SERIE

20 Jahre Oslo-Abkommen

Frieden verhandeln, Konflikt verwalten?

Inhaltsverzeichnis

20 Jahre Oslo-Abkommen – Frieden verhandeln, Konflikt verwalten? 2 Stärke zeigen, um sicher sein zu können – Interview mit dem israelischen Schrift- steller Aharon Megged 5 „Oslo war ein Versagen der Palästinenser“ – Interview mit dem palästinensischen Intellektuellen Ghasub Nasser 9 Die palästinensische Wirtschaft zwischen Besatzung und internationaler Abhän- gigkeit 12 Die Hamas und der Osloprozess – Ablehnung, Kooperation und Partizipation 16 „Wir sind noch nicht am Ende dieser Geschichte” – Uri Avnery zum 90. und Oslo zum 20. 21 „Unser München heißt Oslo“ – Interview mit dem Siedler-Aktivisten Elyakim Haetz- ni 24 und die Oslo-Abkommen: große Interessen, wenig Unterstützung 28 Die palästinensische Befreiungsbewegung und was davon übrig bleibt 32 Internationales Recht, Un-Recht und die Besatzung Palästinas 36 Zusammen, getrennt: Ansätze zur Ein-Staaten-Lösung 46

www.alsharq.de 20 Jahre Oslo-Abkommen – Frieden verhan- 2 deln, Konflikt verwalten?

Vor 20 Jahren wurden die Oslo-Abkommen unterzeichnet. 20 Jahre, in denen viel passiert ist. Oder nur ganz wenig. Denn eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts wurde bisher nicht gefunden. Was also hat der Oslo-Prozess bewirkt? Darauf werden wir in einer Alsharq-Serie aus einer Vielzahl von Perspektiven eingehen. Wir freuen uns auf eine interessante Diskussion mit Euch. SERIE

Am 13. September 1993 wurde im Garten des Geschichtsträchtige Verhandlungen Weißen Hauses die „Prinzipienerklärung über Mit der Prinzipienerklärung von 1993, auch vorübergehende Selbstverwaltung“ unter- Oslo 1 genannt, akzeptierte Israel die PLO zeichnet. Der israelische Premierminister Yitzak als offiziellen Vertreter der palästinensischen Rabin und Yassir Arafat, Chef der Palästinen- Bevölkerung. Im Gegenzug erkannte die PLO sischen Befreiungsorganisation (PLO), reichten das Existenzrecht Israels an und schwor offiziell sich medienwirksam die Hände. Das war der der Gewalt gegenüber Israel ab. So wurde in Beginn einer Reihe von Abkommen, durch die dieser Erklärung bereits die anhaltende Asym- der Nahostkonflikt schrittweise gelöst werden metrie bestätigt, die die Verhandlungen seit- sollte. Weil die Erklärung Ergebnis von Geheim- her bestimmt. Eine „gerechte, dauerhafte und verhandlungen war, die unter norwegischer umfassende Friedensregelung“, wie es in der Vermittlung in Oslo stattfanden, wird seither Präambel der Abkommen heißt, ist so bisher vom „Oslo-Friedensprozess“ gesprochen. unmöglich: Indem nämlich die Vertreter des 20 Jahre sind seither vergangen. Doch was hat Staates Israel eine palästinensische Organisati- der Prozess bewirkt, der die Grundlage für ei- on akzeptierten, um mit ihr über das Entstehen nen palästinensischen Staat an der Seite Israels eines palästinensischen Staates zu verhandeln, schaffen sollte? Zwei Staaten für zwei Völker verlief dessen Entstehen nach israelischen – das war die viel beschworene Prämisse. Aber Vorgaben. wie lässt sich dieser Prozess beurteilen, der Denn die Punkte, die für eine „permanente eigentlich für eine Übergangsphase von fünf Lösung“ Ausschlag gebend sind, wie der Status Jahren vorgesehen war, im Rahmen dessen , das Rückkehrrecht palästinen- aber unweigerlich Fakten geschaffen werden, sischer Flüchtlinge, die israelischen Siedlungen die bis heute den Friedensprozess behindern? in den palästinensischen Gebieten, der Grenz- So erschwert die anhaltende israelische Besat- verlauf eines palästinensischen Staates sowie zung Palästinas nicht nur das Entstehen eines Fragen von „gemeinsamem Interesse“ (Wasser unabhängigen palästinensischen Staates, sie und Ressourcen), wurden von den Verhand- macht es bis dato unmöglich. Insofern ist Oslo lungen ausgeklammert und seither immer gescheitert. Doch die Bedeutung der Abkom- wieder vertagt. men reicht noch weiter. Sie ist vor allem in Der Oslo-Prozess und dessen Bedeutung sind den Verhältnissen begründet, die den Alltag daher direkt mit den Ereignissen verbunden, der israelischen und palästinensischen Bevöl- die aus dieser Asymmetrie entstanden und für kerung bis heute bestimmen. Einen Einblick die eine politische Perspektive gesucht werden in diese Verhältnisse zwischen Israelis und sollte. Von 1987 bis 1991 begehrte die palästi- Palästinensern, aber auch innerhalb der israe- nensische Bevölkerung in der ersten Intifada lischen wie der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besatzung auf. Im An- versuchen wir in einer Serie zu „20 Jahren Oslo“ schluss daran sollte die administrative Verant- auf Alsharq zu geben. Dafür wollen wir in den wortung im Gazastreifen und dem Westjordan- kommenden Tagen den Oslo-Prozess aus un- land auf die Palästinenser übertragen werden, terschiedlichen Perspektiven beleuchten. um deren Kontrolle durch das israelische Militär leben, erhielt die PA Sicher- heits- und zivile Autorität. In den B-Gebieten, 21 Prozent 3 des Landes, in dem rund 41 Prozent der Bevölkerung leben, hat die PA zivile Befug- nisse bei israelischen Sicher- heitsautoritäten. Die C-Ge- biete, knapp 62 Prozent des Landes, in dem vier Prozent der palästinensischen Bevöl- kerung und rund 350,000 is- raelische Siedler leben (sowie rund 190,000 im annektierten Ost-), unterstehen weiter kompletter israelischer Kontrolle. Diese Einteilung war ei- gentlich vorläufig und für eine Übergangsphase von fünf Jahren vorgesehen, um palästinensische Befugnisse graduell zu erweitern. Doch auch 20 Jahre später ist es nicht dazu gekommen. Statt- dessen sprechen israelische Verschwindende Hoffnung? Foto: Tobias Pietsch Politiker mittlerweile davon, die C-Gebiete zu annektieren, einzuschränken. Dafür wurde im Gaza-Jericho weil dort ohnehin kaum mehr Palästinenser Abkommen von 1994 die Palästinensische Au- wohnten und viel mehr Israelis siedeln. tonomiebehörde (PA) gegründet. Während die Prinzipienerklärung eine Woche „Talks about talks“ nach der Unterzeichnung in Washington vom Der „Oslo-Prozess“ ist auch immer von inner- israelischen Parlament mit einer knappen gesellschaftlichen Spannungen geprägt. Mit Mehrheit ratifiziert wurde, scheiterte Arafat bei der PA ist durch Oslo ein aufgeblähter Verwal- seinem Versuch im PLO-Exekutivkomitee ein tungsapparat entstanden, der allerlei inter- entsprechendes Quorum zur Ratifizierung der nationale Unterstützung und vor allem auch Prinzipienerklärung zu erreichen. Auch hat es finanzielle Hilfe erhält. Dadurch wird aber die auf beiden Seiten nie eine Volksabstimmung zivile palästinensische Befreiungsbewegung gegeben, um dem Bemühen um Frieden eine nach offiziellen Vorgaben eingeschränkt und breite legitime Basis zu verschaffen. haben die 6,5 Millionen palästinensischen In dem „Interimsabkommen über das West- Flüchtlinge keinerlei politische Repräsentation. jordanland und den Gazastreifen“ von 1995 Seit dem gewalttätigen Konflikt zwischen der (kurz: Oslo 2) wurden der PA autonome Regie- Hamas und der Fatah, den beiden stärksten rungskompetenzen zugesprochen. Dafür zog palästinensischen Fraktionen, im Anschluss an sich das israelische Militär aus 65 Prozent des die letzten Parlamentswahlen von 2006, ist der Gazastreifens zurück und das Westjordanland Gaza-Streifen zudem faktisch vom Westjordan- wurde in drei Verwaltungszonen aufgeteilt. In land geteilt. Diese Spaltung hält bis heute an. den sogenannten A-Gebieten, was rund 17 Pro- Und auch in Israel führte der Oslo-Prozess zu zent des Westjordanlandes entspricht, in dem innergesellschaftlichen Konflikten. Während 55 Prozent der palästinensischen Bevölkerung viele Israelis die Oslo-Abkommen als eine große Chance für den israelisch-palästinensischen oder das, was davon übrig bleibt, für Israelis Frieden sahen, hatten diese Abkommen und und Palästinenser heute bedeutet. Der Konflikt 4 seine Inhalte auch viele Gegner. Kaum zwei scheint nämlich für viele Israelis mittlerweile Monate nach der Unterzeichnung von Oslo in den Hintergrund gerückt zu sein, weil ins- 2 wurde Yitzak Rabin von einem rechtsradi- besondere die Bevölkerung im Zentrum des kalen jüdischen Studenten erschossen. Rabins Landes nicht (mehr) darunter leidet. Dagegen Nachfolger wurde Schimon Peres, der bei den ist die palästinensische Bevölkerung der Besat- Parlamentswahlen von 1996 jedoch Benjamin zung und dem damit einhergehenden Konflikt Netanjahu von dem rechtskonservativen Likud um Leben, Land und Ressourcen alltäglich

SERIE unterlag. Unter Netanjahus Regierung wurde ausgesetzt. die israelische Sicherheits- und Siedlungspolitik Die unterschiedlichen politischen, wirtschaft- seither intensiviert. lichen und sozialen Faktoren, die damit zu- Im Juli 2000 wurde unter der Vermittlung der sammen hängen, wollen wir in der Serie be- USA ein weiteres Mal auf großer Bühne ver- leuchten. Um die Entwicklung in Israel und den sucht eine Übereinkunft über einen perma- palästinensischen Gebieten zu erfassen, haben nenten Status zu finden. Am 25. Juli wurden wir Interviews mit Israelis und Palästinensern die Camp David Verhandlungen jedoch ohne geführt, viele Stimmen aus der Region gesam- Übereinkunft abgebrochen. Beide Seiten melt, aber auch eigene Beiträge zu internatio- beschuldigten sich später gegenseitig, für das nalem Recht und Unrecht der Besatzung Palä- Scheitern verantwortlich zu sein. An der Situati- stinas oder der Idee eines binationalen Staates on vor Ort änderte sich daher kaum etwas. Mit verfasst. der zweiten Intifada, die von 2000 bis Anfang Wir hoffen, dass unsere Beiträge Euer Interesse 2005 andauerte, im Zuge derer 1010 Israelis wecken und freuen uns über viele Kommen- und 3354 Palästinenser ums Leben kamen, war tare, Anregungen und Diskussionen auf eine endgültige Lösung des Konflikts wieder in weite Ferne gerückt. Mittlerweile durchzieht www.alsharq.de. die israelische Sperranlage weite Teile der besetzten Gebiete. Sie soll Israels Sicherheit gewährleisten. Für viele Palästinenser ist die „Mauer“ dagegen ein Faktum der Besatzung. Seither wird immer wieder versucht, Verhand- lungen zu initiieren. „Talks about talks“ heißt das. So auch dieses Jahr. Doch weil auch die Pendeldiplomatie von US-Außenminister die Asymmetrie zwischen den beiden Seiten verfestigt, sind die Hoffnungen auf einen nachhaltigen Ausgleich gering. So fordert die US-Regierung bezeichnender Weise, Palästi- nenser sollten nicht „feindlich“ auf den Ausbau israelischer Siedlungen reagieren, weil deren Reaktion die Verhandlungen gefährden würde; das Bemühen der Palästinenser um internati- onale Unterstützung – nicht etwa der Ausbau der Siedlungen – würde den „Friedensprozess“ behindern.

Alsharq-Serie In unserer Serie wollen wir daher versuchen, einen Einblick in den Alltag zu geben, der von diesen Verhältnissen geprägt ist. Dabei interes- siert uns vor allem, was der „Friedensprozess“, Stärke zeigen, um sicher sein zu können – Inter- view mit dem israelischen Schriftsteller Aharon 5 Megged

Aharon Megged, der mehr als 30 Bücher schrieb, ist einer der berühmtesten Autoren Israels. Seine dezidierte Meinung zum Nahost-Konflikt weicht von der vieler linksliberaler Schriftsteller-Kollegen ab, findet dafür aber viel Anklang im israelisch-jüdischen Mainstream. Im Angesicht der anhaltenden arabischen Bedrohung müsse Israel militärische Stärke demonstrieren, um weiter als Staat bestehen zu können, so Megged.

Alsharq: Herr Megged, verstehen Palästinen- Dort steht immer unabänderlich das Gleiche: ser oder palästinensische Intellektuelle Israel? die Juden haben kein Recht, hier zu sein! Die Aharon Megged: Es herrscht große Unwissen- antisemitische Propaganda ist schrecklich: die heit vor. Sie kennen weder die Geschichte des Juden werden mit Nazis verglichen, obwohl die jüdischen Staates oder des Zionismus, noch Araber während des Zweiten Weltkriegs auf wird diese Geschichte akzeptiert. deren Seite standen. Sie haben zwei Gesichter: ein diplomatisches und das populäre, welches Zum Beispiel der Teilungsplan durch die Ver- darauf abzielt, uns Juden loszuwerden. Daran einten Nationen 1947, der von den Arabern ab- habe ich keinen Zweifel. gelehnt wurde. Wir nahmen ihn an – sie nicht. Aber sie erinnern sich nicht oder wollen sich Sie scheinen überzeugt, dass das Ziel der palä- nicht daran erinnern, dass sie uns angegriffen stinensischen Führung die Zerstörung Israels und uns mit der völligen Ausrottung bedroht ist. haben. Stattdessen erinnern sie sich nur an die Ja, ohne Zweifel! Besonders, da sie das selbst Naqba, was ihr größtes Unglück bedeutet. erklärt haben. Sie verstecken das nicht. Sie Ohne Zweifel, Palästinenser litten viel, weil so sagen zu ihren Leuten, dass sie so lange ne- viele von ihnen das Land verlassen mussten, ben dem jüdischen Staat leben würden, bis sie ihre Dörfer zurückließen – aber sie lehnen jede stärker sind, um ihn zu zerstören. Was sollen wir mögliche eigene Schuld daran ab. tun? Die einzige Hoffnung ist, dass wir so stark Selbstverständlich ist es zutreffend, dass es werden, dass sie von dieser Mond-Ideologie Vertreibungen während des Krieges gab. Aber Abstand nehmen. die Palästinenser müssen verstehen, in welcher Welche Herausforderung bedeutet dies für Sie Position wir zu dieser Zeit waren. Es ging um als Intellektuellen? Leben oder Tod. Wenn die Araber den Krieg gewonnen hätten, wäre nicht nur „ein“ Krieg Ich kann nicht entsprechend dem Gedanken verloren gegangen, sondern es hätte das Ende handeln, dass sie uns zerstören wollen. Bemü- des jüdischen Staates bedeutet und wir wären hen muss ich mich, damit sie das Stadium errei- total ausgerottet worden. chen, dass sie feststellen, dass dies unmöglich sein wird und dass die Wirklichkeit stärker ist Akzeptieren die Palästinenser heute die Exi- als ihre dämonischen Träume. Wir müssen stark stenz Israel? sein, es gibt keine andere Wahl.

Wenn Sie mit Diplomaten sprechen, würden di- Sie meinen also, Israel muss militärisch allen ese sagen, dass sie Israel neben einem palästi- Nachbarstaaten überlegen sein? nensischen Staate anerkennen. Aber die Wahr- heit kommt in den Aussagen auf Arabisch zum Schauen Sie sich an, was in der Welt seit Jahr- Vorschein. Sie müssen palästinensische Medien zehnten passiert. Ich bin entsetzt, in den Me- und besonders ihre Schulbücher anschauen. dien zu sehen, wie Israel für das Verteidigen seiner Rechte angegriffen wird. Das steht in Sobald Israel militärisch aktiv wird, fordern keinem Verhältnis zu weltweiten Reaktionen auf der ganzen Welt Menschen einen Stopp 6 auf irgendeinen anderen Kampf gegen Terroris- der Militäraktionen? mus. Sie sehen keine Demonstrationen in Fran- Stellen Sie sich im Zweiten Weltkrieg einen kreich oder Australien gegen die USA, selbst BBC-Korrespondenten in Hamburg und Frank- wenn zum Beispiel viele tausend Menschen in furt vor, der schreiende und sterbende deut- Afghanistan getötet wurden. sche Kinder, Mütter und Verletzte fotografiert. Was würden Sie zu dieser Zeit gesagt haben? Dass die Briten und die USA den Krieg wegen

SERIE der Grausamkeiten an Deutschen stoppen sollten? Aber das ist genau das, was geschieht, wenn Leute sehen, wie wir den Terrorismus bekämp- fen. Es stimmt, dass wir Häuser in arabischen Städten zerstören. Aber kann die Lösung sein, dass wir den Kampf gegen den Terror beenden, weil die Unterstützer des Terrorismus leiden? Sie leiden, weil ihre Führung sie nicht stoppt!

Was verstehen Menschen außerhalb Israels ihrer Meinung nach nicht in diesem Konflikt? Sie müssen sich daran erinnern, dass wir nie zuerst angegriffen haben, nicht während der Intifada und nicht früher. Wenn Araber getötet werden, dann nur in Reaktion auf ihre Terror- Megged, Jahrgang 1920, emigrierte mit seinen El- angriffe gegen uns. Viele realisieren nicht, dass tern 1926 von Polen in das Britische Mandatsgebiet ein großer Unterschied besteht zwischen dem Palästina. Sieben Jahre lang stand er dem israe- absichtlichen Terror gegen unschuldige Leute lischen PEN-Club als Präsident vor. Auf Deutsch er- und dem Töten aus Selbstverteidigung. schienen zum Beispiel seine Romane „Das fliegende Die Kugeln der Armee zielen nur auf Angreifer Kamel mit dem goldenen Höcker“ (bei DTV) und – und nie gegen Unschuldige. Die Armee unter- „Fojglman“ sowie die Erzählung „Heinz, sein Sohn liegt starken Beschränkungen, die uns viele und der böse Geist“ (beide bei Bleicher). Leben gekostet haben, weil unsere Soldaten Foto: Tobias Raschke angehalten sind, das Töten unschuldiger Men- schen unter fast allen Umständen zu vermei- den. Das bedenken die meisten Leute nicht. Warum reagiert die Weltöffentlichkeit so? Gegen uns agiert ein ganzer Strom von Anti- Der Krieg von 1967 zeigte doch aber bereits semitismus. Dies ist eine tief verwurzelte Ten- eindeutig, welche Konfliktpartei militärisch denz, die seit Hunderten von Jahre besteht. die stärkere ist. Daher gibt es seitdem auch Nach dem Zweiten Weltkrieg fühlten die Leute viele Stimmen in der israelisch-jüdischen Ge- sich unbehaglich, negativ über Juden oder sellschaft, die die Besetzung und die Besied- Israel zu sprechen. Oft wurde Kritik wegen der lung der Gebiete als Fehler sehen. Erinnerung an die Shoah (hebr.: Holocaust) Menschen vergessen immer wieder, dass dieser unterdrückt. Doch jetzt, nach einigen Jahr- Krieg anfing, weil uns die totale Zerstörung zehnten, glauben Viele, dass es Zeit sei, das Rad durch all unsere Nachbarländer angedroht wur- zurückzudrehen. Die Gelegenheit scheint we- de. Deren Ziel war es, uns ins Meer zu treiben. gen des gräulichen Kampfes von Israel gegen Sie dachten, dass sie ziemlich einfach gewinnen die „unschuldigen“ Palästinenser günstig, um würden, ohne dass von uns irgendetwas übrig alle anti-jüdischen Gefühle wieder auferstehen bleiben würde. Es war also ein Verteidigungs- zu lassen. krieg und als Gewinner blieben wir temporär in den Gebieten. Der Humorist Kishon witzelte Kurt Tuckolsky, Döblin, Hermann Broch – ihr über die Beschwerden, dass wir die Gebiete eigenes Judentum verleugneten. Tragischer- hielten: „Entschuldigung, entschuldigt bitte, weise war es für viele von ihnen zu spät, sich 7 dass wir den Krieg gewonnen haben!“ zu retten – und sie fielen den Nazis zum Opfer. Seitdem belasten sich viele Intellektuelle und Dieser Aspekt der jüdischen Schwäche sickerte Schriftsteller mit Selbst-Anklagen. Sie denken, meiner Ansicht nach auch in dieses Land ein, dass wir eine große Sünde begehen. Es gab obgleich wir auf uns selbst so stolz waren und sehr extreme Ausdrücke dieser Tendenz und dachten, dass es nie dazu kommen würde. starke Forderungen, die Westbank aufzuge- Dabei sägen mittlerweile auch die „Neuen Hi- ben, bis hin zur Wehrdienstverweigerung. Es storiker“ am historischen Bild des Zionismus. gab einen Prozess in Israel. Dabei haben wir langsam das Vertrauen in uns selbst und den Einige Professoren – Historiker – begannen, auf Glauben verloren, dass es unser Recht war, zu die Geschichte des Zionismus zurückzuschauen kommen und in Palästina zu siedeln. Es begann und kamen zu sehr merkwürdigen Ergebnissen, nach dem großen Sieg im Sechs-Tage-Krieg die in den 1920er und 30er Jahren ausschließ- 1967. Wir blieben in der Westbank, obwohl es lich von Kommunisten vertreten wurden. Sie nicht unsere Absicht war, diese zu annektieren. beschuldigten den Zionismus, dem Kolonia- Einige Intellektuelle dachten damals, dass wir lismus gleich zu sein. Kolonialismus bedeutet, den Arabern Böses antun, wenn wir uns nicht ein Land zu erobern, um seine Ressourcen und sofort zurückziehen. Allerdings gab es gar kei- Eingeborenen auszunutzen. Der Zionismus nen Staat, dem wir das Land hätten zurückge- vertritt aber etwas ganz anderes: Von Anfang ben können: Jordanien beanspruchte es nicht an beinhaltete sein Ethos die Hoffnung, neben mehr und es gab gar keine palästinensische den Arabern zu leben und nicht, sie zu erset- Autorität. Wir blieben dort und wir hatten das zen, sondern ihnen zu helfen, sich zu entwi- Recht dazu. ckeln. Vom Kolonialismus ist der Zionismus also weit entfernt. Einige Linke in Israel sehen das anders. Eine der Grundideen des sozialistischen Zio- Das ist eine Illusion! Aber es gab immer Illu- nismus war, eine Revolution im jüdischen Volk sionen in unserer Geschichte, da man nicht durchzuführen: die „Luftmenschen“ in der Dia- glauben wollte, dass der Feind wirklich so böse spora zu arbeitenden und produktiven Leuten war – sogar zu Hitlers Zeit glaubten es Leute in ihrem eigenen Land zu machen. Dazu gab es nicht. Das ist eine menschliche Eigenheit, das einen Slogan der „Eigen-Arbeit“, entsprechend Schlechte nicht sehen zu wollen. Wenn Sie hof- dessen arabische Arbeiter nicht in unseren fen möchten, täuschen Sie sich selbst. Farmen angestellt werden sollten, damit aus den einwandernden Juden Arbeiter werden Sympathisieren „linke“ Intellektuelle mehr würden. mit den Opfern der Nachbarn als mit Israels eigenen Opfern? Die „Neuen Historiker“ begannen, die Grund- lage des Zionismus vollständig in Frage zu Jüdischer Selbsthass hat durchaus eine Tradi- stellen und beeinflussten damit viele Men- tion in unserer Geschichte, da es immer Juden schen, denen es an Selbstsicherheit mangelt. gibt, die dazu neigen, unsere Feinde zu recht- Das schwächt uns. Aber was die Masse der fertigen, darunter sogar Antisemiten, wie insbe- „einfachen Leute“ betrifft, die leben entspre- sondere in Österreich und Deutschland im 19. chend ihren wahren Instinkten, und es gibt Jahrhundert. Die Assimilation brachte Juden einen starken Instinkt der Selbsterhaltung im dazu, gegen ihre eigenen Brüder zu sprechen, jüdischen Volk. im Wunsch, akzeptiert und gemocht zu werden und den Nicht-Juden zu ähneln. Es gibt ein Die meisten auch außerhalb Israels be- Buch des Historikers Frederick Greenfield („Pro- kannten Schriftsteller assoziieren sich aber pheten ohne Ehre“), welches eine lange Liste eher mit der israelischen Linken. der deutschen Juden enthält, die – wie Mahler, Ich denke, das trifft auf viele Länder zu, auf Schoenberg, Karl Marx, Marcuse, Ernst Toller, Deutschland, Frankreich und sogar die USA. Es ist sehr schwierig zu definieren, was „links“ in akzeptierten, was sie hörten, und verteidigten Israel bedeutet. Heutzutage bedeutet dieses sich nicht gegen die Anklagen, sondern gaben 8 „links“ eine Tendenz, die Forderungen der Ara- ihnen Recht. Mea culpa, mea maxima culpa. ber zu rechtfertigen. Diejenigen, die als „links“ angesehen werden, sind meistens für einen Vor diesem Hintergrund, wie sehen Sie den Rückzug aus den besetzten Gebieten (dem Oslo-Prozess im Rückblick? Westjordanland, dem Gazastreifen und Ostjeru- Anfangs gehörte ich zu den Befürwortern, weil salem), um einen palästinensischen Staat her- ich grundsätzlich eine Verhandlungslösung an- zustellen. Traditionsgemäß bedeutet es jedoch strebe. Prinzipiell bin ich für den Rückzug von

SERIE eigentlich, die Ideale des sozialen Fortschritts, fast den gesamten besetzten Gebieten. Gleich- der Gleichheit undsoweiter hochzuhalten. Die- zeitig bin ich aber dagegen, alle Siedlungen se Themen spielen allerdings keine Rolle unter aufzugeben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass den hiesigen „linken“ Intellektuellen. ein großer Teil von Eretz Israel, in unserem von der Bibel geprägten historischen Land, auf das Haben Sie irgendwann Ihre Meinung zum Zio- sich alle zionistischen Hoffnungen und Träume nismus geändert? bezogen, „judenrein“ sein wird. Es kann nicht Meine Ansicht vom Zionismus war immer sein, dass das Land, in dem unsere Kultur gebo- dieselbe. Ich bin ein Zionist und sicher, dass ren wurde, für Juden gesperrt sein soll. die Gerechtigkeit in Bezug auf die Araber auf unserer Seite steht. Wir sind der einzige Staat Wie könnte eine Lösung stattdessen ausse- in der Welt, der von den meisten islamischen hen? Staaten nicht anerkannt wird. Das liegt daran, Der Schlüssel zu einer Lösung liegt meiner dass wir der einzige jüdische Staat in der Welt Meinung nach darin, den jüdischen Siedlungen sind. Und ich denke, dass uns niemand helfen in einem Staat Palästina Autonomie zukommen wird, wenn wir uns nicht selbst behaupten. zu lassen. Natürlich haben die Palästinenser das Recht auf einen Staat, den sie bisher noch Kennen Sie arabische Intellektuelle? nie hatten. Aber die „Palästinensische Nation“ Ich traf einige Male palästinensische Schriftstel- bildete sich erst, nachdem der Zionismus zur ler, zusammen mit anderen israelischen Auto- Realität geworden war. Vorher gehörten die ren. Sieben Jahre stand ich dem israelischen Araber in Palästina zu Syrien. Die genauen PEN-Club als Präsident vor und in dieser Funkti- Grenzen dieses Staates werden aber erst noch on schrieb und appellierte ich häufig nicht nur ausgehandelt werden müssen. an palästinensische, sondern auch an ägyp- tische und andere arabische Autoren, sich auf einen Dialog mit Israel einzulassen. Doch dieser Vielen Dank für das Gespräch. Appell wurde immer grundsätzlich abgelehnt. In den 80er Jahren traf ich auf einem PEN-Kon- Das Interview führte Tobias Raschke, zu errei- gress in Wien zwei ägyptische Repräsentanten, chen unter [email protected]. die sich sogar weigerten, uns zu grüßen. Kommentiert den Artikel unter: Wie sahen Begegnungen zwischen israe- http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ lischen und palästinensischen Intellektuellen aus? In Israel und in den besetzten Gebieten, in Ramallah, liefen die Sitzungen immer nach dem gleichen Muster ab: die arabischen Au- toren lasteten uns all ihre Probleme an – ohne sich jemals selbst für irgendetwas zu tadeln, nicht einmal für die Ermordung von Juden vor dem Sechs-Tage-Krieg. Die Schuld lag immer auf der israelischen Seite. Das ist traurig ge- nug, doch einige meiner israelischen Kollegen „Oslo war ein Versagen der Palästinenser“ – Inter- view mit dem palästinensischen Intellektuellen 9 Ghasub Nasser

Der Ingenieur Ghasub Nasser gehört keiner palästinensischen Partei an, sondern dem intellektuellen Selbstverständnis nach nur der „säkular, demokratischen, unparteiischen Fraktion Palästina“. Der lutheranische Christ engagiert sich seit Jahrzehnten für die Befreiung Palästinas und lehnte daher den Oslo-Prozess von Anfang an ab. Die Lebenssituation der meisten Palästinenser hat sich mit Oslo verschlechtert. Nasser hat dies vorausgesehen und spricht als eine authentische und scharfsinnige Stimme Palästinas für viele vom „Friedens-Prozess“ bitter Enttäuschte.

Alsharq: Herr Nasser, schon 1993 kritisierten Sie den Oslo-Friedensprozess. Warum? Ghasub Nasser: Als ich die Vertragstexte von Oslo gelesen habe, stellte ich fest, dass die palästinensischen Politiker versagt haben. Das hätten wir Palästinenser nicht akzeptie- ren sollen, solange wir keine Möglichkeit zum Widerstand haben. Dabei ist Widerstand nicht nur Gewalt, sondern hat viele Gesichter, wofür die Palästinenser das passende hätten erfinden müssen.

Mittlerweile prägen viele Palästinenser jedoch auch unterschiedliche Formen des friedlichen Widerstands und zivilen Ungehorsams. Was werfen Sie dagegen den palästinensischen Politikern und Arafat genau vor? Sie sind auf Oslo eingegangen, ohne zu berück- sichtigen, was darauf folgen wird. Sie haben unerfahrene Leute zu den Verhandlungen geschickt. Die Israelis waren dort mit Beratern – Juristen, Geografen und Historikern. Die Ghasub Nasser, Jahrgang 1942, studierte von 1961 palästinensischen Laien unterschrieben das bis 1969 in Deutschland. Durch ein Programm zur Autonomieabkommen sofort. Autonomie? Familienzusammenführung kam er nach Bethlehem Und dennoch dürfen in der Westbank und zurück. Ab 1972 arbeitete er als Unfallverhütungs- Ost-Jerusalem Siedlungen gebaut werden. Den ingenieur für die Zivilverwaltung in den von Israel Palästinensern wird weiter das Leben schwer besetzten Gebieten und daneben ab 1976 an der gemacht, damit sie das Land verlassen. Deswe- Bethlehem Universität als Dozent für Deutsch. Nach gen war ich von Anfang an dagegen. 16 Jahren verlor er seine Stelle „aus Sicherheits- gründen“. Zwei Monate später wurde sein Auto Haben Sie sich damals entsprechend geäu- angezündet und er inhaftiert. Nach der Entlassung ßert? 1991 fand er als Ingenieur keine Arbeit mehr. Heute Mit meiner grünen ID-Karte durfte ich Beth- ist er Direktor einer NGO für Augengesundheit für lehem nach der israelischen Haft, in der ich Bedürftige im Bezirk Bethlehem.

über zwei Jahre wegen angeblich illegaler Foto: Tobias Raschke Umtriebe bis 1991 war, offiziell nicht verlassen. Stattdessen wurde ich zu einer Rundfunk-Dis- und einfach, verzeihungsbereit und vergess- kussion nach Jerusalem geschmuggelt. Bei lich, besonders was Leid angeht. Daher könnte 10 dieser RIAS-Rundfunk-Diskussion unterstützten es sein, dass diejenigen Palästinenser, die Oslo der israelische Araber Dr. Azmi Bischara und unterschrieben haben, es getan haben, weil sie der jüdische Friedensaktivist Uri Avnery Oslo, damals gedacht hatten, es sei der erste Schritt. während sich ein Siedler und ich kritisch dazu „Gaza-Jericho zuerst“, so hieß es damals, beson- äußerten. Ich sagte, wir sollten das Problem lö- ders bei Fatah. Sie sehen heute, wie die Lage sen: 78% des Territoriums vom geographischen aussieht. Abbas ist anders, er hat gelernt, er Palästina für den israelischen und 22% für weiß jetzt, wie man mit den Israelis verhandeln

SERIE den palästinensischen Staat, mit Jerusalem als sollte. Hauptstadt beider Staaten. Dann können wir nebeneinander leben und zusammenarbeiten. Arafat … Anders geht es nicht. Ich meinte, Oslo werde … war ein treuer Palästinenser. Er hat sein den Palästinensern keine Hoffnung geben und Bestes gegeben, so wie er es verstand. Als er keine Lösung weder für Israelis noch für Palästi- nach seinen Beratern gefragt wurde, sagte er: nenser sein. „Ich laufe durch dieses Land mit meinen Füßen. Dafür benötige ich die richtigen Schuhe, da der Warum hat Arafat Oslo dann unterschrieben? Boden voller Dreck ist. Diese Schuhe sind dafür Arafats Analyse hatte eine andere Richtung. Er geeignet.“ Aber diese Leute sind korrupt. hatte vor, heute dieses Gebiet zu nehmen und morgen ein weiteres Stück. Da hat er sich mit Das heißt, Sie stimmen dem Sprichwort zu: Die seinen Beratern geirrt. Komischerweise sind die Palästinenser verpassen niemals die Chance Berater von 1993 bis heute an ihren Positionen: eine Gelegenheit zu verpassen? Chefunterhändler Saeb Erekat, Abu Ala usw. Dazu müssen Sie nur die Kommentare zwi- gehören derselben Schicht an, sie sind Vertre- schen den Zeilen in den palästinensischen ter der Klein-Bourgeoise. Zeitungen lesen. Das sieht man doch. Die In- tellektuellen schreiben die ganze Zeit von den Kamen die Berater alle mit Arafat aus dem verpassten Gelegenheiten in der Geschichte. Exil, die sogenannte Tunis-Fraktion? Schade. Ja, über die Hälfte. Das sind die „Paten von Oslo“, die keine Ahnung von Geographie Wie politisch sind die Menschen in Palästina? hatten. Vielleicht verstehen sie etwas vom Politisch engagiert ist fast jeder Akademiker, Kämpfen, aber nichts von internationalen wie jeder intellektuelle Mensch, der sich in- Gesetzen oder Jura. Sie brachten keine Berater formiert und auf dem Laufenden bleibt. Kein mit, entweder waren sie zu gutherzig oder zu palästinensischer Akademiker interessiert sich blöd – diese „großen Denker“ der Palästinenser. nicht für Politik – sei es im Geheimen oder in Keine Ahnung, wie man das nennen soll. Sie der Öffentlichkeit. hätten von den Israelis lernen sollen. Engagieren Sie sich in einer Partei? Die Beispiele und Chancen hatten sie vor sich. Sie haben alles versäumt und kaputt gemacht. Heutzutage ist es gar nicht ratsam zu erklä- Leider. Ich würde sie nicht des Verrats, sondern ren, zu welcher Partei man gehört. Ich gehöre der uneingestandenen Unwissenheit beschul- keiner Fraktion an, nur der säkular, demokra- digen. Oder ihnen einen Mangel an Erfahrung tischen, unparteiischen Fraktion „Palästina“. und Vorstellungsvermögen vorwerfen. Das war Alle unsere Parteien haben versagt, von den ein Fehler und die palästinensische Geschichte Vertretern der Klein-Bourgeoisie der Fatah bis ist voller solcher Misserfolge. zu den fanatischen Religiösen von Hamas und Islamischen Jihad, wie auch die linksgerichte- Wie geht man als palästinensischer Intellektu- ten Parteien des „Popular Front for the Libera- eller damit um? tion of Palestine” (PFLP) und des „Democratic Die Natur eines Menschen aus dem Orient, also Front for the Liberation of Palestine“ (DFLP). auch die Natur der Palästinenser, ist gutmütig Deshalb gibt es unter den palästinensischen Intellektuellen viele Unabhängige.

Was bedeutet das für Wahlen in Palästina? 11 Wenn man nur die Wahl hat zwischen Fatah und ihrer Korruption sowie Hamas mit ihrem religiösen Fanatismus, dann wähle ich Fatah, da ich säkular orientiert bin. Ich mag keine fana- tisch denkenden Menschen, weder Christen, Juden noch Muslime.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Tobias Raschke, zu errei- chen unter [email protected]. Kommentiert den Artikel unter: http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ Die palästinensische Wirtschaft zwischen Besat- 12 zung und internationaler Abhängigkeit

Auch 20 Jahre nach Oslo ist im Jahre 2013 eine eigenständige, lebensfähige palästinensische Ökono- mie mit voller Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen und mit souveräner Entscheidungsge- walt nicht in Sicht. Die fortwährende israelische Besatzung stellt das zentrale Entwicklungshindernis dar. Für den Großteil der Bevölkerung, insbesondere in Gaza, haben sich die Lebensumstände nicht SERIE verbessert. Nur die jährlichen internationalen Hilfszahlungen, die rund die Hälfte der palästinensischen Wirtschaftsleistung ausmachen, sichern das wirtschaftliche Überleben der Palästinensischen Gebiete.

Im Zuge der Finanzkrise der Palästinensischen beantragen, die Entwicklung des palästinen- Autonomiebehörde (PA) im Herbst 2012 wurde sischen Privatsektors, denn Erlaubnisse wurden von Teilen der Bevölkerung in der Westbank, selten gewährt. die aufgrund ausbleibender Gehälter und Ver- Zum anderem wurde die Wirtschaft aus Ein- schlechterung der wirtschaftlichen Gesamtsitu- kommen ausländischer Herkunft, vor allem ation protestiert hatten, auch die Aussetzung aus Transferzahlungen von palästinensischen des Pariser Protokolls gefordert. Das Protokoll, Gastarbeiten in den Golfländern und in Isra- im Rahmen der Oslo-Abkommen 1994 abge- el, Überweisungen aus der Diaspora sowie schlossen, sollte die zuvor einseitig durch Israel internationaler Hilfe gestützt. So resultierte bestimmten Wirtschaftsbeziehungen in einem das Einkommen im Jahre 1987 zum Ausbruch bilateralen Abkommen für die fünfjährige Inte- der ersten Intifada in der Westbank zu einem rimsperiode festschreiben. Eine eigenständige Viertel und in Gaza zu einem Drittel aus auslän- palästinensische Volkswirtschaft sollte dadurch dischen Transferzahlungen. Eine Abhängigkeit, auf den Weg gebracht werden. die im Laufe der Zeit noch größer geworden ist. Innerhalb des letzten Jahrzehnts haben Die palästinische Wirtschaftsentwicklung internationale Hilfszahlungen um mehr als 500 vor Oslo Prozent zugenommen und betrugen 2012 etwa Nach über 25 Jahren unter israelischer Besat- 3. Mrd. US–Dollar (USD). Mit einem BIP von zung waren die wirtschaftlichen Strukturen nur 6.8 Mrd. USD (Westbank 5.0 Mrd. und Gaza der Westbank und Gazas vor Oslo durch zwei 1.8 Mrd. USD), machen die Transferzahlungen Determinanten geprägt. derzeit fast die Hälfte der palästinensischen Zum einem erfolgte seit der Besetzung 1967 Wirtschaftsleistung aus. eine zunehmende Integration der Gebiete in die stärkere und weiter entwickelte Wirtschaft Das Pariser Protokoll – Aufbau einer palästi- Israels. Dieser ungleiche Konkurrenzkampf nensischen Volkswirtschaft wurde durch eine Vielzahl protektionistischer Im Rahmen der gewonnen Selbstverwaltung Maßnahmen seitens Israels befördert. Während durch Oslo war die PA bestrebt, eine eigenstän- die Westbank und Gaza uneingeschränkt als dige Wirtschaftsstruktur aufzubauen. Politische Absatzmarkt für israelische Produkte dienten, Institutionen des öffentlichen wie des privaten wurden Importe aus Drittländern nach Israel Sektors sollten gegründet und die Infrastruktur eingeschränkt. Palästinensische Exporte wur- ausgebaut werden. Das Pariser Protokoll führte den mit Verweis auf mangelhafte Infrastruktur jedoch nicht zur palästinensischen Selbstbe- und praktische Probleme im Zusammenhang stimmung in Wirtschaftsfragen, sondern beließ mit dem Handel über die von Israel kontrol- sie in einem gemeinsam zu regulierender Be- lierte Außengrenze erschwert. Ferner hemmten reich – eine Tatsache, die sich Israel auf Grund Restriktionen wie die Notwendigkeit, israe- seiner Überlegenheit zu Nutzen machte. Schon lische Erlaubnisse für Investitionsvorhaben zu vier Jahre nach der Unterzeichnung des Proto- Tiefe Wirtschaftskrisen als Folge fortwährender Besat- zung 13 Im Anschluss an die Oslo-Ver- träge hat die israelische Re- gierung die palästinensischen Gebiete graduell abgeriegelt und so Ost-Jerusalem seit Mitte der 1990er Jahre aus der palästinensischen Wirt- schaft herausgelöst. Seitdem benötigt die palästinische Bevölkerung zum Teil Geneh- migungen, um sich in den besetzten Gebieten bewegen zu können. Güter lassen sich nicht mehr frei transportieren und Hauptstraßen dürfen nur sehr eingeschränkt sowie mit zeitaufwändigen Umwegen genutzt werden. Die Folge dieser israelischen Politik nach Oslo waren tiefe Wirtschaftskrisen, verstärkt durch Korruption und Miss- Viele Palästinenser sind auf Hilfe angewiesen. Foto: EU Humanitarian Aid and Civil Protection wirtschaft sowohl innerhalb der PA als auch seitens der kolls resümierte der spätere israelische Außen- politischen Parteien. Seit minister Schlomo Ben Ami, dass die Pariser Ende der 1960er Jahre war Israel zum Arbeits- Erklärung „eine Zementierung der kolonialen markt für eine wachsende Anzahl von palästi- Beziehungen“ zwischen beiden Parteien gewe- nensischen Gastarbeitern geworden. Mehr als sen sei. 115.600 Beschäftigte aus der Westbank und Gaza waren 1992 in Israel tätig und erzielten So beinhaltet das Protokoll eine Klausel zur dort rund 36,6 Prozent des palästinischen Koppelung der Mehrwertsteuer. In der Praxis Lohneinkommens. Der massive Rückgang der bedeutet dies, dass von Israel beschlossene Einkommen aus Beschäftigungsverhältnissen Erhöhungen von der PA nachvollzogen werden in Israel durch die Grenzschließungen in den müssen, selbst wenn sie kontraproduktiv sind. ersten Jahren der Oslo-Abkommen führte zu Einnahmen der PA aus palästinensischen Quel- einer Verringerung des Bruttonationaleinkom- len in Form von Einkommens- und Mehrwert- mens (BNE). Von 1992 bis 1996 fiel das BNE um steuer sowie Zollgebühren werden zunächst von ganze 18,41 Prozent. Israel erhoben und dann an die PA weitergelei- tet, was den israelischen Behörden ein Druck- Verstärkt wurde die angespannte Situation mittel gegen die PA verschafft, das regelmäßig durch ein überproportionales Wachstum der zum Einsatz kommt. Des Weiteren wurden eine Bevölkerung, die mit der Rückkehr von Palä- Anzahl von Punkten, die für die Regelung des pa- stinensern aus der Diaspora bis 1996 um 27,8 lästinisch-israelischen Verhältnisses wesentlich Prozentpunkte anwuchs. Die Folge war ein sind, nicht oder unzureichend und somit zum Rückgang des BNE pro Kopf in dieser Zeit von Nachteil der palästinensischen Gebiete fest- etwa 2.684 auf 1.713 USD, also um mehr als ein gelegt; dies betrifft unter anderem die für den Drittel. Das zwischenzeitliche Wachstum von Agrarsektor existenzielle Frage nach der Teilhabe 1994 und 1995 mit Raten von 11 Prozent des an den limitierten Wasservorkommen. BIP basierte lediglich auf dem Boom im Bauwe- sen, welcher sich als nicht nachhaltig erwies. kott stürzte die PA durch die Aussetzung der Die gewonnene (teilweise) Selbstverwaltung israelischen Transferzahlungen und internatio- 14 hatte somit die wirtschaftliche Lage nicht ver- naler Hilfen wie der EU in eine schwerwiegende bessert, sondern dramatisch verschlechtert. Haushaltskrise.

Ausbruch der zweiten Intifada – die palästi- Wirtschaftspolitische Folgen – eine gezwun- nensische Wirtschaft am Boden gene internationale Abhängigkeit bis heute Im Jahre 1998 erholte sich die Wirtschaft leicht. Seit 2008 ist mit dem Ende dieses Boykotts Waren es im Vorjahr mehr als 60 Tage, an sowie der damit einhergehenden Spaltung zwi-

SERIE denen der Personen- wie Warenverkehr zwi- schen der Westbank und Gaza auf territorialer schen Israel und den besetzten Gebieten für wie auf politischer Ebene ein leichtes, stetiges Palästinenser unterbunden war, so belief sich Wirtschaftswachstum zu beobachten. Verant- die Zahl 1998 auf 14,5 Tage. Ferner konnte die wortlich dafür sind umfangreiche internationa- inländische Beschäftigung angeregt werden, so len Finanzhilfen sowie die Sicherheitskoope- dass der IWF in seinem Jahresbericht von einer ration zwischen der PA und Israel. Die auf den „significant recovery“ sprach. Doch wurde mit ersten Blick kräftigen Wachstumsraten in den dem Ausbruch der zweiten Intifada im Septem- Jahren 2009 und 2010 müssen allerdings zum ber 2000 die asymmetrische Interdependenz extrem niedrigen Ausgangsniveau in Bezug der palästinensischen und der israelischen gesetzt werden: zwischen 2000 und 2008 brach Wirtschaft abermals sichtbar, denn infolge der das BIP um 38 Prozent ein. verschärften Abriegelungspolitik Israels kam Entscheidende Schritte im Bemühen um eine die palästinensische Wirtschaft fast vollständig lebensfähige palästinensische Wirtschaft stell- zum Erliegen. Der Aufschwung war zunichte. ten die mit der Weltbank organisierten Geber- Israel setzte den im Pariser Protokoll vereinbar- konferenzen dar. So wurden 2008 und 2010 ten Transfer von Steuer- und Zolleinnahmen an vier Mrd. bzw. 848 Mio. USD für Projekte in der die PA aus, die bis zu zwei Drittel der Einkünfte Westbank und Gaza bereitgestellt, darunter im Staatshaushalt ausmachten. Die Arbeitslo- Finanzmittel für den Wohnungsbau und für sigkeit stieg auf über 40 Prozent und Investi- die palästinensische Industrie. Infolge dessen tionen wurden zurückgezogen. Die Vereinten wuchs das BIP pro Kopf in der Westbank von Nationen schätzten Ende November 2000, dass 2008 bis 2011 um fast ein Fünftel, von 1.620 die Inlandsproduktion im Vergleich zu Septem- auf 2.037 USD an. Das deutsche Pro-Kopf-Ein- ber um die Hälfte sank. Während der Intifada kommen betrug zum Vergleich im Jahre 2011 beliefen sich die palästinensischen Importe auf 38.400 USD und war damit um den Faktor 23 64 Prozent des BIP, die Exporte lediglich auf bzw. 19 größer als das palästinensische. 10,5 Prozent des BIP. Die Nicht-Teilhabe am Im Jahre 2011 erhielt die PA jedoch mehr als israelischen Arbeitsmarkt reduzierte die Rück- 500 Mio. USD weniger an Hilfszahlungen als überweisungen und das hohe Handelsdefizit erwartet – und notwendig. Ferner blockierten konnte nicht mehr wie in den Jahren vor Oslo die USA 200 Mio. USD ihrer Haushaltshilfe an weitgehend ausgeglichen werden. An ihre Stel- die PA auf Grund von Uneinigkeit im Kongress le rückten internationale Geberländer, die die bezüglich Palästinas Aufwertung durch die Ver- PA finanziell unterstützen. Deren Zahlungen einten Nationen. Israel reagierte seinerseits auf stiegen von 2000 bis 2008 von 18 auf 58 Pro- die palästinensischen Bemühungen um Staat- zent des BIP. lichkeit, indem über 100 Mio. USD an Steuergel- In der zweiten Jahreshälfte 2005 verlangsamte dern nicht überwiesen wurden. Die PA lieh sich sich das Wirtschaftswachstum erneut, nachdem das fehlende Geld in Teilen von lokalen Banken es sich zum Ende der zweiten Intifada stabili- und der privaten Wirtschaft. siert hatte. Israel riegelte die Gebiete während Infolge dessen schwächte das Wachstum der Räumung seiner Siedlungen in Gaza wie- ebenfalls erneut ab. Das BIP pro Kopf nahm im derholt ab. Auch im Anschluss an den Sieg der Vergleich zum Vorjahr nur noch um 2,7 Prozent Hamas in den Parlamentswahlen 2006 wurde zu, da auch die Rücküberweisungen aus dem die PA wirtschaftlich boykottiert. Dieser Boy- Ausland um drastische 16,5 Prozent fielen. Die Arbeitslosenquote stieg von 20,9 Prozent im Entscheidungsgewalt nicht in Sicht. Die noch Jahr 2011 auf 23 Prozent 2012, bei besonders immer andauernde Besatzung der Westbank hoher Jugendarbeitslosigkeit – ein knappes und die Blockade des Gazastreifens behin- 15 Viertel der potentiellen Erwerbspersonen stand dern den Handel zwischen den verschiedenen ohne Anstellung da. Ein wirtschaftlicher Kollaps Teilen der Westbank und Gaza, zwischen Israel konnte abermals nur mit Zahlungen aus dem und den palästinensischen Gebieten sowie Ausland, in diesem Falle aus Saudi-Arabien und zwischen den palästinensischen Gebieten seitens der EU, gestoppt werden. Die für die und dem Ausland. Somit sind die Gebiete in Wirtschaft wie die PA notwendigen Hilfszah- immer größerem Maße isoliert und von Hilfs- lungen scheinen für das Jahr 2013 erst einmal zahllungen der internationalen Gemeinschaft gesichert. Die Rückkehr an den Verhandlungs- abhängig. Dabei reagieren sie höchst sensibel tisch mit Israel bescherte der PA – quasi als auf politischen Druck Israels, Steuergelder Belohnung – zusätzliche internationale Hilfs- zurückzuhalten und die Westbank abzuriegeln. gelder, insbesondere durch die USA. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich ein erneutes völliges Erliegen der palästi- Mangel an allem: Die Wirtschaft in Gaza nischen Wirtschaft wiederholt. Auch in Gaza zog die Wirtschaft zunächst an. Ein Wachstum im Bereich der Privatwirtschaft Das BIP pro Kopf stieg von 2008 bis 2011 von wäre für eine nachhaltige Verbesserung der 886 auf 1.042 US-Dollar, liegt jedoch noch wirtschaftlichen Situation entscheidend. Solan- immer unter den Werten Mitte der 1990er ge der PA vor allem der Zugang zu 60 Prozent Jahre. Organisationen der Vereinten Nationen des Gebiets der Westbank versperrt und somit sprechen daher von einem „De-Development“: Barrieren für den Privatsektor bestehen blei- 60 Prozent der Bevölkerung haben keinen ben, gibt es kaum Entwicklungsperspektiven. Zugang zu sauberem Trinkwasser und 80 Pro- Die C-Gebiete mit ihren landwirtschaftlichen zent müssen eine Form von Unterstützung in und industriellen Nutzflächen und natürlichen Anspruch nehmen. Seit der israelischen Abrie- Ressourcen stellen dabei den Schlüssel für eine gelung im Jahr 2007 ist die Wirtschaft Gazas größere Unabhängigkeit der palästinensischen von der Einfuhr humanitärer Hilfsgüter und Wirtschaft und die Lebensfähigkeit eines pa- der Tunnelwirtschaft abhängig. Änderungen lästinensischen Staates dar. Doch der Verlauf der Politik Ägyptens gegenüber der Öffnung der vergangenen 20 Jahre seit dem Abschluss seines Grenzübergangs nach Gaza sind nach der Oslo-Abkommen, mit seiner intensiven den jüngsten politischen Entwicklungen in Nutzung dieser Flächen und Ressourcen durch naher Zukunft ebenfalls nicht zu erwarten. Im israelische Siedler, macht diese Perspektive Gegenteil, die Militärführung in Kairo geht in zunehmend zunichte. ihrem Bestreben, die Lage auf dem Sinai wieder unter ihrer Kontrolle zu bringen, mit aller Härte gegen die Schmuggelgeschäfte vor und hat be- Von Stefan Pantekoek (Gastautor), der für reits eine überwiegende Mehrheit der ehemals die Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem rund 1.200 Tunnel zerstört. Bis zu 20.000 Men- arbeitet und unter [email protected] zu schen haben direkt von der Tunnelwirtschaft erreichen ist. gelebt. Ihnen droht nun die Arbeitslosigkeit, Der Artikel stellt die Meinung des Autors dar dem Rest der Bevölkerung jedoch die Abtren- und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung nung der letzten stetigen Versorgungslinie. der FES wider.

Trübe Aussichten – Eine eigenständige Kommentiert den Artikel unter: palästinensische Volkswirtschaft ist nicht in http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ Sicht Auch 20 Jahre nach Oslo ist im Jahre 2013 eine eigenständige, lebensfähige palästinensische Ökonomie mit voller Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen und mit souveräner Die Hamas und der Osloprozess – Ablehnung, Ko- 16 operation und Partizipation

Die Position zum Osloprozess ist zwar ein Indiz für den Pragmatismus der Hamas, er belegt jedoch auch interne Meinungsverschiedenheiten, die nur selten an die Öffentlichkeit treten. Dabei spielt der trotz der Verträge andauernde Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine zentrale Rolle. SERIE Das Verhältnis der Hamas zum Osloprozess destens fünf von ihnen wurden in den Palä- grenzt an Schizophrenie. Bis heute lehnt die stinensischen Legislativrat gewählt. Als dann Hamas die Verträge ab. In einem Schreiben aus noch vor dem Tod Yasir Arafats im November der israelischen Haft bezeichnete der damalige 2004 beschlossen wurde, zum ersten Mal seit spirituelle Führer der Hamas, Ahmad Yasin, das 1976 Kommunalwahlen in den Palästinenser- erste Osloabkommen von 1993 als „Schmach, gebieten durchzuführen, entschied sich die Kapitulation und Erniedrigung“. In anderen Hamas unverzüglich zu einer Teilnahme. Sie Stellungnahmen wird der Prozess als Verrat an rechtfertigte ihre Teilnahme mit dem Charak- der palästinensischen Sache bezeichnet, den ter der Wahlen. Gemeinderatswahlen hätte es man überkommen müsse. Gewalt als Mittel, bereits vor den Osloverträgen gegeben und um den Prozess aufzuhalten, erwähnte Yassin im Gegensatz zu Parlaments- und Präsident- jedoch nicht. schaftswahlen hätten diese direkten Einfluss Diese scharfe rhetorische Kritik verhinderte auf den Umfang und die Art von kommunalen jedoch nicht, dass es vor den ersten palästi- Dienstleistungen. nensischen Parlaments- und Präsidentschafts- Bei den Wahlen, die vom Dezember 2004 bis wahlen im Januar 1996 innerhalb des poli- zum Dezember 2005 stattfanden, wurden in tischen Flügels der Hamas intensive Debatten mehr als 260 Gemeinden neue Lokalvertreter darüber gab, ob man am Urnengang teilneh- bestimmt. In etwa 80 Gemeinden konnte die men solle – obwohl er ein Ergebnis des Oslo- Hamas die Wahl für sich entscheiden. In den prozesses war. Bereits 1992 wurde ein internes größeren Städten des Westjordanlands Nablus, Dokument zum Umgang mit Parlaments- und Jenin und Qalqilya stellte sie fortan den Bür- Präsidentschaftswahlen entworfen, die im An- germeister. In den christlich geprägten Städten schluss an einen möglichen Vertrag zwischen Bethlehem und Ramallah wurden linksgerich- Israel und der Palästinensischen Befreiungs- tete Kandidaten mit Hilfe der Hamas gewählt. organisation (PLO) stattfinden könnten. Die Zum ersten Mal war die Hamas nun Teil der Hamas schwankte dabei zwischen einer Teil- durch den Osloprozess entstandenen Palästi- nahme an Wahlen und deren aktiver Bekämp- nensischen Autonomiebehörde (PA). Tausende fung; ein bloßer Boykott hätte zur politischen Lokalangestellte waren fortan von Hamas- Isolation geführt, während eine Teilnahme als politikern abhängig und für mehr als eine Anerkennung des israelisch-palästinensischen Million Palästinenser mussten sie kommunale Abkommens hätte gedeutet werden können. Dienstleistungen bereitstellen. Politische und Die Chancen, eine Wahl mit politischen oder ideologische Debatten über den Umgang mit gewaltsamen Mitteln verhindern zu können, der PA und Israel gab es jedoch kaum, während wurden zwar erwogen, allerdings als gering notwendige Kontakte mit Israel, um beispiels- eingeschätzt. weise die Lieferung von Wasser und Strom zu Zwar entschied sich die Hamas letztendlich gewährleisten, fortgeführt wurden. dafür, nicht an den Wahlen teilzunehmen, doch Selbst für die Hamas war der Wahlerfolg eine unternahm sie auch nichts, um den Urnengang Überraschung. Daher entschied sie sich dafür, zu verhindern. Tatsächlich motivierte sie ein- auch bei den anschließenden Parlaments- zelne Islamisten, als unabhängige Kandidaten wahlen im Januar 2006 anzutreten. Aus dem bei den Parlamentswahlen anzutreten. Min- Stand errang sie 74 der 132 Mandate im Palä- stinensischen Legislativrat, während die Fatah Tod von mehr als einem Dutzend israelischer lediglich auf 45 Sitze kam. Palästinenserpräsi- Zivilisten führten. dent Mahmoud Abbas beauftragte daraufhin Auf Grund der Anschläge und der durch den 17 den Spitzenkandidaten der Hamas, Ismail

Hamas-Kundgebung in Ramallah Foto: Wikipedia/Hoheit

Friedensvertrag ermöglichten Ankunft von Haniyeh, mit der Regierungsbildung. Die Fatah Palästinenserführer Arafat in Gaza, verschärften entschied sich rasch dafür, in die Opposition sich die innerpalästinensischen Spannungen. zu gehen, während andere Parteien zwar mit Die Hamas betrachtete die Fatah von Arafat seit der Hamas verhandelten, aber letztendlich Langem als politischen Konkurrenten. Dass die ebenfalls nicht der Regierung beitraten. Ende Fatah von abtrünnigen Mitgliedern der palästi- März 2006 sprach das Parlament der Hamasre- nensischen Muslimbruderschaft, der Vorgän- gierung, der nur einige wenige unabhängige gerin der Hamas, gegründet wurde, betrachten Technokraten angehörten, das Vertrauen aus. die Islamisten dabei als unverzeihlichen Af- Anschließend wurde sie von Abbas vereidigt. front. Die Rolle der Gewalt Auf Druck Israels, aber auch um die militä- rischen Kapazitäten der Islamisten wissend, Während der politische Flügel der Hamas in ging die palästinensische Führung immer den Palästinensischen Gebieten trotz anders- härter gegen die Hamas und eine andere, sehr lautender Verlautbarungen einen effizienten viel radikalere Organisation, den Islamischen Modus Vivendi im Umgang mit den auf den Jihad, vor. Hunderte ihrer Anhänger wurden Osloer Vereinbarungen basierenden Instituti- verhaftet. Im November 1994 wurden bei einer onen pflegte, blieben der militärische Flügel Protestaktion in Gaza, die von diesen beiden und Teile der Exilführung auf Konfrontations- Gruppen organisiert wurde, mindestens 14 kurs mit Israel und der PA. Demonstranten von palästinensischen Sicher- Im Februar 1994 tötete der israelische Soldat heitskräften erschossen. Baruch Goldstein 29 betende Muslime in der Auch innerhalb der Hamas kam es zu verstärk- Abrahams-Moschee in . In den darauf ten Spannungen zwischen moderaten und ra- folgenden Wochen reagierte der militärische dikalen Kräften. Am 5. Januar 1996, also nur we- Arm der Hamas, die Izz ad-Din al-Qassam-Bri- nige Wochen vor den ersten nationalen Wahlen gaden, mit einer Reihe von Terroranschlägen, in den Palästinensischen Gebieten, tötete darunter auch ein Selbstmordattentat, die zum die israelische Regierung Yahya Ayyash, den wichtigsten Konstrukteur der Bomben, die die Serie von Selbstmordanschlägen, die bis zum Hamas einsetzte. Die Hamas und der Islamische Ende der Intifada im Jahr 2005 über 300 Israelis 18 Jihad reagierten darauf mit vier Selbstmordan- tötete. Viele ihrer Führungskräfte, darunter die schlägen im Februar und März 1996, bei denen Gründungsmitglieder Yasin, Abd al-Aziz Rantisi in Israel 59 Menschen getötet wurden. und Ismail Abu Shanab, wurden anschließend Es herrschte jedoch Unklarheit darüber, wer durch gezielte Angriffe der israelischen Armee genau auf wessen Befehl die Attentate durch- getötet. Von einem Friedensprozess zwischen führte. Die Führung der Hamas in Gaza traf Palästinensern und Israelis war nichts mehr üb- zu einem Krisengipfel mit der PA zusammen. rig. Ein großer Teil der durch die Osloverträge

SERIE Zwei Gründungsmitglieder der Hamas, Ibra- entstandenen politischen Infrastruktur wurde him Yazuri und Muhammad Shamma’a, riefen so bis 2005 wieder zerstört, darunter der Präsi- in einer Pressekonferenz zur Einstellung der dentenpalast in Ramallah und viele Polizeista- Angriffe gegen Israel auf. Ein anderes Grün- tionen. Dabei hatte die nicht endende Gewalt dungsmitglied, Mahmoud Zahhar, bestritt, nach Oslo weniger mit dem „Friedensprozess“ dass die Entscheidung zu den Anschlägen in an sich zu tun, als mit der mangelnden Umset- Gaza getroffen worden sei. Die Exilführung zung einzelner Vertragsbestandteile, einer zu- der Hamas hingegen machte deutlich, dass es nehmend frustrierten palästinensischen Bevöl- keine Entscheidung über ein Ende der Gewalt kerung sowie einem Teufelskreis aus Angriffen gegeben hätte. Anschließend wurde berichtet, und Gegenangriffen. dass die Angriffe auf eine spontane Entschei- dung von Teilen der Qassam-Brigaden in Gaza Die Teilung der Palästinensergebiete zurückgingen. Die PA verhaftete daraufhin Das Ende der Intifada im Jahr 2005 ermöglichte etwa 1200 Islamisten. Außerdem wurden die es den Palästinensern, sich auf den Wieder- Islamische Universität in Gaza, eine Hochburg aufbau der politischen und wirtschaftlichen der Hamas, und Einrichtungen der Hamas Infrastruktur zu konzentrieren. Die zweiten durchsucht. Hamas-geführte Moscheen in Gaza Parlamentswahlen in der Geschichte der Palä- wurden von der PA übernommen. stinensergebiete führten nach dem Abklingen Der Frust der Palästinenser auf Grund der weit- der Gewalt zwischen Palästinensern und Isra- gehend ergebnislosen Friedensverhandlungen, elis zum Wiederaufleben der innerpalästinen- des anhaltenden israelischen Siedlungsbaus sischen Spannungen. Nach dem Wahlsieg der und des provokanten Besuchs des israelischen Hamas von 2006 gab es mehrere Versuche eine Oppositionspolitikers Ariel Scharon auf dem Einheitsregierung zu bilden, um die Geschlos- Tempelberg in der Ostjerusalemer Altstadt am senheit der Palästinenser zu demonstrieren. 28. September 2000 führten zum Ausbruch Doch schon bald beschuldigte die Hamas die einer neuen Intifada. Das spielte den radikalen Fatah, sich nie mit ihrer Wahlniederlage abge- Teilen der Hamas, die durch Anschläge zum funden zu haben. Das gegenseitige Misstrauen mangelnden Fortschritt in den Gesprächen bei- führte zu schweren Kämpfen im Juni 2007. Es trugen, in die Hände. Doch auch sie waren von war ein regelrechter Putsch als die Sicherheits- der Gewalteskalation überrascht. Anfangs un- kräfte der Hamas dabei innerhalb von wenigen organisiert, verlief der Aufstand erst ohne Be- Tagen eine große Zahl von Fatah-Funktionären teiligung der Hamas. Ähnlich wie zu Beginn der und -Mitglieder vertrieben und verhafteten. Ersten Intifada, zögerte die Hamas zunächst, Denn die Alleinherrschaft der Hamas ließ sich um ihr Netzwerk aus sozialen und karitativen aus den Parlamentswahlen nicht ableiten. Einrichtungen nicht in Gefahr zu bringen. Damit begann die politische Zweiteilung der Doch als die Gewalt zwischen Palästinensern Palästinensergebiete. Die Hamas baute umge- und Israelis, die hauptsächlich das Leben hend eine eigene Regierungsbehörde auf. Der palästinensischer Zivilisten forderte, eine Stufe Einflussbereich der PA beschränkt sich seitdem erreichte, die weit über alles bisher Dagewe- auf das Westjordanland; der Osloprozess und sene hinausging, wurde der populäre Ruf nach die aus ihm hervorgegangenen Institutionen Vergeltung immer größer. Die Hamas reagier- spielen seitdem im Gaza-Streifen keine Rolle te darauf ab Ende November 2000 mit einer mehr. Als erstes übernahm die Hamas den Sicher- Muslimbrüdern in die internen Belange Ägyp- heitsapparat, dessen Transformation in eine tens eingemischt und somit dem Ansehen der reine Hamaspolizei bereits kurz nach dem Palästinenser geschadet zu haben. 19 Wahlsieg anlief. Die internen Sicherheits- In der Fatah soll es Überlegungen geben, Gaza strukturen wurden umorganisiert. Die offiziell zur „rebellischen Provinz“ zu erklären, um beschworene Trennung zwischen den al-Qas- PA-Zahlungen an Gaza kürzen zu können und sam-Brigaden und den Polizeikräften ist dabei die Option zu haben, das Gebiet notfalls mit anzuzweifeln. In anderen Bereichen verlief die Gewalt zurückzuerobern. Auch das Auftauchen Übernahme weniger reibungslos. Die Legislati- der Gruppe Tamarrud (arabisch für „Rebelli- ve in Gaza war nicht arbeitsfähig, da sich Abge- on“) in Gaza belastet das Verhältnis zwischen ordnete von anderen Fraktionen weigerten, an den beiden Seiten. Eine Organisation mit dem Sitzungen teilzunehmen und viele Parlamenta- gleichen Namen hatte sich zuvor in Ägypten rier der Hamas von Israel verhaftet wurden. Das für den Sturz der Muslimbrüder eingesetzt. führte dazu, dass Gesetzesentwürfe bis heute Eine von mehreren Gazavarianten der Gruppe, von einem Rumpfparlament verabschiedet die sich mit vollem Namen „Rebellion gegen werden, auch wenn dabei das Mindestquorum Ungerechtigkeit in Gaza“ nennt, rief in einem von 67 Abgeordneten nicht erreicht wird. YouTube-Video vom 18. August zu Großde- Die Judikative des Gazastreifens war nach der monstrationen in Gaza am 11. November auf, Spaltung funktionsunfähig und wurde daher um das Hamasregime zu stürzen. Sie warfen rasch von der Hamasexekutive übernommen. den Islamisten darin u.a. Mord, Folter und Kor- Die Gerichte konnten so wieder ihre Arbeit auf- ruption vor. Der 11. November ist der Todestag nehmen. Ein neu gegründeter Hoher Justizrat von Arafat. Die Hamas beschuldigt daher die ist für die Ernennung von Richtern verantwort- Fatah, hinter der Gruppe zu stecken. lich. Es entstand zwar ein aktives Rechtswesen, Doch kann es ohne eine Wiedervereinigung das aber bis heute gravierende Mängel auf- des Gazastreifens und des Westjordanlandes zu weist. Das Strafrechtssystem ist gekennzeich- keinem nachhaltigen Friedenschluss zwischen net durch Verhaftungen ohne Haftbefehle, Palästinensern und Israelis kommen. Die Fa- fehlenden rechtlichen Beistand und Folter. tah und Palästinenserpräsident Abbas lehnen Der bürokratische Apparat in Gaza wurde mit dabei eine Interimslösung strikt ab und beste- loyalen Beamten versehen; mittlerweile arbei- hen auf eine endgültige Lösung des Konflikts. ten etwa 50.000 Angestellte für die Regierung Auch Teile des politischen Flügels der Hamas des Küstenstreifens. Die Hamas war durch scheinen einer friedlichen Lösung des Konflikts, diese Maßnahmen in der Lage, ein stabiles zumindest im Rahmen einer langjährigen Inte- autoritäres Regime mit einem extrem einge- rimslösung, aufgeschlossen zu sein. Das Ha- schränkten politischen Raum zu etablieren. mas-Gründungsmitglied Yasin offerierte bereits Jahre vor seinem Tod 2004 die Anerkennung Hamas, Fatah und die Zukunft von Oslo Israels unter der Bedingung, dass die israelische Durch den Sturz des ägyptischen Präsidenten Seite die Rechte des palästinensischen Volkes Mohammed Mursi, der bis zu seiner Wahl ein anerkennt. Ähnlich äußerte sich sein Mitstreiter hochrangiges Mitglied der Muslimbrüder war, Abu Shanab. Sollte sich Israel komplett aus den sowie die Aufnahme von Verhandlungen zwi- im Jahr 1967 besetzten Gebieten zurückziehen, schen Palästinensern und Israelis im Juli 2013 würde man den bewaffneten Kampf einstellen. scheinen sich die Aussichten auf eine Aussöh- Nach der Gründung eines palästinensischen nung zwischen Hamas und Fatah verschlech- Staates und der Lösung der Flüchtlingsfrage tert zu haben. Die Hamas wirft der Fatah vor, auf Grundlage der Generalversammlungsre- sich erneut zu aus ihrer Sicht fruchtlosen solution 194 der Vereinten Nationen wäre Verhandlungen bereit erklärt zu haben, obwohl man dann damit beschäftigt, einen funktio- der Siedlungsbau voranschreitet und weiterhin nierenden Staat aufzubauen, so Abu Shanab. tausende Palästinenser in israelischer Haft sit- Bestehende Verträge müssten dabei aber zen. Die Fatah wiederum wirft der Hamas vor, eingehalten werden. sich durch ihre Kontakte zu den ägyptischen Bereits das Regierungsprogramm der nur kurz- lebigen Einheitsregierung zwischen Hamas und 20 Fatah vom Frühjahr 2007 respektierte die von der PLO geschlossenen Abkommen, erkann- te das Vorrecht der PLO an, Verhandlungen durchzuführen, und erwähnte die Möglichkeit eines finalen Abkommens mit Israel. In den 20 Jahren seit Oslo haben sich mode- rate Teile der Hamas mit den Ergebnissen der

SERIE Verträge arrangiert. Da die Islamisten durch ihren Erfolg bei den Parlamentswahlen im Jahr 2006 und ihre Kontrolle über den Gazastreifen zu einem entscheidenden Einflussfaktor in den Palästinensergebieten geworden sind, ist der Erfolg eines neuen Friedensprozesses ohne deren Einbindung oder stillschweigende Ak- zeptanz kaum vorstellbar. Eine Fortführung der Exklusion in der nationalen wie internationalen Arena sollte überdacht werden. Dafür müssten jedoch sämtliche Flügel der Hamas ihre Kom- promissbereitschaft zeigen – gegenüber der Fatah sowie Israel.

Von Jörg Knocha (Gastautor), der als Programm-Manager im Büro der Kon- rad-Adenauer-Stiftung in Ramallah arbeitet und unter [email protected] zu erreichen ist. Der Artikel stellt die Meinung des Autors dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der KAS Ramallah wider. Kommentiert den Artikel unter: http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ „Wir sind noch nicht am Ende dieser Geschichte” – Uri Avnery zum 90. und Oslo zum 20. 21

Uri Avnery ist eine Ikone der politischen Linken Israels. Am 10. September ist er 90 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass – und 20 Jahre nachdem die Oslo-Abkommen 1993 unterzeichnet wurden – ein Interview mit Avnery über die Ergebnisse Oslos und die Chancen wieder aufgenommener Friedensver- handlungen.

Alsharq: Vor zwanzig Jahren wurden die Os- Die Oslo-Jahre sind mit prominenten Figuren lo-Abkommen unterzeichnet. Ebenfalls 1993 verbunden: Rabin, Peres, Arafat. Gibt es heut- haben Sie Gush Shalom, den Friedensblock, zutage Führungsfiguren, denen Sie ähnliche gegründet. Wie sehen Sie Oslo im Rückblick? Vorstöße zutrauen? Uri Avnery: Der wichtigste Aspekt von Oslo Beide Seiten sind schwach. Die Palästinenser war nicht das Abkommen an sich, sondern der befinden sich in einer schwerwiegenden Krise, Briefwechsel zwischen Yasser Arafat und Yitz- sie sind gespalten. Ein Grund für die Spaltung hak Rabin, der dem Abkommen vorausging. ist, dass Israel einen grundsätzlichen Aspekt Am 10. September 1993 – meinem 70. Geburts- von Oslo nicht erfüllt hat, nämlich die Verbin- tag – erklärte Arafat in einem Brief an Rabin sei- dung zwischen dem Gaza-Streifen und dem ne Anerkennung des Staates Israel, woraufhin Westjordanland zu gewähren. Seit Arafat tot Rabin die PLO als Vertreterin der Palästinenser ist und die beiden Teile nicht mehr zusam- anerkannte. Das war für beide Seiten ein revo- menhält, fallen sie auseinander. In Israel ist die lutionärer Wendepunkt. Politik von einer Regierungsriege dominiert, die Die Oslo-Abkommen an sich waren aus meiner Oslo von Beginn an abgelehnt hat. Aus israe- Sicht sehr schlecht. Vor allem wurde im Abkom- lischer Sicht ist Oslo tot. men selbst nicht klar, welches Ziel man an- Diesen Sommer haben neue Verhandlungen strebte. Für viele war deutlich, dass Oslo dazu begonnen. Wie beurteilen Sie die US-amerika- führen sollte, einen palästinensischen Staat zu nische Initiative dahinter und was erwarten schaffen. Doch vielen Israelis und Regierungs- Sie von den Verhandlungen? vertretern war das ganz und gar nicht klar. Daher haben die Abkommen von Beginn an Ich erwarte fast nichts. Oslo wurde heimlich nur noch mehr Konflikte geschürt. Ein wichtiger ausgehandelt, sozusagen hinter dem Rücken Punkt jedoch war die Schaffung der Palästinen- der Amerikaner. Clinton spielte nur den Ze- sischen Autonomiebehörde. Man mag von ihr remonienmeister zur Unterzeichnung, hatte halten, was man will. Aber sie ist auch heute aber mit den Verhandlungen nichts zu tun. Da noch eine Tatsache und vertritt das palästinen- saßen Vertreter beider Seiten sich gegenüber, sische Streben nach nationaler Selbstbestim- weil sie an die Notwendigkeit und den Nutzen mung. von Verhandlungen glaubten. Heute sieht das anders aus. Im israelischen Friedenslager gab es kontro- Heute sind die Hände der US-Regierung von verse Diskussionen, ob die Oslo-Abkommen starken Lobbies gebunden, der jüdischen und unterstützt werden sollten oder nicht … der evangelikal-christlichen. Und auch in Israel Die Mehrheit unterstütze die Abkommen, gibt es kaum Interesse an einer Übereinkunft. auch ich. Ich meinte, es sei richtig, sie zu unter- stützen, weil sie eine Dynamik hin zu Frieden Sie vertreten die Prämisse „zwei Staaten für auslösen würden, die nicht zu stoppen sei. Mitt- zwei Völker” obwohl die Zwei-Staaten-Lö- lerweile bin ich mir da nicht mehr sicher. Aber sungen vielerseits für tot erklärt wird. Warum ganz falsch gelegen habe ich auch nicht. Wir setzen Sie sich nicht für einen Staat ein, der sind noch nicht am Ende dieser Geschichte. gleiche Rechte für alle seine Bürger garantiert? Die Einstaatenlösung ist Unsinn. Sie ist gar keine Lösung. Im Gegenteil: sie wäre Anlass 22 zum Bürgerkrieg. Ich sehe keine Perspektive für Israelis und Palästinenser in einem Staat fried- lich zusammen zu leben. Nicht in den nächsten hundert Jahren. Solche Vorhaben sind bisher immer gescheitert, ob im Balkan, dem Sudan oder sonst wo. Die beiden Völker haben nichts gemein: weder

SERIE Sprache, noch Religion, nationale Tradition, Vi- sionen für die Zukunft oder Gesellschaftsstruk- tur. Sie werden in einem Staat bestimmt nicht friedlich zusammen leben. Vielmehr erwarte ich einen Apartheidstaat, wenn die Politik der israelischen Regierung anhält. Eigentlich ist die Situation im Westjordanland auch heute schon schlimmer als Apartheid.

Das Friedenslager in Israel ist heute schwach. Woran liegt das und was bedarf es, um die Friedensbewegung wieder zu stärken? Das Friedenslager ist in der Tat sehr schwach. Das liegt teils an den Umständen, teils an internen Faktoren. Was die Umstände anbelangt: 2000 war ein einschneidender Moment. Ehud Barak hatte die Palästinenser zwar zur Camp David Avnery, in Deutschland geboren, migrierte 1933 in Konferenz gebracht, war aber gänzlich unfähig, das Mandatsgebiet Palästina, wo er sich später dem mit ihnen umzugehen, sodass die Gespräche jüdischen Untergrund anschloss und im 1948er scheiterten. Als Barak zurückkehrte, machte er die Krieg kämpfte. Entsetzt von der damit verbundenen berühmte Aussage, Israel habe keinen Partner für Gewalt und Vertreibung wandte er sich vom zionis- den Frieden. Barak sagte das als Vorsitzender der tischen Establishment ab. Zunächst trat er als Publi- Arbeits-Partei und als Spitzenvertreter des Frie- zist und Aktivist für eine israelisch-arabische Union denslagers. Für die Bewegung war seine Aussage ein, begann dann aber schnell einen unabhängigen ein Desaster. Gleichzeitig sind oppositionelle palästinensischen Staat zu fordern. Bewegungen und die Siedler erstarkt. Das hat Be- Uri Avnery ist prominenter Journalist, war mehrere mühungen für den Frieden zusätzlich erschwert. Wahlperioden Abgeordneter der und ist bis Aber auch das Friedenslager selbst ist schuld heute unermüdlicher Friedensaktivist. Anfang der am Zerfall. Es gibt in Israel keine Friedensbe- 90er Jahre gründete er mit MitstreiterInnen Gush wegung mehr, sondern nur einzelne Gruppen, Shalom, zu Deutsch der „Friedensblock”. Die Orga- die zwar größtenteils sehr gute Arbeit machen, nisation ist seit zwanzig Jahren wichtiger Teil der aber unfähig sind, sich zu einer Bewegung israelischen Friedensbewegung. Während Stimmen, zusammenzuschließen. So wird das Feld frei für die das Ende der Zwei-Staaten-Lösung beschwören, andere Kräfte. seit Jahren lauter werden, fordert Avnery nach wie vor entschieden „zwei Staaten für zwei Völker”. Sie haben zu Beginn des Jahres in Israel für Von Uri Avnery erschienen zuletzt auf Deutsch Bei- Furore gesorgt. In einem Artikel äußerten Sie träge zum „Befreiungskampf in Palästina“ (u.a. mit die Einschätzung, dass russische Einwanderer, Faisal Husseini, Abu Ala, Yossi Beilin), „Ein Leben für die nach dem Zusammenbruch der Sowjetuni- den Frieden. Klartexte über Israel und Palästina“ und on nach Israel kamen, den Rechtsruck in Israel „Von Gaza nach Beirut. Israelisches Tagebuch“. verschuldet hätten. Bleiben Sie trotz vieler

Foto: Uri Avnery Vorwürfe bei dieser Aussage? Ja, das tue ich. Es ist eine Tatsache. Die Immi- granten brachten ihren Rassismus mit nach Israel. Jeder, der die UdSSR besucht hat, weiß 23 um den zügellosen, wild wuchernden Rassis- mus dort, vor allem gegen dunkelhäutige Men- schen. In Israel hatten die Immigranten schlicht keine Zeit, diesen Rassismus abzulegen. Nun richten sie ihn hier gegen Araber.

Wie gehen Sie und die Friedensbewegung mit rechten Politikern und Parteien im Land um? Anders als viele meiner Freude im Friedens- lager verfechte ich die Meinung, dass wir die öffentliche Meinung in Israel in aller Breite beeinflussen oder das zumindest versuchen müssen. Wir müssen dafür die Einwanderer aus Russland, aber auch orientalische Juden gewin- nen. Und zum Teil Orthodoxe. Solange uns das nicht gelingt, wird es keinen Frieden geben. Im Gegensatz zu vielen glaube ich nicht, dass Frieden von außen kommen kann. Ich bin mir sicher, dass Frieden von innen entstehen und von unten wachsen muss.

Oft wird gesagt, dass die Oslo-Abkommen gerade deshalb gescheitert sind, weil sie nicht von unten gewachsen sind, wie sie sagen, sondern im Geheimen verhandelt wurden. Brauchen wir also einen neuen Weg, um die Öffentlichkeit für Frieden zu gewinnen? Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Abkommen der Mehrheitsmeinung der Isra- elis und Palästinenser entsprachen. Erst als in Israel immer mehr Menschen davon überzeugt wurden, dass Oslo gescheitert war – und die Palästinenser dafür verantwortlich gemacht wurden – zogen sich die Israelis zurück. Aber auch heute gilt: Gäbe es einen glaubwür- digen Vorreiter, der uns vermitteln könnte, dass ein Friedensabkommen erreicht werden könnte, das gut für Israel ist – die Mehrheit der Israelis würde es unterstützen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lea Frehse, zu erreichen unter [email protected]. Kommentiert den Artikel unter: http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ „Unser München heißt Oslo“ – Interview mit dem 24 Siedler-Aktivisten Elyakim Haetzni

Die im Westjordanland nach 1967 errichteten israelischen Siedlungen gelten völkerrechtlich als illegal und stellen ein zentrales Hindernis für die Lösung des Nahostkonfliktes dar. Während der Status der Siedlungen von den Oslo-Verhandlungen prominent ausgespart wurde, sind sie in den vergangenen 20 Jahren stetig gewachsen. Durch die Siedlungen soll der jüdisch-israelische Anspruch auf das ganze SERIE Land zwischen Mittelmeer und Jordan gefestigt werden, wie Elyakim Haetzni bekräftigt.

Die israelische Besatzung ist in Hebron besonders eklatant. Eigentlich sollte Hebron entsprechend der Oslo-Abkommen vollständig unter die Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde fallen. Die jüdischen Siedler jedoch weigerten sich abzuziehen. Am 25. Februar 1994, ein halbes Jahr nach Abschluss von Olso I, erschoss zudem der extremistische Sied- ler Baruch Goldstein, der wie Haetzni in wohnte, 29 Muslime in der Abrahams-Moschee. In Folge dessen wurde die israelische Militaerpräsenz in Hebron „zum Schutze“ der Siedler erhöht, wie es offiziell heißt. Mittlerweile ist die Stadt seit dem He- bron-Abkommen von 1997 daher in zwei Sektoren geteilt: H1, in dem rund 200,000 Palästinenser unter palästinensischer Kontrolle leben, und H2, in dem die israelischen Siedler umgeben von 30,000 Palä- stinensern leben, die allesamt israelischer Kontrolle Haetzni, 1926 in Kiel geborener Rechtsanwalt, unter- unterstehen. Das israelische Militär hat zentrale Teile stützt seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die jüdische Hebrons – Straßen, Hauseingänge und Marktstra- „Wiederbesiedlung“ in „Judäa und Samaria“ – so ßen – abgeriegelt. So können sich in der Innenstadt bezeichnet die religiös-nationale Siedlerbewegung der größten palästinensischen Stadt des Westjord- mit biblischen und historischen Bezügen die völker- anlands jüdische Siedler frei und Palästinenser nur rechtlich illegale Besiedlung des Westjordanlands. unter israelischer Kontrolle bewegen. Haetzni selbst ist nicht religiös, sondern säkular-nati- Haetzni ist ein prominenter Vertreter der Siedler- onalistisch motiviert. Er zog als einer der Ersten nach bewegung, der bis heute viel Gehör in Israel findet. Kiryat Arba, eine an Hebron angrenzende Siedlung. Die im Camp David-Friedensvertrag mit Ägypten Hebron gilt nach Jerusalem als zweitheiligste vereinbarte Rückgabe des Sinai 1979 sah er als Stadt des Judentums. Heute leben dort etwa 8.000 „Verrat Begins“ an der jüdischen Bevölkerung. Im Bewohner, einschließlich der bis zu 800 jüdischen Anschluss wurde er Mitglied des Leitungskreises Siedler in Hebrons Altstadt, die als besonders des YESHA-Rates („Rat der jüdischen Städte und militant und ideologisch gelten. Juden hatten über Siedlungen in Judäa, Samaria und Gaza“), trat der Jahrhunderte in Hebron gelebt, doch im Anschluss rechtsgerichteten Tehyia-Partei bei, für die er zeit- an das Massaker von 1929, als 67 Juden durch Ara- weilig Mitglied der Knesset war, und galt jahrelang ber umgebracht wurden, flohen die Überlebenden als provokantester Siedler-Sprecher. 1994 gründete bzw. wurden vertrieben. Seit 1967 beanspruchen er die Organisation „Gamla soll nicht wieder fallen“ jüdischen Siedler dagegen wieder das Recht, inmit- gegen die Aufgabe der durch Israel besetzten und ten einer der größten palästinensischen Städte zu annektierten Golan Höhen. In Israels auflagenstärk- leben, da in Hebrons Machpela Höhle die Grabstät- ster Zeitung, Yediot Aharonot, schreibt Haetzni eine ten der biblischen Patriarchen und Matriarchinnen wöchentliche Kolumne. liegen. Foto: Knesset Alsharq: Herr Haetzni, Sie haben von Anfang der Neandertaler gilt. Uns wurde vorgeworfen, an den Oslo-Prozess als gefährlich beurteilt. paranoid zu sein, einen Massada- oder Ausch- Wurden Ihre schlimmsten Befürchtungen witz-Komplex zu haben. 25 durch die II. Intifada von 2000 bis 2005 bestä- tigt? Der ehemalige Premierminister Yitzak Rabin war … Elyakim Haetzni: Natürlich. Als ich vor Oslo warnte, sagten mir viele Siedler, also Leute aus … verantwortlich für Oslo. Rabin wird fast wie unserem Lager, dass ich paranoid sei. Ich habe ein Heiliger in der katholischen Kirche verehrt. zwei Filme als Warnung gemacht – und alles Deswegen ist es schwer, objektiv über ihn zu hat sich verwirklicht. Manche Leute sagen, dass sprechen. ich ein Prophet sei. Aber ich bin kein Prophet. Er war kein schlechter Mensch, sondern ein Man wollte der Wirklichkeit nicht ins Auge se- Patriot, kein typischer Linker, der vollkommen hen. Dabei ist alles, was ich vorausgesagt habe, blind ist für Fragen der Sicherheit und phy- auch eingetreten – nur noch viel schlimmer. sischen Existenz Israels: Rabin war kein Lufttän- zer wie Peres. Aber Rabin war auch kein Genie, Viele Siedler bezeichnen die II. Intifada auch sondern ein mittelmäßiger Mensch, der nichts als Oslo-Krieg. Was kritisieren Sie besonders? Herausragendes geschrieben hat. Er hatte Wie verantwortungslos und verbrecherisch keinen starken Charakter und wurde gegen israelische Regierungen diesen Tiger auf das sein besseres Wissen von Peres, Beilin und den eigene Volk loslassen konnten. Das habe ich Anderen dazu gebracht, Oslo zu akzeptieren. mir nicht vorstellen können. Wir haben zum Seinem Wesen nach war er ein Skeptiker, kein Beispiel Yassir Arafat, den schlimmsten Terro- Flagge schwingender Ultranationalist. Aber risten, aus seinem Käfig in Tunis rausgelassen er war auch kein typischer Linker, deswegen und seinen Leuten 50.000 Sturmgewehre mit wurde er gewählt und von Peres als Frontmann Munition gegeben. In anderen Worten: eine missbraucht. Die Linke an sich hat eigentlich Regierung verabreicht ihren Bürgern Gift, damit keine Chance mehr, daher kann sie nur gewin- sie es schlucken und sterben. nen, wenn sie Leute mit nationaler Aura an die Spitze stellt – gewissermaßen als Attrappe. Eine gewaltige Anklage gegen die eigene Regierung. Sehen Sie eine andere Möglichkeit aus der Natürlich denke ich, dass die „Verbrecher von Situation? Oslo“ vor Gericht gestellt werden sollten. Wo Was meinen Sie, wenn Israel Hebron annek- in der Welt hat sich so etwas abgespielt, dass tieren und den Palästinensern die israelische nach den „Friedenverhandlungen von Oslo“ Staatsbürgerschaft anbieten würde. 99% noch Hunderte ihr Leben verloren haben? Shi- würden „Ja“ sagen, wie die Araber in Ost-Jeru- mon Peres (der amtierende Präsident und da- salem, die auf keinen Fall zu Arafat wollten und malige Außenminister), Yossi Beilin (ehemaliger bei der Intifada auch nicht mitmachten. Das stellvertretender Außenminister, der die Ge- erkennt man doch. heimverhandlungen von Oslo von israelischer Seite leitete, Anm. d. Red.) et cetera, haben den Entsprechend des Camp David-Abkommens Feind hergebracht und ihn bewaffnet. Dafür zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten sollten sie bestraft werden. Barak und Palästinenser-Chef Arafat im Jahr 2000 wäre Kiryat Arba Teil eines palästinen- Nehmen wir mal an, einer geht hin und öffnet sischen Staates gewesen. nachts den Löwenkäfig im Zoo von Jerusalem und die Tiere reißen Frauen und Kinder. Wird Aber dazu kam es nicht, denn Israel ist eine De- dann nicht derjenige, der den Käfig öffnete als mokratie und (der damalige Ministerpräsident) Schuldiger zur Verantwortung gezogen? Barak wurde gestürzt. Auch war ich nicht der einzige auf Seiten von Haben Sie als Anwalt eigentlich auch ara- Israels Rechten, der warnte. Aber die Weisheit bische Klienten vertreten? und Güte des Herzens liegt bekanntlich bei der Trotz allem, was geschehen ist, fühle ich keinen „Linken“, während die „Rechte“ als primitiv wie Hass gegen die Araber als Kollektiv, als Volk. Ich herzuholen? Wen sollten wir dafür anklagen, verstehe gar nicht, wie man so einen Hass auf- wenn nicht Euch?“ 26 bauen kann. Ich lebe seit 1972 in Kiryat Arba. Alles müsste gar nicht sein, was sich jetzt ab- Was passierte, bevor Hebron 1997 der PA spielt. Es ist nicht so, dass das ein Ausbruch von übergeben wurde? etwas ist, das zwangsläufig geschehen musste. Die Leute in Hebron kennen mich alle – und fragen bis heute nach mir. Kurz bevor Minister- Was war dann der Auslöser? präsident Benjamin Netanjahu (in seiner ersten Dieser Hass zwischen Juden und Arabern kam Amtszeit als Premier 1996-1999, Anm. d. Red.)

SERIE durch den „Frieden“. Der „Frieden“ hat diesen einen Großteil von Hebron an Arafat übergab, Krieg gebracht, genau wie das Münchner Ab- brachte mich ein Mittelsmann mit einem jun- kommen 1938 den II. Weltkrieg brachte. Unser gen Mann von Ende 20 aus Hebron zusammen. München heißt Oslo. Wir trafen uns in Jerusalem. Er zeigte mir seinen In meinem Haus in Kiryat Arba saßen während Ausweis – Offizier in der Leibwache von Arafat. der ersten Intifada von 1988 bis 1993 viele Er sagte, dass er ein Anliegen hätte und für eine Araber. Sie warnten uns: wenn wir Israelis die große Gruppe von Leuten sprechen würde, Gewalt nicht unterbinden würden, werde es zu die in die erste Intifada involviert gewesen einem großen Unglück zwischen uns kommen seien: „Wir wollen Arafats Diktatur nicht bei uns und sie fragten, warum wir der Gewalt kein haben. Denn wir sehen, was sich in Nablus und Ende bereiten. Gaza abspielt – da wollen wir nicht dazugehö- Wenn dieser Oslo-Krieg (Bezeichnung vieler ren.“ Warum, fragte ich ihn. „Diese Schreckens- Siedler für die II. Intifada, Anm. d. Red.) nicht herrschaft, Diktatur, Soldateska, dieses Regime gewesen wäre, könnten einige Tausend Araber von Bestechung und Erpressung, sogar gegen und Israelis noch leben, unter ihnen auch viele Frauen, wollen wir nicht. Wenn Arafat die Frau Kinder. von irgendeinem will, bekommt er sie, sonst bezahlt der Mann das mit dem Leben oder er Wie muss man sich die Gefahr vorstellen? wandert ins Gefängnis.“ Er bat mich, für ihn ein Treffen mit dem Militärgouverneur von Hebron, Jenseits des Zaunes meines Gartens herrscht einem Freund von mir, zu arrangieren. Diktatur. Das muss man sich vorstellen können. Die ersten Opfer einer Diktatur kommen immer Ich habe darauf den Militärgouverneur ange- aus dem eigenen Volk – niemand anders. Wer rufen. Doch der hatte leider keine Zeit – weil litt am meisten unter dem Bolschewismus? Das den ganzen Tag Delegationen kamen, die das russische Volk weit vor allen anderen. Was ist Selbe sagten. Ob er das auch nach oben berich- denn schon ein Kalter Krieg gegenüber dem tet, habe ich meinen Bekannten noch gefragt. Gulag? Seine Antwort war: „Aber natürlich, und zwar jeden Tag.“ Die ersten Opfer dieses Regimes sind die Araber selbst – erst dann die Israelis. Das sollte Transportieren die Medien ein akkurates Bild man auch im Kopf haben. des israelisch-palästinensischen Konflikts? Was sagten Ihre ehemaligen Klienten über die Die meisten ausländischen Medien sind anti- Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und semitisch angehaucht, nennen es aber anti-is- Arafat nach Beginn der zweiten Intifada? raelisch. Es scheint ein richtiger Widerwille zu bestehen. Das war in den letzten 2000 Jahren Wenn ich mit diesen Leuten sprach und sagte: so und ich fürchte, wir können das auch in 1000 „Was tut Ihr, was seid Ihr für Mörder!“, dann Jahren nicht verändern. schauten die Araber mich böse an und ich bekam zu hören: „Was wagst Du es, uns zu Wie gehen Sie als Mensch mit der Situation beschuldigen? Wer hat denn Arafat aus Tunis um? hergeholt? Wer hat das Unglück von Arafats Terror-Regime über uns gebracht, denn uns be- Wir müssen uns innerlich stärken, dass wir nicht herrscht er und nicht Euch. Ihr Israelis habt das primitiv mit dem beginnen, das am nächsten gemacht! Oder haben wir Euch gebeten Arafat liegt: die Araber zu hassen. Die Menschen in haben nichts mit Arabern zu tun, während wir hier sehr gut mit den Arabern zusammen gelebt haben. Meine Frau hat früher immer im 27 arabischen Markt eingekauft. Unsere Bank war in Hebron, unser Schneider ein Araber, ich hat- te ausgezeichnete Beziehungen mit arabischen Anwaltskollegen.

Die Kontakte zu den Arabern … … sind abgebrochen. Jeder Araber, der nur das kleinste Anzeichen einer Verbindung zu Israelis zeigt, wird morgen der Kollaboration angeklagt und übermorgen findet man seine Leiche. Arafats Leute haben (nach Beginn der zweiten Intifada, Anm. d. Red.) Dutzende von Unschul- digen eigenen Leuten umgebracht, die mit uns gar nichts zu tun hatten.

Würde ein Staat „Palästina“ die Situation verändern? Diese Lösung vom Staat als Ziel der Palästi- nenser wurde und wird von den Europäern unterstützt. Aber wozu das führt, wenn man den Palästinensern einen Staat anbietet, hat die Bruchlandung des ehemaligen Ministerprä- sidenten Ehud Barak gezeigt. In Camp David im Jahr 2000 war die Rückkehr der Flüchtlinge auf einmal wichtiger als der Staat. Sonderlich scheint sie der Staat nicht zu interessieren, nur als Mittel, um die Flüchtlinge zurückzuholen. Und die israelische Linke kann und will das nicht verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Tobias Raschke, zu errei- chen unter [email protected]. Kommentiert den Artikel unter: http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ Israel und die Oslo-Abkommen: große Interessen, 28 wenig Unterstützung

Die unterschiedlichen israelischen Regierungen haben den Oslo-Prozess mal mehr, mal weniger be- fördert. Dabei ging es vor allem um politische Interessen. Doch eine breite öffentliche Unterstützung für die Verhandlungen hatten die Verantwortlichen nicht sichern können. Darunter haben die Bemü- hungen um eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes bis heute gelitten. SERIE

Die Nachricht über die Verhandlungen zwi- zeugte Rabin von der Notwendigkeit, eine schen Israel und der Palästinensischen Be- politische Lösung für den Konflikt anzustreben. freiungsorganisation (PLO) im Vorfeld der So meinte Carmi Gillon, der damals dem israe- Oslo-Abkommen hat die israelischen und lischen Inlandsgeheimdienst bevorstand, dass palästinensischen Menschen wie ein Blitzschlag Rabin sich für Oslo entschied, weil er nicht un- getroffen. Beide Seiten waren überrascht, dass endlich lange Reserveeinheiten hätte einziehen ihr ewiger Feind plötzlich zum Partner werden konnte. Rabin hätte die schmerzlichen Effekte sollte, um gemeinsam eine Lösung des Kon- der Besatzung auf die israelische Wirtschaft fliktes zu finden. Doch viele Menschen konnten und Gesellschaft verstanden. (oder wollten) ihre Wahrnehmung der „Ande- ren“ nicht einfach von einem Tag auf den an- Erste Kontakte deren und ganz ohne Vorankündigung ändern. Bereits im Anschluss an die Madrid-Konferenz Vielleicht ist damit auch einer der Gründe für von 1991 trafen sich israelische und palästi- das Scheitern des Prozesses verbunden. nensisch-jordanische Delegationen für erste Zu den Oslo-Abkommen kam es vor allem aus Gespräche. Als aber klar wurde, dass diese instrumentellen Notwendigkeiten und poli- Gespräche nichts bewirkten, was vor allem tischen Interessen auf beiden Seiten. Yasser daran lag, dass keine PLO-Abgesandten Teil Arafat und die PLO waren in einer schlimmen der palästinensisch-jordanischen Delegation politischen Krise. Damals war die PLO noch waren, initiierte Yossi Beilin Geheimverhand- im tunesischen Exil verbannt und hatte kaum lungen, um direkt mit der PLO in Kontakt treten Einwirkung auf die erste Intifada (1987-1991). zu können. Beilin war damals israelischer Vize- Stattdessen verlor sie immer mehr Einfluss an Außenminister. Die Verhandlungen wurden in radikalere Gruppen wie die Hamas. Nach dem Oslo zwischen Dr. Yair Hirschfeld und Dr. Ron Golfkrieg von 1991 dann, in dem die PLO Sad- Pundak auf israelischer Seite und Ahmed Qurei dam Hussein unterstützte, hat sie zudem viel und seine Kollegen auf palästinensischer Seite Unterstützung durch arabische Staaten und die abgehalten. Sie mussten geheim sein, denn USA einbüßen müssen. Es war daher an Arafat, nach israelischem Recht waren direkte Kon- einen entscheidenden Schritt zu machen, um takte mit der PLO damals noch verboten. sich und die PLO politisch zu rehabilitieren. Selbst der israelische Außenminister Shimon Auch für Israel unter der Ägide von Yitzak Ra- Peres und Ministerpräsident Rabin wussten bin, der 1992 zum Ministerpräsidenten gewählt zunächst nichts von den Verhandlungen. Doch wurde, gab es dringliche Gründe, mit Arafat zu ihre offizielle Zustimmung lies nicht lange auf verhandeln. Seit der Besatzung des Westjord- sich warten. So kam Oslo I zustande. Teil des anlands und des Gazastreifens im Anschluss an Abkommens war, dass Israel die PLO als legi- den Sechs-Tage Krieg 1967, also 1993 bereits timen Vertreter der Palästinenser akzeptierte, seit 26 Jahren, kontrollierte Israel militärisch die PLO dafür nicht mehr als Terrororganisation eine feindselige Gesellschaft. Der Eindruck der bezeichnete und alle rechtlichen Restriktionen ersten Intifada, als Palästinenser zu Tausenden gegen offizielle Treffen mit ihr aufhob. Die – Männer, Frauen, Junge und Alte – gegen PLO für ihren Teil erkannte das Existenzrecht die israelische Besatzung aufbegehrten, über- Israels sowie die UN-Resolutionen 242 und 338 an, schwor dem Terror ab und verpflichtete Spaltung der israelischen Öffentlichkeit in ein sich dazu, den Nahostkonflikt mit friedlichen Lager links der Mitte und eines zu seiner Rech- Mitteln zu lösen. Die Oslo-Abkommen wurden ten wurde so groß wie nie zuvor. Während Oslo 29 dann am 13. September 1993 im Garten des I zur gegenseitigen Anerkennung in der Knes- Weißen Hauses in Washington unterzeichnet. set mit einer Mehrheit von 61 zu 50 Stimmen Die israelischen und palästinensischen Füh- beschlossen wurde, kam Oslo II, das Interim- rungen wollten sich einigen, einen territorialen sabkommen über das Westjordanland und Kompromiss für den Konflikt zu finden, der den Gazastreifen, gerade einmal mit 61 zu 59 schon so viele Jahrzehnte andauert. Doch gab Stimmen durch, wobei die arabischen Knesset- und gibt es immer schon viele Hardliner auf Abgeordneten die Mehrheit sicherten. beiden Seiten, die glauben, dass ihre Religion Die rechten Parteien nutzten die weit verbrei- es ihnen nicht erlaubt, ihr „heiliges Land“ zu tete Wut und Entsetzung über die anhaltende teilen. Diese radikalen Elemente hatten daher Gewalt durch nationale und religiöse Propa- umgehend den Krieg gegen Oslo ausgerufen ganda aus und begannen, die Menschen gegen und unternahmen alles, um den Prozess zu die Oslo-Abkommen und die Regierung auf- torpedieren. zustacheln. Sie argumentierten zum Beispiel, die Regierung sei illegitim, weil sie nicht über Krieg gegen Oslo eine jüdische Mehrheit verfüge und die Rabin- Am 25. Februar 1994, dem jüdischen Purim- Regierung sich über den Willen der jüdischen Feiertag und der Freitag vor Ramadan, betrat Bevölkerung hinweg setzen würde. Israelische Baruch Goldstein die Abrahams-Moschee in Siedler und deren Rabbis bestanden ihrerseits Hebron. Verkleidet als israelischer Soldat und darauf, dass keine Regierung das Recht habe, schwer bewaffnet, begann Goldstein auf die Teile des „Heiligen Landes“ abzugeben und muslimischen Gläubigen zu schießen und töte- instruierten ihre Unterstützer, den Oslo-Prozess te 29 Menschen, bis er seine gesamt Munition mit allen möglichen Mitteln zu unterbinden. verbraucht hatte. Im Anschluss wurde er selbst Die Aufwiegelung kulminierte in einer Großde- getötet. monstration, die von rechten Parteien am Zion- Der palästinensische Gegenschlag lies nicht Platz in Jerusalem organisiert wurde. Dabei lange auf sich warten. Genau 40 Tage nach skandierten die Massen „Rabin ist ein Verräter“. dem Massaker von Hebron trachtete die Hamas Sie wünschten ihm den Tod und riefen, dass nach Rache und tötete ihrerseits acht Israelis. sie ihn mit Blut und Feuer vertreiben würden. Dann kamen die furchtbaren Terroranschläge Bilder von Rabin in einer SS-Uniform wurden auf öffentliche Plätze. Die Horror-Szenen von verteilt. In Verbindung mit der Zeremonie von 1 Dutzenden verrußten Körpern inmitten des Pulsa DiNora , die vor Rabbins Haus abgehal- geschäftigen Jerusalemer Marktes und des ten wurde, wurde damit klar, dass Rabin zur Dizengoff Centers in Tel Aviv sind uns allen im Hassfigur geworden ist, derer sich viele radikale Gedächtnis. Der palästinensische Terror hat Israelis entledigen wollten. so ganz Israel erreicht und jedes Gefühl von Dazu kam es dann nur einen Monat später. Sicherheit für Israelis zerstört. Am 4. November wurde Rabin von Yigal Amir Viele Israelis haben daher im Anschluss eine ermordet, einem 25-jährigen religiösen Jura- einfache Kalkulation gemacht: in den Jahren studenten. Das Attentat fand im Anschluss an von 1989 bis 1992 sind „nur“ 97 Israelis durch eine Demonstration linker Parteien zum Thema palästinensische Angriffe getötet wurde – in „Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt“ statt. Wie den Jahren des sogenannten Friedenspro- die Verbrechen von Goldstein und der Hamas, zesses von 1993 bis 1996 jedoch 256. Die so hat auch der Mord an Rabin gezeigt, dass Schlussfolgerung war klar: wenn das Frieden Einzelne ihre fundamentalistischen Ansichten sein sollte, war es besser, keinen Frieden zu haben. 1 Dabei handelt es sich um eine kabbalistische Zeremo- nie, in der die Engel der Zerstörung angerufen werden, Der „Friedensprozess“ verlor darüber hinaus um die himmlische Vergebung der Sünden zu behin- immens an populärer Unterstützung und die dern, weshalb das Opfer im Anschluss alle Flüche der Bibel befallen soll, die zu dessen Tod führen. der Mehrheit aufzwängen und so den Verlauf israelischen Siedler aus den besetzten Gebieten der Geschichte beeinflussen können. zurück zu ziehen. Arafat seinerseits wollte die 30 Verhandlungen dazu aufschieben, um zunächst Die Rechte kommt an die Macht eine breite Unterstützung unter seinen Leuten Das Attentat führte 1996 zu einem Regierungs- dafür zu gewinnen. Das ließen die USA und wechsel und der Rückkehr des Likud im Rah- Israel jedoch nicht zu. So sind schlussendlich men einer rechtsgerichteten Koalition. Das hat sowohl Barak als auch Arafat nach Camp Da- die Dynamik des Oslo-Prozesses geändert und vid gereist, um über eine bleibende Lösung seither sind die Bekundungen beider Seiten zu verhandeln, ohne das jedoch zuvor daheim

SERIE nicht mehr für bare Münze zu nehmen. Benja- ausreichend diskutiert zu haben. Allen voran min Netanjahu, der zum neuen Premierminister Barak fehlte so die Unterstützung für die not- wurde, konnte die zuvor geschlossenen Ab- wendigen Zugeständnisse, die er bereit war für kommen zwar nicht für nichtig erklären. Er ent- eine Lösung zu machen. schied sich stattdessen aber dafür den ganzen Prozess zu verlangsamen und die Palästinenser Ohne Souveränität keine Hoffnung durch den Ausbau der Siedlungen zu provozie- Obwohl es in Camp David durchaus konstruk- ren. Die israelische Reaktion auf den palästinen- tive Verhandlungen zu den Themen gab, die sischen Terror durch kollektive Strafmaßnah- bis heute nicht gelöst wurden, war eine Eini- men und Einschnitte in die Bewegungsfreiheit gung unmöglich. Shlomo Ben Ami, der Teil der palästinensischen Zivilbevölkerung haben des israelischen Verhandlungsteams war, hielt den Friedensprozess weiter gelähmt. Das hat rückblickend fest, dass es „in allen Punkten in zu einer weit verbreiteten Enttäuschung ge- den Verhandlungen einen Durchbruch gab, der führt und viele Menschen die Intentionen der zu einer Einigung hätte führen können – bis auf israelischen Regierung an einer Lösung des den Status von Jerusalem.“ Der Tempelberg Konfliktes weiter bezweifeln lassen. war das größte Hindernis für eine einvernehm- Der Oslo-Prozess, aus dem die Palästinensische liche Lösung. Autonomiebehörde (PA) entstand, sollte fünf Barak war maximal bereit, den Palästinensern Jahre dauern: mit dem Beginn der Verhand- religiöse Autonomie über den Tempelberg lungen über eine permanente Lösung im Mai zuzugestehen. Aber Arafat wollte entweder 1996 bis hin zu deren Abschluss im Oktober volle Souveränität darüber – oder sonst nichts. 1999. Aus den vorgesehenen fünf Jahren sind „Willst du zu meiner Beerdigung kommen?“, jedoch mittlerweile viel mehr geworden. Damit kokettierte Arafat. Und weiter: „Ich sterbe lieber, ist auch die Überzeugung gewachsen, dass die als dass ich israelische Souveränität über den israelische Regierung nicht an einem unabhän- Haram akzeptiere. Ich werde nicht als Betrüger gigen palästinensischen Staat interessiert ist, der Araber und Muslime in die Geschichte ein- sondern in der PA einen Partner gefunden hat, gehen. Millionen an Muslimen werden mir nie der sich um die Belange der palästinensischen vergeben, wenn ich nicht deren volle Souverä- Bevölkerung kümmert, ohne dabei volle Souve- nität über Ost-Jerusalem erlange. Es geht nicht ränität zu erlangen. um mich, sondern um die muslimische Welt.“ 1999 dann gewannen Ehud Barak und die Die Unfähigkeit, eine endgültige Lösung zu Linken die Regierungsverantwortung zurück, finden, um den Konflikt ein für alle Mal zu wenn auch Barak keine Mehrheit für seine beenden, hat beide Seiten dazu gebracht, das Friedenspolitik in der Knesset hatte wie sich Bemühen um einen Kompromiss aufzugeben. herausstellen sollte. Zwar war mit diesem So hat die Hoffnungslosigkeit auch zum Aus- Machtwechsel ein Anflug von Hoffnung ver- bruch der zweiten Intifada geführt, die den bunden, doch das angestaute gegenseitige Oslo-Prozess effektiv beendet hat. Beide Seiten Misstrauen und die Enttäuschungen auf beiden stehen seither der Möglichkeit, eine Lösung zu Seiten sollten bestehen bleiben. Barak, der finden, sehr skeptisch gegenüber, was sich für nichts von einem weiteren Interimsabkommen die israelische und palästinensische Führung hielt, wollte eine endgültige Lösung voran als zusätzliche Schwierigkeit erweist, um über- treiben, indem er bereit war, den Großteil der haupt wieder verhandeln zu können. Zum Scheitern verdammt? hen um Frieden zwischen den beiden Völ- Es gibt sicherlich eine Vielzahl an Gründen für kern erwiesen. So wird auch die israelische das Scheitern von Oslo. Zum Abschluss möchte Besatzung Palästinas mit religiösem Bezug 31 ich aber noch auf einige gesondert eingehen: vollzogen, während ein Kompromiss und die Teilung von Land aus Unvernunft und Men- 1) Beide Seiten mussten sich gegen eine starke schenverachtung abgelehnt werden. Auch heimische Opposition behaupten. Arafat wurde viele Muslime sind überzeugt, dass islamische angeklagt, ein Kollaborateur mit Israel zu sein, Güter nicht an Nicht-Muslime übergeben der das Existenzrecht Israels anerkannte ohne werden dürfen und es daher verboten ist, Land dafür überhaupt etwas zu erhalten. Auch Rabin zu teilen. Doch solange nicht klar ist, wie mit und Peres wurden als Betrüger beschimpft, die religiösen Eiferern am besten umzugehen ist, bereit waren, Land an die Palästinenser abzu- wird sich daher sicherlich auch keine Lösung treten, ohne Sicherheitsgarantien von ihnen zu im israelisch-palästinensischen Konflikt finden bekommen. So wurde die jeweilige Oppositi- lassen. Dabei muss gerade denjenigen Einhalt on in dem Maße größer, wie beide Seiten die geboten werden, Juden wie Muslimen, die das Ängste der Anderen bestätigten: Israel hat in „heilige“ Land aus eschatologischer Motivation den 20 Jahren seit Oslo die Anzahl seiner Sied- vollständig besiedeln wollen, weil ihnen Gottes lungen verdoppelt und die Palästinenser haben angeblicher Befehl wichtiger ist als das Leben den eigenen Terrorismus nicht ernsthaft genug auf Erden und politische Zugeständnisse. bekämpft. Der Oslo-Prozess war ein couragierter Versuch 2) Damals wie heute wurde Arafat als Chef der den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lö- PLO beschuldigt, nicht den mentalen Wandel sen, wobei es auf beiden Seiten Profiteure gab. von der Ära des militärischen und terrori- Die palästinensische Führung ist aus der Dia- stischen Kampfes hin zur Ära der Diplomatie spora zurückgekehrt und hat Anschluss an die und politischer Zugeständnisse vollzogen zu internationale Gemeinschaft gefunden, die die haben. In seiner Rede 1994 in Johannesburg PA und ihre Institutionen (finanziell) unterstüt- zum Beispiel sprach er mit gespaltener Zunge, zen. Israel dagegen genoss vor allem bis zum als er die Oslo-Abkommen mit dem Vertrag von Ausbruch der zweiten Intifada wirtschaftlichen Hudaybiyyah2 verglich. Das hat dazu geführt, Wohlstand mit Investitionen aus der ganzen dass Israelis die PLO immer mit Sorge und Miss- Welt und Zugang zu den Weltmärkten. trauen verdächtigt haben, Israel auslöschen zu wollen. Trotz des Pessimismus auf beiden Seiten ma- chen die gescheiterten Verhandlungen deut- 3) Auch heute noch ist es nicht klar, ob Peres lich, dass eine Lösung sich einzig und allein und Rabin wirklich überzeugt davon waren, aus der breiten Unterstützung beider Bevöl- dass das Ziel der Oslo-Abkommen eine Zwei- kerungen ergeben kann. Dafür sind die „Arab staatenlösung auf Grundlage der Grenzen von Peace Initiative“, die „Clinton Parameter“ sowie 1967 sein sollte. Sie haben das Ziel und ihre die „Geneva Initiative“ maßgeblich. Wenn es Vision für die Verhandlungen nämlich nie ver- beiden Seiten gelingt, die Öffentlichkeit und deutlicht. Das wäre allerdings dafür notwendig religiöse Gruppen davon zu überzeugen, dass gewesen, die israelische Öffentlichkeit davon das gemeinsame Leben wichtiger ist als der zu überzeugen, dass der Konflikt nur dann Anspruch auf das ganze Land, dann ist eine gelöst werden kann, wenn zwei unabhängige Lösung vielleicht möglich. Staaten neben einander existieren und Jerusa- lem geteilt wird. 4) Die jüdische und die islamische Religion Von Doron Gilad (Gastautor), der in Tel Aviv haben sich als Hindernis und Feind im Bemü- für die Genfer Initiative arbeitet und unter [email protected] zu erreichen ist. Kommentiert den Artikel unter: 2 Dabei handelt es sich um einen Vertrag zwischen dem Propheten Mohamed und dem Quraish-Stamm, der http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ Mekka regiert hatte. Der Vertrag wurde zwei Jahre später aufgelöst nachdem Mohamed Mekka mit einer 10,000 Mann starken Armee erobert hatte. Die palästinensische Befreiungsbewegung und 32 was davon übrig bleibt

Die palästinensische Freiheitsbewegung dauert bereits mehr als 60 Jahre an – und wird bei anhal- tender israelischer Besatzung auch noch weiter bestehen. Doch durch die Oslo-Abkommen wurde sie nachhaltig geschwächt. Das wird vor allem mit Blick auf die aktuelle soziale und politische Situation in den palästinensischen Gebieten klar. Von Tamara Tamimi. SERIE

Mit der „Prinzipienerklärung über vorüberge- Lösung bis heute aufzuschieben. Im Verlauf hende Selbstverwaltung” von 1993 wollten die der Zeit hat sich Israel zudem der Verantwor- palästinensischen und israelischen Vertreter tung entledigen können, die es als Besatzer der der ewigen Konfrontation und dem Konflikt besetzten Bevölkerung gegenüber für deren ein Ende bereiten. Dazu akzeptierte Israel die Gesundheitsversorgung, Schulbildung und palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) Sicherheit eigentlich hat. Zum anderen hat die als Vertreter der palästinensischen Bevölke- Spaltung der palästinensischen Kräfte zu die- rung, während die PLO das Existenzrecht Israels sem Status quo beigetragen. Auch die Regie- anerkannte und der Gewalt abschwor. rungen der arabischen Nachbarstaaten haben Bereits 45 Jahre vor dem Abschluss der Oslo- die palästinensische Sache in ihren Reden und Abkommen wurde die einheimische Bevölke- mit Hilfslieferungen zwar immer unterstützt. rung Palästinas durch zionistische Paramili- Die anhaltende israelische Besatzung haben täreinheiten – allen voran die , Stern sie aber nie wirklich durch politischen Druck zu und Irgun – von ihrem Land vertrieben, um beenden versucht. Dafür war auch die Strate- Platz zu schaffen für die jüdische Besiedlung. gie der palästinensischen Führung zu schwach Im Anschluss an die Staatsgründung Israels und in den Widersprüchen von Befreiung und 1948 sind diese Einheiten den israelischen Staatsgründung gefangen. Die Vereinigten Besatzungskräften angegliedert worden und Staaten als einziger „Vermittler“ für die Frie- bilden deren Rückgrat. densverhandlungen haben ihr übriges dazu beigetragen, den Status quo zu bewahren. Auch heute gibt es keinen souveränen und unabhängigen Staat Palästina. Das bedeutet, Dieser Status quo hat es Israel ermöglicht, in dass 20 Jahre nach der Prinzipienerklärung und seinem Sinne Fakten vor Ort zu schaffen. Dafür aller anderen Abkommen, die im Laufe der Zeit treibt Israel die jüdische Besiedlung im West- dazu gekommen sind, 46 Jahre nach der Reso- jordanland bis heute – und im Gazastreifen bis lution 242 der Vereinten Nationen, die einen 2005 – voran, hat die Mauer gebaut, die die palästinensischen Staat auf 22 Prozent des hi- Apartheid bekräftigt, sperrt tausende palästi- storischen Gebietes vorsah, und 66 Jahre nach nensische Zivilisten ein und judaisiert Jerusa- dem offiziellen Teilungsplan, die Palästinenser lem. Den sechs Millionen palästinensischen ihr Recht immer noch nicht erhalten haben. Der Flüchtlingen, die durch die ethnische Säube- jüdische Staat Israel dagegen gedeiht weiter. rung im Rahmen der Staatsgründung Israels 1948 geflohen sind, ist so das Recht auf Rück- Ein diskriminierender Status quo kehr genommen worden – obwohl die Verein- ten Nationen ihnen dieses Recht mit Resolution Israel ist es gelungen, einen privilegierten Sta- 194 zugesichert haben. tus für sich zu bewahren, indem es Palästinen- ser benachteiligt. Das liegt zum einen daran, Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 baut Israel dass immer wieder „Übergangsregelungen“ seine Siedlungen immer weiter aus, was eine mit der palästinensischen Führung beschlossen eklatante Verletzung internationalen Rechts wurden, ohne jedoch einen klaren zeitlichen und vor allem der UN-Resolution 242 darstellt. Rahmen für deren Umsetzung zu definieren. Das geschieht im Kontext des Bemühens, „Eretz So ist es möglich geworden, eine endgültige Israel“ zu ermöglichen, um so viel besetztes Land wie möglich unter israelische Kontrolle dards, allen voran die universelle Menschen- zu bringen, mitsamt aller natürlichen Ressour- rechtserklärung. cen, Wasserquellen und Infrastruktur. Wie in 33

Palästina: 1947 bis heute Foto: Wikipedia

der Vision der Zionistischen Weltorganisation Die politische Situation verhandeln? festgeschrieben, bezieht sich „Eretz Israel“ da- Dass die palästinensische Führung jetzt wie- bei auf ein Territorium, das vom Nil in Ägypten der Verhandlungen mit Israel aufgenommen bis zum Euphrat im Irak reicht. Die israelische hat, macht die ganze Angelegenheit nur noch Staatsflagge spiegelt diese Ambition wider. schlimmer. Die Vereinigten Staaten sollen ver- Der blaue Streifen an der Oberseite der Flagge mitteln, können oder wollen Israel aber nicht symbolisiert den Nil und der untere Streifen das dazu bringen, den Ausbau der Siedlungen zu Wasser des Euphrat. Diese Ambition wird bis stoppen und alle politischen Gefangen frei heute verfolgt, denn mittlerweile leben rund zu lassen. Dabei waren gerade diese beiden 350 000 Siedler in 235 Siedlungen und illegalen Punkte die ursprüngliche Bedingung der palä- Outposts in ganzen Westjordanland. stinensischen Vertreter, um überhaupt wieder Doch damit nicht genug. Um seine Interessen bilaterale Verhandlungen aufzunehmen. Indem weiter durchzusetzen, inhaftiert und hält Israel jetzt von diesen Forderungen abgesehen wird, zahlreiche palästinensische Aktivisten und Frei- verspielt die palästinensische Führung effektiv heitskämpfer gefangen. Die aktuellen Zahlen und unwiderruflich die Errungenschaften der belaufen sich auf insgesamt 4900 Gefangene, vergangenen Jahre, in deren Rahmen Palästi- von denen 236 Kinder und 168 in sogenannter na Ende 2012 als Nichtmitglieds-Staat bei den Verwaltungshaft sind. Die Verwaltungshaft ist Vereinten Nationen anerkannt wurde. eine Methode, die es dem israelischen Militär Die Anerkennung der Staatlichkeit Palästi- ermöglicht, Gefangene auf unbestimmte Zeit nas hätte gegen die israelische Besatzung ohne Gerichtsverfahren festzuhalten. Auch dies eingesetzt werden können, um einen Sied- missachtet und verletzt internationale Stan- lungsstopp und ein Ende der Verhaftung von von 1976. Doch fehlt es auch diesem Korpus Jugendlichen zu erwirken. Dafür hätte sich an Provisionen für volle Bürgerrechte, was die 34 Palästina an die internationale Gerichtsbarkeit Diskriminierung gegen Frauen ermöglicht und wenden können, um Israel für dessen Gewalt- grundlegende Werte von sozialer Gerechtigkeit taten gegenüber der palästinensischen Bevöl- und Gleichheit verletzt. kerung anzuzeigen. Stattdessen wurde zuletzt Die palästinensische Zivilgesellschaft im Allge- berichtet, dass Israels neuestes „großzügiges“ meinen und Nichtregierungsorganisationen Friedensangebot die volle Kontrolle über den von und für Frauen im Besonderen verfolgen Jordan sowie 40 Prozent der Westbank vor- zudem allesamt Projekte, die an der Emanzipa-

SERIE sieht, während Palästina „vorläufige Grenzen“ tion der Frauen vorbei gehen. Beeinflusst durch erhalten soll. Gespräche über die Demontage ausländische Gelder beschäftigen sie sich vor israelischer Siedlungen haben stattdessen nicht allem damit, institutionelle Kapazitäten zu stattgefunden. entwickeln, um Frauen deren eigene Rechte zu vermitteln. Als würden die Frauen nicht genau Soziale Folgen der Oslo-Abkommen wissen, was ihre Rechte sind! Dagegenvernach- Die Oslo-Abkommen haben auch die sozialen lässigen diese Projekte gerade, wie wichtig es Umstände in Palästina verschlechtert. Die Un- ist, die Interessen der Frauen durch eine breit fähigkeit der palästinensischen Führung, eine angelegte Mobilisierung zu vertreten, um den nachhaltige Lösung mit Israel zu verhandeln, politischen Prozess beeinflussen und bestehen- die Schwäche der palästinensischen Linken de Gesetze ändern zu können. Zwar war die nach dem Fall der Sowjetunion sowie die weit Gründung der „Nationalen Koalition zur No- verbreitete Korruption haben allesamt dazu velle des Strafrechts“ 2008 ein wirklicher Mei- geführt, dass viele Menschen das Vertrauen in lenstein der hiesigen Frauenbewegung. Doch säkulare Parteien verloren haben. Von diesem bedarf es nach wie vor ernsthafter und gemein- Vertrauensverlust haben vor allem fundamen- samer Anstrengungen, um die soziale Situation talistische islamische Parteien profitiert. So hat in Palästina nachhaltig zu verbessern. die Hamas auch die Wahlen zum palästinen- sischen Legislativrat 2006 gewinnen können. Die Rolle der PLO und der palästinensischen Anschließend hat sie sich gleich an die Arbeit Zivilgesellschaft gemacht, die Anwendung rechtsstaatlicher Angesichts dieser Entwicklungen wird deut- Prinzipien bis hin zur Schulbildung zu untergra- lich, wie sehr die Oslo-Abkommen die palästi- ben. So ist es beinahe unmöglich geworden, nensische Bevölkerung betreffen. Auch heute die weit verbreitete Anforderung an zentrale noch. Auf der politischen Ebenen ist die palä- Bürgerrechte zu erfüllen. stinensische Führung immer noch weit davon Aus den gleichen Gründen heraus hat die entfernt, Sicherheit und Stabilität gewährlei- Gewalt gegen Frauen und Kinder in den ver- sten oder einen souveränen Staat mit voller gangenen Jahren drastisch zugenommen. Kontrolle über dessen Grenzen, Ländereien Allein 2012 sind 18 Frauen sogenannten Eh- und Ressourcen erschaffen zu können. Auf der renmorden zum Opfer gefallen. Dass diese sozialen Ebene werden Menschenrechte und Straftaten immer zahlreicher werden, liegt soziale Gerechtigkeit weiter vernachlässigt. Der vor allem am rechtlichen Rahmen in Palästi- politische Stillstand bedeutet, dass die palästi- na. Das Strafgesetz zum Beispiel entstammt nensische Zivilgesellschaft sich bevormunden dem jordanischen Gesetz, das bereits 1960 in lässt, indem sie falschen ausländischen Erwar- Kraft getreten ist. Die relevanten Gesetzestext tungen hinterher hechelt, wodurch die linken kriminalisieren die Gewalt gegenüber Frauen und säkularen Parteien nur weiter geschwächt nicht ausreichend, sondern sehen stattdessen werden und die restriktive Rechtssprechung Strafminderungen für männliche Angeklagte bestehen bleibt. in solchen Fällen vor. Auch das Familienrecht, Daher bedarf es an diesem Punkt einer Reihe das Fragen der Eheschließung, Scheidung, an Maßnahmen, um die politische und soziale Erbe, Unterhaltszahlungen und Sorgerecht Situation in Palästina ändern zu können. betrifft, entstammt dem jordanischen Gesetz Auf politischer Ebene muss vor allem die PLO wiederbelebt und reformiert werden, um des- sen Rolle als einzig legitimem Vertreter der pa- 35 lästinensischen Bevölkerung wieder zu erfüllen. Die PLO muss anschließend die Verantwortung dafür übernehmen, eine politische Lösung mit Israel anzustreben, das an dieser Lösung und einem Ende der Besatzung eigentlich nicht in- teressiert ist. Um das zu erreichen, muss die pa- lästinensische Position gestärkt werden. Dafür müssen die Hamas-Regierung im Gazastreifen und die Fatah im Westjordanland die nationale Spaltung beenden. Die PLO sollte sich darüber hinaus an die Vereinten Nationen wenden, um die israelische Regierung dazu zu bringen, sich an die Anforderungen internationalen humani- tären Rechts zu halten, indem Menschenrechts- verletzungen, wie sie alltäglich passieren, zur Anzeige gebracht werden. Auf sozialer Ebene sollte die palästinensische Zivilgesellschaft ihre Kräfte bündeln, um den politischen Prozess zu beeinflussen und ein- zufordern, dass ihre Interessen berücksichtigt werden. Dafür müssen zum Beispiel Großde- monstrationen organisiert werden, um die Reform aktueller Gesetze zu verlangen. Au- ßerdem sollten spezielle Komitees gegründet werden, um das Bildungswesen und das Curri- culum zu reformieren. Diese Komitees können auch als Partner fungieren, um die Fortbildung der Lehrkräfte zu finanzieren. Diese Schritte sind notwendig, um eine zivile Kultur im palä- stinensischen Schulwesen zu etablieren. Es ist schließlich unser aller Ziel, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen, die die Rechte von Schwachen beschützt und sie als wichtigen Be- standteil des gemeinsamen Bemühens um nati- onale Befreiung und Unabhängigkeit begreift.

Von Tamara Tamimi (Gastautorin), einer Ak- tivistin für die Fatah-Jugendbewegung, die in Ramallah lebt und unter [email protected] zu erreichen ist. Kommentiert den Artikel unter: http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ Internationales Recht, Un-Recht und die Besat- 36 zung Palästinas

Internationales Recht soll universell gültig sein – dessen Geltung aber ist lokal umstritten. Das ist die zentrale Ambivalenz, derer sich die israelische Besatzung Palästinas bedient, um Un-Recht abzuwi- ckeln. So wird Recht in Israel umgangen, in den besetzten palästinensischen Gebieten aufgeteilt und auf internationaler Ebene vertagt. Das offenbart die Mechanismen der anhaltenden Diskriminierung

SERIE der palästinensische Bevölkerung. Um an dieser Realität etwas zu ändern, bedarf es jedoch der poli- tischen Auseinandersetzung, weil Recht, das nur für Einzelne gilt, lediglich Willkür ist.

Israel: „Demokratische“ Schlupflöcher dem Gaza-Streifen oder anderen arabischen In Israel basiert die Diskriminierung der palästi- Ländern zum „Schutze Israels“ nicht erlaubt, nensischen Bevölkerung nicht auf einer recht- nach Israel zu kommen. Viele leben daher lichen Grundlage. Das ist im doppelten Sinne „illegal“ im Land, woraufhin alle palästinen- gemeint: Zum einen gibt es keine israelischen sischen „Eindringlinge“, aber auch afrikanische Gesetze, die explizit die palästinensische Bevöl- Flüchtlinge, deren Kinder sowie alle, die ihnen kerung attackieren, zum anderen verletzt deren helfen wollen, von Staats Wegen kriminalisiert, anhaltende Diskriminierung grundsätzliche ausgewiesen und eingesperrt werden können. Aspekte internationalen Rechts. Zudem dürfen israelische Gemeinden über den Zuzug neuer Anwohner entscheiden, weshalb Israel hat zwar keine Verfassung, dafür gibt es häufig arabische Israelis auf der „rechtlichen aber einige wesentliche Gesetzestexte. Zu- Grundlage“ unterschiedlicher Lebensstile und dem hat Israel eine Reihe von internationalen des „Gemeinwohls“ ausgeschlossen werden. Verträgen ratifiziert, die die Regierung unein- geschränkt zum Schutz von Menschenrechten Auch im Bildungssystem gibt es klare Ten- verpflichten.1 Offiziell gelten für alle Menschen denzen und große Defizite. Viele Schulen für Israels also die gleichen Rechte; alle sollen von die palästinensische Bevölkerung Israels sind der „demokratischen Entwicklung“ Israels pro- nicht gut genug ausgestattet und haben nicht fitieren, von Eisenbahnlinien von West- bis ins die Kapazitäten, alle Schüler zu unterrichten. annektierte Ost-Jerusalem, Autobahnen vom Zudem vernachässigt und verleugnet der offizi- Mittelmeer durch die besetzten palästinen- elle Lehrplan die Geschichte der Palästinenser. sischen Gebiete bis zum Jordan und von segre- Das befördert eine Normierung, im Zuge derer gierten Freizeitmöglichkeiten für die Bevölke- kritische Stimmen sanktioniert und allein die rung. Ganz selbstverständlich. Erinnerung an die palästinensische Geschichte bestraft werden, weil sie „die Existenz Israels Doch einzelne Verordnungen geben eine Prio- gefährden“. rität vor, die vom Großteil der jüdischen israe- lischen Bevölkerung vermeintlich unterstützt Diskriminierung mit legalem Anschein, aber wird, was deren „Rechtfertigung“ bedeuten ohne rechtliche Grundlage soll. So ist es den Familienangehörigen palä- stinensischer Israelis aus dem Westjordanland, Doch gibt es (bisher) keine offiziellen Vor- schriften, die Palästinenser explizit in ihrer Arbeit, Wohnraum und Gemeinschaft ein- 1 Israel hat folgende internationale Verträge ratifiziert, schränken. Die israelische Regierung bedient durch die es zum Schutz von Menschenrechten angehal- sich vielmehr Schlupflöcher, Ausreden und ten ist: Internationaler Pakt über bürgerliche und poli- tische Rechte; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, Vorwände, um Palästinenser davon abzuhalten, soziale und kulturelle Rechte; UN-Kinderrechtskonventi- in sogenannten sensiblen Posten zu arbeiten, on; UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Dis- Renovierungsarbeiten und Erweiterungen in kriminierung der Frau; Internationales Übereinkommen ihren Wohnungen vorzunehmen oder nach de- zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung; ren Belieben zu siedeln. Auch ohne rechtliche UN-Antifolterkonvention. Grundlage hat sich die Diskriminierung der Unverletzliche nationale Prämissen palästinensischen Bevölkerung so institutiona- Dieses Spannungsverhältnis ist so eklatant, lisiert. Palästinenser arbeiten demnach häufig dass sogar die Regierung des Landes sich 37 in unsicheren Verhältnissen, auf dem Bau, in genötigt fühlt, darauf zu reagieren. So hat die der Gastronomie, manchmal illegal, oft ohne israelische Justizministerin Zipi Livni ein Rechts- Sozialleistungen und meist für weniger als den gutachten beauftragt, um festzulegen, nach gesetzlichen Mindestlohn von 160 Schekel welchen Maßstäben sich die jüdische Identitiät pro Tag. Weil Palästinenser darüber hinaus die mit demokratischen Werten verbinden lässt. notwendigen Genehmigungen von der israe- Wohlgemerkt in dieser Reihenfolge. lischen Regierung nur selten erhalten, sind sie häufig Opfer der Zerstörung „illegal“ errichteter Der Knessetabgeordnete Yariv Levin geht oder renovierter Häuser. Während momentan sogar noch einen Schritt weiter. Er will endlich Wohnungen für 200,000 Menschen in Ost-Jeru- alle Zweifel beseitigen. Levin, der Mitglied der salem gebaut werden, ist keine einzige davon Likud-Partei von Premierminister Benjamin Ne- für Palästinenser vorgesehen. So soll die ganze tanjahu ist, hat ein „Basic Law“ vorgestellt, das Stadt „judaisiert“ werden. Im Zuge dessen ist den alleinigen Anspruch der jüdischen Bevölke- zudem in den vergangenen 20 Jahren mehr als rung auf Israel deklariert und so die Rechtspre- 15,000 Palästinensern das Wohnrecht in Jerusa- chung des Staates dahingehend beeinflussen lem entzogen worden. soll, die jüdische Identität in politischen Ausei- nandersetzungen gegenüber demokratischen In den vereinzelten Gerichtsverfahren am Ober- Prämissen bevorzugt zu behandeln. Der in- sten Gerichtshof Israels, in denen die Causa offiziellen Praxis der Apartheid würde so ein Besatzung verhandelt wird, bekommt diese legaler Rahmen verpasst werden. Diskriminierung einen Anschein von Legalität verpasst. In Israel, der „einzigen Demokratie im Die Regierungskoalition rechtfertigt den Ent- Nahen Osten“ (für die jüdische Bevölkerung), wurf damit, dass die Rechte der Bevölkerung an herrscht schließlich Meinungsfreiheit, wird Verantwortungen geknüpft seien, mit denen Vielfalt zelebriert und es wird so kontrovers die Loyalität gegenüber Israel erwiesen werde. diskutiert, wie es die biedere Polemik gebietet. So heißt es, dass so lange die palästinensische Doch rechtliche Einsprüche werden ebenso Bevölkerung ihre Verantwortungen wie den häufig abgetan wie Urteile gegen die Praxis der Armeedienst nicht erfüllt (was sie aber gesetz- Besatzung nicht verfolgt werden. Das bedeutet lich nicht darf), es daher auch nicht diskriminie- Straffreiheit und macht die Rechtsprechung rend sei, ihnen nicht die gleichen Rechte zuteil zum Komplizen der Besatzung, indem sie werden zu lassen wie jüdischen Israelis. sakrosankten nationalen Prämissen unterwor- fen wird. Dazu zählen allen voran der jüdische Un-Recht mit Prinzip Charakter Israels und dessen Sicherheitgebote. Diese Argumentation hat Prinzip: erst wird die Auf dieser Grundlage werden Bürgerrechte von diskriminierende Präzedenz geschaffen, der Staatsbürgerschaft abgekoppelt, um die Gel- dann Folge geleistet wird, um vermeintliche tung von Bürgerrechten durch eine ethnisch- Rechtmäßigkeit zu demonstrieren. Auf diese religiöse Definition von Staatsbürgerschaft zu Weise wird es erschwert, Unrecht zu bestim- begrenzen. Palästinensische Israelis werden auf men, weil ein Maßstab fingiert wird, der falsche diese Weise um viele Rechte gebracht. Obwohl Prioritäten vorgibt. Das gibt Anlass zu Maxi- sie rund 20 Prozent der Bevölkerung ausma- malforderungen. So wird berechtigte Kritik, die chen, stehen ihnen offiziell nur 3,5 Prozent des sich gegen konkretes Unrecht wendet, durch Landes zur Besiedlung zu. Das offenbart ein den Verweis auf die (ostentative) Notwendig- Spannungsverhältnis, das sich aus den Ambiti- keit ausgebootet, die jüdische Bevölkerung zu onen des politischen Zionismus ergibt: nämlich beschützen. die Vormacht eines Teils der Bevölkerung Isra- Dabei geht es bei dieser Kritik gerade nicht els im ganzen Land gegen die demokratische darum, das Existenzrecht Israels anzuzweifeln Anforderung an gleiche Rechte für dessen oder zu verkennen, wie viel Terror auch von pa- gesamte Bevölkerung durchzusetzen. lästinensischen Angriffen ausgeht. Auch geht es nicht darum, zu vertuschen, dass auch in an- untergräbt dabei deren Geltung, weil so eine deren Ländern viel Unrecht passiert. Denn das Hierarchie an Privilegien und Sicherheiten ent- 38 sind die Vorwände, durch die Kritik an der Poli- steht. Davon profitieren sicherlich auch einige tik Israels zum Antisemitismus umgedeutet und Palästinenser. Doch die Privilegien einzelner Einwände als feindselig missbilligt werden. Der Teile der Bevölkerung rechtfertigen und ent- Verweis auf internationales Recht wird so oft als kräften nicht das Unrecht, unter dem andere Euphemismus für die Rechte der Palästinenser leiden. Daher ist es eigentlich blanker Hohn, abgetan. Denn obwohl Rechte universell gültig dabei noch von Gesetzlichkeit zu sprechen, sein sollten, wird deshalb vorsätzlich argu- weil die Lebenswirklichkeit vieler Palästinenser

SERIE mentiert, Rechte seien exklusiv. So soll deren ein Widerspruch zu deren Rechten – und Recht Geltung für einen Teil der Bevölkerung dadurch zumal blind gegenüber der asymmetrischen begründet werden, diese Rechte einem ande- Gewalt und Macht Israels ist. So gelten für ren Teil der Bevölkerung abzusprechen. insgesamt rund 11,5 Millionen Menschen, die in Doch leidet unter dem Regime dieser Diskrimi- Israel, den besetzten Gebieten und der Dia- nierung nicht nur die palästinensische Bevölke- spora leben, mindestens fünf unterschiedliche rung. Orientalische und äthiopische Juden sind Herrschaftsräume. davon ebenso betroffen wie viele afrikanische Erstens gelten für arabische Israelis formell Immigranten. Daneben tragen große Teile der zwar die gleichen Rechte wie für jüdische säkularen jüdischen Bevölkerung die hor- Israelis, aber sie sind mit alltäglichen Diskrimi- renden Kosten für die Besatzungspolitik. Auf nierungen konfrontiert. Zweitens gibt es für unterschiedliche Weise sind so viele Menschen die arabische Bevölkerung Jerusalems zudem dem anhaltenden Unrecht und einer Regierung eine gesonderte Kategorie, die „Jerusalem ausgeliefert, die dazu ermächtigt ist, dieses ID“. Diese erlaubt Palästinensern, in Jerusalem Unrecht zu begehen. Das gibt dem Bemühen, zu wohnen und an Gemeindewahlen teilzu- universelle Rechte in Israel zu erwirken, einen nehmen. Allerdings ist deren Wohnrecht an konkreten lokalen Bezug: der Politik eines Auflagen gebunden und Restriktionen unter- Regimes Einhalt zu gebieten, das Menschen auf worfen, weil der Ausweis nur für Jerusalem gilt. Grundlage ihrer Nationalität, Herkunft, Religion Drittens, Palästinenser im Westjordanland sind und politischer Ansichten kontrolliert. Doch israelischem Militärrecht und den Richtlinien dieses Regime ist machtvoll. So sehr, dass das der Oslo-Abkommen unterworfen, die es der Bemühen um gleiche Rechte immer wieder israelischen Regierung über die vergangenen kompromittiert und untergraben wird. Jahrzehnte ermöglicht haben, die Besatzung und Kolonialisierung Palästinas voran zu trei- In den besetzten palästinensischen Gebie- ben. Viertens, die Bevölkerung im Gaza-Streifen ten: Macht übertrumpft Recht ist eingesperrt und auf eklatante Weise um In Palästina sind Grenzen zugleich maßgebend grundlegender Anrechte beraubt. Fünftens, und völlig obsolet für das Recht, das für die Be- die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge in völkerung gilt. Für jüdische Israelis, die jenseits den umliegenden arabischen Ländern sind im der grünen Linie leben, also nach internatio- Verlauf der vergangenen sechs Jahrzehnte zu nalem Recht illegale Siedler in Palästina sind, einer humanitären Angelegenheit degradiert gilt israelisches Recht. Darüber hinaus können worden, die es zu verwalten gilt. So ist eine Juden auf der ganzen Welt entsprechend des Ausnahmesituation zum permanenten Not- „nationality laws“ von 1952 die Staatsbürger- stand geworden. schaft inklusive aller Rechte im Staate Israel erlangen. Nach dem Abstammungsprinzip, das Wie sich die Besatzung rechtlich bestimmen Blutrecht bedeutet, sind territoriale Grenzen für lässt jüdische Israelis daher unerheblich. Diesen Umständen ist gemein, dass sie unter- Dagegen sind Grenzen für die palästinensische schiedliche Facetten der anhaltenden Enteig- Bevölkerung maßgeblich, weil sie vorgeben, nung, Entmächtigung und Fragmentierung der welche Rechte gelten und welche nicht. Ei- palästinensischen Bevölkerung sind. Die damit gentlich universell gültige Rechte aufzuteilen, verbundene Expansionspolitik der israelischen Regierung ist der politische Gegenstand, an der Besatzung für vorübergehend erachtet, be- dem sich die Besatzung Palästinas rechtlich inhaltet es nur unzureichende Regelungen für bestimmen lässt. Das hat mit der abstrakten eine Besatzung, die bereits Jahrzehnte anhält. 39 Debatte um formelle Souveränität zunächst gar Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen natio- nichts zu tun. Vielmehr geht es um die Folgen nalen Interessen Israels und den Anrechten der palästinensischen Bevöl- kerung ist internationales Recht daher gleichzeitig irrelevant und letztgültig. Für Israel ist internationa- les Recht irrelevant, weil es keine Besatzung gibt. Es gibt keine Besatzung, so wird argumentiert, weil Palästina kein souve- räner Staat sei, sondern es sich um „umstrittene“ und „geteilte“ Territo- rien handele, in denen schon seit jeher exogene Rechtstraditionen galten.2 Diese Ansicht beruht auf der Annahme, dass das Westjordanland und Ostjerusalem bis 1967 Alles was Recht ist? Soldat und Siedler nehmen Palästinenser fest. Foto: Flickr/Michael.Loadenthal bereits unter jordanischer und der Gazastreifen unter ägyptischer Herr- der konsequenten Verletzung persönlicher In- schaft standen. Israel hat daher seit 1967 einzig tegrität und kollektiver Selbstbestimmung, die „die Verwaltung“ der Gebiete übernommen. zentralen Normen internationalen Rechts. Für Im Rahmen dieser „Verwaltung“ – ein Eu- diese Bestimmung ist maßgeblich, dass die pa- phemismus, der Wohlwollen suggeriert, wo lästinensische Bevölkerung umfassender und Aggression gilt – können Palästinenser ohne grundlegender israelischer Kontrolle unterliegt, Genehmigung der israelischen Autoritäten dass der Konflikt, in dessen Rahmen die Besat- jedoch kaum etwas machen. Dabei vermischen zung entstand, weiter anhält und dass Israel sich informelle Ansprüche mit offiziellen Ent- nicht unilateral den internationalen Status der scheidungen. So argumentieren beispielsweise besetzten Gebiete ändern kann, indem es vor- national-religiöse Israelis, das Westjordanland gibt, die Besatzung sei beendet. sei ohnehin ein Teil von „Eretz Israel“. Für ihre Besiedlung von „Judäa und Samaria“ versu- Diese Bestimmung ist fundiert und eigentlich chen sie daher ein biblisches/religiöses Recht eindeutig. Doch haben sich daraus noch keine zu erwirken. Dieses wird offiziell vielleicht rechtlichen Konsquenzen für Israel ergeben. nicht propagiert, die Besiedlung aber dennoch Daher kann die israelische Regierung aus unterstützt, indem die Regierung immer wieder Kalkül so tun, als liese sich die Situation un- terschiedlich bemessen. Aus der Position der Stärke schafft Israel in diesem asymmetrischen 2 Aktuelle Regelungen in den besetzten palästinen- Konflikt so für sich das „Recht“, Besatzung mit sischen Gebieten entspringen unterschiedlichen Rechts- nationalen Interessen zu „rechtfertigen“. Dabei quellen und -traditionen: dem osmanischen Reich, macht es sich eine sogenannte Lacuna zunut- der britischen Mandatszeit, jordanischem Recht (im ze – eine Gesetzeslücke: weil internationales Westjordanland), ägyptischem Recht (im Gaza-Streifen), israelischem Militärgesetz und palästinensischer Gesetz- (humanitäres) Recht nämlich den Gegenstand gebung. illegale „Outposts“ rückwirkend anerkennt und internationales humanitäres Recht bestätigt. mit staatlichen Subventionen fördert. Mit dem In Ergänzung zu den Grundsätzen, die aus der 40 Abzug israelischer Siedler und des Militärs aus Haager Friedenskonferenz von 1907 entstan- dem Gaza-Streifen 2005 wurde die Besatzung den sind, umfasst das die vier Genfer Konven- durch den israelischen Obersten Gerichtshof tionen von 1949 sowie die Zusatzprotokolle I darüber hinaus für beendet erklärt – doch in und II von 1977. Diese Konventionen, 1951 von Wirklichkeit reicht die israelische Kontrolle der Israel ratifiziert, macht die Zivilbevölkerung in Bevölkerung so weit, sogar über die Menge an besetzten Gebieten rechtlich zu „beschützten Kalorien zu entscheiden, die den Palästinensern Personen“ – ein Status, der nicht durch Ver-

SERIE pro Tag zur Verfügung stehen soll. handlungen oder unilaterale Entscheidungen umgangen werden darf. Dementsprechend ist Israel interpretiert internationales Recht es die anhaltende Verantwortung des Besatzers bewusst falsch Israels, palästinensische Zivilisten und deren Die israelischen Bestimmungen sind so dreist, Besitz zu beschützen sowie deren humanitäre wie die beliebige Auslegung von Recht gefähr- Bedürfnisse zu erfüllen. Die Priorität dieser Ver- lich ist. antwortung ist in der (nicht verbindlichen) Stel- lungnahme des Internationalen Gerichtshof zu Die Auslegung ist beliebig, weil Israel für sich den rechtlichen Konsequenzen der israelischen das Recht der (präventiven) Selbstverteidigung Sperranlage nochmals bestätigt worden.3 gegenüber der palästinensischen Bevölkerung beansprucht (wie beispielsweise während der Doch die israelische Exegese, dass Palästina zweiten Intifada und zuletzt während der Gaza- weder souverän noch besetzt ist, aber weiter Offensive im November 2012). Nach internatio- eine Sicherheitsbedrohung im Konflikt mit nalem Recht (vgl. Kapitel 7 der UN-Charta sowie Israel darstellt, befördert die palästinensischen der UN-Resolutionen 1368 und 1373 von 2001) Gebiete und Bevölkerung in einen rechtlichen stünde dies Israel aber nur dann zu, wenn Palä- Ausnahmezustand. Indem verfügt wird, das stina ein selbstständiger Staat wäre – ein Recht Westjordanland und der Gaza-Streifen befän- aber, das Israel Palästina ebenso abspricht wie den sich „außerhalb staatlicher Strukturen“, soll der palästinensischen Bevölkerung das Recht die Besatzung Palästinas nichtig werden, um so auf Selbstverteidigung. Bezeichnender Weise die Rechte der besetzten Bevölkerung degra- operiert in den palästinensischen Gebieten dieren zu können. Dieser Zustand ermöglicht nicht etwa der israelische Auslands-, sondern es der israelischen Regierung, seine Expansi- der berüchtigte Inlandsgeheimdienst „Shin onspolitik weiter umzusetzen, ohne sich dabei Beit“. Israel kann die palästinensischen Gebiete Sorgen um die anhaltende Verletzung von daher nicht besetzen und gleichzeitig exzessive Menschenrechten und humanitärer Normen Gewalt gegenüber der Bevölkerung mit dem machen zu müssen. Entscheidend ist, dass die Argument rechtfertigen, dass diese Gebiete Besatzung mit Verweis auf „Stabilität und Si- eine „auswärtige“ Bedrohung für die nationale cherheit“ so abgewickelt wird, obwohl nachhal- Sicherheit Israels darstellen. Entsprechend der tige administrative Maßnahmen des Besatzers UN-Charta, UN-Resolutionen 2625 und 2649, eigentlich verboten sind. dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie dem Pakt Die Oslo-Abkommen und das kalkulierte über bürgerliche und politische Rechte, die administrative Wirrwarr Israel beide ratifiziert hat, verletzt nämlich der Den politischen Rahmen dazu bilden – nolens Verweis auf Selbstverteidigung des Besatzers das höhere Recht der Selbstbestimmung der besetzten Bevölkerung. 3 Das Urteil hat die israelische Sperranlage für illegal er- Deshalb ist nach internationalem Recht diese klärt und die israelische Regierung aufgefordert, 1) deren Bau in den besetzten Gebieten, einschließlich Ostjeru- beliebige Auslegung von Berechtigung ge- salems, zu stoppen, 2) die Anlage zu demontieren und fährlich, weil Israel als Besatzer eigentlich die 3) Reparationen für den Schaden zu erstatten, den die Verantwortung gegenüber der besetzten Be- Sperranlage der Bevölkerung zugefügt hat. Mittlerweile völkerung hat. Diese Verantwortung ist durch sind neun Jahre vergangen, wobei Israel alle Forde- rungen bisher ignoriert. volens – die Oslo-Abkommen und offiziellen men, weil sie dafür keine Befugnisse hat, wäh- „Friedensverhandlungen“. Um gleiche zivile rend für Palästinenser israelisches Militärgesetz Rechte ging und geht es dabei nicht. Zur Vor- und für Siedler israelisches Zivilrecht gilt. Das 41 bereitung eines „permanenten Status“ vor 20 bedeutet, dass Palästinenser Straftaten von Jahren beschlossen, haben die Abkommen viel- Israelis nicht verfolgen können, weil Israel den mehr die politische Geographie im Westjordan- palästinensischen Gerichten die Gerichtsbarkeit land definiert und so ein System von Privilegien auf der Grundlage abspricht, dass Palästina und Restriktionen etabliert, das zugunsten von kein Staat ist und daher israelisches Recht für Israel auf Kosten der palästinensischen Bevöl- Israelis in den besetzten Gebieten gilt. Statt- kerung geht. dessen müssen Palästinenser (oft mit internati- Im Zuge der Abkommen ist die palästinen- onaler Unterstützung) Klagen vor israelischen sische Autonomiebehörde (PA) zur Sicherheits- Gerichten einreichen, was aufwendig, aber Kooperation mit der israelischen Regierung wenig Erfolg versprechend ist. erschaffen worden, wofür die PA teilweise zivile So deuten israelische Offizielle den Einsatz Befugnisse erhielt. Die breite palästinensische „gezielter Interventionen“ auch damit um, dass Befreiungsbewegung ist so seither nach den das israelische Militär sich längst aus Palästina offiziellen Vorgaben von Quasi-Staatlichkeit zurück gezogen hätte und ihnen dort keine beschränkt worden. Entsprechend des Kalküls, polizeiliche Aufsicht möglich sei, um die „aus- politische Bedingungen an zivile Autoritäten ländische Bedrohung“ gewaltbereiter Palästi- zu stellen, ohne diese jedoch ausreichend an nenser zu kontrollieren. Doch tatsächlich ist die demokratische Teilhabe und Rechtstaatlichkeit „Judea and Samaria District Police“ in den be- zu binden, sind drei administrative Zonen ent- setzten Gebieten aktiv. Sie ist vor allem für ihre standen. In den sogenannten A-Gebieten, rund notorische Willkür bekannt. Einerseits halten 17 Prozent des Westjordanlandes, in denen 55 sich die israelischen Sicherheitsdienste sehr zu- Prozent der palästinensischen Bevölkerung le- rück, Palästinenser vor der Gewalt israelischer ben, hat die PA Sicherheits- und zivile Autorität. Siedler zu beschützen, deren Straftaten aufzu- Das bedeutet, dass die PA in primär urbanen klären und Verantwortliche zur Rechenschaft Regionen eigene Polizeieinheiten etablieren zu ziehen. Obwohl – oder weil – Siedler unter und Infrastrukturprojekte durchführen kann. israelischer Jurisdiktion stehen, werden neun In den B-Gebieten, 21 Prozent des Landes mit von zehn Fälle „ohne Ergebnis“ geschlossen. rund 41 Prozent der Bevölkerung, hat die PA Gegen Palästinenser reicht der diskriminieren- zivile Befugnisse bei israelischen Sicherheitsau- de Arm des israelischen „Gesetzes“ andererseits toritäten. In den C-Gebieten, knapp 62 Prozent jedoch so weit, sogar Kleinkinder gefangen des Landes, in denen vier Prozent der palästi- zu nehmen. Gleichzeitig gehen PA-Dienste im nensischen Bevölkerung und mehr als 300,000 Zuge der „Sicherheitskooperation“ mit Israel israelische Siedler leben, hat die PA keinerlei gezielt gegen Hamas-Mitglieder vor, während Befugnisse. Hier herrscht israelische Polizei die innerpalästinensische Spaltung ebenso und müssen Palästinenser Genehmigungen anhält wie die effektive Isolation des Gazastrei- bei der israelischen Administration beantragen fens vom Westjordanland. (Genehmigungen, die sie kaum erhalten), um einfachste Infrastrukturprojekte umzusetzen. Recht soll ausgehandelt werden, wird aber Diese Einteilung, eigentlich nur für eine Über- kompromittiert gangsphase von ein paar Jahren vorgesehen, Ungeachtet dieser Konsequenzen haben die in der sich die Israelis vollständig aus dem Oslo-Abkommen die Verhandlung zwischen Westjordanland zurück ziehen sollten, hat bis Israelis und Palästinensern zur Voraussetzung heute Bestand, weil der Rückzug nur in einem einer Resolution vorgegeben. Allerdings wur- Bruchteil des Landes geschah. Die Konsequenz den die offiziellen Verhandlungen gerade der daraus ist ein kalkuliertes rechtliches und admi- Komponenten, die für eine langfristige und nistratives Wirrwarr um Verantwortlichkeiten. faire Entscheidung essentiell sind, immer wie- Die palästinensische Polizei darf nichts gegen der verschoben. Dazu gehört der Status Jeru- Israelis in den besetzten Gebieten unterneh- salems, die Grenzen eines palästinensischen Staates, israelische Siedlungen in den besetz- Lösungen vorzugeben und so die Besatzung als ten Gebieten, die Rückkehr palästinensischer Konflikt umzudeuten, den es zu verwalten gilt 42 Flüchtlinge sowie Anliegen „gemeinsamen während die Besatzung unangetastet bleibt. Interesses“ wie den Zugang zu Wasserquellen. Die palästinensischen Verhandlungsführer SERIE

Verhandlungen bis zur Stasis? Foto: Tobias Pietsch

Gerade weil diese Fragen nicht geklärt wurden, hat die israelische Regierung aus der Position haben sich so immer wieder einschneidende der Stärke heraus Fakten schaffen können. Konzessionen diktieren lassen und machen Diese Fakten determinieren eine „permanente müssen. Daher darf bei anhaltendem Unrecht Lösung“ indem sie die Besatzung der palästi- internationales Recht nicht kompromittiert nensischen Bevölkerung zugunsten der isra- werden. Denn die zweckdienlichen Bemü- elischen Expansion erfüllen. So ist die Anzahl hungen Israels, eigene Interpretationen zu israelischer Siedler allein 2013 bisher um 7,700 lancieren, verletzen internationales Recht, das Menschen und im Vergleich zum israelischen grundsätzlich allgemein gültig sein soll, wäh- Kernland seit 2012 um das dreifache gewach- rend sie dessen Relevanz gleichwohl belegen. sen. Der Siedlungsraum für Palästinenser in Obwohl internationales Recht (formell) Vorrang den besetzten Gebieten wird dagegen immer gegenüber verhandelten Verträgen hat, ist es kleiner. Es ist zynisch, wie Menschen in diesem der israelischen Regierung so gelungen, die Konflikt um den Anspruch auf Land gegen- Kontrolle über Palästinenser, deren Land und einander aufgewogen werden. Ein fairer und Ressourcen zu etablieren, ohne Verantwortung gerechter Ausgleich ist aber deshalb durch für den Schutz der Bevölkerung übernehmen Verhandlungen nicht (mehr) möglich, weil die zu müssen. Das ist – de facto – die Definition Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“ ablau- der israelischen Besatzung Palästinas. fen sollen. Dadurch werden nämlich genau die Dabei ist internationales Recht allein keine Punkte ausgespart, die den diskriminierenden Lösung für das Unheil und die Leiden dieses Gegenstand der Besatzung manifestieren, was Konflikts. Doch während alle anderen Schutz- auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung mechanismen untergraben werden, ist interna- geht. tionales Recht der letzte Standard, die Realität Einerseits muss Recht stetig ausgehandelt wer- der israelischen Besatzung Palästinas zu be- den. Doch andererseits ist Israel als Besatzer in greifen, um die Konsequenzen der kollektiven der privilegierten Position, gerade durch Ver- Sanktionierung, ziviler Kollateralschäden und handlungen die Bedingungen einer möglichen eklatanter Un-Verhältnismäßigkeit zu verfol- gen. Das alltägliche Un-Recht, das für Palästi- fen werden, der die gerechte Anwendung von nenser evident ist, sich von außen aber nur Recht auch auf nationaler Ebene ermöglicht. schwer einschätzen lässt, kann so durch den Gibt es solche Maßstäbe und Instanzen nicht, 43 Verweis auf internationales Recht verdeutlicht bleibt internationales Recht inhaltslos. Daher ist werden. die Rechtssprechung in Israel oft parteiisch und in den besetzten Gebieten selektiv. Internationale Ebene: Unrecht alimentieren Das gibt, wie der Verlauf der offiziellen Ver- Die Gültigkeit internationalen Rechts ist auf handlungen zwischen Israelis und Palästinen- zwei Ebenen zu bemessen. Die erste ist die for- sern zeigt, Anlass zu Maximalforderungen. melle, die definiert, was rechtlich erlaubt und Indem eine Gruppe dann für sich das Recht verboten ist. Die zweite ist die der Auslegung, verlangt, das sie Anderen zunächst abspricht, in der die Bedeutung internationalen Rechts in wird Recht häufig nach halbgaren Kalkulati- dessen Anwendung oder Missachtung begrün- onen aufgeteilt. Die humanitäre Notsituation det ist. Die anhaltende israelische Besatzung für die palästinensische Bevölkerung bleibt Palästinas offenbart daher die große Diskre- so bestehen, weil fundamentale Rechte nicht panz zwischen diesen beiden Ebenen. Denn eingehalten und umgesetzt werden, sondern obwohl es formell klare Rechtsprovisionen Un-Recht verwaltet wird, ohne dass sich an der gegen die Besatzung gibt, wird sie seit Jahr- Situation etwas ändern würde. zehnten umgesetzt. So ist internationales Recht bedeutungslos und zugleich unabdingbar. Um Verbrechen ohne Verantwortung Recht im Kontext der israelischen Besatzung Doch wie lassen sich diese Maßstäbe und anzuwenden, erfordert das allerdings politische Instanzen etablieren, während die verfügbaren Auseinandersetzungen. Rechtstexte Unrecht zwar identifizieren, aber Das bedeutet, internationales Recht im An- die Autoritäten fehlen, um es zu bestrafen und gesicht der asymmetrischen Verhältnisse somit Recht einzufordern und umzusetzen? „on the ground“ so auszurichten, dass es die Solange diese Autorität fehlt, bleibt die Diskre- Schwachen stärkt während es die Starken zu- panz zwischen restriktiven Rechtstexten und mindest soweit einschränkt, dass sie ihre Stärke deren anhaltender Verletzung bestehen. nicht ungestraft willkürlich nutzen können. Das offenbart sich in dem kollektiven Leid gro- Dabei muss es vor allem darum gehen, Recht ßer Teile der palästinensischen Bevölkerung, an Verantwortung und Unrecht an Haftung zu das seit Jahrzehnten andauert. Ein besonders binden. Denn ohne diesen positiven Ausgleich eklatanter Indikator dafür ist beispielsweise, wird Recht im Alltag der Besatzung immer dass durch das israelische Militär in den ver- weiter hierarchisch untergraben und dessen gangenen 13 Jahren über 1500 palästinen- 4 Gültigkeit in Privilegien aufgeteilt. sische Kinderdurch gezielte Aktionen oder als Rechtliche Mittel allein reichen allerdings sogenannte Kollateralschäden umgekommen nicht, um internationalem Recht zur Geltung sind. Seit 2000 entspricht das einem toten Kind zu verhelfen, denn das wäre zirkulär. Ein glo- alle drei Tage entspricht – ohne, dass dazu bales Vollzugsorgan oder eine internationale irgendwer zur Verantwortung gezogen wurde. Polizei gibt es schließlich nicht, der Vereinten Das Rom-Statut des Internationalen Strafge- Nationen zum Trotz. Weil Recht aus politischen richtshofs führt zudem aus, dass „die Deporta- Interessen und Kalkulationen oft unterschied- tion oder der zwangsweise Transfer der Bevöl- lich bemessen wird, muss daher für dessen kerung“ ein Kriegsverbrechen darstellt und die Verhandlung ein praktischer Maßstab geschaf- systematische Umsetzung dessen ein Verbre- chen gegen die Menschlichkeit ist. Doch bereits 4 Mondoweiss veröffentlicht regelmäßig eine Übersicht im Zuge der Staatsgründung Israels sind 1948 zu Rechtsverletztungen im Rahmen der israelischen rund 700,000 Palästinenser aus ihrer Heimat Besatzung. Die UN-OCHA verfasst zudem einen wöchent- vertrieben worden oder geflohen. Während die lichen Bericht zur Situation palästinensischer Zivilisten. israelische Regierung von „Einzelnen“ spricht, Auch das palästinensische Zentrum für Menschenrechte fasst wöchentlich Menschenrechtsverletzungen durch die „freiwillig“ gegangen seien, wird die Anzahl das israelische Besatzungsregime zusammen. palästinensischer Flüchtlinge mittlerweile auf 5,5 Millionen Menschen geschätzt. Prinzipien internationalen Rechts fragwürdig Auch die extensive und nicht militärisch rele- und im Angesicht der alltäglichen Praxis der an- 44 vante Zerstörung ziviler Gebäude ist ein Kriegs- haltenden Besatzung größtenteils bedeutungs- verbrechen. Doch allein 2012 wurden in den los. Doch die Regierung des Staates Palästina, C-Gebieten 514 palästinensische Gebäude zer- wie es jetzt offiziell heißt, kann nun immerhin stört, darunter 165 Wohneinheiten und 20 Con- selbst aktiv werden, um Verantwortung für die tainer, um Regenwasser aufzufangen. 825 Men- Besatzung zu erwirken. Den Internationalen schen, die Hälfte davon Kinder, haben dadurch Gerichtshof (ICJ), das Rechtsprechungsorgan ihr Heim verloren. 3,000 Hauszerstörungen der Vereinten Nationen, kann Palästina dabei

SERIE stehen noch aus, worunter auch 18 Schulen jedoch nicht anrufen, weil der ICJ Streitfälle sind. Seit 1967 wurden in den besetzten Ge- zwischen Staaten verhandelt, die im Konsens- bieten um die 24,000 Häuser zerstört, 2,000 prinzip beschlossen werden müssen und Israel allein in Ostjerusalem. Dort sind ein Drittel der genug Unterstützung hat, einen übereinstim- verbleibenden Häuser von der Zerstörung be- menden Beschluss abzuwenden . droht, weil die israelische Stadtverwaltung den Palästinenser können sich jedoch an den Bewohnern in 95 Prozent aller Fälle nicht die Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wen- notwendigen Baugenehmigungen ausstellt. Bis den, um einzelne Mitglieder der israelischen zu 90,000 der insgesamt 290,000 Palästinenser Regierung oder des Militärs anzuklagen. Die Jerusalems sind von dieser Gefahr betroffen. Gerichtsbarkeit des ICC gilt nämlich gerade für Hinzu kommt, dass mittlerweile rund 45 Pro- die Fälle, in denen Staaten selbst nicht dazu in zent des Westjordanlands im Rahmen von isra- der Lage oder unwillens sind, schwerwiegende elischen Siedlungen, Militär- und Sperranlagen Strafbestände wie Verbrechen an der Mensch- ausgewiesen und verwaltet werden, obwohl lichkeit, Kriegsverbrechen und Aggressionsakte 5 es dem Besatzer verboten ist, sich öffentliches zu verfolgen. Auch kann die palästinensische Land als Treuhänder einzuverleiben. Stattdes- Regierung einen Vorschlag bei den Vereinten sen bleibt Palästinensern in den C-Gebieten Nationen einreichen, um ein Kriminaltribu- offiziell nur noch ein Prozent ihres Landes, das nal zu Israel einzuberufen und strafrechtliche für deren Entwicklungsprojekte vorgesehen Verfolgung zu initiieren. Dafür muss Palästina ist, während es in Ostjerusalem nur rund 13 allerdings erst das Rom-Statut unterzeichnen, 6 Prozent sind, die allerdings meist schon bebaut das Gründungsdokument des ICC. sind. Das ist jedoch bisher noch nicht geschehen, Es gibt noch unzählige weitere Fälle, die be- weil die israelische Regierung angedroht hat, legen, dass Israel Tag für Tag ungestraft die im Falle der Unterzeichnung die Gelder einzu- Rechte der palästinensischen Bevölkerung behalten, die sie für die palästinensische Regie- verletzt. Aber wie viel muss noch passieren, rung an Zöllen einzieht. Auch die US-Regierung damit sich etwas ändert? Schließlich muss die erwägt Sanktionen, weil „einseitige“ Schritte Besatzung ein Ende haben, weil sie unvereinbar der Palästinenser den „Friedensprozess“ be- ist mit Menschenrechten und es niemals sein wird. Doch als Besatzer wird Israel die Besat- zung wahrscheinlich nicht beenden, so lange 5 Diese Verfolgung wäre eventuell auch rückwirkend möglich (bis 2002, dem Gründungsjahr des ICC), wo- es nicht die Verantwortung für die Folgen durch der Bau der israelischen Sperranlage seit 2002 übernehmen muss. Dafür ist die Besatzung zu sowie die israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen profitabel und opportun. Was also bleibt Palä- 2008 und 2012 zu Strafbeständen werden könnten. Weil stinensern und denen, die sie dabei unterstützt diese Untersuchung aber für die gesamten besetzten wollen, um Recht zu schaffen? Gebieten gelten würde, wäre es dadurch auch möglich, palästinensische Milizen aus dem Gaza-Streifen für den Raketenbeschuss Israels anzuklagen. Internationale Gerichtsbarkeit – Straffrei- 6 Theoretisch könnte der ICC auch ohne Unterzeichnung heit für die Starken in den palästinensischen Gebieten ermitteln. Das müsste Palästina wurde im November vergangenen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließen. Dazu wird es aber wahrscheinlich aufgrund des Vetos der Jahres vor den Vereinten Nationen als Staat US-Regierung nicht kommen, was kennzeichnend ist für anerkannt. Diese Entscheidung ist nach den die machtpolitische Konstellation hinderten; auf die (einseitige) israelische An- genommen werden, die Ignoranz vor dem kündigung, 2,129 weitere Siedlungseinheiten Recht und dem Schicksal derer kultivieren, die zu bauen, sollten sie dagegen nicht „feindlich“ diese Privilegien nicht genießen. Das erfordert 45 reagieren, um die Verhandlungen nicht zu die Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit, die gefährden. So ist der Druck auf die palästinen- über die universelle Relevanz internationalen sische Regierung bisher ausreichend, dass auch Rechts informiert, um durch gesellschaftlichen weiterhin niemand zur Rechenschaft gezogen Druck dessen lokale Geltung zu erwirken. Wäh- wird. Da so um Recht gefeilscht und Gerech- rend Palästina Israel schon so gut wie einver- tigkeit zur Verhandlungssache wird, werden leibt ist, geht es dabei vielleicht nicht (mehr) wesentliche Grundsätze verletzt, die für Rechts- um einen eigenständigen palästinensischen sicherheit, Gleichheit vor dem Gesetz und die Staat, sondern um gleiche zivile, politische, Unabhängigkeit der Justiz unerlässlich sind. ökonomische und kulturelle Rechte in einem Indem nämlich diejenigen straffrei bleiben, gerechtem Staat. die einflussreiche Freunde haben, wird Willkür befördert. Von Johannes Gunesch, zu erreichen unter Recht einfordern, weil Unrecht andauert [email protected]. Das alles ist nicht neu; die Situation und die Kommentiert den Artikel unter: Umstände sind hinlänglich dokumentiert. An- http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ statt daran aber etwas zu ändern, wird die Situ- ation vielmehr finanziell gefördert. Die US-ame- rikanische Regierung zum Beispiel ist zugleich der wichtigste Unterstützer Israels und USAID einer der größten Financiers palästinensischer „Entwicklungsprojekte“. Auch die Vereinten Nationen sind zum unwirtlichen Komplizen der Besatzung geworden. Sie übernehmen huma- nitäre Hilfsleistungen, die eigentlich die Ver- pflichtung des Besatzers wären. Das trägt dazu bei, die Situation zu perpetuieren, ohne dass die israelische Expansionspolitik unterbunden werden kann. Weil diese Umstände mittlerweile bekannt sind, erscheinen sie vielleicht profan; über Recht und Unrecht zu urteilen ist schwierig, weil es komplex ist. Das kann auch Teil der Strategie sein, Verantwortung zu verwässern. Doch wenn die Empfindung abstumpft, weil die Ereignisse vermeintlich gewöhnlich und immer „nur“ ein kleines bisschen schlimmer sind als zuvor, dann ist mit dieser Reaktion Vorschub geleistet für die Abwicklung von Un-Recht. Das ist sehr gefährlich, weil die alltägliche Gewalt und Dis- kriminierung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung dann zur Normalität wird – eine „Normalität“, die nur dann in Frage gestellt wird, wenn die Gefahr Israel trifft. Daher ermahnt gerade die Erfahrung des andauernden Unrechts, Recht ohne Nachlass einzufordern und umzusetzen. Dafür müssen die exklusiven politischen Privilegien in Angriff Zusammen, getrennt: 46 Ansätze zur Ein-Staaten-Lösung

Die Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina gilt als gescheitert. Die Alternative eines gemein- samen Staates wird daher immer wieder diskutiert. Weil es dabei um unterschiedliche Ansprüche von Staatsbürgerschaft, Nation und Staat zwischen Israelis und Palästinensern geht, ist eine einheitliche Perspektive aber längst nicht in Sicht. SERIE

Die Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palä- Staat vermischen. Auch in ihrer Vision einer stina ist mit der Wiederaufnahme der Vorge- Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung sind die spräche für Friedensverhandlungen und dem verschiedenen Ansätze daher keineswegs zwanzigjährigen Jubiläum der Oslo-Abkom- identisch: So kursieren zur Zeit Ansätze einer men wieder in aller Munde. Zwei Staaten für Ein-Staaten-Lösung, einer bi-nationalen Lösung zwei Völker – das ist die offizielle Prämisse des und einer Drei-Staaten-Lösung. „Friedensprozesses“. Dabei geht es für die palä- stinensische Bevölkerung um das, was Israel für Ideengeschichte: „Kulturzionismus“ seine jüdischen BürgerInnen schon verwirklicht Die Idee eines geteilten Staates ist keineswegs hat – einen Staat, in dem die nationale Selbsti- auf den Mist der anti-zionistischen Gegne- dentifikation sich frei entwickeln kann. rInnen Israels gewachsen, wie oft fälschlich Aus „realpolitischen“ Erwägungen gilt die Zwei- behauptet wird. Im Gegenteil, sie ist Teil jener Staaten-Lösung demnach als die praktikabelste Bewegung, die die Gründung des Staates Israel Option für einen Frieden in Nahost. Und das maßgeblich vorangetrieben hat. Zu den pro- nicht erst seit den Oslo-Abkommen. Ideen und minentesten VertreterInnen dieser Bewegung Pläne zur Teilung des Landes gab es viele: von gehörten Martin Buber, Albert Einstein, Han- der Peel-Kommission im Jahre 1937 über den nah Arendt und Judah Magnes. Sie waren alle Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947, ebenso Anhänger der Idee einer „jüdischen bis hin zu heutigen zivilgesellschaftlichen Frie- Nation“ im Mandatsgebiet Palästina wie sie von densinitiativen wie der „ Genfer Initiative“ oder der Notwendigkeit eines zwischen Juden und auch der „Arabischen Friedensinitiative“. Arabern geteilten, bi-nationalen Staates über- Doch so alt wie die Idee der Teilung in zwei zeugt waren. Staaten ist auch die Idee eines gemeinsamen Diese „kulturzionistische“ Strömung hat in den Staates für Palästinenser und Israelis im ehe- zionistischen Diskursen in der ersten Hälfte maligen Mandatsgebiet Palästina. In dem des 20. Jahrhunderts zwar keine zentrale Rolle Maße wie die eine als gescheitert gilt, erfährt gespielt, war aber dennoch keineswegs ohne die andere Option gerade wieder prominente Einfluss. Im Kern ging es den Verfechtern dabei Zuwendung. In den vergangenen Wochen um die Unterscheidung zwischen Nation und haben sich dazu einige, vor allem intellektuel- Staat. Das bedeutet, dass die „Kulturzionisten“ le Stimmen aus Israel, Palästina und den USA zwar anerkannten, dass zwei unterschiedliche zu Wort gemeldet. Dabei ist diesen Beiträgen nationale Bestrebungen, die palästinensische einzig gemein, dass sie ausgehend von einer und die jüdische, um Vorherrschaft im Man- Bestandsaufnahme der aktuellen politischen datsgebiet fochten. Zwei Staaten für zwei Nati- Situation nach möglichen Alternativen zu einer onen hielten sie aber dennoch für den falschen Zwei-Staaten-Lösung suchen. Ansatz. Letztlich unterscheiden sich die einzelnen Buber, Magnes und Arendt waren vielmehr Vorschläge jedoch stark voneinander. Das liegt davon überzeugt, dass die jüdische Nation daran, dass sich darin jeweils unterschiedliche ihre universale humanistische Vision nur durch historische Bezüge mit diversen politischen ein friedliches Miteinander mit den palästi- Konzepten von Staatsbürgerschaft, Nation und nensischen Arabern beweisen werden könne. Im Angesicht des wachsenden ethnisch-völ- lung in anderes Territorium mehr nötig ma- kischen Nationalismus der deutschen Natio- chen. nalsozialisten, der eine Gleichsetzung von Volk Die Idee der Ein-Staaten-Lösung dagegen lehnt 47 und Staat beinhaltete, wurde die euphorische nationale Bestrebungen als exklusiv und ras- Idee einer jüdischen Staatlichkeit nämlich mit sistisch motiviert ab. Stattdessen wird davon Skepsis und Sorge betrachtet. Für Buber und ausgegangen, dass volle und gleichwertige Arendt, deren Leben durch die Nazi-Zeit mas- Rechte in einem Staat nationale Bestrebungen siv geprägt und tragisch verändert wurde, galt überflüssig machen. Ein demokratischer Staat daher die Prämisse: kein Staat für keine Nation für alle, getragen von seinen Bürgerinnen – oder ein Staat für zwei Nationen. und Bürgern, die durch Wahlen und Aushand- lungsprozesse ihre politischen VertreterInnen Grundlagen: bi-nationaler Staat und Ein- bestimmten, ist das politische Ziel der Anhän- Staaten-Lösung gerInnen einer Ein-Staaten-Lösung. Auch die heutigen Diskurse, die eine Alterna- tive zur Zwei-Staaten-Lösung bieten wollen, Politische Krise – ohne Perspektive? greifen die Differenz zwischen Nation und Die Ausgangsbasis der beiden Überlegungen Staatlichkeit wieder auf. Während im Sinne der sind dabei aber gleich: Israel und Palästina bi-nationalen Idee die Erhaltung des jüdischen stecken politisch in einer tiefen Krise, nicht und palästinensischen Nationalgedankens nur durch den anhalten Konflikt um Territori- an erster Stelle steht, sieht die Ein-Staaten- um, Staatlichkeit und Rechte. Auch die beiden Lösung die Auflösung eben jener nationalen Gesellschaften befinden sich in einer Sinnkri- Denkstrukturen vor; ein post-nationaler de- se bezüglich ihrer nationalen Identität und mokratischer Staat für alle, mit gleichen libe- Staatlichkeit. Die durch Oslo auszuhandelnde ralen StaatsbürgerInnen-Rechten steht hier im Zwei-Staaten-Lösung hat zudem nicht zu einer Mittelpunkt. Lösung des Konfliktes beigetragen, sondern ihn VertreterInnen der bi-nationalen Idee gehen perpetuiert: es hat eine Aushandlung der wich- dabei von der Existenz eines palästinensischen tigsten Konfliktpunkte vertagt und die einsei- und israelischen Bedürfnisses zur nationalen tige Landnahme durch Israel in der Westbank Selbstbestimmung aus. Dieses Bedürfnis soll und Ost-Jerusalem verschärft. in Form von föderalen Strukturen und Quoten Gleichzeitig hat eine territoriale Entgrenzung festgelegt werden, um die nationale Sprache, der nationalen Idee stattgefunden: Über eine nationalen Feste, Symbole und Traditionen halbe Million israelische StaatsbürgerInnen für beide Gruppen zu schützen. Eine einfache siedeln in dem Land, das entsprechend aller Überstimmung durch Mehrheitsentschei- Teilungs-Abkommen eigentlich zu einem dungen soll durch die Festlegung bestimmter palästinensischen Staat gehören sollte. Für Gruppen-Rechte und ein föderales System der die israelischen Siedler Innen in Palästina gilt Kontrolle und des Ausgleichs verhindert wer- israelisches Zivilrecht, während für die dort den. lebenden PalästinenserInnen israelisches Mi- In einem bi-nationalen Staat wären die Posten litärgesetz gilt. In Israel leben zudem über 1,5 zwischen Israelis und PalästinenserInnen zu- Millionen PalästinenserInnen. Diese sind formal dem gleichwertig verteilt – und deren Stimmen zwar BürgerInnen des Staates Israel, verstehen gleich viel wert. Die Legitimität des nationalen sich aber selbst als Teil der palästinensischen Anspruches auf das gleiche Land stünde nicht Nation. Als nicht-jüdische Bevölkerung werden in Frage – sie wäre vielmehr Grundlage für ei- sie in Israel auf unterschiedliche Weise diskrimi- nen politischen und demokratischen Aushand- niert und sind für manche israelische Politiker lungsprozess, nicht Teil eines Wettkampfes um gar Gegenstand von Transferplänen. Territorium und Ressourcen. Ein bi-nationaler Im Jahre 2013 sind Israel und Palästina gesell- Staat könnte daher sogleich Heimat der jü- schaftlich und territorial trotz aller Teilungsplä- dischen Nation wie auch des palästinensischen ne mehr miteinander verbunden, als sich beide Volkes sein. Alle wären frei, nach Belieben zu Gesellschaften in ihrer Abgrenzungs-Rhetorik siedeln, und keine Grenze würde eine Umsied- eingestehen wollen und können. Kollektive Traumata Staat Israel bis heute kontrovers diskutiert wird, Doch Kritik an den Konzepten zu einem bi- dort aber über demokratische Prozesse immer 48 nationalen Staat oder zur Ein-Staaten-Lösung wieder Gegenstand von Aushandlung ist. Die Idee, dass das „jüdische“ Element prägend für SERIE

Eine Perspektive über Grenzen hinweg? Foto: flickr/Michael.Loadenthal

gibt es freilich genug – und viele Zweifel und Einwände. Viele jüdische Israelis zum Beispiel die ganze israelische Nation sei, greift dabei begreifen einen Staat, der per Definition nicht aber zu kurz und ist gefährlich. So bekunden mehr „jüdisch“ wäre, als Gefahr – auch wenn viele arabische Stimmen bis heute, man hätte eine arabische Mehrheit und eine jüdische Min- mit dem Judentum als Religion kein Problem, derheit dann gemeinsam BürgerInnen eines nur mit dem Zionismus als dessen national-po- großen demokratischen Staates wären. Föde- litische Territorialbewegung. Doch der Verweis rale Regelungen und Quoten hin oder her: ein auf die freie Ausübung von Religion ist noch demokratischer Staat wäre für sie ein Staat mit kein Friedensangebot und Türöffner für eine einer jüdischen Bevölkerungsminderheit. Ein-Staaten-Lösung. Was es dabei bedeuten würde, eine „jüdische Denn dieser Fokus auf religiöse Rechte und Minderheit“ in einem demokratischen Staat zu Pflichten missachtet unter anderem, dass es sein, ist schwer vorherzusagen. Das müsste Teil seit 1948 einen Staat Israel gibt, in dem sich ein eines umfassenden palästinensisch-israelischen heterogenes und selbstbewusstes nationales Aushandlungsprozesses werden. Aber es schürt Selbstverständnis entwickelt hat. Die hebrä- Ängste, die nicht einfach zu ignorieren und mit ische Sprache, die hebräisch-israelische Litera- Floskeln über demokratische Entscheidungsfin- tur und Musik, die Idee der Kibbutzim und auch dung und Minderheitenrechte aufzulösen sind: die Stadt Tel Aviv – sie sind kein Ausdruck denn ein Konflikt, der so lange währt und in eines religiösen, sondern eines nationalen Form von Vertreibung, Kriegen, Terror, Unter- Selbstverständnisses und dabei auch wichtiger drückung und vielen Traumata fest im kollek- Teil jüdisch-israelischer Identität, die sich ent- tiven Gedächtnis beider Gesellschaft verankert lang vieler Identifikationslinien vollzieht. ist, löst beiderseits nicht nur Hoffnungen auf Ein Staat für Israelis und Palästinenser, in dem Frieden und Versöhnung aus. PalästinenserInnen eine Mehrheit darstellen Auch bleibt die Frage unbeantwortet, wie würden – allein die Vorstellung löst für viele Is- „jüdisch“ in einem gemeinsamen Staat zu raelis daher Existenzängste und das Gefühl der verstehen wäre – eine Frage, die zwar auch im Bedrohung durch Vernichtungsphantasien und Racheakte von palästinensischer Seite aus. Die Verteidigungsminister der amtierenden israe- Hamas beispielsweise befeuert solche Ängste lischen Regierung: Israel müsse die Oslo-Verträ- dadurch, dass sie demographische Prognosen ge annullieren und mit Jordanien und Ägypten 49 dahingehend ausnutzt, palästinensische/ara- über eine Übernahme der PalästinenserInnen bische Vormacht in einem geteilten Staat zu in der Westbank und Gaza verhandeln. Ver- beanspruchen. Es wäre verheerend, diese Äng- einfacht heißt das: Die Verantwortung für ste zu ignorieren. Denn die Aussicht auf einen Gaza soll an Ägypten übergeben werden und gemeinsamen Staat, ob bi-national oder nicht, Israel behält die Siedlungen in der Westbank, untergräbt nicht nur die Idee des politischen abzüglich der palästinensischen Bevölkerung, Zionismus, sondern auch das heutige Selbst- die an Jordanien übergeben werden soll. Eine verständnis der staatlichen Institutionen und perfekte Ein-Staaten-Lösung soll das sein – für der meisten Israelis: dass Israel sowohl demo- Israel. Ein jüdisch-israelischer Staat, vom Mittel- kratisch, als auch jüdisch sein kann. meer bis zum Jordan, in dem Israel Territorium behält, seine Verantwortung für die ungewollte Paradoxe Aussichten palästinensische Bevölkerung aber einfach an Doch dieser viel diskutierte, fast unauflösbare Jordanien und Ägypten abtritt. Keine demokra- Gegensatz zwischen „demokratisch“ und „jü- tische Lösung – aber eine pragmatische, wie disch“ befördert paradoxerweise auch die Idee Danon befindet. eines gemeinsamen Staates. Bei immer mehr Auch von palästinensischer Seite wird mit ver- BeobachterInnen des Konflikts setzt sich da- schiedenen Versionen der Ein-Staaten-Lösung bei zunehmend der Eindruck durch, dass zwar gespielt. Dabei gilt die Zwei-Staaten-Lösung noch immer eine Zwei-Staaten-Lösung verhan- ebenfalls weithin als gescheitert. Israel wird delt, dabei aber eine Ein-Staaten-Lösung schon zudem dafür kritisiert, sich dennoch weiter zu längst implementiert wird. Und territoriale zwei Staaten zu bekennen, um so ungehindert Realität ist. Die Oslo-Abkommen haben somit Fakten zu schaffen, die eine gerechte Lösung einen wichtigen Beitrag zur jetzigen Situation unmöglich machen. Aus der palästinensischen geleistet: sie haben die politische Geographie Zivilgesellschaft werden daher immer mehr der Westbank definiert und somit jene territo- Vorschläge laut, die (semi)staatlichen Struk- riale Aufteilung Palästinas ermöglicht, die jetzt turen aufzulösen. So soll der Welt die Schein- die Grundlage für unterschiedliche Ansprüche heiligkeit der vermeintlichen palästinensischen auf Land, Ressourcen und Zuständigkeit dar- Autonomie vor Augen geführt werden – um stellt. Die israelischen Siedlungen, Straßen, anschließend die volle zivile und militärische Checkpoints und die dazwischen gelegenen Fürsorge für ungefähr 4 Millionen Palästi- kleinen Inseln palästinensischer Autonomie nenserInnen an Israel zu übertragen. Israel sind so Wirklichkeit geworden. stünde dann vor der Entscheidung, die Besat- Ergebnis ist eine Situation, in der rund 350,000 zung Palästinas weiter aufrecht zu erhalten israelische StaatsbürgerInnen mit vollen Bür- – oder die palästinensische Bevölkerung zu gerrechten und -pflichten in palästinensischem gleichen und freien BürgerInnen eines Staates Gebiet leben (plus knapp 200,000 weiteren im zu machen. annektierten Ost-Jerusalem). Die dort lebenden PalästinenserInnen haben aber kaum Rechte Von Amina Nolte, zu erreichen unter und viele Pflichten gegenüber einem Regime, [email protected]. welches sie täglich als repressiv und kolonial er- fahren und das sie politisch nicht repräsentiert. Kommentiert den Artikel unter: http://www.alsharq.de/tag/20-jahre-oslo/ Mittlerweile erkennen auch viele Israelis an, dass diese diskriminierende Situation alles anderes als „demokratisch“ ist, wobei aus dieser Erkenntnis unterschiedliche Ideen und Prak- tiken für eine „Lösung“ abgeleitet werden. Ein besonders dreister Vorschlag kam zuletzt von Danny Danon, dem stellvertretenden Alsharq - das Online-, Ana- » www.alsharq.de lyse- und Reiseportal zum » www.facebook.com/alsharq.de Nahen und Mittleren Osten » twitter.com/alsharq

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Diese Serie entstand im Zeitraum von September bis Oktober 2013. Die einzelnen Beiträge wurden auf www.alsharq.de veröffentlicht. Dieses Kompendium fügt alle Beiträge zum Abschluss der Serie zusammen. Redak- tionschluss war der 21. Oktober 2013.

Verantwortlich für die Serie: Johannes Gunesch Redigatur: Diana Beck, Christoph Dinkelaker, Lea Frehse, Johannes Gunesch, Vinzenz Hokema, Bodo Straub Übersetzung: Johannes Gunesch