitspartei bzw. Deutschvölki- Heil der Welt komme, daß es wiederge- sche Freiheitsbewegung wurden durch die boren werde, wie die Sonne wiederkehrt NSDAP überspielt. In Mein Kampf hat sich nach dem Gange in die bange Winter- Adolf Hitler abschätzig über die Völkische nacht“ (Ernst Wachler). Bewegung bzw. deren führende Reprä- Felix Schilk Die rein quantitativ gesehen über- sentanten geäußert (vgl. z.B. Hitler 1941, Souveränität statt Komplexität schaubare Völkische Bewegung war im 395ff.), obwohl oder gerade weil er für Wie das Querfront-Magazin COMPACT Wesentlichen eine mittelständische Be- sich bzw. den NS das Deutungsmonopol die politische Legitimationskrise der Ge- wegung, verstand sich als eine Art außer- über die „völkische Weltanschauung“ in genwart bearbeitet parlamentarische Opposition, organisier- Anspruch nahm. Gegen die Heterogenität Edition DISS Band 39 te sich in Vereinen, Bünden und Orden, der Völkischen Bewegung und die Bunt- Unrast-Verlag, Münster 2017 operierte vorwiegend mit einem breiten scheckigkeit der völkischen Vorstellungs- 192 Seiten, 19,80 € Geflecht von Zeitschriften und Verlagen welt setzte Hitler den Primat des Politi- auf metapolitischer Ebene und verfolgte schen und betonte die Notwendigkeit ei- Phänomene wie Pegida und die AfD lebens- und kulturreformerische Konzep- ner kanonischen Fixierung der völkischen verdeutlichen die Ausbreitung rechter te einer ‚alternativen Moderne’. Gleich- Ideen, als deren Kern er die naturgesetz- Ideologeme in der Mitte der Gesellschaft wohl hatte die Völkische Bewegung einen lich verankerte Verschiedenheit und un- und signalisieren einen Rechtsruck in großen Sympathisantenkreis und wirkte, terschiedliche Wertigkeit der Rassen und Deutschland. Der Vertrauensverlust vie- etwa über personelle Überschneidungen die Ungleichheit der Personen bestimmte ler Menschen in die politische Klasse hat und Netzwerke, in die staatstragenden (vgl. ebd., 419-424). Nur ein fest umrisse- zwar durch die Flüchtlingspolitik einen Parteien, vor allem aber in die damaligen nes Parteiprogramm könne als Grundlage großen Schub erhalten, er war aber schon Agitationsvereine wie den Alldeutschen einer schlagkräftigen Parteiorganisation vorher vorhanden. Er ist nicht nur Aus- Verband hinein und erlangte so eine er- und „politische[n] Glaubens- und Kampf- druck einer politischen Krise, sondern hebliche Breitenwirkung. Sie hatte damit gemeinschaft“ (ebd., 419) dienen, die dem auch das Resultat der Krisenprozesse ka- einen gewichtigen Anteil an dem sich als Hauptfeind, dem jüdischen Marxismus, pitalistischer Ökonomie in den letzten ‚nationale Opposition’ formierenden Ra- entgegenzutreten vermöge. Jahren. Neurechte Gruppierungen und Netzwerke stehen bereit, mit völkischer Ansprache Orientierung zu bieten. Jürgen Elsässers Querfront-Magazin COMPACT ist ein wichtiger Teil der jüngsten rechtspopulistischen Mobili- sierungen in Deutschland. Gemeinsam mit anderen alternativem Medien liefert es Deutungsangebote, Schlagwörter und Symbole. Im Umfeld von AfD und Pegi- da wird das ‚Magazin für Souveränität‘ intensiv rezipiert und stellt eine wichtige publizistische Infrastruktur dar, die zu- letzt durch Zusammenarbeit mit Akteu- ren der Neuen Rechten erweitert wurde. Aktuelle völkische Propaganda.

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Helmut Kellershohn Die Völkische Bewegung wurde nach worden, dass sie das Postulat der eth- (Hg.) 1933 weitgehend durch den NS integriert nokulturellen Einheit des deutschen Vol- Die ›Deutsche Stimme‹ oder fristete ein Nischendasein in vom kes zusätzlich untermauern sollten. der ›Jungen Freiheit‹ NS geduldeten sozialen Räumen. Nach Geht man von dieser These aus, so zeigt Lesarten des völkischen 1945 konnten sich völkische Gruppie- gerade die seit den 1970er Jahren verbrei- Nationalismus in zent- rungen wie etwa die Ludendorffer (Bund tete Theorie des Ethnopluralismus, dass es ralen Publikationen der für Gotterkenntnis) oder die heidnisch- durchaus möglich ist, völkisches Denken extremen Rechten germanische Artgemeinschaft (vormals: auch ohne direkten Bezug auf die Rassen- Edition DISS Bd. 23 330 Seiten, 28 Euro Nordische Glaubensgemeinschaft) reor - ideologie zu rekonstruieren, zugleich aber ganisieren und eine zum Teil nicht uner- wesentliche Elemente des Rassendiskurses Die ›Junge Freiheit‹ steht für das das jung- hebliche Bedeutung für die verschiede- fortzuschreiben (Rassismus ohne Ras- konservative Lager der Neuen Rechten, nen Formierungsversuche der extremen sen!). Treibende Kraft dieser ‚Moderni- das sich dem Kampf wider die ›Dekadenz‹ Rechten in der Bundesrepublik Deutsch- sierung’ waren in Frankreich die Nouvelle verschrieben hat. Sie zielt auf eine ideolo- land erlangen. Jürgen Rieger etwa leitete Droite um ihren Vordenker Alain de Be- gische Umorientierung der Eliten, wirbt die Artgemeinschaft von 1989 bis 2009 noist bzw. in Deutschland die so genannte für eine ›konservative Basisbewegung‹ und brachte es bis zum stellvertretenden mit Henning Eichberg als und unterstützt rechtspopulistische Par- Bundesvorsitzenden der NPD. Gross- ihrem konzeptiven Ideologen. Im Kern teiansätze. Das Parteiorgan der NPD, die mann und Puschner (2009, 11f.) urteilen: ging es darum, den völkischen Diskurs ›Deutsche Stimme‹, versteht sich dagegen „Neonazismus und Rechtsextremismus aus seiner ‚Kontamination’ durch den NS als Sprachrohr einer ›Fundamentalopposi- schöpfen wie der Nationalsozialismus in zu befreien und den Volksbegriff mit ei- tion von Rechts‹, die sich mehr oder weni- ger offen in die Tradition des nationalso- der Zwischenkriegszeit opulent aus dem nem differentialistischen Kulturbegriff zu zialistischen Kampfes gegen das ›System‹ völkischen Weltanschauungsreservoir.“ koppeln. Zum „diskursiven Grundplan“ stellt, dabei aber auch auf jungkonserva- (Angelika Magiros) gehörte einerseits die tive und nationalrevolutionäre Ideen zu- 2. Betonung der ethnokulturellen Vielfalt, rückgreift. In beiden untersuchten Leitor- „der Gleichwertigkeit der Kulturen, der ganen sind, unterschiedliche Lesarten des Wenn man nach den Entwicklungschan- Toleranz und des Rechts auf Verschieden- völkischen Nationalismus identifizierbar. cen einer neuen völkischen Bewegung heit“. Kultur wurde damit essentialisiert zu heute fragt, muss man allerdings unter- einem Set von unverwechselbaren Merk- scheiden zwischen der völkischen Ideolo- malen, verankert in quasi ontologischen Regina Wamper / gie im engeren Sinne als Ausdrucksideolo- Eigenschaften eines Volkes. Die Kehrseite Helmut Kellershohn / gie einer völkischen Bewegung und einer dieser Setzung war dann andererseits „die Martin Dietzsch (Hg.) im weitesten Sinne völkisch-nationalisti- Wende zurück zur Fremdenabwehr […] Rechte Diskurspira- terien. Strategien der schen Weltanschauung als verbindendem und die Forderung nach strikten ethni- Aneignung linker Element der gesamten Rechten, mit einer schen Grenzziehungen“ (Magiros 2004, Codes, Symbole Tiefenwirkung in die hegemonialen Dis- 167). Obwohl man sich also von einer Hi- und Aktionsformen. kurse der bürgerlichen Mitte hinein. Des erarchisierung von Völkern und Kulturen Edition DISS Bd. 28, Weiteren muss man sich vergewissern, distanzierte, rekurrierte man dennoch auf 288 S., 19,80 Euro dass die ideengeschichtlich gesehen enge mehr oder weniger ausgeprägte Reinheits- Verbindung des Volks- mit dem Rassen- phantasien, wie sie auch der klassischen In jüngerer Zeit ist ein verstärktes Be- begriff keineswegs zwangsläufig ist. Julian Völkischen Bewegung mit ihrer – damals mühen auf Seiten der extremen Rechten Köck arbeitet in seiner Darstellung völ- nicht zuletzt antisemitisch gerichteten – zu beobachten, Themen, politische Stra- kischer Geschichtsbilder heraus, dass die Parole „Deutschland für die Deutschen“ tegien, Aktionsformen und ästhetische Rassenideologie zweifellos „der wichtigste (Langbehn 1943, 274) zueigen waren. Ausdrucksmittel linker Bewegungen zu Bestandteil des ‚kulturellen Codes’ (Shul- adaptieren und für ihren Kampf um die amit Volkov) der Völkischen“ (Köck 2015 3. kulturelle Hegemonie zu nutzen. Solche Phänomene sind keineswegs neu. Auch 108) war (analog der Rolle des Antisemi- der Nationalsozialismus bediente sich tismus für die deutsche Rechte insgesamt), Seit den 1990er Jahren dominiert in der Codes und Ästhetiken politischer betont aber, dass sie die „Gestalt einer Deutschland eine jungkonservative Strö- Gegner und suchte Deutungskämpfe Ergänzungs- und Vertiefungsideologie“ mung die Neue Rechte (Junge Freiheit gerade verstärkt in die Themenfelder (ebd., 111) angenommen habe. Der Be- (JF), Institut für Staatspolitik (IfS)), die, so zu tragen, die als traditionell links be- zug auf Rasse als „Erkennungssignal der Karlheinz Weißmann, einer ihrer Vorden- setzt galten. Auch in den 1970er Jahren Bewegung“ (ebd., 110) sei u.a. vor dem ker, „einerseits mit einer gewissen Unbe- waren solche Strategien vorhanden. Ge- Hintergrund der Bedeutungszunahme der kümmertheit auf das Erbe der Konservati- fragt wird danach, warum und in wel- Naturwissenschaften zu sehen. Rassenthe- ven Revolution zurückgreift, andererseits cher Form diese Diskurspiraterien heute orien seien aber in der Form aufgegriffen versucht, eine konservative […] Antwort wieder verstärkt auftreten.

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auf die Herausforderungen der Gegenwart jungkonservativen Neuen Rechten, der zu geben.“ (Weißmann 2011, 73) Auch sich dem Widerstand gegen das ‚System’ hier überwiegt eine ethnopluralistische verschrieben hat (IfS unter Führung Götz Argumentation, die freilich aus realpoliti- Kubitscheks), die Identitäre Bewegung, schen Erwägungen durchaus flexibel vari- die Compact-Gruppe um Jürgen Elsässer iert werden kann. und ideologisch flexible Teile des neona- So schreibt etwa Michael Paulwitz in tionalsozialistischen Lagers sowie nicht der Jungen Freiheit (JF 42/2012, 3): „Diese zuletzt die Pegida-Bewegung. Gemeinschaft ist nicht statisch; sie kann Einwanderer aufnehmen und zu beider Literatur Vorteil integrieren, wenn Einwanderung Grossmann, G. U./Puschner U.: Vorwort, nicht schrankenlos und ungesteuert statt- in: Dies. (Hg.): Völkisch und National. Zur findet.“ Voraussetzung allerdings sei auf Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahr- Seiten der Einwanderer die Bereitschaft, hundert, Darmstadt 2009, S. 9-14. „sich ohne Vorbehalt mit Staat und Nation Hartung, G.: Völkische Ideologie, in: zu identifizieren“.In diesem Sinne warb JF- Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Litera- Chefredakteur Dieter Stein (JF 41/2013, turwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheo- Jens Zimmermann, Regina Wamper, Se- 18) für einen „erneuerten Volkstumsbe- rie, Jg. 33, 1987, S. 1174-1185. bastian Friedrich (Hg.) griff“: Nach fünfzig Jahren Einwanderung Hitler, A.: Mein Kampf. Zwei Bände in Der NSU in bester Gesellschaft Zwischen Neonazismus, Rassismus und habe „sich das Bild Deutschlands gewan- einem Band [zuerst 1925/27], München Staat delt“; es sei daher „realitätsfremd“, „an 1941. Edition DISS Band 37 einem engherzigen volkstumsbezogenen Köck, J.: „Die Geschichte hat immer 168 Seiten, 18 Euro Vaterlandsbegriff festzuhalten, der inte- Recht“. Die Völkische Bewegung im Spie- grationswillige Einwanderer und Kinder gel ihrer Geschichtsbilder, Frankfurt a. von solchen“ ausschließe. Maßgeblich für M./New York 2016. Der gesellschaftliche Umgang mit den eine derartige Differenzierung sind Kri- Langbehn, J.: Rembrandt als Erzieher. Morden des NSU zeugt von seiner Ein- terien wie Nützlichkeit, Gewohnheit und Von einem Deutschen [zuerst 1890], Wei- bettung in ein medial vermitteltes und kulturelle Nähe. Letztere soll sich daran mar 1943. institutionell verfestigtes Wissen über erweisen, dass EinwanderInnen sich voll Magiros, A.: Kritik der Identität. ‚Bio- Migration, rassistische Gewalt und ihre und ganz assimilieren – eine Fähigkeit, die Macht’ und ‚Dialektik der Aufklärung’: Ursachen, bei dem Migration und Krimi- freilich muslimischen EinwanderInnen Zur Analyse (post-)moderner Fremden- nalität eng miteinander verknüpft sind. Hat sich daran nach Aufdeckung des NSU mehr oder weniger abgesprochen wird. feindlichkeit, Münster 2004. etwas verändert? Das Programm der AfD von 2016, das den Puschner, U.: Die völkische Bewegung Mit Blick in die 1990er Jahre werden Islam mit dem Grundgesetz für nicht ver- im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache die zentralen Faktoren ausgeleuchtet, die einbar hält, folgt dieser Argumentation. – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. für die Entstehung und die Aktivitäten des Im neonationalsozialistischen La- Puschner, U.: Strukturmerkmale der NSU relevant waren. Ein Blick in die Ge- ger der extremen Rechten werden sol- völkischen Bewegung, in: Grunewald, M./ genwart arbeitet die politischen, juristi- che Differenzierungen strikt abgelehnt. Bock, H. M. (Hg.): Le Milieu intellectuel schen und medialen Auseinandersetzun- Im Programm der NPD von 2010 heißt conservateur en Allemagne, sa presse et gen mit dem NSU nach Bekanntwerden es: „Grundsätzlich darf es für Fremde ses réseaux (1890-1960), Bern 2003, S. seiner Morde und deren Effekte heraus. in Deutschland kein Bleiberecht geben, 445-479. Schließlich geht es um die Frage, was der sondern nur eine Rückkehrpflicht in ihre Retterath, J.: Der Volksbegriff in der NSU und der gesellschaftliche Umgang Heimat.“ Grundsätzlich fremd bleiben Zäsur des Jahres 1918/19. Pluralistisches mit ihm und den Morden für eine antifa- schistisch und antirassistisch ausgerichte- aus dieser Sicht auch eingebürgerte Men- und holistisches Denken im katholischen, te Theorie und Praxis bedeutet. schen, sogenannte „Ausländer mit BRD- liberalen und sozialdemokratischen Mili- Pass“, die ebenfalls ‚rückgeführt’ werden eu, in: Kämper, H. u.a.. (Hg.): Demokra- Mit Beitragen von Friedrich Burschel, Mat- sollen. tiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskur- thias Falter, Liz Fekete, Sebastian Friedrich, Eine völkische Bewegung neuen Stils se der frühen Weimarer Republik, Berlin Ayşe Güleç, Derya Gür-Şeker, Felix Han- könnte sich möglicherweise in den Zwi- 2014. sen, Lee Hielscher, Margarete Jäger, Lynn schenräumen dieser beiden Lager ent- Walkenhorst, P.: Nation-Volk-Rasse. Klinger, Ulrich Peters, Katharina Schoenes, falten als eine Art ‚Volksfront von rechts’. Radikaler Nationalismus im Deutschen Maruta Sperling, Regina Wamper, Michael Bestandteil einer solchen Formation Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007. Weiss und Jens Zimmermann. könnten folgende Gruppierungen sein: Weißmann, K.: Kurze Geschichte der der deutschnational-völkische Flügel konservativen Intelligenz nach 1945, der AfD (um Björn Höcke), der Teil der Schnellroda 2011. 12 DISS-Journal 33 (2017) Raunen und Runen „... diese warme Badewanne, in der unser Volk ertrinkt“

Gespräche über die Dekadenz im Institut für Staatspolitik

Von Tobias Wallmeyer

Im Juli 2015 erschien der von Götz findet sich (52, 69, 145). Nach Kurt Lenk den. Strukturierende ethische Kategorie Kubitschek und seiner Ehefrau Ellen ist es eine Gemeinsamkeit in der Welt- dieser idealen Ordnung wäre ein vor-mo- Kositza herausgegebene Gesprächs- anschauung vieler Vordenker der Neuen derner und anti-egalitärer Begriff der Ehre band „Tristesse Droite. Die Abende von Rechten, dass das gegenwärtige ‚moderne’ (honor), der - nach dem Motto Ehre dem, Schnellroda“ im Verlag Antaios. Wie- Weltgeschehen als Ausdruck einer histori- dem Ehre gebührt - im Widerspruch zum dergegeben sind darin Gespräche, die schen Abwärtsbewegung verstanden wird. universellen Begriff der Menschenwürde Ende Dezember 2013 zwischen sieben Der Hauptbegriff entsprechender Zeitdia- (dignity) steht.4 Dem „konservative[n] ‚Intellektuellen’ aus dem Umkreis des gnosen ist der der Dekadenz. Begriff vom Leben“, den Kubitschek ge- Instituts für Staatspolitik (IfS) und der Auf lebensphilosophischer Ebene liegt gen den Verfall verteidigen will, liegt ein neurechten Zeitschrift Sezession statt- diesen Ansichten meist eine Art Entfrem- „Begriff der Würde“ zugrunde, der in fanden.1 Die Gespräche ermöglichen dungserfahrung zugrunde.3 In Tristesse diesem Sinne anti-egalitär und inkompa- einen Einblick in die Selbst- und Welt- Droite ist die Rede von einem „Gefühl der tibel mit dem „Jeder-Mensch-ist-wertvoll- anschauung einiger sich als maßgeblich Leere“, vom Verlust der „Tiefe“ und der Geschwätz“ ist (43, 179; vgl. 150). Mit Carl verstehenden Akteure der Neuen Rech- „Intensität eines Gefühls, und des Seins“. Schmitt ließe sich sagen, dass alleine die ten. Besonders auffällig sticht dabei ein Besonders der „Auszug des Sakralen“ – Zugehörigkeit zur Gattung Mensch für bestimmtes Verfallsempfinden hervor, mit anderen Worten die Entzauberung – Kubitschek noch kein würdevoller oder das sich der von Kurt Lenk beschriebe- „die Wüste um sich herum“ und die Tren- ehrwürdiger Verdienst ist.5 nen Trias Dekadenz-Apokalypse-He- nung des Menschen von seiner Natur wer- roismus zuordnen lässt.2 Im Folgenden den in diesem Zusammenhang diskutiert Das Elend des Egalitarismus und das gehe ich auf einige Komponenten dieses (105, 42, 43, 160, 101; vgl. 99ff.). Problem der Identität Verfallsempfindens näher ein. Damit das Dekadenz-Konzept sinnvoll erscheinen kann, muss nach Lenk stets Als geschichtliche Triebkraft des Verfalls Verfall, Entfremdung und von einem (imaginierten) Zustand aus- wird in diesem Zusammenhang die „Zug- der Verlust der Ehre gegangen werden, vonr dem wir ‚abfallen’ kraft des historischen Golfstroms nach bzw. der als Bewertungsstandard gilt. Das links“ angeprangert.6 Kubitschek zufolge Laut Kubitschek soll mit Tristesse Droite Ideal, dass der Weltanschauung des IfS zu- entwürdigt besonders der Egalitarismus „neurechter Geist in seiner ganzen Breite grunde liegt, deutet Kubitschek mit dem dieses Ideal des ehrlichen Lebens. Die und Tiefe“ (183) vorliegen. Als integratives Verweis auf Preußen und die Wehrmacht Gleichheitsideale der Aufklärung würden, Element – gewissermaßen als Fluchtpunkt an („eine ungeheure Höhe, von der wir mit Lichtmesz gesprochen, „die Existenz im Weltbild der Gesprächsteilnehmer – runtergefallen sind“). Mehrfach schwärmt objektiver Maßstäbe verleugnen“ (wie die erscheint jedoch immer wieder ein altbe- er in diesem Zusammenhang von einem „innere oder moralische Wahrheit“ der kanntes Ideologem rechter Zeitauslegung: „in Form gebrachten Volk“. Den ent- Ungleichheit der Menschen). Sie zersetz- der Verfall. Wie ein roter Faden zieht sich sprechenden Standard erklärt er später ten im Grunde „[a]ll das, was ein Konser- der Eindruck von „Niedergang“, „Abstieg“ so: „Nur die in Form gebrachte Masse ist vativer unterschreiben kann als notwendi- und „Zersetzung“ durch die vier Gesprä- eine, mit der man leben will, eine Masse, ges Sortierungskriterium innerhalb einer che (53, 55, 61, 147, 150, 154, 158). Die die einfach geordnet ist auf bestimmte Art Gesellschaft“ (119, 43; vgl. 75ff.). Ein sol- sprachlichen Etikettierungen reichen von und Weise“ (148, 158; vgl. 147ff., 162). cher Verfall hat den Anwesenden zufolge Verhältnissen, die „einfach Scheiße“ sind, Es ist ein Verlust des Zaubers bei den fatale Folgen für das Volk. Ein Identitäts- bis zur „zerfallende[n] Zivilisation“, sogar „Symbolen der Rangordnung“, der den problem drohe, gehen die Anwesenden ein Vergleich mit dem Römischen Reich Anwesenden vor diesem Hintergrund als 4 Vgl. Berger, Peter: On the Obsolescence of folgenreichstes Verfallselement erscheint 1 Neben den Herausgebern nahmen Nils Weg- the Concept of Honor. In: Hauerwas, Stanley/ ner, Martin Lichtmesz, Erik Lehnert, Thorsten (60). Gemeint sind damit Unterschei- MacIntyre Alasdair (Hg.): Revisions: Changing Hinz und ‚Raskolnikow’ (Pseudonym) teil. dungskriterien, die im Stile des Ancien Perspectives in Moral Philosophy, Notre Dame 1983, 172-181. 2 Vgl. Lenk, Kurt: Das Problem der Dekadenz Régime eine soziale Hierarchie begrün- seit Georges Sorel. In: Heiko Kauffmann/Hel- 5 Vgl. Lenk, Kurt/Meuter, Günter/Otten, Hen- mut Kellershohn/Jobst Paul (Hg.): Völkische 3 Vgl. Lenk, Kurt/Meuter, Günter/Otten, Hen- rique Ricardo: a.a.O. [Fn. 6], 87. Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analy- rique Ricardo: Vordenker der Neuen Rechten, 6 Der Begriff des historischen Golfstroms sen rechter Ideologie, Münster 2005, 49-63. New York 1997. taucht immer wieder auf (35, 40, 41, 145, 163).

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doch vom Menschen als ‚Mängelwesen’ senden deshalb auch eine Einebnung von (Arnold Gehlen) aus.7 Die Identität des Unterschieden. Mit dem kulturindustriel- Einzelnen stünde dieser Anthropologie len Muster „Küblböck neben Goethe“ fin- zufolge in einer direkten Abhängigkeit de im Verfall eine Art „Gleichschaltung“ zu übergeordneten Institutionen und statt. Im Anschluss an die anthropologi- Norm-Systemen – d.h. gesellschaftlichen schen Grundannahmen seien es schließ- Hierarchien, Autoritäten, ehrwürdigen lich die „Traditionen und Strukturen, die prototypischen Verhaltensmuster, sozia- die Menschen voneinander unterschei- len Rollen etc. Es ist dieser Anthropologie den“ (41ff., 60). zufolge der Platz, den das Individuum in All das münde letztlich in einen Zu- den (organischen) Strukturen des Volkes stand beispielhafter Dekadenz. Mit der einnimmt, der seine Identität bestimmt, Entzauberung der Ehre als maßgebendem nicht etwa das besondere Verhalten oder Motiv kommen wir hier zu Nietzsches die Selbst-Interpretation des je Einzelnen. „letzten Menschen“: Da laut Lichtmesz mit den ‚Symbolen der Rangordnung’ auch „Gleichschaltung“ und „Vermassung“ die „Intensität“ und der „Sinn“ des Lebens statt Emanzipation ausgehöhlt würden, herrsche gegenwärtig Wolfgang Kastrup, das „Mittelmaß“ (55, 58f.). Ein „Massen- Helmut Kellershohn (Hg.) Im gesamtgesellschaftlichen Kontext wird mensch“ habe sich ausgebreitet, der in der Kulturkampf von rechts der Verfall in Tristesse Droite deshalb auch gleichschaltenden Verwertungslogik der AfD, Pegida und die Neue Rechte synonym zur Individualisierung bespro- „Massenmaschine“ zufrieden sei, solange Edition DISS Band: 38 chen. So heißt es, dass das Volk mit dem er nur qua „Selbstprostitution“ in relati- Münster: Unrast Aufweichen der konservativen Institutio- vem Wohlstand leben könne – und den 244 S., 24,00 € nen zur Bevölkerung „eingekocht“ werde. wir Lehnert zufolge deshalb auch „min- Wir stünden wie Kierkegaard da, erklärt derwertig“ nennen dürften. Hinz spricht An Phänomenen wie Pegida und der Wegner, „das unsichtbare Band, […] von „Massentierhaltung“ und Kubitschek AfD zeigt sich deutlich der Rechtsruck, das alles irgendwie zusammengehalten sieht eine „warme Badewanne, in der un- der zurzeit durch Deutschland geht. Die hat, das haben wir zerschnitten und jetzt ser Volk ertrinkt“ (22, 149, 161, 41, 61). Ausbreitung rechter Ideologeme in der glaubt keiner mehr dran“ (154, 59). Auch die „Macht dieser Leute, die die- Mitte der Gesellschaft hat durch die ak- Besonders emanzipatorische Politik sem Apparat“ des politischen Systems vor- tuelle Flüchtlingspolitik einen gewaltigen erscheint so als Problem. Die erhoffte sitzen, reiche nicht aus, um aufhaltend ein- Schub erhalten. Der Vertrauensverlust Befreiung des Individuums sei den An- zugreifen. Das „stahlharte Gehäuse“ mit vieler Menschen in die politische Klasse wesenden zufolge nicht nur illusorisch, seinen „Verhaltensregeln“ und „Existenz- ist aber nicht nur Ausdruck einer politi- realgeschichtlich sei sie in ihr Gegenteil gesetzen“ würde die Verwaltung und „Ver- schen Krise, sondern auch das Resultat umgeschlagen. Aus den Institutionen des sorgung“ zur „Hauptaufgabe“ der Politik der Krisenprozesse kapitalistischer Öko- Volkes herausgelöst, werde der Einzelne machen. Die „Handlungsfreiheit von Po- nomie in den letzten Jahren. Neurechte nicht befreit, sondern lediglich den „Ef- litikern“ sei damit zu stark eingeschränkt; Gruppierungen und Netzwerke stehen fizienzkategorien des stahlharten Gehäu- sie müssten sich „brav an die Regeln hal- bereit, diesen Menschen mit völkischer ses“ überlassen. Der „Staatsfeminismus“ ten“ meint Hinz, so dass über das Parla- Ansprache Orientierung zu bieten. Das arbeite beispielsweise bloß daran, dass ment höchstens „minimal verändernd“ Duisburger Institut für Sprach- und So- auch die Frau in eine kapitalistische Ver- eingegriffen werden könne. Mit den zialforschung (DISS) widmet sich dem wertungslogik („ins Getriebe“) eingeord- schwerwiegenden Problemen der Nation Thema ›Kulturkampf von rechts‹ in ge- net wird (58). Zugrunde liegt hier offenbar (die beiläufig mit „Eurokrise“ und „extre- wohnt kenntnis- und aufschlussreicher die Überzeugung, dass der Begriff des ehr- mem [sic] Ausländeranteil“ umschrieben Art und Weise. lichen Lebens der einzig gültige und mög- werden) könne man so überhaupt nicht liche sei (46f). Die Ablehnung von Sortie- umgehen. „Vision“ und ein „überschie- Mit Beiträgen von Floris Biskamp, Julian rungskriterien würde bedeuten, dass ‚wir’ ßendes Moment“ gäbe es leider in diesem Bruns, Marvin Chlada, Sebastian Fried- den Menschen „der Moderne ausliefern“, „System“ nicht mehr (14, 19, 21). rich, Richard Gebhardt, Kathrin Glösel, in deren kapitalistischen Strukturen er Mark Haarfeldt, Alexander Häusler, Wolf- geradewegs zum „Kunstprodukt“ werde. Tobias Wallmeyer studiert in Bielefeld gang Kastrup, Helmut Kellershohn, And- Statt Pluralisierung beobachten die Anwe- Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft reas Kemper, Julia Meier, Jobst Paul, Rolf und Ethik. Eine ausführliche Fassung ist van Raden und Natascha Strobl. 7 Vgl. 21. Lehnert äußert sich später auch ex- plizit in Abgrenzung zu Rousseaus Anthropolo- nachzulesen unter: http://www.diss-duisburg. gie (vgl. 154f.). de/2017/06/bemannte-rettungsboote/

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„Stunde des Triumphs“ und „tödliche Weichenstellung“? Das Nichtverbot der NPD aus Sicht der NPD

Von Martin Dietzsch

Am 17. Januar 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Nationaldemokra- „Bürgerkrieg“ tische Partei Deutschlands (NPD) nicht zu verbieten. Die Partei erfülle zwar die Vor- aussetzungen für ein Verbot. „Es fehlt jedoch an konkreten Anhaltspunkten von Ge- Per Lennart Aae, laut Wikipedia „Leiter wicht, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg des Wissenschaftsarbeitskreises der NPD“, führt.“ (Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13) geht (ebenfalls am 17.1. und ebenfalls auf Das Urteil ist kein Sieg der NPD, sondern ein Freispruch dritter Klasse. Die Begrün- Facebook) noch einen Schritt weiter. Mit dung ist fragwürdig, zumal das schwebende Verbotsverfahren und der Abzug der V- aktivierter Caps-Lock-Taste droht er an- Leute erheblich zur derzeitigen Schwächung der Partei beigetragen haben. gesichts des Urteils mit dem Bürgerkrieg: „EIN ERGEBNIS, DAS NACH MEI- Die Konkurrenzpartei Alternative für dung schrieb er auf Facebook, dies sei die NER ÜBERZEUGUNG UNWEIGER- Deutschland (AfD) ist bei Wahlen erfolg- „Stunde des Triumphs“. LICH DIE POLITISCHEN WEICHEN IN reicher und hat die NPD aus den Landta- „Wir sind die letzte Bastion zwischen DEUTSCHLAND IN RICHTUNG BÜR- gen verdrängt. Völkisches Gedankengut dem anständigen Deutschland und dem GERKRIEG STELLT! DENN ES LÄSST und völkisches Handeln haben jedoch zerstörerischen Treiben der etablierten DEN MENSCHEN, DIE SICH GEGEN in der Bundesrepublik Hochkonjunktur, Volksverräter. Mit vereinten Kräften kön- DIE GEPLANTE MASSENEINWANDE- so dass ein Wiedererstarken der NPD nen und werden wir uns unser Land zu- RUNG UND ÜBERFREMDUNG WEH- als Partei rechts von der AfD nicht aus- rückholen!“ Er verstieg sich sogar zu der REN WOLLEN, KEINE ANDERE MÖG- geschlossen ist. Viel wird davon abhän- Prognose, als nächstes werde die NPD im LICHKEIT, ALS DIES AUSSERHALB gen, ob die AfD willens und in der Lage Saarland mit „5 % + x in das Landespar- DES (VON DEN MACHTHABERN VER- sein wird, stramm völkische bis hin zu lament einziehen“. Das reale Ergebnis bei FÄLSCHTEN) VERFASSUNGSMÄSSI- NS-affine Kräfte in der eigenen Partei im der Wahl am 26. März 2017 war 0,7 %. GEN RAHMENS ZU TUN.“ Höcke-Flügel zu binden. Möglich wäre aber auch – obwohl es derzeit nicht da- „tödliche Weichenstellung“ „Arbeitsteilung“ nach aussieht –, dass die AfD sich von Teilen ihres rechten Flügels trennt und Ganz anders äußerte sich Karl Richter, Jürgen Werner Gansel wurde im Urteil sich diese Klientel eine neue politische Stadtrat in München und parlamentari- des Bundesverfassungsgerichts 28 mal Heimat suchen muss. Voraussetzung für scher Assistent des NPD-Europaabgeord- namentlich erwähnt. Er gilt als einer der eine Sammlung in der NPD wäre aller- neten , ebenfalls auf Facebook. Chefideologen der NPD. Aus seiner Feder dings auch die Eindämmung der heftigen Er bezog sich auf eine zentrale Passage stammt die Schulungsbroschüre „Wort- internen Querelen und Machtkämpfe. Es des Urteils: „Ein ethnischer Volksbegriff gewandt – Argumente für Mandats- und lohnt sich also, die NPD weiter im Auge würde bereits eingebürgerte Deutsche Funktionsträger“, in der eingebürgerte zu behalten. zu Staatsbürgern zweiter Klasse degra- Deutsche nach biologischen Rassekrite- Wie haben führende NPD-Funktionä- dieren und ihr Recht auf demokratische rien zu „Nichtdeutschen“ erklärt werden. re auf das Nichtverbot reagiert und welche Gleichheit verletzen“. Für Richter und Diese Broschüre wertete das Gericht als strategischen Einschätzungen haben sie viele andere rechte Kommentatoren ist einen zentralen Beleg für die verfassungs- abgegeben? dies der Beginn des Weltuntergangs: Das widrige Ausrichtung der NPD. Gericht „bekennt sich zum Volkstod, Gansel schrieb am 23.2.2017 auf Face- „Stunde des Triumphs“ zum vorsätzlichen Austausch des deut- book, es müsse angesichts des Urteils sei- schen Staatsvolkes durch eine beliebige ner Meinung nach in Zukunft eine „strate- Der Prozessbevollmächtigte der NPD No-name-Bevölkerung [...] Der heutige gische Arbeitsteilung“ zwischen NPD und Peter Richter ist gleichzeitig stellvertre- 17. Januar wird womöglich einmal als AfD geben. tender Landesvorsitzender im Saarland verhängnisvolle, ja tödliche Weichenstel- „Ich sagte, die NPD müsse die patrioti- und steht dem Parteivorsitzenden Frank lung in die Annalen unserer Geschichte schen Wutbürger und klassischen Rechts- Franz nahe. Am Tag der Urteilsverkün- eingehen.“ wähler ansprechen und die AfD die vielen

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Wähler rechts der CDU, die aus irgend- „eine in sich geschlossene Partei“ welchen Gründen niemals NPD wählen würden. [...] Deshalb ist die eigentlich Der Bundesvorsitzende der NPD Frank sehr sympathische Positionierung eines Franz macht derweil auf Zweckoptimis- Björn Höcke wahlstrategisch gesehen mus. In einem Interview in der März- kontraproduktiv. Er jagt der NPD damit Ausgabe der Parteizeitung Deutsche Stim- Rechtswähler für die AfD ab, verprellt me verwies er darauf, dass die NPD nach aber ungleich mehr potenzielle AfD-Wäh- dem Scheitern des ersten Verbotsverfah- ler bürgerlicher Prägung. Damit ist rech- rens 2003 nur ein Jahr später in den Säch- nerisch für das Parteienspektrum rechts sischen Landtag eingezogen sei. Angeb- der Union nichts gewonnen! [...] Björn lich verzeichne man auch jetzt „wieder Höcke sollte das rechtskonservative Profil steigende Interessenten- und Mitglieder- seiner Partei schärfen, aber keine natio- anfragen“. Franz‘ einzige selbstkritisch nale Rhetorik anschlagen, weil er keiner klingende Bemerkung zielte in Wahrheit nationalen Partei angehört. Die nationale auf seine innerparteilichen Widersacher, Partei Deutschlands ist die NPD! [...] Un- die ein offensiveres und radikaleres Auf- Margarete Jäger / Heiko Kauffmann (Hg.) sere Funktion als NPD besteht darin, das treten fordern. Skandal und doch normal gesamte politische Koordinatensystem im „Was ich durchaus selbstkritisch zur Impulse für eine antirassistische Praxis. Land nach rechts zu verschieben. Mit dem Kenntnis nehme, ist, wenn hier und da – edition DISS Bd. 31, 2012 Münster: Un- wieder gescheiterten NPD-Verbotsverfah- allerdings nur vereinzelt – eine primitive rast 253 S., 24 Euro ren können und müssen wir den Mund Sprache gepflegt wird, die dann gegebe- noch weiter aufmachen und Klartext für nenfalls auch zu Mißdeutungen führen Rassismus ist weiterhin ein drängendes die Rechtswende sprechen! Wir sind der Problem in Deutschland, das das Zusam- kann. Wir müssen klare Kante zeigen menleben von Personen unterschiedli- Stachel im Fleisch der AfD, und die AfD und eine deutliche Sprache sprechen. cher Herkunft beeinträchtigt oder ganz ist der Stachel im Fleisch der Volksver- Das geht aber auch in einem kultivierten zerstört. Rassismus schädigt das gesell- räter-Parteien. Wir machen Druck von und anständigen Ton. [...] Es ist schlicht schaftliche Klima und kann – wie nicht rechts auf die AfD, und die AfD macht Unsinn, wenn behauptet wird, wir wür- zuletzt die NSU-Morde zeigen – zu Mord Druck von rechts auf die CDU/CSU. Nur den eingebürgerten Staatsbürgern die- und Totschlag führen. Er bewirkt massive unser Druck von rechts hindert die AfD in se Staatsbürgerschaft entziehen. Das ist Ausgrenzungen und wirft emanzipatori- Zukunft daran, zu einer vermeintlich bes- nicht der Fall. Wir wollen für die Zukunft sche Konzepte immer wieder weit zurück. seren CDU oder einer CSU 2.0 zu werden aber wieder zurück zur alten Regelung, Schauplätze sind sowohl institutionelle und damit Wählerverrat zu begehen. Die die unserer Auffassung nach die bessere Ebenen wie auch die Medien und der All- Rechtswende in Deutschland kann gelin- war.“ tag. gen, wenn es zwischen AfD und NPD eine Franz‘ Bemerkung zielte offenbar auch Um dagegen vorzugehen, hat sich in strategisch grundierte Arbeitsteilung mit Deutschland seit den 1980er Jahren eine auf Gansels „Wortgewandt“-Broschüre, Rassismusforschung herausgebildet, die unterschiedlicher Zielgruppenansprache wobei das Bundesverfassungsgericht versucht, das Wirken ausgrenzender Dis- gibt.“ nicht „primitive Sprache“, sondern den kurse zu analysieren und offenzulegen. Gansel spekuliert auf eine Marktlücke rassistischen Inhalt bemängelte. Peter Damit will diese Forschung all jenen zuar- für die NPD und auf Übertritte aus dem Richter assistierte Franz im selben Inter- beiten, die Rassismus und seine destrukti- Höcke-Flügel der AfD. Der Trend dürfte view: „Ganz vehement zu widersprechen ven Kräfte bekämpfen wollen. gegenwärtig eher in die andere Richtung ist vor allem der Aussage, die NPD stel- Das gemeinsame Anliegen der Au- gehen. Selbst wenn sich die AfD zu einer le sich in ihrer Programmatik gegen die tor_innen ist es, durch die Analyse von realen Abgrenzung nach rechts durchrin- freiheitlich demokratische Grundord- Ursachen und Mechanismen herabsetzen- gen sollte – wofür es derzeit keine Anzei- nung.“ der Markierungen und stigmatisierender chen gibt –, die NPD ist in ihrem jetzigen Und Frank Franz sagte voraus: „Am Ausgrenzungen einen geschärften Blick Zustand zu wenig attraktiv, den Kern einer Ende des Jahres 2017 ist die NPD eine in auf dominante rassistische diskursive Ver- militanten völkischen Sammlung zu bil- schränkungen und Praxen zu gewinnen. sich geschlossene Partei, die nach einem den. Dies gilt nicht nur für die Höcke-An- anstrengenden Wahlkampfjahr gestärkt Mit Beiträgen von Susan Arndt, Thomas hänger, sondern auch für die militanten in die Zukunft blicken kann.“ Dies darf Bryant, Sebastian Friedrich, Jessica Heun, Neonazis aus der Kameradschaftsszene zum Glück bezweifelt werden. Margarete Jäger, Heiko Kauffmann, Karl und aus den parteiförmigen Organisatio- Kopp, Sara Madjlessi-Roudi, Jobst Paul, nen „Die Rechte“ und „Der III. Weg“. Martin Dietzsch ist Mitarbeiter des DISS. Thomas Quehl, Nora Räthzel, Sebastian Reinfeldt, Albert Riedelsheimer, Yasemin Shooman, Regina Wamper und Aram Ziai.

16 DISS-Journal 33 (2017) Raunen und Runen „Faschos sind doof“, die Nation ist normal!

Über ein altes und beliebtes Narrativ zur Erklärung von Rechtsextremismus

Von Robin Heun

In meinem Jugendzimmer hing an einer Pinnwand eine Gratispostkarte mit der Aufschrift: „Faschos sind doof und haben kleine Schniepel“. Ich fand den Spruch und die Grafik damals saulustig. Je länger ich mich jedoch mit dem Nationalsozialismus und Nachkriegsrechtsextremismus beschäftige, desto unlustiger finde ich solche Witze über Rechtsextremist/innen. Warum aber ist die Erzählung vom doofen Nazi problematisch? Welche Funktion erfüllt sie und wie hängt das Konzept der Nation und des Nationalstaats mit extrem rechter Politik zusammen?

Das Narrativ vom doofen Fascho auf einer Postkarte [Edgar Medien AG, #4.544], Motiv „Kleine Schniepel“ von Charlotte Wagner.

Die Kernaussage des Narrativs vom „dum- Nazi auf die Spitze getrieben. Einer der eine weitere Popularisierung des Narra- men Nazi“ ist simpel: Nazis/Rechtsextre- Top-Kommentare bei YouTube bewertet tivs. Der Ärzte-Song beginnt wie folgt: misten (meistens männlich) seien unge- das erste Kapitel der Serie so: „Mega geil bildet beziehungsweise dumm – sie hät- geworden. Komischerweise empfinde ich „Du bist wirklich saudumm, darum gehts dir ten nichts aus der Geschichte gelernt. Ihr sogar für die Typen aus der NaziWG eine gut. Hass ist deine Attitüde, ständig kocht dein Weltbild und ihre Handlungen, zum Bei- Sympathie und ein bisschen Mitleid we- Blut. alles muss man dir erklären, weil du wirk- spiel rassistische Anschläge, seien deshalb gen ihrer Dummheit...“1. lich gar nichts weißt – höchstwahrscheinlich ein Resultat ihrer Dummheit. Manchmal Das Narrativ vom dummen (und alko- nicht einmal, was Attitüde heißt!“ wird diese Erzählung um weitere Fakto- holisierten) Nazi hat durchaus eine lange ren angereichert, mit dem sie sich erklä- Tradition. Der Duisburger Holzschneider Die Erzählung vom dummen Nazi wird ren lässt: Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Heinz Kiwitz (1910-1938) hat in einem dann in weiteren Strophen mit der eben- schwere Kindheit etc. Diese Erzählung seiner antifaschistischen Werke um 1937 falls häufigen Annahme abgerundet, dass begegnet uns häufig im Alltags- und Me- zwei uniformierte Corps-Studenten ge- der Hass und die Gewaltbereitschaft eines diendiskurs. Besonders bekannt sind die schnitten, die anstelle eines Kopfes einen Neonazis mit Mangel an Liebe seitens der im Fernsehen ausgestrahlten Satire- und Bierkrug mit Hakenkreuz besitzen.2 In Eltern/Freundin und den daraus resul- Kabarett-Beiträge von Carolin Kebekus den 1990er Jahren erlebte das Narrativ tierenden „Selbsthass“ zu erklären sei. („Wie blöd Du bist...“), Dieter Nuhr oder dann ein Revival. Vor dem Hintergrund Nachdem die Initiative Aktion Arschloch die des NDR Satiremagazins Extra 3, die der rassistischen Ausschreitungen in Ros- 2015 für den Song öffentlichkeitswirk- anschließend bei YouTube zum Teil Mil- tock-Lichtenhagen veröffentlichtenDie Toten sam Werbung gemacht hat, gelangte er lionen Klicks einfahren. Häufig werden Hosen und die Fun-Punk Band Die Ärzte sogar auf Platz 1 der deutschen Charts. lächerliche Aktionen von Rechtsexre- jeweils einen Song, in dem es ine zentra- Vor dem Hintergrund der Übergriffe auf misten/innen gezeigt, wie z.B. das bei le Rolle spielte. „Sascha …ein aufrechter Flüchtlingsunterkünfte hatte ein Musik- Facebook tausendfach geteilte Video der Deutscher“ von den Toten Hosen (1992) lehrer diese Initiative ins Leben gerufen. Trierer NPD mit dem Aufruf zu einem wie auch „Schrei nach Liebe“ von den Dass diese Lieder in die Charts gelangten, Fackelmarsch. In der ZDF Dramedy-Serie Ärzten (1993) gelangten in die Top Ten drückt zum einen die Ablehnung und Ver- „Familie Braun“ müssen sich zwei Neona- der deutschen Singlecharts und bewirkten urteilung rechtsextremer Gewalt durch zis plötzlich um die sechsjährige schwarze 1https://www.youtube.com/watch?v=rmjTTKw2RJs din Hörer_innen aus. Zugleich verweist Tochter des einen Neonazis kümmern. 2 Vgl. http://www.rp-online.de/nrw/staedte/kleve/ es darauf, wie populär und akzeptiert das Hier wird das Narrativ vom dummen fuer-die-kunst-und-die-freiheit-aid-1.2953748 Narrativ ist. Denn weder Die Toten Hosen

DISS-Journal 33 (2017) 17 Raunen und Runen noch Die Ärzte haben das Narrativ erfun- und Netzwerke gepflegt; hier vergewissert senschaftliche (z.B. Rassentheorien) und den. Da die meisten Menschen aus den sich die extreme Rechte selbst und - na- ahistorische Annahmen (z.B. Vorstellung Medien etwas über die extreme Rechte türlich - hier wird auch Geld verdient. Im eines homogenen Volkes) beruht, dessen erfahren, dürfte der Mediendiskurs eine Blätterwald der extremen Rechten finden Theoretiker, und Verfechter_innen aller- wichtige Rolle bei der Verbreitung sol- sich sehr unterschiedliche Qualitätsstufen, dings nicht quer durch die Bank doof oder cher Narrative spielen. In ihren Berichten vom billig produzierten Neonazi-Fanzine ungebildet sind. Und dieses Konzept des über tagesaktuelle Ereignisse werden diese bis hin zum Hochglanzmagazin, wie z.B. VN weist eine Reihe Anknüpfungspunk- häufig mit dem Bild eines glatzköpfigen dem COMPACT-Magazin. In vielen die- te zu politischen Konzepten auf, die nicht Mannes mit Springerstiefeln illustriert, ser Zeitschriften sind die Beiträge zwar nur in Deutschland hegemonial sind. was zur Tradierung eines längst veralteten nicht auf einem intellektuell hohen Ni- Bildes beiträgt. Gewiss gelangen auch In- veau; im Gegenteil, viele sind hetzend Die Logik rechtsextremer Forderun- formationen aus der Wissenschaft in den und pseudowissenschaftlich. Es wäre aber gen im Kontext des Nationalstaats Mediendiskurs. Die Annahme, nach dem fatal zu glauben, dass alle Akteure der ex- Rechtsextremist/innen dumm seien, stützt tremen Rechten – insbesondere im publi- Trotz zunehmender Supranationalisierung sich zum Teil auch auf Erkenntnisse der zistischen Bereich – doof und ungebildet scheint für die europäische Bevölkerun- Sozialforschung. Auch wenn die empiri- seien. Es gibt zahlreiche Beiträge von Au- gen auch im 21. Jahrhundert weiterhin der sche Einstellungsforschung nachweisen tor/innen mit akademischen Abschlüssen. Nationalstaat die primäre Legitimations- kann, dass Personen mit Abitur deutlich Björn Höcke oder die Herausgeber der quelle für die Ordnung des Gemeinwesens seltener rechtsextremen Aussagen zu- Wochenzeitung Junge Freiheit sind keine zu sein. Der Nationalstaat und ‚die Nation‘ stimmen3, kann dieser Befund nicht dar- ungebildeten Menschen, sie sind vielmehr sind als Ordnungskonzepte hegemonial über hinwegtäuschen, dass sich einzelne Anhänger eines politischen Projektes. akzeptiert und werden kaum hinterfragt. Aspekte eines rechtsextremen Weltbildes Vielleicht glauben ja viele Menschen, dass Bereits in den 1980er Jahren schrieb der auch bei gebildeten Personen wiederfin- Anhänger der extremen Rechten dumm Politikwissenschaftler Benedict Anderson den lassen. So stimmten z.B. im Jahr 2016 seien, weil sie sich einem menschenfeind- in seiner Studie: „Das Nation-Sein ist viel- bei einer repräsentativen Umfrage 49,9 % lichen Projekt verschrieben haben, das die mehr der am universellsten legitimierte der Befragten der Aussage zu, „Sinti und Gleichwertigkeit aller Menschen negiert. Wert im politischen Leben unserer Zeit.“5 Roma sollten aus den Innenstädten ver- Wer aber die dort vertretenden politischen Ein Ende des Nationalismus ist – unge- bannt werden“4. Positionen als richtig erachtet, ist schlicht achtet faktischer Transnationalisierung – Auch der Blick in die Vergangenheit ein Anhänger und Verfechter des Völki- nicht in Sicht. Und exakt diese Erkenntnis verdeutlicht, dass die Erzählung vom doo- schen Nationalismus (VN) und damit ei- lassen ultranationalistische, extrem rechte fen Nazi so nicht stimmen kann. Insbe- ner Weltanschauung, die im ausgehenden Forderungen für manche Menschen fol- sondere, wenn man berücksichtigt, dass 19. Jahrhundert entstand und im 20. Jahr- 5 Anderson, Benedict R: Die Erfindung der sich auch Intellektuelle und gebildete Per- hundert weiterentwickelt wurde. Beim Nation. Zur Karriere eines folgenreichen sonen für den Nationalsozialismus begeis- VN handelt es sich um ein politisches Pro- Konzepts, 2 Aufl., Frankfurt am Main 2005. S. tert haben – der Philosoph Martin Heide- jekt, das auch auf irrationale, pseudowis- 11-54, S. 12-13. gger oder der Staatsrechtler Carl Schmitt sind hier nur prominente Beispiele. Unterm Strich lässt Rechtsextreme Publizistik sich durch das Nar- Doch sicherlich sind die Medien für die Verbreitung des Narrativs vom doofen rativ vom „dummen Nazis entscheidend, wenn sie z.B. über große Neonazi-Demonstrationen be- Nazi“ das komplexe richten. Selten wird allerdings über die rechtsextreme Publizistik berichtet, die Problem des Rechts- jedoch wichtige Funktionen für die ext- reme Rechte erfüllt: Hier wird Ideologie extremismus auf eine produziert und weiter entwickelt; hier werden Strategiediskussionen geführt einfache und verharm-

3 Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Bräh- ler (Hg.) Die enthemmte Mitte. Autoritäre und losende Formel ver- rechtsextreme Einstellung in Deutschland, 2016, S. 38 kürzen. 4 Ebd., S. 50.

18 DISS-Journal 33 (2017) Raunen und Runen gerichtig erscheinen. Warum sollte die Warum ist es also attraktiv, Forderung nach einer verstärkt „national“ Nazis für doof zu erklären? ausgerichteten Politik, wie sie die AfD fordert, per se falsch sein? Wie kann der Die Gründe sind banal. Wir können über Nationalstaat der ‚eigenen‘ Nation dienen, ‚sie‘ lachen. Sie haben nichts aus der Ge- wenn zahlreiche Entscheidungen auf sup- schichte gelernt! Sie sind die dummen ranationaler Ebene getroffen werden? Die Anderen. Wir müssen uns nicht mit der extreme Rechte macht sich diese Diskre- ideengeschichtlichen Grundlage des Völ- panz zu Nutze und fordert eine Renatio- kischen Nationalismus und den unter- nalisierung, in dem sie gesellschaftliche schiedlichen Strömungen innerhalb der Probleme aus einer völkisch-rassistischen Szenen beschäftigen. Wir müssen uns Perspektive heraus deutet und gegen Ent- auch nicht mit dem eigenen Verhältnis wicklungen wettert, die eine nationalstaat- zum Nationskonzept, dem die Herstellung liche Politikgestaltung konterkarieren und „Fremder“ immanent ist, auseinanderset- die idealisierte „nationale Souveränität“ zen. Für Mitglieder der Mehrheitsgesell- und „nationale Identität“ in Frage stellen: schaft – also deutsche Staatsbürger – eine Europäisierung, Globalisierung, Suprana- Selbstverständlichkeit, die mit all ihren tionalisierung, Transnationalisierung. (rechtlichen) Privilegien nicht immer re- Es bleibt abzuwarten, ob es den europä- flektiert wird. Auch kann die Beschäfti- Bente Gießelmann, Robin Heun, ischen Nationalisten gelingt, gesellschaftli- gung mit dem (eigenen) Antiziganismus, Benjamin Kerst, Lenard Suermann, che Missstände, wie die EU-Schuldenkrise Antisemitismus, Rassismus und Sexismus Fabian Virchow (Hg.) Handwörterbuch rechtsextremer und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, aber – alles Fragmente extrem rechter Weltan- Kampfbegriffe auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“ schauung – ausbleiben. 2015 Schwalbach: Wochenschau-Verlag politisch durch eine Renationalisierung Unterm Strich lässt sich das komplexe 368 S., 24,80 € zu beantworten und vermeintliche innere Problem des Rechtsextremismus auf eine und äußere Feinde - wie ‚den Islam‘ oder einfache und verharmlosende Formel ver- Was meinen Rechtsextreme, wenn sie von ‚die Flüchtlinge‘ - gesellschaftsfähig zu kürzen. Auch wenn es bekanntermaßen Islamisierung, Geschlechtergleichschal- etablieren. Wie ausgrenzend sich die eu- „Bierzeltnazis“ und verlachende Aktionen tung, Political Correctness oder Schuld- ropäischen Nationskonzepte entwickeln, – falsch gemalte Hakenkreuze, peinliche kult sprechen? wird auch davon abhängen, ob die Nation Rechtsschreibfehler, Nazi-Reggae, Dö- Die Autorinnen und Autoren dieses abstammungsorientiert (ethnic concep- neressende NPD-Funktionäre und vie- Handwörterbuchs geben hierzu Antwor- tion of the nation) oder republikanisch- les mehr – gibt, sagt eine solche Aussage ten und zeigen auf, wie die extreme Rech- freiheitlich (civic model of the nation) letztlich mehr über den eigenen Stand- te mit Begriffs(um)deutungen und Wort- 6 neuschöpfungen Bausteine extrem rechter gedacht wird. Es ist davon auszugehen, punkt aus. Sie stellt keine inhaltliche Aus- Weltanschauungen über die Sprache zu dass solange der Nationalstaat als zentra- einandersetzung mit völkischem Denken vermitteln und zu verankern versucht. ler Referenzrahmen für Politikgestaltung dar und verkennt, dass die extreme Rechte Die Autorinnen und Autoren richten den gesetzt wird, sich Menschen für politische kein hermetisch abgeriegelter, monolithi- Blick auch auf die gesamtgesellschaftliche Projekte interessieren und begeistern wer- scher Kosmos der Gesellschaft ist, son - Anschlussfähigkeit extrem rechter Dis- den, die den Nationalstaat wieder zum dern ein Zusammenspiel verschiedener kurse. Die einzelnen Beiträge zeigen, wie Dreh- und Angelpunkt aller gesellschaftli- demokratiefeindlicher und menschenver- die menschenverachtenden Äußerungen chen oder besser gesagt „nationalen“ Fra- achtender Diskurse und Praktiken, poli- und die damit einhergehenden politi- gen erheben. tischer Strömungen und Projekte. Diese schen Forderungen dekonstruiert und aber lassen sich nicht pauschal als dumm kritisiert werden können. oder ewiggestrig abtun. Davon zeugt üb- Das Buch wendet sich insbesondere rigens auch die umfangreiche Sammlung an Multiplikator*innen aus Schule, Me- dien, Sozialarbeit und Gewerkschaft. Das rechtsextremer Publizistik im DISS-Ar- Handwörterbuch erschließt das begriff- 6 Vgl. Salzborn, Samuel: Nation und Natio- chiv. Und ja, natürlich können wir auch liche Kontinuum der extremen Rechten nalismus im 21. Jahrhundert (Einleitung), in: über Nazis lachen, wenn das Problem des Ders. (Hrsg.): Staat und Nation: Die Theorien und bietet eine Grundlage für die fundier- der Nationalismusforschung in der Diskussion, Rechtsextremismus auch inhaltlich bear- te Auseinandersetzung damit. Der Band Stuttgart 2011, S. 9-13. beitet wird. ist Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und dem Forschungs- schwerpunkt Rechtsextremismus/Neona- zismus an der Hochschule Düsseldorf.

DISS-Journal 33 (2017) 19 Raunen und Runen Schnittstellen und Abgrenzungen

Zum Umgang der FAZ mit der populistischen extremen Rechten

Von Roisin Ludwig und Regina Wamper

Während vor 2015 auf die Wortergreifungsstrategien der extremen und po- Der zweite thematische Schwerpunkt pulistischen Rechten mit einem weitgehenden Entzug der ‚politischen Bühne‘ der FAZ bei der Berichterstattung über geantwortet wurde, scheint sich dies in der aktuellen Debatte um Pegida und die AfD sind während dieser Zeit die AfD zu ändern. In der bundesdeutschen Presse sowie in staatlichen wie zivil- „Querelen“ (Bender, 13.1.2014a) inner- gesellschaftlichen Institutionen wird ein Dialog in Erwägung gezogen oder halb der AfD. Diese Auseinandersetzun- zumindest über die Frage eines Dialogs debattiert. Für den mediopolitischen gen zwischen den AkteuerInnen drehen Diskurs scheint dies in Bezug auf die AfD anders zu sein. Hier kommen ge- sich im Kern häufig um die Nähe oder rade die Führungspersonen in Talkshows, Politikerrunden und Medien zu Grenze zur extremen Rechten. In der Wort, wobei die Einladenden oftmals hoffen, die AfD möge sich in den Dis- Beschreibung dafür werden u.a. spiel- kussionen selbst diskreditieren. Die Dialogangebote beziehen sich dabei vor metaphorische Begriffe wie „Balgerei“ allem auf migrations- und europapolitische Themen. (Bender, 2.1.2014a) verwendet, mit den diese politischen Auseinandersetzungen Der Frage, ob mit AkteurInnen des Ukip und des französischen FN gerückt, verharmlost und zugleich normalisiert Rechtspopulismus öffentlich gesprochen die auch als rechtspopulistisch gekenn- werden. Statt einer inhaltlichen Bericht- wird, ist die Frage vorangestellt, wie über zeichnet werden. (etwa F.A.Z., 29.3.2014 erstattung über die internen Auseinan- sie gesprochen wird und wie rechtspopu- oder Busse, 22.3.2014.) Allerdings wird dersetzungen besteht oft eine Leerstelle. listische Formationen gesellschaftlich ein- die AfD selbst nicht direkt als rechtspopu- (Vgl. Bender, 17.3.2014.) Oder aber es geschätzt und bewertet werden. Vor allem listisch eingeordnet. (Vgl. Busse, 9.1.2014) wird keine deutliche Einordnung der ext- in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Vielfach wird die AfD aber auch als „eu- rem rechten Äußerungen vorgenommen. (FAZ), schwankt man zwischen Abgren- rokritisch“ (lhe, 14.1.2014) oder „euro- Verschwörungstheoretische und anti- zung und Anbiederung. paskeptisch“ (Nonnenmacher, 3.1.2014) semitische Äußerungen beispielsweise Eine Kritische Diskursanalyse zum benannt, ohne dass eine inhaltliche Aus- werden beschrieben als Teil eines „ideo- Umgang der FAZ mit der AfD im Zeit- einandersetzung stattfindet. Durch diese logischen Zwist[s]“ (Bender, 2.1.2014a) raum von Januar bis März 2014 – kurz Reduktion wird die AfD als Ein-Themen- – das impliziert, dass beide Seiten oder nach der Gründungszeit – konnte zeigen, Partei dargestellt. Dies hat insofern auch Positionen (Antisemitismus und die Kri- dass die Aussagen, die zur Euro- bzw. Eu- normalisierende Effekte, da die weitere tik daran) von der FAZ gleichermaßen ropapolitik der AfD gemacht werden, sich politische Ausrichtung der Partei über- als ideologisch verstanden und kritisiert in einem Spannungsfeld bewegen zwi- gangen wird und Verbindungen der AfD werden. schen dem Zusprechen von Kompetenz zur extremen Rechten nicht thematisiert Allgemein gibt es die Tendenz in der bis zur Darstellung der Europapolitik der werden. Werden sie doch thematisiert, FAZ, beschönigende und verharmlosen- AfD als einer Gefahr, entweder für die gelten sie als Einzelfallproblematik. Die de Beschreibungen für Rassismus und deutsche Wirtschaft oder für das gesamte verbale Selbstdistanzierung der AfD von Homophobie zu verwenden und beides europäische Projekt. der extremen Rechten wird übernommen nicht klar zu benennen. Antimuslimi- Der Verweis auf Kompetenz geht häufig und die AfD in den Mitte-Diskurs einge- scher Rassismus wird z.B. als „Kritik an einher mit dem Fokus auf den Bildungs- schlossen. Tatsächlich gibt es in der FAZ Muslimen“ (Ankenbrand, FAS, 9.3.2014) hintergrund einzelner Mitglieder. Die AfD nur sehr wenig inhaltliche Auseinander- bezeichnet. Der Begriff der Kritik verleiht wird dargestellt als Partei der „volkswirt- setzungen mit den Positionen der AfD rassistischen Äußerungen das Antlitz ei- schaftlich gebildeten Wirtschaftsliberalen“ abseits der Euro- und Europapolitik, trotz nes begründeten Standpunktes und ver- (Gauland, FAZ, 24.1.2014). So durfte es der Landes- und Bundesparteitage und harmlost und reproduziert so die von der Gauland selbst in einem Artikel in der den verabschiedeten Programmen. AfD vorgenommene Stereotypisierung. FAZ beschreiben. Wird die AfD hinge- gen im europäischen Kontext hinsichtlich Allgemein gibt es die Tendenz in der FAZ, ihrer Euro- bzw. Europapolitik politisch eingeordnet, dominiert eine alarmistische beschönigende und verharmlosende Beschreibungen Berichterstattung. (etwa Busse, 09.1.2014 oder 22.3.2014) Hier wird die AfD in für Rassismus und Homophobie zu verwenden und die Nähe von Parteien wie der britischen beides nicht klar zu benennen.

20 DISS-Journal 33 (2017) Raunen und Runen

Auch die politische Einordnung von und lichen Presse wird so eine Mitschuld an der Umgang mit Pegida werden seit der Pegidas Ablehnung gegen sie zugewiesen. ersten Versammlung in Dresden im Okto- Auch beim Thema Migration wird dem ber 2014 in der FAZ kontrovers diskutiert. Bündnis mit Verständnis begegnet. Selbst In der Gründungsphase wird Pegida v.a. wenn Pegida weitgehend als nicht rassis- in Verbindung zu Islam, Migration und tisch gekennzeichnet wird, so würden die Meinungsfreiheit thematisiert. Etliche Au- Demonstrierenden doch MitbürgerInnen toren verteidigen Pegidas politische Inten- ausgrenzen. (Vgl. Müller, 7.1.2015.) Al- tion. Das Pegida-Netzwerk wird als weit- lerdings seien „Ängste vor Überfremdung gehend bürgerliches Netzwerk charakteri- […] nun einmal dem Menschen eigen“. siert. (Vgl. Von Altenbockum, 17.12.2014, (Müller, 7.1.2015) Von Altenbockum, 11.12.2014, Kohler, Als Vorschlag zum Umgang mit Pegida 16.12.2014) Und in der FAZ schließt es präferieren die Kommentatoren der FAZ sich aus, bürgerlich zu sein und zugleich den Dialog, ohne die Demonstrierenden extrem rechte Einstellungen zu haben. in eine „rechte Ecke“ zu stellen. (Kohler, (Vgl. etwa Von Altenbockum, 13.12.2014) 16.12.2014) Man müsse die „Sorgen“ und Sebastian Reinfeldt Gleichzeitig wird aber auch schon zu Be- „Ängste“ der Demonstrierenden ernst „Wir für Euch“ ginn der Berichterstattung Pegida als ge- nehmen. (so etwa: Kohler, 6.1.2015 u. Die Wirksamkeit des fährlich (Vgl. Deckers, 29.12.2014.), wenig 16.12.2014; Müller, 7.1.2015.) Rechtspopulismus in Zeiten der Krise staatstragend (Vgl. Von Altenbockum, Ernst nehmen heißt hierbei auch, die Edition DISS Bd. 33; Münster: Unrast 2.1.2015.) und Bachmann als „rechtskräf- migrationspolitischen Forderungen von 144 S., 16 Euro. tig verurteilter[...] Kokain-Dealer“ (De- Pegida zu unterstützen. Denn eine liberale Wie prägen und begründen diskur- ckers, FAZ, 7.1.2015) skizziert. Einwanderungspolitik stärke die extreme sive Muster, die rechtspopulistischen Eine Einordnung von Pegida als Rechte, so meinen es etliche Autoren und Parteien und Strömungen zugerechnet rechtspopulistisch oder gar rechtsex- schließen damit an die Denkfigur an, Ras- werden können, den politischen Dis- trem bezeichnet von Altenbockum als sismus sei eine Folge von Migration und kurs zur Finanzkrise und die politi- schen Entscheidungen? Wie verändern Diffamierung, die Pegida eher noch be- nicht von der Denormalisierung der Mig- sich dadurch die Machtverhältnisse stärken würde. (Vgl. Von Altenbockum, ration, vom Aufbau eines Bedrohungssze- und die Demokratie – samt unserer 11.12.2014. u. Kohler, 16.12.2014.) Von narios, an dem sich auch die FAZ beteiligt. Vorstellungen davon, was Demokratie Altenbockum setzt – und das ist gerade Unmittelbar nach den Anschlägen in Paris eigentlich ist? in Debatten um ‚Political Correctness‘ vom 7. Januar 2015 änderte sich die Aus- Die Inszenierung der europäischen nicht unüblich – Kritik an Pegida gleich richtung der FAZ-Kommentatoren. Wo Finanzkrise als permanenter Notstand mit dem Absprechen des Demonstrations- zuvor gesagt wurde, dass extrem Rechte bietet der rechtspopulistischen Inter- rechts; die Motive der Demonstrierenden die „Trittbrettfahrer“ der ‚bürgerlichen‘ pretation eine tägliche Bühne, auf der hingegen nennt er zwar „stammtisch- Pegida seien, spricht man nun von „ver- rassistische Ein- und Ausschließungen haft“, kennzeichnet sie aber als dennoch führten Deutschen“ und einem politischen und autoritäre Politikmuster vorgestellt nachvollziehbar. (Vgl. Von Altenbockum, Bodensatz mit radikalen Ansichten (Koh- und propagiert werden. 13.12.2014.) Pegida wird in dieser Phase ler, 8.1.2015). Das Bündnis sei realitätsfern Zugleich übersetzt die Regierungs- politik der hegemonialen EU-Staaten als Opfer von Redeverboten und ‚Politi- (Von Altenbockum, 15.1.2015), eine Bewe- – untersucht werden insbesondere cal Correctness‘ beschrieben, ganz als ob gung der Unvernunft, ein „Sammelsurium Deutschland und Österreich – die- es nicht möglich wäre, in Deutschland der Unzufriedenheit“ (Von Altenbockum, sen inszenierten Notstand und seine rechtsextreme, rassistische oder gar neo- 15.01.2015), eine „Melange aus Wut und rechtspopulistischen ›Begründungen‹ nazistische Demonstrationen durchzu- Vorurteil“ (Veser, 19.1.2015) mit „aben- in eine Politik, die eine nationale Ein- führen oder entsprechende Meinungen zu teuerlichen Behauptungen“ (ebd.). Pegida heit im Zuge der Krise herstellt und äußern. Die Autoren der FAZ imaginieren zeige keine Bereitschaft, Verantwortung die die ökonomischen und politischen so eine linke Deutungshoheit, die autoritär zu übernehmen (Vgl. Von Altenbockum, Kräfteverhältnisse in Europa dauerhaft andere Positionen unterdrücke. 16.1.2015.) und tue Deutschland nicht gut. verändert. Die Verfahrensweisen der Mehr noch als gegen „Islamisierung“ (Vgl. Veser, 19.1.2015.) Demokratie scheinen dabei ihre Subs- richte sich Pegida gegen politische Eliten Wenn auch Pegida nicht nur wegen der tanz zu verlieren und sie laufen leer. So und gegen „Staatspropaganda“. Dies sei Ablehnung der bürgerlichen Medien nun werden sie zunehmend durch autoritä- re und populistische Plebiszite ersetzt – zwar absurd, meint von Altenbockum, sei in die Kritik gerät, sondern ihr antimusli- was eines der Hauptanliegen des rech- aber auch Ausdruck der „Wut auf böswil- mischer Rassismus kritisch bewertet wird, ten Populismus ist. lige Berichterstattung“ gegen Pegida. (Von so bedeutet das nicht, dass Pegidas grund- Altenbockum, 17.12.2014) Der bürger- legende Aussagen zum Islam verneint

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werden. Weiterhin gelten den Kommenta- und einfache Antworten gewertet werden. toren die Grenzen zwischen Islam und Is- Dialog gilt in der FAZ gegen Ende des lamismus als fließend. (Kohler, 8.1.2015.) Jahres 2015 nicht mehr als Optimum. Als Gegenreaktionen auf Pegida werden in der Lösungsstrategie des Problems Pegida gilt FAZ aber weiterhin als ungerechtfertig- den FAZ-Autoren nun der Verfassungs- te „Meinungsverbote“, „Diffamierungen“ schutz. Dieser solle Pegida beobachten. und Verallgemeinerungen bewertet. (Vgl. Deckers, 24.10.2015.) Nach den rassistischen Ausschreitun- Die Kommentierung der FAZ von AfD Siegfried Jäger / Jens Zimmermann gen in Heidenau wird Pegida mehr und und Pegida zeigt gewisse Ähnlichkeiten. (hg. in Zusammenarbeit mit der Diskurs- mehr in ein extremismustheoretisches In der Gründungsphase der AfD wie auch werkstatt im DISS) Modell eingeordnet. Spätestens mit der zu Beginn der Pegida-Demonstrationen Lexikon Kritische Diskursanalyse Eine Werkzeugkiste. Skandalisierung von Bachmanns Hitler- werden beide Netzwerke zunächst nor- Edition DISS Bd. 26 , Münster: Unrast Foto und der Spaltung von Pegida, änderte malisiert und also zur politischen Mitte‘ 144 S., 16 Euro sich die Stimmung in der FAZ dann dras- gezählt. Einschätzungen, es handele sich tisch. Pegida wird nun als doppelbödig um extrem rechte oder rechtspopulisti- Diskurstheorie im Allgemeinen und die und orientierungslos (vgl. Von Altenbo- sche Formationen, werden als Diffamie- Kritische Diskursanalyse im Besonderen ckum, 30.1.2015.) sowie als verantwor- rungen zurückgewiesen – stets mit einem gehören mittlerweile zum theoretischen tungslos und unprofessionell (vgl. Von Verweis auf eine vermeintliche Political und methodischen Kanon der Geistes- Altenbockum, 9.7.2015.) charakterisiert. Correctness. So werden diejenigen, die und Sozialwissenschaften. Das Lexikon Das Netzwerk sei „schleichendes Gift“, es sich gegen eine Ausgrenzung von Minder- will den aktuellen Stand der Kritischen handele sich um einen „Bürgerkrieg der heiten wenden, selbst zu Ausgrenzenden. Diskursanalyse (KDA) theoretisch, me- Worte“ und richte sich gegen alles, was Die Abgrenzungen der FAZ zu AfD und thodisch und begrifflich erfassen. Es prä- „unseren Staat und unsere Gesellschaft“ Pegida dürfen aber nicht darüber hinweg- zisiert Begrifflichkeiten und bietet darüber hinaus als Nachschlagewerk Hilfestellun- ausmache (Von Altenbockum, 14.3.2015). täuschen, dass vor allem im migrationspo- gen für konkrete empirische Arbeiten so- Pegida entspringe jetzt nicht mehr dem litischen Bereich die Problematisierungen wie Anregungen für die weitere theoreti- Bürgertum, sondern wird als „Wutbür- der Rechten geteilt werden. Migration, sche Diskussion. gertum“ dargestellt. (Von Altenbockum, Flucht und Islam werden als Problemfelder 30.1.2015) Von Altenbockum schreibt, Pe- wahrgenommen und der Wunsch nach ei- gida würde „gegen eine ‚gleichgeschaltete ner Reduktion von Geflüchteten mitgetra- Lügenpresse‘ mit all ihrem Hass hetzen“ gen. Dieser ideologische Standpunkt än- und „der Demokratie damit leise Servus dert sich in der FAZ nicht, genauso wenig sagen“. (Von Altenbockum, 14.3.2015) Er wie die Einschätzung, dass Deutschland, benennt klar neonazistische Einflüsse auf selbst nach den beiden verabschiedeten den Pegida-Demonstrationen – ein No- Asylrechtsverschärfungen, eine zu liberale vum für die FAZ. (Vgl. Von Altenbockum, Flucht- und Migrationspolitik praktiziere. FAZ, 27.1.2015.) In der FAZ liest man zu Auch die Kritik unter dem Stichwort ‚Lü- dieser Zeit ebenso Kritiken an den Inhal- genpresse‘ wird teilweise geteilt. Es ist die ten Pegidas. Diese seien unbestimmt und Figur der Meinungsfreiheit, die hier ein- Siegfried Jäger nicht ernsthaft. (Vgl. Von Altenbockum, geführt wird, sowie die Vorstellung einer Kritische Diskursanalyse 18.2.2015.) Migrationspolitische Kritiken linken gesellschaftlichen Hegemonie. Eine Einführung von Pegida werden aber weiterhin geteilt. Die FAZ beteiligt sich, so kann resü- Nachdruck der 6. vollständig Pegida wird in der Zeit nach den Ereig- mierend festgehalten werden, als konser- überarbeiteten Auflage nissen in Heidenau 2015 in den Diskurs vatives Flaggschiff in Deutschland an einer Edition DISS Bd. 3, Münster: Unrast 258 S., 19,80 Euro zur extremen Rechten eingeordnet. De- Normalisierung rechtspopulistischer In- ckers spricht von einem „Extremismus halte, an einer Ausweitung des hegemoni- Mit der 6. Auflage erweitert Siegfried Jäger à la Pegida“ (Deckers, 20.10.2015) und alen Sagbarkeitsfeldes nach rechts und an sein paradigmatisches Einführungswerk Günter Bannas sieht Pegida im gleichen einem Einschluss extrem rechter Gruppie- zur Kritischen Diskursanalyse um eine Zusammenhang als außerhalb des de- rungen in die politische ‚Mitte’ bei gleich- dispositivanalytische Perspektive. Im Zen- mokratischen Konsenses. (Vgl. Bannas, zeitiger Diskreditierung antirassistischer trum dieser neuen Einführung steht nach 20.10.2015.) Inhaltlich wird in dieser Pha- und emanzipativer Kritiken. wie vor die Frage nach dem politischen se weniger auf Pegidas migrationspoliti- Nutzen der Diskursanalyse, der zwar ge- sche Aussagen eingegangen, als auf ihre Regina Wamper ist Mitarbiterin des DISS. legentlich noch bestritten wird, letztlich System- und Medienkritik, während diese Roisin Ludwig ist Politikwissenschaftlerin jedoch weitgehend anerkannt ist. Inhalte als antidemokratische Ausdrücke und Soziologin in Frankfurt am Main.

22 DISS-Journal 33 (2017) Rezensionen

Björn Milbradt, Floris Biskamp, Yvonne Albrecht, Lukas Kiepe (Hg.): Ruck nach rechts? Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und die Frage nach Gegenstrategien, Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2017, 220 Seiten, 24,90 Euro. Margarete Jäger / Regina Wamper (Hg.) Von der Willkommenskultur zur Eine profunde Auseinandersetzung mit Notstandsstimmung. dem Rechtsruck in Deutschland Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016 Duisburg 2017, 209 Seiten, PDF-Datei Eine Rezension von Michael Lausberg Die Analyse des Mediendiskurses zeigt, Der vorliegende Sammelband basiert blemstellung aus sozialpsychologischer, dass und wie sich innerhalb weniger Mo- auf der Ringvorlesung „Lügner, Fremde, psychoanalytischer und sprachpragmati- nate das Sagbarkeitsfeld in der Flücht- Konspirateure –Feindbilder der extremen scher Perspektive eröffnet. lingsdebatte ein Richtung einer Proble- Rechten, Feindbilder der Mitte“ im Win- Im zweiten Teil des Buches geht es um matisierung von Flucht verschob. Welche tersemester 2015/2016 der Universität die Ebene gesellschaftlicher Diskurse und diskursiven Mechanismen dazu beitrugen, Kassel. medialer Bilder. Verschiedene Autor_in- und vor allem welches Wissen über Flucht Bis vor einigen Jahren waren extrem nen beschäftigen sich mit dem deutschen und Geflüchtete, über Asyl und Rassismus rechte Ideologeme lediglich auf der Ein- Einwanderungsdiskurs seit 1945, der Dis- transportiert wurde, ist zentraler Gegen- stellungsebene weit verbreitet, spiegeln kussion um die „Silvester-Ereignisse“ in stand der Untersuchung. sich jetzt aber auch auf der Handlungsebe- Köln 2015 und die damit verbundene ras- Die Ergebnisse sind ernüchternd. Dis- ne wider. (9) Dies lässt sich an den Teil- sistische Externalisierung sexualisierter kursiv wurde ein Notstand ausgerufen nehmerzahlen bei den Demonstrationen Gewalt, rechter Geschlechterpolitik, und oder prognostiziert, durch den die Flucht- von Pegida, den Wahlerfolgen der AfD der Verwendung der Begriffe „Gutmen- bewegungen denormalisiert wurden. Die und an den hohen Anschlagszahlen gegen schen“ und „Lügenpresse“. Geflüchteten wurden in ‚legitime’ und die Unterkünfte von Geflüchteten ablesen. Im dritten Teil des Bandes wird ana- ‚illegitime’ sortiert und die Ereignisse in Gesellschaftliche Komplexität und Vielfalt lysiert, welche Möglichkeiten Bildungs- die Nähe einer Naturkatastrophe gestellt. werden dabei zugunsten einer Sehnsucht arbeit gegen rechte Ideologien und Stra- All dies eignet sich dazu, Abwehr gegen nach Sicherung und Wiederherstellung ei- tegien besitzt. Floris Biskamp regt an, Flüchtende zu erzeugen und weiteren Ein- ner in Gefahr geratenen „völkischen Iden- dass politische Bildungsarbeit sich nicht schränkungen des Grundrechts auf Asyl tität“ abgewehrt. einseitig auf rechte Täter_innen konzen- hinzunehmen. Es evoziert somit Rassis- Das Ziel des Sammelbandes besteht trieren sollte, sondern die Aufgabe hätte, mus und trägt zu einem angespannten ge- darin, die sozialen und psychologischen die Abwehrkräfte der nicht rechtsaffinen sellschaftlichen Klima bei. Aussagen, die Mechanismen herauszuarbeiten, die dazu Mehrheit zu stärken und die Opfergrup- früher als extrem rechts oder rassistisch führen, dass Rassismus und andere Ele- pen zu empowern. Eva Georg, Vertreterin bewertet wurden, sind heute mediopoli- mente extrem rechter Ideologie für wei- einer antirassistischen Bildungsarbeit, kri- tischen Diskurs sagbar. te Bevölkerungskreise attraktiv werden tisiert, dass das Problem des Rassismus auf Die Studie ist abrufbar unter: http:// und ermöglichen, dass sie gesellschaftlich einen extrem rechten Rand reduziert wird, www.diss-duisburg.de/wp-content/up- wirkmächtig und hegemoniefähig werden. während alltagsrassistische Praktiken und loads/2017/02/DISS-2017-Von-der-Will- Im ersten Teil werden verschiedene Privilegien der weißen Mehrheit ausge- kommenskultur-zur-Notstandsstimmung. theoretische Perspektiven auf die Pro- blendet bleiben. Christopher Vogel setzt pdf

DISS-Journal 33 (2017) 23 Rezensionen

sich mit der Frage auseinander, in welchen ne weit verbreitete Alternative in der Bil- alltäglichen oder professionellen Kontex- dungspolitik. ten die Einzelnen mit Argumenten gegen Die diskutierten Gegenstrategien be- rechte Ideologie angehen können. schränken sich dabei auf die Bereiche der Im abschließenden Teil wird auf der Ba- Bildung und der Politik. Ökonomische sis der Ergebnisse der vorherigen Beiträge Ansätze wie die Abkehr vom Neolibe- die Perspektive auf die Frage politischer ralismus, wo ein Kampf aller gegen alle Gegenstrategien erweitert. Die Grund- herrscht und Solidarität nicht zählt, und these lautet: „Die Grundlage hierfür muss das Versagen des Sozialstaates fehlen hier insbesondere der Bildungssektor schaffen, komplett. Dass es Überschneidungen zwi- der möglichst allen Menschen ein vertief- schen der neoliberalen und der extrem AK Antiziganismus im DISS tes Verständnis moderner Gesellschaften, rechten Ideologie in Form des Sozialdar- Stimmungsmache ihrer Widersprüche, Ambivalenzen und winismus gibt, wird ebenfalls nicht näher Extreme Rechte und antiziganistische Zumutungen ermöglichen sollte, anstatt thematisiert. Stimmungsmache. Analyse und erst punktuell zu intervenieren, wenn sich Insgesamt gesehen bietet das Buch aber Gefahreneinschätzung am Beispiel rechtsextreme Szenen oder gar ‚national eine Auseinandersetzung mit dem Rechts- Duisburg 2015 Online-Broschüre befreite Zonen‘ verfestigen.“ (10) ruck in der Bundesrepublik der letzten DIN A4: 62 Seiten Die beiden wichtigsten Strategien be- Jahre auf hohem Niveau. Klar gegliedert, stehen darin, einerseits rechte Propaganda argumentativ und mit viel Hintergrund- Am Beispiel der Stadt Duisburg wird als solche zu bezeichnen und argumenta- wissen ausgestattet, ist die Anschaffung exemplarisch untersucht, wie die extre- tiv zurückzuweisen und sich andererseits dieses Sammelbandes zu empfehlen. me Rechte das Thema Antiziganismus die Themen der öffentlichen und politi- aufgreift. Sie agiert dabei keineswegs im schen Debatte nicht von rechten Akteur_ Zusätzliche Literatur luftleeren Raum. Vielmehr besteht ein innen aufzwingen zu lassen. Stattdessen Zusammenhang zwischen Alltagsrassis- sollten Themen wie Wohnungsbaupoli- Auernheimer, G. (Hg.) 2001: Interkultu- mus, etablierten Medien, Kommunalpo- tik, Arbeitsmarktpolitik, Steuer- und Bil- ralität im Arbeitsfeld Schule. Empirische litik und den Erfolgschancen der extre- dungspolitik in den Vordergrund gerückt Untersuchungen über Lehrer und Schüler. men Rechten. Es handelt sich somit um werden. Dann würde deutlich, dass die Interkulturelle Studien 8. Opladen. ein äußerst kompliziertes Wechselspiel. AfD und andere rechte Gruppen zu diesen Gillborn, D. 2000: Rassismus, Identität Autor_innen: Martin Dietzsch, Anissa Fragen nichts beizutragen haben und ihre und Moderne: Pluralismus, moralischer Finzi, Alexandra Graevskaia, Ismail Küpeli, Zakaria Rahmani, Stefan Attraktivität dürfte nachlassen. (216) Antirassismus und modellierbare Ethni- Vennmann Die hier gut herausgearbeiteten The- zität. In: Quehl, T. (Hg.), Schule ist keine sen der politischen und pädagogischen Insel. Britische Perspektiven antirassisti- abrufbar unter: www.diss-duisburg. Strategien gegen den Rechtsruck bedür- scher Pädagogik. Münster, 72-96 de/wp-content/uploads/2015/03/ fen allerdings aus meiner Sicht einiger Holzbrecher, A. 1997: Wahrnehmung DISS-Stimmungsmache-Online- Broschuere-2015.pdf Ergänzungen. Seit Ende der 1980er Jahre des Anderen. Zur Didaktik interkulturel- exstieren im britischen Raum gewinn- len Lernens. Opladen. bringende Ansätze einer antiracist educa- Prengel, A. 1995: Pädagogik der Viel- Martin Dietzsch, Bente Giesselmann tion (Troyna 1987), die durch Epstein und falt. Verschiedenheit und Gleichberech- und Iris Tonks Gillborn (Quehl 2000) weiterentwickelt tigung in Interkultureller, Feministischer Spurensuche zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Duisburg wurden und die auf die gesellschaftspo- und Integrativer Pädagogik, 2. Auflage, 2014 Online-Broschüre litischen Verhältnisse in der BRD über- Opladen. DIN A4: 90 Seiten tragen werden sollten. Diese Ansätze Reich, H. H./Holzbrecher, A./Roth, H.- Es wird exemplarisch aufgezeigt, welche blieben bisher jedoch Randerscheinun- J. (Hg.) 2000: Fachdidaktik interkulturell. Spuren des Völkermords an Sinti und gen in der politischen Bildungsarbeit. Ein Handbuch. Opladen. Roma auch heute noch auffindbar sind Weiterhin ist die Befähigung im Umgang Troyna, B. 1987: Beyond Multicultura- und Anregungen dazu gegeben, wie mit kulturellen Differenzen im pädagogi- lism: towards the enactment of anti-racist man das Geschehen im Rahmen der schen Alltag zu betonen (Prengel 1995, education in policy, provision and peda- politischen Bildung mit Jugendlichen Holzbrecher 1997, Auernheimer 2001), gogy. In: Oxford Review of Education, Vol thematisieren kann. die bislang auch ein Nischendasein fris- 13, No.3, S. 307ff. abrufbar unter: tet. Multiperspektivische Bildung in der www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/ Schule (Reich/Holzbrecher/Roth 2000, Buecher/DISS-Spurensuche--Online- Gillborn 2000), vor allem angewandt im Dr. Michael Lausberg ist Mitarbeiter des Broschuere--2014.pdf interreligiösen Unterricht, ist bislang kei- DISS.

24 DISS-Journal 33 (2017) Rezensionen

Kontinuität des Antiziganismus aus verschiedenen Blickwinkeln

Eine Rezension von Alexandra Graevskaia

Was wissen wir über die Lebenssituation von Roma und Sinti in Deutsch- land? Nicht viel. Und das was wir wissen, ist oft durch Stereotype geprägt. Damit will der vom „Verband für interkulturelle Arbeit – VIA e.V.“ heraus- gegebene Sammelband brechen.

Aus einer rassismuskritischen Haltung kritischer Distanz benutzen um seine Rol- vermitteln die Autor_innen des Bandes le im Antiziganismus zu analysieren (vgl. Informationen über die Lebenssituation u.a. 104f., 117). von Roma und Sinti in Deutschland mit In diesem Umgang spiegeln sich die politischen, historischen, soziologischen unterschiedlichen Theorien und Heran- und (sozial)-pädagogischen Perspektiven gehensweisen in der Antiziganismusfor- und richten sich dabei an das „fachlich in- schung wieder – der Sammelband gibt teressierte[...] Publikum“ (8). Die aus die- den Leser_innen damit einen Denkanstoß sen unterschiedlichen Perspektiven ver- sich weiter zu informieren und eine eigene fassten elf Beiträge haben eins gemeinsam: Meinung zu bilden. So vielfältig die Pers- Sie veranschaulichen immer wieder, wie pektiven des Sammelbandes sind, kann er heterogen die Gruppe der Sinti und Roma natürlich nicht alle Aspekte zum Thema Ulrich Steuten (Hg.): ist und gleichzeitig auch, dass die Sicht auf Antiziganismus erfassen, jedoch bietet er Für immer „Zigeuner“ – Zur Kontinuität alle von der Dominanzgesellschaft als „Zi- durch eine Fülle an Informationen mehr des Antiziganismus in Deutschland. geuner“ markierte Menschen durch eine als nur einen groben Überblick über die Duisburg: 2017, 159 S., 14,80 € Gemeinsamkeit – den Antiziganismus – verschiedenen Blickwinkel auf Antiziga- geprägt ist. Ob am eigenen Leib erfahren nismus aus Wissenschaft und Praxis. oder in den familiären Erinnerungen aus Die im Titel angekündigte Kontinu- der Ausgrenzung ethnischer Minderhei- dem Nationalsozialismus und der Diskri- ität des Antiziganismus setzt sich Stück ten in mit wissenschaftlichen Begriffen minierung danach, die einzelnen Indivi- für Stück bei der Lektüre der einzelnen durchdrungener Sprache erläutert, berich- duen mussten jeweils einen eigenen Um- Beiträge im Kopf der Leser_innen zusam- tet Michael Fröhlich anschaulich in ver- gang damit finden. men, wird aber auch im Beitrag von Anne ständlicher Sprache über das Jugendpro- Wie dies Einfluss auf die Identitätsbil- Klein, die auf Erinnerungskultur und Po- jekt „Angekommen! Roma-Jugendliche dung nimmt, zeigt Merfin Demir in sei- gromstimmung in der BRD eingeht und in Dortmund und Duisburg“ (AIDD). nem Beitrag über Empowerment-Arbeit Linien von damals zu heute zeichnet, be- Was die Beiträge gemeinsam haben, ist die mit Roma-Jugendlichen. Dabei betont er: sonders deutlich. Strukturierung in kurze Unterkapitel, die Es sind in erster Linie Jugendliche und In den Sammelband fließen sowohl das Lesen deutlich erleichtern. erst an zweiter Stelle Roma. Neben der historische Erzählungen, wie bspw. die Nicht nur die Inhalte, sondern auch die sozial-pädagogischen Perspektive auf das Biographie des Boxers Johann Wilhelm aufwendig gestalteten Illustrationen (vgl. Thema Empowerment erläutert er auch, „Rukeli“ Trollmann, an der die Verfolgung http://www.bosoremsky.de/roma.html) was hinter den Bezeichnungen „Sinti_za“ von Sinti und Roma im Nationalsozialis- laden dazu ein, das Buch in seine Samm- und „Rom_nja“ steht und warum diese mus exemplarisch erläutert wird, als auch lung aufzunehmen, wobei man sich über kein Synonym zum „Z-Begriff“ darstellen. tagesaktuelle Ereignisse, wie beispielswei- die Lesefreundlichkeit bronzefarbener Letzteres benutzt Demir als Abkürzung se die Zwangsräumungen von Wohnun- Fußnoten streiten kann. Insgesamt über- für die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ gen in Duisburg, durch die Roma-Kindern zeugt der Sammelband durch seine gut „um die Reproduktion der rassistischen und -Jugendlichen die Chance auf eine strukturierten und interessanten Beiträge, Konstrukte, die mit dem Begriff ‚Zigeu- Teilhabe an der Gesellschaft genommen die leider nicht alle in dieser Rezension ner‘ verbunden sind, auf das Minimum wird, ein. Antiziganistische Stigmatisie- gewürdigt werden können. Die Stärke des zu reduzieren“ (44). Solange rassistische rung und Ausgrenzung in Duisburg the- Sammelbandes ist es, dass er unterschied- Konstrukte in den Köpfen existieren, matisiert auch Zakaria Rahmani in seinem liche Perspektiven vereint, so dass auch ist jedoch fraglich, ob eine Abkürzung diskursanalytischen Beitrag über die loka- diejenigen, die sich bereits mit Antiziga- stigmatisierender Begriffe in der wis- le Berichterstattung, die „von rassistischen nismus auseinander gesetzt haben, etwas senschaftlichen Auseinandersetzung mit Ressentiments durchwachsen ist“ (126). neues lernen können. diesen zum erwünschten Ziel führt. So Das sprachliche Niveau der Beiträge ist sehen es wohl auch andere Autor_innen nicht einheitlich. Während Jens Kortkamp Alexandra Graevskaia ist Mitarbeiterin des des Bandes, die den „Zigeuner“-Begriff in die Bedeutung des Begriffs „Heimat“ bei DISS. DISS-Journal 33 (2017) 25 Rezensionen Englischsprachige Forschungsliteratur In Ausgabe 32 (2016) des DISS-Journals hat Jobst Paul neuere amerika- nische Literatur rezensiert. Auf den nächsten drei Seiten stellt er weitere spannende Bücher vor, die bei uns so gut wie unbekannt sind.

Angst und Enthaltsamkeit Casey Ryan Kelly, Abstinence Cinema: Virginity and the Rhetoric of Sexual Purity in Contemporary Film. New Brunswick: Rutgers University Press, 2016. 210 S.

Opportunismus und Radikalisierung (1848-1870) – Zum ideologischen Weg der deutschen Minderheit in Missouri1 Kristen Layne Anderson: Abolitionizing So deutet Twilight die restriktive Botschaft Missouri: German Immigrants and Racial von ‚virginity‘ als feministische ‚choice‘ Ideology in Nineteenth-Century Ameri- und ‚empowerment‘, während die männ- ca. Baton Rouge: Lousiana State Univer- Wie schlägt sich der US-evangelikale Se- liche Seite in Gestalt eines Vampirs mit sity Press, 2016. 272 S. xual-, Familien- und Männlichkeitsdis- entsprechend abschreckender, raubtier- kurs im Hollywood-Film nieder?1 Dieser hafter Sexualität ausgestattet wird. InThe In den letzten Jahren kam es zu einer Diffe- Frage geht Casey Ryan Kelly in Abstinence 40-Year-Old Virgin erscheint ‚abstinence‘ renzierung der Rolle, die die deutsche Dia- Cinema anhand einiger filmischer Fallstu- als Option der Umkehr und Läuterung in spora in den USA in der zweiten Hälfte des dien zum Thema ‚Enthaltsamkeit vor der einer ‚Welt der Beliebigkeit‘. In The Pos- 19. Jahrhunderts spielte, insbesondere im Ehe‘ nach. Kelly untersucht dazu die Film- session wird ein – hier nicht vom Vam- Grenzstaat (zum Süden der USA) Missou- Adaptionen von Twilight (2009 - 2012), pir, sondern – vom Dämon beherrschtes ri und seiner Metropole St. Louis. In ihrer die Streifen The 40-Year-Old Virgin (2005), Mädchen erst geheilt, als ihre autoritative Untersuchung Abolitionizing Missouri: The Possession (2012), Taken (2008) sowie Beziehung zum Vater wieder hergestellt German Immigrants and Racial Ideology eine Reihe satirischer Annäherungen ans wird. in Nineteenth-Century America widerlegt Thema. Und in Taken wird (ähnlich wie in Kristen L. Anderson die These, dass die Sie alle vermarkten nicht nur ein pub- Twilight) weibliche Reinheit wilder mas- deutschen Einwanderer alle idealistische likumswirksames Thema, das in den USA kuliner Sexualität gegenübergestellt, hier Humanisten waren, die für die Abschaf- seit etwa 2000 im Zusammenspiel der aber ergänzt (wie in The Possession) durch fung der Sklaverei kämpften. Die Autorin radikal-evangelikalen und der rechtsextre- die Vaterfigur des “great white protector”, weist vielmehr nach, dass die Deutsch- men Bewegung entfacht wurde. Die Filme der - wie im kolonialistischen Narrativ - Amerikaner in St. Louis in der Sklavenfra- stehen auch für verschiedene Varianten, als Retter auftritt. Es scheinen also wenige, ge opportunistisch taktierten und dass sich der Forderung nach ‚Enthaltsamkeit vor untereinander variierte Versatzstücke zu zwischen 1848 und 1870 eine Entwicklung der Ehe‘ einen progressiven Anstrich zu sein, deren Repetition vor allem bei Ju- in ihren Einstellungen zu Rasse, Gender, geben. Oder anders: Es handelt sich einer- gendlichen für den Erfolg dieser Filme an Klasse und Religion vollzog. seits um propagandistische Antworten auf der Kasse sorgt. Vor dem Kansas-Nebraska Act (1854) die Diskurse des Feminismus/LGBT und Kelly macht auf die wenig bekannte teilten die Deutschen in Missouri die zugleich um Versuche, am liberalen Image Tatsache aufmerksam, dass die evangelika- Doppelstandards überall in den Staaten: dieser Diskurse zu partizipieren. le Bewegung dafür sorgte, dass im Adole- Sie nahmen die Sklaverei hin, bis unter ih- scent Family Life Act (AFLA) von 1981 die 1 Ich referiere hier die wichtigsten Aspekte Forderung nach ‚Enthaltsamkeit vor der 1 Ich referiere hier die wichtigsten Aspek- der Rezension von Hannah Dudley Shotwell te der Rezension von Sarah Panter (Leibniz (University of North Carolina, Greensboro), Ehe‘ politischen Status erhielt. Seitdem hat Institute of European History), einsehbar un- einsehbar unter https://www.h-net.org/reviews/ die US-Regierung 1,5 Milliarden Dollar ter https://www.h-net.org/reviews/showrev. showrev.php?id=47113. für abstinence-only education ausgegeben. php?id=46925.

26 DISS-Journal 33 (2017) Rezensionen nen Bedenken aufkamen, dass die Sklave- Das zweite Trauma: Veteranen und trotz immer noch erheblicher ‚Verluste’ ge- rei die Westexpansion behindern könnte. der amerikanische Traum1 lungen, den Glauben der amerikanischen Schon mit diesen Bedenken machte man John M. Kinder: Paying with Their Bodies: Öffentlichkeit an militärische Mittel, aber sich allerdings unbeliebt, obwohl nur eine American War and the Problem of the auch an die ‘Heilbarkeit’ von Behinderung Minderheit der Deutsch-Amerikaner, vor Disabled Veteran. Chicago: University Of zu erhalten. Der Glaube hat mit der Pro- allem die Exilanten der 1848er Revolution Chicago Press, 2015. viii + 358 S. fessionalisierung der US-Streitkräfte sogar rein humanitäre Positionen vertraten. noch zugenommen, und mit der Tatsache, Während des Bürgerkriegs tendierte die John M. Kinder unterstreicht in seiner dass immer weniger Amerikaner aufgrund deutsche Minderheit mehrheitlich zu den Untersuchung Paying with Their Bodies: der Technologisierung der Kriegsführung Republikanern (die damals die Sklaverei American War and the Problem of the Di- direkt vor Ort involviert sind. Kurz: Was abschaffen wollten), um nicht ihre wirt- sabled Veteran, dass das Schicksal der im Kriege anrichten, gerät immer mehr aus schaftlichen und politischen Interessen Krieg psychisch und physisch verletzten dem Blickfeld. Daher erhofft sich Kinder im Grenzstaat Missouri zu gefährden. US-Veteranen im gesamten Spektrum der die Entwicklung einer interdisziplinären Nach der Emancipation Proclamation öffentlichen Meinung, aber auch – mit dem ‚Veteranologie‘, die das Thema wieder ins von 1863 brachen jedoch Flügelkämpfe Vorzeichen ‚Patriotismus‘ - von jeweiliger öffentliche Bewusstsein rückt. auf, zwischen den Radikalen, die für die Regierungsseite instrumentalisiert wurde schrittweise Emanzipation der Versklav- und wird. So verwenden Veteranengrup- ten plädierten, und den Konservativen, pen, aber auch die Anti-Kriegsbewegung die sich der aufkommenden Rassenlehre Bildnisse behinderter Veteranen für ihre anschlossen. Mit dem 15ten Verfassungs- jeweiligen Argumentationsziele. ‚Der be- zusatz von 1870, der die Gleichstellung hinderte Veteran‘ kann so zum Objekt von der Schwarzen postulierte (und das mit Bewunderung, Angst, Spott und Geden- der deutschen Reichsgründung zusam- ken werden. Damit wird aber auch Be- menfiel), kam es zur ideologischen, rassis- hinderung schlechthin zu einer variablen tischen Radikalisierung der Mehrheit der ‚Konstruktion‘ und öffnet sich daher auch Deutschen in Missouri. jeder Form der Stereotypisierung. Die Untersuchung von Kristen L. An- Für die tatsächlich Betroffenen dient derson stellt ausdrücklich eine regionale seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Fallstudie dar. Deshalb fehlt weitgehend Veterans Administration (VA) als zustän- die Kontextualisierung mit der Geschichte dige Bürokratie für verwundete US-Sol- der Deutschen in den USA insgesamt, aber daten. Ihre Entwicklung war von zeitge- auch ein Abgleich mit der europäischen, nössischen Idealen der Männlichkeit, vom bzw. deutschen Geschichte der Zeit. Versuch der Wiedereingliederung der Veteranen in den Arbeitsmarkt, aber auch von exzessiver Bürokratie geprägt. Rechtspopulistische Drehbücher – Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Trump’s Vorläufer hat allerdings eine ambivalente Entwick- Nicole Hemmer, Messengers of the lung eingesetzt, bei der die amerikanische Right: Conservative Media and the Trans- Öffentlichkeit für ‚Verluste‘ immer weni- formation of American Politics. Philadel- ger Verständnis entwickelte. Mit der fol- phia: University of Pennsylvania Press, gerichtigen Abschaffung der Wehrpflicht 2016. 336 S.1 und dem Aufbau einer Berufsarmee nahm die Öffentlichkeit weniger wahr, wie stark Nicole Hemmer beschreibt in Messengers nun benachteiligte Minderheiten für den of : Conservative Media and the Kriegsdienst rekrutiert wurden, d.h. wie Transformation of American Politics die stark diese Rekrutierung rassistisch un- Vorläufer der heutigen rechten US-Propa- terlegt war. Hinzu kommen Politiken und ganda-Medien (z.B. Breitbart News). Sie Technologien, die dafür sorgen, so wenig spricht dabei, kulminierend in den Präsi- US-amerikanische Tote und Verletzte wie dentschaften von Richard Nixon (1969- möglich zu riskieren. Tatsächlich ist es so 1974) und Ronald Reagan (1981-1989), 1 Ich referiere hier wichtige Aspekte der 1 Ich referiere hier wichtige Aspekte der Re- Rezension von Meghan Fitzpatrick (Royal zension von Seth Offenbach (Bronx Com- Military College of Canada), einsehbar un- munity College, CUNY), einsehbar unter ter https://www.h-net.org/reviews/showrev. https://www.h-net.org/reviews/showrev. php?id=46619 php?id=48861 .

DISS-Journal 33 (2017) 27 Rezensionen von einer ersten und zweiten Generation seiter-Status in eine Opferrolle umzu- stream-Medien, indem sie die Verästelun- rechter Medienaktivisten, wobei die Prä- münzen, um auf diese Weise Geldgeber gen des rechten Netzwerks im konservati- sidentschaft Donald Trump nun Ergebnis zu aktivieren. Tatsächlich antworteten die ven Lager nachwiesen und so Spannungen der dritten konservativen Medienoffensive hegemonialen Medien mit Delegitimie- und Zerreißproben im rechten Lager pro- wäre – möglicher Weise aber auch ihr neu- rungskampagnen, die zu entsprechenden vozierten. Die exekutive Politik dagegen es Opfer. Antworten von rechtsgerichteten Philan- antwortete (1963, dann unter J.F. Kenne- Erster Schwerpunkt der Untersuchung thropen führten. Diskursiv entscheidend dy) mit einer sogenannten Fairness Doctri- sind die (republikanischen) Medien-Akti- visten William F. Buckley, Clarence Mani- wurde aber der ‚große‘ Empfang, den ne, die Journalisten auf “multiple perspec- on und Henry Regnery, die ihr Publikum Dwight D. Eisenhower und sein Vizeprä- tives” verpflichten wollte, worauf ein Teil mit eigenen ‘Wahrheiten’ und ‘Beweisen’ sident Richard Nixon dem sowjetischen der Medien sich von den rechtsextremen unterhielten: mit “a different network of ZK-Vorsitzenden Nikita Khrushchev Medienmachern trennte. authorities, a different conception of fact (September 1959) bereiteten: Die ameri- Zweitens wurden die rechtskonserva- and accuracy, and a different way of evalu- kanische Rechte etablierte sich als mediale tiven Machtübernahmen durch Richard ating truth-claims” (S. xiii). Schwerpunkt und als politische Kraft. Nixon und Ronald Reagan zum Anlass ihrer Offensiven wurden die Zeitschriften Besonders denkwürdig in Nicole Hem- tiefer Enttäuschungen im rechten Lager Human Events und National Review sowie mers Darstellung sind vor allem zwei und zu radikalen Abspaltungen, die ihrer- die Radiosendung Manion Forum of Opi- strukturelle Phänomene, die an die heuti- seits zu Sammelpunkten weiterer Genera- nion. gen diskursiven, dialektischen Prozesse er- tionen rechter medial-politischer Akteure Äußerer Anlass war die moderate Po- innern, die unter den Kürzeln Trump und wurden. Ein Mangel der Untersuchung ist litik der republikanischen Präsidentschaft Dwight Eisenhower’s. Das taktische Mittel Populismus eine neue Dynamik erfahren. allerdings die fehlende Tiefenanalyse des aber bestand darin, den eigenen Außen- So antworteten (erstens) die Main- christlichen Fundamentalismus.

Mit der Umdeutung des Begriffs des Aus- Manz beschreibt innerdeutsche organi- wanderers in den Auslandsdeutschen schu- satorische Stützpunkte der Diaspora wie fen Blätter wie die Die Gartenlaube (1853- die Deutsche Kolonialgesellschaft, den 1900) und Globus (1862-1910) Ende des 19. Alldeutschen Verband oder die Rhei- Jahrhunderts einen neuen Erzählraum und nische Mission, insbesondere aber die Absatzmarkt. Sie reagierten damit aber nur Flottenvereine. Denn Kriegsschiffe reprä- auf die Entstehung einer weltweiten deut- sentierten die Verbindung zwischen dem schen Diaspora, die sich als äußerer Arm innerdeutschen Nationalismus und dem des deutschen Nationalismus verstand. der Diaspora. Berlin bildete für die dezen- Stefan Manz betont in Constructing a tralen weltweiten Aktivitäten dieser Dia- German Diaspora: The „Greater German spora allerdings nur einen symbolischen Empire“, dass die erstaunlich intensive Bezugspunkt. Viel einflussreicher waren Vernetzung dieser Diaspora entlang eines ein globales Netzwerk von Clubs, mit deutsch-nationalistischen Codes (Deutsch- Sektionen in allen Erdteilen, eine Kultur tum) keineswegs ‚aus dem Reich‘ dekretiert der gemeinsamen nationalen Rituale, ein oder organisiert war, sondern einer Eigen- völkisch orientiertes System der Auslands- dynamik folgte, die den Begriff Heimat nun schulen, die das Deutsche hochhielten, auf die Überseegebiete ausdehnte. Diese und – als die bedeutsamste intellektuelle Dynamik trieb freilich wiederum die nati- Klammer der Auslandsdeutschen – der onalistische Formierung ‚im Reich‘ in Ge- Protestantismus. stalt einer sogenannten ‚deutschen Weltpo- Das zunehmend deutsch-nationalisti- Nationalistische Dynamik von außen litik‘ in gewisser Weise vor sich her. Manz sche Selbstverständnis der deutschen Dia- - Die ‚Auslandsdeutschen‘ und der führt die Intensität der Vernetzung und spora-Gemeinschaften sorgte freilich auch deutsche Imperialismus (1871-1918) der Ideologisierung der Diaspora darauf dafür, dass sie sich isolierten und in ihren Stefan Manz, Constructing a German zurück, dass sich ihre Träger aufgrund der jeweiligen ‚Habitats‘ im Zusammenhang Diaspora: The “Greater German Empire”, eher geringeren Rolle des deutschen Kolo- von Weltkriegen und deutschem Faschis- 1871-1918. Oxford : Routledge Taylor & nialismus eine Art migrantischer Identität mus u.a. zu Zielscheiben des Hasses und Francis Group, 2013. 360 S. zulegten. der Feindseligkeit wurden.

28 DISS-Journal 33 (2017) Brexit

It‘s not over till it‘s over: Wie Großbritannien sich am Brexit abarbeitet.

Robert Tonks, Vorsitzender der Deutsch-Britischen Gesellschaft Duisburg, im DISS-Interview. Das Gespräch führte Jobst Paul.

DISS: Von außen erscheint die derzeiti- Wohlstand durch den Handel zwischen Kollaps der Sowjetunion erlangte ‚Freiheit‘ ge Lage in Großbritannien einerseits be- den Nationen. Wirtschaftsgemeinschaft ja, und setzen sich für ihre Wiedereinschrän- stimmt von der traumatischen Verarbei- politische Union nein. Diese Formel ist eine kung ein, für die Errichtung neuer Grenzen tung der Brexit-Entscheidung und ande- Konstante britischer Politik. Sowohl Tory und Mauern. Sie wollen dem Kapitalismus rerseits von permanenten Anrufungen als auch Labour akzeptierten Schengen und nationale Barrieren auferlegen. Das ist ein einer neuen Zukunft. Will die Regierung den Euro zwar, Großbritannien ist aber we- Paradigmenwechsel, eine Kehrtwende, die über die so kurzfristig angekündigten der der einen noch der anderen politischen in jedem Land systembedingt anders läuft. Neuwahlen die Brexit-Abstimmung viel- Union beigetreten. Das britische Wahlsystem ist direkt und leicht doch noch einmal zur Disposition lässt kleinen Parteien keinen Platz. Die na- stellen? Wir interpretieren die britische Brexit- tionalistisch ausgerichtete United Kingdom Kampagne aus deutscher Sicht oft als den Independence Party (UKIP) hat bis heute Robert Tonks: Wenn die Regierung für das ersten wirklichen Sieg des Populismus keinen Sitz im Unterhaus. Das heißt, dass Ausrufen der Unterhauswahlen einen sol- in Europa und denken dabei an Le Pen, sie in keinem einzigen Wahlkreis die Nase chen Beweggrund hätte, wäre das für sie Wilders, Petry u.a. Allerdings ist es in vorne hat. Dafür ist ihr Einfluss auf die To- sicherlich ein risikoreiches Snookerspiel Großbritannien die traditionsreiche To- ry-Party von innen enorm gewachsen. Die über mehrere Bande. Traditionsgemäß ist ry-Partei, also eine Institution der Mitte, Tory-Party saugt alles rechts von der Mitte Tory die Partei der Unternehmen, von de- die nun den populistischen Aufstand ver- wie ein Schwamm auf, auch rechts außen. nen die Mehrheit den zollfreien Binnen- waltet. Was unterscheidet den britischen Das tut die Labour Party links der Mitte markt beibehalten will. Die Premierminis- Populismus von dem auf dem Kontinent? genauso. Das erklärt den gegenwärtigen na- terin muss diesen Flügel befrieden. Theresa Spielen Rechtsradikale eine Rolle? tionalistischen Rechtsruck der Tory-Partei May ist ja als Premierministerin nicht de- einerseits und den sozial- und industrie- mokratisch gewählt worden, sondern in- Wenn ich mich nicht täusche, bezeichneten politischen Linksruck der Labour Partei nerparteilich gesetzt. Mit der Wahl würde vor fast vier Jahrzehnten die Politikwissen- andererseits. Ich empfehle die Lektüre der May ihre Macht stabilisieren. Sie glaubt, schaft und Medien Ronald Reagan und in diesen Tagen publizierten Wahlprogram- dass ein Wahlsieg ihre Verhandlungsposi- Margaret Thatcher als rechtspopulistisch. me. Während Tory Arbeitgeber zwingen tion gegenüber der EU stärken wird. Auch So beschrieb Anfang der 19080er Jahre will, für jeden ausländischen Beschäftigten wenn sie behauptet, dass sie lieber auf den der bedeutende britische Gesellschaftswis- 2000 Pfund pro Jahr an die Regierung zu Binnenmarkt verzichten würde, als eine senschaftler Stuart Hall den Politikansatz bezahlen, will Labour die Sozialausgaben schlechte Vereinbarung zu treffen, glaube der beiden als „right-wing authoritarian steigern und Schlüsselindustrien verstaat- ich aus heutiger Sicht, dass die Regierung populism“, der sich durch einen ausgepräg- lichen. Den Programmen nach zu urteilen, immer noch davon ausgeht, dass es mög- ten Zynismus gegenüber Menschenrechten findet gerade eine Radikalisierung des bri- lich ist, den ungestörten Zugang zum Bin- und einen nach innen und außen gerichte- tischen Zweiparteiensystems statt. Da fragt nenmarkt beizubehalten - trotz lautstarker ten Nationalismus auszeichnete. man sich gerade, wer die gemäßigte Mitte Proteste aus der EU und einigen EU-Mit- Das war bahnbrechend, sagte man, sie der Gesellschaft vertritt. gliedsstaaten. Weder eine Regierung von waren eben die Ersten. Sie setzten sich für Labour noch von Tory wollte je die Politi- die Ausweitung der ‚freien Welt‘ des Kapi- Von den vielen Gegnern des Brexit in sche Union, die einen Bruch mit der über talismus und die Auflösung des Eisernen England selbst hört man nichts mehr. Jahrhunderte gewachsenen Wirtschafts- Vorhangs, des Sowjetblocks und des Kom- Ist die Niederlage des linksliberalen bür- philosophie des Landes darstellen würde. munismus ein. Die heutigen Rechtspo- gerlichen Lagers, insbesondere der Ju- Denn frei nach Adam Smith entsteht der pulisten wenden sich gegen die nach dem gend, so gründlich, dass von dort auf ab-

DISS-Journal 33 (2017) 29 Brexit

sehbare Zeit kein politischer Aufbruch aber Deutsch und damit ein Qualitätssiegel. zu erwarten ist? Wenn ich da bin, fragen mich schon mal Leute nach der Bedeutung, die sie in der Wie gesagt – die Labour Partei orientiert Regel wenige Tage später wieder vergessen sich neu nach links – und zwar seit der haben. Das Vereinigte Königreich ist der überraschenden Wahlschlappe 2015 mit Ed größte Importeur deutscher Autos in der Milliband und seinem eher linksliberalen EU. Viele Briten trinken bayrisches Wei- Kurs. Für viele ebenfalls überraschend war zenbier und schwärmen vom Oktoberfest die anschließende Wahl von Jeremy Corbyn in München. Respekt gepaart mit historisch vom linken Flügel zum neuen Labourchef. bedingten Ressentiments beherschen das Vor dem Referendum wollte sich Corbyn von männlichen Stereotypen geprägte Bild nicht neben dem damaligen Tory-Premier- von Deutschland. Die Ironie des Schicksals minister David Cameron sehen lassen, der ist, dass erst durch das Brexit-Votum die für den Verbleib in der EU war: Am linken britische Bevölkerung gezwungen wird, K. Holz / H. Kauffmann / J. Paul (Hg.) Flügel halten viele die EU für einen elitären sich mit der EU und den europäischen Die Verneinung des Judentums neoliberalen Club. Aufgrund der Tatsache, Nachbarn auseinanderzusetzen. Brexit und Edition DISS Band 22, 184 S., 22 Euro dass viele pro-Brexit-Wähler aus dem La- damit die EU sind täglich in den Medien. bour-Lager stammen, hat sich der neue La- Das entstehende Medienbild von Ursache Der Band umfasst eingehende Analysen bour-Chef Jeremy Corbyn auch nach dem und Wirkung ist dabei verzerrt. Dass sich antisemitischer Positionierungen auf den Votum zurückgehalten. Corbyn akzeptiert Bundeskanzlerin Merkel für die Flüchtlin- Diskursebenen der Medien, der Politik, der das Brexit-Votum, verspricht aber den ge eingesetzt hat und dass ein Großteil der Wissenschaft, der Religion und des Alltags. Schaden an der Bevölkerung gering zu hal- deutschen Bevölkerung sie zunächst dabei Thematisiert wird die Entstehung des poli- ten. Die Liberal Democrats sind die einzige, unterstützte, wird zur Kenntnis genom- tischen Antisemitismus in Deutschland und flächendeckend, d.h. Großbritannienweit, men, aber nicht als das Hauptproblem der dessen gegenwärtige Wiederbelebung im Islamismus. auftretende Partei, die im Wahlprogramm Zuwanderung nach Großbritannien gese- 2017 ein zweites Referendum verspricht. Sie hen. Deutschland wird nicht als Ursache betrachtet das Brexit-Votum als einen his- der Zuwanderung nach Großbritannien torischen Fehler, der rückgängig gemacht betrachtet, sondern die EU. Der Zorn der werden kann. Da es allerdings bei der an- Brexit-Befürworter richtet sich gegen die stehenden Wahl nicht nur um Brexit geht, Zuwanderung aus den östlichen EU-Län- wird diese verhältnismäßig kleine Partei dern, insbesondere Polen. kaum in der Lage sein, all diejenigen hinter sich zu vereinen, die für den Verbleib in der DISS: Die Labour Party ist zerstritten EU sind. Aber, lassen wir uns überraschen. und agiert offenbar im Abseits. Welche tiefere, inhaltliche Bedeutung haben die Wie hat sich im Zuge des Brexit in Groß- Machtkämpfe um Jeremy Corbyn? Oder britannien das ‚Deutschland-Bild‘ ent- geht es nur um Personen? wickelt? In der Politik geht es natürlich immer um Das britische ‚Deutschland-Bild‘ leidet un- Personen, aber auch um das Zusammen- ter Brexit nicht. Die Deutschen können ja spiel von Konjunkturen und Strukturen. Fußball, Autos und Bier! Was soll sich nach Wie nach der Wahl der Tory-Premiermi- Regina Wamper Das Kreuz mit der Nation. Christlicher Brexit an der Beziehung zu Deutschland nisterin Margaret Thatcher 1979 befindet Antisemitismus in der Jungen Freiheit oder Frankreich ändern? Solche bilatera- sich die Labour Partei heute in einem tief- Edition DISS Band 18 len Beziehungen haben in weiten Teilen greifenden Richtungsstreit. Damals bilde- 208 S., 22 Euro der von konservativen Medien dominier- ten einige abtrünnige Labour Ex-Minister ten Öffentlichkeit mit der EU nichts zu die Social Democrat Party, die später mit Religion und Glaube spielen in der Wo- tun. Jürgen Klopp ist einer der beliebtesten den Liberalen fusionierte, um die Liberal chenzeitung Junge Freiheit eine zentrale Trainer der Premier League. Einen besse- Democrat Party zu gründen. Die Labour Rolle. Dadurch werden Bilder von Juden ren Botschafter könnte Deutschland auf der Partei brauchte 18 Jahre, bis 1997 Tony Blair und Judentum vermittelt, die längst ver- Insel nicht haben. Der Werbespot eines be- mit dem Slogan ‚New Labour‘ erdrutschar- gessen schienen. Sie belegen, dass Antiju- deutenden deutschen Autoherstellers ‚Vor- tig zum Premierminister gewählt wurde. daismus eine immer noch aktuelle Form sprung durch Technik‘ wird von den regi- Blair setzte in wesentlichen Punkten die der Judenfeindschaft ist. Die diskursana- onalen Radiosendern ohne Übersetzung neoliberale Wirtschaftspolitik von Thatcher lytische Studie untersucht die zentralen gespielt. Das versteht zwar niemand, ist und ihrem Nachfolger auf der Downing Themen dieser Diskurse.

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Street 10 John Major fort. Blair rief die so- Bereits am 25. Juni 2016 hat die schot- dass ein zweites Referendum in Schottland genannte ‚Stakeholder Economy‘ aus, für tische Regierung als Reaktion auf das über die Unabhängigkeit vom Vereinig- die das Land Arbeitskräfte benötigte: Un- Ergebnis des britischen EU-Referen- ten Königreich stattfinden soll, weil die ter Blair ebnete Großbritannien als einer dums entschieden, ein erneutes Unab- Schotten beim ersten Referendum für den der ersten EU-Mitgliedsstaaten den Weg hängigkeitsreferendum vorzubereiten. Verbleib in einem Vereinigten Königreich für die uneingeschränkte Zuwanderung Können die Schotten dieses Referendum votierten, das Teil der EU ist. Das schotti- aus Ost-Europa unmittelbar nach der EU- tatsächlich ohne die Zustimmung der sche Parlament will zwar eine Wiederho- Osterweiterung 2005. Andere Länder wie britischen Regierung durchführen? Und lung des schottischen Referendums, die Deutschland zogen erst einige Jahre später wie stehen die Chancen und die Konse- Bevölkerung laut Umfragen aber nicht. und mit Einschränkungen nach. Heute le- quenzen eines Erfolgs, auch im Hinblick Eine weitere Komplikation ist, dass die ben 800.000 Polen im Vereinigten König- auf Nordirland? schottische Unabhängigkeit eine Mehrheit reich. Brexit ist vor allem ein Reflex auf die im britischen Parlament erfordert. Dafür Blairsche Einwanderungspolitik. Welchen Bis vor wenigen Jahren war Schottland fehlt aus heutiger Sicht die erforderliche Entwicklungsweg Labour im 21. Jahrhun- noch eine Hochburg der Labour Partei. Mehrheit im Parlament in Westminster. dert einschlagen wird, ist unklar, aber Die Scottish National Party (SNP) hat sie Wie die Mehrheitsverhältnisse im neu regieren kann sie nicht zuletzt wegen des allerdings mittlerweile nachhaltig von gewählten britischen Unterhaus nach der Wahlsystems nur links der Mitte. Aber, links überholt, mit dem Erfolg, dass heu- Wahl am 8. Juni 2017 aussehen werden, denken Sie an die alte Faustregel beim te weder Tory noch Labour in Schottland ist Kaffeesatzleserei. Alle Hoffnung in Fußball: Die wichtigste Phase eines Spiels einen Schnitt machen. Verstaatlichung vor die Schotten zu setzen, als die einzigen findet gegen die 97. Minute statt, denn ‚It‘s allem der Ölressourcen vor der schotti- Europäer des Vereinigten Königreichs - not over till it‘s over‘. Laut Umfragen will schen Nordseeküste, sowie erhöhte So- was die deutschen Medien gern tun - ist die große Mehrheit der unter 40-Jährigen zialabgaben sind ihre vordergründigen nicht zielführend. Das nationale Zusam- Labour wählen. Gerade bei dieser Gruppe Themen. Bei dem Referendum über die mengehörigkeitsgefühl des Vereinigten verzeichnet Labour zurzeit einen signi- schottische Unabhängigkeit 2014 schei- Königreichs war noch nie so stark wie in fikanten Mitgliederzuwachs. Nach dem terte SNP. Beim Brexit-Referendum 2016 Zeiten der Bedrohung von außen, etwa Zweiten Weltkrieg gingen viele von einem votierte die Mehrheit der Schotten nicht in zwei Weltkriegen. Ich sehe vor diesem Wahlsieg von Winston Churchill aus, dem für Brexit, sondern für den Verbleib in Hintergrund die Gefahr, dass England, größten Tory-Premierminister aller Zei- der EU. Anschließend hat SNP unter der Schottland, Wales und Nordirland zu ei- ten, Befreier und Kriegsgewinner. Er ver- sogenannten Ersten Ministerin Nicola nem ‚Wir‘-Gefühl gegen die EU finden, lor gegen Labourchef Clement Attlee, der Sturgeon über ein erneutes Referendum wenn Tory diese Wahl gewinnt. Dann ist eine Erhöhung der Sozialausgaben und über die schottische Unabhängigkeit im die Wiederrichtung der Grenze in Irland die Verstaatlichung der Schlüsselindustri- schottischen Parlament abstimmen las- denkbar. Vor einem Rosenkrieg kann man en versprach. sen. Sie gewann. Sturgeon schließt daraus, nur warnen. Dann verlieren alle.

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DISS-Journal 33 (2017) 31 30 Jahre DISS: Fotos

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1998 | Nach dem 10-jährigen Jubilä- um erscheint die erste Ausgabe des 1988 | Das DISS feiert den 1. Geburtstag. DISS-Journals.

1995 | Vom Hinterhof auf der Realschulstraße...

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32 DISS-Journal 33 (2017) 30 Jahre DISS: Fotos

1995 | Tagsüber auf dem Sommerworkshop des DISS in Freudenberg...

2007 | 20 Jahre DISS: Siegfried Jäger hält die Jubiläumsrede. 30 Jahre

DISS ...und abends beim Bier. DISS-Journal 33 (2017) 33 30 Jahre DISS – Glückwünsche und Begegnungen

m Anfang war die Diskurswerkstatt... AVor fünf Jahren habe ich zum ers- ten Mal die Diskurswerkstatt besucht und das DISS als wertschätzenden, solidari- schen Ort kennengelernt, der mir noch mal ganz neue Perspektiven für meine wissenschaftliche, aber auch politische Praxis ermöglicht hat. Wissenschaft ver- bunden mit Kritik, Leidenschaft und Au- tonomie?! Ja, das geht! Und zwar hier im Ulrich Brieler, DISS und das seit 30 Jahren. Das ist nicht Honorarprofessor an der Universität selbstverständlich und heute wichtiger Leipzig, Referent für Grundsatzfragen denn je! Ich wünsche Euch (auch weiter- Stadtverwaltung Leipzig im Geschäfts- hin) ein freies, und finanziell gesichertes bereich des Oberbürgermeisters Erforschen und Hinterfragen herrschen- der Verhältnisse. Wann, wenn nicht jetzt? iebe Margret, lieber Sigi, liebe Mitarbeiter und Freunde des DISS! Das Wichtigste, Wer, wenn nicht Ihr? Ldas mir Lektüre und persönliche Begegnungen mit Euch gegeben haben, ist die Wahrnehmung einer klugen Aufrichtigkeit. Sich einer Sache verschreiben, sie verfol- Isolde Aigner gen, sich gegen den Wind stemmen, dranbleiben. Damit auch Treue gegenüber einmal Leitung Diskurswerkstatt gewonnenen Erkenntnissen. Sie nicht preisgeben. Beharren zeigen, auch wenn die Mo- den und Turns uns umwogen. Also: Unzeitgemäßes Denken, weiterdenken, überhaupt denken. Weiter so!

ls ich vom Geburtstag des DISS Ahörte, dachte ich seltsamerweise weniger an Foucault als an den Begriff der Dialektik nach Horkheimer/Ador- no, jedoch angewendet auf den Begriff der „Gemeinschaft“. Zum Einen habe ich dort gelernt, das diskursive Konstrukt ei- ner Gemeinschaft zu kritisieren, das sich aus Begriffen wie Leitkultur, Nation, Eli- Fabian Virchow te, Volk speist und das lediglich über Ab- Leiter des Forschungsschwerpunktes und Ausgrenzungen (aktuell insbeson- Rechtsextremismus/Neonazismus an dere gegenüber dem Islam) funktioniert, der Hochschule Düsseldorf; Professor während ich gleichzeitig zum Anderen für Theorien der Gesellschaft und Theo- im DISS Teil einer kritischen Denkge- rien politischen Handelns meinschaft sein durfte, in der der Andere als vollkommen anderer akzeptiert und eine Begegnungen mit dem DISS – in unmittelbarem Austausch mit den dort zeit- gehört wurde, in der die Praktikantin Mweise oder dauerhaft Aktiven, aber auch vermittelt über die dort zahlreich entstan- gleichberechtigt neben dem Professor denen Publikationen – geht weit zurück. In den frühen 1990er Jahren waren dies etwa sprach und in der der kritische Einsatz die Studien zum Rassismus und den Pogromen in Rostock und Hoyerswerda sowie deren für Ausgegrenzte und Benachteiligte eine medialer Bearbeitung. Bei anderen Gelegenheiten ergaben sich spannende Diskussionen selbstverständliche Aufgabe war und ist. über aktuelle Entwicklungen der politischen und gesellschaftlichen Rechten sowie Fragen Eine Kritik gegenüber Zuständen, die theoretischer Konzeptualisierung, z.B. mit dem früh verstorbenen Alfred Schobert. Das nicht nur gesprochen und gedacht, son- DISS hat erheblich dazu beigetragen, Diskurstheorie und praktische Diskursforschung in dern täglich auch im mit-fühlenden und Deutschland bekannt zu machen und entsprechend angeleitete Arbeiten zu inspirieren – mit-helfenden Mit-Ein-Ander gelebt nicht nur, aber deutlich profiliert in den Themenfeldern Rassismus, extreme Rechte und wird. Danke DISS! völkischem Nationalismus. Zu wünschen ist dem DISS ein langes institutionelles Leben und die Fortführung des diskurstheoretisch inspirierten Forschungsprogramms. Kathrin Huck

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nfang der 1990er Jahre: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, die Asog. Asyldebatte...Im Rahmen des Studiums der Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main Rezeption von Sigfried Jägers Einführung in die Kritische Diskursanalyse, ver- legt vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Lünen, 14. bis 16. Juni 1996: Sommer-Workshop des DISS zu „Ausgrenzungen und Normalitäten in Deutsch- land“ –die erste Veranstaltung des DISS, zu der ich eingeladen war, kurz nach Abschluss des Studiums. Beginn einer seit über 20 Jahre währenden Zusammenarbeit.Mehr als zwei Jahrzehnte wichtige Analysen zu den Themen Rassismus, dem (Wieder-) Erstarken der Rechten, der Transformation des Kapitalismus sowie der Rolle der Medien. Gemeinsames Nachdenken über linke Politik, spannende Diskussionen, kritisches Infragestellen, hilf- reiche Denkanstöße und Selbstvergewisserungen, jährliches Wiedersehen mit Menschen, die zu wichtigen WegbegleiterInnen und ImpulsgeberInnen geworden sind. Begegnun- gen, Analysen und Diskussionen, die in Anbetracht der sich gegenwärtig verschiebenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnissein Zukunft noch mehr vonnöten sein werden. Die Themen, mit denen wir uns in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigten, werden uns Thomas Kunz nicht abhanden kommen, leider! Um so wichtiger, dass das DISS und die Menschen, die Professor für Soziale Arbeit und Bildung es mit Leben füllen, die begonnene Arbeit weiter fortsetzen. Trotz bzw. gerade wegen der im Kontext sozialer Ungleichheit an der schlechten Zeiten freu ich mich auf noch viele gemeinsame Winter-Colloquien! Frankfurt University of Applied Sciences. 30 Jahre DISS

berschaut man die vom DISS herausgegebenen und großenteils auch kollektiv er- Üarbeiteten Monographien und Sammelbände sowie dann auch die DISS-Journale, so hat man ein Evidenzerlebnis: Hier ist drei Jahrzehnte lang ein außerhegemoniales, aber dennoch wirkungsmächtiges, sowohl theoretisch wie praktisch starkes Projekt gelungen. Außerhegemonial, weil kapitalismuskritisch und radikaldemokratisch, was durch die Distanz offizieller akademischer Instanzen bestätigt wurde – aber gerade des- halb enorm operativ, wie es der weitreichende Einfluss des Konzepts einer „Kritischen Diskursanalyse“ bewiesen hat. Aus Sicht der kultuRRevolution möchte ich dem DISS vor allem für ein kleines Wunder danken: für gelungene kooperative Spezialisierung. Sicher gibt es eine Menge von Gründen für das Scheitern von 1968 – ein wichtiger lag meines Erachtens im Konkurrenzgehabe der intellektuellen Projekte: Alle sahen sich als „universelle Intellektuelle“, die um die Interpretation jedes neuen Ereignisses konkurrierten. Foucault empfahl statt dessen den „spezifischen Intellektuellen“, der ein positives Wissen operativ für sein Engagement nutzt. So haben DISS und kRR nach Möglichkeit nichts „gedoubelt“, wohl aber kooperiert und die vielen Anschlüsse ge- pflegt. Ich bin kein Freund des Preußentums, aber ein angeblich preußisches strage- Jürgen Link tisches Prinzip haben wir erfolgreich praktiziert: „(Zuweilen) getrennt marschieren, Prof. Dr. phil., Literatur- und Kulturwis- aber dann vereint schlagen“. senschaftler an der Universität Dort- mund und Herausgeber der „zeitschrift für angewandte diskurstheorie kultuR- Revolution“.

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ch heiße Martin Edjabou. Ich komme aus Togo. An der Université de Lomé habe ich I„Études germaniques/Germanistik“ und Erziehungswissenschaften studiert. Im Win- tersemester 2008/09 konnte ich meine Abschlussarbeit zum Magister an der Universität Paderborn schreiben. Dabei quälte mich die Frage nach einem methodologisch operati- ven Mittel zur Durchführung meiner Untersuchungen. In dem besagten Magisterprojekt wollte ich Zeitungsartikel deutscher überregionaler Zeitungen analysieren. Gegen Ende meines Aufenthaltes riet mir ein Soziologe, dass ich nach Duisburg im DISS vorbeischau- en sollte. Zu einem Besuch kam es aber nicht, doch ich verlor diese Spur nicht aus dem Auge. In den darauffolgenden Jahren habe ich mehrfach die Website des DISS (von Lomé aus) angeklickt und kam zu dem Entschluss, mich dort für ein Praktikum zu bewerben. Und in der Tat bekam ich eine positive Rückmeldung. Mit dem Praktikum sollte ich beginnen, als ich mich im Winter 2012 für ein Pro- motionsstudium in Paderborn entschied. Ich hatte mich in meinem Dissertationspro- Martin Edjabou jekt bereits für die Kritische Diskursanalyse entschieden; und mein Doktorvater stimmte Germanist und Erziehungswissenschaft- meiner theoretischen und methodologischen Entscheidung zu. Seit meiner Studienzeit ler, Promotion an der Fakultät für Kul- beschäftigte mich die Frage nach einer adäquaten Theorien- und Methodenauswahl für turwissenschaften an der Universität mein Studienfach „Civilisation allemande“ innerhalb der sogenannten Auslandsgerma- nistik. Entscheidende Hilfestellungen hierzu bekam ich aber erst im DISS. Dazu hat die Paderborn zum Thema „Erzählstrategien freundliche Aufnahme von dem im DISS mitwirkenden heterogen besetzten Mitarbeiter- über Afrika in ausgewählten bundes- team erheblich beigetragen. Direkte Gespräche mit Margerete und Siegfried haben mir deutschen Leitmedien“. bei der Präzisierung meines Dissertationsprojektes sehr geholfen. Ich wünsche mir sehr, dass die Multi- und Transdisziplinarität am DISS weiterausge- baut wird. Außerdem wünsche ich mir, dass das DISS zu einem soliden Bildungs- und Ausbildungsort ausgebaut wird, wo kurz oder auch längere Lehrgänge zu gesellschafts- kritischen Fragen in dem Einwanderungsland Deutschland angeboten werden. Hierzu bedarf es einer notwendig zukunftssicheren Verfügbarkeit von Finanzierungsmitteln und sicherlich auch eines ideensystemoffenen Auftretens des Instituts.

Was verbindest du mit dem DISS?

A huge feeling of gratitude for, first of all, the warmth of its people. The four months I spent in Duisburg come back to my memory constantly. You might not believe it, but you will if --sorry if it sounds silly-- you think that the knowledge I then acqui- red comes to the surface every time I do teaching or research around Critical Discourse Analysis (unavoidable in Journalism), and that brings along our meetings, talks, din- ners and breakfasts! The CDA I learned at DISS is itself the second link and reason to thank you. Again the seminars, the talks (and my battle not to loose a word, Was für eine Menge deutsch habe ich dabei gelernt!!!) come to my mind. Not just ‚Discourse is the flow of knowledge through time‘, it is for me a deep human link with you all. I know I will forget some names, but let me remember all those hours I spend with Sigi, Margarete, Ina, Gabi, Frank, Peter, Martin, Iris,... with or without curry- würst mit pommes (or that roasted leg Frank cooked so well)! Or the Kartofeln Kis- te! [I have to come back to cook another (modest) paella for all of you! I am in debt.] Xavi Giro Was wünschst du dir zukünftig vom DISS? Journalist und Professor an der Universitat Autònoma de Barcelona Once I heard a poet to say that he had a clear defeat in life. „Why?“ asked another. „Be- cause I succeeded in this ill society“, he point out. Ok, ok, ok. We don‘t need to be cata- strophist. What I mean is: I wish the DISS keeps going helping to change our societies, carrying out research that is action, and from which we can learn more and apply it in our cases. Just that, rowing against the flow. Without the DISS our research on media and migration, racism, sexism and violence, would be less than what it has been. Margret, Sigi, ich umarme euch!!!