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O wird dieAufnahmenvombrennenden jenem 11.September2001gesehenhat, nennen. Kaumeiner,derdieBilderan kinos, daswirMenschenGedächtnis kulierender BildwerferjenesSchädel- wird dieAufnahmenvombrennenden jenem 11.September2001gesehenhat, nennen. Kaumeiner,derdieBilderan kinos, daswirMenschenGedächtnis kulierender BildwerferjenesSchädel- der Engrammierung:einkühlkal- der Engrammierung:einkühlkal- sama binLadenwareinMeister

Blätter 3’17 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Gwynn Guilford und Frauenbewegung des Trumpismusdes Amerikas neue Nikhil Sonnad Nikhil Amanda Hess Amanda Der Geist Geist Der internationale deutsche und Blätter für Politik Andreas MüllerAndreas Das Revival des revolutionären Krachs Jahre Jazz: Hundert Arps Britt Anne tötet Machismo Steffen Vogel Sozialdemokratie europäischen der Das Dilemma Franziska Schutzbach Weltuntergangslust dieWider bequeme Michael Lüders die blinden Flecken desWestens inSyrien Krieg Der und 3’17 15.02.17 11:32 Autorinnen und Autoren dieses Heftes Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power Anne Britt Arps, geb. 1979 in Ham- Silviu Mihai, geb. 1978 in Bukarest, Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl burg, Politikwissenschaftlerin, „Blät- Philosoph und Politikwissenschaftler, Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß ter“-Redakteurin. freier Journalist und Osteuropakorres- Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester pondent. Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor Ed Blanche, Journalist, Mitglied des Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan International Institute for Strategic Andreas Müller, geb. 1964, Musikwis- Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Studies in London, Redakteur bei „The senschaftler, Hörfunkmoderator, Au- Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Arab Weekly“. tor und Musikkritiker. Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Andreas Fisahn, geb. 1960 in Soest, Tobias Müller, geb. 1975 in Lüden- Walter Kreck Helmut Ridder Dr. iur., Professor für öffentliches Recht scheid, Politikwissenschaftler, Bene- Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling an der Universität Bielefeld. lux-Korrespondent in Amsterdam. In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose Adam Krzeminski Rossana Rossandra Heiko Flottau, geb. 1939 in Wernige- Lisa Paus, geb. 1968 in Rheine, Volks- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer rode, Politikwissenschaftler, lang- wirtin, Mitglied des Bundestags für Jürgen Kuczynski Irene Runge jähriger Nahost-Korrespondent der Bündnis 90/Die Grünen. Charles A. Kupchan Bertrand Russell „Süddeutschen Zeitung“, lebt in Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Berlin. Franziska Schutzbach, geb. 1978 in Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Würzburg, Geschlechterforscherin und Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Gwynn Guilford, Politikwissenschaft- Soziologin an der Universität Basel, lerin, Reporterin für „Quartz“ in New Publizistin. Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer York. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Claudia Simons, geb. 1984 in Berlin, Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Amanda Hess, geb. 1985 in Wiscon- Politikwissenschaftlerin, Afrika-Refe- Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer sin/USA, Publizistin, Reporterin bei rentin der Heinrich Böll Stiftung. Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann der „New York Times“. Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Nikhil Sonnad, Philosoph, Reporter E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Frank Jansen, geb. 1959 in Mettmann, für „Quartz“ in New York . Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Politikwissenschaftler, Reporter beim Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Berliner „Tagesspiegel“. Tamara Tischendorf, geb. 1974 in Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Dortmund, Philosophin, Literatur- und Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer Andreas Knobloch, geb. 1977 in Kulturwissenschaftlerin, WDR-Re- Strausberg, Politikwissenschaftler und dakteurin. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka freier Journalist, lebt in Havanna/Kuba. Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Laura Valentukeviciute, geb. 1980 in Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz Chris Kühn, geb. 1979 in Tübingen, Vilnius/Litauen, Sozialwissenschaft- Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Politikwissenschaftler und Soziologe, lerin, Sprecherin des Vereins Gemein- Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Mitglied des Bundestags für Bündnis gut in BürgerInnenhand (GiB). Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine 90/Die Grünen. Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, Sozialwissenschaftler, „Blätter“-Re- Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal freier Journalist in Berlin. dakteur. Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler gelheim am Rhein, Jurist und Politik- wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer Michael Lüders, geb. 1959 in Bremen, Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Dr. phil., Islam- und Politikwissen- Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will schaftler, freier Publizist und Autor, Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf derzeit Gastprofessor an der Universi- Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler tät Trier. Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

201703_Umschlag_innen.indd 1 15.02.17 11:32 Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 62. Jahrgang Heft 3/2017

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

201703_Blätter_Buch.indb 1 15.02.17 11:29 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 3’17 5 Glücksfall Martin Schulz? Albrecht von Lucke

9 Die Rechte auf dem Vormarsch: Von Reichs- bürgern bis AfD Frank Jansen

13 Der Ausverkauf der Autobahn Laura Valentukeviciute

17 Geert Wilders: Sieg ohne Macht? Tobias Müller

21 Rumänien: Aufstand wider die Korruption Silviu Mihai

25 Lateinamerika: Chinas neuer Hinterhof? Andreas Knobloch

REDAKTION 29 Ägypten vor der Anne Britt Arps Hungerrevolution? Daniel Leisegang Heiko Flottau Albrecht von Lucke Annett Mängel 33 Demokratische Republik Steffen Vogel Kongo: Der ewige Kabila? Claudia Simons BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 DEBATTE E-Mail: [email protected] 37 Schäubles EU: WEBSITE Austerität und Autoritarismus www.blaetter.de Andreas Fisahn

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2017

201703_Blätter_Buch.indb 2 15.02.17 11:29 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

45 Der Krieg in Syrien und die blinden Flecken des Westens Michael Lüders

55 Der Geist des Trumpismus oder: Was Steve Bannon wirklich will Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad

69 Alle gegen Trump: Amerikas neue Frauenbewegung Amanda Hess

81 »Machismo tötet!« Der Aufstand der Frauen in Lateinamerika Anne Britt Arps

89 Jetzt erst recht: AUFGESPIESST Wider die bequeme Weltuntergangslust 88 Sexiest Partei Franziska Schutzbach Deutschlands Jan Kursko 95 National versus global Das Dilemma der europäischen BUCH DES MONATS Sozialdemokratie Steffen Vogel 121 Agambens Bürgerkrieg 103 Das Geschäft mit der Wohnungsnot Tamara Tischendorf Lisa Paus und Chris Kühn EXTRAS 109 Hundert Jahre Jazz: Das Revival des revolutionären Krachs 43 Kurzgefasst Andreas Müller 124 Dokumente 125 Chronik des Monats KOLUMNE Januar 2017 128 Zurückgeblättert 41 Schlachthaus Syrien 128 Impressum und Ed Blanche Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2017

201703_Blätter_Buch.indb 3 15.02.17 11:29 Anzeigen

04.03.2017 Universität Hamburg 5. Grüner Polizeikongress Erfolgsmodelle für mehr Sicherheit und Bürgerrechte - Europäische Beispiele gelungener Polizeiarbeit Veranstaltet von Jan Philipp Albrecht, MdEP

Unsere Medienpartner:

Anmeldung und Informationen: www.gruener-polizeikongress.de

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Eingesperrt und ausgeschlossen! Gefangene brauchen Ihre Hilfe, um die »Blätter für deutsche und internationale Politik« lesen zu können. Bitte spenden Sie die »Blätter für deutsche und internationale Politik« für Men- schen in Haft zum Preis von: 84,60 jährlich oder überweisen Sie einen Betrag Ihrer Wahl an: Freiabonnements für Gefangene e.V., Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE02 1002 0500 0003 0854 00, Kennwort: Blätter, www.freiabos.de

Freiabonnements für Gefangene e.V.

Foto: Beate Pundt

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201703_Blätter_Buch.indb 4 15.02.17 11:29 KOMMENTARE UND BERICHTE

Albrecht von Lucke Glücksfall Martin Schulz?

Stell Dir vor, es ist Bundestagswahl – Mit Schulz als SPD-Kanzlerkandida- und wir haben tatsächlich eine Wahl, ten ist der funktionale Kern der De- sprich: die Chance einer Abwahl. mokratie – die Option eines Wechsels Was wie eine demokratische Selbst- an der Spitze – in das System zurück- verständlichkeit klingt, ist – Martin gekehrt. Das ist gleichzeitig ein wich- Schulz sei Dank – in dieser Republik tiger Schlag gegen die AfD, denn de- endlich wieder möglich geworden. ren Erfolg basierte maßgeblich auf Nur zur Erinnerung: Bei den letzten der Unfähigkeit der Linken zu einem beiden Urnengängen stand die Siege- echten Angriff auf Merkel – und damit rin zu diesem frühen Zeitpunkt längst zu einer Regierungsalternative unter fest, waren die weithin überschätz- Führung der SPD. Daher der vermes- ten Kanzlerkandidaten Frank-Walter sene, aber durchaus erfolgreiche An- Steinmeier und Peer Steinbrück quasi spruch der AfD, die „Alternative für von Beginn an geschlagen.1 Und bis Deutschland“ zu sein. vor kurzem ging es den Meisten mit Blick auf die SPD nur um die halb ban- ge, halb zynische Frage, wer diesmal »Merkel muss weg« – nun aber gegen die Kanzlerin verlieren muss – von links und wie hoch. Doch mit dem Rückzug Sigmar Ga- Wie erfolgreich die AfD mit dieser Stra- briels vom Posten des Parteivorsitzen- tegie bereits war, zeigt sich daran, dass den und seinem Verzicht auf die Kanz- der Schlachtruf „Merkel muss weg“ in lerkandidatur hat sich die Lage in er- den letzten Jahren ausschließlich von staunlicher Weise geändert. Die SPD rechts zu vernehmen war. Während die ist als relevante Herausforderin der SPD ganz in der großen Koalition auf- Union wieder zurück auf dem politi- gegangen zu sein schien, reklamierte schen Parkett. Selbst ein Sieg gegen die AfD das Copyright auf den Sturz die vor kurzem noch für unschlagbar der christdemokratischen Kanzlerin – gehaltene Kanzlerin erscheint nicht eigentlich die originäre Aufgabe der mehr unmöglich. Linken – für sich. Wer auch immer am 24. September Mit Martin Schulz könnte dieser gewinnen wird, Martin Schulz ent- Slogan nun endlich wieder die Seiten puppt sich damit bereits heute als eine wechseln. Dabei wirkte es zunächst dreifache Chance, um nicht zu sagen wie eine aberwitzige Strategie: Trotz als potentieller Glücksfall: erstens für SPD-Werten von um die 20 Prozent unsere Demokratie, zweitens für die setzte der einstige Bürgermeister von SPD (und damit die gesamte deutsche Würselen und vormalige EU-Parla- Linke), und drittens – pünktlich zu mentspräsident sofort alles auf Sieg im ihrem Schicksalsjahr – für die Europäi- direkten Duell gegen Merkel. sche Union. Doch was auf den ersten Blick ver- messen schien – der Anspruch, stärkste 1 Albrecht von Lucke, Wahl ohne Wahl: Das Di- Partei zu werden –, erfährt inzwischen lemma der SPD, in: „Blätter“, 3/2009, S. 5-8; ders., Peer Steinbrück und die Nulloption, in: eine erstaunliche Bestätigung. Sämt- „Blätter“, 11/2012, S. 5-8. liche Meinungsumfragen verkünden,

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dass die SPD dem 20-Prozent-Kel- Anders verhält es sich nur mit der eige- ler entkommen ist, ja sogar zur Union nen Kanzlerschaft. Somit entpuppt aufschließen kann. Sollte es also doch sich Schulz‘ Führungsanspruch als die wieder Zeit für Experimente sein, so- einzig plausible Strategie. Dazu passt gar an der Spitze des Staates? auch die Wahl des neuen Bundesprä- Damit könnte – und das wäre der sidenten: Im Gegensatz zu 1969, als zweite Glücksfall – die SPD endlich mit der Wahl Gustav Heinemanns der wieder aus ihrer lang anhaltenden sozial-liberale Machtwechsel zu Willy Krise herausfinden. Obwohl Schulz Brandt und Walter Scheel vorbereitet bei den Umfragewerten für seine Par- wurde, steht die Wahl des Agenda- tei noch deutlich tiefer gestartet ist als 2010-Architekten Frank-Walter Stein- seine Vorgänger Steinmeier und Stein- meier gerade für keine neue Farbkon- brück, hat er einen regelrechten Be- stellation, sondern nur für den Macht- geisterungssturm in der Partei ausge- anspruch der SPD. löst. Dabei geht er eine waghalsige, ja fast aberwitzig erscheinende Wet- te ein: „SPD pur“ und „Schulz muss Die Stärke der SPD aus der Kanzler werden“ lautet seine Devise, Schwäche der Union in welcher Konstellation auch immer. Alles hängt somit davon ab, ob er die- Mit dem Frontalangriff auf Angela sen Anspruch untermauern kann. Merkel zielt die SPD auf deren schwa- Der große Vorteil der „Alles-auf- che Stelle: die fehlende Geschlossen- Sieg“-Strategie: Schulz geht damit der heit der Union und die offensichtli- Notwendigkeit aus dem Weg, sich auf chen Ermüdungserscheinungen bei die Koalitionsfrage einzulassen. Denn der Kanzlerin. Anders ausgedrückt: keine der möglichen Koalitionsoptio- Das Phänomen Schulz funktioniert nen verfügt derzeit über positive Aus- nicht nur aus eigener Kraft, sondern strahlung. Nach wie vor gibt es keine auch aus der Schwäche der Union. Die rot-rot-grüne Wechselstimmung. We- Union selbst, so die List der Geschich- der bei den kommenden Landtags- te, hat mit ihrer Zerstrittenheit seit wahlen im Saarland (am 26. März), wo Beginn der Fluchtkrise den Aufstieg die SPD weit hinter der konservativen von Schulz erst möglich und den SPD- Titelverteidigerin rangiert, noch bei Kandidaten stark gemacht. Nachdem den wesentlich wichtigeren Wahlen in CSU-Chef Horst Seehofer die Kanzle- Nordrhein-Westfalen (am 14. Mai), wo rin („Herrschaft des Unrechts“) über die rot-grüne Mehrheit derzeit auf der eineinhalb Jahre regelrecht vor sich Kippe steht, übt Rot-Rot-Grün anzie- her- und sämtliche CSU-Mitglieder hende Wirkung aus – vom Bund ganz auf die Bäume getrieben hat, wirkte zu schweigen.2 Stattdessen setzt vor der vermeintliche Versöhnungsgipfel allem die CSU auf einen Lagerwahl- denn auch nur wie eine – obendrein kampf gegen R2G. Die andere mögli- schlecht inszenierte – Farce. che Dreierkonstellation unter Führung Bisher ist völlig unklar, wie die der SPD – nämlich Rot-Gelb-Grün – Union die tiefen Gräben wieder zu- ist dagegen völlig ungeübt und damit schütten will. Offensichtlich verlegt ebenfalls ohne Ausstrahlungskraft. sie sich derzeit auf die bewährte Me- Und mit einer Fortsetzung der großen thode: Der äußere Gegner schließt die Koalition, zumal als Juniorpartner der eigenen Reihen. Bundesfinanzminis- Union, sind die SPD-Mitglieder schon ter Wolfgang Schäuble ging sogar so gar nicht zu motivieren. weit, Schulz mit Donald Trump zu ver- gleichen; mit seiner Dampfplauderei 2 Nur in Schleswig-Holstein, wo am 7. Mai ge- wählt wird, scheint sich der SPD-Amtsinhaber mache der SPD-Kandidat die AfD erst in der alten Konstellation halten zu können. stark. Derartige Versuche, den SPD-

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Kandidaten als Populisten zu brand- werden. Wenn am 25. März die Staats- marken,3 springen jedoch deutlich zu und Regierungschefs zusammenkom- kurz: Schließlich hat die Union selbst men – aus Anlass des 60. Jahrestages maßgeblich zum Erstarken des Popu- der Römischen Verträge, bis heute das lismus im Lande beigetragen, insbe- Fundament der EU 5 – , werden dunk- sondere Horst Seehofer mit seiner zur le Wolken über der Versammlung Schau gestellten Sympathie für Viktor hängen: Wohl nie zuvor befand sich Orbán und andere „lupenreine Demo- die Europäische Union in einer der- kraten“, von Putin bis Trump. art schweren Krise. Im Inneren ist sie All das kann jedoch über die weiche mit dem Brexit und dem Aufstieg der Flanke von Martin Schulz nicht hin- Rechtspopulisten immensen Flieh- wegtäuschen. Neben seiner durchaus kräften ausgesetzt; und im Äußeren eigennützigen Amtsführung als EU- steckt sie geopolitisch in der Zange, Parlamentspräsident4 sind dies vor al- eingeklemmt zwischen zwei anti- lem seine großen inhaltlichen Leer- demokratischen Führerfiguren – Do- stellen. Noch ist der SPD-Kanzlerkan- nald Trump und Wladimir Putin. didat weit mehr Projektionsfläche al- Von Angela Merkel wird das Wort ler möglichen sozialdemokratischen überliefert, Putin lebe „in einer ande- Sehnsüchte, als dass er über einen ren Welt“. Gegenwärtig muss man den konkreten Politikentwurf verfügt. In Eindruck haben, dass die Welt des rus- den nächsten Wochen muss er bewei- sischen Präsidenten eine noch fast nor- sen, inwieweit von ihm wirklich die male, jedenfalls kalkulierbare ist, ver- behauptete „Renaissance der SPD“ glichen mit der seines neuen Kollegen ausgehen kann – oder ob es sich nicht aus den USA. Völlig erratisch, aber oh- vielleicht doch um ein bloßes Stroh- ne jede Rücksicht auf irgendwelche feuer handelt. Da Schulz zu Recht al- Alliierten unterwirft Donald Trump in les auf den alten SPD-Markenkern, cäsaristischer Weise alles der eigenen die soziale Gerechtigkeit, setzt, liegt und der US-amerikanischen Nutzen- die entscheidende Frage auf der Hand: maximierung. Beide Potentaten, Pu- Wie hältst du es mit der Agenda 2010? tin wie Trump, eint jedoch ein Inter- Nur wenn er sich an dieser Stelle ehr- esse – die Schwächung der EU. Trump lich macht und die großen Konstruk- zielt darauf ab, einen Keil in die Union tionsfehler der Agenda klar benennt, zu treiben, um in bilateralen Verträ- wird er den versprochenen Neuanfang gen bessere Deals zu erzielen. Und Pu- glaubhaft verkörpern können. tin hofft, seinen Einflussbereich auszu- weiten, weshalb er gezielt rechtspopu- listische Kräfte stärkt, von Frankreich Für ein sozial-demokratisches Europa über Deutschland bis Ungarn. Die demokratischen Regierungen Wie überzeugend dieser Neuanfang Europas sehen sich damit rechtspopu- ist, wird sich nicht zuletzt an der Euro- listischen Angriffen sowohl von außen pa-Frage entscheiden. Damit sind wir als auch von innen ausgesetzt – und beim dritten Glücksfall, für den Mar- das in einer ohnehin höchst krisen- tin Schulz stehen könnte, nämlich für haften Situation. Heute rächt sich, dass ein klares Plädoyer für ein anderes, man nicht längst die zentralen Über- sozialeres und bürgernahes, Europa. lebensfragen eines jeden Gemeinwe- Für die Europäische Union ist dies von sens in Angriff genommen hat: äußere immenser Bedeutung, droht 2017 doch Sicherheit und innere Konsolidierung, zu einem Jahr der Entscheidung zu sozial wie demokratisch.

3 „Der Spiegel“, 11.2.2017. 5 Die Römischen Verträge gelten in der Fassung 4 Ebd. und „Süddeutsche Zeitung“, 15.2.2017. des Vertrags von Nizza bis heute fort.

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Ob die EU dennoch gestärkt aus dieser te, sondern auch durch dringend ge- existenziellen Krise hervorgeht, wird botene Investitionen, vor allem in In- in entscheidendem Maße vom Verhal- frastruktur und Bildung, dürfen auch ten ihres stärksten Mitglieds abhän- Steuererhöhungen speziell im Spitzen- gen – und damit (neben den Wahlen in und Vermögensbereich nicht tabu sein. Frankreich) auch vom Wahlausgang So steht die Überlebensfrage Europas am 24. September. in diesem Wahljahr in direkter Verbin- Hier liegt die – neben der „SPD- dung mit der nationalen Wirtschafts- Agenda 2020 oder 2030“ – zweite zen- und Steuerpolitik. Mit Martin Schulz trale Bewährungsprobe für Martin haben wir nun – vielleicht – endlich Schulz. Ist er bereit und in der Lage, wieder eine Auswahl zwischen zwei dem Austeritätskurs der Kanzlerin und unterschiedlichen Konzeptionen. ihres Finanzministers die Vision eines Schließlich treten, gerade was Euro- anderen Europas entgegenzusetzen? pa betrifft, mit Martin Schulz und An- In der Vergangenheit agierte Schulz gela Merkel auch zwei völlig unter- als EU-Parlamentspräsident fataler- schiedliche Politikertypen an. Ange- weise, insbesondere in der Griechen- la Merkel agiert als kühle Verstandes- landkrise, im Ergebnis stets an der Sei- europäerin, Schulz dagegen weit mehr te der Kanzlerin und von EU-Kommis- als Europäer aus Leidenschaft. Ab Mai sionschef Jean-Claude Juncker. Nun könnte er mit Emmanuel Macron einen aber ist die Lage eine fundamental an- Bruder im Geiste an seiner Seite ha- dere, nicht nur aufgrund seiner Kanz- ben, was sowohl die deutsch-französi- lerkandidatur: Der Protektionismus sche Achse stärken als auch einen so- Donald Trumps, dessen Abschottungs- lidarischen Neuanfang für Europa be- politik gegenüber dem Rest der Welt, deuten könnte. verlangt eine wesentlich stärkere Be- Die Frage des Umgangs mit Euro- sinnung auf die Stärken Europas. Ins- pa wird schließlich auch über die Zu- besondere Deutschland ist gefordert, kunft des Rechtspopulismus entschei- weit mehr in die EU zu investieren – den. Macht das Modell Trump Schule politisch wie ökonomisch. Der autori- – sprich: lässt sich die EU weiter spal- täre Nationalegoismus der Schäuble- ten und wirken die Nationalstaaten schen Austeritätspoltik6 muss zuguns- noch stärker gegen- als miteinander –, ten eines europäischen Marshallplans werden auch die Rechtspopulisten in überwunden werden. Anders wird Europa weiter Oberwasser bekommen, auch die von Deutschland geforder- nicht zuletzt die AfD. Nimmt dagegen te Solidarität in der Asyl- und Flücht- die Angst vor Donald Trump weiter zu lingspolitik nicht zu erreichen sein. – und schweißt sie die Europäer zu stär- Das hat direkte Implikationen für ker solidarischem Verhalten zusam- die deutsche Innenpolitik: Der Fe- men –, dann könnte die rechtspopu- tisch der Schäubleschen Schwarzen listische Anhänglichkeit an Trumps Null ist Gift in diesen Zeiten und di- Politik zum Bumerang werden und die rekte Nahrung für Rechtspopulisten, Erfolgsgeschichte der europäischen vergrößert er doch die soziale Schere Rechten in diesem Jahr einen empfind- in ganz Europa. Speziell Deutschland lichen Rückschlag erleiden. muss endlich seine immensen Haus- Von Martin Schulz, der SPD und halts- und Handelsbilanzüberschüsse der gesamten deutschen Linken wird für eine Erhöhung der Binnennachfra- es maßgeblich abhängen, ob sie mit ge einsetzen. Und da dies nicht nur zu einem solidarischen Europaentwurf konsumtiven Zwecken geschehen soll- dazu beiträgt. Dann in der Tat könnte sich der neue Kanzlerkandidat als ein 6 Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Glücksfall erweisen – für die SPD, für Fisahn in diesem Heft. die Demokratie und für Europa.

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201703_Blätter_Buch.indb 8 15.02.17 11:29 Kommentare und Berichte 9

Frank Jansen Die Rechte auf dem Vormarsch: Von Reichsbürgern bis AfD

Als im Oktober 2016 der Reichsbür- nem Lokal in Hannover die NPD. Auf- ger Wolfgang P. im fränkischen Geor- grund der ersten Wirtschaftskrise der gensgmünd einen Polizisten erschoss, Bundesrepublik und der studentischen schreckte ganz Deutschland auf. Bis Kulturrevolte konnte die NPD rasch bei dahin hatte kaum jemand von dieser Landtagswahlen reüssieren und die ominösen Vereinigung gehört. Zwar Stimmen vieler verunsicherter Klein- hatte die brutale Mordserie des NSU bürger einsammeln. Ende der 1960er das Bewusstsein für den Rechtsext- Jahre schaffte die Partei den Sprung remismus aus der Zeit nach 1989 ge- in sieben Parlamente, aber nicht in den schärft. Die, durchaus berechtigte, Bundestag. Damit begann ihr Nieder- Fokussierung der letzten Jahre auf gang. Mehr und mehr verlor die NPD den daraus resultierenden NSU-Pro- ihre führende Rolle im rechtsextremen zess hatte jedoch eine fatale Neben- Spektrum. Die DVU und später die folge: Die langen Linien des deutschen „Republikaner“ bissen den Konkur- Rechtsextremismus wie vor allem sei- renten weg. Hinzu kam eine neue neo- ne erschreckende Massivität in der nazistische „Szene“, die mit Parteien Gegenwart gerieten aus dem Blickfeld. insgesamt wenig anfangen konnte. Tatsächlich ist die Bundesrepublik Das rechtsextreme Spektrum fä- schon seit ihrer Gründung mit rechts- cherte sich also zunehmend auf, ein extremen Personen und deren Umtrie- Teil radikalisierte sich bis hin zu ter- ben konfrontiert. Gleich nach Grün- roristischer Gewalt. Der Anschlag dung der Bundesrepublik wuchs die des Neonazis Gundolf Köhler auf das braune „Sozialistische Reichspartei“ Münchner Oktoberfest im September heran, ein Sammelbecken ehemaliger 1980 mit 13 Toten war der blutige Hö- Mitglieder von NSDAP, SA, Waffen-SS hepunkt. Bis heute ist unklar, ob Köh- und anderer Nazi-Organisationen. Die ler, der aus der Wehrsportgruppe Hoff- SRP erschien nach einigen Wahlerfol- mann kam, tatsächlich als Einzeltäter gen als so gefährlich, dass das Bun- agierte.1 desverfassungsgericht sie 1952 verbot. Auch in der DDR bildete sich in den Doch der Rechtsextremismus war da- 1980er Jahren eine rechte Szene. Neo- mit keineswegs tot – auch nicht in der nazis, Skinheads, rechte Fußball- DDR. Dort sammelten sich Altnazis in fans attackierten junge Pazifisten und der NDPD, der National-Demokrati- Arbeiter aus anderen sozialistischen schen Partei Deutschlands. Mitglieder Staaten. Kurz vor der Wende schätzte und Funktionäre schworen dem So- die Volkspolizei den harten Kern des zialismus die Treue, intern wurde hin- Milieus auf 5000 Personen; weitere gegen halblaut vom Dritten Reich ge- 10 000 wurden als Mitläufer eingestuft. schwärmt. Als die DDR dann 1990 unterging, war In Westdeutschland setzte eine an- das Potential der rassistischen Randa- dere Dynamik ein: Zwölf Jahre nach 1 Martina Renner und Sebastian Wehrhahn, dem Verbot der SRP gründeten Hitler- Verdunklung als Prinzip: Geheimdienste und fans und Nationalkonservative in ei- rechter Terror, in: „Blätter“, 1/2017, S. 25-28.

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lierer längst vorhanden. Aus dem Wes- und „besorgten“ Bürgern, die Flücht- ten kamen lediglich die führenden lingsheime anzünden. Das Spektrum Neonazi-Kader wie Michael Kühnen. wird größer und es franst weiter aus Doch auch ohne sie wäre es vermutlich – und ist somit für Verfassungsschutz zu den Pogromen in Hoyerswerda und und Polizei immer schwerer zu fassen. Rostock gekommen, da die Gewalttä- Denn immer mehr Bürger radikalisie- ter im Osten als Vollstrecker einer in ren sich, attackieren Flüchtlingsheime weiten Teilen ausländerfeindlichen oder rechnen sich eben den bislang un- Bevölkerung agierten. beachteten Reichsbürgern zu.2 Damit hatte der Rechtsextremis- Erst nach dem Polizistenmord von mus im wiedervereinigten Deutsch- Georgensgmünd begann auch das land eine neue Dimension erreicht. Der Bundesamt für Verfassungsschutz die Westen blieb davon nicht unberührt. Beobachtung der Szene, die der Bun- Zwar kam es nicht zu Massenattacken desrepublik mit kruden Parolen die auf Flüchtlinge und Migranten, doch staatliche Legitimation abspricht. In bei den Brandanschlägen auf von Tür- einigen Ländern befassen sich Ver- ken bewohnte Häuser in Mölln und fassungsschützer zwar schon länger Solingen starben acht Menschen. mit dem Milieu, doch nun wurde seine Bei Wahlen konnten im Westen al- deutschlandweite Dimension sichtbar. lerdings nur die „Republikaner“ größe- Sicherheitskreise vermuten, dass der re Wahlerfolge feiern, im Osten schaff- Szene mehrere tausend, womöglich so- ten dagegen NPD und DVU den Ein- gar über 10 000 Personen zuzurechnen zug in vier Landtage. Ein Erfolgsrezept sind. Allein in Bayern geht man von der NPD: Sie erkannte das Potential der 1700 Reichsbürgern aus. braunen Jugendszene und öffnete sich Ideologisch präsentieren die „Reichs- für Skinheads und Neonazis. Im Wes- bürger“ einen Mischmasch aus ro- ten hingegen spielten rechte Parteien yalistischen Fantasien („Königreich schon länger keine Rolle mehr. Deutschland“), aggressiver My-home- is-my-castle-Rechthaberei, antisemiti- schen Verschwörungstheorien und Ho- Das Reichsbürger-Phänomen locaust-Leugnung. Kleinster gemein- samer Nenner ist die rabiate Ableh- Mit der sogenannten Flüchtlingskri- nung der Bundesrepublik. Große Tei- se änderte sich die Lage fundamental. le der sogenannten Reichsbürgersze- Vom Spätsommer 2015 an wuchs die ne behaupten, das Deutsche Reich sei Zahl der rassistischen Angriffe auf 1945 nicht untergegangen. Die staatli- Flüchtlingsunterkünfte rapide. Und chen Organe der Bundesrepublik seien auch wenn die rechte Gewalt in den deshalb illegitim und Handlanger der neuen Bundesländern überproportio- Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. nal hoch ist, hat Westdeutschland doch Die Verfassungsschützer scheinen auf traurige Weise aufgeholt. Das zeigt sich darauf zu einigen, jene bekennen- sich auch im Wahlverhalten: Die AfD den Reichsbürger als zumindest „ext- ist die erste „rechte“ Partei im wieder- remistisch“ zu bezeichnen, die die de- vereinigten Deutschland, die im Wes- mokratische Grundordnung der Re- ten wie im Osten zweistellige Ergeb- publik ablehnen. Mehr noch beunru- nisse erzielt hat. higt die Behörden, dass viele von ih- Die Folgen des Umbruchs seit 2015 2 Vgl. ausführlich zur Reichsbürger-Szene: sind somit gravierend. Bundesweit Amadeu-Antonio-Stiftung (Hg.), „Wir sind ist eine Art Mischszene entstanden wieder da“. Die „Reichsbürger“: Überzeu- – aus radikalisierten Anhängern der gungen, Gefahren und Handlungsstrategien, Berlin 2014; Dirk Wilking (Hg.), Brandenbur- AfD, Pegida-Demonstranten, Neona- gisches Institut für Gemeinwesenberatung, zis, Hooligans, Reichsbürgern, NPD „Reichsbürger“. Ein Handbuch, Potsdam 2015.

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nen wie Wolfgang P. bewaffnet sind. stieg um 300 Personen auf 12 100 zeugt Schätzungsweise zehn Prozent haben von einer sich festigenden Bereitschaft laut Sicherheitskreisen eine Waffenbe- in verschiedenen Milieus, rechtsextre- sitzkarte. Das liegt deutlich über dem me und vor allem rassistische Wahn- Durchschnitt der Bevölkerung.3 ideen in Straftaten umzusetzen – mit Doch die Reichsbürger sind nur der Faust oder auch mit der Brandfla- eine Facette dessen, was heute unter sche. Den Hang zur Militanz beobach- Rechtsextremismus zu verstehen ist ten Nachrichtendienste und Polizei al- – tatsächlich werden sie bislang nicht lerdings nicht nur bei den üblichen einmal zu den behördlich registrier- Verdächtigen wie Neonazis, den Rest- ten Rechtsextremisten gezählt. Die La- beständen der rechten Skinheads und ge hat sich im vergangenen Jahr ins- etablierten rechten Cliquen. Das Bun- gesamt massiv verschärft. So ist die deskriminalamt registriert bei den An- Zahl der Rechtsextremisten um unge- griffen auf Flüchtlingsunterkünfte zu- fähr 500 auf mehr als 23 000 Personen nehmend Täter, die zuvor nicht als Ex- gestiegen. Grundlage dafür sind die tremisten bekannt waren. Von „rund Kategorien des Verfassungsschutzes: drei Viertel“ der ermittelten Verdäch- Registriert werden demnach nur Män- tigen sprach BKA-Chef Holger Münch ner und Frauen, die eindeutig als Ex- im September 2016 im Interview des tremisten erkennbar sind, also bei Auf- „Tagesspiegels“. Mit ihren rassisti- märschen und anderen rechtsextre- schen Attacken outen sich diese Leu- men Veranstaltungen auffielen oder te als rechte Fanatiker, selbst wenn sie auch als Straftäter. niemals NPD wählen würden. Aber sie Das sind aber längst nicht alle Per- tragen mit dazu bei, dass im rechtsex- sonen, die rassistische, islamfeindli- tremen Spektrum in Deutschland mehr che und weitere problematische „rech- als jede zweite Person als gewaltorien- te“ Ansichten vertreten. Die AfD-Mit- tiert zu gelten hat. glieder, die kürzlich in Dresden bei der Rede von Björn Höcke gejubelt haben, werden vom Verfassungsschutz ge- Die bunte Szene der Extremisten nauso wenig als Extremisten erfasst wie die allermeisten Pegida-Demons- Stärkste Kraft im Feld des organisier- tranten – noch im Januar 2015 waren ten Rechtsextremismus bleibt die NPD, das allein mehr als 20 000 Personen. aber für sie war – gegen den rechten Außerdem sind die unzähligen rassis- Trend – auch 2016 kein gutes Jahr. Die tischen Pöbler im Internet ein weite- Partei habe nur noch um die 5000 Mit- res Indiz, dass das „rechte“ Potential glieder, sagen Experten. 2015 waren es in Deutschland erheblich größer ist, als noch 200 mehr. Die NPD behauptet al- die Zahl von 23 000 Extremisten sugge- lerdings, sie sei auf 5600 Mitglieder ge- riert – diese sind nur der harte Kern. wachsen. Nachdem nun auch das zwei- Sorgen bereitet den Behörden vor te Verbotsverfahren in Karlsruhe ge- allem das Wachstum des gewaltorien- scheitert ist, prophezeiten Funktionäre tierten Rechtsextremismus. Der An- sogar einen weiteren Aufschwung. Sicherheitskreise winken jedoch ab: 3 Von den mehr als 80 Millionen Bundesbür- Mehrere Landesverbände der NPD gern hatten, Stand 2014, etwa 1,5 Millionen seien kaum noch wahrnehmbar. Die eine oder mehrere Schusswaffen. Seit 2015, Partei komme gegen die übermächtige vor allem nach den sexistischen Krawallen in der Silvesternacht in Köln, nimmt die Bewaff- Konkurrenz der AfD einfach nicht an. nung jedoch kräftig zu. Vor allem der Kleine An der NPD nagen zudem die klei- Waffenschein wird populär. Eine private Auf- nen Neonaziparteien „Die Rechte“ und rüstung mit Sturmgewehren und Maschinen- pistolen wie in den USA gibt es in Deutschland „Der III. Weg“. Beide wuchsen um je dank strenger Gesetze bislang aber nicht. 50 Mitglieder: „Die Rechte“ hat jetzt

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etwa 700, „Der III. Weg“ ungefähr 350. die rechtsextreme Sponti-Truppe „Die Bleibt schließlich noch die islamfeind- Identitären“ verzichten auf NS-Nostal- liche Partei „Pro NRW“. Sie verlor 2015 gie. Antisemitismus wird weitgehend fast die Hälfte ihrer damals 950 Mit- ersetzt durch Islamophobie. Der harte glieder, als der relativ starke Ortsver- Kern der NPD hingegen ist stolz darauf, band „Pro Köln“ sich abspaltete. Seit- an seiner braunen, antijüdischen Welt- dem dümpelt die Partei mit 500 Mit- anschauung festzuhalten. Die Wand- gliedern vor sich hin. lung zu einer „bloß rechtspopulisti- Bedeutender als der parteipolitische schen“ Kraft lehnen die Betonköpfe ab. Rechtsextremismus ist jenes Milieu, das Damit wird die Partei aber nicht der Verfassungsschutz als „subkulturell zwangsläufig attraktiver für Neona- geprägte Rechtsextremisten“ bezeich- zis. Im Gegenteil: Aus Sicht vieler An- net. Hierzu werden 8500 Personen ge- hänger der Hardcore-Fraktion ist die rechnet. Sicherheitskreise nennen vor NPD ohnehin zu lasch. Außerdem hat allem die Rechtsrockszene und die mit sie nach ihren Wahlniederlagen keine ihr verbundenen Skinheadgruppierun- Jobs mehr in Landtagsfraktionen und gen wie die elitären „Hammerskins“ Parteizentralen zu bieten. Junge Neo- (etwa 140 Personen). Zu diesem Milieu nazis, die sich organisieren wollen, ge- werden auch lose Zusammenschlüsse hen daher eher zu den äußerst rabiaten im Internet und viele Personen gezählt, Kleinparteien „Die Rechte“ und „Der die weder einer Partei noch einem be- III. Weg“. Dort tummeln sich mehr und kannten Verein angehören. Die rassis- mehr Rechtsextremisten aus Vereini- tische Bewegung „Die Identitären“, et- gungen, die bereits verboten wurden. wa 300 Leute, ordnen Sicherheitskreise Die größte Gefahr für unsere De- hingegen den „sonstigen“ rechtsextre- mokratie besteht heute jedoch in der men Organisationen zu. Im August be- Entgrenzung des Rechtsextremismus gann das Bundesamt für Verfassungs- durch den Rechtspopulismus. Was der schutz, die rechtsextreme Sponti-Grup- NPD nicht gelungen ist, weil sie an pierung zu beobachten. Die Verfas- NS-Nostalgie und anderem ideolo- sungsschutzbehörden mehrerer Län- gischen Ballast festhält, gelingt AfD der hatten die Identitären schon zuvor und Pegida: völkisches Denken über in den Blick genommen. Die Rassisten die braunen Milieus hinaus salonfä- provozierten 2016 vor allem in Berlin: hig zu machen. Wie auch die ande- Ihre Aktivisten besetzten das Branden- ren „modernen“ Rechten, etwa Geert burger Tor und schikanierten mehrmals Wilders PVV und die österreichische die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich FPÖ, haben AfD und Pegida Erfolg, gegen Rechtsextremismus engagiert. weil sie weitgehend auf ein braunes Einen großen rechtsextremen Block Bürgerschreck-Image verzichten und stellt schließlich auch das Spektrum sich so nach dem Muster des Front Na- der Neonazis. Experten sprechen hier tional „entdiabolisieren“ – wie auch von 5800 Personen, so viele wie schon das Ausschlussverfahren gegen Björn 2015. Ein Teil der Neonazis bevorzugt Höcke belegen soll. Auf diese Weise „freie“ Zusammenschlüsse jenseits kommt die AfD an das Bürgertum und von Parteien und Vereinen, um einem dessen Ressentiments heran, die seit Verbot vorzubeugen. Andere Neonazis dem Beginn der „Flüchtlingskrise“ im- hingegen treten braunen Parteien bei, mer mehr vom Gemurmel einer schwei- weil die nur schwer zu verbieten sind. genden Mehrheit zu lautem Wutbür- Insgesamt sind die alten Parteistruk- gergeschrei werden. Wohin derglei- turen jedoch eher im Schwinden begrif- chen führen kann, zeigt der Erfolg von fen. Für weite Teile des rechten Spek- Donald Trump. Glücklicherweise, fällt trums ist speziell die NPD nicht mehr einem dazu nur ein, sind Höcke, Petry zeitgemäß. Sowohl die AfD als auch oder Gauland keine Milliardäre.

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Laura Valentukeviciute Der Ausverkauf der Autobahn

Am 31. März dieses Jahres kommt es mit Klauseln, die Privatisierungen er- zum Schwur: Dann stimmt der Bundes- möglichen, sollte der Öffentlichkeit tag über mehrere Grundgesetzände- verborgen bleiben. So versicherte der rungen ab, die allen anderslautenden ehemalige Bundeswirtschaftsminister Bekundungen zum Trotz Privatisierun- Sigmar Gabriel per E-Mail allen SPD- gen beim Bau und Betrieb von Auto- Mitgliedern, er selbst habe die Priva- bahnabschnitten und Schulgebäu- tisierung der Autobahnen verhindert. den ermöglichen. Die Regierung ließ In der SPD sprach man daraufhin von den Abgeordneten nur wenig Zeit zur einer „doppelten Privatisierungsbrem- gründlichen Prüfung und Diskussion: se“ und „roten Linien“. Doch die nun Ihnen liegen der Entwurf zur Grund- vorliegenden Gesetzentwürfe zeigen: gesetzänderung und das Begleitge- Das Gegenteil ist der Fall. setz erst seit knapp drei Monaten vor.1 Offenbar ahnen die betroffenen Minis- terien – Verkehr, Finanzen und Wirt- Die Rückkehr der Öffentlich- schaft –, dass das umstrittene Vorha- Privaten Partnerschaften ben nur noch unter der Großen Koali- tion verabschiedet werden kann. Zwar ist eine Form der ursprünglich Sicher ist, dass keiner mit diesem von Bundesfinanzminister Wolfgang unpopulären Thema in den Wahl- Schäuble vorgeschlagenen „materiel- kampf ziehen will. Denn in den letzten len Privatisierung“ nun tatsächlich Jahren hat sich die Einstellung der Be- ausgeschlossen. Private Investoren sol- völkerung zu Privatisierungen grund- len laut Grundgesetz keine Anteile an legend geändert: Während in den der zu gründenden „Infrastrukturge- 1990er Jahren noch eine Mehrheit dem sellschaft Verkehr“ erwerben können. Verkauf der öffentlichen Infrastruktur Die Beteiligung Privater am Eigen- in der Hoffnung zustimmte, alles wür- kapital von Tochtergesellschaften soll de effizienter, glaubt das heute kaum hingegen grundgesetzlich ermöglicht noch jemand. Laut Forsa-Umfragen im werden. Auftrag des Deutschen Beamtenbun- Zudem ist geplant, diese Verwal- des sprechen sich inzwischen 70 bis 80 tungsgesellschaft in privatrechtlicher Prozent der Befragten gegen Privati- Form als GmbH zu organisieren – sie sierungen im Bereich der Daseinsvor- wird also „formell“ privatisiert. Nach sorge aus. vier Jahren soll die Bundesregierung Auch deswegen wird die geplante diese Rechtsform evaluieren, danach Grundgesetzänderung offiziell nicht könnte sie die Verwaltungsgesellschaft als Privatisierung bezeichnet, son- in eine Aktiengesellschaft umwandeln. dern als „Zentralisierung der Auto- Schließlich wird der dritten Privati- bahnverwaltung“. Dass die Gesetz- sierungsform, der „funktionalen Pri- entwürfe aber dennoch gespickt sind vatisierung“ Tür und Tor geöffnet – in Form Öffentlich-Privater Partnerschaf- 1 Geändert bzw. neu abgefasst werden sollen ten (ÖPP). Das gilt insbesondere bei 14 Stellen im GG: die Artikel 74, 90, 91c, 104b, 104c, 107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f Autobahnen und der Schulinfrastruk- und 143g. tur. So sollen sich private Unternehmen

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an Bau und/oder Betrieb von Autobah- Laut ÖPP-Befürwortern werden die nen beteiligen können.2 Zudem soll höheren Kosten durch die effizientere Fremdkapital zum Einsatz kommen, Arbeit von Privatunternehmen mehr für das der Bundeshaushalt haftet, et- als wettgemacht. Weil davon aber vie- wa wenn eine beteiligte Gesellschaft lerorts nichts zu spüren ist, setzen die Konkurs anmeldet. Befürworter aktuell auf ein weiteres Zudem sollen Öffentlich-Private Argument: ÖPP würden schneller Partnerschaften auch bei Schulen zum zum Ziel führen. Doch auch hier zeigt Einsatz kommen – ungeachtet der Kri- sich, dass allein die Ausschreibung in tik von Rechnungshöfen, die schon seit der Regel sehr lange dauert. Im Fal- Jahren davon abraten. Dafür sind zwei le eines Sanierungsabschnitts der A7 Schritte geplant: Zunächst wird dem beispielsweise entschied sich das Bun- Bund das Recht eingeräumt, finanz- desverkehrsministerium im Jahr 2008, schwachen Gemeinden Hilfen zu ge- per ÖPP auszuschreiben – nach mehr währen. Dann werden Schul-ÖPP als als acht Jahren hat der Bau noch immer förderfähig erklärt, für die sogar staat- nicht begonnen. liche Vorschüsse gewährt werden können. In den 1990er Jahren galten ÖPP Privatisierung durch die Hintertür noch als Rezept zur Sanierung klam- mer Kommunen: Da Investitionen zu- Noch vor kurzem galten ÖPP wegen nächst von den beteiligten privaten der zunehmend schlechten Erfah- Unternehmen vorgeschossen werden, rungen als Auslaufmodell. Gerade im schlagen sie sich nicht sofort in voller Autobahnbau musste der Bund zur Höhe in den Haushalten nieder. Die Kenntnis nehmen, dass ÖPP fast 40 Zeche zahlen die Kommunen am En- Prozent teurer sind als die konventio- de aber trotzdem. Denn die langfris- nelle Auftragsvergabe. Auch die Län- tigen Verträge zwischen der öffentli- der wollen immer seltener Autobahnen chen Hand und einem privaten Part- oder Gefängnisse auf diese Art betrei- ner – etwa ein für Planung, Bau oder ben. Und Kommunen wenden sich vor Sanierung und Betrieb eines Projekts allem deswegen ab, weil zahlreiche beauftragtes Bauunternehmen – stei- Bäder- und Schul-ÖPPs scheiterten – gern letztlich die Gesamtkosten:3 Die entweder, weil die Kosten explodierten öffentliche Hand zahlt das Geld inner- oder die Projekte sogar pleitegingen. halb der üblichen Laufzeit – von 25 bis Entsprechend ging die Zahl der Pro- 30 Jahren – zurück, und zwar samt Zin- jekte ebenso zurück wie das dafür auf- sen, die im Fall des privaten Kredits gewandte Finanzvolumen. viel höher ausfallen als für eine Staats- Doch obwohl der Bund derzeit fi- anleihe oder einen Kommunalkredit. nanziell sehr gut dasteht und das über- Auch die Gewinnerwartungen der pri- schüssige Geld – auch angesichts nied- vaten Unternehmen schmälern zusätz- riger Zinsen – ohne Weiteres für die so lich das Budget, das für die Infrastruk- nötigen Infrastrukturprojekte ausge- tur ausgegeben werden kann. ben könnte, hält die Bundesregierung weiter an der „Schwarzen Null“ und 2 Vgl. Bundesrechnungshof, Gutachten des der Schuldenbremse fest. Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in So berief Sigmar Gabriel im August der Verwaltung zu Organisationsformen und 2014 eine Kommission ein, die Vor- Finanzierungsvarianten für die Bundesfern- straßen, 30.11.2016. schläge für eine Steigerung der In- 3 Vgl. Werner Rügemer, Public-Private-Part- vestitionen in öffentliche Infrastruk- nership: Die Plünderung des Staates, in: „Blät- tur erarbeiten sollte. Laut Gabriel soll- ter“, 2/2010, S. 75-84; ders., Der Ruin der Kom- munen: Ausverkauft und totgespart, in: „Blät- te es dabei ausdrücklich „nicht um ter“, 8/2012, S. 93-102. eine Neuauflage von ÖPP-Projekten“

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201703_Blätter_Buch.indb 14 15.02.17 11:29 Kommentare und Berichte 15

gehen. Die Kommission unter Leitung halb sich der Bund dann nicht mehr mit von Marcel Fratzscher vom Deutschen Landesregierungen und -parlamenten Institut für Wirtschaftsforschung und über einzelne Projekte streiten muss; unter der Beteiligung von Allianz, der zum anderen, weil das Management Ergo-Versicherungsgruppe und der der neuen „Infrastrukturgesellschaft Deutschen Bank plädierte in ihrem Ab- Verkehr“ alleine entscheiden könn- schlussbericht im April 2015 aber doch te, in welchem Umfang ÖPP genutzt für den Einbezug privater Investitio- werden. Zu befürchten ist, dass sich nen in die öffentliche Infrastruktur. die Kontrolle durch Bundesregierung Gleichzeitig schlug die Kommission und Bundestag in sehr engen Gren- Strukturen vor, die ÖPP wesentlich er- zen halten wird, wie die Erfahrungen leichtern würden.4 Die in der Kommis- mit der Deutschen Bahn zeigen. So ist sion vertretenen Gewerkschaften vo- nicht ausgeschlossen, dass die Gesell- tierten gegen diese Vorschläge. schaft ihr gesamtes Auftragsvolumen Einige der Empfehlungen finden für 30 Jahre in Höhe von rund 250 bis sich nun in den aktuellen Entwürfen 300 Mrd. Euro per ÖPP vergeben wird. der Regierung wieder: insbesondere die Schaffung einer zentralen Auto- bahngesellschaft sowie private Inves- Schattenhaushalt statt titionen in den Bau und die Sanierung Schuldenbremse kommunaler Bildungsinfrastruktur. Dafür will die Bundesregierung das Vor allem aber bieten die ÖPP die Grundgesetz ändern. Allerdings er- Möglichkeit, die Schuldenbremse zu möglicht dieses die Zentralisierung umgehen, wie auch der Bundesrech- der Autobahnen schon heute. In Ar- nungshof bestätigte: „Die Kredite der tikel 90 GG steht: „Auf Antrag eines Verkehrsinfrastrukturgesellschaft [...] Landes kann der Bund Bundesauto- werden bei der Berechnung der zuläs- bahnen und sonstige Bundesstraßen sigen Neuverschuldung nicht berück- des Fernverkehrs [...] in bundeseigene sichtigt.“ Gleichzeitig warnt der Rech- Verwaltung übernehmen.“ Die vorge- nungshof, dass in den Gesetzentwürfen schlagenen Grundgesetzänderungen Kreditgrenzen fehlen. Ein Schatten- verfolgen somit andere Zwecke: ÖPP haushalt mit unbegrenzten Anlage- massiv auszuweiten und die Schulden- möglichkeiten ist somit vorprogram- bremse zu umgehen. miert. Ironischerweise soll dieser, wie Trotz der deutlich höheren Kosten die Schuldenbremse, im Grundgesetz sind bereits 3,6 Prozent der Autobahn- verankert werden. strecken ÖPP-Projekte (für sie werden Für die so entstehenden Schulden 8,8 Prozent der zur Verfügung stehen- haftet jedoch letztlich immer noch der den Gelder aufgewendet).5 Die Grund- Bund und nicht die neue Gesellschaft gesetzänderung könnte diese Zah- oder die Geldgeber. Denn die Verant- len weiter in die Höhe treiben, denn wortung für das Funktionieren wich- durch sie wird eine deutliche Auswei- tiger Infrastrukturen der Daseinsvor- tung von ÖPP ermöglicht. Zum einen, sorge trägt der Staat und im Falle eines weil die Bundesverwaltung von nun an Konkurses muss er alle Schulden über- zentral Aufträge vergeben kann, wes- nehmen. Genau das geschah letztes Jahr bei den spanischen Autobahnen. 4 Katja Thiele und Carl Waßmuth, Aktuelle Trotz oder gerade wegen dieser Entwicklungen bei der Privatisierung der Da- seinsvorsorge in Deutschland mit besonderem weitreichenden Folgen der geplanten Fokus auf Bundesfernstraßen, 2016. Grundgesetzänderung sind für den 5 Vgl. Lehrstuhl für Infrastruktur- und Immo- Bundesrechnungshof keine Prüfungs- bilienmanagement der TU Braunschweig, Bericht zum Forschungsvorhaben „ÖPP-Infra- rechte vorgesehen – dabei hat sich die- strukturprojekte und Mittelstand“, 2.3.2016. ser in der Vergangenheit immer wie-

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201703_Blätter_Buch.indb 15 15.02.17 11:29 16 Kommentare und Berichte

der als kritische Instanz in der Ausei- Schnellstrecken ausbaut, während sie nandersetzung mit ÖPP-Projekten her- den regionalen Zugverkehr vernach- vorgetan. So kam der Rechnungshof in lässigt oder gar aufgibt. seiner Analyse auch zu dem Schluss, dass der Bund die Zentralisierung der Autobahnverwaltung deutlich unter- Kuhhandel mit dem schätzt. In Österreich beispielsweise Grundgesetz habe die Überführung der Auftrags- verwaltung bei nur 2200 Kilometern Trotz allem wird die Große Koalition Autobahn ganze neun Jahre gedauert. die geplanten Gesetzesänderungen Die Bundesregierung will die Reform mit ihrer Zweidrittelmehrheit problem- der Auftragsverwaltung für immer- los verabschieden können. Denn selbst hin 13 000 Kilometer aber bis Anfang wenn sie wollten, bleibt den Abgeord- 2021 und damit in noch nicht einmal neten kaum Zeit, sich intensiv mit dem vier Jahren abschließen. Wie unausge- Vorhaben zu beschäftigen. Schon des- goren ihre Pläne sind, zeigte auch ihre halb werden sie sich wohl dem Frak- Antwort auf eine Anfrage der Links- tionszwang unterwerfen. fraktion vom September 2016. Auf die Dabei bedeutet eine Zustimmung Frage nach der Zahl der Beschäftigten eigentlich sogar einen Bruch des Ko- in der Auftragsverwaltung, deren Ge- alitionsvertrages: In diesem heißt es hältern und Rentenansprüchen sowie nämlich, dass der Bund „gemeinsam den Rentenrückstellungen hatte die mit den Ländern Vorschläge für eine Bundesregierung keine Antwort. Reform der Auftragsverwaltung Stra- Was die Zahl der zu übernehmen- ße erarbeiten und umsetzen“ soll. Zwar den Beschäftigten angeht, klaffen die haben die Länder im Rahmen der Bo- Aussagen der Bundesregierung und dewig-II-Kommission 2016 Vorschläge die Einschätzung des Bundesrech- gemacht, der Bund hat diese aber nicht nungshofs gewaltig auseinander. Wäh- aufgegriffen. Der Grund liegt auf der rend die Regierung für die Bundes- Hand: Die Länder waren gegen eine autobahnverwaltung 1300 Beschäf- Zentralisierung der Autobahnverwal- tigte übernehmen will, hält der Bun- tung. Entsprechend lehnten alle Ver- desrechnungshof 11 000 bis 12 000 für kehrsministerinnen und -minister den nötig. Das bedeutet: Es wird entweder Vorschlag der Bundesregierung ab, eine enorme Arbeitsverdichtung ge- sieben Landesparlamente fassten so- ben oder die Aufgaben werden an Sub- gar Beschlüsse zum Erhalt der Länder- unternehmer ausgelagert, in der Re- Auftragsverwaltung. Doch am Ende gel mit weitaus schlechteren Arbeits- der langen Verhandlungen setzte sich bedingungen. der Bund mit einem Kuhhandel durch: Darüber hinaus sind auch negati- Er erkaufte sich die Zustimmung der ve ökologische Folgen absehbar: Wäh- Länder mit der Zusage eines jährlichen rend für den öffentlichen Nahverkehr, Finanztransfers in Höhe von 9,75 Mrd. Rad- oder Fußverkehr weiterhin die Euro ab 2020. Schuldenbremse gilt, erhalten Auto- Damit aber sendet die Bundesre- bahnen durch die geplante Reform gierung ein fatales Signal: Sie setzt einen Finanzierungsschub. Örtliche sich nicht nur über die Interessen der Straßen bleiben von dieser Förderung Länder, sondern auch über die der ausgeschlossen, so dass der ökolo- Mehrheit der Bevölkerung hinweg. gisch verträglichere regionale Verkehr Das Grundgesetz verkommt bei die- weiterhin unter dem schlechten Zu- sem Handel zur bloßen Tauschware – stand der Straßen leiden wird. Die Plä- das aber ist einer Demokratie unwür- ne ähneln damit dem Vorgehen bei der dig und könnte sie mittelfristig sogar Deutschen Bahn, die die teuren ICE- ernsthaft schädigen.

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Tobias Müller Geert Wilders: Sieg ohne Macht?

Als der Publizist und frühere Sozio- (VVD) von Premier Mark Rutte. Um logieprofessor Pim Fortuyn 2002 die den dritten Platz konkurrieren Christ- niederländische Politik aufmischte, demokraten (CDA), die liberalen De- reagierte der Rest Europas verwun- mocraten66 (D66) und GroenLinks. dert bis schockiert: Scheinbar aus dem Sie dürften bei der zu erwartenden Nichts erschien da ein schwuler Dandy schwierigen Regierungsbildung eine und setzte sich mit markigen Sprüchen wichtige Rolle spielen. gegen Multikulturalismus und angeb- Die Linke hingegen steuert auf ein liche Islamisierung gleich an die Spitze äußerst schwaches Ergebnis zu: Die der Umfragen. Socialistische Partij (SP) und die ab- Fortuyn war einer der ersten Ver- gestürzten Sozialdemokraten der Par- treter einer neuen Welle rechter Politi- tij van de Arbeid (PvdA) rangierten in ker auf dem Kontinent. An ihnen haf- Umfragen lange im einstelligen Be- tete nicht mehr der Geruch von Sprin- reich. Die PvdA bezahlt nun offen- gerstiefeln, Wehrmachtgedenken oder bar den Preis dafür, dass sie ab 2012 Blut-und-Boden-Ideologie. Damit wur- in einer Koalition mit der VVD deren den sie auch für Durchschnittswäh- Austeritätspolitik mittrug. Die latente lerinnen und -wähler interessant. Dass Krise der Sozialdemokratie würde da- ausgerechnet die Niederlande, das mit einen neuen Tiefpunkt erreichen. Sinnbild von Toleranz und einer „High- sein-frei-sein“-Mentalität, zum euro- päischen Vorreiter dieser Rechtsent- Identität und soziale Sicherheit wicklung avancierten, sorgte nicht nur dort für gewaltige Irritationen. Woraus aber resultiert die heutige Anderthalb Jahrzehnte später könn- Stärke von Wilders‘ PVV? Wer sich de- te das Land erneut ein Signal nach ren Entwicklung anschaut, bemerkt ganz Europa senden. Bei den Parla- zweierlei: Zum einen verfügt sie be- mentswahlen am 15. März droht sich reits über eine stabile Wählerbasis, die rechtspopulistische Partij voor die sie über den Status einer reinen de Vrijheid (PVV) um ihren Spitzen- Protestpartei hinaushebt. Seit ihr 2006 kandidaten Geert Wilders zur stärks- auf Anhieb der Sprung ins Parlament ten politischen Kraft aufzuschwingen. gelang, haben die Rechtspopulisten Die PVV ist die Nachlassverwalterin daher auch einige Krisen überstehen der Fortuyn-Partei, die nach der Er- können, zuletzt die Verluste bei den mordung ihres Gründers einen rapi- nationalen und europäischen Wahlen den Niedergang erlebte. Nun könnte von 2012 und 2014. Wilders die Ambitionen seines Vorgän- Zum anderen begann der aktuel- gers einlösen und einen Wahlsieg ein- le Höhenflug der PVV nicht zufällig fahren – kurz vor der Präsidentschafts- im Herbst 2015: Damals schlug selbst wahl in Frankreich, bei der die Rechte beim östlichen Nachbarn Deutschland ebenfalls auftrumpfen könnte. die Stimmung in Sachen Flüchtlings- Einzige ernsthafte Konkurrentin ist aufnahme um. die regierende marktliberale Volks- Das wurde auch in den Niederlan- partij voor Vrijheid en Democratie den registriert, die eine vergleichbar

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201703_Blätter_Buch.indb 17 15.02.17 11:29 18 Kommentare und Berichte

überschwängliche Periode der „Will- „Die Niederlande wieder unabhängig. kommenskultur“ erlebt hatten. An- Also raus aus der EU“. Der Koran soll ders als in der Bundesrepublik verlief verboten, Moscheen sowie islamische die dortige Diskussion von Beginn an Schulen sollen geschlossen werden. äußerst hitzig. An zahlreichen Orten Dies ist allerdings nur die eine Sei- kam es zu teils gewalttätigen Protes- te. Seit ihrer Gründung setzt die Par- ten gegen Flüchtlingsheime, begleitet tei neben dem knallharten Kurs bei von Wilders’ Twitter-Parole „Grenzen Zuwanderung und Sicherheit auf ein dicht!“ und seinem Appell „Leistet Wi- „mitfühlendes“ soziales Profil. Im derstand“ – friedlich, wohlgemerkt. Wahlprogramm hieß es lange „Mehr Es ist durchaus bemerkenswert, dass Blau auf den Straßen“ und „Mehr Hän- sich dieser rechtspopulistische Auf- de am Bett“, sprich: mehr Polizei und schwung vor dem Hintergrund einer mehr Betreuung. Heute fordert Wilders, allgemeinen Konsolidierung vollzo- die Erhöhung des Renteneintrittsalters gen hat: Das scheidende VVD-PvdA- ebenso rückgängig zu machen wie Kabinett unter Mark Rutte ist das erste die Einschnitte der aktuellen Regie- seit 20 Jahren, das eine volle Legisla- rung im Pflege- und Seniorenbereich. turperiode überstanden hat. Auch die Außerdem will die PVV die Mieten wirtschaftlichen Kerndaten sind posi- senken und die obligatorische Eigen- tiv: Das jährliche Wachstum beträgt beteiligung an der Krankenversiche- seit 2015 konstant knapp zwei Prozent, rung abschaffen. die Arbeitslosigkeit sinkt und liegt ak- Dieser Kurs markiert zugleich Wil- tuell bei unter sechs Prozent. Das Kon- ders’ Abkehr vom neoliberalen Kurs sumentenvertrauen ist so hoch wie seit seiner früheren Partei VVD. 2004 hat- fast zehn Jahren nicht mehr. te er diese nach einem Konflikt über Um just diese Themen ging es bei die mögliche EU-Mitgliedschaft der der Wahl von 2012, die geprägt war Türkei verlassen. Die PVV war daher von Eurokrise und Schuldendiskurs. nie bloß die monothematische Anti-Is- Die noch um den Jahrtausendwechsel lam-Partei, als die sie international oft brennenden Fragen Immigration, In- wahrgenommen wird. Wenn PVV-An- tegration, Islam – die drei „Großen I“ – hänger über die Gründe ihrer Wahl- waren vor fünf Jahren in den Hinter- entscheidung sprechen, nennen sie in grund gerückt. Fälschlicherweise der Regel zwei ausschlaggebende The- glaubten damals viele an eine Entzau- men: einerseits Identität und Zuwan- berung der Rechtspopulisten. Aus heu- derung sowie andererseits Soziales. tiger Sicht mutet diese Fehleinschät- zung geradezu naiv an. Ihre Schwäche, das hat die zurückliegende Legislatur- Schwierige Regierungsbildung periode deutlich gezeigt, war nur vorü- bergehend. Ob die Partei mit dieser Agenda nun Während es die PVV im Jahr 2012 tatsächlich die Wahlen gewinnen nicht vermochte, thematisch an den kann, hängt vor allem von einer Frage damaligen Diskurs anzudocken, spielt ab: Werden jene, die in Umfragen Sym- ihr der heutige in die Karten. Es hat ihr pathie für die PVV erkennen lassen, bislang nicht einmal zum Nachteil ge- auch in der Wahlkabine daran festhal- reicht, dass ihr Wahlprogramm „auf ten? Schon oft hat die Partei schlech- eine Din-A4-Seite passt“, wie man stolz ter abgeschnitten als erwartet, weil vermeldet. „Die Niederlande wieder potentielle Anhänger sich im letzten unser“ lautet der Titel, und die Agen- Moment umbesannen und lieber eine da umfasst Punkte wie „Null weitere traditionelle Partei wählten. Doch es Asylsuchende und keine Immigranten ist durchaus wahrscheinlich, dass die mehr aus islamischen Ländern“ oder aktuelle populistische Erfolgswelle die

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Diskrepanz zwischen Umfragen und weniger als 18 Fraktionen, darunter Urne diesmal verkleinern, wenn nicht elf Parteien, vier Einmann- und zwei gar aufheben wird. Zweimannfraktionen. Dass die schei- Daher rückt eine weitere Frage in dende Koalition aus VVD und PvdA den Fokus: Wie könnte die PVV von 2012 erstaunlich schnell geschmiedet der Wahlsiegerin zur Regierungspar- wurde, lag denn auch keineswegs an tei werden? Oder besser gefragt: Ist inhaltlicher Nähe, sondern an der Ein- das überhaupt möglich? Geert Wilders sicht, dass es selbst rechnerisch kaum lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, Alternativen gab. dass er Premierminister werden will. Dann, so tönte er Ende 2016 in einem Interview mit der Boulevardzeitung Neubelebung der Konsenskultur ? „Telegraaf“, werde er „klar Schiff ma- chen“: „Dass wir wieder Herr im eige- In der aktuellen Gemengelage be- nen Land werden und dem Tsunami an deutet das: Um eine Regierung ohne Ausländern, die hier nicht hingehören, die PVV bilden zu können, ist eine ur- ein Ende bereiten.“1 niederländische Qualität gefragt – der Doch just wegen solcher Parolen politische Kompromiss. Die Parteien hatten alle relevanten Parteien bereits müssen quasi zu einer besonderen lange vor der Wahl eine Koalition mit Form des „Polderns“ finden, jener so der PVV ausgeschlossen. Das erinnert charakteristischen Konsenskultur des ein wenig an den belgischen cordon sa- niederländischen politischen Systems. nitaire der 1990er und Nuller Jahre, als „Poldern“ bezeichnet eigentlich einen alle Parteien übereinkamen, nicht mit Konsens, den die niederländischen Ge- dem rechtsextremen Vlaams Belang werkschaften und Arbeitnehmer wäh- zu koalieren. Zuletzt schloss sich dem rend der Rezession von 1982 schlossen. auch der zunächst zögerliche Premier Er ließ sich auf eine einfache Formel Mark Rutte an, der erneut Spitzenkan- bringen: Lohnzurückhaltung gegen didat der VVD ist. Sein Abwarten war Arbeitsplätze. Aber auch jenseits von dem rechten VVD-Flügel geschuldet, Arbeitskämpfen und sozialer Frage be- der durchaus eine inhaltliche Nähe stimmen Pragmatismus und Ausgleich zur PVV aufweist, entsprechende For- traditionell das politische Klima des derungen allerdings rhetorisch anders Landes. verpackt. Jedoch war Rutte noch das Genau diese Konsensdemokratie jähe Ende seiner vorigen Amtsperiode freilich wird seit nunmehr 15 Jahren 2012 in prägender Erinnerung: Damals heftig attackiert. Schon Fortuyn zog stürzte seine Minderheitsregierung, gegen die als „Elite“ verschrienen Ver- als Wilders ihr die notwendige Unter- treter des politischen Establishments stützung im Parlament entzog. zu Felde. Er veröffentlichte einst ein Umgekehrt gilt: Eine Regierung anklagendes Buch über den „Scher- ohne die Rechtspopulisten ist wahr- benhaufen“ der sozialliberalen Perio- scheinlich, würde aber wohl mindes- de von 1994 bis 2002, die er als Politi- tens drei Partner benötigen. Das liegt ker auf dem Müllhaufen der Geschich- an der sprichwörtlichen Zerklüftung te entsorgen wollte. der Parteienlandschaft in den Nieder- Auch Wilders inszeniert sich seit sei- landen, wo es keine Fünfprozenthür- nem Abschied von der VVD als Re- de gibt, sondern nur eine rechnerische bell und Anwalt der kleinen Leute von 0,67 Prozent. Folglich besteht die gegen die vermeintliche Elite in Den Tweede Kamer gegenwärtig aus nicht Haag. Für ihn bildet Poldern den Inbe- griff fauler Kompromisse und Hinter- 1 Vgl. „Hoe Wilders het wil“, in: „De Telegraaf“, zimmerdeals, es gilt ihm als ein Mit- 13.12.2016. tel zum Machterhalt einer politischen

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Kaste, von der er sich ganz demonstra- die Lupe nehmen. Weil Öztürk und tiv distanziert. Verkörpert wird diese Kuzu das ablehnten, kam es zum von niemandem mehr als von Premier- Bruch. minister Mark Rutte, der sich erst von Internationale Medien präsentieren der PVV zur Macht verhelfen ließ und DENK hingegen meist als ein attrakti- danach mit den Sozialdemokraten „in ves Projekt, dem sie gerne die Bezeich- See stach“, wie man in den Niederlan- nung „Migrantenpartei“ anhängen. den sagt. Tatsächlich wirkt die selbst erklärte „politische Bewegung“ wie ein Gegen- pol zur PVV. Schließlich bekennt sie Ethnisierung des Wahlverhaltens sich explizit zu Emanzipation und Di- versität in Abgrenzung zu „Rechtsruck Die PVV ist allerdings nicht die einzi- und Verhärtung der Gesellschaft“. Die ge Partei, die den etablierten Kräften betont anti-rassistische Agenda – bis den Kampf angesagt hat. Dazu kom- hin zur Umbenennung von Straßen, men zahlreiche neugegründete Par- die an Kolonialismus und Sklaverei er- teien, die oft rhetorisch einen Graben innern – spricht auch Anhänger linker oder eine Kluft zwischen „Den Haag“ Parteien an. und „den Bürgern” betonen. Beson- Auf der anderen Seite fallen insbe- ders deutlich wird dies bei „Forum sondere die beiden Schlüsselfiguren voor Democratie“ (FvD) und „Geen Öztürk und Kuzu immer wieder durch Peil“, die aus dem Referendum über ihre latente AKP-Nähe auf. Auch den den EU-Ukraine-Vertrag im April 2016 Genozid an den Armeniern erkennt hervorgingen. Auch Jan Roos, der Spit- DENK nicht an. Von Kuzu gibt es zu- zenkandidat der neuen rechten Partei dem Videoaufnahmen von einer Rede, Voor Nederland (VNL), gehörte zu den die er 2015 auf einer Demonstration in Initiatoren der Volksbefragung. Die Rotterdam hielt, bei der auch Symbole Debatte um das Assoziierungsabkom- der türkischen faschistischen „Grauen men lieferte der Ablehnung, die weite Wölfe“ gezeigt wurden. Der linke nie- Teile der Bevölkerung gegenüber „Den derländische Publizist Mehmet Kir- Haag“ hegen, neuen Nährstoff. Denn maci wirft den DENK-Gründern da- obwohl der Vertrag mehrheitlich abge- her vor, „bei jeder Kritik an Ankara die lehnt wurde – wenn auch bei niedriger höchstmöglichen Verteidigungsmau- Beteiligung –, setzte Rutte alles daran, ern hochzuziehen“. ihn dennoch zu ratifizieren. Nach mo- Sollte DENK die von ihr angestreb- natelangen Verhandlungen mit seinen ten fünf Parlamentssitze gewinnen, EU-Amtskollegen gelang ihm dies dürfte das vor allem zu Lasten der So- schließlich auch, was den allgemeinen zialdemokraten gehen, die bislang Unmut noch verstärkte. das Gros türkischer und muslimischer Zur neuen Unübersichtlichkeit in Stimmen auf sich vereinten. Ein gutes den Niederlanden passt eine weitere, Abschneiden bei der Parlamentswahl noch junge Entwicklung: die Ethnisie- dürfte der Partei Auftrieb geben – und rung des Wahlverhaltens. Sie zeigt sich DENK-Nachahmer in anderen euro- an der ebenfalls neu formierten Partei päischen Ländern finden. DENK. Gegründet wurde sie 2015 von Doch fest steht: Schon allein wegen Selçuk Öztürk und Tunahan Kuzu, die ihrer geringen Größe wird DENK nicht ein Jahr zuvor aus der PvdA-Frakti- den Gegenpol zu den Rechtspopulis- on geworfen wurden. Die Sozialdemo- ten bilden. Diese Aufgabe bleibt den kraten wollten die Aktivitäten konser- etablierteren Parteien vorbehalten. Sie vativer türkischer Organisationen wie werden spätestens ab dem 15. März die Milli Görus und der staatlichen türki- Stabilität der niederländischen Demo- schen Religionsbehörde Diyanet unter kratie unter Beweis stellen müssen.

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Silviu Mihai Rumänien: Aufstand wider die Korruption

Rumänien erlebt derzeit die größten wirft die Staatsanwaltschaft Anstif- Proteste seit der Wende von 1989. „In tung zum Amtsmissbrauch vor. Laut den Knast, nicht an die Macht!“, tönen Anklageschrift sollen mehrere Ange- seit Wochen die Sprechchöre durch die stellte des Jugendamts in Dragneas Piata Victoriei. Der überdimensionier- Heimatstadt Alexandria jahrelang gar te Platz vor dem Regierungssitz ist fast nicht dort, sondern im örtlichen Partei- jeden Tag gefüllt mit Menschen und büro gearbeitet haben. Zwischen 2006 Fahnen. Der Unmut entzündete sich und 2013 habe der Politiker als Kreis- an einer im Januar erlassenen Eilver- ratsvorsitzender das ihm unterstellte ordnung der Regierung aus Sozialde- Jugendamt gedrängt, für fiktives Per- mokraten (PSD) und Sozialliberalen sonal aus der öffentlichen Kasse zu (ALDE). Diese hätte bestimmte Formen zahlen. So ist davon auszugehen, dass von Amtsmissbrauch oder Interessen- die Richter noch in diesem Jahr eine konflikt entkriminalisiert. Das wäre Haftstrafe verhängen werden, denn vor allem der Führungsriege der PSD Dragnea ist bereits wegen Wahlfäl- zugute gekommen. Inzwischen hat schung vorbestraft und befindet sich in Ministerpräsident Sorin Grindeanu der Bewährungszeit. die Verordnung zurückgezogen, weil Doch nicht nur Dragnea steht unter er „Rumänien nicht spalten“ wolle; der Beschuss. Dazu kommen zahlreiche Justizminister reichte seinen Rücktritt amtierende oder frühere Minister, Ab- ein. Doch ist die Spaltung des Landes geordnete und Bürgermeister, die ihre längst Realität: Für die einen dient die Verwandten und Geschäftspartner be- Korruption dem alltäglichen Überle- günstigt, Luxuswagen aus EU-Geldern ben, die anderen sehen darin ein Hin- gekauft oder Aufträge überteuert ver- dernis auf dem Weg zu einem moder- geben haben. nen, europäischen Land. Und so gehen die Proteste wei- ter. Viele Demonstranten befürchten, Erfolgreiche Ermittlungen die Regierung werde zu einem späte- ren Zeitpunkt erneut versuchen, sich Daher kritisiert Chef-Staatsanwäl- durch weitere Gesetzesnovellen selbst tin Laura Codruta Kövesi – Leiterin zu retten. Längst fordern sie den Rück- der gefürchteten Sonderabteilung für tritt der Regierung: Man könne den die Bekämpfung der großen Korrup- Dinosauriern gerne beim Umzug hel- tion (DNA) – die Regierungspläne aufs fen, heißt es in einem Sprechchor. Die Schärfste: „Diese Verordnung wäre Demonstranten halten ihre politische eine Katastrophe gewesen. Wir hätten Klasse nicht mehr für zeitgemäß. über 2500 Akten einfach in den Müll Das gilt insbesondere für die Sozial- werfen, und auf rund eine Milliarde demokraten. Sie wollten mit der um- Euro Schadenersatz verzichten müs- strittenen Eilverordnung wohl nicht zu- sen“. Auch Grindeanus Rückzieher be- letzt ihren eigenen Vorsitzenden schüt- ruhigt sie nicht: „Selbst jetzt kann das zen: Dem PSD-Chef Liviu Dragnea Parlament ja jederzeit diese oder andere

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Lockerungen des Strafgesetzbuchs rungen in Handschellen sind zu einem verabschieden. Jeden Tag müssen wir Spektakel geworden, während die Er- mit dieser Angst leben.“ Die entschlos- mittlungsakten weitgehend auf dem sene Staatsanwältin gilt unumstritten Abhören zahlreicher Telefongespräche als die mächtigste Frau Rumäniens, für zwischen den wichtigsten Entschei- die Demonstranten ist sie eine wahre dern im Land basieren. All dies sei nö- Heldin. „Dragnea, Laura wartet auf tig, glaubt Kövesi. „Wie könnten wir dich“ gehört mittlerweile zu den Lieb- denn ohne Untersuchungshaft verhin- lingsrufen der Straße. dern, dass die Verdächtigen ihren poli- Viele Rumänen sind beeindruckt tischen Einfluss ausnutzen, um Zeugen von den Ergebnissen, die die DNA in zum Schweigen zu bringen oder um den letzten Jahren erzielt hat. Gegen Beweise zu vernichten?“ Außerdem dutzende Politiker und Beamte, dar- könne die DNA nur dann ihrer Aufga- unter auch zwei frühere Ministerpräsi- be gerecht werden, wenn die Gesell- denten, hat die Behörde Anklage erho- schaft sie unterstütze, was wiederum ben. In den meisten Fällen bestätigten Vertrauen und eine geschickte Kom- die Richter die Anschuldigungen und munikationsstrategie voraussetze. es kam zu rechtskräftigen Verurtei- lungen. Dabei spielte die Ahndung des Amtsmissbrauchs eine wichtige Rolle, Druckmittel Schengen weil dieser Tatbestand sich oft einfa- cher beweisen lässt als etwa Bestech- Auch die EU verfolgt das Geschehen in lichkeit oder Betrug. So können die Rumänien aufmerksam. Kommissions- Staatsanwälte bereits tätig werden, präsident Jean-Claude Juncker zeigte wenn ein Bürgermeister überteuerte sich „sehr besorgt“ über das Vorgehen Parkbänke für 5000 Euro das Stück ge- der Regierung. Ähnlich äußerten sich kauft hat und müssen nicht erst zeigen, die Regierungen der großen EU-Län- dass dabei Schmiergelder gezahlt wor- der, darunter auch die deutsche. Der den sind. Kampf gegen die Korruption müsse Kritiker weisen jedoch darauf hin, weiter gehen, so der Tenor. Bei den das Strafmaß von bis zu sieben Jah- Demonstranten stärkt das den Ein- ren Haft sei „drakonisch“ – und jeden- druck, auf der „guten, pro-europäi- falls viel höher als in den meisten an- schen Seite der Geschichte“ zu stehen, deren EU-Ländern. Amtsmissbrauch wie Kommentatoren immer wieder wird etwa in Deutschland seit den betonen. Das erklärt auch, warum auf 1990er Jahren nicht mehr als solcher dem Siegesplatz immer wieder nicht bestraft. Auch wird der DNA oft vorge- nur rumänische, sondern auch deut- worfen, politisch motivierte Ermittlun- sche, französische und vor allem EU- gen gegen sozialdemokratische Poli- Fahnen zu sehen sind. tiker aufzunehmen, und Vertreter des Seit Rumänien 2007 der EU beigetre- bürgerlichen Lagers zu schonen. In der ten ist, kontrolliert Brüssel regelmäßig Tat gerieten PSD-Mitglieder häufiger die Fortschritte bei der Korruptions- als ihre Gegner ins Visier der Staatsan- bekämpfung – und verknüpft dies seit wälte, selbst wenn dieser Unterschied Jahren mit dem Schengenbeitritt. Zwar in den letzten Jahren immer geringer erfüllt das Land seit langem alle Be- wurde. Zudem sind auch manche Me- dingungen, um Mitglied der passkon- thoden der Staatsanwaltschaft umstrit- trollfreien Zone zu sein. Und rumäni- ten: Oft wird gegen hochrangige Politi- schen Staatsbürgern darf die Einreise ker eine monatelange Untersuchungs- oder der Aufenthalt in den Schengen- haft angeordnet. Die medienwirksa- ländern unter keinen Umständen ver- men Festnahmen durch Spezialeinhei- weigert werden. Aber die einfache Tat- ten in voller Montur und die Vorfüh- sache, dass sie trotzdem an der Grenze

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einen Ausweis vorzeigen müssen, hin- großbürgerlich bis staatssozialistisch terlässt bei vielen den Eindruck, als – missbrauchten ihre Ämter systema- „Europäer zweiter Klasse“ behandelt tisch zur Selbstbereicherung. Korrup- zu werden. Daher funktioniert der aus- tion hat also nicht nur eine sehr lange stehende Schengenbeitritt als effizi- Tradition, sie bildet auch ein wichtiges entes Mittel, um den Druck auf die ru- Bindeglied der balkanischen Gesell- mänische Politik zu erhöhen. „Tschüss schaften, wie der Bukarester Politologe Schengen, dafür sind wir zu korrupt“, Daniel Barbu analysiert. Politiker und stand auf einigen Transparenten der Beamte erkaufen ihre Machtpositio- Demonstranten. nen und nutzen sie anschließend, um Staatspräsident Klaus Johannis, ihre weiten Klientelnetzwerke zu be- der dem bürgerlichen Lager angehört dienen. Unter dem Strich kommt es so und sich als Garant der Korruptions- zum Trickle-Down-Effekt, zum Durch- bekämpfung präsentiert, versteht die sickern der Gelder nach unten und zu Gedankenwelt der Demonstranten einer Art primitiver Umverteilung. Von nur allzu gut. Es handelt sich schließ- der strukturellen Korruption profitiert lich im Großen und Ganzen um seine daher direkt oder indirekt die überwie- Anhänger. Vor dem Parlament sprach gende Mehrheit der Bevölkerung: die er kürzlich über die Pflicht der Regie- schlecht bezahlte Ärztin, die ihr Ein- rungsparteien, eine Lösung für die kommen mit den „Geschenkumschlä- politische Krise zu finden, die sie selbst gen“ der Patienten aufrundet, oder der ausgelöst hätten: „Wollen wir eine star- Bauarbeiter, der für die Firma des Bür- ke, ernstzunehmende europäische germeisters die Dorfstraße repariert. Nation sein, oder eine, die keinen Re- Spätestens seit dem EU-Beitritt ist spekt verdient?“, fragte der Staats- jedoch den meisten Beobachtern klar, chef. Die Parlamentarier der PSD ver- dass dieses altbewährte, fast feuda- ließen den Saal, als Johannis erklärte, le System keine Zukunft mehr hat: Es für Neuwahlen sei es im Moment noch behindert die Modernisierung des zu früh, der Rücktritt des Justizminis- Landes und seine Integration in die ters sei allerdings zu wenig gewesen. globalisierte Weltwirtschaft. Weni- Denn damit forderte der Präsident im- ger klar ist allerdings, wie die Gesell- plizit die Bildung einer neuen Regie- schaft umgekrempelt werden soll, oh- rung und stellte sich deutlich auf die ne eine massive soziale und politische Seite der Demonstranten. Diese prä- Krise zu verursachen. Denn wird der sidiale Inszenierung entbehrt jedoch Dorfbürgermeister, der den kommu- nicht einer gewissen Ironie: Johannis nalen Haushalt als Selbstbedienungs- selbst ist in eine Immobilienaffäre um laden ansieht und seine eigene Firma ein gefälschtes Testament verwickelt, mit dem Straßenbau beauftragt, end- genießt während seiner Amtszeit aber lich festgenommen und verurteilt, so absolute Immunität. verlieren die Bauarbeiter zunächst ihre Arbeitsplätze und es werden erst ein- mal keine Straßen mehr gebaut. Korruption als Bindeglied Die Standardantwort des bürger- lichen Lagers in Bukarest, und auch Tatsächlich ist Korruption in Rumänien der meisten internationalen Medien, alles andere als ein neues Phänomen ist einfach: Für sie geht es um ein und begleitet das Land spätestens seit längst fälliges Aufräumen. Das biete der Wende von 1989. Die meisten His- die Chance für eine grundlegende Re- toriker kommen aber überein, dass sei- form der politischen Klasse und der Bü- ne Ursprünge weiter zurückreichen. rokratie, ja für eine moralische Reform Weite Teile der politischen und büro- der ganzen Gesellschaft. Diese müs- kratischen Eliten aller Prägung – von se ihre europäische Integration vertie-

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201703_Blätter_Buch.indb 23 15.02.17 11:29 24 Kommentare und Berichte

fen, um dem Westen nicht nur formell, tens multinationale Unternehmen. sondern auch kulturell und in der All- Sie sind in Rumänien aktiv, aber we- tagsrealität anzugehören. Sie begrei- niger in die Kreisläufe der Schmier- fen Korruption als „Mentalitätsprob- gelder verwickelt, weil sie auf moder- lem“, das aus dem „osmanischen Ein- nes Lobbying setzen. Zugute kommt fluss“ oder der Zugehörigkeit zum Bal- die Korruptionsbekämpfung auch der kan resultiere – und das mit ethischen überwiegend jungen, urbanen Mit- und juristischen Mitteln bekämpft telschicht, die oft für diese Konzerne werden müsse. Dabei verkennt dieser arbeitet und „die rumänischen Ver- Mainstreamdiskurs die sozialen und hältnisse“ als massives Hindernis für wirtschaftlichen Funktionen der sys- die Entwicklung des Landes betrach- tematischen Korruption. Die DNA er- tet. Genau diese in der Regel gut ge- wischte beispielsweise vor zwei Jahren bildete und dynamische Schicht stell- den Bürgermeister von Baia Mare auf te in den letzten Wochen den größten frischer Tat, als er Schmiergelder ein- Teil der Demonstranten, die in Buka- steckte, doch spielte dies für die Bürger rest für den Rücktritt der sozialdemo- offensichtlich keine Rolle: Die nächste kratischen Regierung protestierten. Wahl gewann der Kommunalpolitiker Sie wollen „ein Land wie im Westen“ mit großer Mehrheit – aus der Untersu- und definieren sich in erster Linie als chungshaft heraus. Bevor man aber die Europäer. Wenn es möglich wäre, wür- Menschen in Baia Mare für irrational den sie die DNA wählen, wie es häufig erklärt, sollte man einige angenehme auf den Transparenten heißt. Sie has- Gewissheiten hinterfragen. sen die PSD und alles, wofür sie steht: die Seilschaften in der Kommunalpoli- tik, die bornierten Verlierer der wirt- Die Gewinner der Transition schaftlichen Transformation, den Muff der elenden Dörfer und verschlafenen So gilt es zunächst, die Rolle der Kor- Kleinstädte, die sich seit der Wende ruption als primitiven Mechanismus nie erholt haben. Sie verdienen schon der Umverteilung und Kapitalbildung heute deutlich mehr als ihre Eltern, die zu erkennen. Daraus folgt, dass eine eine Karriere vor der Wende gemacht radikale Korruptionsbekämpfung nur haben und sich jetzt im fortgeschritte- dann erstrebenswert ist, wenn die Ge- nen Alter über die von den Sozialde- sellschaft bereits alternative Mecha- mokraten durchgesetzten Rentenerhö- nismen entwickelt hat, um diese Funk- hungen freuen. tionen besser und effizienter zu erfül- Der Konflikt zwischen den Sozial- len. Das würde bedeuten: Die rumä- demokraten und ihren Gegnern ist nische Wirtschaft müsste den meisten daher auch einer zwischen Verlierern Menschen einen Arbeitsplatz anbieten und Gewinnern der Transformation. und rumänische Unternehmer müssten Wie die tiefe Spaltung der Gesellschaft mit dem westlichen Kapital konkurrie- überwunden oder zumindest ent- ren können. Die Leistungen des Sozial- schärft werden kann, bleibt auf unab- staats müssten mehr als nur rudimentär sehbare Zeit die drängendste Frage in sein. Solange das alles aber nicht ge- Rumänien. geben ist, wird eine systematische Kor- ruptionsbekämpfung nur zu noch grö- ßeren Ungerechtigkeiten führen, als sie in der heutigen rumänischen Gesell- schaft ohnehin schon herrschen. Momentan profitieren von den groß- angelegten Aufräumaktionen der DNA vor allem exportorientierte und meis-

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Andreas Knobloch Lateinamerika: Chinas neuer Hinterhof?

Der neue US-Präsident Donald Trump partner der USA. Das Land wird unter setzt derzeit alles daran, das von sei- der neuen America-first-Politik wahr- nem Amtsvorgänger Barack Obama scheinlich mehr leiden als jedes ande- mühsam erneuerte Verhältnis zu den re Land der Welt. lateinamerikanischen Ländern mit Bereits in seiner ersten Woche im dem Holzhammer zu zertrümmern. Weißen Haus verstörte Trump die Re- Das zeigt sich nicht nur am geplanten gierung in Mexiko-Stadt nachhaltig. Bau einer Grenzmauer zum südlichen Seinem Dekret, das den Mauerbau an Nachbarn Mexiko, sondern auch an der US-amerikanisch-mexikanischen der Aufkündigung des kurz vor dem Grenze ermöglicht, schickte er eine Abschluss stehenden Transpazifischen Twitter-Botschaft hinterher: „Wenn Freihandelsabkommens (TPP). Obama Mexiko nicht bereit ist, für diese so not- hatte den Freihandelspakt entworfen, wendige Mauer zu bezahlen, dann wä- um die Macht der USA in der Pazifik- re es besser, das anstehende Treffen region zu stärken und Chinas Einfluss abzusagen.“ Damit sorgte er für ernste einzudämmen. Neben Japan, Austra- diplomatische Verstimmungen – Mexi- lien und Vietnam sollten diesem auch kos Präsident Enrique Peña Nieto sag- die lateinamerikanischen Staaten te das für Ende Januar geplante Treffen Chile, Mexiko und Peru angehören – mit Trump umgehend ab. China hingegen wurde explizit ausge- Dessen ungeachtet brachte nur we- schlossen.1 Mit dessen Scheitern könn- nig später ein Sprecher Trumps erneut te Chinas Einfluss nun wieder steigen – die Idee einer Importsteuer auf Waren nicht nur in der Pazifikregion, sondern aus Mexiko in Höhe von 20 Prozent ins auch in Lateinamerika. Damit aber Spiel. Auf diese Weise solle Mexiko würden die Vereinigten Staaten ausge- den Mauerbau bezahlen, wie es Trump rechnet in einer Region an Macht ver- immer wieder gefordert hatte. Dessen lieren, die der damalige US-Präsident Kosten werden inzwischen auf 20 Mrd. James Monroe vor knapp einhundert US-Dollar veranschlagt. Zahlen wür- Jahren noch unmissverständlich als den in diesem Fall aber wohl eher die genuin US-amerikanischen Einfluss- US-Verbraucher – über höhere Preise bereich und Hinterhof deklarierte, aus für mexikanische Importe, wie Ökono- dem sich fremde Mächte herauszuhal- men vorgerechnet haben. ten hätten (Monroe-Doktrin). Doch damit nicht genug: Auch das nordamerikanische Freihandelsab- kommen Nafta steht nach Trumps Mexiko soll zahlen Amtsantritt zur Disposition. Bereits im Wahlkampf hatte Trump Nafta im- Exemplarisch für Trumps rabiates Vor- mer wieder in Frage gestellt und es den gehen sind seine Drohungen gegen- „schlechtesten Handelspakt“ genannt, über Mexiko – dem direkten Nachbarn „der jemals unterzeichnet wurde“. und einem der wichtigsten Handels- Nach den Vorstellungen des US-Prä- sidenten soll das Abkommen mit den 1 Vgl. Siegfried Knittel, Ein Kontinent in Un- ruhe: Asien vor Trump, in: „Blätter“, 2/2017, bisherigen Partnern Kanada und Me- S. 25-28. xiko neu verhandelt werden. Was ge-

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201703_Blätter_Buch.indb 25 15.02.17 11:29 26 Kommentare und Berichte

nau Trump damit erreichen will, außer zwei Millionen Jobs verschwunden das Handelsbilanzdefizit mit Mexiko – weil die USA ihre Landwirtschaft in Höhe von rund 58 Mrd. US-Dollar zu hochgradig subventionieren. Profitiert verringern, ist allerdings unklar. hat lediglich eine kleine Elite, die sich Bei einigen US-Autokonzernen nie um die Ungerechtigkeit im Land zeigte Trumps Gepoltere bereits Wir- geschert hat. kung: Der US-Autobauer Ford kündig- te noch vor Trumps Amtseinführung an, auf geplante Investitionen in Mexi- Die Neujustierung der Beziehungen ko in Höhe von 1,6 Mrd. US-Dollar zu verzichten und stattdessen 700 Mio. Immer wieder hat Trump erkennen US-Dollar in die Produktion von Elek- lassen, dass seine Vision von Latein- troautos in Flat Rock, Michigan, zu amerika „in Mexiko anfängt und auf- stecken. In Mexiko bedauerte die Re- hört“, wie Mauricio Santoro, Professor gierung den Rückzug des Unterneh- für Internationale Beziehungen an der mens. „Die in Mexiko geschaffenen Staatsuniversität von Rio de Janeiro, Arbeitsplätze haben dazu beigetragen, betont. Doch mit seinem drastischen Arbeitsplätze in der Fertigung in den Vorgehen gegenüber Mexiko bringt USA zu erhalten, die ansonsten ange- der neue US-Präsident auch den Rest sichts der Wettbewerber aus Asien ver- Lateinamerikas gegen sich auf. schwunden wären“, hieß es in einer So zeigten sich bereits Perus Präsi- Stellungnahme des mexikanischen dent Pedro Pablo Kuczynski und Ko- Wirtschaftsministeriums. lumbiens Staatschef Juan Manuel San- Trump inszeniert sich dessen unge- tos solidarisch mit Mexiko, ihrem Part- achtet als Verteidiger der Interessen ner in der Pazifik-Allianz, einer Frei- US-amerikanischer Arbeiter. In sei- handelszone, der als viertes Mitglied ner Erzählung haben diese durch Naf- Chile angehört. Selbst Venezuelas ta massiv verloren; Mexikos Wirtschaft Regierungschef Nicolás Maduro, der dagegen habe profitiert. Man kann na- bisher nicht gerade als großer Mexi- türlich darüber streiten, ob der freie ko-Freund aufgefallen war, meldete Welthandel seine Heilsversprechen sich zu Wort: „Wer sich mit Mexiko an- eingelöst hat; dass die USA aber der legt, legt sich mit Venezuela an.“ Und große Verlierer der Globalisierung sei- Luis Almagro, der Generalsekretär der en, diese Vorstellung ist abwegig. Organisation Amerikanischer Staa- Aber ist Mexiko umgekehrt der gro- ten, gab im Gespräch mit der spani- ße Gewinner von Nafta? Für den Groß- schen Tageszeitung „El País“ einer in teil der mexikanischen Bevölkerung Lateinamerika weit verbreiteten An- wäre das neu. Zwar hat Nafta viele In- sicht Ausdruck, als er sagte: „Die Mau- vestitionen ins Land gebracht, im Gro- er verläuft nicht zwischen Mexiko und ßen und Ganzen ist das Abkommen den USA, sondern zwischen den USA aber alles andere als eine Erfolgsge- und Lateinamerika.“ schichte. Mehr als die Hälfte der me- Die Mauer sei Ausdruck einer men- xikanischen Bevölkerung lebt weiter- talen und emotionalen Isolierung, so hin unterhalb der Armutsgrenze, die Rubén Amón in seiner Kolumne in „El Löhne stagnieren und der gewaltige País“. Als Zeichen der Abschottung Unterschied zwischen Arm und Reich sende sie zudem eine Botschaft von im Land ist seit der Nafta-Einführung Protektionismus und Rassismus – be- 1994 noch gewachsen. Vor allem der reits im Wahlkampf hatte Trump me- Billiglohnsektor ist expandiert, es be- xikanische Einwanderer pauschal als steht weiterhin ein riesiger informel- Verbrecher und Vergewaltiger verun- ler Sektor und in der mexikanischen glimpft und gedroht, lateinamerika- Landwirtschaft sind sogar mehr als nische Migranten ohne gültige Auf-

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enthaltspapiere millionenfach abzu- Peking wird jetzt nicht nur in der Pa- schieben. zifik-Region seinen eigenen Freihan- Längst ist dabei deutlich geworden: delspakt, die Regional Comprehensive Trump folgt mit seiner Politik gegen- Economic Partnership (RCEP), voran- über Lateinamerika keinem durch- treiben, dem sechzehn Staaten ange- dachten außen- oder wirtschaftspoliti- hören, darunter China und Japan, aber schen Plan, sondern will vor allem Pro- nicht die USA. Das Land dürfte auch bleme vor der eigenen Haustür lösen. die sich aus dem Rückzug der USA er- Dazu gehört die Bekämpfung der ver- gebenden größeren Spielräume nut- meintlich hohen illegalen Einwande- zen, um seinen Einfluss in Lateiname- rung ebenso wie die Grenzsicherung rika weiter auszubauen. Lateinameri- gegen den Drogenhandel. ka erscheint da folgerichtig als neuer Angesichts dessen wird auch Me- Markt für Chinas exportorientiertes xiko sein Verhältnis zum nördlichen Entwicklungsmodell.2 Nachbarn neu justieren und sich nach Bereits jetzt investieren chinesi- neuen Partnern umsehen müssen. Im sche Staatskonzerne kräftig auf dem Fokus stehen dabei zunächst Latein- Kontinent: So stieg China Anfang De- amerika und die Karibik. Auch mit der zember 2016 erstmals in den mexika- EU wird Mexiko eine Erneuerung der nischen Erdölmarkt ein. Drei Jahre Handelsbeziehungen – einschließlich nach der umstrittenen Energiereform eines Freihandelsabkommens – an- der mexikanischen Regierung erstei- streben. Vor allem aber im wirtschaft- gerte der chinesische Staatskonzern lichen Verhältnis zu Asien ergeben China National Offshore Oil Corpora- sich nach dem Scheitern von TPP neue tion (CNOOC) Förderlizenzen im Nor- Möglichkeiten. Selbst einen Nafta- den des Golfs von Mexiko – nur wenige Austritt schließt die mexikanische Re- Kilometer von der Seegrenze zwischen gierung nicht mehr aus. Mexiko und den USA entfernt. Das Mexiko-Engagement des chi- nesischen Staatskonzerns CNOOC China als der große Gewinner ist symptomatisch für Chinas Offensi- ve auf dem gesamten amerikanischen Der große Gewinner der jüngsten Ver- Kontinent. Erst Ende November hat- werfungen könnte China heißen. Denn te Xi Jinping Ecuador, Peru und Chi- während US-Präsident Donald Trump le besucht und dabei mehr als 40 bila- eine Grenzmauer am Rio Bravo errich- terale Kooperationsvereinbarungen in ten will, setzt Chinas Regierung ver- verschiedenen Bereichen abgeschlos- stärkt darauf, „Brücken“ nach Latein- sen. Es war bereits die dritte Latein- amerika zu bauen. amerika-Reise Xi Jinpings seit seinem Ironischerweise ist es nun die Re- Amtsantritt 2013. Im Anschluss an die gierung in Peking, die dabei die Flag- Visite verbreitete die chinesische Re- ge des Freihandels hochhält. So warnte gierung ein ambitioniertes Strategie- Chinas Präsident Xi Jinping Mitte Ja- papier, in dem „eine neue Ära“ der Be- nuar vor dem Weltwirtschaftsforum in ziehungen zwischen China und La- Davos in scharfen Worten vor globa- teinamerika umrissen wird. Das elf len Handelskriegen und Protektionis- Seiten lange Dokument, das weni- mus und skizzierte eine Führungsrol- ge Tage nach Trumps Wahlsieg von le für sein Land. „Es bringt nichts, die staatlichen chinesischen Medien ver- Globalisierung für die Probleme in der breitet wurde, enthält nicht viele De- Welt verantwortlich zu machen“, sagte tails, aber eine klare Botschaft: China Xi. Es sei unmöglich, „den Austausch von Kapital, Technologien, Gütern und 2 Vgl. dazu auch Ho-fung Hung, Chinas Glanz Arbeitern zu stoppen“. und Grenzen, in: „Blätter“, 7/2016, S. 49-60.

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wird sich verstärkt auf Lateinamerika werden – zumal einige Staaten der Re- konzentrieren und folgt dabei seinem gion (Mexiko, Brasilien, Argentinien) Plan, das 2008 begonnene stärkere En- unter ihren neoliberalen Regierungen gagement in der Hemisphäre weiter dazu tendieren, staatliche Rohstoff- auszubauen. konzerne zu privatisieren und damit Heute ist das asiatische Land laut wichtige Steuerungsinstrumente aus Interamerikanischer Entwicklungs- der Hand zu geben. bank (IDB) Lateinamerikas zweit- Doch Chinas wirtschaftliche Bezie- größter Handelspartner mit einem An- hungen zu Lateinamerika vertiefen teil von 13,7 Prozent am Außenhandel sich in einem Maße, wie sie sich weg- der Region im vergangenen Jahr. Al- bewegen vom Rohstoffimport und dem lein der Handel mit den vier Staaten Export von Fertiggütern. Tatsächlich Brasilien, Chile, Kolumbien und Peru investiert China beispielsweise ver- machte dabei mehr als die Hälfte des stärkt in Brasiliens Energie- und Infra- Handelsvolumens von insgesamt 263 struktursektor; beide Staaten verhan- Mrd. US-Dollar aus. Dieses hat sich in deln zudem einen bilateralen Investi- den vergangenen 15 Jahren verzwei- tionsfonds, zu dem China 15 Mrd. US- undzwanzigfacht. In den kommenden Dollar beisteuert. Chinesische Unter- 15 Jahren könnte China laut „China nehmen sind am geplanten Bau eines Policy Review“ dann die USA als wich- interozeanischen Kanals quer durch tigsten Wirtschaftspartner Lateiname- Nicaragua federführend, in Kuba wird rikas ablösen. „Niemand hat Latein- der Hafen von Santiago de Cuba mit amerika bisher ein Angebot wie dieses chinesischen Geldern ausgebaut, Chi- gemacht“, so der spanische Soziologe na investiert in eine Transamazonas- José Egido gegenüber der chinesi- Eisenbahnstrecke von Brasilien nach schen Nachrichtenagentur Xinhua. Peru sowie eine weitere durch die An- „Es handelt sich um die Grundsteinle- den von Argentinien nach Chile, um gung für eine großartige Entwicklung auf diese Weise Atlantik und Pazifik der Region, dank einer Kooperation, miteinander zu verbinden. bei der China eine Win-win-Beziehung Chinas Engagement auf dem Konti- entwirft, die den Kurs der wirtschaftli- nent wird langfristig geostrategische chen Entwicklung im verbleibenden Konsequenzen für die USA und Euro- 21. Jahrhundert verändern könnte.“ pa haben, die an wirtschaftlichem und politischem Einfluss in der Region ver- lieren werden. Das geoökonomische Asien-Pazifik: Das neue Zentrum? und geopolitische Zentrum der Welt verschiebt sich damit zunehmend vom Mit einer stärkeren Hinwendung Atlantik, wo sich in der Vergangenheit zu China könnte Lateinamerika so- die Beziehungen zwischen den Staa- gar endlich seine Rolle als primärer ten der westlichen Welt und die unglei- Rohstofflieferant überwinden, meint chen Nord-Süd-Beziehungen konzen- Egido. Doch das könnte sich als Trug- trierten, Richtung Asien-Pazifik. Chi- schluss erweisen. Bisher hat vor allem nas großes Interesse an Lateinamerika Chinas Nachfrage nach Rohstoffen ist deutlicher Ausdruck dessen. Ob da- und Agrargütern das gemeinsame raus wirklich eine Win-win-Situation Verhältnis bestimmt. Zugleich bedroht entsteht, muss sich allerdings erst noch die chinesische Konkurrenz die latein- erweisen – und auch, ob und inwiefern amerikanische Fertigwarenproduk- Chinas Vormarsch in Lateinamerika tion sowohl auf heimischen Märkten neue Konflikte mit den USA erzeugt. als auch auf dem Weltmarkt. Ganz so Fürs Erste aber scheinen die USA das konfliktfrei ist das Verhältnis also nicht Interesse an ihrem früheren „Hinter- und dürfte es über Nacht auch nicht hof“ verloren zu haben.

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Heiko Flottau Ägypten vor der Hungerrevolution?

Am 7. Januar dieses Jahres erschien darauf, im August 2013, in Kauf nahm, der ägyptische Staatspräsident Abdel als er den Rabaa-al-Adawiyya-Platz Fatah al-Sissi in der koptischen St.- im Stadtteil Nasr City und den Nahda- Markus-Kathedrale im Kairoer Stadt- Platz im Stadtteil Dokki von protestie- teil Abasseya nahe der Innenstadt. Es renden Anhängern der Muslimbruder- war ein denkwürdiges, aber nicht ganz schaft gewaltsam räumen ließ. ungewöhnliches Ereignis. Im Staats- Präsident Sissi ist auf jede Unterstüt- fernsehen sah man Sissi im herzlichen zung seiner Macht angewiesen. Denn Gespräch mit Tawardros II., dem seit seine Versprechen, die Sicherheit im November 2012 amtierenden kopti- Lande wiederherzustellen und vor al- schen Papst. Die koptischen Christen lem die taumelnde Wirtschaft wieder feierten an diesem 7. Januar ihr Weih- in Gang zu bringen, konnte er bisher nachtsfest. Und die anwesenden Gläu- nicht erfüllen. Über 700 Soldaten wur- bigen feierten zugleich den Besuch des den im Verlauf der letzten Jahre auf autoritär regierenden, muslimischen der Halbinsel Sinai getötet – von einem Generals und Staatsoberhauptes. Ableger des sogenannten Islamischen Der Präsident eines Landes, in dem Staates. Bei einem Anschlag auf eine der Islam Staatsreligion ist, zu Besuch Kirche in der Nähe der Markus-Ka- bei den Christen? Nichts Ungewöhnli- thedrale in Kairo kamen Mitte Dezem- ches in Ägypten, vor allem nichts Un- ber 2016 25 Menschen ums Leben, An- gewöhnliches im Ägypten des Gene- fang Dezember 2016 starben bei einem rals Sissi. Zwar leben Muslime und Anschlag auf einen Nachtklub in der Christen – die etwa zehn Prozent der Hauptstadt 16 Menschen. rund 83 Millionen Ägypter ausmachen – im Allgemeinen friedlich zusam- men. Aber das herzliche Tête-à-Tête Die Mittelschicht bröckelt zwischen Staatsoberhaupt und kop- tischem Papst hat auch und vor allem Zur Unsicherheit auf den Straßen eine machtpolitische Bedeutung. Denn kommt für die Mehrheit der Menschen die koptischen Christen gehören zu der Kampf ums tägliche wirtschaftli- den zuverlässigen Unterstützern des che Überleben. Vor einem Jahr bekam muslimischen Herrschers. Der näm- man für einen Euro zehn ägyptische lich hat im Juli 2013 in einem von der Pfund, jetzt hat das Pfund die Hälfte Bevölkerung überwiegend begrüß- seines Wertes verloren, der Kurs liegt ten Militärputsch den ersten frei ge- bei eins zu zwanzig. Die Folge für die wählten, der Muslimbruderschaft an- Bevölkerung: Die Preise steigen, Löh- gehörenden Präsidenten, Mohammed ne und Gehälter aber stagnieren. Viele Mursi, gestürzt. Besonders die kopti- sind verzweifelt. „Machen Sie für uns schen Christen sahen den Staatsstreich eine Revolution“, sagt spontan ein An- als Befreiungsschlag von der empfun- gestellter am Kairoer Flughafen. Die denen Unterdrückung durch die Mus- häufigste Aussage, die man landauf, limbrüder. An der Zustimmung zu landab besonders von jungen Men- Sissi änderten auch die fast 1000 To- schen zu hören bekommt, lautet: „Wir ten nichts, die der neue Präsident kurz haben keine Zukunft in diesem Land.“

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Mehr als 25 Millionen der rund 83 Mil- gimes betrachten und entsprechend lionen Ägypter leben inzwischen propagandistisch begleiten. knapp an der Armutsgrenze oder Auch konnte sich Sissi im Dezember schon darunter. Diese liegt bei um- 2016 eines Anrufes von Donald Trump gerechnet zwei US-Dollar am Tag pro erfreuen. Dieser war zwar offiziell Person. noch nicht Präsident der USA, misch- Angesichts ausbleibender Investitio- te sich aber bereits in Obamas Außen- nen aus den westlichen Industriestaa- politik ein. Trump nannte Sissi „einen ten sieht Präsident Sissi die Zukunft fantastischen Kerl“, verband dieses seines Landes offenbar im fernen Chi- Kompliment aber mit der Aufforde- na. Zweimal reiste er bereits nach Pe- rung, Sissi möge seine Zustimmung king. Ein minimaler Erfolg hat sich ein- zur Resolution des UN-Sicherheitsrates gestellt: Chinesen haben teilweise die gegen den israelischen Siedlungsbau ausbleibenden Touristen aus Europa annullieren. Tatsächlich zog Ägypten, ersetzt. Allerdings beruht das chinesi- derzeit nichtständiges Mitglied des sche Wirtschaftsmodell zwar auf einem Rates, die von ihm eingebrachte Reso- autoritären Regime, das aber, immer- lution zunächst zurück, stimmte aber hin, die wirtschaftliche Entwicklung kurz darauf auf Druck anderer Länder vorantreibt. In Ägypten dagegen ver- schließlich zu. waltet ein autoritäres Regime Stagna- tion und Rückschritt. In China hat sich eine einigermaßen kaufkräftige Mit- 40 000 politische Gefangene telschicht gebildet, in Ägypten bröckelt die Mittelschicht. Dagegen bauen sich Der ägyptische Herrscher ist nicht die durch Korruption hyperreich ge- nur wegen seines brutalen Vorgehens wordenen Wirtschaftsmagnaten teure gegen die Muslimbrüder bei vielen in Villen, sie wohnen immer mehr in Verruf geraten. Unwidersprochen kann Gated Communities, bewacht von pri- man heute in Ägypten schreiben, dass vaten Sicherheitsdiensten, welche die unter dem Regime Sissi etwa 40 000 Bewohner vom Elend um sie herum ab- politische Gefangene einsäßen. Das schotten. sind mehr als doppelt so viele wie unter Die Wirtschaftskrise treibt die Men- dem Regime von Hosni Mubarak.1 schen in die persönliche Ausweglo- Zum Unterdrückungspotential des sigkeit, und es scheint nur eine Frage Regimes gehört auch die drastische der Zeit zu sein, wann der Terrorismus Einschränkung der Arbeit von NGOs. weiter erstarkt und wann mehr und Die amerikanische Carnegie Endow- mehr Bootsflüchtlinge auch aus Ägyp- ment for International Peace schrieb ten den Weg in Schlauchbooten nach im Dezember 2016, neben den bereits Europa suchen. Diese für das Land ver- bestehenden Gesetzen über die Ein- heerende Lage ist einerseits eine Ge- schränkungen des Demonstrations- fahr für das Regime Sissi. Andererseits rechtes und dem Anti-Terror-Gesetz wird der Präsident dadurch aber auch eliminiere die neue Gesetzgebung zum Partner bei der Bekämpfung ter- praktisch die „Vereinigungsfreiheit roristischer Gruppen und der Eindäm- und die Meinungsfreiheit“ – die beide mung der Flüchtlingszahlen. In diesem in der Verfassung verankert seien. Frühjahr noch will etwa Bundeskanz- lerin Angela Merkel nach Kairo reisen 1 Als der Autor Anfang der 2000er Jahre in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb, in Ägypten und mit Sissi über Terrorbekämpfung säßen 20 000 Menschen wegen politischer und die sogenannte Fluchtkrise spre- Delikte ein, wurde ihm von offizieller Seite chen. Jeden Staatsbesuch aber wird bedeutet, es seien nur 15 000. Heute hat das Regime viele neue Gefängnisse bauen lassen, der international halb geächtete Prä- um die wachsende Zahl politischer Gefange- sident auch als Aufwertung seines Re- ner unterzubringen.

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NGOs würden nun einer „drakoni- nach dem Fall befragt wurde, beteuer- schen Regierungskontrolle“ unter- te er, die Regierung habe mit dem Fall worfen und die Zivilgesellschaft wer- nichts zu tun. de praktisch zerstört. Bürger, die sich friedlich (aber ohne die Kontrolle durch die Geheimdienste) für das Wohlerge- Die Rache des Polizeicorps hen ihrer Landsleute engagierten, leb- ten in einer „paralysierenden Furcht Das Ziel dieser allumfassenden Repres- vor sofortiger Repression durch den sion ist klar: Mit allen Mitteln will das Staat“. Regime die Wiederkehr einer Situa- Tatsächlich können viele NGOs, die tion verhindern, die im Jahre 2011 zur seit Jahrzehnten in Ägypten auf lokaler Revolution führte. Das damals langsam Ebene wertvolle Entwicklungsarbeit aufgehende Pflänzchen der Demokra- leisten, kaum noch Projekte in Angriff tie soll ein für alle Mal erstickt werden nehmen. Die Überweisung ausländi- – vor allem durch die Polizei. Schon für scher Gelder unterliegt strengster Kon- die Revolution von 2011 war Wider- trolle durch die Regierung; viele Mit- stand gegen Polizeigewalt ein wichti- arbeiter dieser Organisationen, die seit ger Antrieb. Während der Revolutions- Jahren engagiert arbeiten und dafür tage war die Polizei dann praktisch von ihre Gehälter beziehen, sind seit Mo- den Straßen Kairos und anderer Städ- naten ohne Lohn. te verschwunden. Unter dem Regime Ägypten birgt viele wissenschaftli- Sissi ist sie wieder aus den Kulissen che und künstlerische Talente, gehört hervorgetreten und nimmt Rache. Poli- aber zu jenen Ländern, die diese Ta- zeiwillkür und Polizeibrutalität stehen lente nicht nur nicht fördern, sondern an der Tagesordnung. „Manchmal“, systematisch unterdrücken. Kürz- erzählt ein Ägypter, „wenn wir sehen, lich erhielt ein begabter Künstler aus dass ein Mann von der Polizei verfolgt einem kleinen Dorf eine Einladung zu wird, zeigen wir ihm einen Flucht- einem Künstlertreffen in einem asiati- weg – so verhasst ist die Polizei inzwi- schen Land. Der junge Mann hatte ord- schen.“ nungsgemäß seinen Wehrdienst abge- Das Schlimmste an dieser traurigen leistet, fragte aber sicherheitshalber Realität: Präsident Sissi kann die Poli- bei den örtlichen Behörden nach, ob zei nicht kontrollieren. In einem lan- einer knapp zweiwöchigen Auslands- gen Beitrag für die Januarausgabe des reise etwas entgegenstehe. Er könne „New Yorker“ beschreibt der Journa- sorglos reisen, wurde ihm versichert. list Peter Hessler, wie Sissi in langen Er kam bis zum Kairoer Flughafen. Telefongesprächen mit dem damaligen Dort wurde ihm mitgeteilt, seine mili- US-Verteidigungsminister Chuck Ha- tärische Personalakte sei in Kairo nicht gel seine Ohnmacht gegenüber dem angekommen, eine Auslandsreise sei Polizeicorps ausgedrückt habe. Sissis mithin nicht möglich. Worte: „Das ist eine Millionen-Mann- Internationales Aufsehen erregte Mafia.“ Und: „Ich kann sie nicht kon- der Fall des Chirurgen und Satirikers trollieren.“2 Bassam Yussef. Der moderierte wäh- In einem dieser Gespräche habe rend der Übergangszeit von Präsident Chuck Hagel Sissi auch gefragt, wie Mursi zu Präsident Sissi im Privatfern- denn seine Familie das Massaker vom sehen die Satiresendung „The Show“. Sommer 2013 auf dem Platz Rabaa-al- Das Experiment ging so lange gut, Adawiyya aufgenommen habe. Sissi bis die Drohungen gegen ihn und sei- habe geantwortet, seine Frau und Fa- ne Familie so groß wurden, dass er mit Frau und Kind in die USA floh. Als Sissi 2 Vgl. Peter Hessler, Egypt’s Failed Revolution, in einem westlichen Fernsehinterview in: „New Yorker“, 1/2017.

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milie seien sehr traurig über das Blut- es selbst unter dem Regime von Hosni vergießen gewesen. Dem „New Yor- Mubarak nur selten gegeben. ker“ zufolge hat Hagel in einem vor- angegangenen Gespräch Sissi vor Ge- waltanwendung gegen die Platzbeset- Kein Weg aus der Krise zer gewarnt. Das Regime Sissi kennt kein Rezept, das Land aus der Krise zu führen. Der Fortgesetzte Willkür Präsident wendet sich mit Worten an die Ägypter wie „Ich liebe euch doch Hauptakteure bei der Niederschla- alle“; und er verbindet diese platte Er- gung des Aufstandes waren Polizei- klärung mit einem kruden Nationalis- kräfte. Ein grauenhaftes Beispiel für mus. Aber gleichzeitig ist er auf Hilfs- deren fortgesetzte Willkür ist die Er- zahlungen aus den reichen Golfländern mordung des italienischen Staatsbür- angewiesen. In den sogenannten „Sis- gers Giulio Regeni in Kairo. Dessen si-Leaks“, direkt aufgenommenen Ge- toter Körper wurde am 3. Februar 2016 sprächen Sissis mit einem hochrangi- neben der Autobahn Kairo-Alexandria gen Mitarbeiter, die einem türkischen aufgefunden – mit deutlichen Spuren TV-Sender zugespielt wurden, hört langanhaltender Folter. Regeni war man ihn sagen: „Sagen Sie ihnen (den nach Ägypten gekommen, um eine Golfführern), dass wir zehn Milliarden Dissertation über die Arbeit ägypti- benötigen, die auf das Konto der Armee scher Gewerkschafter zu schreiben. gehen, und von den Vereinigten Ara- Zunächst behaupteten die ägyptischen bischen Emiraten benötigen wir noch Behörden, Regeni sei in die Fänge einmal zehn, und von Kuwait noch ein- einer kriminellen Gang geraten, dann mal zehn und einige Pennies für die erklärte Sissi im Fernsehen, Ägypten Zentralbank – all dies würde das Bud- sei Opfer internationaler Verschwö- get von 2014 ausgleichen.“3 rungen geworden. Schließlich aber ga- Der Bittsteller Sissi ist Teil jenes ben sogar ägyptische Beamte offen zu, Systems aus Korruption, Vetternwirt- dass Regeni wahrscheinlich Polizei- schaft und wirtschaftlichem Unver- willkür zum Opfer gefallen sei. mögen, welches das Land über Jahr- Das Schicksal Regenis ist das kras- zehnte heruntergewirtschaftet hat und seste Beispiel dafür, dass die Polizei in- damit Armut und Terrorismus verur- zwischen zu einer Art Staat im Staate sacht. Derzeit sind die Menschen zu geworden ist. Kein Wunder also, dass arm und zu resigniert, um einen neu- der Italiener nicht das einzige Op- en Aufstand zu wagen. Doch auch ein fer brutaler Folter ist. Anwar al-Sadat, Mann wie Hosni Mubarak musste einst ein Neffe des 1981 ermordeten gleich- gehen, weil die Kraftprobe zwischen namigen Präsidenten Anwar al-Sadat, Volk und Unterdrückungsapparat zu- berichtete dem „New Yorker“, seit dem mindest zeitweise das Volk gewonnen Machtantritt Sissis verschwänden fast hatte. Vor einem solchen Szenario ist täglich Ägypter – und niemand kenne auch das Regime Sissi nicht sicher – zu- ihr Schicksal. mal viele das Massaker auf dem Rabaa Die Polizei hat in Ägypten stets ein al-Adawiyya-Platz von 2013 nicht ver- Eigenleben geführt. Elektrofolter auf gessen haben. Der nächste Aufstand, Polizeistationen war und bleibt ein wenn er denn kommt, wird allerdings Mittel, Gefangenen Geständnisse zu keine politisch motivierte Revolte sein entlocken. Dass aber ein Mann wie Re- – sondern eine Hungerrevolution. geni zu Tode gefoltert wird und Men- schen spurlos verschwinden – solch ex- 3 Vgl. Peter Hessler, Egypt’s Failed Revolution, treme Fälle polizeilicher Willkür hat a.a.O.

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Claudia Simons Demokratische Republik Kongo: Der ewige Kabila?

Seitdem das Mandat ihres Präsidenten noch im Jahr 2017 Neuwahlen abzuhal- Joseph Kabila am 19. Dezember 2016 ten. Kabila soll bis dahin im Amt blei- offiziell abgelaufen ist, befindet sich ben, darf aber nicht noch einmal an- die Demokratische Republik Kongo in treten. Bis Ende März soll zudem eine einer tiefen politischen Krise. Kabila, Übergangsregierung unter Führung der die für letzten November geplan- der Opposition eingerichtet werden, ten Parlaments- und Präsidentschafts- der die Aufgabe zukommt, den Über- wahlen auf unbestimmte Zeit verscho- gangsprozess zu organisieren. Doch ben hatte, regiert seither ohne jegliche das Abkommen entstand allein auf- demokratische Legitimation. Offiziell grund des enormen Drucks der kon- begründete die Regierung ihr Vorge- golesischen katholischen Bischofskon- hen mit logistischen und finanziellen ferenz und enthält zudem zahlreiche Schwierigkeiten. Weitaus wahrschein- noch ungeklärte Punkte – es könnte licher ist aber, dass Kabila sich auf diese sich somit als äußerst fragil erweisen. Weise eine dritte Amtszeit sichern will, Auch der Tod des beliebten Opposi- die ihm laut Verfassung nicht zusteht. tionsführers Etienne Tshisekedi An- Damit aber hat er die Konflikte im fang Februar, der den Übergangsrat lei- Land massiv verschärft: Tausende ten sollte, befeuert die Sorgen der Op- Menschen gingen in den vergangenen position, dass ihr Einfluss schwinden Monaten in verschiedenen Landestei- und am Ende Kabila die Übergangs- len immer wieder auf die Straßen. Sie phase doch wieder dominieren könnte. haben es satt, von machthungrigen Eli- Kabilas Versuch, seine Amtszeit ten regiert zu werden, und sind sowohl über das verfassungsmäßig erlaub- von der Regierungspartei als auch von te Maß hinaus auszudehnen, bildet je- den meisten Oppositionsparteien ent- doch nur den Anlass für die aktuelle täuscht. Die Regierung antwortete auf politische Krise. Deren tieferliegende die Proteste mit Verhaftungen, Vereini- Dynamiken sind weitaus vielschichti- gungsverboten und massiver Polizei- ger. Galt Kabila mit seiner 2006 erst- gewalt; Dutzende Menschen kamen mals gewählten Regierung damals vie- dabei ums Leben. Laut Human Rights len noch als Hoffnungsträger, der nach Watch ist die Zahl der Menschen- Jahrzehnten der Kolonialzeit, Dikta- rechtsverbrechen in der DR Kongo 2016 tur und zwei großen Bürgerkriegen die im Vergleich zum Vorjahr um 30 Pro- Lebensbedingungen der Menschen zent gestiegen – hauptsächlich auf- verbessern würde, hat sich das Blatt grund der Niederschlagung der Protes- inzwischen gewendet. Die Regierung te rund um die Wahlen.1 befindet sich in einer schweren Legi- Zwar einigten sich Regierung und timationskrise, steht sie doch sinnbild- Opposition nach langen Auseinander- lich für die Zentrierung der politischen setzungen zum Jahreswechsel darauf, und ökonomischen Macht in der Hand einer kleinen Elite. 1 Vgl. Ida Sawyer, UN Reports Dramatic In- crease in DR Congo Rights Violations in 2016, Kabila ist nicht der einzige Präsi- www.hr w.org, 27.1.2017. dent Afrikas, der sich an die Macht

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201703_Blätter_Buch.indb 33 15.02.17 11:29 34 Kommentare und Berichte

klammert und Beschränkungen seiner ne Popularität ist seit den international Amtszeit auszuhebeln versucht. diskreditierten Wahlen von 2011 stark gesunken. Daher wählt Kabila eine wesentlich aussichtsreichere Art, sei- Die ewigen Präsidenten ne Macht zu sichern: das fortwähren- de Hinausschieben von Wahlen, zä- Klauseln, die die Mandate für Präsi- he Verhandlungen mit der Opposition denten begrenzen, finden sich seit der und bestenfalls das Zugeständnis, eine Demokratisierungswelle der frühen schwache Übergangsregierung zu ak- 1990er Jahre in nahezu allen afrikani- zeptieren – mit ungewissem Ausgang. schen Verfassungen. Dessen ungeach- tet gibt es nur wenige Länder, in denen Präsidenten in den letzten 25 Jahren Dialog zum Machterhalt aufgrund solcher Beschränkungen ihre Macht abgaben. Stattdessen wur- Das Prinzip, politische Entscheidun- den diese in einer ganzen Reihe von gen lange hinauszuzögern, um Ver- Staaten in den letzten Jahren ausgehe- handlungen und Übergangslösungen belt oder umgangen. zu erzwingen, ist nicht neu auf dem Alleine in der unmittelbaren Nach- afrikanischen Kontinent. Gerade die barschaft der DR Kongo haben sich seit DR Kongo befindet sich in einem qua- 2015 die Präsidenten von drei Ländern si nicht endenden Übergang, in dem – Congo-Brazzaville, Ruanda und Bu- der „Dialog“ vor allem dem Ziel dient, rundi – weitere Amtszeiten gesichert. den Machterhalt des Präsidenten zu In Congo-Brazzaville und Ruanda lie- sichern. ßen die Amtsinhaber die Verfassun- Bereits im Jahr 1991 sollte eine „Sou- gen mittels Referenden zu ihren Guns- veräne Nationalkonferenz“ dem Land ten ändern. Angesichts des repressiven den Übergang von der Diktatur in die politischen Klimas in beiden Ländern Demokratie ebnen. Vertreterinnen und war die Zustimmung von 92 Prozent Vertreter von Regierung, Oppositions- (Congo-Brazzaville) und 98 Prozent parteien und Zivilgesellschaft erarbei- (Ruanda) kaum überraschend. Der teten eine neue Verfassung, bildeten Vorstoß des burundischen Präsidenten eine Übergangsregierung und sollten Nkurunziza, 2014 die Verfassung per die ersten freien Wahlen seit der Un- Parlamentsentscheid zu ändern, schei- abhängigkeit des Landes vorbereiten. terte an einer fehlenden Stimme. Des- Doch der damalige Diktator Mobutu sen ungeachtet erklärte das Verfas- Sese Seko sah die Konferenz vor al- sungsgericht – offenbar auf Druck des lem als Mittel, sich international zu le- Präsidenten – kurzerhand eine weitere gitimieren und gleichzeitig die ohne- Kandidatur des Amtsinhabers für legal hin schon zersplitterte Opposition wei- und begründete dies mit einer juristi- ter zu spalten. Er regte die Gründung schen Spitzfindigkeit. zahlreicher kleiner Parteien an, die er Kabila hingegen kann die Verfas- in seine eigene „Mouvance Présiden- sung nicht so einfach ändern lassen, tielle“ (Präsidialbewegung) integrier- weil ein Verfassungsartikel die Ände- te. Auf diese Weise konnte er letztlich rung der Amtszeitbeschränkung aus- seine Macht sichern: Die meisten Kon- drücklich untersagt. Lediglich durch ferenzbeschlüsse wurden nie umge- eine neue Verfassung, die durch ein setzt oder durch den Präsidenten wie- Referendum beschlossen werden der annulliert. Mobutu konnte wei- müsste, könnte Kabila legal weiterre- ter regieren, bis er schließlich im ers- gieren. Doch es ist alles andere als ga- ten kongolesischen Bürgerkrieg 1997 rantiert, dass Kabila mit einem Refe- gestürzt wurde und Laurent-Désirée rendum Erfolg haben würde, denn sei- Kabila, der Vater des derzeit amtieren-

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den Joseph Kabila, sich selbst zum Prä- daraufhin loyale Gefolgsleute zu Pro- sidenten ernannte. vinzkommissaren. Da die chaotische Ebenso wie seine Vorgänger setzt Neuordnung des Landes zudem eine auch Joseph Kabila nur vorgeblich auf neue Sitzverteilung für die anstehen- Dialog – etwa als er im September 2013 de Parlamentswahl erforderlich mach- erstmals „nationale Konsultationen“ te, rückte der Urnengang einmal mehr mit Opposition und Zivilgesellschaft in weite Ferne. einberief. Damals diskutierten rund Heute steht fest: Die „nationalen 700 Personen über Reformen der poli- Konsultationen“ von 2013 waren kei- tischen Institutionen und die Organi- neswegs dazu gedacht, das Land aus sation der ursprünglich für 2016 anste- der politischen Krise zu führen und henden Wahlen. Mehr als 600 Empfeh- den Weg zu einem ordentlichen Regie- lungen sowie die Ankündigung, eine rungswechsel zu ebnen. Vielmehr bo- „Regierung der nationalen Kohäsion“ ten sie der Regierung die Möglichkeit, unter Beteiligung von Opposition und die Wahlen zu verzögern und Kabilas Zivilgesellschaft zu bilden, waren das Macht zu festigen. Ergebnis. Doch einmal mehr blieb es Dieses politische Spiel soll offenbar bei guten Vorsätzen, umgesetzt wurde fortgesetzt werden. Ende 2015 wur- kaum etwas. Erst ein Jahr später wurde de der nächste „nationale Dialog“ be- eine neue Regierung gebildet. An die- schlossen. Er mündete im vergangenen ser war die Opposition zwar beteiligt, Oktober in einem umstrittenen Ab- die einflussreichen Ministerien und kommen, das durch die jüngste Verein- Schlüsselpositionen gingen jedoch an barung unter Schirmherrschaft der Bi- Kabilas Getreue. schofskonferenz abgelöst wurde. Doch Viel getan hat sich seitdem nicht. die Verhandlungen über diverse offene Im Gegenteil wurden den für die Vor- Punkte dauern an und führen die fast bereitung der Wahlen zuständigen schon bizarr anmutende Aneinander- Gremien wo immer es ging Steine in reihung von Dialogen fort. den Weg gelegt: So blieb die nationa- Die Erfahrungen aus der Vergan- le Wahlkommission CENI nicht nur genheit bieten wenig Raum für Opti- unterfinanziert, die Regierung mischte mismus, dass die Gespräche tatsäch- sich obendrein fortwährend politisch lich politischen Wandel bewirken in deren Arbeit ein. Der durch CENI könnten. Zweifelhaft ist vor allem, dass präsentierte Wahlkalender setzte für Kabila wirklich gewillt ist, in naher Zu- Juni 2015 erstmals Lokal- und Provinz- kunft Wahlen abzuhalten. wahlen an. Angesichts des riesigen lo- gistischen Aufwands mussten diese letztlich abgesagt werden; gleichzei- Zwischen halbherzigen tig hatte Kabila es dadurch erreicht, die Drohungen und Protest Parlaments- und Präsidentschaftswah- len weiter hinauszuzögern. Die internationale Gemeinschaft – al- Erst im März 2015 setzte Kabila len voran die UN-Mission MONUSCO überstürzt eine zuvor über Jahre auf- und die bilateralen Partner der DR geschobene Dezentralisierungsreform Kongo – hat ein Interesse daran, die Si- um. Elf Provinzen wurden in 26 kleine- tuation zu stabilisieren. Sie befürchtet, re Provinzen aufgeteilt. Da diese über dass sich die Konflikte im Inneren der Monate ohne Verwaltung blieben, for- DR Kongo, die immerhin so groß ist wie derte das Verfassungsgericht den Prä- Westeuropa, zu einem Flächenbrand in sidenten schließlich auf, die „Anar- der Region ausweiten könnten. Aller- chie“ in den neuen Provinzen zu be- dings ist ihr Handlungsspielraum be- seitigen und stattdessen für Recht und grenzt: Zwar verhängten die Vereinig- Ordnung zu sorgen. Kabila ernannte ten Staaten und die Europäische Union

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201703_Blätter_Buch.indb 35 15.02.17 11:29 36 Kommentare und Berichte

bereits vereinzelte Sanktionen gegen zutiefst korrupt und in weiten Teilen Vertraute Kabilas. Ein Bruch der inter- des Landes herrscht keine einheitliche nationalen Partner mit der DR Kongo Rechtsprechung – häufig zum Nachteil wäre aber viel zu riskant und kostspie- von Frauen und Minderheiten. lig und liegt deswegen nicht im Inte- Doch all dies bedeutet nicht, dass die resse der westlichen Geber – und das Menschen in der DR Kongo keine starke weiß auch Kabila. Er setzt auch inter- Meinung zu ihrer Regierung hätten, ge- national auf „Dialog“, als Zeichen des schweige denn apolitisch wären. Über- guten Willens lässt er hin und wieder all im Land formieren sich Proteste, politische Gefangene frei, ansonsten die sich zum Teil bereits in großen Be- aber ignoriert er die halbherzigen Dro- wegungen über mehrere Provinzen hungen der internationalen Gemein- hinweg organisiert haben. schaft weitgehend. Angesichts des Versagens der poli- Doch Kabila sollte sich nicht in fal- tischen Institutionen fordern die scher Sicherheit wiegen, denn die Demonstrantinnen und Demonstran- Unzufriedenheit in der Bevölkerung ten vor allem eines: ein funktionieren- wächst von Tag zu Tag. Zwar macht des politisches System mit einer effek- es im Alltag der meisten Kongolesen tiven demokratischen Kontrolle. Die und Kongolesinnen kaum einen Unter- derzeit wohl bekannteste Protestbe- schied, welche Parteien in Kinshasa re- wegung, „La Lucha“, grenzt sich da- gieren und wer Präsident ist. Vielmehr bei sowohl von der politischen Oppo- haben sich die meisten Menschen an sition als auch von der „klassischen“ das Prinzip der Selbsthilfe gewöhnt Zivilgesellschaft ab. Damit sind in und erwarten nicht allzu viel von der der DR Kongo registrierte Nichtre- eigenen Regierung oder den staatli- gierungsorganisationen gemeint, die chen Institutionen. Hinzu kommt, dass einer relativ umfassenden staatlichen insbesondere im Osten der DR Kongo Kontrolle unterliegen und in den Au- Rebellengruppen und selbst ernann- gen einiger dem politischen Estab- te Selbstverteidigungsgruppen das lishment ähneln. So zeichnen sich ei- Sagen haben. Auch die nationale Ar- nige der großen Organisationen der mee treibt ihr Unwesen im Land – trotz Zivilgesellschaft durch einen ähnli- zahlreicher Reformversuche in den chen Personenkult und undemokra- vergangenen Jahrzehnten; sie wird tische Strukturen aus, wie sie auch in von vielen Menschen vor allem als Be- politischen Parteien vorkommen. Von drohung, nicht aber als Sicherheitsga- den Parteien wollen die Protestbewe- rant wahrgenommen. Zudem ist das gungen erst recht nicht vereinnahmt Bildungssystem marode, die Justiz ist werden, denn ihre eigenen Forderun- gen gehen weit über deren halbherzi- ge Versprechen und klientelistische Mobilisierungsstrategien hinaus. Zwar wird sich ihr Traum von einer wirklich demokratischen Republik Kongo auf absehbare Zeit wohl nicht erfüllen, zu groß der Machthunger der politischen Eliten, zu verkrustet die Strukturen des politischen Systems. Auf lange Sicht aber könnte sich aus Trumps Welt der Bewegung durchaus eine politi- sche Kraft entwickeln, die tatsächliche Das Dossier auf www.blaetter.de – Veränderungen bewirkt. Derzeit aber 20 »Blätter«-Beiträge für nur 7 Euro riskieren ihre Anhängerinnen und An- hänger noch ihr Leben – für ihre Ideale.

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201703_Blätter_Buch.indb 36 15.02.17 11:29 DEBATTE

Schäubles EU: Austerität und Autoritarismus

In der Januar-Ausgabe der „Blätter“ plädierten Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan und Frank Bsirske für eine solidarische Europäische Union. Nach Ansicht von Andreas Fisahn greift dieser Ansatz jedoch zu kurz, weil er die grundlegende demokratische Frage außer Acht lässt.

Wie der Titel – „Ausgleich statt Auste- zentralisierte, administrative Kontrolle rität“ – bereits nahe legt, geht es dem der Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Beitrag vor allem um eine andere wirt- Und da in der EU Politik in Form schaftspolitische Konzeption. Und tat- der Salami-Taktik praktiziert wird – sächlich ist eine Alternative zu der von Scheibchen um Scheibchen nähert der deutschen Regierung inspirierten man sich dem Ziel –, ging es Schäuble und durchgesetzten Austeritätspolitik zunächst darum, Verbündete für den dringend geboten. Doch leider haben Vorstoß zu finden. die Autoren dabei aus dem Blick verlo- ren, dass Bundesfinanzminister Wolf- gang Schäuble mit dem Austeritätsdik- » Ohne die demokratische Misere der tat auch die Demokratie geschleift hat. Europäischen Union zu beheben, ist Muss man Schäuble unterstellen, dass ein wirtschaftspolitisches Umsteu- er aus Überzeugung antidemokratisch ern zum Scheitern verurteilt. « agiert, ist es seitens der Autoren wohl bloß Gedankenlosigkeit, europäische Solidarität mit den gleichen Instru- So forderte Bundeskanzlerin Merkel menten durchsetzen zu wollen wie denn auch im Januar 2013 in Davos Schäuble die Austerität, nämlich bloß einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ mit wirtschaftspolitischen. Doch ohne mit Zielvereinbarungen zwischen EU die demokratische Misere der EU zu und Mitgliedstaaten über Lohnzusatz- beheben, ist ein wirtschaftspolitisches kosten, Lohnstückkosten, Forschungs- Umsteuern in der Europäischen Union ausgaben, Infrastruktur sowie über bereits heute zum Scheitern verurteilt. die Effizienz der Verwaltung.2 Das Worauf Schäuble abzielt, hat er von Schäuble gewünschte Veto kam bereits früh in einem „Spiegel“-Inter- in Merkels Vorschlag zwar nicht vor, view erklärt: „Im Optimalfall gäbe es aber verbindliche Zielvereinbarungen einen europäischen Finanzminister. der Kommission mit den Mitgliedstaa- Der hätte ein Vetorecht gegen einen ten verschoben die Kompetenzen in nationalen Haushalt und müsste die haushaltsrelevanten Politikbereichen Höhe der Neuverschuldung genehmi- zu Gunsten der Europäischen Union. gen.“1 Es geht Schäuble also um eine 2 Vgl. die Rede der Bundeskanzlerin beim Jah- restreffen 2013 des World Economic Forum, 1 Vgl. „Der Spiegel“, 26/2012. www.bundeskanzlerin.de.

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201703_Blätter_Buch.indb 37 15.02.17 11:29 38 Andreas Fisahn

Und bei Zielvorgaben denkt man in die Begrenzung der Staatsverschul- Deutschland seit der Agenda 2010 dung durch die sogenannten Maas- einen entsprechenden Sanktionsme- tricht-Kriterien: Neuverschuldung von chanismus üblicherweise mit. höchstens drei Prozent des BIP und Wirklichkeit wurde dieser Vorschlag maximal 60 Prozent Gesamtverschul- durch die Politik der Troika, wenn auch dung. Mit der Finanz- und Wirtschafts- zunächst beschränkt auf die südlichen krise ab 2008 wurden diese Vorgaben Schuldnerstaaten, insbesondere Grie- vollends zur Illusion. Das Ziel, die Neu- chenland. Als vollends hegemoniefä- verschuldung zu begrenzen, läuft seit- hig zeigte sich die Idee im Sommer 2015 dem faktisch auf eine Zentralisierung mit dem Papier der fünf Präsidenten der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. Im Einklang hinaus. Insbesondere die deutsche mit seinen konservativen bis reaktio- Regierung verwandte ihre Energie nären Präsidentenkollegen forderte darauf, neue Kontroll- und Sanktions- der damalige EU-Parlamentspräsi- mechanismen zu erdenken und einzu- dent und heutige Kanzlerkandidat der führen, mit denen eine Austeritätspoli- SPD, Martin Schulz, die Einführung tik durchgesetzt werden kann. von vertraglichen Vereinbarungen über Maßnahmen zur Umsetzung der „länderspezifischen Empfehlungen“ » Das europäische Parlament spielt zwischen Kommission und Mitglied- allenfalls eine Nebenrolle. « staaten. Die fünf Präsidenten der Union schlugen vor, die nationalen Haushalte durch „nationale Räte“ zur Überwa- Der Umbau zu einer autoritären Wirt- chung der wirtschaftlichen Entwick- schaftsregierung geschah durch eine lung des Mitgliedstaates kontrollieren Reihe intergouvernementaler Ver- zu lassen und über diesen nationalen einbarungen, welche die Mitsprache Räten zusätzlich einen europäischen der nationalen Parlamente auf eine Finanzausschuss zu etablieren, der die schlichte Option reduzieren: zustim- Gesamtkontrolle wahrnimmt.3 men oder ablehnen. Dazu gehören der Die Vorstellung, den Haushalt der Pakt für den Euro, der draufgesattelte Mitgliedstaaten zentral durch euro- Pakt für den Euro plus, der Fiskalpakt päische Gremien zu kontrollieren, und der ESM-Vertrag. Bestandteil all verblieb nicht auf der Diskursebene. dieser Verträge war eine Verpflich- Sie wurde durch kleine Schritte zur tung auf die von Klaus Busch et. al. in Rechtslage und Praxis in der EU. ihren Auswirkungen beschriebene Die Zielrichtung war bereits vor 25 Austeritätspolitik. Jahren mit dem Maastricht-Vertrag Gleichzeitig wurde jedoch auch die vorgegeben worden. Aufgrund der Kontrolle zentralisiert. Mit dem Fiskal- spezifisch deutschen Phobie wurde pakt wurde eben nicht nur eine neue darin als einziges Kriterium für die Kreditobergrenze von 1,5 Prozent ver- Wirtschafts- und Finanzpolitik der einbart, sondern auch ein Genehmi- EU, speziell der EZB, die Bekämpfung gungsvorbehalt für nationale Haus- der Inflation in den europäischen Ver- halte, wenn die Kreditlinie gerissen trägen verankert. Mittel zum Zweck wird. Der im Lissabon-Vertrag vor- war – der herrschenden ökonomischen gesehene Mechanismus der Sanktio- Theorie folgend, der allerdings die nierung von „Defizit-Sündern“ wurde Empirie fundamental widerspricht – „halbautomatisiert“, damit aber auch entpolitisiert, zentralisiert und entde- 3 Jean-Claude Juncker mit Donald Tusk, Jeroen mokratisiert. Die politische Rechtfer- Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz, Die Wirtschafts- und Währungsunion tigung gegenüber dem eigenen, natio- Europas vollenden, https://ec.europa.eu. nalen Parlament dafür, einer Sanktion

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201703_Blätter_Buch.indb 38 15.02.17 11:29 Schäubles EU: Austerität und Autoritarismus 39

zugestimmt zu haben, wird für die Funktion einer zweiten Kammer im Regierungen damit entbehrlich. klassischen Arrangement zukommt. Schließlich bestimmten die Six- Die Rechtsprechung des EuGH und Pack- und Two-Pack-Gesetze von 2011 dessen ausgedehnte Interpretation der und 2013 die Kontrolle nationaler europäischen Kompetenzen für das Haushalte durch die EU-Kommission Binnenmarkt- (Art. 114 AEUV) und das und den Ministerrat: Auf Vorschlag Wettbewerbsrecht (Art. 105 AEUV) der Kommission erlässt der Rat soge- beschränken die Steuerungsfähigkeit nannte länderspezifische Empfehlun- der nationalen Parlamente weiter. Und gen an die Mitgliedstaaten und es wird dies gilt nicht nur für die übertragenen erwartet, dass die nationalen Parla- Kompetenzbereiche, denn durch die mente diesen folgen. Völlig ungeklärt europäische Harmonisierung werden ist, was praktisch geschieht, wenn ein strukturelle Zwänge geschaffen, wel- nationales Parlament einen offenen che die Politik in den verbleibenden Dissens zu den länderspezifischen nationalen Kompetenzbereichen weit- Empfehlungen wagt. gehend determinieren – vor allem das Kurzum: Der vom deutschen Finanz- Steuerrecht und die sozialen Siche- minister Wolfgang Schäuble favori- rungssysteme. Hier regiert heute nur sierte autokratische EU-Finanzminis- noch der Sachzwang. ter mit Vetorecht ist damit zwar noch nicht ganz Wirklichkeit geworden, denn noch müssen Konsense gefunden » Die neue europäische Wirtschafts- werden, aber ein gut Teil des Weges regierung lässt die parlamentarische in diese Richtung ist gegangen − die Demokratie zur leeren Hülle Salami ist weitgehend aufgeschnitten. verkommen. « Man kann diesen Instrumentenkas- ten als den mephistotelischen Kern der „Fassadendemokratie“ (Habermas) Den nationalen Parlamenten blieb bei oder der „Postdemokratie“ (Crouch) alledem immerhin das „Königsrecht bezeichnen. Das europäische Parla- des Parlaments“, das Budgetrecht als ment spielt bei diesen Prozessen allen- wesentliches Element demokratischer falls eine Nebenrolle als beratendes Programmierung – und damit die Gremium, wenn es nicht ganz zum Möglichkeit, über das Geld zu steu- Statisten degradiert ist. Die nationa- ern. Doch die neue europäische Wirt- len Parlamente geraten in die Rolle des schaftsregierung (EWiR), die über die Chores im antiken Drama – sie dürfen genannten Rechtsakte geschaffen die Ereignisse klagend begleiten. Im wurde, unterminiert das Budgetrecht Ergebnis haben die nationalen Parla- der nationalen Parlamente und lässt mente große Teile ihres Budgetrechts damit die parlamentarische Demokra- verloren. tie zur leeren Hülle verkommen. Wenn man Recht, Geld und Macht Klaus Busch et. al. stellen zu Recht mit Niklas Luhmann als die zentralen fest, dass der Euro nicht die Ursache Steuerungsmedien moderner Gesell- der Misere in der Europäischen Union schaften definiert, steht es schlecht ist. Er kann allenfalls als Werkzeug aus um die parlamentarische Steuerungs- dem EU-Instrumentenkasten genutzt fähigkeit. Die Macht ist sowieso bei der werden, um die Austeritätspolitik Exekutive und Administration gebün- durchzusetzen. Aber der Vorschlag delt. Die Kompetenz, durch Recht zu für eine solidarische EU greift zu kurz, steuern, wurde mit den Europäischen weil besagter Instrumentenkasten Verträgen weitgehend an die europäi- mehr oder weniger übernommen wird schen Institutionen abgetreten, wobei und nur die Reparaturanleitung umge- dem Europäischen Parlament nur die schrieben werden soll. Im Rahmen der

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201703_Blätter_Buch.indb 39 15.02.17 11:29 40 Andreas Fisahn

gegebenen institutionellen Struktu- sie unter Inkaufnahme der demokra- ren böte sich folgende provisorische tischen Misere in der EU erfolgreich Ausgestaltung der EWiR an: „Die EU- sein können – oder auch nur sein soll- Kommission erarbeitet die Grundzüge ten. Demokratische und soziale Politik, der Wirtschaftspolitik und legt dabei das lehrt die Geschichte, ist nicht mit- auch die Eckwerte der öffentlichen tels – natürlich immer nur „vorüberge- Haushalte der Mitgliedstaaten fest. hender“ − autoritärer Maßnahmen zu Diese Grundzüge müssen dann vom haben. Eine wirkliche, sozial-ökologi- Rat der Union in Gestalt des Rates für sche Umsteuerung in der EU muss viel- Wirtschaft und Finanzen (Ecofin) mit mehr mit einer grundlegenden Demo- doppelter Mehrheit angenommen und kratisierung einhergehen, das heißt vom Europaparlament (EP) mit absolu- mit einem grundsätzlichen Umbau der ter Mehrheit genehmigt werden. Diese Verträge. Unter den gegebenen poli- Wirtschaftsregierung muss zwingend tischen Kräfteverhältnissen ist dies die Richtung der Haushaltspolitik zweifellos ein Problem5 – und zwar ein der Mitgliedstaaten bestimmen kön- Problem, dass sich nicht innerhalb der nen. Nur so lässt sich eine konsistente bestehenden Strukturen lösen lässt. europäische Fiskalpolitik betreiben, Denn diese bestimmen längst auch die in Kooperation mit der EZB für die den Inhalt der Politik; die Form ist dem makroökonomische Stabilisierung der Inhalt nicht nur äußerlich. Union und der Eurozone sorgt.“4 Kurzum: Austeritätspolitik und autoritäre Durchsetzung sind untrenn- bar verwoben. Autoritäre Wirtschafts- » Austeritätspolitik und autoritäre regierung und Austeritätspolitik sind Durchsetzung sind untrennbar zwei Seiten derselben Medaille. Der verwoben. « wirtschaftspolitische Richtungswech- sel ist daher ohne eine Änderung oder Durchbrechung des institutionellen Zugegeben, dies wird nur als „Über- und rechtlichen Rahmens nicht zu gangslösung“ bezeichnet, weil die haben. Die neoliberale Austeritäts- EU „auf kurze Sicht nicht über eine politik kann durch einen solidarischen demokratisch gewählte Regierung Keynesianismus ersetzt werden, aber verfügen“ werde. Zu bedenken ist al- nur im Rahmen eines übergreifen- lerdings, dass es auch in einem Bun- den, den gesamten Kontext erfassen- desstaat der Bundesregierung in der den Umbaus. Das dafür erforderliche Regel nicht zusteht, in die Haushalte Gesamtkonzept einer europäischen der Bundesländer einzugreifen. Demokratie inklusive Wirtschafts- Gewiss, über die vorgeschlagenen demokratie steht allerdings noch aus. wirtschaftspolitischen Maßnahmen Immerhin hat sich mit der Forderung lässt sich diskutieren: Ein Investitions- nach einer solidarischen Union nun programm, der Abbau von Leistungs- ein Autorenkollektiv auf den Weg bilanzüberschüssen, also ein Ende der gemacht, das zugleich in der politi- deutschen „Beggar-thy-neighbour“- schen Landschaft der Bundesrepublik Politik, und eine expansive Finanz- eine machtpolitische Alternative zum politik weisen durchaus in die richtige neoliberalen Mainstream symboli- Richtung – gerade auch angesichts der siert. Auch das macht den Beitrag trotz Trumpschen Abschottungspolitik. Es der hier geäußerten Kritik so wertvoll erscheint allerdings zweifelhaft, ob und die kritische Diskussion gerade deshalb so notwendig. 4 Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan und Frank Bsirske, Ausgleich statt Austerität. 5 Vgl. dazu Andreas Fisahn, Die Linke zwi- Für eine solidarische Europäische Union, in: schen Baum und Borke – Neustart der EU, in: „Blätter“, 1/17, S. 99. „Sozialismus“, 10/2016, S. 46-51.

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201703_Blätter_Buch.indb 40 15.02.17 11:29 KOLUMNE

Schlachthaus Syrien Von Ed Blanche

as syrische Regime soll heimlich weitere tausend Menschen getötet wor- D und systematisch bis zu 13 000 den sind.” seiner Bürger gehängt haben. Dies ge- Die Enthüllungen von Amnesty Inter- schah zwischen dem Beginn des Krie- national kommen inmitten russischer ges im März 2011 und Dezember 2015 Bemühungen um eine politische Über- in einer „geplanten Kampagne außer- einkunft, nach der Assad an der Macht gerichtlicher Exekutionen.“ Das be- bleiben könnte, zumindest während sagt jedenfalls ein erschütternder Be- einer unbestimmten Übergangspha- richt von Amnesty International. Dieser se. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass könnte nun die Friedensbemühungen der Zeitpunkt der Enthüllungen poli- unter Federführung Russlands gefähr- tisch motiviert sein könnte. Das dürfte den, die einen Machterhalt Baschar al- im Endeffekt aber auch nicht wichtig Assads vorsehen. sein, da die Gerechtigkeit wohl langsam Der sehr detaillierte Bericht vom kommt – wenn überhaupt. 7. Februar belegt, dass die Tötungen im berüchtigten syrischen Saydnaya- Gefängnis nördlich von Damaskus er- Unvergoltene Gräueltaten folgten. Sie wurden von höchstrangigen Mitgliedern des Regimes autorisiert, Denn abgesehen vom syrischen Regime darunter Assads Stellvertreter. Und sie haben seit dem 11. September 2001 auch ereigneten sich in einem Krieg, in dem Russen, Iraner und Amerikaner wieder- alle Seiten zahlreiche Gräueltaten be- holt Attentate auf Dschihadistenführer gangen haben. verübt und dabei Hunderte von Zivi- Amnesty zufolge starben während listen getötet. Sie alle könnten mit An- dieser Zeit im selben Gefängnis min- klagen wegen Kriegsverbrechen oder destens 17 723 weitere Menschen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit Folter, Krankheiten und Mangelernäh- konfrontiert werden. rung. Wir wissen nicht, ob Assad selbst Russland und China, die Assads Re- in die heimlichen Exekutionen verwi- gime stützen, haben bislang alle Ver- ckelt war. Aber das weithin verhasste suche torpediert, Damaskus im UN-Si- Regime, das von seinem verstorbenen cherheitsrat wegen Kriegsverbrechen Vater Hafez al-Assad 1970 durch einen anzuklagen und vor den Internationa- Militärputsch errichtet wurde, hat ei- len Strafgerichtshof in Den Haag zu ne entsetzliche Menschenrechtsbilanz: bringen. Seit Russland im September Zehntausende verschwanden über die 2015 in den syrischen Krieg intervenier- Jahrzehnte in seinem Gulag. „Wir ha- te, wurde ihm wiederholt die willkür- ben keinen Grund zur Annahme, dass liche Bombardierung von zivilen Ein- das Hängen aufgehört hat“, warnt denn richtungen, Krankenhäusern und Schu- auch die Verfasserin des Berichts, Nico- len vorgeworfen. Trotz einer Vielzahl an lette Waldman. „Wir halten es für sehr Beweisen bestreitet Moskau das. wahrscheinlich, dass die Hinrichtun- Doch die Türkei beschuldigte im gen bis heute weitergehen und viele Februar 2016 Russland und das Assad-

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201703_Blätter_Buch.indb 41 15.02.17 11:29 42 Kolumne

Regime, solche Angriffe absichtlich Im Mai 2016 forderten führende UN- auszuführen, um Syrer aus dem Land Mitarbeiter, das Assad-Regime solle für zu treiben. Diese Fluchtbewegung, die Kriegsverbrechen angeklagt werden, nach einer jüngsten Schätzung sechs aufgrund der willkürlichen Bombar- Millionen Menschen umfasst, solle die dierung von Krankenhäusern und dem Türkei und Westeuropa überrollen und Aushungern von Alleppo sowie anderen politische Krisen auslösen, so Ankara. Bevölkerungszentren. „Gezielte An- Mittlerweile jedoch ist die Türkei zum griffe auf Krankenhäuser sind Kriegs- engen Alliierten Russlands und damit verbrechen“, erklärte Jeffrey Feltman, automatisch des Regimes in Damaskus der damalige Untergeneralsekretär für avanciert. Diesselbe Türkei, die vor 18 politische Angelegenheiten. „Hunger Monaten noch Assads Blut sehen woll- als Waffe im Konflikt zu nutzen, ist ein te, hat sich nun mit jenen verbündet, die Kriegsverbrechen.“ Er forderte, Syrien sein Überleben sichern. Daher dürfte zur Verfolgung an den Internationalen Ankara kaum mehr Vorwürfe wegen Strafgerichtshof zu verweisen. Aber Kriegsverbrechen erheben. Saudi-Ara- wie bei anderen Versuchen der UN, das bien wiederum ist ein wichtiger Unter- Assad-Regime zu rügen oder zu verfol- stützer von Assadgegnern, die eben- gen, nutzten Russland und China ihre falls Kriegsverbrechen oder Verbrechen Vetomacht im Sicherheitsrat, um solche gegen die Menschlichkeit begangen Schritte zu verhindern. haben. Und Saudi-Arabien selbst wird Ebenfalls im Mai 2016 beschuldig- vorgeworfen, solche Verbrechen im Je- te der Präsident von Ärzte ohne Gren- men im Kampf gegen die Huthi-Rebel- zen auch die Vereinigten Staaten und len zu begehen, die bis zu einem gewis- Saudi-Arabien – neben Syrien und Russ- sen Grad vom Iran unterstützt werden. land –, mutwillig medizinische Einrich- tungen anzugreifen und medizinisches Personal ins Visier zu nehmen. Auch in diesem Fall blieben Strafmaßnahmen aus. Die Vereinigten Staaten sehen sich, wie Russland und Syrien, einem Trom- melfeuer von ähnlichen Anschuldigun- gen ausgesetzt. Sie resultieren aus der wachsenden Zahl ziviler Opfer durch sogenannte präzise Luftschläge und unbemannte Drohnen, mit denen dschi- hadistische Gruppen von Libyen bis Af- ghanistan angegriffen werden. Im Endeffekt zeigt sich daher keine Regierung bereit, die sich rasant aus- breitenden Kriegsverbrechen direkt anzusprechen, weil das auf sie selbst zurückschlagen könnte. Daher ist es unwahrscheinlich, dass das Assad-Re- gime bald für seine Gräueltaten verfolgt werden wird – trotz der grausam detail- lierten Anklage im Bericht von Amnes- ty International, der nicht umsonst den Titel „Schlachthaus für Menschen“ trägt.

© Agence Global, Übersetzung: Steffen Vogel

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201703_Blätter_Buch.indb 42 15.02.17 11:29 KURZGEFASST

Michael Lüders: Der Krieg in Syrien und die blinden Flecken des Westens, S. 45-53

„Gut“ und „Böse“ scheinen im Fall Syriens klar verteilt: Das verbreche- rische Regime führt Krieg gegen das eigene Volk, und eine „gemäßigte“ Opposition stellt sich der Assad-Herrschaft in einem verzweifelten Frei- heitskampf entgegen. Doch diese dominante Erzählung des Westens vom Krieg in Syrien greift zu kurz, so der Publizist Michael Lüders. Um die Kom- plexität des Konflikts zu verstehen, reicht moralische Empörung nicht aus – an deren Stelle muss endlich die politische Analyse treten.

Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad: Der Geist des Trumpismus oder: Was Steve Bannon wirklich will, S. 55-67

US-Präsident Trump agiert vor den Kulissen, doch das Drehbuch schreibt ein anderer – sein Chefstratege Steve Bannon. Die Journalisten Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad rekonstruieren anhand von dessen O-Tönen der letzten Jahre die Vision jenes Amerikas, das dieser nun zu verwirk- lichen hofft. Gemäß Bannons Philosophie braucht Amerika im Kern drei Dinge, um erfolgreich zu sein: Kapitalismus, Nationalismus und „judäo- christliche Werte“.

Amanda Hess: Alle gegen Trump: Amerikas neue Frauenbewegung, S. 69-80

Schon immer gab es in der Frauenbewegung Brüche und Spannungen, vor allem zwischen schwarzen und weißen Frauen. Ausgerechnet Donald Trump eint nun die Bewegung, so die Journalistin Amanda Hess. Beim Women’s March im Januar führten Frauen den Widerstand gegen den US- Präsidenten an. Dank ihrer 150jährigen Erfahrung gelang es ihnen dabei sogar, die gespaltene Linke geeint auf die Straße zu bringen.

Anne Britt Arps: »Machismo tötet!« Der Aufstand der Frauen in Latein- amerika, S. 81-87

In Lateinamerika protestiert derzeit eine breite Bewegung gegen die mas- sive Gewalt an Frauen. Mindestens zwölf Frauen werden hier täglich auf- grund ihres Geschlechts ermordet. Schuld daran sind eine machistische Kultur und tiefgreifende strukturelle Diskriminierung, so „Blätter“-Re- dakteurin Anne Britt Arps. Um die Gewalt zu beenden, ist ein umfassender Wandel nötig. Die Bewegung hat das Potential, diesen voranzutreiben.

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201703_Blätter_Buch.indb 43 15.02.17 11:29 44 Kurzgefasst

Franziska Schutzbach: Jetzt erst recht: Wider die bequeme Weltunter- gangslust, S. 89-94

Trump, Syrien, Erdogan – die gegenwärtigen reaktionären Entwicklungen treiben viele in Pessimismus und Resignation. Diese Haltung ist jedoch so bequem wie falsch, kritisiert die Geschlechterforscherin und Soziologin Franziska Schutzbach. Sie plädiert dafür, handlungsfähig zu bleiben und Freiheitspotentiale nicht aus den Augen zu verlieren. Statt sich in melan- cholischer Behaglichkeit einzurichten, gelte es, demokratische Strukturen zu verteidigen – denn sie sind die Voraussetzung für Widerstand.

Steffen Vogel: National versus global. Das Dilemma der europäischen Sozialdemokratie, S. 95-102

Dank Martin Schulz erlebt die SPD derzeit einen Höhenflug. Tatsächlich aber sind die Sozialdemokraten so schwach wie lange nicht mehr, und das europaweit. Das ist nicht nur ein Ergebnis ihres neoliberalen Kurses, so „Blätter“-Redakteur Steffen Vogel, sondern verweist auch auf eine Spal- tung ihrer Anhängerschaft. Dabei stehen sich national gesinnte und global orientierte Milieus gegenüber. Daher muss die Sozialdemokratie wieder eine verbindende, europäische Erzählung entwickeln.

Lisa Paus und Chris Kühn: Das Geschäft mit der Wohnungsnot, S. 103-108

Der Immobilienhandel boomt, vor allem Großinvestoren verdienen präch- tig an Spekulation und Wohnungsnot. Doch die Entwicklung birgt erhebli- che Risiken, nämlich das Entstehen einer Immobilienblase, so die Grünen- Politiker Lisa Paus und Chris Kühn. Nur durch steuerrechtliche Reformen und die Förderung von gemeinnützigem Wohnungsbau lässt sich das Anwachsen der Blase noch abwenden und die fehlgeleitete und unsoziale Wohnungspolitik der letzten Jahre korrigieren.

Andreas Müller: Hundert Jahre Jazz: Das Revival des revolutionären Krachs, S. 109-120

Anfangs galt er als „Attentat auf die Melodie“ und „musikalischer Anar- chismus“. Das konnte die rasend schnelle Verbreitung des Jazz jedoch nicht aufhalten, resümiert der Musikwissenschaftler Andreas Müller: Vor mehr als 100 Jahren im Schmelztiegel der pulsierenden Hafenmetropole New Orleans entstanden, wird der neue, verrückte Klang bald zur alles über- strahlenden Popmusik des frühen 20. Jahrhunderts: zwischen Schellack- Platte und Transistorradio, leichter Unterhaltung und Kriegspropaganda, schwarzer Emanzipation und von Weißen beherrschtem Musikbusiness.

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201703_Blätter_Buch.indb 44 15.02.17 11:29 Der Krieg in Syrien und die blinden Flecken des Westens Von Michael Lüders

riege werden erzählt, nicht anders als Geschichten. Die jeweiligen K Erzählungen bestimmen das Bild in unseren Köpfen, unsere Sicht auf Konflikte. Wir wissen, oder wir glauben zu wissen, wer schuldig ist und wer nicht, wer die Guten sind und wer die Bösen. Im Falle Syriens ist die vor- herrschende Sichtweise in etwa diese: Das verbrecherische Assad-Regime führt Krieg gegen das eigene Volk, unterstützt von den nicht minder skrupel- losen Machthabern in Moskau und Teheran. Die syrische Opposition, gerne als „gemäßigt“ bezeichnet oder als „das“ syrische Volk schlechthin wahrge- nommen, befindet sich in einem verzweifelten Freiheitskampf, dem sich der Westen nicht verschließen kann. Andernfalls stünde seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel, würde er seine „Werte“ aufgeben, ja verraten. Längst hätten wenigstens die USA militärisch intervenieren sollen, im Namen der Freiheit! Leider greift diese Rahmenerzählung, das Narrativ hiesiger Politik wie auch der Medien, viel zu kurz. Die Verbrechen Assads sind offenkundig, die Enthüllungen von Amnesty International über massenhafte Hinrich- tungen in den Foltergefängnissen von Saydnaya sind dafür nur der jüngste Beleg.1 Doch ersetzt die moralische Anklage nicht die politische Analyse. Die Berichterstattung über Syrien erschöpft sich vielfach in der Darstellung menschlichen Leids als Ergebnis der Kriegsführung Assads und seines rus- sischen Verbündeten. Deren Verantwortung für Tod und Zerstörung ist aber nur ein Teil der Geschichte. Die übrigen, die fehlenden Teile werden meist gar nicht erst erzählt. Zum Beispiel Omran. Das Foto des kleinen Jungen wurde im August 2016 zur Ikone der Schlacht um Aleppo, genauer gesagt der Angriffe von Regie- rungstruppen auf Stellungen der „Opposition“ im Ostteil der Stadt. Es zeigt das staubbedeckte, apathische Kind, auf einem Stuhl sitzend, das Gesicht blutverschmiert. Ein furchtbares Schicksal, jeder möchte Omran in den Arm nehmen und trösten. Kaum eine Zeitung, die das Bild nicht veröffentlicht hat. Das ist der eine Teil der Geschichte, dessen emotionale Wucht kaum zu überbieten ist. Der andere Teil wird selten beleuchtet, wenn überhaupt. Der

* Der Beitrag basiert auf „Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Verlag C.H. Beck erschienen ist. 1 Syria: Human slaughterhouse: Mass hangings and extermination at Saydnaya Prison, Syria; www.amnesty.org/en/documents/mde24/5415/2017/en, 7.2.2016.

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201703_Blätter_Buch.indb 45 15.02.17 11:29 46 Michael Lüders

Fotograf heißt Mahmud Raslan. Er hatte kurz vor seiner Aufnahme Omrans ein Selfie gepostet, das ihn grinsend mit Angehörigen der Dschihadisten- miliz „Harakat Nur ad-Din as-Sanki“ zeigte. Darunter die beiden Männer, die zweifelsfrei vier Wochen zuvor den zwölfjährigen Abdallah Isa für ein Propagandavideo geköpft hatten.2 Raslan arbeitete für das „Aleppo Media Center“, das westlichen Medien in den monatelang andauernden Kämpfen um Aleppo als wichtige Informationsquelle diente. Offiziell handelt es sich dabei um ein „unabhängiges Netzwerk“ von „Bürgerjournalisten“, mit einer allerdings klar regimefeindlichen Haltung, gut vernetzt mit Dschihadisten. Finanziert wird es maßgeblich vom französischen Außenministerium, auch aus Washington, London und Brüssel erhält das „Center“ Geld.3 Dass die militärisch relevanten Gegner Assads fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, ist zumindest in politischen Kreisen durchaus bekannt, stellt aber offenbar kein Problem dar. Es hat auch keine Auswirkun- gen auf die westliche Rahmenerzählung der Ereignisse in Syrien. Die Unter- teilung der Akteure in „gut“ und „böse“ bleibt erhalten, ebenso die hiesige Selbstwahrnehmung, in diesem Konflikt auf der „richtigen“ Seite zu stehen, der des syrischen Volkes. Die naheliegende Frage, ob demzufolge gewalt- bereite Islamisten als „Volksvertreter“ anzusehen sind, stellt sich offenbar nicht. Bei aller Empathie für das Leid der Menschen in Syrien – der Krieg reicht weit über Assad hinaus. In Syrien geht es nicht um „Werte“, sondern um Interessen. Geopolitik ist dabei das Schlüsselwort. Sie erklärt, warum aus dem Aufstand eines Teils der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime in kürzester Zeit ein Stellvertreterkrieg werden konnte. Auf syrischem Boden kämpfen die USA und Russland, aber auch der Iran und Saudi-Arabien und nicht zuletzt die Türkei um Macht und Einfluss. Die Hauptakteure allerdings sind seit 2012 Washington und Moskau. Ohne die massive Einmischung von außen hätte dieser Krieg niemals die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Welt- krieg und der Teilung des indischen Subkontinents ausgelöst. Mindestens zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht, rund eine Million haben in Europa Aufnahme gefunden, die meisten davon in Deutschland. Obwohl die Flücht- lingszahlen in der Türkei und den arabischen Nachbarländern Syriens deut- lich höher liegen, haben sie doch den hiesigen Rechtspopulismus erheblich gestärkt und die gesellschaftliche Polarisierung vorangetrieben. Zum ersten Mal finden sich die Europäer, allen voran die Deutschen, inmit- ten eines Sturms wieder, für den sie mitverantwortlich sind – weil sich ihre Politiker die Sicht Washingtons zu eigen gemacht haben: Assad muss weg. Über die Folgen mochte niemand konsequent nachdenken. Dieser Oppor- tunismus fällt uns allen nunmehr auf die Füße. In Syrien haben die USA ihre

2 Vgl. Der Mann, der den kleinen Omran fotografiert hat, gerät in den Fokus, www.sueddeutsche.de, 19.8.2016. 3 Vgl. etwa www.cfi.fr, die Homepage von Canal France International. Amerikanischer Hauptsponsor ist, so scheint es, die „Syrian Expatriates Organisation“ (SEO) mit Sitz in Washington (www.syrian- expatriates.org), die seit 2012 jährlich Spenden in Höhe von 400 000 bis 500 000 Dollar akquiriert. Aus welchen Quellen gibt sie nicht bekannt, darunter wahrscheinlich Regierungsorganisationen wie USAID. Vgl. dazu Inside the Shadowy PR Firm That’s Lobbying for Regime Change in Syria, www.alternet.org, 3.10.2016.

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Politik des regime change fortgesetzt, die in den letzten Jahren auch im Irak, in Libyen und, verdeckt, im Jemen betrieben wurde und wird. Nicht zu ver- gessen Afghanistan, wo nach den Attentaten vom 11. September 2001 der „Startschuss“ fiel. Das nachfolgende Chaos blieb allerdings weitgehend auf die Region selbst beschränkt. Das hat sich mit Syrien unwiderruflich geändert. Obwohl diese Politik Washingtons eine Katastrophe nach der anderen her- vorruft, namentlich Staatszerfall, das Erstarken von dschihadistischen Mili- zen wie dem „Islamischen Staat“ und die Odyssee von Millionen Syrern, Ira- kern, Afghanen, hält sich die Kritik in Brüssel oder Berlin in engen Grenzen. Überspitzt gesagt kehren die Europäer mit der Flüchtlingskrise die Scherben einer verfehlten US-Interventionspolitik auf, bezahlen sie gutwillig den Preis für die Machtansprüche anderer. Anstatt selbstbewusst eigene Positionen zu vertreten, ziehen es hiesige Entscheidungsträger viel zu oft vor, amerikani- schen Vorstellungen zu folgen. Das zeigte sich nicht zuletzt Ende 2016 bei der Schlacht um Aleppo.

Die Schlacht um Aleppo als Exempel

Im Verlauf des Jahres 2016 gelang Assads Armee, unterstützt von der russi- schen Luftwaffe und schiitischen Milizen aus dem Libanon, Irak und Iran, nach und nach die Rückeroberung der meisten strategisch wichtigen Lan- desteile. Die befinden sich überwiegend diesseits der Nord-Süd-Verkehrs- achse von der türkischen bis an die jordanische Grenze, einschließlich der Mittelmeerküste. Die Schlacht um Aleppo, die zweitgrößte Stadt Syriens und Wirtschaftsmetropole, markiert dabei einen Höhepunkt: Im Dezember 2016 gelang es den Regimekräften, den von Aufständischen kontrollierten Ostteil der Stadt nach monatelangen Kämpfen vollständig zurückzuerobern. Damit ist der Krieg zwar beileibe nicht beendet, doch für Washington war dieser symbolisch wichtige Sieg gleichbedeutend mit einer Niederlage. Das Projekt regime change hatte sich damit erkennbar erledigt. Zu allem Überfluss hatte die laut dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama „Regionalmacht Russland“ Washington geopolitisch in die Schranken verwiesen. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, suchten die USA und ihre Verbün- deten den Preis für Assad und Putin so hoch wie möglich zu treiben. Kaum war der Kampf um Aleppo im August 2016 voll entbrannt, wies die Bericht- erstattung, von Ausnahmen abgesehen,4 in nur eine Richtung: Apocalypse

4 Sehr lesenswert ist der Artikel von Robert Fisk, What it’s really like to be in the middle of the battle for Aleppo, in: „The Independent“, 30.10.2016. Darin widerspricht er ausdrucklich der westlichen Darstellung eines syrisch-russischen „Stahlgewitters“ auf Aleppo. Nicht um die Lage zu beschöni- gen, sondern um sie als das darzustellen, was sie ist: ein schmutziger Krieg zwischen Dschihadisten und Regimesoldaten. Fisk verweist darauf, dass die dortigen Dschihadisten ihre Waffen vornehm- lich aus der Turkei bezögen. Bemerkenswert auch der Artikel Syrian Rebels Launch Offensive to Break Siege of Aleppo, in: „New York Times“, 28.10.2016. Normalerweise spiegelt die NYT in ihrer Syrien-Berichterstattung die Regierungslinie weitestgehend wider. In diesem Beitrag nun setzt sie sich ungewohnt kritisch mit der Bewaffnung syrischer Dschihadisten durch die CIA auseinander – obwohl diese eindeutig mit Al Qaida liiert seien.

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Now, unterfüttert von erschütternden Bildern. Darunter auch jenes eines apathischen kleinen Jungen, Omran. Das Gesicht blutverschmiert und ein- gestaubt, auf einem Stuhl sitzend. Eine Ikone. Entsprechend empört zeigten sich westliche Politiker bis hinauf zum damaligen UN-Generalsekretär und betrieben klare Schuldzuweisung. In den Worten etwa des seinerzeitigen US-Außenministers John Kerry: „Russ- land und die syrische Führung haben in Aleppo offenbar die Diplomatie auf- gegeben, um einen Sieg über zerfetzte Körper, ausgebombte Krankenhäu- ser und traumatisierte Kinder hinweg zu erreichen.“ Es dauerte nicht lange, bis Forderungen nach weiteren Sanktionen gegenüber Russland und Syrien erhoben wurden.

Gemeinsame Sache mit Al Qaida?

Was aber ist in Aleppo genau geschehen, jenseits des unbestreitbaren Leids der Zivilbevölkerung? Aleppo war seit 2012 zweigeteilt. Der Westteil blieb unter Kontrolle des Assad-Regimes, während der Ostteil von dschihadis- tischen Milizen erobert worden war. Im Zuge dieser und nachfolgender Kampfhandlungen wurden weite Teile der Stadt zerstört, darunter die zum Weltkulturerbe der UNESCO zählende Altstadt. Dennoch ging das Leben im Westteil mit seinen rund 800 000 verbliebenen Einwohnern mehr oder weniger „normal“ weiter, unter erschwerten Bedingungen wie Wasser- oder Stromausfall. Und natürlich war der Krieg immer präsent, in den Monaten vor der August-Offensive vor allem in Form von Autobomben, Anschlägen oder den aus dem Ostteil abgefeuerten Hellfire-Raketen. Dabei handelt es sich um Boden-Boden-Raketen, die mit Schrott gefüllt werden und beim Ein- schlag in Tausende Einzelteile zerspringen – wer von ihnen getroffen wird, ist mindestens schwer verletzt. Diese Raketen funktionieren nach demsel- ben Prinzip wie die Fassbomben, die das Regime aus Hubschraubern oder Flugzeugen auf Stellungen der Regimegegner abwirft, ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung. Der Unterschied ist, dass die Fassbomben in der medialen Darstellung sehr präsent sind, weil sie die Unmenschlichkeit des Regimes dokumentieren. Die Hellfire-Raketen hingegen sind einer brei- teren Öffentlichkeit unbekannt. Die Angaben zur Einwohnerzahl im Ostteil Aleppos vor der Rückerobe- rung schwanken beträchtlich und reichen von einigen Zehntausend bis zu 300 000. Wer ein Interesse daran hatte, das Leid der Zivilbevölkerung zu unterstreichen, setzte die Zahl möglichst hoch an. Jedenfalls lebten die Bewohner Ost-Aleppos unter der Herrschaft von Dschihadisten, deren Gruppen teilweise Phantasienamen trugen wie „Aleppo-Eroberung“ oder „Armee der Eroberer“. Von Zeit zu Zeit formierten sie sich neu, unter ande- rer Bezeichnung. Teils aus Gründen der Tarnung, teils infolge von Rivalitä- ten. Militärisch und politisch tonangebend war die Nusra-Front, der syrische Ableger von Al Qaida. Bei der Schlacht um Aleppo ging es im Kern um die Rückeroberung des Ostteils aus den Händen der Dschihadisten. Das war das

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erklärte Ziel der russischen und syrischen Angriffe. Auf diesen Zusammen- hang hinzuweisen ist deswegen wichtig, weil in der medialen Darstellung im Westen der Eindruck entstand, die ganze Stadt erlebe ihren Untergang wie einst Dresden. Indem die Berichterstattung das gesamte Aleppo im Inferno versinken sah, obwohl im Westteil über Wochen hinweg kaum gekämpft wurde, ersetzte der Fokus „menschliche Tragödie“ die politische Analyse. Andernfalls stünde für jeden denkenden Menschen die Frage im Raum: Wie kann es eigentlich sein, dass die USA mit Al Qaida gemeinsame Sache machen und kein Leitartikler, kein Minister steht auf und sagt: Nicht mit uns, Freunde? Das Apocalypse-Now-Szenario half, kritische Fragen zu vermeiden und das offizielle Narrativ, hier die „Guten“, dort die „Bösen“, aufrechtzu- erhalten. Für die Bevölkerung im Ostteil stellte sich die Lage dramatisch dar. Russi- sche und syrische Flugzeuge haben wochenlang Stellungen der Dschihadis- ten bombardiert, wobei Krankenhäuser und Schulen zerstört und Zivilisten in unbekannter Zahl, sicherlich Tausende, unter Trümmern verschüttet wur- den. Flüchten konnten die Bewohner kaum, weil sie den Dschihadisten als lebende Schutzschilde dienten. Wer es trotzdem versuchte, riskierte erschos- sen zu werden. Gleichzeitig hatten Regimetruppen den Ostteil eingekesselt, um jeden Waffennachschub zu unterbinden. Dadurch gelangten aber auch kaum noch Lebensmittel dorthin. Der UN-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, wandte sich Anfang Oktober 2016 mit einem dramatischen und für einen UN-Diplomaten höchst ungewöhnlichen Vorschlag an die Öffentlichkeit. Er warf den Nusra- Kämpfern vor, Ost-Aleppo in Geiselhaft genommen zu haben und forderte sie auf, die Stadt zu verlassen: „Es kann nicht sein, dass 1000 von euch über das Schicksal von 275 000 Zivilisten bestimmen.“ Gleichzeitig ersuchte er Mos- kau und Damaskus, die Blockade des Ostteils zu beenden. Er werde selbst dorthin reisen und die Nusra-Kämpfer persönlich aus der Stadt geleiten. Eine ebenso rührende wie hilflose Geste, nachdem ein weiteres Waf- fenstillstandsabkommen für Syrien, ausgehandelt zwischen Washington und Moskau, im September gescheitert war. Dieses Abkommen wäre sehr weitreichend gewesen, weil es beide Seiten verpflichtet hätte, beim Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat künftig eng zu kooperieren, auch militärisch. Das Pentagon allerdings lehnte eine solche Zusammenarbeit strikt ab. Am 17. September griffen US-Kampfflugzeuge zum ersten Mal überhaupt eine syrische Militärbasis an, im Osten des Landes. Der Angriff erfolgte in meh- reren Wellen und dauerte etwa vier Stunden. Am Ende waren 62 Soldaten tot und mehr als 100 verletzt. Nach offiziellen Angaben aus Washington han- delte es sich dabei um ein „Versehen“. Die Botschaft in Richtung Moskau und Damaskus hätte gleichwohl deutlicher kaum ausfallen können. Wenige Tage später wurde ein Hilfskonvoi der Vereinten Nationen und des Roten Halbmonds auf dem Weg nach Aleppo angegriffen, mehr als 20 Menschen starben. Moskau und Washington beschuldigten sich gegenseitig, für den Angriff verantwortlich zu sein.

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Wie sehr Kriege medial inszeniert werden, zeigt der weitere Verlauf der Ereignisse. Im Oktober verlagerte sich die Berichterstattung von Aleppo in Richtung Mossul, in den Norden Iraks. Das Timing war kein Zufall und verdankte sich nicht zuletzt der US-Präsidentschaftswahl. Eine Erfolgs- geschichte konnte es für die USA in Aleppo nicht mehr geben. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis die syrische Armee den Osten der Stadt zurück- erobern würde. Angeblich hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin darauf ver- ständigt, den militärischen Nachschub für die Nusra-Front in Aleppo deut- lich zu reduzieren. Im Gegenzug erhielt er seitens Russlands freie Hand, gegen die sowohl mit Moskau wie auch mit Washington verbündeten Kurden im Norden Syriens gewaltsam vorzugehen. Die Komplexität und Schnell- lebigkeit der politischen und militärischen Allianzen erklärt, warum es ein baldiges Ende des Syrienkrieges nicht geben kann. Viel zu viele Interessen von viel zu vielen Akteuren stehen hier auf dem Spiel. Im Dezember 2016 gelang der syrischen Armee und ihren Verbünde- ten die vollständige Rückeroberung von Ost-Aleppo. Um weiteres Blutver- gießen zu vermeiden, erlaubte Damaskus Tausenden Dschihadisten und Regimegegnern, unbehelligt aus den umkämpften Stadtvierteln abzuzie- hen. Dennoch erstreckte sich die Evakuierung über mehrere Tage. Zum einen weigerten sich die „Rebellen“ zunächst, die Belagerung zweier schi- itischer Dörfer unweit Aleppos, die auf Seiten des Assad-Regimes stehen, zu beenden – obwohl dies Teil des Abzugdeals gewesen war. Zum anderen beschossen die Assad-Gegner wiederholt Busse oder setzten sie in Brand, die für den Abtransport „der Kämpfer und ihrer Familien“ gedacht waren, so die beinahe fürsorgliche Wortwahl von Nachrichtensprechern der BBC am 13. Dezember. Ihrem Narrativ blieben westliche und deutsche Medien weitgehend treu. „Spiegel Online“ etwa bezeichnete die Evakuierung der Assad-Gegner als „ethnische Säuberung“. Das entspricht weder der Faktenlage noch der Logik. Der Abzug einiger tausend sunnitischer Extremisten aus einer über- wiegend von Sunniten bewohnten Stadt kann per se keine „ethnische Säu- berung“ darstellen, ganz unabhängig von der politischen Einordnung. Hätte es diesen Abzug nicht gegeben, wären die Kämpfe fortgesetzt worden, hätte derselbe Autor vermutlich den Vorwurf des „Genozids“ erhoben. Dennoch zeigte der mediale Diskurs erste Risse. Dass nicht allein das Regime, sondern auch die „Rebellen“ Dörfer belagern und auszuhungern versuchen, war vielen neu. Auch die Bilder brennender Busse verfehlten ihre Wirkung nicht. Selbst der Berliner „Tagesspiegel“, gemeinhin eine feste Burg transatlantischer Werteorientierung, titelte am 8. Januar 2017: „Die Erobe- rung Aleppos ist auch eine Befreiung.“ Der Kommentator gelangte zu der Einsicht: „Im syrischen Bürgerkrieg fällt es schwer, […] die Guten von den Bösen sauber zu trennen.“ Weise Worte, wenngleich der Krieg in Syrien mit- nichten allein ein Bürgerkrieg ist. Unmittelbar nach der Rückeroberung haben die Medien ihr Interesse an Aleppo fast vollständig verloren. Ebenfalls von der Bildfläche verschwunden

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ist das „Aleppo Media Center“ im Ostteil der Stadt, vom Westen finanziert und hochgelobt als Forum „unabhängiger Bürgerjournalisten“.

In Aleppo das Inferno, in Mossul der Freiheitskampf?

Doch zurück zu Mossul, seit Oktober 2016 der neue Schwerpunkt nahöst- licher Berichterstattung, in Nachfolge Aleppos. Warum Mossul? Die zweit- größte Stadt Iraks und wird seit Sommer 2014 vom „Islamischen Staat“ beherrscht. Auf Dauer kann der IS die Millionenmetropole nicht halten, weil er sowohl in Syrien wie auch im Irak große Teile des von ihm ausgerufenen „Kalifats“ an eine internationale Militärkoalition unter Führung der USA verloren hat. Wenn es gelingt, Mossul vom IS zu befreien, wirkt sich das, im Gegensatz zur Aleppo-Episode, positiv auf das Image des Westens aus. Ein ernstzunehmendes Problem aber bleibt. Der Kampf um Mossul dürfte Monate dauern, und die Stadt muss Straße um Straße, Viertel um Viertel erobert werden. Mit anderen Worten: Es wird viele Tote geben, und am Ende könnte Mossul größtenteils zerstört sein. Die unterschiedliche Intonierung der Berichterstattung ist kaum zu übersehen. In Aleppo das Inferno, in Mos- sul der Freiheitskampf. Zwar geht es hier wie dort um Dschihadisten, aber die einen kooperieren mit den USA, zumindest indirekt, die anderen nicht. Zivilisten sterben in beiden Städten – in Aleppo dient ihr Tod der Anklage, in Mossul wird er „eingepreist“ als notwendiges Übel. Entsprechend sehen wir jubelnde Menschen aus den vom IS befreiten Dörfern rund um Mossul, sieg- reich vorrückende irakische Soldaten, tanzende Christen, die in ihre Häuser zurückgekehrt sind. In den ersten zwei bis drei Wochen der Offensive hat die „Koalition“ fast 2500 Bomben, Raketen, Granaten und Fernlenkgeschosse in Richtung Mos- sul abgefeuert. Der Chef des Zentralkommandos der US-Streitkräfte (Cent- com), General Joseph Votel, schätzt die Zahl der dabei getöteten IS-Kämpfer auf bis zu 900.5 Zivile Opfer hat es offenbar keine gegeben, jedenfalls machte er dazu keine Angaben. In Wirklichkeit leiden erneut in erster Linie Zivi- listen, wie in allen Kriegen. Genaue Zahlen liegen nicht vor, doch allein im Oktober 2016 sollen „hunderte Zivilisten“ in Mossul ums Leben gekommen sein. Deutsche Reporter, die im November 2016 die Außenbezirke Mossuls aufgesucht haben, zitierten einen irakischen Arzt mit den Worten, in seinem Lazarett liege das Verhältnis zwischen verwundeten Zivilisten und Soldaten bei neun zu eins.6 Laut Amnesty International sollen irakische Soldaten bei ihrem Vormarsch Ende Oktober 2016 sechs Zivilisten gefoltert und erschos- sen haben, weil sie angeblich Kontakte zum IS unterhielten.7 Man könnte böswillig sagen: Was sind sechs Tote, angesichts von weit über einer Million Opfer im Irak und in Syrien seit 2003? Doch zeigt dieses Bei-

5 Vgl. „Suddeutsche Zeitung“, 29.10.2016. 6 Vgl. www.airways.org/tag/civilian-casualties, 10.1.2017, sowie Unterwegs mit einer Eliteeinheit, in: „Suddeutsche Zeitung“, 29.11.2016. 7 Vgl. etwa www.zeit.de, 10.11.2016.

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spiel, wie wenig die westliche Einteilung der Kriegsparteien in „gut“ und „böse“ besagt. Alle Akteure haben Blut an ihren Händen, kaum einer nimmt Rücksicht auf zivile Opfer. Arabische Gesellschaften, die stark von Clan- und Stammesstrukturen geprägt sind, folgen ihrerseits häufig einem klaren Freund/Feind-Schema. Man ist entweder Blutsbruder – oder aber Todfeind, wobei sich die jeweilige Zuordnung jederzeit unvermittelt ändern kann. Ent- sprechend gibt es für die jeweiligen Milizen nur Sieg oder Niederlage – Kom- promisse oder Humanität gegenüber der anderen Seite gelten als Zeichen der Schwäche. Aus Sicht des Assad-Regimes sind Gebiete, die von Aufstän- dischen kontrolliert werden, Feindesland. Zwischen Kämpfern und Einwoh- nern wird vielfach kaum unterschieden. Jeder Tote ist ein potentieller Geg- ner weniger. Derselben Logik folgen aber auch alle anderen Kriegsparteien, so dass Massaker, unterlegt von Rachegelüsten, wie selbstverständlich in die Kriegsführung einfließen. Am sichtbarsten ist dies bei den Dschihadisten. Ihnen reicht es häufig nicht, ihre Opfer lediglich umzubringen, sie legen Wert auf Inszenierung. Deswegen köpfen sie Menschen vor laufender Kamera und stellen die Bilder anschließend ins Internet. Die grausame Tat soll Macht demonstrieren und den „Stamm“ des Getöteten verhöhnen: die betreffende religiöse oder ethnische Gruppe oder auch, bei Ausländern, deren Heimat- regierungen. Um es noch einmal klar und deutlich zu sagen: Ja, das Assad-Regime ist verbrecherisch. Die Vorstellung aber, auf Seiten der „Rebellen“, die außer- halb der kurdischen Gebiete fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, wären Menschenfreunde am Werk, die nur töten, um sich gegen das Regime zu verteidigen, hat mit der Realität nichts zu tun. Jeder Syrienbericht etwa von Amnesty International oder Human Rights Watch straft solche Überzeu- gungen Lügen. Dass deutlich mehr Tote auf das Konto des Regimes gehen als auf jenes der „Rebellen“, widerspricht dem nicht. Eine Gruppierung, die vielleicht nur 1000 und nicht etwa 10 000 Menschen umgebracht hat, ist deswegen nicht „humaner“. Und wie würde eine aus Sicht des Westens „legitime“ Kriegsführung Assads aussehen? Immerhin verteidigt sich sein Regime gegen eine internationale Allianz, die völkerrechtswidrig seinen Sturz betreibt. Wer Assad auf der Anklagebank sehen will, kann das glaub- würdig nur tun, wenn gleichzeitig auch Anklage gegen die Kriegstreiber von außen erhoben wird. Und wer Assad gestürzt sehen will, sollte für sich die Frage beantwortet haben, ob er etwa die Nusra-Front lieber an der Macht sähe. Moralische Empörung reicht nicht aus, um demokratische Verhältnisse herbeizuführen. Das Denken in Stammesstrukturen zu überwinden, braucht Zeit, sehr viel Zeit. Durch Dritte kann ein solcher „mentaler Aufbruch“ nicht erzwungen werden. Sobald es zum Endkampf um Mossul kommt, werden schiitische und kurdische Milizen auf die sunnitische Stadt vorrücken, auch die türkische Armee hält sich bereit. Der Sieg über den IS könnte sich als Pyrrhussieg erweisen, denn um die künftige politische Ordnung und die Verteilung der Erdöleinkünfte im Norden Iraks dürfte ein Hauen und Stechen der verschie- denen ethnischen und religiösen Gruppen einsetzen. Human Rights Watch

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201703_Blätter_Buch.indb 52 15.02.17 11:29 Der Krieg in Syrien und die blinden Flecken des Westens 53

berichtete im November 2016, dass die Peschmerga, die nordirakische Kur- denmiliz, in gemischten Siedlungsgebieten von Kurden und Arabern in den Regierungsbezirken Kirkuk und Niniveh systematisch Araber vertrieben und deren Häuser zerstört haben. Ein Ende der Gewalt ist somit auch hier nicht in Sicht. Beide Kriegsschauplätze, Syrien und Irak, sind eng mitei- nander verbunden. Der „Islamische Staat“ hat seine Wurzeln im Irak und nutzte den Staatszerfall in Syrien, um auch dort Fuß zu fassen. Beiderseits der Grenze herrscht Anarchie, Milizen haben in weiten Landesteilen die Kont- rolle übernommen – auch das erschwert die Befriedung der Region. Kriege wie die in Syrien oder im Irak enden nicht, sie klingen nicht aus, sie kennen kein Happy End. Sie transformieren sich, durchlaufen Metamorpho- sen, nehmen immer wieder eine neue Gestalt an. Den „Islamischen Staat“ ein für alle Mal zu besiegen, hat übrigens in letzter Konsequenz niemand ein wirkliches Interesse. Er liefert den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Interventionsmächte, ist er doch der Hauptfeind, nach außen hin – und damit der willkommene Anlass für alle Mächte, um vor Ort weiter Präsenz zu zei- gen und ihre Interessen zu vertreten. Anzeige

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201703_Blätter_Buch.indb 53 15.02.17 11:29 27 Jahre »Blätter« auf einen Klick

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201703_Blätter_Buch.indb 54 15.02.17 11:29 Der Geist des Trumpismus oder: Was Steve Bannon wirklich will Von Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad

as hat Donald Trump mit Amerika vor? Seine Anhänger wissen es W nicht. Seine Partei weiß es nicht. Nicht einmal er selbst scheint es zu wissen. Doch wenn es um eine politische Vision des Trumpismus geht, ist nicht Trump derjenige, an den man sich halten sollte. Es ist vielmehr seine Graue Eminenz, Stephen K. Bannon, der Chefstratege der Trump-Adminis- tration. Bannon hat Arbeiterklasse-Wurzeln in Virginia. Ein Ausflug in die Navy und ein Diplom der Harvard Business School, gefolgt von einer Karriere bei Goldman Sachs, führten ihn in andere Gefilde. Er zog nach Los Ange- les, um für Goldman in Medien- und Unterhaltungsgeschäfte zu investie- ren, bevor er dann seine eigene, auf Medien spezialisierte Investmentbank gründete. Eine Mischung aus Glück (ein gescheiterter Deal machte ihm zum Teilhaber einer Hitshow namens Seinfeld) und der Begabung, Wut zu artiku- lieren, brachte schließlich den neuen Bannon hervor – einen aufsteigenden Stern am äußersten Rand der politischen Rechten, Autor und Regisseur einer Vielzahl immer konservativerer Dokumentarfilme. 2012 übernahm Bannon nach dem Tod ihres Gründers Andrew Breitbart eine Nachrichten-Website namens „Breitbart News“, womit sein Einfluss erheblich wuchs. In seinen Breitbart-Jahren moderierte Bannon auch eine populäre Radio-Talkshow mit Publikumszuschaltung und startete wütende Angriffe auf Mainstream-Republikaner, um stattdessen eine extreme Aus- wahl ultrakonservativer Figuren zu hofieren. Zu diesen zählte Trump als regelmäßiger Gast der Show. Es entstand ein freundschaftliches Verhältnis, und in der Folge avancierte Bannon in dem populistischen Ansturm Trumps auf das Weiße Haus zu dessen Mastermind. Sein Aufstieg kulminierte darin, dass er dort den (neben Stabschef Reince Priebus) wichtigsten Posten über- nahm. Was Bannon mit der ihm solchermaßen zugefallenen Macht anfan- gen will, steht in den Sternen. Er selbst geht letzthin auf Interview-Wünsche kaum ein. (Auch auf unsere Bitte um einen Gesprächstermin kam aus dem Weißen Haus keine Antwort.) Doch in seiner Zeit als konservativer Filme- macher und Chef von Breitbart News hat er durchaus so etwas wie eine Großtheorie darüber entwickelt, wie Amerika sein sollte. Gestützt auf den enormen Bestand Bannonscher O-Töne – aus seinen Vorträgen, Interviews,

* Der Text erschien zuerst auf dem Onlineportal „Quartz“ (qz.com). Die Übersetzung aus dem Engli- schem stammt von Karl D. Bredthauer.

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201703_Blätter_Buch.indb 55 15.02.17 11:29 56 Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad

Filmen etc. – können wir die Vision jenes Amerikas rekonstruieren, das er in der Ära Trump zu verwirklichen hofft.

Die drei Lehrsätze des Bannonismus

Bannons politische Philosophie handelt im Kern von drei Dingen, die west- liche Länder und vor allem Amerika brauchen, um erfolgreich zu sein: Kapi- talismus, Nationalismus und „judäo-christliche Werte“. Alle drei sind zutiefst miteinander verknüpft und unverzichtbar. Amerika leidet, Bannon zufolge, an einer „Krise des Kapitalismus“. (Von dem Wort „Krise“ macht er reichlich Gebrauch, doch davon später mehr.) Früher, sagte er, bedeutete Kapitalismus vor allem Maßhalten, amerikani- schen Unternehmergeist und Achtung des christlichen Nachbarn. 2014 ging Bannon bei einer Rede im Vatikan so weit zu behaupten, dieser „aufgeklärte Kapitalismus“ sei das „eigentliche Prinzip“ gewesen, das es den Vereinigten Staaten ermöglichte, sich der „Barbarei“ des 20. Jahrhunderts zu entziehen.1 Seit diesen aufgeklärten Zeiten ist es jedoch Schritt für Schritt bergab gegangen. (Daher die „Krise“.) Der Abwärtstrend setzte mit den „gegen- kulturellen“ 1960ern und 70ern ein. „Die Babyboomer sind die verderbtste, eigensüchtigste, narzisstischste Generation, die das Land jemals hervorge- bracht hat“, sagte Bannon 2011 in einem Interview.2 Ausführlicher behandelt Bannon das Thema in „Generation Zero“, einem 2010 von ihm gedrehten Dokumentarfilm, dessen Text auch von ihm stammt. In diesem Film erläutert ein Interviewpartner nach dem anderen, wie das „kapitalistische System“ von einer Generation verwöhnter junger Leute, um deren materielle Bedürfnisse sich schwer arbeitende Eltern kümmerten, langsam untergraben und schließlich zerstört worden sei. Während die Werte ihrer Eltern von den Entbehrungen der Großen Depression und des Zweiten Weltkriegs geprägt waren, hatten diese Kids nichts besseres im Sinn, als die amerikanischen Werte, ohne die der Wohlstand, den sie genossen, gar nicht entstanden wäre, über Bord zu werfen. So wurden sozialistischen Politikvor- stellungen Tür und Tor geöffnet, die dazu verleiteten, sich auf den Staat zu verlassen, und den Kapitalismus schwächten. Dieser sozialistischen Vision gelang es schließlich, sogar die höchsten Eta- gen institutioneller Macht in Amerika zu infiltrieren. „Ende der 1990er Jahre hatte die Linke es geschafft, viele Machtorgane zu übernehmen, in Politik und Verwaltung, Medien und akademischer Welt“ sagt in „Generation Zero“ Peter Schweizer, ein Autor, der mit Bannons Government Accountability Institute, einem konservativen Thinktank, verbunden ist. Und „es waren diese Orte und Positionen der Macht, die es ihnen ermöglichten, das System anzugreifen und eine Strategie umzusetzen, die bewusst darauf abzielte, das kapitalistische System letztlich zu untergraben.“ (Während Schweizer von der „Untergrabung“ des „kapitalistischen Systems“ spricht, zoomt die

1 Vgl. J. Lester Feder, This is how Steve Bannon sees the entire world, www.buzzfeed.com, 15.11.2016. 2 Vgl. Gen Y TV: Indie Filmmaker Steve Bannon talks reality, www.youtube.com, 19.9.2011.

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201703_Blätter_Buch.indb 56 15.02.17 11:29 Steve Bannon: Der Geist des Trumpismus 57

Kamera aus dem mittlerweile berüchtigten (Fehl-)Zitat der „Rules for Radi- cals“ von Saul Alinsky das Wort „Lucifer“ heran.)3 Mit alledem stützt Bannon sich auf die Philosophie Edmund Burkes, eines einflussreichen politischen Denkers des 18. Jahrhunderts, den er gelegent- lich zitiert. In seinen Betrachtungen über die Französische Revolution ver- tritt Burke die Auffassung, dass eine erfolgreiche Gesellschaft nicht auf ab- strakten Ideen über Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit oder Gleichheit basieren sollte.4 Vielmehr funktionierten Gesellschaften am besten, wenn Traditionen, die sich bewährt haben, von Generation zu Generation weiter- gegeben werden. Die Babyboomer aber, erklärt Bannon in einem Vortrag vor der Liberty Restoration Foundation (LRF), sind dieser Verantwortung im Burkeschen Sinn nicht gerecht geworden, weil sie die erprobten Werte ihrer Eltern (Nationalbewusstsein, Maßhalten, Patriarchat, Religion) zugunsten neumodischer Abstraktionen (Pluralismus, Sexualität, Egalitarismus und Säkularismus) aufgegeben haben.5 Das Versäumnis, die Fackel weiterzutragen, endet für Bannon wie für Burke in gesellschaftlichem Chaos.

Die neue liberale Ordnung

Einmal in Amt und Würden hat die neue liberal, säkular und global gesinnte Elite die Institutionen von Demokratie und Kapitalismus umfunktioniert, um ihren Zugriff auf die Macht und ihre Möglichkeiten, sich selbst zu berei- chern, abzusichern. Die „Party of Davos“ oder „Davos-Partei“, wie Bannon diese Clique seit langem nennt, hat die Institutionen des Kapitalismus defor- miert und allenthalben die Mittelschichten des Wohlstands beraubt, der ihnen zusteht. Dieses Ausbeutungsmuster gipfelte in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Wall Street machte – von gleichgesinnten glo- balen Eliten im Staatsdienst in die Lage dazu versetzt – mit Spekulationen Profit, statt in inländische Jobs und Gewerbe zu investieren. Als die dadurch erzeugte Blase schließlich platzte, bestrafte die Regierung unanständiger- weise mit ihrem Bankenrettungsgesetz hart arbeitende amerikanische Steuerzahler, Diese Dinge sind es, die Bannon – etwa in dem erwähnten LRF-Vortrag von 2011 – sagen lassen, dass es einen „Sozialismus für Superreiche“ gibt, während der Rest des Landes aus „verständigen, praktisch denkenden Mit- telschichtleuten“ besteht. Daneben gebe es einen „Sozialismus für die Ärms- ten“, fügt Bannon hinzu. „Wir haben einen Wohfahrtsstaat errichtet, der völ- lig unhaltbar ist, und jetzt stecken wir in der Krise.“ Mit diesem ganzen liberal-gesponserten „Sozialismus“ soll, geht es nach Bannon, Schluss sein. Dementsprechend feiert er die berühmte Tirade über

3 Vgl. David Emery, Saul Alinsky dedicated „Rules for Radicals“ to Lucifer, www.snopes.com, 20.7.2016. 4 Vgl. Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, Frankfurt a. M. 1967 (1790), S. 28-63. 5 Vgl. Steve Bannon lays out his amazing political philosophy, www.youtube.com, 18.11.2016.

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„die, die das Wasser tragen, und die, die es trinken“, mit der Rick Santelli von der CNBC 2009 den Startschuss für das abgab, was sich dann zur Tea Party entwickelte, einer populistischen Bewegung, die auf Steuersenkun- gen, fiskalische Knauserei und engherzige Auslegung verfassungsmäßiger Rechte pocht. Im Fahrwasser der Tea Party und deren Ton noch verschärfend beschuldigt Bannon Republikaner wie Demokraten, sich auf Kosten der Mit- telschichtfamilien in Vetternwirtschaft und Korruption zu ergehen. „Wir glauben nicht wirklich, dass es in diesem Lande eine funktionsfähige konservative Partei gibt, und ganz gewiss halten wir die Republikaner nicht für diese Partei“, erklärt Bannon 2013 bei einem Panel zur Erläuterung der „Breitbart“-Weltsicht.6 „Wir neigen dazu, diese imperiale Stadt Washington, diese Boomtown, so zu sehen, dass es dort zwei Gruppen oder zwei Parteien gibt, die die Kommerzpartei der Insider repräsentieren, und das bedeutet eine Kollektion von Insider-Deals, Insider-Transaktionen und eine blühende Aristokratie, die daraus die reichste Stadt im Lande gemacht hat.“ Im Bannonismus ist es, kurz gesagt, die Krise des Kapitalismus, die zu Sozialismus geführt hat und dazu, dass die Mittelschicht leidet. Und sie beraubt die heutige Generation der Möglichkeit, ihren Nachfolgern eine bes- sere Zukunft zu vermachen, also im Sinne Burkes ihre Pflicht zu erfüllen.

Judäo-christliche Werte

Worin genau aber bestehen nun diese Traditionen, die Amerikaner an künf- tige Generationen weitergeben sollen? Außer von der „Kapitalismuskrise“ spricht Bannon besonders gern von den „judäo-christlichen Werten“. Sie sind das zweite Element seiner Amerika-Theorie. In „Generation Zero“, Bannons Dokumentarfilm aus dem Jahre 2010, ist viel von „amerikanischen Werten“ die Rede und vieles entspricht weitge- hend den Idealen der Tea Party. Aber seit 2013 oder 2014 tritt, wenn Ban- non von den amerikanischen Werten spricht, zunehmend eine stark religiöse Komponente hinzu. Ob Amerika – und die westliche Zivilisation ganz allge- mein – funktioniert und Erfolg hat, hängt vom Kapitalismus ab. Dieser wiede- rum ist vom Vorhandensein „jüdisch-christlicher Werte“ abhängig. In Bannons Augen hat der Kapitalismus nicht allein dafür gesorgt, dass die Vereinigten Staaten aus dem Krieg erfolgreich hervorgingen; er hat in der Folge auch die Wiederherstellung Europas und die Pax Americana bewirkt, wie er 2014 in seiner Rede auf der vatikanischen Konferenz ausführt. Aber Kapitalismus allein genügt nicht. Losgelöst aus dem Rahmenwerk der judäo- christlichen Werte kann der Kapitalismus – wie der wirtschaftliche Nieder- gang der Vereinigten Staaten zeigt – schädlich und ungerecht sein. Um Amerikas Wirtschaft gesunden zu lassen und ihr zerrissenes Sozialge- webe zu flicken möchte Bannon, dass der Kapitalismus wieder in den judäo- christlichen Werten verankert wird, die, wie er glaubt, das Land in seiner

6 Vgl. Judical Watch explains Steve Bannon! Warren hysterical rant! Bannon prophetic speech! He’s awake, www.youtube.com, 17.11.2016.

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Geschichte stets groß gemacht haben. Diese gemeinschaftliche Moralität sorgt dafür, dass Unternehmen nicht nur aus Eigennutz investieren, sondern zugleich für das Wohl der eingeborenen Arbeiter und künftiger Generationen. Wie bei Burke erwachsen Menschenrechte und Zivilgesellschaft nicht aus irgendwelchen Abstraktionen, sondern aus Tradition. Für Bannon ist diese Tradition gleichbedeutend mit Gott. Nationalstaaten, die das Volk zum Schiedsrichter über Wahrheit und Gerechtigkeit machen, führen letztlich in die Tyrannei. Das „entscheidende Gegengewicht gegen die Macht des Staates sind Gottes Gebote“, sagt Phil Robertson von der TV-Serie „Duck Dynasty“ in „Torchbearer“ (Fackelträger), einem Dokumentarfilm aus dem Jahre 2016 mit Bannon als Koautor des Drehbuchs, Regisseur und Produzent. Der Film ist gespickt mit ähnlichen Robertson-Aphorismen darüber, wie eine Gesellschaft ohne religiöse Grundlagen zerfällt. Bemerkenswerter Weise scheinen die „judäo-christlichen Werte“ es nicht notwendigerweise zu verlangen, dass alle Bürger überzeugte Christen sind. Offenbar geht es Bannon nicht darum, die in der amerikanischen Verfas- sung verankerte Trennung von Kirche und Staat oder die Religionsfreiheit abzuschaffen. Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um Traditionen, die Amerika in der Vergangenheit erfolgreich gemacht haben. Seiner Über- zeugung nach haben die Gründerväter die Nation auf einen Wertekanon gegründet, der der judäo-christlichen Tradition entstammt. Um sicherzustellen, dass das ganze Land mit diesen Werten überein- stimmt, muss es den Zustrom von Leuten, die sie nicht teilen, stoppen oder zumindest einschränken. Das Mittel hierzu ist Nationalismus. Und diese letzte Zutat – der Primat der nationalstaatlichen Werte und Traditionen – ist es, die Amerika befähigt, einen Pfahl ins Herz des globalen, säkularen „Esta- blishments“ zu treiben.

Nationalismus wider die pluralistische Gesellschaft

Nicht nur, dass die globalen Eliten sich selbst bereichern und die Armen in Abhängigkeit von staatlichen Sozialleistungen treiben – sie verlocken auch Immigranten dazu, die Vereinigten Staaten zu überfluten, so dass dort die Löhne in den Keller gehen. Eingewanderte Arbeitskräfte steigern die Unter- nehmensprofite der Globalisten und ihrer Spießgesellen, während diese es einheimischen Mittelschichtlern überlassen, Ausländer auszubilden, zu ernähren und für sie zu sorgen. Die atheistische, pluralistische Gesellschafts- ordnung, die man ins Kraut hat schießen lassen, verabscheut Nationalbe- wusstsein und Patriotismus. Diese gelten ihr als intolerant und bigott. Ohne den moralischen Kompass unserer Vorfahren ist das System dermaßen in Relativismus abgetrieben, das es die „Rechte“ von Versagern, die die Polizei hassen, kriminellen Ausländern und potentiellen Terroristen über diejeni- gen gewöhnlicher Amerikaner stellt. So verwandeln Städte sich in Brutstät- ten der Gewalt, und die nationale Sicherheit wird untergraben. In „Border War: The Battle over Illegal Immigration“, einem anderen Dokumentarfilm

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Bannons, erklärt ein Gesprächspartner: „Die Rechte betrachtet [illegale Ein- wanderer] als billige Arbeitskräfte, die Linke als Stimmvieh.“7 Die Europäische Union – ins Finanzchaos versunken und fast ohne Wirt- schaftswachstum – versinnbildlicht das katastrophale Schicksal eines glo- balistischen Systems, dessen Eliten den Bürgern, die sie wählten, nicht ver- antwortlich sind. „Die Leute sehnen sich, besonders in bestimmten Ländern, nach Souveränität für ihr Land, nach nationaler Selbstbestimmung für ihr Land“ sagt Bannon in der Vatikan-Rede. „Sie glauben nicht an diese Art von Pan-Europäischer Union“ oder an die zentralisierte Staatsmacht in den Ver- einigten Staaten.“ Nationalismus ist also das Instrument, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sich die judäo-christlichen Traditionen und Werte zueigen macht. Das ist so, weil Nationalismus insofern rundum inklusiv ist, als er Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund einlädt, sich auf der Grundlage eines gemeinsamen „amerikanischen“ Selbstverständnisses zu vereinen. Er löst Minoritätsidentitäten auf und betont die – positiv verstandene – „Farben- blindheit“ der Devise „all lives matter“, während er „affirmative action“ ablehnt. Dieser gemeinschaftliche judäo-christliche und nationalistische Wertekanon hält Minderheiten davon ab, Sonderrechte für sich zu fordern. So macht einerseits „Generation Zero“ „schwarze Viktimisierung“ für den Zusammenbruch des US-Wohnungsmarkts (2007) verantwortlich: Die (Selbst-)Stilisierung der Schwarzen als Opfer habe den Kapitalismus unter- graben und die Tendenz gefördert, sich von staatlichen Leistungen abhängig zu machen. Andererseits feiert der Film „Torchbearer“ Martin Luther King Jr. als beispielhaften Vertreter der amerikanischen Moral, weil sein Men- schenrechtsverständnis im Christentum wurzelte. Die penetrante Betonung von Pluralismus und Minderheitenrechten durch die (links-)liberale Elite – sowie die finanzielle und politische Förderung, die sie von dieser Seite erfahren – hemmt das Gemeinschaftsempfinden der Ame- rican-ness. Die damit verbundene Erosion des judäo-christlichen Nationalis- mus schwächt das Land. Die „Lackaffen, die Investmentbanker, die Typen von der EU“ erklärte Bannon 2016 auf einer Versammlung der Tea Party in South Carolina, „sind dieselben Burschen, die den vollständigen Zusam- menbruch des judäo-christlichen Westens in Europa zugelassen haben.“8 Menschen, die diese Gemeinschaftswerte nicht unterschreiben, sollten den Vereinigten Staaten nicht willkommen sein. Das ist die Logik, auf der Bannons Ablehnung von Immigranten basiert, deren Mangel an demokra- tischer „DNA“ seiner Überzeugung nach der Gesellschaft schaden wird. „Diese Leute sind keine Demokraten im Sinne Jeffersons“ sagte Bannon, einem „USA Today“-Bericht zufolge, letztes Jahr über Migranten, die aus mehrheitlich muslimischen Ländern nach Europa streben.9 „Da kommen Leute, die nicht Tausende von Jahren Demokratie in ihrer DNA haben.“ Mit

7 Vgl. Trailer for Border War. The battle over illegal immigration, www.youtube.com, 23.2.2007. 8 Vgl. Steven K. Bannon opening remarks, www.youtube.com, 28.1.2016. 9 Vgl. Steve Reilly und Brad Heath, Steve bannon’s own wordssharp break on security issues, www. usatoday.com, 31.1.2017.

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dieser Argumentation ließe sich auch die Schließung der Grenzen für Ein- wanderer aus Lateinamerika rechtfertigen, ungeachtet der Tatsache, dass diese normalerweise fromme Katholiken sind.10

Eine Generationentheorie

Bei der Krise des Kapitalismus und der Untergrabung des judäo-christlichen Westens, die Bannon in seinem Vatikan-Vortrag beklagt, handelt es sich um keinen einmaligen Vorgang. Seiner Auffassung nach ist sie der aktuelle Aus- druck eines sich wiederholenden Krisenzyklus. Diese Krisen treten perio- disch auf und jede von ihnen kulminiert unweigerlich in Kriegen und Groß- konflikten. „Dies ist die vierte Großkrise der amerikanischen Geschichte“, sagt Bannon in seiner LRF-Rede. „Wir hatten die Revolution, wir hatten den Bürgerkrieg, wir hatten die Große Depression und den Zweiten Weltkrieg. Dies ist die großartige Vierte Wende der amerikanischen Geschichte.“ Was er da sagt, stützt sich auf die Arbeit von Neil Howe und William Strauss, zwei Amateurhistorikern, die in den 1990er Jahren eine „Generatio- nentheorie“ der amerikanischen Geschichte vorgelegt haben. Diese fasst die Geschichte des Landes als eine Abfolge sich wiederholender Zyklen auf, die jeweils rund 80 Jahre – also etwa ein Menschenleben lang – dauern. Jeder dieser 80-Jahre-Zyklen verzeichnet vier als „turnings“ bezeichnete Wen- dezeiten – ungefähr 20 Jahre umfassende Perioden, die jede ihren eigenen Modus aufweist: ihr „Hoch“ („high“), ihr „Erwachen“ („awakening“), ihre „Auflösung“ („unraveling“) und schlussendlich ihre „Krise“. Die Theorie ist zu vage, als dass sie sich widerlegen ließe, und kaum ein professioneller Historiker nimmt sie ernst. Doch vordergründig vermag sie zu überzeugen, weil sie auf ihre Weise den Verlauf nachzeichnet, den Ameri- kas Geschichte von seiner Gründung an genommen hat. Dass die Generationentheorie gut zu Bannons Ansicht passt, wonach die allmähliche Erosion der judäo-christlichen Werte dem Lande schadet, liegt auf der Hand. Der jüngste Zyklus ging Howe und Strauss zufolge vom „Hoch“ der Nachkriegsära aus – einer Zeit, die Bannon besonders schätzt – und führte dann zum „Erwachen“ im Aktivismus der 1960er Jahre, gefolgt von der „Auf- lösung“ von Institutionen und Gemeinschaftswerten infolge des Individualis- mus, den das „Erwachen“ freigesetzt hatte. Damit sind wir bei der gegenwär- tigen Krise, der großen „Vierten Wende“ nach Revolution, Bürgerkrieg und Großer Depression alias Weltwirtschaftskrise/Zweitem Weltkrieg. „Wenden“ oder „Wendezeiten“ spielen in Generation Zero eine große Rolle. „Wenden sind wie Jahreszeiten – jede Wende ist notwendig“, sagt der Historiker David Kaiser in diesem Film, während im Hintergrund Archivma- terial abläuft, stock footage mit tickenden Uhren, aufgehenden Sonnen und schlüpfenden Schmetterlingen. „Städte werden gegründet, Städte verfallen. Staaten steigen auf, Staaten gehen unter“, fährt Kaiser fort.

10 Vgl. James Bell und Neha Sahgal, Religion in Latin America. Widespread change in a historically catholic religion, www.pewforum.org, 13.11.2014.

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Worin genau besteht nun die gegenwärtige Krise? Bannons Vorstellungen darüber haben sich mit der Zeit gewandelt. 2010 scheint er sie als Ergebnis der in den 2000ern aufgehäuften Schulden und der Finanzkrise von 2008 betrachtet zu haben.

Wie die Krise überwunden werden soll: Konflikt großen Stils

„Diese auf allen Ebenen unserer Gesellschaft akkumulierte Verschuldung bedroht Amerika unmittelbar und existenziell“, heißt es in einer 2010 in New York City gehaltenen Rede.11 „Diesmal haben wir es anders als im Fall der konstruierten Krisen der Erderwärmung und des Gesundheitswesens mit einer echten Krise zu tun. Diese Krise gefährdet nicht weniger als die Souve- ränität unseres Landes.“ Auch in seinem LRF-Vortrag von 2011, in dem Bannon erklärt, die Ver- einigten Staaten befänden sich in der „vierten großen Krise der amerikani- schen Geschichte“, scheint er weiterhin davon auszugehen, dass diese im wesentlichen in der Weltfinanzkrise von 2008 ff. besteht. Doch inzwischen geht es offenbar um mehr. Wenn er die gegenwärtige Krise mit dem Revolutionskrieg und dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, erweckt Bannon den Eindruck, er glaube, dass die Vereinigten Staaten unvermeidlich auf eine bewaffnete Auseinandersetzung zusteuern. Andere Äußerungen von und über Bannon stützen diese Interpretation. David Kaiser, der in „Generation Zero“ interviewte Historiker, der eben- falls die Theorie von Strauss und Howe verficht, berichtete kürzlich im „Time“-Magazin erneut über seine Unterhaltung mit Bannon und ging dabei auch auf dessen militaristische Interpretation der genannten Theorie ein: „Eine zweite, beunruhigendere Implikation [seiner Interpretation] wurde in dem Film nicht visualisiert. Doch Bannon hatte offensichtlich sowohl über das innenpolitische Potential als auch über die außenpolitischen Implikatio- nen von Strauss und Howe lange nachgedacht. Mehr als einmal wies er in unserem Gespräch darauf hin, dass jede der drei früheren Krisen mit einem großen Krieg einhergegangen war und dass die Größenordnung dieser Kon- flikte von der amerikanischen Revolution über den Bürgerkrieg bis hin zum Zweiten Weltkrieg deutlich zugenommen hatte. Er ging davon aus, dass es im Rahmen der gegenwärtigen Krise zu einem neuen, noch größeren Krieg kom- men werde, und diese Aussicht schien ihn durchaus nicht zu alarmieren.“12 Verweilen wir für einen Moment bei der Logik dieser Generationentheo- rie: Wenn es zu einem „Hoch“ nur im Gefolge einer „Krise“ kommt, und wenn eine „Krise“ notwendigerweise auf einen – jedesmal größeren – Krieg hinausläuft, steht Bannon vor der Aufgabe, einen gewaltigen, existenziellen Feind zu finden. Ist die „Party of Davos“ für diese Rolle hinreichend qualifi- ziert? Oder gegen wen könnte dieser Krieg sonst noch geführt werden?

11 Vgl. Steven K. Bannon at Tea party, New York City 2010, www.youtube.com, 17.4.2010. 12 Vgl. David Kaiser, Donald Trump, Steve Bannon an the coming crisis in american nationale life, www.time.com, 18.11.2016.

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In seinem Vatikan-Vortrag von 2014 wird Bannon deutlicher: „Ich denke, wir befinden uns in einer Krise der Fundamente des Kapitalismus“, sagt er da, und dass er glaube, obendrein stünden wir „im Anfangsstadium eines Welt- krieges gegen den islamischen Faschismus“. Dieser „könne ein bisschen militanter ausfallen als andere“, fährt Bannon fort: „Ich glaube, Sie sollten eine sehr, sehr kämpferische Position gegen den radikalen Islam beziehen [...]. Machen Sie die Augen auf und Sie werden sehen, dass wir uns in einem Krieg von ungeheueren Ausmaßen befinden.“

Bannons »Weltkrieg gegen den islamischen Faschismus«

Der vierte große Krieg der Kulturen – ein „globaler Existenzkampf“, wie Ban- non ihn im Juli 2016 nennt13 – konfrontiert den „judäo-christlichen Westen“ mit dem „islamischen Faschismus“ – speziell mit dem IS alias ISIS. Aber die Bedrohung geht nicht allein vom IS aus. Bannons Formulierungen und seine Beziehungen zu antimuslimischen Aktivisten wie Pamela Geller und Robert Spencer erwecken den Eindruck, dass sehr wohl der Islam ganz allgemein als der Feind identifiziert werden könnte. Wie „Breitbart“ 2014 vermerkt, vertritt der „hochgebildete Bannon“ die Auffassung, dass der „Krieg“ des Islam gegen die Christenheit seinen Ursprung „geradezu in der Gründung [des Islam]“ habe.14 Er pflichte der These bei, in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs sei der Islam als Bedrohung Europas eine „wesentlich finsterere“ Kraft als der Faschismus gewesen.15 Zu den Vorstellungen, die Bannon in diesem Zusammenhang vertreten hat, zählen: die Qualifizierung einer amerikanischen Nonprofit- Initiative zur Förderung eines vorteilhaften Images von Muslimen als terro- ristische Frontorganisation; die Behauptung, hinter dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon von 2013 habe die Islamic Society der Stadt gestan- den; und die Unterstellung, Amerikas Muslime versuchten die US-Verfas- sung durch die Scharia zu ersetzen.16 Da der Islam seine Wurzeln in antichristlicher Gewalt hat – so Bannons Logik –, besteht die einzige Möglichkeit dafür zu sorgen, dass Muslime in Amerika keine terroristische Bedrohung darstellen, darin sicherzustel- len, dass diese die US-Verfassung als allein verbindliche Rechtsordnung anerkennen und die judäo-christlichen Werte akzeptieren. Nicht alles in Bannons Denken passt zusammen – manches erscheint zwar auf den ersten Blick folgerichtig, bleibt aber vage oder ohne erkennbaren Stellenwert in irgendeiner größeren Vision. Da ist beispielsweise eine Feststellung wie „Finsternis ist gut“, mit der er Michael Wolff vom „Hollywood Reporter“ verblüffte.17 „Dick Cheney. Darth

13 Vgl. Breitbart Bews Daily – Frank Gaffney, www.soundcloud.com, 29.6.2016. 14 Vgl. Robert Wilde, Professor: 75% Of Religious Killings Are Muslims killing Muslims, 21.4.2014. 15 Vgl. Breitbart News Daily – Dr. Thomas D. Williams, www.soundcloud.com, 6.6.2016. 16 Vgl. Josh Harkinson, Trump Campaign CEO Was a Big Promoter of Anti-Muslim Extremists, 15.9.2016. 17 Vgl. Michael Wolff, Ringside With Steve Bannon at Trump Tower as the President – Elect’s Strategist Plots „An Entirely New Political Movement“ (Exclusive), www.hollywoodreporter.com, 18.11.2016.

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Vader. Satan. Das ist Macht“, fuhr Bannon fort. Oder der Bericht des „Daily Beast“, demzufolge Bannon sich selbst als „Leninist“ sieht, der „alles kra- chend zum Einsturz bringen und das heutige Establishment vollständig ver- nichten“ will.18 Die ständige Beschwörung der „judäo-christlichen Werte“ sollte uns eigentlich annehmen lassen, dass Bannon kein Teufelsanbeter ist. Sein Ausspruch „Finsternis ist gut“ scheint nahezulegen, dass es gut ist, als „finster“ wahrgenommen zu werden. Das Zitat des „Hollywood Reporter“ geht dann folgendermaßen weiter: „Wenn [liberals und die Medien] nichts verstehen, nützt uns das nur. Wenn sie blind sind und nicht erkennen, wer wir sind und was wir tun.“ Vielleicht fällt es ihm leichter, seine aufgeklärt kapitalistische Utopie zu entwerfen, wenn man ihn als eine Darth Vader- ähnliche Figur wahrnimmt? Na denn ... Was seinen „Leninismus“ betrifft, so passt der ganz gut zu dem, was wir bislang über Bannon wissen:19 Der konservative Burke selbst fand, dass es gerechtfertigt sei, Führungsfiguren zu stürzen, wenn die Widerherstellung der alten Werte dies erfordere. Bannons Gefallen daran, sich als „finstere“ Oppositionskraft darzustellen, verträgt sich wiederum gut mit seinem glühenden Hass auf das „Establish- ment“. Besonders in seinen Tiraden gegen die Medien ergeht er sich darin, Journalisten der Arroganz, der Hochnäsigkeit und der Naivität zu bezichtigen. Anfang November lobte er seine Anrufer und Website-Besucher – die seien clever und hätten den Durchblick –, während er über einen „blasierten, fei- xenden“ Reporter der „New York Times“ schäumte, der da meinte, die Teil- nehmer einer Trump-Kundgebung in Mississippi wüssten nicht einmal, wer Nigel Farage sei, der führende Rechtspopulist Großbritanniens.20 „120 Pro- zent der Leute“ auf dieser Kundgebung, sagte Bannon, kannten Farage, der schließlich „eine Art Kultfigur in dieser weltweiten Populistenbewegung“ sei. Kürzlich ging er gegenüber der „New York Times“ so weit zu sagen, die „Medien sollten betroffen und beschämt sein, einfach den Mund halten und erst mal eine Weile zuhören“. „Ich möchte, dass Sie folgendes zitieren“, fügte er hinzu: „Die hiesigen Medien sind die Oppositionspartei. Sie verstehen dieses Land nicht. Sie begreifen immer noch nicht, warum Donald Trump der Präsident der Vereinigten Staaten ist.“21 Sein Hass auf die Eliten scheint teilweise in seinen Erfahrungen als einer, der in Elitekreisen lebt und arbeitet, zu wurzeln. Zwar rühmt er sich häufig seiner Karrierestationen Harvard und Goldman Sachs, aber wenn er von die- sen Zeiten spricht, spricht er als „Außenseiter“. Diesen Ausdruck wählte er früher oft zur Charakterisierung der populistischen Bewegung, die er ver- trat – als ein Mann, der unter den Privilegierten verkehrt und den gewöhn- lichen Mittelschicht-Amerikanern deshalb die Augen darüber öffnen kann,

18 Vgl. Ronald Radosh, Steve Bannon, Trump’s Top Guy, Told Me He Was a Leninist’ Who wants to destroy the world, www.thedailybeast.com, 22.8.2016. 19 Vgl. Anastasia Edel, Want to understand what Trump and Bannon are up to? Look to the Russian Revolution of 1917, www.qz.com, 31.1.2017. 20 Vgl. Breitbart Bews Daily – Steven K. Bannon, www.soundcloud.com, 2.11.2016. 21 Vgl. Michael M. Grynbaum, Trump Strategist Steven Bannon Says Media Should ‚Keep Its Mouth Shut’, www.nytimes.com, 26.1.2017.

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wie ruchlos es dort zugeht. In seinem Vatikan-Vortrag sagt er 2014 beispiels- weise: „Als ich bei Goldman Sachs arbeitete, sah ich es selbst: In New York gibt es Leute, die sich ihresgleichen in London und in Berlin näher fühlen als den Menschen in Kansas und in Colorado, und sie haben mehr von dieser Elite-Mentalität an sich, die jedermann diktieren will, wie die Welt zu funk- tionieren hat. Aber ich sage Ihnen, dass die arbeitenden Männer und Frauen Europas und Asiens und der Vereinigten Staaten und Lateinamerikas ihnen das nicht abnehmen. Sie sind überzeugt, selber am besten zu wissen, wie sie ihr Leben leben sollen.“ Die Rolle des kosmischen Rächers, die Bannon für sich zu beanspruchen scheint, wenn er sich als Stimme der „vergessenen“ Mittelschichten stilisiert, deutet allerdings auf eine tiefer sitzende Lust am Konflikt hin. Dass Krieg- führung und Gewalt ihn faszinieren, wird spürbar, wenn er immer wieder auf die ruhmreiche Landung in der Normandie 1944 oder beispielsweise dar- auf zu sprechen kommt, wie er sich als „Breitbart“-Geschäftsführer beurlau- ben ließ, um einen Nachruf auf Nguyen Giap zu schreiben. Den Befreiungs- kampf, an dessen Spitze dieser vietnamesische General stand, rühmt Bannon als „einen der blutigsten und von allen Beteiligten am härtesten geführten“ Kriege.22 Besonders die Ästhetik seiner Filme kann ekelerregend gewalt- sam sein. „Torchbearer“ badet geradezu in Blut. (Es gibt mindestens sechs Guillotinierungsszenen, bedrückende Archivbilder von Opfern radioaktiver Verstrahlung, von Nazi-Gaskammern und Leichenbergen sowie diverse IS- Gräueltaten.)

Was all dies für die Trump-Präsidentschaft bedeutet

Schon bevor er im August 2016 die Leitung der Trump-Kampagne übernahm, prägten Bannons Vorstellungen deren Rhetorik. Sollte es noch Unklarheiten darüber gegeben haben, welche Rolle seine Ansichten in Trumps Regierung spielen würden, so haben die letzten Wochen sie beseitigt: Dieser Präsi- dent agiert vor den Kulissen der Bannonschen Weltbühne und nach dessen Drehbuch. Trumps Antrittsrede war im Grunde die Teleprompter-Version einer Ban- nonschen Schimpfkanonade.23 Während „Inauguraladressen“ normaler- weise vor zukunftsfreudigem Optimismus knistern, war die Trumpsche überladen mit Anti-Eliten-Ressentiments. Sie bot eine bannonistische Vision, in der „unserer Mittelschicht der Wohlstand entrissen und über die ganze Welt verteilt“ wurde.24 Auch die „vergessenen Männer und Frauen unseres Landes“ – ein Stereotyp, das Trump selbst geprägt haben will, das aber aus „Generation Zero“ stammt – hatten ihren Auftritt.

22 Vgl. Steven K. Bannon, The ‚Red’ Napoleon: General Giap, Combatant Against French and Ameri- cans in Vietnam, Dead at 102, www.breitbart.com, 5.10.2013. 23 Vgl. Aaron Blake, Donald Trump’s full inauguration speech transcript, annotated, www.washington- post.com, 20.1.2016. 24 Vgl. Steve Rose, The Forgotten Man: a fitting oil paiting for Trump’s America, www.theguardian.com, 17.11.2016.

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201703_Blätter_Buch.indb 65 15.02.17 11:29 66 Gwynn Guilford und Nikhil Sonnad

Trump überschüttete das „Establishment“ mit Vorwürfen: Es bewahre sich selbst, nicht aber die Bürger Amerikas vor dem finanziellen Ruin. Und „wäh- rend sie in unserer Hauptstadt feierten, gab es für die Familien, die überall in unserem Lande um ihre Existenz ringen, wenig Grund zur Freude“, fuhr Trump fort. „Wir haben andere Länder reich gemacht, während der Wohl- stand, die Kraft und Zuversicht unseres Landes hinter dem Horizont ver- schwanden.“ „America first“ – das ist Bannons Wirtschaftsnationalismus, in einem Slogan auf den Punkt gebracht. Und wenn Trump schwört, er werde „die zivilisierte Welt gegen den radikalislamischen Terrorismus vereinen, den wir vom Antlitz der Erde tilgen werden“, ist das eine abgeschwächte Version des Kampfes, den der Westen laut Bannon gegen die „islamischen Faschisten“ zu führen hat. Doch das ist nicht alles. Trump-Aussprüche wie die Bibel „lehrt uns, wie gut und erquicklich es ist, wenn Gottes Volk in Ein- tracht zusammenlebt“, „am allerwichtigsten aber [ist], dass Gott uns schützen wird“, und die Kinder von Detroit und Nebraska sind gleichermaßen „vom Lebenshauch ein und desselben Schöpfers erfüllt“, mögen ein wenig bizarr klingen, wenn sie aus dem Munde eines nicht sonderlich frommen Mannes kommen. Im Kontext des Bannonschen Beharrens (im „Torchbearer“) darauf, dass eine Gesellschaft ohne Gott auseinanderbricht, tun sie das nicht. Wenige Tage nach Trumps Amtsantritt setzte der schwindelerregende Ausstoß präsidialer Dekrete ein – formuliert von Bannon und Stephen Miller, einem Politikberater im Weißen Haus.25 Viele von ihnen enthalten „presse- erklärungsartige Abschnitte mit extravaganten Absichtserklärungen, wie man sie in Präsidentendekreten normalerweise nicht findet“26, erklärt Andrew Rudalevige, Professor für Staatskunde am Bowdoin College. Ban- nons Islambild dürfte das Dekret zum „Schutz der Nation vor der Einreise ausländischer Terroristen in die Vereinigten Staaten“ inspiriert haben.27 Es erinnert an jenen Satz über Immigranten, die keine „Demokraten im Sinne Jeffersons“ seien, wenn dieses Dokument jedem, der einreisen will, selbst Touristen, Treue zu Amerikas „Gründungsprinzipien“ und zur US-Ver- fassung abverlangt. In einem TV-Interview mit dem Christian Broadcas- ting Network hat Trump zudem erklärt, er wolle christlichen Flüchtlingen Vorrang vor muslimischen geben.28 Bisher hätten die Behörden christliche Flüchtlinge muslimischen gegenüber benachteiligt29 (eine Behauptung, für die es keine Beweise gibt.)30 Kritiker argumentieren (ziemlich überzeugend), Trumps Einreisebann drohe, dem IS in die Hände zu spielen, der ja mit der Behauptung Mitglieder rekrutiert, die Vereinigten Staaten führten den Wes- ten in einen Krieg gegen alles Islamische.31

25 Vgl. Abigail Tracy, Steven Bannons Quiet Power Grab, www.vanityfair.com, 29.1.2017. 26 Vgl. Andrew Rudalevige, Most of Trump’s executive orders aren’t actually executive orders. Here’s why that matters, www.washingtonpost.com, 30.1.2017. 27 Vgl. Donald J. Trump, Executive Order: Protecting The Nation From Foreign Terrorist Entry Into The United States, www.whitehouse.gov, 27.1.2017. 28 Vgl. Dan Merica, Trump signs executive order to keep out ‚radical islamistic terrorists’, www.cnn.com, 30.1.2017 29 Vgl. Daniel Burke, Trump says US will prioritize Christian refugees, www.cnn.com, 30.1.2017. 30 Vgl. Max Greenwood, Immigration ban includes green card holders: DHS, www.thehill.com, 28.1.2017. 31 Vgl. Jennifer Williams, Trump’s „Muslim Ban“ is a huge gift to ISIS, www.vox.com, 29.1.2017.

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201703_Blätter_Buch.indb 66 15.02.17 11:29 Steve Bannon: Der Geist des Trumpismus 67

Ein anderes Schwerpunktthema der neuen Administration – die angeblich drohende Überflutung der Südgrenze durch Mexikaner – spielt ebenfalls in Bannons Schreckbild eines rundum belagerten Amerika seine Rolle. In Trumps Dekret heißt es, dass „viele“ unbefugte Immigranten „eine wesent- liche Bedrohung der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung“ darstellen.32 Dabei sagen Kriminologen und Immigrationsexperten, die Beweislage spreche dafür, dass die Kriminalitätsrate der Einwanderer im allgemeinen niedriger sei als die der im Lande Geborenen.33 „Sanctuary“- Städte – also solche, die bei staatlichen Abschiebungsmaßnahmen freiwillig nur mitwirken, wenn es um illegale Einwanderer geht, die wegen Gewalt- akten oder schweren Verbrechen verurteilt sind – werden ebenfalls mit ban- nonistischen Verdikten belegt: „unermesslichen Schaden“ hätten sie „dem amerikanischen Volk und dem Grundgewebe unserer Republik“ zugefügt. Anders gesagt: Sie teilen Amerikas Werte nicht! Wenden wir uns abschließend Trumps Aufkündigung der Trans-Pacific Partnership (TPP) zu, jenes von den multilateralen Abkommens, die als „Elite“ gelten. Hier bringt er ein spezielles Hurra auf „den amerikanischen Arbeiter“ aus34, das klassische Bannon-Thema.

Der Bannonismus ante portas?

Bannon schwelgt in der Macht des Symbolismus. Diese symbolische Kraft durchtränkte schon Trumps Wahlkampf und nun, wie sich zeigt, auch die Rhetorik seiner Regierung. Schließlich ist Bannon, den Andrew Breitbart einmal als „Leni Riefenstahl der Tea Party“ bezeichnete, ein Meisterpropa- gandist. Schaut man auf seine kurvenreiche Karriere, sieht man allerdings auch einen Meisteropportunisten. Denkbar also, dass die große Erzählung, die in Trumps Antrittsrede und seinen Dekreten immer wieder durchscheint, lediglich das Destillat dessen ist, womit Bannon im Laufe der Zeit immer erfolgreicher ein Maximum populistischer Energie freizusetzen versucht hat – dass es also nicht Ausdruck des Plans ist, Amerika umzustülpen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass Bannon Trump in Richtung jener „aufgeklärt kapitalistischen“, judäo-christlichen, nationalistischen Vision steuert, von der er selbst mittlerweile glaubt, Amerika brauche sie. Welche dieser Mutmaßungen zutrifft, wissen wir nicht – sicher ist: Nur Bannon weiß, was Bannon wirklich will. Eines aber wissen wir ganz genau: Dass ein Mann, der tiefe Sehnsucht nach einer gewaltförmigen Wiederauf- erstehung der „westlichen Zivilisation“ bekundet, jetzt die Macht hat, sich seinen Traum zu erfüllen.

32 Vgl. Donald J. Trump, Executive Order: Enhancing Public Safety in the Interior of the United States, www.whitehouse.gov, 25.1.2017. 33 Vgl. Julia Dahl, How big a problem is crime committed by immigrants, www.cbsnews.com, 27.1.2017. 34 Vgl. Donald J. Trump, Presidential Memorandum Regarding Withdrawal of the United States from the Trans-Pacific Partnership Negotiations and Agreement, www.whitehouse.gov, 23.1.2017.

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201703_Blätter_Buch.indb 67 15.02.17 11:29 Die Prämie für jedes neue »Blätter«-Abo!

Alberto Acosta . Elmar Altvater . Maude Barlow Ulrich Brand . Jayati Ghosh . David Harvey Tim Jackson . Naomi Klein . Serge Latouche Vandana Shiva . Harald Welzer . u.v.a. Mehr auf www.blaetter.de 336 Seiten . 18 Euro . ISBN 978-3980492591

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201703_Blätter_Buch.indb 68 15.02.17 11:29 Alle gegen Trump: Amerikas neue Frauenbewegung Von Amanda Hess

er Women’s March auf Washington entpuppte sich unerwartet als eine D der größten Massendemonstrationen der amerikanischen Geschichte. Millionen von Menschen – Schätzungen reichen von drei bis fünf Millio- nen – gingen am 21. Januar auf die Straßen von Washington, Los Angeles, New York, Palm Beach/Florida, Boise/Idaho und sogar Fargo/North Dakota. Schwesterdemonstrationen gab es weltweit – ob in Thailand, in Malawi oder in der Antarktis. Die Energie von fast allen Gruppen, die Donald Trumps Wahl alarmiert oder aufgebracht hatte, strömte in diese eine Demonstration. Dass sie am Tag nach seiner Amtseinführung über die Bühne ging, konnte nicht überraschen. Bemerkenswert war aber, dass alle diese Menschen unter dem Banner eines Marsches für Frauen zusammengekommen waren. Ihre Schilder sprachen unzählige Themen an: Einwanderung, Abtreibung, Rassismus, die Umwelt, Ungleichheit, den neuen Präsidenten: „Flüchtlinge willkommen“, hieß es da, „Halt Deine Gesetze aus meiner Vagina“, „Black Lives Matter“ (Schwarze Leben zählen), „Die Wissenschaft ist real“, „Flint braucht sauberes Wasser“ und „Niemand mag Dich“. Die handgestrickten, pinkfarbenen „Pussyhats“, die viele Teilnehmerinnen trugen – eine Anspie- lung auf die Angeberei Trumps, er grapsche arglosen Frauen an die Geni- talien –, waren in den Tagen vor dem Marsch verspottet worden. Sie seien kitschig, mädchenhaft, eine Zeitverschwendung. Von oben gesehen, auf Tausende von Demonstrantinnen, schuf ihre farbige Woge jedoch ein macht- volles Bild.

Jenseits der linken Grabenkämpfe

Nur zwei Monate zuvor bildete die Linke keine einheitliche Front. Die Wahl- lokale hatten kaum geschlossen, als die Grabenkämpfe auch schon began- nen. Einige beschuldigten Hillary Clinton, sie habe den Bundesstaat Wis- consin im Wahlkampf ignoriert, oder warfen dem „Democratic National Committee“ vor, es habe andere Kandidaten aus den Primaries gedrängt.

* Dies ist die deutsche Erstveröffentlichung des Textes von Amanda Hess, „How a Fractious Women’s Movement Came to Lead the Left“ aus „The New York Times Magazine“, © 2017 The New York Times. Die Übersetzung stammt von Daniel Bussenius.

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201703_Blätter_Buch.indb 69 15.02.17 11:29 70 Amanda Hess

Einige gaben der Identitätspolitik die Schuld, durch die sich weiße Wähler aus der Arbeiterklasse „ausgeschlossen gefühlt“ hätten, so Professor Mark Lilla von der Columbia Universität.1 Andere monierten, den weißen Ameri- kanern an den Küsten sei es nicht gelungen, ihre Verwandten im Landesin- neren auf ihre Seite zu ziehen. Aber eine Schar wütender Frauen richtete ihren Zorn weiterhin gegen Trump. In den Stunden nach seinem Sieg am 8. November schlug Teresa Shook, eine pensionierte Rechtsanwältin auf Hawaii, auf Facebook einen Marsch auf Washington vor. Einige Frauen an der Ostküste hatten die glei- che Idee. Zunächst klangen diese Vorschläge impulsiv und beinahe sym- bolisch. Aber binnen weniger Tage hatten Zehntausende von Frauen ihre Teilnahme versprochen. Im Verlauf von zwei Monaten wurde aus der Idee etwas viel Größeres als ursprünglich gedacht. Schließlich kümmerte sich ein ganzes Organisationsteam um Genehmigungen, T-Shirts, Busflotten, Toilet- tenhäuschen und prominente Unterstützerinnen – darunter die Feministin Gloria Steinem. Männer fragten kleinlaut ihre weiblichen Familienmitglie- der und Twitter-Follower: „Dürfen wir uns beteiligen?“ Mitte Januar, als sich abzeichnete, dass der Marsch die Anti-Trump-Demonstration werden würde, sorgte sich der Journalist Jonathan Chait vom „New York Magazine“, dass der „Frauenmarsch“ als Organisationsprinzip ein zu kleinteiliger Ansatz sei – ein „schlechter Name“, twitterte er, eine spaltende Marke. Das Gegenteil war der Fall: Frauen führten den Widerstand an, und alle folgten. Einer Demonstration von Frauen gelang es, eine breite Opposition unter ihrem Banner zu versammeln. In den Wochen seit dem Marsch hat sich diese Energie noch weiter verbreitet. Nach Trumps Dekret, mit dem er die Einreise aus sieben mehrheitlich muslimischen Ländern in die USA stoppte, inspirierte der Marsch spontane Aktionen vor Gerichtsgebäuden und Trump-Hotels, in Flughäfen und vor den Büros des republikanischen Mehr- heitsführers im Senat, Mitch McConnell. Bei jedem Protest war die Wahr- scheinlichkeit hoch, dass man ein paar pinkfarbene Katzenohren aus der Menge ragen sah, eine Erinnerung an die erste Versammlung der Opposi- tion. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendein anderer Marsch diese Wirkung gehabt hätte. So kam es, dass sich unter dem Dach einer Frauenbewegung jede wichtige Strömung des Protests gegen Trump versammeln konnte. Diejenigen, die ihre feministische Geschichte kennen, mögen hier ein Paradox sehen. Die Frauenbewegung war nicht immer von Einigkeit geprägt, sondern ebenso sehr von ihren Brüchen, Misserfolgen und Spannungen. Aber mehr als ein Jahrhundert innerer Turbulenzen hat sie auch gezwungen, einen Umgang mit ihren Spaltungen zu finden. Jetzt stellt sich die Frage, ob sie noch mehr Amerikanerinnen und Amerikaner erreichen kann. Clintons Niederlage am 8. November war ein entscheidender, identitäts- verändernder Moment in der Geschichte der amerikanischen Frauenbewe- gung. An jenem Abend wurde die beinahe erste weibliche Präsidentin an die Seite gedrängt, durch – wie es ein beträchtlicher Teil der Nation sah – eine

1 Vgl. Mark Lilla, Das Scheitern der Identitätspolitik, in: „Blätter“, 1/2017, S. 48-52.

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klassische historische Figur, den männlichen Chauvinisten. Teile der öffent- lichen Meinung sahen darin nicht nur eine Niederlage für Clinton oder die Demokratische Partei, sondern eine Ablehnung des Feminismus selbst. Clinton aber ist schon immer nur eine vorsichtige Inkarnation des Feminis- mus gewesen. 2008 trat sie nicht als „Kandidatin der Frauen“ für das Präsi- dentenamt an. Im Gegenteil, sie bekannte sich im Wahlkampf gar nicht zu ihrem Geschlecht, und der Stratege Mark Penn riet ihr, das Image einer ame- rikanischen Eisernen Lady zu kultivieren. „Sie wollen keine First Mama“, schrieb er in einem Memorandum. Jahre später sollte die Fernsehserie „Veep“ des Fernsehsenders HBO diese Position durch eine fiktive Politikerin karikie- ren: „Ich kann mich nicht als Frau bekennen!“, sagt diese zu ihren Mitarbei- tern. „Die Leute dürfen das nicht wissen. Die Männer hassen das. Und Frauen, die Frauen hassen, hassen das auch, und das sind, wie ich glaube, die meisten Frauen.“

Feminismus als Marke

In den acht Jahren zwischen Clintons erster und zweiter Präsidentschafts- kampagne veränderte sich jedoch etwas Entscheidendes: Der Feminismus kam in Mode. Zu Beginn der Obama-Ära waren bereits scharfsinnige Frauen- blogs wie „Jezebel“ und „Feministing“ online gegangen und hatten begon- nen, Popcorn auf die große Leinwand der amerikanischen Kultur zu werfen. Sie behandeln dieselben Themen wie die Frauenzeitschriften – Mode, Filme, Sex –, legen sich aber auch mit den Zeitschriften an. Zu Beginn von Obamas zweiter Amtszeit florierte dieses Modell und hatte bereits so viele Ableger inspiriert, dass selbst ein Mitbegründer der Sportwebsite „Bleacher Report“ eine Frauenwebsite startete. Schon bald war kein Bereich der Kultur mehr sicher vor feministischer Kritik: ob Weihnachtslieder oder die breitbeinige Sitzhaltung von Männern in der U-Bahn. Popstars wie Lady Gaga, Katy Perry und Taylor Swift wurden gefragt, ob sie Feministinnen seien, und wenn sie vor dem Etikett zurückschreckten, schlug ihnen die Empörung aus den sozialen Netzwerken entgegen. Der Feminismus wurde zunehmend populär, aber auf eine ganz spezifi- sche Art und Weise – eine, die auf die Anliegen von Leuten mit Bürojobs abge- stimmt ist, die auf der Arbeit im Netz surfen können. Die feministischen Prio- ritäten dieser neuen Medienlandschaft umfassten in erster Linie Themen, die Mittelschichtsfrauen direkt betrafen: Reproduktionsrechte, Anmache auf der Straße, Campusvergewaltigungen, Karrierechancen, Repräsentation in der Pop-Kultur. Die tonangebenden Autorinnen waren überwiegend junge Frauen, von denen verlangt wurde, für wenig Geld in nur sehr kurzer Zeit große Mengen an Klicks generierenden Texten zu produzieren. Sie schrie- ben daher keine zeitaufwendigen Reportagen zu feministischen Themen, sondern Meinungsartikel über Frauen, die bereits in den Nachrichten waren: die Work-Life-Balance von Yahoo-Chefin Marissa Mayer, das Gagengefälle zwischen Jennifer Lawrence und ihren männlichen Starkollegen. Manche

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201703_Blätter_Buch.indb 71 15.02.17 11:29 72 Amanda Hess

Artikel entdeckten in den beiläufigsten persönlichen Belangen sexistische Herabsetzungen, wie einer in der „Huffington Post“, der seufzte: „Es gibt keinen passenden Haarschnitt für Frauen, geschweige denn, dass sie irgend- etwas richtig machen könnten in dieser Welt.“2 Es ist nicht so, dass die Gruppen von Frauenaktivistinnen verschwanden oder die politische Organisation erlahmte. Aber für eine amerikanische Frau wurde es möglich, eine Beziehung zum Feminismus herzustellen, die vor allem konsumorientiert war: Sie konnten feministische Fernsehsendungen schauen, feministischen Prominenten folgen oder feministische Kleidung kaufen. Es ist bezeichnend, welchen Strang des Feminismus die entspre- chenden Marken als marktgängig einstufen: den, der als Selbsthilfe auftritt. In dieser Ausprägung von Feminismus sollen sich vor allem die Denkmuster der Frauen ändern. So ähnlich geschah es mit den Popstars, die einst zöger- ten, sich Feministinnen zu nennen – sie kamen zum Feminismus, indem sie den Feminismus um sich selbst herum neu definierten. Für Lady Gaga geht es beim Feminismus darum, „die Integrität von ehrgeizigen Frauen“ zu schützen. Taylor Swift erkannte, dass sie „eine feministische Haltung einge- nommen hatte, ohne es tatsächlich auszusprechen“. Der Feminismus wurde zu seiner harmlosesten Variante herunterdefiniert. Er war weniger eine poli- tische Plattform als eine Markenidentität. 2013 hob Sheryl Sandberg diesen popkulturellen Subtext mit ihrem Buch „Lean in“ auf die Textebene. Sandberg nannte das Buch „eine Art feministi- sches Manifest“, predigte aber individuelle Lösungen für strukturelle Prob- leme und ermutigte Frauen, sich auf „innere Hindernisse“ zu konzentrieren und „die Hürden in uns selbst abzubauen“. Dieser feministische Denkstil, in dem persönlicher Erfolg zum Synonym für sozialen Fortschritt wird, ist kompatibel mit zahllosen politischen Orientierungen. Das jüngste Exemplar des Prominente-Geschäftsfrau-Feminismus ist Ivanka Trump, die unter dem Hashtag #WomenWhoWork ein Lifestyle-Unternehmen aufgebaut hat. Als der Wahlkampf 2016 anlief, war es Clinton daher nicht nur erlaubt, als Feministin anzutreten – sie war geradezu dazu verpflichtet. Ihre Botschaften veränderten sich entsprechend. Jahrelange Debatten unter Frauen über den richtigen feministischen Weg hatten die Nebenwirkung, dass sie die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin einer der beiden großen Parteien nach links zwangen. Noch 2008 hatte Clinton erklärt, sie wolle, dass Abtreibun- gen „sicher, legal und selten“ seien – „und mit selten meine ich selten“. In den Debatten des letzten Jahres ließ sie diese Einschränkung weg. „Ich werde Planned Parenthood verteidigen“, sagte sie in einer Debatte. „Ich werde Roe v. Wade verteidigen, und ich werde das Recht der Frauen verteidigen, ihre Gesundheitsentscheidungen selbst zu treffen.“3 Derweil imitierte ihre Kampagne die Ästhetik des Popfeminismus. Clinton bekannte sich in einem Interview mit Lena Dunham zum Feminismus und

2 Vgl. Cameron Schaeffer, The 3-Letter Word That Cuts Women Down Every Day, www.huffington- post.com, 26.10.2016. 3 Planned Parenthood ist eine private Familienplanungsorganisation. Im Fall Roe v. Wade entschied der Supreme Court 1973 zugunsten des Rechts auf Abtreibung. – D. Red.

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201703_Blätter_Buch.indb 72 15.02.17 11:29 Alle gegen Trump: Amerikas neue Frauenbewegung 73

posierte in einem Selfie von Kim Kardashian. Ihr Wahlkampfteam postete einen Artikel im typischen Listenstil von „BuzzFeed“, in dem Latinos infor- miert wurden, Clinton sei „genau wie Ihre abuela [Großmutter]“. (Unter dem Twitter-Hashtag #NotMyAbuela wiesen einige dieser Wähler das allerdings zurück.) Ihre Webseite vertrieb bestickte Kissen mit der Aufschrift „Der Platz für eine Frau ist im Weißen Haus“ und ein T-Shirt, auf dem mit breiten Let- tern „YAAAS, HILLARY!“ über ihr Porträt aus der Abiturzeit gedruckt war. Nachdem ihr Trump vorgeworfen hatte, „die Frauenkarte“ zu spielen, ant- wortete ihre Kampagne mit einer kostenlosen pinkfarbenen „Official Hillary for American Woman Card“, die binnen Tagen zu Spenden von mehr als zwei Millionen Dollar führte. Eine junge Frau wollte bei einer Wahlkampfveran- staltung in Iowa ernsthaft von ihr wissen: „Wenn Sie wählen könnten, wären sie lieber Präsidentin oder Beyoncé?“

Der entpolitisierte Popfeminismus

Der von jeder politischen Dringlichkeit reingewaschene Popfeminismus wurde somit auf höchster Ebene in die Politik integriert. Eine Kandidatin, die einst vor dem Feminismus zurückgeschreckt war, positionierte sich als Ikone der Bewegung. Ihr Image verband sich nun eng mit zwei Metaphern – dem Hosenanzug und der Glasdecke –, die einen bestimmten Frauentyp ansprechen: die Wirtschaftskarrieristin, die an der Spitze der Konkurrenz steht. Eine „geheime“ Facebook-Gruppe, „Pantsuit Nation“, entstand, um Hillary-Unterstützerinnen zu animieren, beim Urnengang Hosenanzüge zu tragen. Als Clinton sich vergangenen Juni die Mehrheit der demokratischen Delegiertenstimmen für die Nominierung zur Präsidentschaftskandidatin gesichert hatte – die sie im folgenden Monat, in das Weiß der Suffragetten gekleidet, formal akzeptieren sollte –, erinnerte Clinton an die Versammlung in Seneca Falls von 1848. Dort kam „eine kleine, aber entschlossene Gruppe von Frauen und Männern mit der Idee zusammen, dass Frauen die gleichen Rechte zustehen“. Dort begann das feministische Projekt, so deutete sie an – und sie würde es ins Ziel führen. Mit der Niederlage Clintons aber stürzte der Popfeminismus in eine Krise. Denn als alle die Ergebnisse der Nachwahlbefragungen studierten, wurden einige der alten Klüfte zwischen verschiedenen Gruppen von Frauen in ein grelles Licht gerückt: 94 Prozent der schwarzen Frauen stimmten für Clinton, aber 53 Prozent der weißen Frauen stimmten für Trump. Vielleicht fanden letztere sich eher in seiner Vision für die Welt wieder als in dem Popfemi- nismus, der Clintons Kampagne befeuerte. Trotz Trumps offensichtlich feh- lendem Respekt für Frauen – und des berüchtigten Tonmitschnitts – hatte er eine Fraktion der weiblichen Wähler erfolgreich umworben. Sein Sieg legte nahe, dass sich viele Amerikaner weit weniger an Misogynie störten, als viele gedacht hatten. Aber er zerstach auch die Blase des fröhlichen Popfe- minismus, der immense Popularität erreicht hatte – auf Kosten von Klassen- bewusstsein und Solidarität über ethnische Grenzen hinweg.

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Rhon Manigault-Bryant, eine Professorin für Africana Studies am Williams College in Massachusetts, veröffentlichte auf der Website „Black Perspec- tives“ einen „Offenen Brief an weiße liberale Feministinnen“. Enttäuscht stellte sie fest, es habe Donald Trump gebraucht, damit weiße Feministinnen jene Erschütterung verspüren, die eine schwarze Frau wie sie oft erlebt. „Ich freue mich, dass Ihr wohl das Erwachen Eures Lebens hattet, und dass Ihr jetzt vielleicht tatsächlich begreift, was so viele von uns schon die ganze Zeit über beschrieben haben“, kommentierte sie. „Willkommen in dieser tiefen ewigen Angst. Umarmt sie und erlaubt ihr, Euch zu einem tiefergehenden Handlungsansatz zu motivieren.“4 Ebenfalls im November durchlebte das im Entstehen begriffene Projekt des Marsches auf Washington seine eigene Identitätskrise. Einige seiner frü- hen Organisatorinnen hatten Berufe wie aus einer romantischen Komödie – Kuchenbäckerin, Yogalehrerin. Eine der Frauen, , eine Mode- designerin, hatte ein kleines Onlinegeschäft aufgebaut, indem sie „NASTY WOMAN“- und „BAD HOMBRE“-T-Shirts gestaltete und online vertrieb.5 Grundverschiedene Organisatorinnen versammelten sich um ein Face- book-Ereignis, das den Marsch von einer Million Frauen ankündigte. Es gab aber ein großes Problem an der Sache: 1997 hatten Aktivistinnen einen Mil- lionen-Frauen-Marsch in Philadelphia organisiert, um die besonderen Anlie- gen schwarzer Frauen zu artikulieren. Als dieser neue Marsch auf Washing- ton unbewusst einen ganz ähnlichen Namen wählte, wurde bemängelt, dass die entstehende Bewegung von einer Handvoll weißer Frauen ohne Organi- sationserfahrung angetrieben wurde. Von allen Seiten hagelte es Kritik. Die Organisatorinnen waren in einen Konflikt hineingeraten, der die Frauen- bewegung von ihren Anfängen an verfolgt. Von allen inneren Spannungen, die die Frauenbewegung durchgemacht hat, war keine so ausgeprägt wie die zwischen weißen und schwarzen Frauen.

Die Spannung zwischen schwarzen und weißen Frauen

Für ein klassisches Beispiel sorgte Sojourner Truth, als sie bei der Frauen- rechtsversammlung von 1851 in Ohio aufkreuzte. Die Veranstaltungsleiterin Frances Gage erinnerte sich später so an die Szene: „Die Anführer der Bewe- gung zitterten, als sie eine große, hagere schwarze Frau in einem grauen Kleid und einem weißen Turban, mit einem ungehobelten Sonnenhut da- rauf, erblickten, die bewusst die Kirche betrat, mit der Anmutung einer Köni- gin den Gang heraufschritt und auf den Stufen der Kanzel Platz nahm.“ Ein „missbilligendes Stimmengewirr“ verbreitete sich in der Kirche. Anwesende weiße Frauen beklagten, dass die Geschichte einer schwarzen Frau vom Thema der Versammlung ablenken würde. „Lassen Sie sie nicht zu Worten kommen, Frau Gage – das ruiniert uns“, sagte eine. „Jede Zeitung im Land

4 Vgl. Rhon Manigault-Bryant, An Open Letter to White Liberal Feminists, www.aaihs.org, 19.11.2016. 5 In Anspielung auf Trumps Beleidigungen gegenüber Hillary Clinton bzw. Mexikanern, wörtlich: „gemeine Frau“ und „schlechter Mann“. – D. Red.

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wird unsere Sache mit der Abolition und den Niggern in einen Topf werfen, und wir werden gänzlich gebrandmarkt werden.“ Während der gesamten Konferenz sprachen sich Männer gegen das Frauen- wahlrecht aus. Frauen, sagten sie, seien zu schwach und hilflos, um ihnen die Macht des Wahlrechts anzuvertrauen. Weil „es in diesen Tagen sehr wenige Frauen gab, die es wagten, in öffentlichen Versammlungen zu spre- chen“, wie Gage es ausdrückte, blieben diese Argumente unwidersprochen, bis Truth vortrat. Weiße Frauen zischten, aber Truth zertrümmerte die Argu- mente, die sowohl von anwesenden Männern als auch Frauen vorgebracht wurden: „Der Herr dort drüben sagt, dass man Frauen in die Kutsche, über Gräben und auf die besten Plätze helfen muss“, sagte sie. „Doch niemand hilft mir jemals in Kutschen oder über Schlammpfützen oder auf irgendei- nen Platz. Und bin ich keine Frau? Schauen Sie mich an! Schauen Sie auf meinen Arm!“ Sie rollte ihren Ärmel bis zu ihrer Schulter hoch: „Ich habe gepflügt und gepflanzt und die Ernte in die Scheunen geschafft, und kein Mann konnte mich übertreffen. Und bin ich keine Frau?“ In diesem Moment zerstörte Truth eine Vorstellung von weißer Weiblich- keit, mit deren Hilfe das Anliegen des Frauenwahlrechts sowohl gerechtfer- tigt als auch unterminiert worden war. Als Sklavin hatte sie wie ein Mann auf den Feldern gearbeitet; als freie schwarze Frau konnte sie nicht auf das gentlemanhafte Verhalten weißer Männer zählen. Gage schrieb, dass Truths Ansprache die anwesenden weißen Frauen veranlasste, sie „mit Tränen in den Augen und vor Dankbarkeit klopfenden Herzen“ zu umarmen. Aber auch zwei Jahre später erntete Truth immer noch Buhrufe von wei- ßen Menschenmengen, wenn sie auf Frauenversammlungen auftrat. Die Mainstreambewegung und ihre Führerinnen hingen an einer Vision des Weißseins, und auch das Erkennungszeichen der Suffragetten, die weiße Kleidung, sollte bewusst Reinheit signalisieren. Dieses Ideal der weiblichen Tugend galt nicht für schwarze Frauen oder Arbeiterinnen. Einige Suffraget- ten machten aus ihrem Rassismus und Klassismus keinen Hehl. Im Jahr 1894 beklagte eine weiße Frau bei einem Treffen der „Brooklyn Woman Suffrage Association“, dass New York zu einem „Asyl für den Müll aller Nationen“ geworden sei, und forderte, das Frauenwahlrecht solle eingeschränkt wer- den: „Bedenkt, was es bedeutet, es allen Frauen zu geben“, sagte sie. „Unsere Verbrecher und armen Männer haben Frauen; es gibt Tausende von weib- lichen Arbeitskräften in Tabakfabriken und ähnlichen Gewerben; es gibt wahrscheinlich zwei Millionen Negerinnen in diesem Lande, deren Niveau nur wenig höher als das von Tieren ist.“ Im Laufe der Zeit sollten sich diese rassistischen Vorstellungen zu dauerhaf- ten Institutionen verhärten. Als sich um die Jahrhundertwende Frauenclubs in den USA verbreiteten, entstanden zwei Modelle: Zum einen nutzten Frauen aus der Mittelschicht ihre Freizeit, um sich in Clubs, die nur Weißen offenstan- den, für soziale Reformen zu engagieren. Zum anderen versammelten sich schwarze Frauen, die größtenteils außerhalb des Hauses arbeiteten, wegen dringender Anliegen. Eine der ersten Aktionen des schwarzen Chicagoer Frauenclubs bestand darin, Geld zu sammeln, um gerichtlich gegen einen

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Polizisten vorzugehen, der einen schwarzen Mann getötet hatte. Der Haupt- unterschied zwischen den Clubs sei, schrieb die schwarze Aktivistin Fannie Barrier Williams, dass es für schwarze Frauen „keine Modeerscheinung ist“. Schwarze Frauen taten sich nicht nur als Suffragetten hervor, sondern auch als lautstarke Kritikerinnen einer Bewegung, die eine Gerechtigkeit beisei- teschob, während sie eine andere verfolgte. Im Jahr 1913, als Tausende von Suffragetten auf Washington marschierten, um sich für das Frauenwahlrecht einzusetzen, wurden schwarze Frauen angewiesen, am Ende des Demons- trationszugs zu marschieren. Ida B. Wells setzte sich über die Instruktion hinweg und marschierte mit der Delegation aus Illinois, ihrem Heimatstaat. Sie demonstrierte damit nicht nur für ihr Wahlrecht. Sie demonstrierte auch gegen die Demonstration. Diese Dynamik findet sich nicht nur in der entfernten Vergangenheit: Auch während der zweiten Welle des Feminismus waren Frauen meist immer noch entlang von Identitätslinien gespalten. Als die Bestsellerautorin Betty Frie- dan 1967 das erste Treffen der New Yorker Ortsgruppe der „National Organi- zation for Women“ (NOW) einberief, geriet sie mit einer schwarzen Aktivistin und Anwältin namens Flo Kennedy aneinander. Kennedy verlangte von den anwesenden Frauen, mit der Antikriegs- und der Black-Power-Bewegung gemeinsame Sache zu machen. Friedan und die Gastgeberin des Treffens – Muriel Fox, damals die höchste weibliche Führungskraft der weltgrößten PR-Agentur – waren nicht erfreut. Wie Kennedy es in ihren Memoiren formu- lierte, „drehten sie durch“. Friedans Buch von 1963, „Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau“, hatte eine Klasse weißer, verheirateter Mittelschichtsfrauen maß- geblich inspiriert. Sie selbst sah sich als die Anführerin einer, wie sie es nannte, Mainstream-Frauenbewegung. Als Frauen ihr auf einem Marsch im Jahr 1970 eine lavendelfarbene Armbinde anboten, um Solidarität mit einer NOW-Frau auszudrücken, die kurz zuvor wegen ihrer Bisexualität angegrif- fen worden war, ließ Friedan die Binde auf den Boden fallen. Sie war wütend über den Versuch, ihr Programm um Homosexuellenrechte zu ergänzen. Kennedy drängte fortwährend in die entgegengesetzte Richtung und ver- suchte, Brücken zwischen feministischen Gruppen und anderen Bewegun- gen zu bauen. Einmal ermahnte Friedan sie, die feministische Bewegung nicht länger zu behelligen und „ihre Aufmerksamkeit auf die Angelegenhei- ten von Black Power zu richten“. Als die zweite Welle Gestalt annahm, fanden sich schwarze Frauen in der Rolle von Mahnerinnen wieder. Sie riefen die Bewegung kontinuierlich dazu auf, einen neuen Ansatz zu erwägen, der die unterschiedlichen Bedürfnisse unterschiedlicher Frauen anerkannte. Wie die linke schwarze Feministin Barbara Smith 1979 der „National Women’s Studies Association“ sagte, sei jeder Feminismus, der die spezifischen Anlie- gen von schwarzen Frauen, armen Frauen, behinderten Frauen, der Lesben und anderer nicht berücksichtigte, kein wirklicher Feminismus – er sei „bloß weibliche Selbstverherrlichung“. Es hat nie die eine Frauenbewegung gegeben. So ist die Aussage proble- matisch, das amerikanische feministische Projekt habe 1848 in Seneca Falls

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begonnen; denn schwarze Frauen wurden nicht zu dieser Konferenz einge- laden. Ebenso wäre die Wahl einer Frau zur Präsidentin nicht unbedingt der krönende Erfolg des Feminismus gewesen, weil vom Erfolg einer Frau nicht selbstverständlich auch alle anderen profitieren. Die Geschichte der Frauen- bewegung ist eine von sich bekämpfenden Fraktionen und scharfer Selbst- kritik. Aber die Erfahrungen aus 150 Jahren im Umgang mit internen Kon- flikten erlaubte es ihr, jüngst in Washington eine zutiefst gespaltene Linke zusammenzubringen.

Mannigfaltige Diskriminierung

„Es ist mir inzwischen peinlich, das zuzugeben, aber ich kannte den Begriff ‚Intersektionalität‘ nicht, als wir anfingen“, erzählte mir Bob Bland, die Kovorsitzende des Frauenmarsches. Jetzt verwendet sie ihn häufig, um die wachsende Vielfalt des Marsches zu betonen. Sie sagte verschiedenen Repor- tern, dass sie Frauen getroffen habe, die „in so vielen verschiedenen Inter- sektionalitäten“ arbeiteten, und dass sie hoffe, „eine breite Intersektionalität“ von Menschen zu erreichen mit einem Marsch, der „all die verschiedenen Intersektionalitäten von Menschenrechten“ reflektiere. Dieses magische Wort stammt aus einem Aufsatz der Rechtsgelehrten Kimberlé Crenshaw, der 1989 im „The University of Chicago Legal Forum“ erschien. Crenshaw hatte Fälle untersucht, in denen schwarze Frauen ihre Arbeitgeber wegen einer „kombinierten Diskriminierung“ verklagten – einer Diskriminierung sowohl aus rassistischen als auch geschlechtsspe- zifischen Vorurteilen. Aber oft wurde ihnen gesagt, dafür gebe es keine Rechtsgrundlage: Die Gesetze schützten sie vor Diskriminierung als Afro- amerikanerinnen oder Frauen, aber nicht speziell als schwarze Frauen. Crenshaw benutzte eine Metapher aus dem Straßenverkehr, um die ineinan- dergreifenden Formen der Unterdrückung zu beschreiben, denen eine Per- son ausgesetzt sein kann: Autos würden über eine Kreuzung (auf Englisch: intersection) in alle Richtungen fahren; wenn ein Unfall passiere, könne er daher durch Autos von einer beliebigen Anzahl von Seiten oder sogar von allen Seiten verursacht werden. Crenshaws Metapher gewann in den folgenden zwei Jahrzehnten an Resonanz: „Intersektionalität“ avancierte zum Schlachtruf des rhetorischen Widerstands gegen eine Welle des Feminismus, der sich in der Verfolgung vieler Einzelanliegen erschöpfte. Selbst unter der glänzenden Oberfläche des Popfeminismus‘ der Obama-Ära kritisierten Dissidentinnen zahllose Male die Unbedarftheit in Sachen Rassismus, den Mangel an Klassenbe- wusstsein und die manchmal seichten Anliegen. Schwarze Frauen trafen sich auf Twitter unter Hashtags wie #SolidarityForWhiteWomen, um mitzu- teilen, wie sie im feministischen Diskurs an die Seite gedrängt wurden. Und viele Linke kritisierten, dass ein karriereorientierter Feminismus, der an den Trickle-down-Effekt glaubt, zu einem Zeitpunkt populär wurde, als die Ein- kommensungleichheit zwischen Frauen rasant zunahm. In den letzten Jah-

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ren tauchte „Intersektionalität“ sogar bei People.com und in einem Tweet von Clinton auf. Oft wird der Kritik hinter diesem Wort eine Abfuhr erteilt: Ihr wird defensiv begegnet, sie wird persönlich genommen. Frauen wen- den sich dem Feminismus zu, weil sie aufstehen und ihre Stimme erheben wollen. Daher kann es bitter für sie sein, wenn andere Frauen ihnen sagen, sie sollten sich hinsetzen und jemand anderem zuhören. Aber das Konzept wurde zu einem nützlichen Instrument für den Marsch auf Washington, als er den populären Mainstream-Feminismus und seine abweichenden Frak- tionen einen wollte – und das innerhalb von zwei Monaten. Bald nachdem der Vorschlag für den Marsch sich im Netz zu verbreiten begann, intervenierte Vanessa Wruble – eine weiße Produzentin und Mit- begründerin des Medienunternehmens „OkayAfrica“ – in die Planung. Zu diesem kritischen Zeitpunkt wuchs der Marsch rasant zu etwas weitaus Grö- ßerem an, als seine ursprünglichen Organisatorinnen erwartet hatten. Da drängte Wruble sie, den Namen „Millionen-Frauen-Marsch“ fallen zu lassen. Dann stellte sie die Verbindung mit ihrem Netzwerk her, und es kamen drei erprobte Aktivistinnen an Bord: Carmen Perez, und . Nicht alle von ihnen hatten Clinton unterstützt oder bezeichneten sich als Feministinnen. Aber sie verfügten über ausreichend Erfahrung, nicht-weiße Gemeinschaften zu organisieren, und sahen den Marsch als Chance, ein großes neues Publikum zu erreichen. Als Sarsour den Anruf erhielt, hatte sie gerade einen Kommentar auf der Facebook-Seite des Mar- sches gepostet: „Könnt Ihr muslimische Frauen und muslimische Gemeinden in die Liste mitaufnehmen?“ Die drei Frauen – eine Latina mexikanischer Abstammung, eine paläs- tinensische Amerikanerin und eine Schwarze – waren sich erstmals bei ihrem Einsatz für die „Justice League NYC“ begegnet, die sich um jugend- liche Straftäter kümmert. Im Jahr 2015 organisierten sie einen neuntägigen Marsch von New York nach Washington, der mit einer Demonstration am Kapitol endete, die eine kleine Menschenmenge anzog. Jetzt wandten sich Hunderttausende Frauen – deren Interesse an Gerechtigkeit bisher aber nur bestenfalls abstrakt gewesen sein mag – mit der Bitte um Führung an sie. Also stellte sich ihnen die Frage, so Perez: „Wie machen wir ihnen verständ- lich, dass ihre Befreiung mit unserer verbunden ist?“ Unterdessen hatten die drei ebenfalls einigen Nachholbedarf, was die Mainstream-Perspektive des Feminismus betraf. Die Organisatorinnen tra- ten zuvor in der Hip-Hop-Radio-Morgenshow „The Breakfast Club“ auf und füllten ihre Instagram-Seite mit schwarzen feministischen Heldinnen. Aber sie posierten auch für Fotos in der „Vogue“, und einige von ihnen schauten beim „Wing“ vorbei, einem privaten Frauenclub in Manhattan mit einem jährlichen Mitgliedsbeitrag von 2250 Dollar. Am Ende brachte ihre Demonst- ration Angela Davis auf die gleiche Bühne wie Scarlett Johansson. Als ich Kimberlé Crenshaw im Januar anrief, war sie gerade vom Marsch auf Washington, an dem sie mit einer Gruppe von Frauen vom „African Ame- rican Policy Forum“ teilgenommen hatte, nach Los Angeles zurückgekehrt. Beim Spazieren durch die Menge, sagte sie, „sah ich all die verschiedenen

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201703_Blätter_Buch.indb 78 15.02.17 11:29 Alle gegen Trump: Amerikas neue Frauenbewegung 79

Themen und Menschen, die ihren Weg unter das Banner des Frauenmar- sches gefunden hatten. Es war die Verkörperung der intersektionalen Sen- sibilitäten, an denen viele von uns schon für eine sehr lange Zeit gearbeitet haben.“ Und weiter: „Die Millionen-Dollar-Frage lautet: Können diese Femi- nismen unter einem Anti-Trump-Banner zusammenfinden?“ Ja, sagt Crens- haw: „Es ist für 24 Stunden auf der ganzen Welt geschehen.“

Trump, der Einiger und Spalter

Nach dem Marsch, als der Jubel der Menge in der Ferne verhallte, öffnete ich im Hotel meinen Laptop und sah eine andere Version von dem, was ich gerade persönlich erlebt hatte. Jetzt wurde alles durch meine eigene Social- Media-Blase gefiltert – die einer weißen Mittelschichtsfrau, die in Brooklyn lebt. Facebooks topaktuelle Themen, maßgeschneidert darauf, die Online- Gewohnheiten jedes einzelnen Benutzers zu bedienen, servierten mir eine auf Popberühmtheiten fokussierte Version der Ereignisse des Tages. Sie ver- wiesen mich auf die Reden von Scarlett Johansson und Madonna und nie- manden sonst. Als Szenen des Marsches durch die Medien und durch das Netz reisten, spann sich die Geschichte in noch mehr Richtungen aus. Twit- ter war voll mit Bemerkungen über interne Streitigkeiten und mit Schnapp- schüssen von Demoschildern: „Vergesst nicht: Weiße Frauen haben Trump gewählt“, „Die schwarzen Frauen haben versucht, euch alle zu retten“ und „Ich werde die netten weißen Damen beim nächsten #BlackLivesMatter- Marsch wiedersehen, richtig?“ Aber wenigstens für den Augenblick scheint Trump der große Eini- ger zu sein. In den Tagen und Wochen seit dem Marsch übersetzte sich die Energie dieses Ereignisses in spontane Aktionen im ganzen Land: Men- schen demonstrierten für Muslime und Einwanderer. Den NGOs „Planned Parenthood“ und „American Civil Liberties Union“ flossen Spenden zu. Die Telefonzentralen des Kongresses wurden mit Anrufen überflutet. Als die „Washington Post“ nach dem Marsch eine Meinungsumfrage durchführen ließ, registrierte sie eine enorm veränderte Motivation unter Demokraten, besonders unter demokratischen Frauen: 40 Prozent von ihnen sagten, sie wollten politisch aktiver werden. Aber nicht nur Linksliberale werden von den Protesten motiviert. Schalten Sie „Fox News“ ein, klicken Sie sich durch die konservativen Blogs oder sur- fen Sie durch die Kanäle der Trump-Fans auf Twitter, und Sie können sehen, wie die Demonstrationen eine andere Oppositionserzählung befeuern. Nach dem Marsch unterlegte „Fox News“ Mitschnitte der dortigen Reden mit Unheil verkündender Musik. „Breitbart“ veröffentlichte Fotos unter der Überschrift: „Sehen Sie, was für einem massiven Projektil in Form von Hil- lary Clinton Amerika gerade ausgewichen ist?“ Das rechte „Media Research Center“ stellte die „widerwärtigsten und lächerlichsten Plakate“ zusam- men. Twitter explodierte mit antimuslimischen Attacken auf Linda Sarsour, die als „Terroristin“, die den „IS liebt“, bezeichnet wurde. Als der jährliche

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„Marsch für das Leben“ in Washington gegen Abtreibungsrechte demons- trierte, nannte „The Blaze“ ihn „den wirklichen Frauenmarsch“. Laut einer Umfrage glauben 48 Prozent der Trump-Wähler, die Demonstranten, die an den Flughäfen zusammenkamen, um gegen den Einreisestopp zu demons- trieren, seien von George Soros bezahlt worden. Trump twitterte kürzlich: „Berufsanarchisten, Schlägertypen und bezahlte Protestierer beweisen, dass Millionen von Menschen recht hatten, die dafür gestimmt haben, AMERIKA WIEDER GROSS ZU MACHEN!“ Entlang dieser Linien haben sich bereits in den ersten Wochen der Trump- Regierung die Gräben vertieft, die seine Wahl hervorgerufen hatte. Jede Seite scheint seltsam zuversichtlich in ihrer politischen Position. Trump-An- hänger nennen sich selbst „die stille Mehrheit“, während sich seine Kriti- ker als das „popular vote“ sehen (in Anspielung darauf, dass Trump bei den Wahlen am 8. November zwar mehr Wahlleute, Hillary Clinton aber mehr Wählerstimmen gewonnen hat). Als ich Eleanor Smeal, eine Mitbegründe- rin der „Feminist Majority Foundation“, nach ihren Plänen fragte, um die 53 Prozent der weißen Frauen, die für Trump gestimmt haben, zu erreichen, bestand ihre Antwort im Verweis auf die Fehlermarge bei den Nachwahlbe- fragungen. „Wir wissen nicht wirklich, ob wir die Mehrheit verloren haben oder nicht, und ich glaube, dass uns das nicht passiert ist“, sagte sie. „Ich glaube, sie sind mit uns.“ Fürs Erste scheinen immerhin die Fraktionen der Linken eine Einigung erzielt zu haben. Aber um wieder Macht in Washington zu erlangen, müs- sen sie auch die Mitte umstimmen – darunter etliche jener Frauen, die für Trump gestimmt haben. Die weißen Frauen auf der Linken, von denen viele gerade erst ihren Platz als Aktivistinnen finden, grenzen sich bislang eifrig von dieser Gruppe ab. Erwähnen Sie ihnen gegenüber die 53 Prozent, und sie bekommen schnell zu hören: Wir gehören zu den 47 Prozent. Dennoch sind sie von allen Leuten, die im Januar auf Washington marschierten, wohl am besten geeignet, den Graben zu überwinden. „Ich kenne keine andere Zeit, in der das wichtiger gewesen wäre“, sagte mir Barbara Smith, die linke schwarze Feministin: „Es ist nicht meine Aufgabe, diese weißen Frauen zu erreichen, aber jemand sollte es tun.“

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201703_Blätter_Buch.indb 80 15.02.17 11:29 »Machismo tötet!« Der Aufstand der Frauen in Lateinamerika

Von Anne Britt Arps

um diesjährigen 8. März rufen feministische Aktivistinnen weltweit Z zu einem Frauenstreik auf.1 Geplant sind Aktionen in rund 30 Län- dern, darunter in Polen, Deutschland, Italien, Russland und der Türkei. Erst Anfang Februar schlossen sich auch prominente Feministinnen aus den Vereinigten Staaten dem Aufruf an – nach dem Women‘s March in Washing- ton wollen sie eine feministische Bewegung schaffen, die weitaus breitere gesellschaftliche Schichten anspricht, als dies dem liberalen Feminismus bisher gelungen ist.2 Ihren Ursprung hat die Initiative für den Streik indes nicht zuletzt im glo- balen Süden, nämlich in der Bewegung „Ni Una Menos“ (Nicht eine Weni- ger), die vor knapp zwei Jahren in Argentinien gegründet wurde und seither in ganz Lateinamerika von sich reden macht. Sie protestiert vehement gegen die allgegenwärtige Gewalt an Frauen, vor allem aber gegen die hohe Zahl der Frauenmorde auf dem Subkontinent. Hunderttausende gingen deshalb im letzten Jahr in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern – darunter in Chile, Uruguay, Brasilien, Peru, Ecuador und Mexiko – auf die Straßen, selbst in Italien kam es im letzten Herbst unter dem Slogan „Non una di Meno“ zu massenhaften Protesten gegen sexualisierte Gewalt. Auslöser für die ersten großen Demonstrationen in Argentinien im Juni 2015 war der Mord an der 14jährigen Schülerin Chiara Paéz. Ihr zwei Jahre älterer Freund erschlug sie, weil sie sich weigerte, eine Abtreibung vorzunehmen. Den Leichnam ver- grub er mit Hilfe seiner Familie im Garten des Elternhauses. Die Nachricht von dem Mord löste landesweit Empörung aus: Aktivistinnen, Journalistin- nen und Künstlerinnen starteten daraufhin in den sozialen Medien die Kam- pagne #NiUnaMenos und schufen so das Label für eine Bewegung, die sich wie ein Lauffeuer über den Subkontinent ausbreitete. Die sozialen Netzwerke spielten dabei eine zentrale Rolle: In Mexiko brach auf Facebook und Twit- ter mit #Primaveravioleta ein lila Frühling aus, in Brasilien verbreitete sich die Kampagne #MeuPrimeiroAssedio (Mein erster Missbrauch). Ähnlich wie 2013 in Deutschland mit der Kampagne #aufschrei begannen Frauen, plötz- lich öffentlich über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu sprechen.

1 Vgl. www.parodemujeres.com. 2 Vgl. Nancy Fraser, Keeanga-Yamahtta Taylor, Angela Davis u.a., Women of America: we‘re going on strike. Join us so Trump will see our power, www.theguardian.com, 6.2.2017.

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201703_Blätter_Buch.indb 81 15.02.17 11:29 82 Anne Britt Arps

Waren es jahrelang vor allem Angehörige von Opfern und Menschenrechts- organisationen, die die Gewalt gegen Frauen anprangerten, ist die Bewe- gung heute weitaus breiter. Sie verläuft quer zu sozialen Schichten, Alters- gruppen, kulturellen Milieus und teils sogar zu politischen Ideologien. Von einer neuen Qualität ist auch der transnationale Charakter der Proteste: Als im vergangenen Oktober – parallel zu einem Frauenkongress in Rosario mit über 70 000 Teilnehmenden – gleich sieben Frauenmorde innerhalb von nur einer Woche die argentinische Öffentlichkeit erschütterten, mobilisierte die Bewegung binnen weniger Tage lateinamerikaweit erneut Hunderttausende Menschen. Dabei knüpfte Ni Una Menos mit dem Ausspruch „Vivas nos que- remos“ (Wir wollen uns lebend) explizit auch an die historische Mütterbewe- gung Madres de la Plaza de Mayo an, die in den 1970er und 1980er Jahren mit der Forderung „Vivos se los llevaron – vivos los queremos“ (Lebend habt ihr sie genommen, lebend wollen wir sie) gegen die Entführung und Ermor- dung ihrer Kinder und Angehörigen durch die argentinische Militärdiktatur protestierte – schon damals wurde der Slogan auf dem gesamten Subkonti- nent aufgegriffen. Damit ist in Lateinamerika ein neuer emanzipatorischer Akteur entstan- den, der Lösungen für ein länderübergreifendes Problem einfordert und die politische Agenda in der Region zukünftig mitbestimmen dürfte. Die große Mobilisierungskraft der Bewegung zeigt zugleich, dass sich in den latein- amerikanischen Gesellschaften immer lautstärker die Erkenntnis durch- setzt: Gewalt gegen Frauen ist ein massives Problem.

Das Ausmaß der Gewalt

Tatsächlich hat dieses dramatische Ausmaße. Allein in Argentinien wird im Schnitt alle 30 Stunden eine Frau wegen ihres Geschlechts ermordet. Das ermittelte die Frauenrechtsorganisation Casa del Encuentro, die seit 2008 diese sogenannten Feminizide zählt – eine offizielle Statistik gibt es bis- lang nicht. Mit dem Begriff – eine Kombination aus dem englischen homi- cide (Mord) und dem lateinischen femina (Frau) – werden Morde an Frauen bezeichnet, die wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit verübt werden. Seit 2008 starben aus diesem Grund in Argentinien laut der Organisation min- destens 2094 Frauen, allein im Jahr 2015 waren es 286.3 In der übergroßen Mehrheit der Fälle (in Argentinien etwa 70 Prozent) stehen die Täter ihren Opfern nahe – oft handelt es sich um deren Partner oder Ex-Partner. Die Opfer wiederum stammen aus allen sozialen Schichten, unter ihnen finden sich Akademikerinnen ebenso wie Analphabetinnen. Mit diesem Befund ist Argentinien bei Weitem nicht allein: Mehr als die Hälfte der 25 Länder mit den weltweit höchsten Feminizidraten befindet sich laut UN Women in Lateinamerika.4 Die UN-Wirtschaftskommission für

3 Vgl. www.lacasadelencuentro.org. 4 Vgl. Declaración oficial de ONU Mujeres frente a los casos de feminicidios y los niveles de impuni- dad en la region, 20.10.2016, http://mexico.unwomen.org.

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201703_Blätter_Buch.indb 82 15.02.17 11:29 »Machismo tötet!« 83

Lateinamerika und die Karibik, CEPAL, spricht – basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2014 – von durchschnittlich mindestens 12 Feminiziden, die täg- lich in der Region verübt werden. Die höchsten Raten verzeichnen demnach Honduras, El Salvador, Guatemala und die Dominikanische Republik, allein in Honduras mit seinen knapp neun Millionen Einwohnern waren es 2014 531 Fälle.5 In Mexiko, das die Wirtschaftskommission aufgrund der schwer vergleichbaren Daten nicht in ihre Statistik einbezog, wurden einer anderen Studie zufolge 2014 im Schnitt sogar sechs Frauen pro Tag umgebracht.6 Die besonders hohe Feminizidrate in mittelamerikanischen Ländern und Mexiko erklärt sich auch aus dem dort insgesamt sehr hohen Gewaltniveau und der weiten Verbreitung von Kleinwaffen: Die Morde gehen hier zum Teil auf das Konto krimineller Banden und der Drogenmafia, die auch mit Frau- enhandel und Prostitution Geschäfte machen. Dabei agieren sie nicht selten in Kooperation mit korrupten Polizisten und Beamten. Traurige Berühmtheit erlangte in diesem Kontext die nordmexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez. Seit Anfang der 1990er Jahre verschwinden hier immer wieder Mädchen und junge Frauen, die später, häufig schlimm zugerichtet, außerhalb der Stadt tot aufgefunden werden. Hunderte, wenn nicht gar Tausende Frauen – oftmals Migrantinnen, die sich in den Fabriken transnationaler Konzerne verdingen – fielen diesen Verbrechen bislang zum Opfer, doch nur die wenigsten dieser Morde wurden aufgeklärt.

»Machismo mata!«

Wenngleich sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen südamerika- nischer Länder wie Argentinien stark von denen in Mexiko mit seinem Dro- genkrieg unterscheiden, haben die Taten doch eines gemeinsam: Sie sind letztlich das Produkt struktureller Diskriminierung von Frauen und einer machistischen Kultur, welche die Aktivistinnen als eine zentrale Ursache für die Feminizide anprangern: „Machismo mata“, Machismus tötet, lautet entsprechend einer der Slogans, der immer wieder auf ihren Plakaten und Transparenten zu lesen ist.7 Die Bewegung spricht in diesem Zusammen- hang von einer Kultur der Gewalt gegen Frauen. „Wir sprechen von Män- nern, die denken, dass die Frauen ihnen gehören und sie ein Recht über sie hätten, [...] und wenn diese Frau Nein sagt, drohen sie ihr, schlagen sie, töten sie, um ihr das Nein zu verbieten“, heißt es auf der Webseite der argentini- schen Ni-Una-Menos-Bewegung. Ihr zufolge ist die Gewalt das Resultat sozialer und kultureller Praktiken, die die Dominanz von Männern und die Abwertung von Frauen, aber auch

5 Vgl. CEPAL, Feminicidio, 24.10.2016, www.cepal.org. 6 Vgl. BBC Mundo, País por país: el mapa que muestra las trágicas cifras de los feminicidios en Amé- rica Latina, 21.11.2016, www.bbc.com. 7 Unter Machismus versteht man in den Sozialwissenschaften patriarchale Geschlechterverhältnisse sowie misogyne und homophobe Verhaltensweisen von Männern in Lateinamerika. Der Begriff ist umstritten, da er rassistische und koloniale Klischees bediene. Vgl. Victor Rego Diaz und Diana Mulinari, Machismus, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus 8/11, www.inkrit.de sowie Gloria Gonzáles López, Machismo – Bibliography, in: http://science.jrank.org.

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201703_Blätter_Buch.indb 83 15.02.17 11:29 84 Anne Britt Arps

von LGBTIQ-Personen8 festschreiben und immer wieder reproduzieren: „Der Feminizid ist keine private Angelegenheit, er ist das Produkt einer sozialen und kulturellen Gewalt, die durch öffentliche und mediale Diskurse legiti- miert wird, etwa dann, wenn eine Frau als Hure beschimpft wird, weil sie ihre Sexualität frei lebt, sie anhand ihrer Körpermaße beurteilt wird, jemand sie schief anguckt, weil sie keine Kinder haben will, oder sie allein auf die Rolle der guten Ehefrau oder Mutter reduziert wird, die für einen Mann bestimmt ist.“9 Tatsächlich sind sexuelle Belästigungen oder Übergriffe im öffentlichen Raum, aber auch häusliche Gewalt in lateinamerikanischen Gesellschaften allgegenwärtig. So hat eine von drei Frauen über 15 Jahren in Lateinamerika und der Karibik laut UN Women sexualisierte Gewalt erlebt. Von physischer oder sexualisierter Gewalt durch ihren Partner berichteten laut einer Studie der Pan American Health Organisation von 2013 sogar 53 Prozent der Boli- vianerinnen und knapp 40 Prozent der Kolumbianerinnen und Peruanerin- nen.10 Die Feminizide bilden da nur die Spitze des Eisbergs. Dabei steigt das Risiko, Opfer eines Feminizids zu werden, gerade dann, wenn Frauen Übergriffe anzeigen oder sich von ihrem Partner trennen – in Situationen also, in denen sie anfangen, selbst über ihr Leben zu bestimmen und sich aus unterdrückerischen Strukturen zu befreien. Solchen individu- ellen Akten der Selbstbestimmung will Ni Una Menos den Rücken stärken, ebenso wie sie all jenen lokalen Initiativen Gehör verschaffen will, die seit Jahren Frauenmorde dokumentieren, Betroffene und Angehörige begleiten und eine Antwort des Staates einfordern.

Die Verantwortung des Staates

Und das ist auch bitter nötig. Denn es kommt immer wieder vor, dass den Opfern die Schuld für die gegen sie gerichteten Taten gegeben wird – etwa wenn unterstellt wird, die Frau habe das Verbrechen durch ihre Kleidung oder ihr verführerisches Verhalten provoziert. Nach dem brutalen Femini- zid an der 35jährigen Rosa Elvira Cely in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá im Mai 2012 machte sogar die Stadtregierung das Opfer in einer Stellungnahme für ihren Tod selbst verantwortlich: Sie argumentierte, alle hätten gewusst, dass die Täter sich merkwürdig verhielten und als böswillig galten. Dennoch sei das Opfer mit ihnen mitgegangen.11 Der Fall löste eine öffentliche Debatte aus und führte schließlich dazu, dass das kolumbianische Parlament drei Jahre später das Gesetz „Rosa Elvira Cely“ verabschiedete, das den Feminizid als eigenen Tatbestand in das Strafgesetzbuch aufnimmt, der mit bis zu 50 Jahren Haft bestraft werden kann.

8 Die Abkürzung steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Intersex und Queer. 9 www.niunamenos.com.ar. 10 Vgl. Pan American Health Organisation, Violence against Women in Latin America and the Carib- bean, 2013, www.paho.org. 11 Vgl. Diana Durán Núñez, Secretaría de Gobierno de Bogotá culpa a Rosa Elvira Cely de su propio ataque, in: „El Espectador“, 14.5.2016, www.elespectador.com.

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Kolumbien ist nicht das einzige Land, das sich zu diesem Schritt entschlossen hat. Gerade in den letzten Jahren haben – dank der hartnäckigen Arbeit von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen – fast alle Staaten Lateiname- rikas (außer Kuba und Haiti) den Feminizid in ihre Strafgesetzbücher auf- genommen. Dennoch hat sich die Zahl der Frauenmorde bislang nirgendwo nennenswert verringert, im Gegenteil: In einigen Ländern wie Bolivien oder Peru nimmt sie sogar wieder zu. Dieser Umstand verweist auf ein weiteres grundlegendes Problem, das für die hohe Zahl der Frauenmorde mitverantwortlich ist: die Untätigkeit der Staaten, die Taten aufzuklären und zu bestrafen. Diese ist überall in Latein- amerika frappierend. In einigen Ländern der Region liegt die Straflosigkeit bei Feminiziden sogar bei 98 Prozent aller berichteten Fälle.12 Die bloße Existenz der Gesetze – deren Definition des Feminizids sich teils stark unterscheidet – garantiert ganz offenbar nicht, dass diese auch ange- wandt und die zuständigen Behörden – Polizei und Justiz – in die Lage ver- setzt werden, die Morde angemessen zu verfolgen. Oftmals sind die Behör- den sogar selbst Teil des Problems, denn die Diskriminierung von Frauen ist auch hier fest verankert. So kommt es immer wieder vor, dass die über- wiegend männlich besetzten Gerichte die Glaubwürdigkeit der Opfer in Zweifel ziehen oder diese sogar selbst kriminalisieren. Mitunter dürfen die Täter nach nur wenigen Jahren Haft sogar weiter für das gemeinsam mit dem Opfer gezeugte Kind sorgen. Zudem versagen die Behörden regelmäßig dabei, betroffene Frauen zu schützen und die Gewalt gegen sie zu bekämp- fen, obwohl sie dazu gemäß internationaler Konventionen verpflichtet sind. So haben viele Feminizid-Opfer sexualisierte Gewalt sogar mehrfach ange- zeigt, ohne dass etwas zu ihrem Schutz unternommen worden wäre. Darüber hinaus fehlt es an offiziellen Statistiken, die die Frauenmorde nach vergleich- baren Kriterien erfassen, wie sie Experten der Vereinten Nationen weltweit fordern. Um all das zu ändern, wären spezielle Programme – etwa zur Schu- lung von Polizei- und Justizbeamten – nötig, doch diese kosten Geld, weit mehr als die Erarbeitung einer Gesetzesvorlage. Gerade hier zeigt die Bewegung allerdings erste Wirkung. Die Regierung des konservativen argentinischen Präsidenten Mauricio Macri ernannte unter dem Eindruck der Proteste die Frauenrechtlerin und Ni-Una-Menos- Mitbegründerin Fabiana Tuñéz zur Direktorin des Nationalen Frauenrats und ließ einen Plan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen auflegen – damit erfüllte Macri eine zentrale Forderung der Bewegung. Der Plan sieht unter anderem die Einrichtung von Frauenhäusern und eine Verankerung des Themas in den Lehrplänen von Schulen aber auch in der Weiterbildung von Beamten vor. Dabei hatte Macri noch wenige Jahre zuvor erklärt, er glaube nicht, dass es Frauen gebe, die sich nicht tief in ihrem Innern über ein Piropo, ein „Kompliment“ oder eine anzügliche Bemerkung, freuten.13 Auch in Chile erklärte sich die sozialistische Präsidentin Michelle Bache-

12 Vgl. 98 % de los feminicidios en América Latina siguen impunes, www.telesurtv.net, 13.4.2016. 13 Vgl. Uki Goñi, Argentine Women Call Out Machismo, in: „The New York Times“, 15.6.2015, www. nytimes.com.

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let mit den Protesten solidarisch, und der liberalkonservative Regierungs- chef Perus, Pedro Pablo Kuczynski, ging sogar selbst mit auf die Straße, als im letzten August Hunderttausende in Lima gegen geschlechtsspezifische Gewalt demonstrierten. All das zeigt: Die Bewegung ist in Lateinamerika inzwischen unüberhörbar geworden und setzt die Regierungen mächtig unter Druck, endlich aktiv zu werden.

Für eine Neuverhandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse

Doch Ni Una Menos geht mit ihrer Kritik weit über die Forderung nach Maß- nahmen zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt hinaus. Denn diese hat ihr zufolge neben der kulturellen und staatlichen auch eine ökonomi- sche Dimension. So spiegelt sich die Abwertung von Frauen auch in der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Diese ist in Lateinamerika – wie fast überall auf der Welt – groß: Zwar drän- gen hier immer mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt und haben inzwischen teilweise sogar höhere Bildungsabschlüsse als Männer. Doch der Gender- Pay-Gap liegt laut der UN-Kommission CEPAL im Schnitt noch immer bei 26 Prozent,14 zugleich sind Frauen bis zu 50 Prozent häufiger von Armut betroffen als Männer.15 Das hat auch damit zu tun, dass Frauen einen Groß- teil der unbezahlten Sorge- und Hausarbeit verrichten und deswegen öfter als Männer in geringer bezahlten Teilzeitjobs arbeiten oder ganz auf eine eigene berufliche Existenz verzichten. Zugleich sind Frauen aus den unte- ren Einkommensschichten besonders gefährdet, Opfer eines Frauenmords zu werden. Denn gerade für sie ist es schwer, sich von einem gewalttätigen Partner zu trennen, wenn sie von diesem finanziell abhängen. Insofern erfor- dert der Kampf gegen Feminizide auch eine Verringerung der ökonomischen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen. Auch darauf wollen die Akti- vistinnen hinweisen, wenn sie am 8. März in den Streik treten. Letztlich geht es der Bewegung mit ihrem Kampf gegen geschlechtsspe- zifische Gewalt und Ungleichheit um nichts Weniger als eine Neuverhand- lung der sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnisse.16 Deren Wurzeln aber reichen bis in die Kolonialzeit, die Lateinamerika Gewalt, Rassismus und extreme wirtschaftliche Ausbeutung gebracht hat. Mit den Europäern kam auch die katholischen Kirche mitsamt ihrem traditionel- len Familienbild. Diese erweist sich auf dem Subkontinent noch immer als mächtige Gegenspielerin feministischer und frauenpolitischer Bewegungen, die schon lange Liberalisierungen – etwa der zumeist äußerst restriktiven Abtreibungsgesetze – einfordern. Sie reichen zudem in die Zeit des Neoli- beralismus der 1980er und 1990er Jahre mit seinen verheerenden sozialen

14 Vgl. Christopher Woody, Latin Americas Economic Struggles could have deadly consequences, www.businessinsider.de, 17.3.2016. 15 Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung, Democrácia de Género en América Latina, Hechos y Cifras, www.boell. de, 2016. 16 Vgl. Horacio Gonzáles, Ni una menos: reinvención de la política, www.nuestrasvoces.com.ar, 4.2.2017.

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Folgen auf dem Subkontinent. Die dadurch geprägten gesellschaftlichen Beziehungen bilden den Hintergrund, vor dem sexualisierte Gewalt und Feminizide heute stattfinden. Entsprechend will sich die argentinische Ni-Una-Menos-Bewegung auch nicht mit den von ihrer Regierung beschlossenen Maßnahmen zur Bekämp- fung von Gewalt gegen Frauen zufrieden geben, solange diese ein neolibera- les Wirtschaftsprogramm vorantreibt, durch das Arbeitsverhältnisse flexibi- lisiert und die Ungleichheit verschärft werden – gerade zulasten von Frauen. Auf diesen umfassenden gesellschaftspolitischen Ansatz von Ni Una Menos beziehen sich die Feministinnen in den USA, wenn sie nun für einen „Feminismus für die 99 Prozent“ plädieren. Denn Ni Una Menos richtet sich mit ihren Forderungen nicht nur an eine privilegierte Elite, sondern ist anschlussfähig für weit mehr gesellschaftliche Gruppen und soziale wie politische Kämpfe. Damit könnte sich die Bewegung als Motor für einen brei- teren gesellschaftlichen Wandel entpuppen. Fest steht schon jetzt: Die Politik wird sich den Forderungen der Bewegung in Zukunft nicht ohne Weiteres verschließen können. Anzeige

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201703_Blätter_Buch.indb 87 15.02.17 11:29 AUFGESPIESST

Was für ein Ereignis: Da musste die SPD der Welt des unglaublichen Martins, über Jahrzehnte darben, bis sie end- denn auch der ist noch immer mit der- lich wieder mit einem charismatischen selben Frau verheiratet, zwar nicht mit Führer gesegnet wurde, und plötz- Elke Büdenbender, aber eben doch mit lich hat sie derer gleich zwei – Sank- seiner Inge, namens Schulz. tus Martinus Schulz und den Heiligen Auch das also noch kein Allein- Frank-Walter, den Buddha in Bellevue. stellungsmerkmal für Frank-Walter. Wenn aber das Licht derart gleißend Doch Frau Posche gibt nicht auf: „Kri- strahlt, kann der Neid nicht ausblei- se kann Steinmeier extrem gut“, weiß ben. Lag nicht über Jahre, von Carsten die „Stern“-Frau. „Da geht seine inne- Maschmeyer bis Gerhard Schröder, der re Temperatur auf die eines Omuls im Nabel der neu-mittigen SPD-Welt in Baikalsee und die Stimme wird tief. Hannover? Bis plötzlich dieser Messias Einatmen, ausatmen.“ Ui, „einatmen, aus Würselen auftauchte. ausatmen“, das allerdings ist wirklich doll. Und wer es bisher nicht gewusst hat: Der Omul ist der russische Lachs, Sexiest Partei er ernährt sich von Plankton und klei- neren Tieren. Nun gut, Steinmeier ein Deutschlands Russen-Lachs, wir hatten es fast ge- ahnt, doch damit nicht genug: Was dieser ungeheure Omul außerdem per- Da aber können die alten FroGs – die fekt beherrscht, ist die „Methode des Friends of Gerd – nicht hintanstehen. Kuh-vom-Eis-Schiebens“. Wahnsinn! Sie schreiten zum Sexiest-Sozialdemo- Frank-Walter, kein fliegender, sondern krat-alive-Contest und bringen ihre ein schiebender Fisch! Und dann auch stärkste Waffe zum Einsatz: Ulrike Po- noch Kühe! Da kann der heilige Martin sche, „Stern“-Autorin und Verfasserin nun wirklich nicht mehr mithalten. der ersten Hagiographie über Gerhard Und zu guter Letzt noch dieses Ge- Schröder. Nun aber leistet sie letzten sicht! Frank-Walter, so lernen wir von Einsatz für Schröders Faktotum, den Frau Posche, ist der Mann mit den so begabten Frank-Walter, die „echte zwei Gesichtshälften: „Links grübeln, Lichtgestalt“. Langweilig soll Stein- rechts lächeln – Steinmeier ist wohl der meier sein? Keine Spur, weiß Frau Po- einzige Politiker zwischen Abidjan und sche: „Er ist ein Kümmerer, ein Film- Zagreb, der das kann.“ Lächeln beim freak, ein leidenschaftlicher Bücher- Grübeln, das allerdings kann der gute leser. Er explodiert, wenn er lacht, mal Martin in der Tat nicht, wenn er wieder raucht er und mal nicht.“ Ist das nicht einmal seine Genossen besoffen redet. ungeheuerlich? „Mal raucht er und Und damit ist Frau Posche bei ihrem mal nicht.“ Aber leider trifft das auch ultimativen Hieb gegen den Konkur- auf Martin Schulz zu. „Gern Rotwein renten: „Zu denen, die jedes Mal ga- oder Pils statt Bionade.“ Klarer Vorteil ckern, wenn sie ein Ei gelegt haben, Schulz: Der hat in seinem ersten Leben gehört unser Frank nämlich nicht.“ schon so viel Bier und Rotwein getrun- Genau, das Gackern wird Frank-Wal- ken, dass er heute nur noch Bionade ter nun ganz dem Martin überlassen. nimmt. Aber jetzt kommt Ulrike Po- Er aber wird in Bellevue „allen seine sche und mit ihr der ultimative Stein- Grübchen zeigen, herzhaft lachen“ meier: „Immer noch dieselbe Frau. Wie und sich daran freuen, wie weit man es selten, wie toll, wie treu!“ Unfassbar, als Sozialdemokrat mit historischen 23 wie selten, wie toll – und zwar in der Prozent doch bringen kann – dem Erz- Tat im Umfeld von Gerhard Schröder, engel Gabriel sei Dank! dem Herrn der Eheringe. Nicht aber in Jan Kursko

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201703_Blätter_Buch.indb 88 15.02.17 11:29 Jetzt erst recht: Wider die bequeme Weltuntergangslust Von Franziska Schutzbach

icht erst seit der Wahl Donald Trumps beschäftigt mich die Frage, wie Nwir aus einer progressiven, im weitesten Sinne linken Position heraus die aktuellen reaktionären Entwicklungen „ertragen“ können, wie wir nicht nur politisch, sondern auch emotional damit umgehen. Ich habe nämlich fest- gestellt, dass ich frustriert werde, verhärtet. Manchmal verzweifelt. Oder dauerempört. Und dass mir dadurch viel Energie verlorengeht. Auch Freude. Es ist ja nicht so, wie manche meinen, dass sich das sogenannte liberale Zeitalter gerade jetzt dem Ende zuneigt. Eine solche Untergangsstimmung können sich vermutlich nur „Verwöhnte“ leisten, also diejenigen, die es in den letzten Jahren gewohnt waren, eine Stimme, Rechte, Zugang, Anerken- nung, auch Geld, Arbeit usw. zu haben. Für viele hat das „liberale Zeitalter“ aber nie wirklich begonnen, oder nur begrenzt. Für Frauen aus der Arbeiter- schicht, für People of Color,1 für Geflüchtete, für nichtheterosexuelle Men- schen – und viele andere. Für sie gibt es nicht erst jetzt etwas zu beklagen, zu betrauern. Nicht erst, seit Trump gewählt wurde. Die Untergangsstimmung, die ich seit Kurzem bei sogenannten progres- siven Menschen beobachte, ist also recht bürgerlich. Es ist ein Luxus, dass viele von uns sich erst jetzt mit dem ganzen menschenfeindlichen „Müll“ konfrontiert wähnen. Ich habe kürzlich Etty Hillesums Tagebücher gelesen, und ich las Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen. Erinnerungen 1914–1933“. Beide Bücher handeln aus unterschiedlicher Perspektive von der Frage, was es bedeutet, mit reaktionären Kräften konfrontiert zu sein, und sich ihnen zu widersetzen. Beide haben ihre Gedanken aufgeschrieben in der Zeit vor und während der Machtergreifung der Nazis in Deutschland. Was tun, wenn die Nazis an die Macht kommen? Wir können nicht die dama- lige Situation eins zu eins mit der heutigen vergleichen. Wir haben nicht 1933. Aber ich glaube, dass es Parallelen gibt und wir etwas lernen können von diesen Menschen. Etty Hillesum war eine niederländische Jüdin, sie wurde im Alter von 29 Jahren in Auschwitz ermordet. Sie war Lehrerin, in den Jahren vor ihrem

* Der Beitrag basiert auf der „Winterrede“, die die Autorin am 19. Januar 2017 im Zentrum Karl der Große in Zürich gehalten hat. 1 Der Begriff „People of Color“ geht auf die US-Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre zurück. Er bezeichnet nichtweiße Menschen und wird von schwarzen Antirassisten auch als Eigenbezeich- nung verwendet. – D. Red.

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201703_Blätter_Buch.indb 89 15.02.17 11:29 90 Franziska Schutzbach

Tod studierte sie und schrieb. Ihr Tagebuch, „Das denkende Herz der Bara- cke“, wurde postum veröffentlicht und ein Welterfolg. Es handelt davon, wie ein Mensch unter den widrigsten Umständen nicht aufgibt – nicht sich und nicht die anderen. Es handelt von der Möglichkeit eines inneren Widerstan- des, einer inneren Unabhängigkeit und Integrität, bis zuletzt. Dieser Wider- stand bedeutet zuallererst, wie Hillesum schreibt, nicht zu hassen – auch nicht die Unterdrücker. Denn sich dem Hass hinzugeben bedeute, sich mit ihnen, den Unterdrückern, gemein und dem „Bösen“ gleich zu machen. Ein Jahr vor ihrer Ermordung schreibt sie: „Und sollte es nur noch einen einzigen anständigen Deutschen geben, dann wäre dieser es wert, in Schutz genommen zu werden gegen die ganze barbarische Horde, und um dieses einen anständigen Deutschen willen dürfte man seinen Hass nicht über ein ganzes Volk ausgießen. Das heißt nicht, dass man gegenüber gewissen Strömungen gleichgültig ist, man nimmt Stellung, entrüstet sich zu gegebe- ner Zeit über gewisse Dinge, man versucht Einsicht zu gewinnen, aber das Schlimmste von allem ist der undifferenzierte Hass. Er ist eine Krankheit der Seele. Sollte ich in dieser Zeit dahin gelangen, dass ich wirklich zu hassen anfange, dann wäre ich in meiner Seele verwundet und müsste danach stre- ben, so rasch wie möglich Genesung zu finden. Der Hass gegen die Deut- schen vergiftet unser eigenes Gemüt. Das ist deren wahrer Sieg.“2

Vom Pessimismus zur melancholischen Behaglichkeit

Während Hillesum aus der Perspektive der Verfolgten schreibt, zeigen Sebas- tian Haffners Tagebücher die Sicht eines nichtjüdischen jungen Deutschen, eines Jurastudenten aus dem liberal-bürgerlichen Milieu in Berlin, kurz vor der Machtergreifung der Nazis. Haffner zeichnet ein genaues Psychogramm seines Umfeldes: Wie reagieren die Leute? Wer kollabiert, wer verzweifelt? Interessant finde ich vor allem seine Beschreibung einer sich ausbreitenden Untergangsstimmung in liberalen und linken Kreisen. Genau das kommt mir bekannt vor, ich erlebe eine ähnliche Stimmung in meinem eigenen Umfeld, oder an mir selber. Beim Jahreswechsel twitterten viele, 2016 sei ein Horror- jahr gewesen und es werde wohl immer schlimmer. Es herrschte ein enormer Pessimismus. Natürlich stimmt es: 2016 war schlimm. Wieder sind Geflüchtete ertrunken, Trump, Syrien, Erdogan, das Erstarken von AfD, SVP, Front Natio- nal usw. Es gibt allen Grund zur Sorge. Und es ist wichtig, die Gefahren zu sehen. Aber können wir es uns leisten, pessimistisch zu sein? Lesen wir Haffner: Er redet nichts schön, kritisiert die Naiven und Schön- redner, die Ahnungslosen oder jene, die sich ins Private zurückziehen.3 Gleichwohl kritisiert er aber auch den „schrankenlosen Pessimismus“ vieler Zeitgenossen in jener Vorphase des Nationalsozialismus. Haffner schätzt die Verbitterung als eine typisch bürgerliche Versuchung ein: „Wie völlig hilflos

2 Etty Hillesum, Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher 1941-1943, Freiburg 2015, S. 36. 3 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart und Mün- chen 2001.

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wir geistig waren, mit all unserer bürgerlichen Bildung, vor diesem Vorgang, der in allem, was wir gelernt hatten, einfach nicht vorkam!“ Aufzugeben erschien deshalb als eine verlockende Option, die sich bei vielen in Form eines alles umfassenden Pessimismus zeigte. Man begegnete sich und der Welt mit einer „erschlafften Gleichgültigkeit“, einer masochisti- schen Bereitwilligkeit, sich dem Teufel einfach zu überlassen. Haffner nennt es einen „trotzigen Selbstmord“, der sehr heroisch aussieht – denn „man weist jeden Trost von sich“. Gleichzeitig übersehen diese Leute, so Haffner, dass gerade in dieser Haltung der giftigste, gefährlichste und lasterhafteste Trost liegt. Folgt man Haffner, strotzte das Bürgertum vor dieser perversen „Wol- lust der Selbstaufgabe“, einer „wagnerianischen Todes- und Untergangs- geilheit“, denn diese bot Trost. Diese Leute gingen herum und „greuelten“, so Haffner, und weiter: „Das Entsetzliche ist die unentbehrliche Grundlage ihres Geistes geworden; das einzige, düstere Vergnügen, das ihnen geblie- ben ist, ist die schwelgerische Ausmalung der Furchtbarkeiten. Vielen von ihnen würde etwas fehlen, wenn sie dies nicht mehr hätten, und bei manchen hat sich die pessimistische Verzweiflung geradezu in eine Art Behaglichkeit umgesetzt.“

Aufgeben ist Kollaboration

Ein schmaler Seitenweg von dieser melancholischen Behaglichkeit führt gemäß Haffner auch zum Nazitum: Wenn doch schon alles egal, alles verlo- ren, alles des Teufels ist, warum dann nicht selber sich zu den Teufeln schla- gen? Haffner vermutet im Pessimismus letztlich Kollaboration. Wenn alles schlimm ist, oder – wie heute manche Linke meinen – Obama oder Clinton gleich schlimm sind wie Putin oder Trump – dann ist es egal, wie man sich politisch noch verhält. Diese Haltung aber ist, folgt man Haffner, nicht bes- ser als Kollaboration. Eng mit der Untergangsstimmung verknüpft ist auch – wie ich Haffner mit Beobachtungen aus der heutigen Situation ergänzen möchte – die Besserwisserei. Ich beobachte bei Linken oft eine Arroganz der Besserwisserei, und zwar im folgenden Sinne: „Wenn die doofe Welt nicht so toll und richtig links, grün, revolutionär, feministisch usw. ist, wie ich mir das vorstelle, dann geht sie mich nichts mehr an. Dann ziehe ich mich zurück auf die Wahrheit, die ich für die Welt vorsehe. Und wähle zum Beispiel nicht mehr oder tue auch sonst nichts.“ Die Welt, die Gesellschaft, die Menschen verdienen aus dieser Sicht meine Aufmerksamkeit und mein Engagement nur dann, wenn sie genauso funktionieren, genauso ticken, wie ich es vor- sehe. Mit dieser Sichtweise aber kann alles als konformistisch, reformistisch, nicht links genug abgetan werden. Zugleich ist es eine bequeme Position, alles nicht radikal genug zu finden, nicht „richtig revolutionär“. Was Rechtspopulisten und autoritäre Verhältnisse dagegen aufhalten kann, ist ein Parlament, das demokratische Prozesse gewährleistet. Natürlich sind die vorhandenen demokratischen Institutionen und Prozesse längst nicht perfekt, sie müssen inklusiver werden, freier von wirtschaftlichen Interessen auch.

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201703_Blätter_Buch.indb 91 15.02.17 11:29 92 Franziska Schutzbach

Wir leben mitnichten in einer vollständig demokratischen Welt, die es ein- fach zu verteidigen gälte. Systemkritik, radikales Denken und Utopien sind nach wie vor notwendig und gefragt. Angela Merkel beispielsweise hat ihren flüchtlingsfreundlichen Kurs längst verlassen, Barack Obama hat sogar Drohnenkriege geführt. Aber gleichwohl ist da ein Unterschied zwischen Björn Höcke von der AfD und Angela Merkel, zwischen Hillary Clinton und Donald Trump. Wie Judith Butler vor Trumps Wahlsieg sagte: Es ist eher möglich, im Rah- men von grundsätzlich demokratischen Strukturen gegen eine Politik à la Clinton zu mobilisieren, als widerständige Politik zu organisieren, wenn erst einmal autoritäre Strukturen vorherrschen. Es gibt zahlreiche Berichte aus Russland, dass es dort kaum noch eine kritische Zivilgesellschaft gibt. In der Türkei werden täglich Intellektuelle, Journalistinnen und Journalis- ten verhaftet. So weit sollten wir es nicht kommen lassen, schon gar nicht aus Trotz, Untergangsverliebtheit oder Besserwisserei. Nun sind auch in den USA Grundrechte massiv bedroht, weshalb – wie Butler nach der Wahl kon- statierte – von nun an auch ziviler Ungehorsam nötig sei, wie beispielsweise die Nichtumsetzung von Gesetzen.4 In der Schweiz, Deutschland und anderen europäischen Ländern gibt es vorerst noch demokratischen Spielraum, deshalb: Wählen wir Sozialdemo- kraten, Grüne, Linke, FDP, CDU. Oder spenden wir an Parteien, werben wir für sie. Eine sozialdemokratische oder liberalkonservative Mehrheit im Par- lament ist das, was rechte Politik institutionell aufhalten kann. Man kann die Sozialdemokraten oder die Grünen suspekt findet, zu wenig radikal, zu wenig feministisch, antikapitalistisch, oder umgekehrt: zu radikal, zu rot. Aber lasst uns nicht demokratische Grundstrukturen gefährden, nur weil wir meinen, besser zu wissen, wie es sein müsste.

Es gibt nicht die eine richtige Formel für ein gutes Leben für alle

Rechtspopulisten greifen strukturell die Demokratie an, wie die Politikwis- senschaftlerin Antje Schrupp schreibt: „Sie konterkarieren das politische Prinzip der Pluralität, sie setzen Verleumdungen anstelle von Argumenten, vertreten das Recht des Stärkeren, sind nationalistisch, unsozial, gefähr- lich.“5 Deshalb kommt Nichtwählen oder Nichtabstimmen einfach nicht mehr in Frage. Es muss gewählt und abgestimmt werden, um den Macht- anteil und den Einfluss reaktionärer Kräfte so gering wie möglich zu halten. Radikale Ablehnung reicht nicht, es braucht auch den kleinsten gemeinsa- men Nenner, die Demokratie erhalten und ausbauen zu wollen. Demokratie war bisher – trotz Unzulänglichkeiten, trotz dilemmatischer Voraussetzun- gen beispielsweise für Frauen oder nichtweiße Menschen – die politische

4 Judith Butler, „Ich befürchte einen amerikanischen Nationalismus“, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 25.1.2017, www.nzz.ch. 5 Vgl. Antje Schrupp, The BIG UGLY FIVE: Im September wählen gehen, aber richtig!, www.antje- schrupp.com, 23.1.2017.

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Form, die Teilhabe für die meisten Menschen ermöglicht hat. Auch in der Opposition, in zivilgesellschaftlicher und außerparlamentarischer Selbstor- ganisierung, im künstlerischen Schaffen oder im Philosophieren. Dass diese Dinge möglich sind, ist ja ebenfalls kein unwesentlicher Teil einer demokra- tisch verfassten Gesellschaft. Neben dem gemeinsamen demokratischen Nenner können wir autoritä- ren Kräften gleichzeitig nur mit Durchlässigkeit begegnen. Es gibt nicht die ein für alle Mal richtige Formel für ein gerechtes und gutes Leben für alle. Demokratie ist ein kontinuierlicher Prozess der Aushandlung und Verände- rung. Man kann nie sicher auf der richtigen Seite stehen, es gibt nicht die eine Vision von der besseren Welt, der Revolution oder vom Fortschritt. Man kann dem Autoritären nicht mit Autoritarismus begegnen. Und wir wissen, wel- che blinden Flecken oder gar diktatorischen Systeme aus Utopien entstehen können. Auch wer es gut meint, ist nicht selten Teil von Machtmechanismen, reproduziert diese mit. Altruismus oder Humanitarismus können Strategien sein, sich selbst aus allem herauszunehmen, eine Art Position der Unschuld oder gar Überlegenheit zu reklamieren. Dabei verliert man, so Judith But- ler, den kritischen Blick auf das eigene Ich, verliert den Blick für die eigene Begrenztheit, Verletzbarkeit und Angreifbarkeit. Daher ist die Erkenntnis der eigenen Verunsicherung die Voraussetzung dafür, nicht selbst in gewalt- volle oder autoritäre Positionen zu verfallen.6

Bleiben wir handelnde Subjekte

Es ist deshalb wichtig zu begreifen – und das steht weder im Widerspruch zur parlamentarischen Politik noch zu Massenaufständen auf der Straße –, dass das Politische überall ist, auch in der persönlichen Haltung. Es ist poli- tisch, sich der pessimistischen Verzweiflung hinzugeben, Besserwisserei ist politisch. Politisch ist aber auch die Entscheidung einer einzelnen Frau (Hil- lesum), innerlich nicht zu verhärten, sich nicht auf die Logik des „Feindes“ einzulassen. Wenn wir den Bereich des Politischen erweitern, wird es viel- leicht eher gelingen, nicht zu verzweifeln, sich nicht dem Untergang, dem Schrecklichen hinzugeben, sondern auch vom Standpunkt der eigenen Frei- heit und Möglichkeiten ausgehen zu können. Und so beispielsweise, wie Etty Hillesum, an einer inneren Integrität zu arbeiten. Diese „innere“ Arbeit ist eine wichtige Voraussetzung, um auch „äußerlich“ handeln zu können und den Kampf gegen äußere Zwänge, gegen Diskriminierung, Gewalt, Unter- drückung und Ausbeutung aufzunehmen. Die italienischen Diotima-Philosophinnen plädieren deshalb dafür, nicht nur die Unterdrückung zu bekämpfen oder abzulehnen, sondern auch die bereits vorhandenen Freiheitsspielräume in den Blick zu nehmen.7 Wir sollten

6 Vgl. Paula Vosse, Judith Butler – Albertus-Magnus-Professur 2016: „Verletzlichkeit und Widerstand neu denken“, www.stellwerk-magazin.de, 4.7.2016. 7 Andrea Günter (Hg.), Diotima. Jenseits der Gleichheit: Die weiblichen Wurzeln der Autorität, Sulz- bach 1999; Dorothee Markert und Antje Schrupp, Diotima. Macht und Politik sind nicht dasselbe, Sulzbach 2012.

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uns also immer fragen: Selbst wenn vieles schlecht läuft und es Zwänge gibt, wo ist der Punkt, an dem ich bereits hier und jetzt Freiheit umsetzen kann? Ich will nichts schönreden und bin mir meiner eigenen Privilegien bewusst. Gleichwohl denke ich: Ausschließlich darauf zu fokussieren, was alles schief- läuft, bedeutet, sich selbst nicht als handelndes Subjekt zu sehen. Man „ent- machtet“ sich selbst. Oder anders ausgedrückt: Mit der Kritik an Herrschaft ist zwar die Bedeutung und die Wucht der Herrschaft benannt, aber es bleibt unsicht- bar, was sonst noch geschieht. Reproduziert wird die Vorstellung, es gebe kein Anderswo der Geschichte, kein Anderswo des Politischen, kein Anderswo der Existenz. Wer nur das Falsche ablehnt, lässt sich auf die Logik dessen ein, was er oder sie ablehnt. Man richtet sich im Feld des Kritisierten ein und akzeptiert, selbst wenn man es bekämpft, die Dimension, die Rich- tung und den Raum des Kritisierten. Es entsteht eine „rebellische Abhän- gigkeit“ (Wanda Tommasi), die ständig sich auf das beziehen muss, was sie ablehnt.8 Die Philosophin Simone Weil argumentierte in ihrer Arbeit zu Hegels Herr-Knecht-Überlegungen, dass sich die Macht der Herrschenden ohne das innere Einverständnis der Beherrschten nicht halten könne.9 Der „Knecht“ – um beim Hegel-Bild zu bleiben – sei zwar objektiven Zwängen unterworfen. Er könne sich aber auch fragen, inwieweit er innerlich dem Wertemaßstab derer zustimmt, die ihn beherrschen. Dann kann er überlegen, wie er diesen verschieben kann. Folgt man Tommasi und Weil, ist die wichtigste Arbeit der Unterworfenen, ihre Zustimmung zur Unterwerfung innerlich aufzukündi- gen – damit die äußeren Zwänge äußere bleiben und nicht das Innere auf- fressen. Wie soll das gehen? Tommasi schreibt, eine solche Aufkündigung sei mög- lich, indem man die eigene Unterschiedlichkeit gegenüber dem „Herrn“ betone und versuche, diese Unterschiedlichkeit in gesellschaftlichen Umlauf zu bringen. Für sie ist klar, dass wir einer anderen Welt nur näherkommen, wenn wir deutlich machen, dass diese ein Stück weit schon da ist. Ich habe vor Kurzem mit einer Frau aus Ghana gesprochen, sie lebt seit 20 Jahren in der Schweiz. Sie hat viele Erfahrungen mit Rassismus gemacht und macht sie noch immer. Aktuell hilft sie einer Frau aus Pakistan, deren Mann gestorben ist und die keinen legalen Aufenthaltsstatus hat. Während ihrer gesamten Ferien war die Frau aus Ghana mit der Frau aus Pakistan auf Ämtern, bei der Sozialhilfe. Die Frau aus Ghana sagte mir: Ich überlege nicht, ob ich Zeit habe, wenn jemand Hilfe braucht. Ich tue einfach das Not- wendige. Und ich helfe damit nicht nur der anderen Frau, sondern auch mir selbst. Denn das Notwendige zu tun, steht der Logik unserer Welt entgegen. Es ist gut zu spüren, dass ich es anders mache. Eine andere Welt ist also schon da. Wenn wir sie zu sehen bereit sind.

8 Wanda Tommasi, Die Arbeit des Knechts, in: Diotima, Jenseits der Gleichheit, a.a.O., S. 87-119. 9 Simone Weil, Cahiers, Bd. I, München 1991, S. 74-78 und S. 105.

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201703_Blätter_Buch.indb 94 15.02.17 11:29 National versus global Das Dilemma der europäischen Sozialdemokratie

Von Steffen Vogel

ie SPD erlebt derzeit einen lange nicht mehr gekannten Höhenflug. Mit D Martin Schulz als ihrem Spitzenkandidaten erscheint der Ausgang der Bundestagswahl plötzlich wieder offen. Von solchen Aussichten können ihre Genossen in anderen europäischen Ländern nur träumen. Die Sozialdemo- kratie ist auf dem Kontinent heute so schwach wie wohl noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Und selbst wenn die Euphorie über Schulz dies momentan kaschiert, gilt dies grundsätzlich auch für die SPD. Diese triste Lage fällt ausgerechnet in eine Zeit entscheidender Weichen- stellungen für Europa. In Washington amtiert seit Januar ein Präsident, des- sen Nationalismus auch eine anti-europäische Stoßrichtung hat und dessen Berater enge Kontakte zu rechten Kräften in Europa unterhalten.1 Auch des- halb verspüren erklärte Feinde der EU wie Marine Le Pen, Geert Wilders und Matteo Salvini derzeit beträchtlichen Rückenwind. Das europäische Superwahljahr – mit Urnengängen in den Niederlanden, Frankreich, Italien und der Bundesrepublik – soll ihnen den endgültigen Durchbruch besche- ren. Vom Ausgang dieser Wahlen hängt daher entscheidend ab, ob die euro- päische Zusammenarbeit weiterhin eine Chance haben wird. Die Sozialde- mokratie jedoch wird dabei keine große Rolle spielen: Außer in Italien wäre ihr Wahlsieg überall eine Überraschung. Mancherorts geht es gar nur noch um Schadensbegrenzung. Das zeugt von mehr als einer kurzfristigen Schwäche, es ist vielmehr das Ergebnis eines längeren Niedergangs. Damit droht die Sozialdemokratie ihren Status als Volkspartei dauerhaft zu verlieren. Dieser Niedergang ist zu einem wesentlichen Teil selbstverschuldet. Der „Dritte Weg“ von Gerhard Schröder und Tony Blair hat sich als Irrweg erwiesen, und die Sozialdemo- kraten erhalten seitdem die Quittung für ihren neoliberalen Kurs.2 Allerdings erreichen auch Vertreter des linken Flügels, die unmissver- ständlich mit dieser langjährigen Orientierung brechen, nur schwache Umfragewerte. Das gilt etwa für Jeremy Corbyn in Großbritannien und Benoît Hamon in Frankreich. Offenkundig macht der europäischen Sozial-

1 Vgl. Steven Erlanger, For Europe, There’s a New Threat in Town: The U.S., in: „The New York Times“, 3.2.2017. 2 Vgl. Albrecht von Lucke, Trump und die Folgen: Demokratie am Scheideweg, in: „Blätter“, 12/2016, S. 5-9.

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demokratie noch ein weiteres Problem zu schaffen – und das ist struktureller Natur: Ihre einstigen Kernmilieus entwickeln sich auseinander und bewe- gen sich politisch in gegensätzliche Richtungen. Während es einen erheb- lichen Teil der Arbeiterschaft zu nationalistischen Kräften zieht, bekräftigt das urbane Bürgertum erst recht seine kosmopolitischen Einstellungen. Schon aus strategischen Gründen muss die Sozialdemokratie daher verhin- dern, dass die soziale Frage endgültig national besetzt wird. Kurz: Sie müsste das leisten, was sie einst stark gemacht hat – den gesellschaftlichen Zusam- menhalt durch Sozialreformen stärken und diese in eine sinnstiftende Erzäh- lung einbetten. Diese Herausforderung zeigt sich exemplarisch anhand der sozialdemo- kratischen Parteien aus drei großen europäischen Ländern, allerdings in höchst unterschiedlichem Maße: Während die britische Labour Party derzeit keine eigenen Akzente setzen kann, steht der französische Parti Socialiste vor einer Zerreißprobe. Die SPD hingegen hat einen unerwarteten Spielraum gewonnen.

Labour in der Sackgasse

Vor welchen Problemen die Linke steht, wenn das Nationale dominiert, demonstriert das Beispiel Großbritanniens. Seit dem Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 beherrscht der anstehende EU-Austritt die Debatten. Damit haben rechte Kräfte innerhalb wie außerhalb der regierenden Tories dem Land ihre Agenda aufgezwungen. Der größte innenpolitische Verlierer dabei ist Labour: Käme es über die Brexit-Verhandlungen zu Neuwahlen, würde die Partei wohl eine empfindliche Niederlage erleiden. Seit Monaten vermel- den die Meinungsforscher einen Rekordabstand zu den Konservativen. Auch Parteichef Jeremy Corbyn, der Hoffnungsträger der linken Sozialdemokra- tie, hat viel von seinem anfänglichen Schwung eingebüßt. Konnte er vor dem Referendum noch mit seiner Kritik an Armut und Ungleichheit punkten, scheiden sich die Geister im Land nun an der Haltung zum Brexit. Und das bringt Labour in die Bredouille. Während die konservative Pre- mierministerin Theresa May auf einen harten Bruch mit der EU zusteuert, finden die Sozialdemokraten nur schwer zu einer klaren Position. Ihre Wäh- lerschaft ist gespalten: „Die 25 Wahlkreise mit der stärksten Unterstützung für den Austritt werden ebenso von Labour-Abgeordneten vertreten wie die 25 Wahlkreise mit der größten Befürwortung der EU-Mitgliedschaft“, bringt die sozialdemokratische Parlamentarierin Thangam Debbonaire das Dilemma auf den Punkt.3 Das Team um Corbyn will angesichts dessen vor allem die einstigen Stammwähler im Nordosten Englands zurückgewinnen. Obwohl Labour im Vorfeld für den Verbleib geworben hatte, setzten sich in den ehemaligen Industrie- und Kohlerevieren beim Referendum die EU-Gegner durch. Schon

3 Vgl. „The Bristol Post“, 26.1.2017.

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länger spüren die Sozialdemokraten dort die Konkurrenz durch die rechte UK Independence Party. Corbyns Leute fürchten mittlerweile, diese Wähler dauerhaft zu verlieren, manche warnen gar vor einem Szenario wie in den USA, wo Donald Trump den Demokraten im industriell geprägten Rust Belt viele Stimmen abjagen konnte.4 Hinter dem Brexit, so die Diagnose der Labour-Strategen, steht der Frust über selbstbezügliche Eliten, die scheinbar kein Gespür für die sozialen Nöte vieler Briten haben. Zu diesen abgehobenen Zirkeln in Westminster möchte der ohnehin eher europaskeptische Corbyn nicht gerechnet werden. Des- halb plädiert er dafür, die Brexit-Entscheidung zu respektieren. Allerdings dürfe das nicht zulasten von Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit gehen. In der Migrationspolitik vollzog Corbyn gar eine regelrechte Kehrtwende: Zunächst hatte er für die Offenheit Großbritanniens geworben und May scharf dafür kritisiert, dass sie die garantierte Freizügigkeit für EU-Bürger beenden will. Jetzt erklärt er, eine schärfere Einwanderungsbeschränkung dürfe nicht an seiner Partei scheitern. Ob ihm der Schwenk hin zu einem Brexit-Kurs nutzt, ist allerdings zwei- felhaft. Bei den Parlamentswahlen von 2015 hatte Labour in Schottland 40 ihrer 41 Sitze an die Schottische Nationalpartei verloren. Die SNP konnte sich damals mit einem sozialdemokratischen Programm als linke Alternative profilieren. Bleibt es bei Corbyns Brexit-Unterstützung, könnte die SNP bei der nächsten Wahl auch als europäische Alternative punkten. Schottland hat mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt, die SNP-Chefin Nicola Sturgeon gehört zu den vehementesten Kritikern des EU-Ausstiegs. Mit dem jetzigen Kurs gibt Labour Schottland also endgültig verloren. Mehr noch: Auch ihr jüngerer, städtischer Anhang – der wegen Corbyn zehntausendfach in die Partei strömte – votierte überwiegend gegen den Brexit. Ihm bieten sich die Liberaldemokraten an, die sich mit dem EU-Aus- tritt nicht abgefunden haben und ein zweites Referendum über die Verhand- lungsergebnisse fordern. Dieses Risiko bereitet auch einigen Labour-Abge- ordneten Sorgen: Als das Unterhaus jüngst über die Anrufung von Artikel 50 abstimmte, der Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union formal einleitet, votierte ein Fünftel der Labour-Fraktion gegen die Brexit- Linie ihres Parteichefs. Selbst Vertreter des Corbyn-Flügels kritisieren sei- nen Europakurs öffentlich.5 Dieses Dilemma wollen Corbyns Berater mit einer linkspopulistischen Strategie kaschieren. Künftig soll sich der Parteichef verstärkt als Gegner des Establishments inszenieren. Corybn appelliert indessen an seine Partei- freunde, sich allein auf ökonomische Fragen zu konzentrieren.6 Damit jedoch nimmt er den Brexit als schicksalhaft hin und muss akzeptieren, dass Mays Konservative weiter die Agenda bestimmen – und die Zukunft ihres Landes gleich mit.

4 Vgl. Mark Seddon, Labour’s Article 50 rebels are playing with fire, in: „The Guardian“, 30.1.2017. 5 Vgl. Michael Chessum, To lead a new movement, Labour must stop giving ground to the Tories on Brexit, www.newstatesman.com, 2.2.2017. 6 Vgl. Jamie Grierson und Jessica Elgot, Two Labour whips defy Jeremy Corbyn on article 50 vote, www.theguardian.com, 27.1.2017.

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201703_Blätter_Buch.indb 97 15.02.17 11:29 98 Steffen Vogel

Der Parti Socialiste vor der Zerreißprobe

Vor ähnlichen Problemen stehen die französischen Sozialisten. Noch 2012 errangen sie einen strahlenden Wahlsieg, der François Hollande in den Elysée-Palast führte und dem PS eine klare Mehrheit in der Nationalver- sammlung bescherte. Doch fünf Jahre später gelten sie als chancenlos. Alles andere als das Ausscheiden in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen Ende April wäre eine Sensation. Daran wird auch ihr Spitzenkandidat Benoît Hamon nach seinem deutlichen Überraschungssieg in den internen Vorwah- len wenig ändern können. Bei allem Einsatz vermag er nicht zu verhindern, dass die Sozialisten in großem Ausmaß Wähler an gegensätzliche Lager verlieren. So tendieren mittlerweile 50 Prozent der Arbeiter zum rechtsextremen Front National, darunter viele ehemalige Anhänger der Linken.7 Die Partei von Marine Le Pen schlachtet die ökonomischen Sorgen vieler Franzosen erfolgreich für sich aus. Sie verspricht eine protektionistische Wirtschaftspolitik, will eine Inländer-Bevorzugung in der Verfassung verankern lassen und aus der EU austreten. Mit diesem Kurs gelang es ihr, Rathäuser in ehemals links gepräg- ten Kohle- und Stahlstädten des französischen Nordostens zu erobern. Damit verfügen die Rechtsextremen mittlerweile auch außerhalb ihrer südfranzösi- schen Hochburgen über eine Stammwählerschaft. Zudem sind die Sozialisten in den Zangengriff zweier höchst unterschied- licher Kandidaten geraten, die beide linke Wähler ansprechen. Noch bevor der PS seinen Spitzenkandidaten kürte, hatten zwei ehemalige Sozialisten ihre eigenständige Kandidatur erklärt: Jean-Luc Mélenchon vertritt klas- sisch linke Positionen und verpackt sie in eine populistische Diktion: „Die Oli- garchie hinwegfegen, die Privilegien der Kaste abschaffen“, tönt es aus sei- nem Wahlprogramm.8 Er verspricht einen „solidarischen Protektionismus“ und die Stärkung der mittelständischen Industrie. Zudem artikuliert er ein verbreitetes Unbehagen über die deutsche Dominanz in Europa und liebäu- gelt mit einem nationalen Alleingang: Entweder werde die EU grundlegend reformiert oder Frankreich müsse seinen Austritt erklären. Emmanuel Macron wiederum verspricht einen Aufschwung durch mehr Flexibilität und weniger Staat. Zugleich preist er die gesellschaftliche Viel- falt und ist der einzige Kandidat, der sich enthusiastisch zu Europa bekennt. Dabei geht es ihm gleichermaßen um Werte wie um ökonomische Perspek- tiven: Eine europäische Alternative zu Google werde nicht in Frankreich entstehen, sondern bedürfe einer europäischen Anstrengung. Macron ver- körpert damit nahezu idealtypisch, was Nancy Fraser9 den „progressiven Neoliberalismus“ nennt. Er knüpft aber auch an die große europäische Tra- dition der französischen Sozialisten unter François Mitterrand und Jacques Delors an.

7 Vgl. Georg Blume, Nie den Umfragen glauben, in: „Die Zeit“, 19.1.2017. 8 Vgl. https://avenirencommun.fr. 9 Vgl. Nancy Fraser, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: „Blät- ter“, 2/2017, S. 71-76.

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Für den Hollande-Flügel der Sozialisten ist Macrons Programm weitaus attraktiver als das Angebot ihres eigenen Kandidaten, der sich offensiv von der Regierungsbilanz seiner Partei distanziert. Hamon setzt auf eine Allianz mit den Grünen und Mélenchons Linkspartei. Mit ihren Stimmen könnte es für ihn theoretisch zur Präsidentschaft reichen. Doch für Mélenchon kommt ein Verzicht zugunsten des Sozialisten nicht infrage, selbst wenn dieser bes- sere Aussichten hat. Dabei geht es neben persönlichen Eitelkeiten um zwei Streitfragen: den Umgang mit der Arbeitslosigkeit – und mit Europa. Wäh- rend Mélenchon den Wert der Arbeit betont, möchte Hamon ein garantiertes Grundeinkommen von 750 Euro pro Monat unabhängig von einer Erwerbs- tätigkeit durchsetzen. Mit Blick auf die EU wiederum plädiert Hamon für eine Abkehr vom neoliberalen Kurs, für ökologische Investitionen und für ein Moratorium über die Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages – nicht aber für einen EU-Austritt seines Landes, mit dem Mélenchon liebäugelt. Diese Umstände machen Hamon schon jetzt zum gescheiterten Kandi- daten. Vor seiner Nominierung steckten die Sozialisten im Umfragekeller, selbst peinliche sieben Prozent bei den Präsidentschaftswahlen schienen möglich. Hamon ging als Außenseiter ins Rennen, konnte insbesondere junge Franzosen aus dem Umfeld von Nuit debout10 mobilisieren und hat seit- dem den Abstand zu den anderen Kandidaten deutlich verringert. So wird er zwar das größte Desaster von seinen Sozialisten abwenden – aber dennoch ein historisch schlechtes Ergebnis einfahren. In einer polarisierten politi- schen Landschaft geraten die Sozialisten faktisch unter die Räder: Mélen- chon ist eurokritischer, Macron europafreundlicher als Hamon. Und die zum Front National abgewanderten Arbeiter dürften die Sozialisten gerade nicht mit Hamons Absage an die Arbeitsgesellschaft zurückgewinnen. Obendrein droht dem PS ein personeller Aderlass in Richtung von Macrons Bewegung „En marche!“, der von einem durchaus möglichen Wahlsieg des Ex-Sozialisten noch verstärkt würde. Denn Hamons Kurs gefällt zwar der Basis, ist aber unter Parteifunktionären unbeliebt.11 Schlimmstenfalls könnte der PS auf absehbare Zeit marginalisiert werden, zugunsten von pro- gressiven Liberalen und national orientierten Linken.

SPD: Neustart mit Schulz?

Von einem derartigen Krisenszenario war die SPD bis zum Antritt von Mar- tin Schulz nicht weit entfernt. Auch die deutschen Sozialdemokraten verlo- ren zuvor in mehrere Richtungen. Zunächst hatte die Agenda-Politik zahlrei- che SPD-Anhänger entweder zur Linkspartei oder ins Lager der Nichtwähler getrieben. Aus diesem Reservoir enttäuschter Wahlabstinenzler bediente sich später die AfD. Zudem haben die Sozialdemokraten jüngst auch direkt an die Rechtspopulisten verloren. Ähnlich wie dem Front National gelingt es

10 Vgl. dazu: Steffen Vogel, Nuit debout: Die Renaissance der französischen Linken?, in: „Blätter“, 6/2016, S. 25-28. 11 Vgl. Bastien Bonnefous, L’équation délicate de Benoît Hamon, in: „Le Monde“, 31.1.2017.

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der AfD, einen erheblichen Teil der Arbeiter und Arbeitslosen hinter sich zu versammeln (obwohl sie anders als ihre französischen Verbündeten bisher für eine klar neoliberale Wirtschaftspolitik steht). Die vordringlichste Aufgabe von Martin Schulz besteht daher bei aller Euphorie darin, den weiteren Bedeutungsverlust seiner Partei zu verhindern. Ganz offensichtlich hofft die SPD darauf, ihn glaubwürdig als Kandidat des Wandels präsentieren zu können. Schließlich verbindet man ihn als Europa- politiker nicht sofort mit dem unternehmerfreundlichen Kurs, den die Partei unter Schröder gefahren hat. Geht es nach den SPD-Strategen, soll Schulz endlich die Agenda-Jahre vergessen machen, allerdings ohne dabei ihre nach wie vor zahlreichen Befürworter in der Partei zu verprellen. Mit Blick auf seine Persönlichkeit könnte ihm dies durchaus gelingen. Er verkörpert geradezu die ersehnte Rückkehr der SPD zur Volkspartei: Habitu- ell und aufgrund seiner Aufsteigerbiographie dürfte es ihm gelingen, bei den sogenannten kleinen Leuten zu punkten. Als überzeugter Europäer könnte er zugleich das urbane Bürgertum für sich gewinnen. Laut ersten Umfragen vermag er sogar bisherige Nichtwähler zu motivieren. Mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz bietet sich also eine große Chance, verschiedene Milieus erneut unter dem Dach der SPD zu vereinen. Aber wird er sie auch ergreifen? Dazu müsste er nicht nur persönlich über- zeugen, sondern sich auch inhaltlich positionieren. Bislang zumindest war der Sozialdemokrat im Europaparlament stets der Garant einer informellen großen Koalition mit den Konservativen. Anders als manche seiner Frak- tions-Genossen fiel Schulz dabei nicht als Kritiker der Freihandelsabkom- men TTIP und CETA auf. Und als im Sommer 2015 der Streit zwischen der Eurogruppe und der griechischen Regierung unter Alexis Tsipras eskalierte, schlug sich Schulz auf die Seite des europäischen Establishments.12 Will er nun glaubhaft den Wandel vertreten, müsste er sich von seiner bisherigen Linie deutlich absetzen: für ein Programm sozialer Gerechtigkeit, das euro- päisch gedacht ist.

EU: Solidarität und Selbstbehauptung

Denn darin besteht die einzig praktikable Antwort auf die globalen Heraus- forderungen. Mit nationalen Alleingängen werden die allenfalls mittelgro- ßen europäischen Länder kein Gegengewicht zu den autoritären Anführern vom Schlage Donald Trumps oder Wladimir Putins bilden können. Allein fin- den sie keine Antwort auf die blutigen Konflikte vor Europas Haustür, allein werden sie nicht den Klimawandel aufhalten können. Mehr denn je ist daher jetzt europäische Solidarität gefragt. Das sieht auch die Mehrheit der Euro- päer so. Schon nach dem Brexit-Schock vom vergangenen Sommer stieg die Zustimmung zur EU in der Bevölkerung stark an. Sie liegt in vielen europä- ischen Ländern so hoch wie lange nicht.13

12 Vgl. Martin Reeh, Ein überzeugter Deutscher, in: „die tageszeitung“, 11.2.2017. 13 Vgl. Bertelsmann Stiftung, Brexit lässt die Zustimmung zur EU deutlich steigen, 21.11.2016.

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Jedoch war von europäischer Solidarität zuletzt wenig zu spüren. Gerade Deutschland verteidigt sein exportorientiertes Wirtschaftsmodell seit Jahren rücksichtslos gegen die Südeuropäer – und wies in einem breiten lagerüber- greifenden Konsens alle Verantwortung von sich, als dort die ökonomische Krise zuschlug. Bis heute leidet die Region unter Rekordarbeitslosigkeit, neuer Armut und den Folgen sinnloser Sparprogramme – und beherbergt obendrein mehr schlecht als recht all jene Flüchtlinge, die weiter nördlich nicht willkommen sind. Ohne einen politisch verhandelten ökonomischen Ausgleich auf europäi- scher Ebene wird aber die nötige Kooperation nicht gelingen. Sie wiede- rum ist eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Erholung und politische Selbstbehauptung Europas gegenüber den Autokraten. Es geht heute also darum, die EU zu verändern, um sie bewahren zu können. Die Grünen etwa werben in diesem Sinne für einen „Green New Deal“: „Gemeinschaftlich und solidarisch finanzierte europäische Projekte können zu einer europäischen Identität beitragen und gleichzeitig die Investitionstä- tigkeit in Gang bringen“, schreiben Sven Giegold, Udo Philipp und Gerhard Schick. Als Beispiele nennen sie unter anderem: „Ein europäisches Eisen- bahnnetz, schnelles Internet in allen Regionen“ und „einen europäischen Ausbau erneuerbarer Energien samt der passenden Netze“.14 Andere Auto- ren aus dem Umfeld von SPD, Linken und Grünen plädieren für eine „Aus- gleichsunion“, um die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zu verringern.15

Für eine europäische Erzählung

Doch gute Konzepte allein reichen nicht, um die Anziehungskraft der Rech- ten zu schwächen. Wenn diese neue „nationale Größe“ und den Rückzug hinter gesicherte Grenzen versprechen, hilft dagegen nicht allein der sach- lich richtige Hinweis, dass Abschottung ökonomisch nicht funktioniert. Es nützt auch wenig, die Angst vor der absehbaren Krise nach einem Zerbre- chen des Euro zu schüren. Denn die Rechten müssen gar nicht mit konkreten Reformvorschlägen punkten. Sie reüssieren allein schon deswegen, weil sie die wirtschaftlichen Probleme vieler Menschen überhaupt anerkennen – und eine Vision präsentieren, die Gemeinsamkeit stiftet. Dass diese Gemeinsam- keit auf rassistischer Ausgrenzung gründet, nehmen ihre Anhänger dabei zumindest in Kauf. Damit füllen sie eine Leerstelle: Die Sozialdemokratie – und die Linke generell – bietet nicht mehr, was sie einst stark gemacht hat. Ihr Erfolgs- modell nach dem Zweiten Weltkrieg gründete auf dem Zusammenspiel aus einer groß angelegten sozialen Reformpolitik und ihrer Einbettung in eine integrative Erzählung. Sie verband das persönliche ökonomische Glück mit

14 Vgl. Sven Giegold, Udo Philipp und Gerhard Schick, Finanzwende. Den nächsten Crash verhindern. Berlin 2016, S. 15. 15 Vgl. Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan und Frank Bsirske, Ausgleich statt Austerität. Für eine solidarische Europäische Union, in: „Blätter“, 1/2017, S. 93-104.

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dem allgemeinen Wohlstand – und die individuelle Sinnstiftung mit einer gesellschaftlichen Anstrengung. Bernie Sanders nennt das heute „Sozialis- mus“ und erreicht damit in den USA Abgehängte und Akademiker gleicher- maßen. Sanders erneuert den Doppelcharakter des Sozialismus-Begriffs: Den Wütenden bietet er einen (utopisch-)oppositionellen Gegenentwurf, den Moderaten einen Orientierungsrahmen für eine realistische Reformpolitik. Beide können ihre Hoffnungen mit demselben Konzept verbinden. Er klingt damit europäischer als viele europäische Linke. Um den Nationalisten wirksam zu begegnen, muss die Linke daher wie- der eine eigene Erzählung entwickeln, die universalistisch, europäisch und ökologisch zugleich ist. Davor schrecken viele Linke bislang zurück: Sie hal- ten eine emotionale Ansprache für riskant oder glauben, die Zeit der „gro- ßen Erzählungen“ sei vorbei. Doch eine politische Erzählung bedeutet kein Zugeständnis ans Postfaktische und auch keine Abkehr von rationalen Argu- menten. Es geht um einen Deutungsrahmen, innerhalb dessen die Fakten noch stärker wirken, weil sie Hoffnung und Leidenschaft wecken können. Das könnte Martin Schulz nun leisten, wenn er auf europäische Solidarität setzt: Eine Investitionsoffensive in Deutschland und ein gesteigerter Binnen- konsum durch höhere Löhne würden sowohl den Bundesbürgern nützen, als auch die deutschen Überschüsse abbauen – und so die europäischen Nach- barn entlasten. Wenn die Standortkonkurrenz in der EU zugunsten euro- päischer Umverteilung und europäischer Sicherungssysteme – etwa einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung – überwunden wird, schwächt das schließlich auch den Zug ins Nationale. Ein solches Programm könnte Schulz dann glaubhaft in eine Erzählung einbetten, wie die Europäer ihren Konti- nent gemeinsam gerechter gestalten können. Er könnte das Bild von europäi- schen Demokraten beschwören, die solidarisch zusammenstehen und daher stärker sind als die Autokraten dieser Welt. Schulz müsste dafür aber zu Konflikten bereit sein, etwa mit den Unter- nehmerverbänden und dem bisherigen Koalitionspartner seiner Partei, der CDU/CSU. Eine Abkehr vom verbohrten Austeritätskurs eines Wolfgang Schäuble würde Schulz viel Gegenwind aus der Union und manchem Redak- tionsbüro bescheren. Sollte Schulz dennoch die nötige Courage für eine sol- che europäische Solidarität aufbringen – und sie gar als rot-rot-grünes Regie- rungsprogramm verwirklichen können, würde die deutsche Linke endlich ihrer Verantwortung für Europa gerecht. Die sieben mageren Jahre nach Ausbruch der Eurokrise kämen damit zumindest symbolisch an ihr Ende.

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201703_Blätter_Buch.indb 102 15.02.17 11:29 Das Geschäft mit der Wohnungsnot Von Lisa Paus und Chris Kühn

er Handel mit Immobilien boomt. Das Transaktionsvolumen am Immo- D bilienmarkt ist seit 2009 in schwindelerregende Höhen gewachsen: von 13,4 Mrd. Euro auf 79 Mrd. Euro 2015. Diese rapide Entwicklung hat zwei zentrale Gründe: Erstens haben die wirtschaftlichen Unsicherheiten im Rah- men der Euro- und Finanzkrise zu einer Flucht in Sachwerte geführt. Zwei- tens werden Städte für Investoren offenbar immer attraktiver.1 Allerdings ist davon auszugehen, dass sich dieser Aufwärtstrend alsbald abschwächen wird. So stellten die Wissenschaftler Alan M. Taylor, Òscar Jordà und Moritz Schularick in einer Langzeitstudie fest, dass sich die Haus- preise nach Zinssenkungen stets von der Einkommens- und Wirtschaftsent- wicklung abkoppeln.2 Auch eine zweite historische Lektion ist beachtens- wert: So belegt der Ökonom Nouriel Roubini, der den Immobiliencrash von 2008 vorhersah, dass einem starken Preisaufschwung zumeist ein starker Abschwung folgt. Solchen Warnungen steht die viel zitierte These entgegen, dass die Preis- entwicklung durch den hohen Wohnungsbedarf verursacht wird. In der Tat wurde der Zuzug von jungen Akademikern in die attraktiven Ballungsräume sowie der Flächenbedarf von Familien viele Jahre unterschätzt. Günstige Mieten schienen in der Zeit nach der Wiedervereinigung garantiert. In der Folgezeit begann man daher, Leerstände abzureißen, und trieb die privat- wirtschaftliche Verwertung von Wohnungsbeständen voran. Das rächt sich jetzt: Trotz reger Investitionsaktivitäten, steigender Mieten und Kaufpreise übersteigt die Nachfrage nach Wohnraum heute bei weitem das Angebot. Nahezu einstimmig sprechen Analysten von einem jährlichen Bedarf von 400 000 zusätzlichen Wohnungen. Dieser wurde im Jahr 2015 durch die 250 000 neu entstandenen Wohnungen nicht einmal annähernd gedeckt.3 Hinzu kommt, dass viele Wohnungsunternehmen versuchen, aus der jetzigen Knappheit den größtmöglichen Profit zu schlagen. Deshalb

1 Allein in Berlin wurden im Jahr 2013 rund 6,9 Mrd. Euro für Großverkäufe ab 800 Wohneinheiten ausgegeben: 110 000 Wohneinheiten wechselten dabei den Besitzer. Vgl. Isabell Jürgens, Immobi- lien-Boom – Konzerne kaufen in Berlin 100 000 Wohnungen, 18.6.2014, www.morgenpost.de. 2 Òscar Jordà, Moritz Schularick und Alan M. Taylor, Financial Crises, Credit Booms and External Imbalances: 140 Years of Lessons, NBER Working Paper No. 16567, 2010. 3 Vgl. etwa das Positionspapier der Aktion Impulse für den sozialen Wohnungsbau, www.impulse- fuer-den-wohnungsbau.de, 2016.

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errichten sie teure Wohnungen, die für Studierende, Rentner und Flüchtlinge unerschwinglich, aber auch für junge Familien und Angestellte mit mittle- rem Einkommen kaum zu bezahlen sind. Obwohl die Wohnungswirtschaft boomt, birgt die aktuelle Entwicklung erhebliche Risiken. Das Deutsche Ins- titut für Wirtschaftsforschung (DIW) identifiziert in einer aktuellen Studie regionale Preisblasen, die sich zu einem deutschlandweiten Trend auswach- sen könnten.4 Schon jetzt lässt sich beobachten: Die Kaufpreise steigen deut- lich schneller als die Mieten und die Mieten wiederum deutlich schneller als die verfügbaren Einkommen – ein klares Zeichen für eine nicht nachhaltige Entwicklung, also für das Entstehen einer Blase. In den deutschen Großstädten sind die Kaufpreise seit 2009 durchschnitt- lich um 33 Prozent bei Neubauten und um 32 Prozent im Bestand gestiegen. Die Mietpreise haben sich ebenfalls enorm erhöht, allerdings weniger stark als die Kaufpreise: Bei den Erstvermietungen wurde ein durchschnittlicher Anstieg um 22 Prozent registriert. Dabei handelt es sich – laut DIW – über- wiegend um ein Problem westdeutscher Städte; nur für Potsdam wurde bis- lang eine ähnliche Entwicklung in Ostdeutschland diagnostiziert. Anders schätzt der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenban- ken e.V. die Lage am Immobilienmarkt ein: Eine Entkopplung von Mieten und Kaufpreisen zeige sich demnach allein in den großen Metropolen Ham- burg, Berlin und München.5 Noch sind wir glücklicherweise von dramatischen Ungleichgewichten weit entfernt, wie sie vor der Finanzkrise etwa in den USA, Spanien und Irland zu beobachten waren. Doch die Risikobereitschaft der Investoren, immer län- gere Amortisationszeiten in Kauf zu nehmen, steigt. Damit aber erhöht sich für sie auch das Risiko zukünftig steigender Zinsen oder konjunktureller Einbrüche. Begünstigt wird die Entstehung einer Blase auch durch den niedrigen Leitzins, wie ihn die EZB seit einigen Jahren taxiert. Zwar scheint dieser im Hinblick auf die deflationären Entwicklungen in Europa gerechtfertigt, wie auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft (KIW) anmerkt. Für Deutschland mit seinem soliden Wirtschaftswachstum falle er dem Institut zufolge aber zu niedrig aus.6

Die Spekulation mit Immobilien

Ein Grund für die dramatische Lage auf dem Wohnungsmarkt ist die zuneh- mende Spekulation mit Immobilien. Diese zirkulieren verstärkt zwischen wenigen großen Marktteilnehmern. Solche Investoren erwerben die Eigen- tumsrechte meist nicht, um langfristig in die Entwicklung einer Immobilie zu investieren. Sie wollen von der erwarteten Preisdifferenz zwischen Kauf

4 DIW Wochenbericht, 49/2015. 5 Vgl. Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Volkswirtschaft special, Nr. 6, 24.5.2016, www.bvr.de. 6 Institut für Weltwirtschaft Kiel, Finanz- und Wirtschaftspolitik bei einer anhaltenden monetären Expansion, in: „Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik“, 5/2014.

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und Wiederveräußerung profitieren. Der Anteil von Wiederverkäufen an den gesamten Transaktionen großer Wohnungsbestände lag 2014 und 2015 bei knapp 92 Prozent, wie aus einer Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung hervorgeht.7 Mitunter setzen Investoren auch auf äußerst fragwürdige Methoden: Es häufen sich Berichte über skrupellose Praktiken der Entmietung, bei denen meistens umfangreiche Sanierungen genutzt werden, um Mieterinnen und Mieter aus ihren Wohnungen zu verdrängen. Gut dokumentiert sind auch die Aktivitäten von Private-Equity-Fonds in Nordrhein-Westfalen, die mit sogenannten Hartz-IV-Geschäftsmodellen hohe Renditen einfahren. Seit der Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen wechselten hier insbesondere ehemalige Werkswohnungen mit einem hohen Anteil an Hartz-IV-Empfän- gern unter den Mietern in großer Zahl den Besitzer. Die neuen Eigentümer setzten auf eine für sie rentable Abwirtschaftung der Immobilien. Obwohl sie die Bausubstanz verfallen ließen, waren ihre Mieteinnahmen durch die Transferleistungen der Jobcenter garantiert.8 Auch der Handel mit Baugenehmigungen floriert. Zwar steigt deren Zahl von Jahr zu Jahr an – 2015 wurden 309 000 Wohnungen genehmigt (8,4 Prozent mehr als in 2014)9 –, aber nicht jedes Baurecht wird auch zeitnah genutzt. Vielmehr ist es äußerst gewinnbringend, von diesen absichtlich kei- nen Gebrauch zu machen, um Bauland und -Genehmigungen später lukrativ zu verkaufen. Der Wohnungsneubau wird dadurch ausgebremst.

Monopolbildung auf dem Wohnungsmarkt

Ein weiterer Trend verschärft die Lage auf dem Wohnungsmarkt: Seit gerau- mer Zeit ist hier eine Monopolbildung zu beobachten – zum Nachteil der Mie- terinnen und Mieter. Während ausländische Investoren bei den großen Transaktionen gewerb- licher Immobilien wie Bürogebäuden, Einzelhandels- oder Logistikobjekten dominieren, sind sie auf dem deutschen Wohnungsmarkt insgesamt eher randständig.10 Hier nehmen stattdessen mehr und mehr deutsche Unterneh- men eine marktdominierende Stellung ein. Die Geschichte der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnbaugesellschaft (GSW) veranschaulicht dies: Ursprünglich als ein kommunales, gemeinnüt- ziges Wohnungsunternehmen gegründet, wurde sie vom Land Berlin 2004 an Goldman Sachs und die US-amerikanische Investmentgesellschaft Cebe- rus Capital Management verkauft. Mittlerweile gehören ihre Wohnungen der „Deutsche Wohnen AG“. Deren Zukunft als eigenständige Aktiengesell-

7 Jonathan Franke und Lorenz Hennig, Zweite Hochphase des Transaktionsgeschehens mit Miet- wohnungsbeständen, 2015, www.bbsr.bund.de. 8 Enquetekommission „Wohnungswirtschaftlicher Wandel und neue Finanzinvestoren auf den Woh- nungsmärkten in NRW”, Abschlussbericht, 2013, Drucksache 16/2299. 9 Vgl. DIW Wochenbericht 22/2016, S. 494. 10 Laut der NAI Apollo Group, einem Netzwerk unabhängiger Immobilienberatungsunternehmen, machten ihre Transaktionen 2015 nur 12,6 Prozent der Transaktionen aus, vgl. Immobilienmanager, Nr. 3., 2016, S. 12.

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schaft ist allerdings hart umkämpft. Zwar ist der Branchenriese Vonovia vor gut einem Jahr mit einem Übernahmeversuch gescheitert. Doch war dies wahrscheinlich nicht der letzte Versuch der Vonovia, ihren Besitz von der- zeit 370 000 Wohnungen, die zuvor meist kommunales, gemeinnütziges oder betriebliches Eigentum waren, um die 140 000 Wohnungen der Deutsche Wohnen zu vergrößern. Alternativ könnte eine Übernahmeschlacht um die „Nummer 3“ auf dem deutschen Wohnungsmarkt folgen: die LEG Immobi- lien AG. An einer solchen Fusion hat die Deutsche Wohnen AG bereits Inter- esse bekundet, nicht zuletzt, um sich durch schnelles Wachstum gegenüber dem Konkurrenten Vonovia zu behaupten. Solche Übernahmeschlachten haben erhebliche Konsequenzen für die Mieterinnen und Mieter. Denn im Ergebnis schränken sie den Wettbewerb ein und setzen Wohnungssuchende dem doppelten Druck aus hoher Nach- frage und sich monopolisierenden Angeboten aus. Von dieser Gemengelage profitieren letztlich nur Aktionäre, Großkonzerne und Immobilienfirmen.

»Steuergestaltung« auf Kosten der Allgemeinheit

Darüber hinaus versuchen Wohnungsunternehmen ihre Kosten durch „Steuergestaltung“ zu drücken und verringern dabei ganz nebenbei ihren Beitrag zu den öffentlichen Finanzen.11 Besonders beim Verkauf von Grund- stücken machen sich große Wohnungsunternehmen eine Lücke im Steuer- recht zunutze. Zwar muss auf Immobilientransaktionen grundsätzlich Grunderwerbs- steuer entrichtet werden. Diese gesetzliche Regelung gilt dann uneinge- schränkt, wenn das Grundstück direkt vom Käufer erworben wird – ein soge- nannter Asset Deal. Werden jedoch nur Anteile (Shares) an Unternehmen, die ein Grundstück besitzen, gekauft, braucht der Käufer keine Grunderwerbs- steuer zu zahlen – zumindest sofern er weniger als 95 Prozent der Unterneh- mensanteile erwirbt. Insbesondere große Marktteilnehmer profitieren von dieser auch als Share Deals bezeichneten Praxis. Fest steht: Ohne die Steuer- freiheit der Share Deals wäre der Handel mit großen Immobilienbeständen und die Fusion großer Wohnungsunternehmen deutlich weniger lukrativ. Ein weiterer Fehlanreiz ist die Befreiung reiner Wohnungsgesellschaf- ten von der Gewerbesteuer. Auf diese Weise sollte eine Doppelbesteuerung mit Grund- und Gewerbesteuer vermieden werden. Doch diese Begrün- dung greift zu kurz, wenn man berücksichtigt, dass die Grundsteuer von der Steuer abgesetzt werden kann und im Regelfall sogar auf die Mieter umge- legt wird. Eine derart weitgehende Befreiung ist nicht nachvollziehbar und gehört in ihrer jetzigen Form abgeschafft – zumal auch große Kapitalgesell- schaften von ihr profitieren. Der zum Teil höchst komplexen „Steuergestaltung“ großer Konzerne liegt eine einfache Motivation zugrunde: Sie wollen in den Ländern, in denen

11 Vgl. auch Karl-Martin Hentschel, IKEA: Zahlst Du noch, oder hinterziehst du schon?, in: „Blätter“, 1/2015, S. 101-108.

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sie investieren, ihre Steuern senken, vor allem wenn diese vergleichsweise hoch ausfallen. Insbesondere ausländische, aber auch inländische Inves- toren haben aus diesem Grund in der Vergangenheit deutsche Immobilien über zwischengeschaltete luxemburgische Unternehmen erworben, um diese im Anschluss gewinnbringend weiterzuverkaufen. Bekannt gewor- den ist unter anderem der Fall eines kanadischen Investors, der sein Millio- nenkapital indirekt über luxemburgische Unternehmen angelegt hat, um über sie Immobilien in Deutschland zu kaufen.12 Das günstige luxemburgi- sche Steuerrecht ermöglicht es, nicht nur die Grunderwerbssteuer, sondern auch die Einkommens- und Körperschaftssteuer auf Vermietungseinkünfte zu vermeiden. Der Gewinn aus der Vermietung in Deutschland wird dabei durch Zinszahlungen an die Muttergesellschaft in Luxemburg kleingerech- net. Effektiv wurden diese Zinsen offenbar auch in Luxemburg nicht besteu- ert. Die zuständigen luxemburgischen Steuerbehörden segneten dieses Vor- gehen sogar explizit ab, wie Luxemburg-Leaks enthüllte.

Steuerrecht: Schalthebel für eine nachhaltige Wohnungspolitik

Da das Steuerrecht maßgeblich Investitionsentscheidungen und damit auch die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt beeinflusst, sind Reformen hier dringend nötig. So gilt es erstens, die oben erwähnten Share Deals zu unter- binden. Wer ein Unternehmen übernimmt, also mindestens 50 Prozent der Anteile erwirbt, sollte auf den Erwerb der mitgekauften Grundstücke Steu- ern zahlen müssen. Eine solche Neuregelung ist auch in Anbetracht der hohen öffentlichen Einnahmeverluste geboten. Dem Land Hessen entgingen beispielsweise allein beim Verkauf des prestigeträchtigen Frankfurter Euro- towers, dem ehemaligen Sitz der Europäischen Zentralbank, 29 Mio. Euro. Um der Spekulation auf dem Wohnungsmarkt entgegenzuwirken, wäre zweitens eine sogenannte Antispekulationssteuer denkbar. Dahinter steht die Idee, den Grunderwerbssteuertarif progressiv zu staffeln. Für Käufer von mehr als 50 Wohneinheiten könnte sich der Tarif dann beispielsweise von 5 auf 19 Prozent erhöhen. Da der Wiederverkaufsanteil bei großen Wohnungs- beständen besonders hoch ist, würde eine progressive Besteuerung dem schnellen Weiterverkauf entgegenwirken. Auf diese Weise würden kurzfris- tige spekulative Geschäfte erschwert und die Preisdynamik entschleunigt. Drittens müssen Organisationsstrukturen aufgelöst werden, die allein zum Zweck der Steuervermeidung konstruiert sind. Nur so kann man sicherstel- len, dass auch kapitalstarke Investoren in Deutschland ihren fairen Steuer- anteil auf ihre Vermietungseinnahmen bezahlen. Eine wichtige Voraus- setzung dafür ist eine Steuerharmonisierung innerhalb der Europäischen Union. Solange sich die 28 Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Rege- lung einigen können, müssen die nationalen Regelungen zur Bekämpfung

12 Vgl. hierzu Jens Anker, Sieben Berliner Firmen in Steuerskandal verwickelt – Unternehmen sichern sich über Luxemburg Vorteile, in: „Berliner Morgenpost“, 2.4.2015, S. 9 sowie Frederik Obermaier und Bastian Obermayer, „Hörnse schon uff“, in: „Süddeutsche Zeitung“, 8.11.2014, S. 36.

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201703_Blätter_Buch.indb 107 15.02.17 11:29 108 Lisa Paus und Chris Kühn

von Steuervermeidung verschärft werden. Deutschland könnte zum Beispiel steuermindernde Zahlungen von deutschen Wohnungsunternehmen an Fir- men etwa in Luxemburg untersagen oder diese Zahlungen zumindest einer Quellensteuer unterwerfen.

Gemeinnützigkeit gegen Spekulation

Schließlich sollten viertens jene Unternehmen und Akteure, die in beson- derer Weise dem Allgemeinwohl dienen – wie etwa Genossenschaften und städtische Wohnungsgesellschaften –, steuerlich und durch Investitionszu- lagen oder -zuschüsse bessergestellt werden. Denn sie sind das beste Mittel gegen Spekulation. Der Blick nach Wien zeigt, dass öffentliche und genossenschaftliche Woh- nungsgesellschaften den Wohnungsmarkt positiv prägen können. Im soge- nannten Gemeindebau wurden dort seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts 220 000 Wohnungen geschaffen, die ein Viertel der gesamten Stadtbevölke- rung beherbergen. Auch in Deutschland könnte dieses Instrument weiter- helfen. Die Idee der neuen Wohnungsgemeinnützigkeit richtet sich neben öffent- lichen und genossenschaftlichen Unternehmen auch an Privatpersonen und Vereine. Sie würden neben Steuererleichterungen auch Investitions- zuschüsse oder -zulagen erhalten, sofern sie sich auf bestimmte Prinzipien der Geschäftsführung verpflichten: eine dauerhafte Sozialbindung des bestehenden oder geschaffenen Wohnraums, ein Begrenzung der Gewinn- ausschüttung sowie eine Beschränkung der Immobilienverkäufe auf andere gemeinnützige Träger. Sollten Unternehmer oder Hausbesitzer nicht dazu bereit sein, sich insgesamt den Regeln der Gemeinnützigkeit zu unterwer- fen, gibt es auch die Möglichkeit, nur einzelne Wohnungen gemeinnützig zu bewirtschaften. Angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungs- markt könnte sich ein Sofortprogramm auch an Vermieter von Bestandswoh- nungen richten, die sich bei einer Neuvermietung für Inhaber von Wohn- berechtigungsscheinen entscheiden, beispielsweise für Familien, Rentner, Studierende oder Flüchtlinge. Tatsächlich sind also zahlreiche Ansatzpunkte für eine wohnungspoliti- sche Kurskorrektur vorhanden, mit der die Spekulation begrenzt und eine nachhaltige Entwicklung gefördert werden könnte. Es geht darum, von die- sen Maßnahmen Gebrauch zu machen, bevor die Immobilienblase platzt und die letzten wertvollen Freiflächen meistbietend verhökert werden.

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201703_Blätter_Buch.indb 108 15.02.17 11:29 Hundert Jahre Jazz: Das Revival des revolutionären Krachs Von Andreas Müller

elsinki, im Dezember 2016. Das noch junge „WE Jazz Festival“ zählt H zu den wirklich angesagten Veranstaltungen in einer mit Festivals reichlich versorgten Stadt. Zahlreiche Orte werden zu Spielstätten für eine Musik, die immer noch Jazz heißt, aber die traditionellen Jazz-Clubs meidet. Ein neues, junges Publikum schert sich nicht mehr um die Genre-Grenzen und entdeckt dabei Klänge, die noch vor wenigen Jahren dem Tod geweiht schienen. An einem verregneten Mittwochabend steht die Band „Amok Amor“ des jungen Berliner Schlagzeugers Christian Lillinger auf der Bühne des um die hundertfünfzig Leute fassenden Veranstaltungsortes. Das international besetzte Quartett, neben den beiden Deutschen Lillinger und Saxophonist Wanja Slavin gehören der schwedische Bassist Peter Eldh und der US-ame- rikanische Trompeter Peter Evans dazu, ähnelt mit der Auswahl seiner Ins- trumente einer der Bands, die bereits vor etwas mehr als einhundert Jahren in einem der zahllosen Saloons oder Bordelle von New Orleans zum Vergnü- gen aufspielten. Sie zettelten dabei eine musikalische Revolution an, die über Jahrzehnte den Sound des zwanzigsten Jahrhunderts prägte und die nach wie vor so viel Kraft besitzt, dass junge Musikerinnen und Musiker ihr Feuer weitertragen.

Vor hundert Jahren: Die erste Jazz-Schallplatte

Vor knapp hundert Jahren sind in englischen Zeitungen diese Worte zu fin- den: „Jazz ist ein Attentat auf die Melodie ­[…]. Es ist eine Revolution in dieser Art von Musik und ich gestehe, dass wir musikalische Anarchisten sind!“ Was sich beinahe liest wie ein Auszug aus einem situationistischen Manifest, sind Sätze von Nick LaRocca, dem Kornettisten1 und Anführer der Original Dixieland Jass (später „Jazz“) Band, die er 1919 in ein Presseinfo schrieb, das die – ausschließlich mit Weißen besetzte – Band bei ihrer Tournee durch Eng- land verschickte. Seine Worte waren keineswegs übertrieben. Diese neue Musik, die wenige Jahre zuvor in New Orleans entstanden war, musste auf

1 Das Kornett ist ein Blechblasinstrument, das bis Ende der 1920er Jahre im Jazz vorherrschte. Erst dann wechselten die meisten Bläser zur lauteren und strahlenderen Trompete.

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unvorbereitete Hörerinnen und Hörer tatsächlich wie ein Attentat und musi- kalischer Anarchismus wirken. LaRoccas Band war es auch, die vor genau 100 Jahren, am 7. März 1917, auf dem Label Victor mit der Nummer 18255 die erste kommerzielle Jazz-Schallplatte veröffentlichte. Zwei Aufnahmen sind auf der Platte zu hören: auf der A-Seite der „Livery Stable Blues“ und auf der B-Seite der „Dixieland Jass Band One-Step“. Die Platte ist ein Hit. Schät- zungsweise werden etwas mehr als eine Million Kopien verkauft. Was heute ein wenig eckig, vielleicht sogar zickig klingt, ist das Ergebnis des urbanen Einflusses von Chicago und New York. Die Musik ist rau, schnell und laut. Einen herausgestellten Instrumentalisten gibt es nicht. Ein Kollektiv impro- visiert wild um die Themen herum. Einige der bald darauffolgenden Aufnah- men avancierten zu Standards und werden bis heute gespielt. Die Band löste sich, nach diversen Umbesetzungen, Mitte der zwanziger Jahre auf. Gelernt hatten alle Bandmitglieder in der Marching Band des Schlagzeu- gers Papa Jack Laine, der ab 1891 mit seiner „The Reliance Band“ zu einer bedeutenden Keimzelle für die folgende Entwicklung des Jazz werden soll. Einige der wichtigsten Innovatoren des Jazz gehen durch Laines Schule.

Die Ursprünge des Jazz: Der Beat des Congo Square

Marching Bands spielen eine wichtige Rolle im sozialen Leben von New Orleans: Die Musikkapellen sind bei den zahlreichen Straßenparaden zu hören, sorgen in der Karnevalszeit für Stimmung und spielen, für die, die es sich leisten können, auf Beerdigungen. Die Besetzung dieser Bands hat ihren Ursprung in den Militärkapellen. Blechbläser, Klarinette und Trommeln. Die Musiker tragen Uniformen. Laine, der als erster weißer Jazzmusiker bezeichnet wird, ignoriert die Gesetze der Segregation, die auch in der bunt gemischten Stadt New Orleans gelten und jede Form sozialer und kultureller Kontakte zwischen Schwarzen und Weißen streng regeln bzw. verbieten. Er führt später auch Tanzkapellen an, die in den vielen Clubs und Bordellen der Stadt spielen. Er versucht, die besten Musiker zu bekommen – unabhängig von deren Hautfarbe. Gibt es Schwierigkeiten mit den Autoritäten, behauptet er einfach, die dunkelhäutigen Männer seien Mexikaner oder Kubaner. Der Beat der Marching Bands und des am Ende des 19. Jahrhunderts populären Ragtime kommt vom Congo Square in New Orleans. Auf diesem außerhalb der besseren Wohnviertel gelegenen Platz dürfen Sklaven sonn- tags Handel betreiben, vor allem aber Musik machen und tanzen. In New Orleans, 1718 von den Franzosen gegründet und ab 1762 in spanischem Besitz, sind die Kolonialherren im Vergleich zum Rest des Landes etwas tole- ranter. Außerhalb des französisch-spanischen Einflussbereiches ist es den aus Afrika verschleppten Menschen streng verboten, offiziell ihre Kultur aus- zuüben. New Orleans bleibt auch nach der Übernahme der Stadt durch die USA im Jahre 1803 die Ausnahme. Die Stadt gilt als größter Umschlagplatz für Sklaven in der Neuen Welt. Kulturen aus den unterschiedlichsten Regio- nen Afrikas und der Karibik prallen auf dem Congo Square aufeinander,

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mischen sich und nehmen europäische Tänze und Musik mit auf. Die Musik und die Tanzwettbewerbe entwickeln sich zu einer exotischen Attraktion, die eine gewaltige Zahl weißer Touristen anzieht. Doch immer wieder hat es im Verlauf des 19. Jahrhunderts Versuche gegeben, den Platz zu schließen – beispielsweise wegen Störung der Sonntagsruhe. 1851 endet die Geschichte des Congo Square, lange bevor ein Jazz-Musiker geboren wird. Es ist afrika- nische Musik, die auf dem Platz gespielt worden ist, und sie war zu laut, als dass sie nicht hätte gehört werden können. In den Mardi-Gras Societies, den Karnevalsgemeinschaften, mischen sich diese Klänge mit europäischen und indianischen Einflüssen und gelangen so in die DNS der Marching Bands.

Der Clash der Musikkulturen

New Orleans ist eine der wichtigsten Hafenstädte der USA. An der Mündung des Mississippi gelegen, werden Waren umgeschlagen und die US-Marine betreibt hier einen Stützpunkt. Um die überall verbreitete Prostitution bes- ser kontrollieren zu können, wird 1897 auf Betreiben des Ratsherren Sidney Story nach dem Vorbild europäischer Rotlichtviertel ein Bezirk gegründet, in dem man die Prostitution, wenngleich sie nach wie vor verboten ist, toleriert. Offiziell „The District“ genannt, heißt das Viertel bald nach seinem Erfin- der Storyville. Die zahllosen Salons, Bars, Bordelle und Tanzschuppen bieten vielen Musikern Arbeitsmöglichkeiten. Anfangs streng segregiert, mischen sich hier bald die Musiker und man lernt voneinander. Professoren genannte Pianisten spielen Ragtime, Walzer und leichte romantische Musik. Wann und wie aus diesem Zusammenprall der Kulturen Jazz wird, ist nicht zu sagen. Anders als der Ragtime, der auf Notenblättern festgehalten wird und mit Scott Joplin einen frühen Superstar hervorbringt, ist der Urknall des Jazz nicht fixiert. Und die zentrale Figur seines Entstehens hat keine Auf- nahmen hinterlassen. Der Kornettist Buddy Bolden, 1877 in New Orleans geboren, ist ein dem Alkohol verfallener Straßenarbeiter und soll der Erste gewesen sein, der eine echte Jazz-Band anführte. Sein Spiel, von dem nur Erzählungen existieren, habe der Musik zwei wichtige Komponenten hinzugefügt: den Blues und eine rhythmische Verschiebung, die später als Swing bezeichnet wird – und über die der Trompeter Wynton Marsalis sagt, sie mache den wahren Jazz aus. Bol- den ist nach der Jahrhundertwende ein Star in New Orleans. So gut wie jeder junge Kornettist hört ihn und versucht zunächst ihn zu kopieren. 1907 ver- schwindet Bolden aus der Szene und wird in eine psychiatrische Klinik einge- wiesen. Diagnose: Schizophrenie und eine durch Alkohol induzierte Psychose. Die Kultur aus New Orleans fasziniert die US-Amerikaner: Vor dem Ersten Weltkrieg touren Vaudeville- und Minstrel-Shows durch das Land – begleitet von Jazz-Bands.2 Der neue Sound verbreitet sich rasend schnell. Zunächst

2 Vaudeville ist ein Genre des Unterhaltungstheaters, in dem unter anderem Chansons, Tanz und Akrobatik aufgeführt werden. Minstrel-Shows sind rassistische Unterhaltungsspiele, in denen Weiße Schwarze persiflieren.

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entlang des Mississippi, wo auf den Vergnügungsdampfern zu Jazz getanzt wird. Der Kornettist King Oliver schafft es mit seiner Band bis nach San Fran- cisco. Freddie Keppard, ebenfalls Kornettist, tritt die Nachfolge von Buddy Bolden an und bekommt bereits 1915 von der Firma Victor das Angebot, eine Schallplatte aufzunehmen. Keppard lehnt ab, unter anderem weil er fürchtet, Konkurrenten könnten seine „Tricks“ auf dem Kornett stehlen. 1916 wird Johnny Stein’s Dixie Jass Band in Chicago gebucht, wo sie drei Monate im New Schiller Café spielt. Mit dabei ist Nick LaRocca. Nach kurzer Zeit ist die Band enorm erfolgreich, löst sich aber im Anschluss an das Enga- gement auf. Einige der ehemaligen Mitglieder gründen die Original Dixie- land Jass Band. Die Zeit in Chicago hat ihre Musik verändert. Sie muss sich in den großen Veranstaltungsorten durchsetzen und wird lauter, schneller und härter. Auf der Suche nach neuen Bands müssen zahlreiche Veranstalter fest- stellen, dass niemand in New Orleans so spielt wie LaRocca.

Das Ende von Storyville und der Aufstieg Louis Armstrongs

Während eines wiederum sehr erfolgreichen Gastspiels in New York kommt es schließlich zu der legendären Aufnahme für das Label Victor. Der Ein- tritt der USA in den Ersten Weltkrieg am 6. April 1917 führt zu Einbrüchen in der US-Musikindustrie, weil der für die Herstellung von Platten wichtige Schellack nicht mehr in genügender Menge importiert werden kann und weil Storyville im November 1917 geschlossen wird. Ein Gesetz verbietet Rotlichtviertel in der Nähe von Marinestützpunkten. Kriegsminister Newton D. Baker fürchtet um die geistige Moral seiner Truppen. Wahrscheinlicher ist, dass man eine Schwächung durch Geschlechtskrankheiten und Drogen verhindern will. Das Ende von Storyville versetzt der Verbreitung des Jazz einen wichti- gen Schub. Zahlreiche Musiker ziehen in den nächsten Jahren nach Norden. Darunter der junge Louis Armstrong, der aufmerksam die Musik der Origi- nal Dixieland Jass Band gehört hat und als Teil von King Oliver’s Creole Jazz Band nach Chicago und New York geht. Armstrong ist, zusammen mit dem Pianisten Jelly Roll Morton und dem Sopran-Saxophonisten Sidney Bechet, Teil der ersten Generation von Jazz-Musikern, die ihre Instrumente virtuos beherrschen und als Voll-Profis arbeiten. Mit ihren Kompositionen, aber auch Interpretationen von alten Blues-Songs und den Schlagern der Zeit schaffen sie die Strukturen für den modernen Jazz. Ab Mitte der zwanziger Jahre entstehen in Chicago Armstrongs Aufnah- men mit den Studiobands Hot Five und Hot Seven, die zu den wichtigsten in der Geschichte der populären Musik zählen. Niemand zuvor hat so Trom- pete gespielt, niemand so elegant geswingt und dabei die Lebensfreude der Straßen von New Orleans mit bitterem Blues gepaart. Der kreative Motor der Band ist Armstrongs damalige Frau Lil Harding, eine ausgebildete Konzert- pianistin, die mühelos zwischen den Genres zu wechseln vermag und zudem einige wichtige Kompositionen einbringt.

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Die jungen Musikerinnen und Musiker konfrontieren zum ersten Mal ein großes weißes Publikum mit den sozialen Codes und dem Hipstertum der afroamerikanischen Kultur. Und sie ecken an. Morton und Bechet, die Mil- lionen von Platten verkaufen und über zum Teil enorme Einnahmen verfü- gen, opponieren gegen die rassistischen Strukturen in den USA. Das wohl wichtigste Vorbild für das neue schwarze Selbstbewusstsein ist der schwarze Boxer Jack Johnson, von 1908 bis 1915 Weltmeister im Schwer- gewicht. Er stellt seinen Reichtum zur Schau, indem er schwere Autos fährt, und hat immer wieder weiße Frauen an seiner Seite. Ein harter Schlag ins Gesicht des weißen Mainstreams. Morton und Bechet sollen dem Beispiel folgen. Bechet tourt bereits 1919 in Europa und wird wegen einer Affäre mit einer weißen Frau aus England ausgewiesen. Der Skandal verhindert nicht, dass Bechet im Verlauf der nächsten Jahre, insbesondere in Paris und Berlin, zu einem gefeierten Star wird. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs boomt der Schallplattenmarkt. Die Schallplatte wird zum wichtigsten Medium für die neue Musik. Bei den Labels, alle im Norden der USA angesiedelt, hat allerdings niemand einen Plan davon, was sich verkauft oder nicht. Eine anarchische Situation. Die Verantwortlichen wissen, dass ein riesiger Markt für die sogenannte schwarze Musik entstanden ist. Und so werden im Trial-and-Error-Verfahren, sehr oft in improvisierten Studios, die in Hotel- zimmern im Süden des Landes errichtet werden, unzählige Aufnahmen produziert. Im Rennen um einen möglichen neuen Star werden Bluesmusi- ker, obskure Gospelprediger, Folksänger, Komiker und Jazzbands vor die Schalltrichter gestellt. Es entsteht eine unvergleichliche Audiothek der US- amerikanischen Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Manche dieser Platten verkaufen sich millionenfach, viele erreichen nicht einmal vierstellige Aufla- gen. Um den Markt weiter anzuheizen, bringt die Firma Paramount absicht- lich mangelhaft gefertigte Schellack-Platten in Umlauf, die nicht lange hal- ten, so dass beliebte Titel immer wieder neu gekauft werden müssen. Mit dem Aufkommen des Radios ab Mitte der 20er Jahre setzt eine Nor- mierung ein: Man glaubt nun besser zu wissen, was sich verkauft und was nicht. Mit der 1929 beginnenden Wirtschaftskrise kommt auch das Geschäft mit Schallplatten zum Erliegen. Die Durchschnittsamerikaner zahlen die Raten für ihren Radioapparat ab und hören aus den Geräten eine neue Musik.

Jazz – die Popmusik des frühen 20. Jahrhunderts

Bereits vor der Wirtschaftskrise hat in New York der geniale Arrangeur Flet- cher Henderson, inspiriert von einem Gastspiel der King Oliver’s Creole Jazz Band, über ein größeres Jazz-Orchester nachgedacht. Es ist das innovative Spiel Louis Armstrongs, das ihn auf neue Ideen bringt. Henderson wird als Erfinder der Big Band in die Geschichte eingehen. Edward Kennedy, genannt „Duke“ Ellington, soll der größte Komponist und Innovator der Big-Band-Ära werden. Sein künstlerischer und kommerzieller

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Aufstieg fällt zusammen mit der Harlem-Renaissance. Neben Chicago und Detroit wird der New Yorker Stadtteil Harlem in den Jahrzehnten nach dem Ende der Sklaverei und dem Beginn der institutionalisierten Segregation zu einem der wichtigsten Ziele während der Great Migration, die Hunderttau- sende Afroamerikaner nach Norden bringt. Harlem bietet einen Freiraum, in dem gegen Ende der 1910er Jahre die schwarze Kultur geradezu explodiert: Es entstehen schwarze Theater, Zei- tungen, Galerien, Clubs und Restaurants. Der jamaikanische Unternehmer und Politaktivist Marcus Garvey hält vor Tausenden von Zuhörern Reden, in denen er quasi einen schwarzen Staat im weißen Staat fordert und insis- tiert, dass nur eine eigene geschlossene schwarze Ökonomie letztlich zur Befreiung von der weißen Unterdrückung führen könne. Zum ersten Mal manifestiert sich eine eigene schwarze Kultur, in der die afrikanischen Wurzeln ihrer Protagonisten sicht- und hörbar werden. Der Soundtrack dazu kommt unter anderem von Duke Ellington, dessen Pop-Ver- sion des afrikanischen Erbes Jungle-Music genannt wird. Im Cotton Club, mitten in Harlem, feiert die weiße Bourgeoisie zu diesen neuen Klängen und lässt sich dabei von schwarzen Kellnern bedienen. Als Gäste waren Afro- amerikaner erst einige Jahre später zugelassen. Ellington komponiert an die 2000 Stücke, er ist es, der die moderne klassische Musik der USA erschafft. Bis zu seinem Tod im Jahre 1974 steht er als Bandleader auf der Bühne. Jazz ist die Popmusik des frühen 20. Jahrhunderts. In den USA verbrei- tet er sich zunächst mit den Mississippi-Dampfern und über Schallplatten, um dann im Verlauf der 20er Jahre auf den transatlantischen Linienschif- fen in die ganze Welt zu gelangen. Europäische Musiker, die auf den Schif- fen arbeiten, werden regelrecht infiziert von dem neuen Sound und bringen ihn in ihre Heimat zurück. Überall in Europa entstehen Jazz-Orchester, und die Tourneen US-amerikanischer Musiker werden von großer media- ler Aufmerksamkeit begleitet. Allerdings wird häufig verächtlich über diese „Radau-Musik“ geschrieben und der Jazz der „Neger-Revuen“ gleichgesetzt mit Lärm. Den jungen Fans ist das egal. Und der Zusammenprall der Kultu- ren soll einige Biographien nachhaltig prägen. In Berlin hört der 16jährige Alfred Löw – später nennt er sich Lion – 1925 das Orchester von Sam Wooding und erlebt eine Offenbarung. „Der Beat – er fuhr mir direkt in die Knochen“, sagt er viele Jahre später. Als Jude muss er aus Nazi-Deutschland fliehen, kommt Ende der 30er Jahre nach New York, wo er 1939 Blue Note Records, das bedeutendste Jazzlabel überhaupt, gründet. Der Erfolg des Jazz weckt das Interesse der Filmindustrie. Der erste relevante Tonfilm der Geschichte trägt den Titel „The Jazz Singer“. Duke Ellingtons Band steht 1929 im Mittelpunkt des experimentellen Kurzfilms „Black And Tan Fantasy“ und immer häufiger sollten Big Bands in großen Hollywood-Produktionen auftauchen. Erst 1943 entsteht mit dem Musical „Cabin In The Sky“ eine große Hollywood-Produktion, in der ausschließlich Afroamerikaner singen und spielen. Doch die Wirtschaftskrise setzt auch der Unterhaltungsindustrie zu. Das Radio übernimmt die Rolle des Entertainers. Die großen Networks mit ihrer

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gigantischen Reichweite übertragen Konzerte aus New York, Chicago oder Kansas City, wo Big Bands mehr oder weniger fest stationiert sind.

Vom Jazz zum Swing

Nach wenigen Jahren erholt sich die Szene, und inzwischen haben weiße Bandleader den Sound der schwarzen Innovatoren studiert und übernom- men. Der Begriff Jazz verschwindet für einige Jahre und die neue elegante Musik wird Swing genannt. Die weißen Bands von Tommy Dorsey, Benny Goodman (später auch Glenn Miller) werden zum Gesicht dieser neuen Ära. Den rassistischen Strukturen der Mainstream-Gesellschaft folgend, nennt man Benny Goodman und nicht Duke Ellington den King of Swing. Good- man setzt sich allerdings früh gegen die Rassentrennung durch und enga- gierte schwarze Musiker in seinen Bands. Als fast schon radikaler Akt gilt das legendäre Konzert in der New Yorker Carnegie Hall am 16. Januar 1938, bei dem Goodman unter anderem die afroamerikanischen Solisten Teddy Wilson und Lionel Hampton auf die Bühne holt. Swing durchdringt die gesamte Gesellschaft: Neue Tänze entstehen, große Hollywood-Filme klingen nach Swing Soundtracks, Swing läuft im Radio und zahllose Bands touren durch das Land. In Deutschland wird derweil die Musik des „Jazz-Juden Gutmann“ als entartet geächtet. Im Deutschen Reich war Jazz nie offiziell verboten. Trotzdem werden die – vornehmlich jungen – Anhänger, die sich bisweilen in kleinen Clubs organisierten, „Jazz-Heinis“ genannt und von der Gestapo beobachtet, immer wieder drangsaliert und sogar inhaftiert. Eine bizarre Fußnote ist die Gründung der Band Charlie and His Orchestra im Jahre 1940. Propagandaminister Joseph Goebbels weiß um den Einfluss der Swing-Musik und installiert diese Band unter der Leitung des Saxopho- nisten Lutz Templin, die vom Reichspropagandaministerium bezahlt wird. Per Kurzwelle werden, zunächst von Berlin aus, aktuelle Swing-Hits mit neuen Propagandatexten auf Deutsch und Englisch ausgestrahlt. Charlie and His Orchestra nimmt zudem mehrere Dutzend Schallplatten auf. Künstlerisch erreicht der klassische Swing seinen Höhepunkt Ende der dreißiger Jahre, bleibt aber bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs der alles bestimmende Sound Amerikas. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor treten die USA am 8. Dezember 1941 in den Krieg ein. Zahllose Musiker werden eingezogen, andere melden sich freiwillig, wie der enorm erfolgreiche Posaunist und Bandleader Glenn Miller.

Jazz als Stärkung der Truppenmoral

Als erster Musiker überhaupt erhält Miller 1942 eine goldene Schallplatte für das Stück „Chattanooga Choo Choo“. Millers Army Air Force Orchestra, in dem einige der besten Musiker der Zeit spielen, wird zu einer wichtigen Pro-

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pagandawaffe. In London stationiert, spielt die Band zur Stärkung der Moral, aber auch in der „Wehrmacht-Hour“, einer Radio-Sendung des BBC, die, auf Deutsch moderiert, den Gegner beschallt. Miller, der 1944 über dem Ärmelkanal mit seinem Flugzeug abstürzt und dabei stirbt, ist das Gesicht des Swing in dieser Zeit. Seine sehr kommer- ziell ausgerichtete Band definierte den Geschmack der Massen. Ein Duke Ellington muss etwa in Deutschland erst viele Jahre später wiederentdeckt werden. Es ist übrigens den Wochenschauen jener Jahre geschuldet, in denen häufig Millers schmissiger Militär-Swing erklingt, dass viele glaub- ten, Jazz sei der Sound der GIs gewesen. Das Gros der US-amerikanischen Soldaten stammt aber aus armen ländlichen Verhältnissen und hört viel lie- ber Country-Musik. In New York experimentieren junge Musiker mit den Möglichkeiten des Jazz. Brillante Techniker wie der Trompeter Dizzy Gillespie, der Pianist Thelonious Monk und der Saxophonist Charlie Parker – sie alle gehen zuvor durch die harte Schule einer Big Band – erweitern das Spektrum ihrer Instru- mente um bislang ungehörte Bereiche und brechen die herrschenden musi- kalischen Strukturen der vergangenen Jahrzehnte auf. Die Big Band ist nicht länger das Maß aller Dinge. In kleinen Quartett- oder Quintett-Formationen wurde nun wieder gespielt. Dennoch gilt die Big Band als begehrenswerte Formation und Gillespie beispielsweise soll immer wieder, so es die ökono- mische Situation zulässt, eine Big Band leiten. Unzählige Musiker sind beim Militär und fehlen in der zivilen Unterhal- tungsindustrie. Dazu kommt ein Streik der Musikergewerkschaft, der von 1942 bis 1944 das Tonträger-Geschäft lahmlegt und den jungen Revolutio- nären Freiräume verschafft. Die American Federation of Musicians kämpft gegen die, wie sie es nennt, „Dosenmusik“: Die Schallplatte verdrängt immer mehr den live spielenden Musiker aus dem Radio, den Bars und Cafés, der oft genug nicht einmal die ihm zustehenden Tantiemen aus den Verkäufen bzw. Rundfunkeinsätzen erhält.

Das Aufkommen des Bebop

Drei Jahre lang werden keine Aufnahmen mit Bandbegleitung gemacht,3 was einerseits die Karriere etwa eines Frank Sinatra beflügelt – Sänger waren nicht in der Gewerkschaft organisiert und Gesangsaufnahmen erlaubt – und andererseits den Neuerern um Gillespie die Chance gibt, ohne den Einfluss kommerzieller Begehrlichkeiten in den Clubs von Harlem ihren neuen Sound zu entwickeln. Diese Musik – genannt Bebop – wirft alles bisher Dagewesene über den Haufen: Viele ältere Musiker, darunter Stars wie Louis Armstrong, verstehen diese Avantgarde nicht und besitzen zudem nicht die technischen Fähigkei- ten, das Neue zu spielen. Gillespies rasende abstrakte Läufe hat sein früherer

3 Eine Ausnahme bilden die sogenannten, kriegswichtigen V-Discs, die in Übersee in den Armee- radios eingesetzt werden.

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Chef Cab Calloway bereits Jahre zuvor als „Chinese Music“ diskreditiert. Der Schlagzeuger Kenny Clarke erfand das Schlagzeug neu, und ein anderer Erneuerer des Instruments, Max Roach, prägt mit seinen, auf den unvorbe- reiteten Hörer erratisch wirkenden Akzenten auf der Basstrommel die Char- lie-Parker-Komposition „Now’s The Time“, bei der neben Parker und Roach Ende 1945 Miles Davis, Dizzy Gillespie (hier am Piano) und der Bassist Cur- ley Russel spielen. Aus seiner modernen, damals für manche dissonant wir- kenden Harmonik lesen Kritiker einen Kommentar zu den Atombombenab- würfen auf Japan im Sommer des Jahres. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg erlebt die Populärkultur in den USA eine gewaltige Veränderung. Der (weiße) Teenager wird als Konsument entdeckt. Es sind nunmehr die extrem geburtenstarken Jahrgänge der unter Zwanzigjährigen, an die sich die kommerzielle Kultur richtet. Sänger wie Frank Sinatra steigen zu Superstars auf, Big Bands gelten als eine vergan- gene Mode der Elterngeneration und man tanzt zum eher simplen Rhythm & Blues, dem direkten Vorgänger des Rock and Roll. Künstlerisch bricht der Jazz aber zu neuen Ufern auf. Mit kleinen Ensembles lassen sich schnell und billig Platten produzieren – eine Jazz-LP entsteht damals fast immer innerhalb eines Tages –, und so sind, trotz sinkender Auf- lagen, für die Labels noch immer Gewinne zu erzielen. Es kommt eine vor- nehmlich weiße Jazzkritik auf, die den Jazz intellektualisiert. Während in den schwarzen Clubs von Harlem noch immer zum Bebop und dem später daraus entwickelten Hardbop getanzt wird, versteht der weiße Mainstream den Jazz zunehmend als Kunstmusik.

Braver Jazz in Europa

In Europa entsteht direkt nach dem Krieg eine neue eigene Jazzszene, die zunächst brav die großen Vorbilder kopiert, allmählich aber eigene Ideen entwickelt. In Deutschland ist man äußerst bemüht, in den Jazz eine quasi bürgerliche Qualität hineinzuschreiben. Das Hipstertum, die immanente Dissidenz, die Erotik, die Ekstase der Freiheit – das alles rückt in den Hinter- grund. Es wundert nicht, dass eher brave Ensembles wie das Dave Brubeck Quartett und vor allem das Modern Jazz Quartett um den Pianisten John Lewis zur beliebtesten Jazz-Combo in Deutschland werden. Lewis erfüllt die Ansprüche der bürgerlichen Klasse voll und ganz: Er kann, wenn er will, sehr trefflich Bach spielen. Dessen ungeachtet wird Europa immer wichtiger für die US-amerikanischen Musiker. Zahlreiche Festivals bieten gute Ver- dienstmöglichkeiten. Der Rundfunk produziert viele Stunden mit den Gästen aus Übersee. Und nicht zuletzt gibt es hier ein Entkommen vom Rassismus, vor dem selbst die berühmtesten afroamerikanischen Musiker nicht sicher sind. Viele Musiker emigrieren nach Paris, Dänemark und Schweden, aber auch nach Deutschland, wo sie die lokalen Szenen befruchten. In den USA emanzipieren sich derweil immer mehr Musiker von den ihnen zugedachten Rollen als Entertainer in einer von Weißen beherrschten Unter-

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haltungsindustrie. Aus Texas kommt Ornette Coleman nach New York und nimmt eine Platte mit dem Titel „Free Jazz“ auf, die eine weitere dramatische Wendung im Jazz markiert. Coleman hebt die den Instrumenten zugedachte Rollenverteilung in Solisten und Begleiter auf, indem er sich auf die lange vergessene Kollektivimprovisation des alten New Orleans Jazz bezieht. Musiker wie Charles Mingus und Max Roach nehmen Platten auf, die explizit politische Titel tragen und Lieder enthalten, die den Rassismus in den USA anprangern: „We Insist: Freedom Now Suite“ entsteht 1960. Im glei- chen Jahr singt Mingus: Oh, Lord, don’t let ‘em shoot us! Oh, Lord, don’t let ‘em stab us! Oh, Lord, don’t let ‘em tar and feather us! Oh, Lord, no more swastikas! Oh, Lord, no more Ku Klux Klan! Name me someone who’s ridiculous, Dannie. Governor Faubus! Why is he so sick and ridiculous? He won’t permit integrated schools.4 Das Stück greift den Gouverneur von Arkansas, Orval E. Faubus, an, der 1957 versucht hatte, durch Einsatz der Nationalgarde die Rassenintegration an einer Schule in Little Rock zu verhindern. Die Vokalversion dieser Kom- position wird vom großen Columbia Label abgelehnt und kann erst 1960 auf einem kleinen Independent Label erscheinen. Es finden sich in der Zeit nicht viele solcher offenen Kommentare – sie sind nicht gut fürs Geschäft. Immerhin nennt der Superstar des modernen Jazz, John Coltrane, 1963 einen Song „Alabama“ als Memento für ein Bombenat- tentat des Ku-Klux-Klan auf eine schwarze Kirche in Birmingham/Alabama, bei dem vier Mädchen sterben. Es gibt viele Versuche, der Hölle des Rassismus zu entkommen: Coltrane findet zu Gott und indischer Spiritualität. Miles Davis stellt mit teuren Autos seinen neuen Reichtum aus, den ihm ein lukrativer Vertrag mit Columbia Records beschert hat. Archie Shepp studiert Marx und Malcolm X und pro- klamiert: Mein Saxophon ist nichts anderes als eine Waffe im Klassenkampf. Sun Ra, der seine Bands wie eine Kommune organisiert und ihnen wie ein Guru vorsteht, erklärt, er sei nicht von dieser Erde, sondern stamme vom Planeten Saturn. Sein Science-Fiction-Eskapismus ist die ultimative Ant- wort auf die Entfremdung eines schwarzen Künstlers von der weißen Gesell- schaft. Die Ästhetik des Afro-Futurismus hat hier ihren Ursprung. Sun Ra ist ein Alien – und versucht sich zugleich als Geschäftsmann. Bereits 1921 wurde mit Sunshine Records ein von Afroamerikanern betrie- benes Jazz Label gegründet, doch in den sechziger Jahren beginnen immer mehr Musiker, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sun Ra ist mit seinem

4 Zu Deutsch: „Oh Herr, lass sie uns nicht erschießen! Oh Herr, lass sie uns nicht erstechen! Oh Herr, lass sie uns nicht teeren und federn! Oh Herr, keine Hakenkreuze mehr! Oh Herr, keinen Ku-Klux- Klan mehr! Nenne mir jemanden, der lächerlich ist, Dannie. Governeur Faubus! Warum ist er so krank und lächerlich? Er will integrierte Schulen nicht erlauben.“

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Saturn Label ein wichtiger Pionier für viele folgende Unternehmen, die aber häufig an mangelnden Vertriebs- und Promotionsstrukturen scheitern.

Die Post-Coltrane-Epoche

Im Verlauf der sechziger Jahre diversifiziert sich die Szene immer mehr. Als John Coltrane 1967 stirbt, verliert der Jazz eine seiner wichtigsten Stimmen. Der Einschnitt ist so gewaltig, dass man von der Zeit danach als Post-Col- trane-Epoche spricht. Neue Strömungen wie Soul und Funk verdrängen den Jazz immer weiter. Viele Musiker versuchen sich dem Sound der Zeit anzu- passen, bisweilen sehr erfolgreich, aber der Jazz verliert sein – insbesondere schwarzes – Publikum, eine Entwicklung, die vor allem der Trompeter Miles Davis laut beklagt. Er, der mit „Kind Of Blue“ 1959 ein Jahrhundertalbum aufgenommen hatte, fusioniert zehn Jahre später mit der Platte „Bitches Brew“, Jazz, Funk und Rock. Der radikale Spiritual und Free Jazz wird vor allem von Hippies und in Stu- dentenkreisen gehört. In der Bundesrepublik gehört es in den frühen siebzi- ger Jahren zum guten Ton, sich den dissonanten Klängen eines Peter Brötz- mann auszusetzen, die wie der Soundtrack zum Vietnamkrieg und der sich zunehmend radikalisierenden Linken klingen. In kommerzieller Hinsicht spielt kreativer Jazz allerdings keine Rolle mehr. Nach wie vor emigrieren Musiker nach Europa – aus Chicago etwa das Kollektiv Art Ensemble Of Chicago, dessen Motto „Great Black Music: Ancient To The Future“ lautet, deren Mitglieder in der neuen Heimat aber keine Arbeit finden und, so der Trompeter Lester Bowie, „buchstäblich am Verhungern“ sind. Die Avantgardisten fristen ein mehr oder weniger prekäres Dasein – sie verfügen nicht über die Förderungen, wie sie etwa bei der Neuen Musik üblich sind – und wer überleben will, passt sich an. Im Fusion-Jazz, der seine Hörer bei den Rock-Fans findet, wird Virtuosität ausgestellt und tatsächlich verkaufen sich einige der Produktionen sehr gut. Der Begriff „Jazz“ wird jedoch lieber vermieden, auch Festivals streichen ihn aus ihrem Namen. Das Wort bedeutet zu oft Kassengift. Ausnahmen bilden historisierende Ansätze, wie etwa das der klassischen Miles Davis Band von 1965 nachgestellte Quintett V.S.O.P. um den Pianisten und Jazz-Rock-Pionier Herbie Hancock. Sie können regelmäßig gut bezahlt auf großen Festivals arbeiten.

Zurück nach Berlin

Mit dem virtuosen Trompeter Wynton Marsalis taucht Mitte der achtzi- ger Jahre ein streitbarer Mann auf, der sämtliche Entwicklungen der Jazz- Avantgarde vehement ablehnt und proklamiert: Wenn es nicht swingt und auf der Basis des Blues steht, ist es kein Jazz. Viele verspotten Marsalis als

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Reaktionär, sein historisierender Ansatz hingegen kann sich durchsetzen. Heute ist er der Direktor des Jazz Departments im New Yorker Lincoln Cen- ter. Die revolutionären Avantgardisten aus den sechziger Jahren dürfen dort so gut wie nie auftreten. Jazz ist schon oft totgesagt worden. Die Musik wurde alt und ihr Publi- kum auch. In New York, dem Ort, an dem so unendlich viel Jazz-Geschichte geschrieben wurde, schlossen die Clubs oder wurden zu Event-Restaurants mit Jazz-Begleitung umgewandelt. Die grassierende Gentrifizierung an der amerikanischen Ostküste machte es immer schwieriger für Musiker zu über- leben. Doch an der Westküste erblüht der Jazz zu neuem Leben. Aus Los Angeles kommt 2015 eine der erfolgreichsten Produktionen seit dem Nieder- gang des Jazz-Rock: „The Epic“, eine Dreifach-LP des Tenor-Saxophonisten Kamasi Washington, von der allein in Deutschland mehr als 20 000 Exem- plare verkauft wurden. Die Tournee zum Album führte ihn und seine viel- köpfige Band durch mittelgroße Clubs und Hallen, die sonst der Rockmusik vorbehalten sind. Und Mitte der nuller Jahre rückt auch jene Stadt wieder in den Fokus, in der einst der junge Alfred Löw zum ersten Mal den neuen Sound aus den USA gehört hat: Berlin wird zum Magneten für junge Musikerinnen und Musiker, die in den Freiräumen im Norden des heruntergekommenen Bezirks Neu- kölln Arbeit und Einkommen finden. Eine ganz neue Generation, aufgewachsen mit Hip-Hop und anderen Club Sounds, hervorragend ausgebildet, wissend um die Tradition und völlig offen gegenüber allen möglichen Genres, rettet den Jazz. Musste man früher wenigstens einmal in New York gespielt haben, ist es nunmehr Berlin, wo junge Jazzmusiker getauft werden. Als 2014 in diversen Kreuzberger Clubs zum ersten Mal das XJazz Festi- val stattfindet, werden – ohne öffentliche Förderung – aus dem Stand 10 000 Besucherinnen und Besucher angelockt. Es sind Figuren wie Christian Lillinger und seine Altersgenossen, die mit ihrem Können und ihrer Begeis- terung für den Klang der Freiheit, die Musik wieder relevant gemacht haben. Der wunderbare, verrückte Krach, den die Original Dixieland Jazz Band erstmals 1917 in einen Schalltrichter spielte, er ist bis heute zu hören.

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201703_Blätter_Buch.indb 120 15.02.17 11:29 BUCH DES MONATS

Agambens Bürgerkrieg Von Tamara Tischendorf

n den USA regiert Donald Trump selbst- I herrlich per Dekret und Kritiker fragen sich bang, ob daran bald die amerikanische Demokratie zerbricht. In Frankreich herrscht nach zahlreichen Terroranschlägen nach wie vor der Ausnahmezustand. Und Deutschland treibt weiterhin die Frage um: Wie umgehen mit den Flüchtlingen aus Bürgerkriegsregio- nen? Problemszenarien allerorten, einem aber spielt diese Weltlage zweifellos in die Karten: dem großen Krisendiagnostiker Gior- gio Agamben. Der in Venedig und Paris leh- rende Philosoph hat seit den 1990er Jahren zahlreiche Studien veröffentlicht, die zum Teil längst zu Bestsellern der politischen Phi- losophie geworden sind. Den Grundstein für seinen Ruf als Meister- denker der Gegenwart legte er 2002 mit sei- Giorgio Agamben, Stasis: Der Bürger- nem Buch „Homo sacer: Die souveräne Macht krieg als politisches Paradigma, Aus dem Italienischen von Michael Hack. und das nackte Leben“, das zugleich den Auf- S. Fischer Verlag 2016, 96 S., 20 Euro. takt für eine vielbändige Reihe bildete. Ziel des Homo-sacer-Projekts war und ist es, die „Krise der Gegenwart“ mit Hilfe einer „Archäologie“ ihrer Machtstrukturen neu zu denken. Dabei hat Agamben seine helle Freude daran, Grundannah- men der politischen Theorie gehörig zum Tanzen zu bringen. Leitmotiv der Homo-sacer-Reihe ist die Idee, dass zentrale Ordnungsbegriffe des Politischen stets auch ihr Gegenteil mit einschließen und mithin im Grunde Kategorien der Unordnung sind. Als beispielhaft dafür kann die römische Rechtsfigur des „homo sacer“ gelten: Ein rechtloser Mensch, der zwar straflos getötet, aber nicht geopfert werden durfte – ein Verfluchter und Geheiligter zugleich. Unter Rückgriff auf Foucaults Konzept der Biopolitik wird dieses nackte Leben für Agamben zum eigentlichen Subjekt der Moderne. Die Auschwitz-Häftlinge wie die Flüchtlinge unserer Tage gelten dem italienischen Philosophen als Verkörperungen des „homo sacer“; sie sind rechtlose Existenzen mitten im Zentrum des Gemeinwesens. Neben Foucault ruft Agamben mit Vorliebe den katholischen Rechtsintellektuellen Carl Schmitt auf. Dessen zentrale The-

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201703_Blätter_Buch.indb 121 15.02.17 11:29 122 Buch des Monats

men – Souveränität und Ausnahmezustand – entfalten auch heute wieder eine gewisse Dringlichkeit. Dasselbe gilt für das Thema Bürgerkrieg. Ihm wendet sich Agamben in seinem neuesten, soeben auf Deutsch erschienenen Buch zu, seinen persönlichen Kanon dabei immer mit im Gepäck. Der schmale Band ist der vorletzte im Rahmen der Homo-Sacer-Reihe und trägt den Titel „Sta- sis: Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma“. Blutige Konflikte sind heute allgegenwärtig: in Syrien und im Irak wie im Osten der Ukraine. Doch sind das Kriege, sind das Bürgerkriege? Revolutionen, Revolten, Rebellionen? Es ist inzwischen ein Gemeinplatz, dass längst nicht mehr klar zu unterscheiden ist, ob hier verfeindete Gruppen oder Staaten gegeneinander stehen. Um eine gewisse Fallhöhe herzustellen, behauptet Agamben, dass es zwar eine „Pole- mologie“ – eine Theorie des Kriegs – und eine „Irenologie“ – eine Theorie des Friedens – gäbe. Es fehle aber an einer „Stasiologie“ – an einer „Theorie des Bürgerkriegs“. Dieses Manko habe sein Nachdenken über den „Weltbürger- krieg“ motiviert. In einen solchen sieht Agamben die Welt derzeit verstrickt: „Der Terrorismus ist der ‚Weltbürgerkrieg‘, der mal dieses, mal jenes Gebiet auf diesem Planeten trifft.“ Unter dem Titel „Stasis“ vereinigt der Zeitdiagnostiker zwei Studien, die im Jahr 2001 im Rahmen von Seminaren an der Princeton University entstan- den sind. Darin entwirft er keine eigene Theorie des Bürgerkriegs, sondern rekonstruiert aus seiner Sicht wesentliche geistesgeschichtliche Momente im Nachdenken darüber. Im ersten Teil seines Buches konzentriert sich Agam- ben auf Zeugnisse von Philosophen und Historikern der griechischen Antike. Der zweite Teil dreht sich um Thomas Hobbes‘ „Leviathan“ aus dem 17. Jahr- hundert. Der Titel der Studie, „Stasis“, ist ein Begriff aus der Zeit des anti- ken Griechenlands. Er bezeichnet den Bürgerzwist in den Stadtstaaten der Antike. Die französische Historikerin und Anthropologin der griechischen Polis, Nicole Loraux, interpretiert die griechischen Bürgerkriege als „Krieg innerhalb der Familie“. Agamben widerspricht und schreibt: „In der stasis entfällt der Unterschied zwischen der Tötung des Nächsten und der des Frem- desten. Das aber bedeutet, dass die stasis nicht innerhalb des Hauses verortet ist, sondern vielmehr, dass sie eine Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwi- schen oikos und polis, Blutsverwandtschaft und Staatsangehörigkeit, bildet.“ Die griechische Antike trennte das biologische Leben des Einzelnen kon- zeptionell strikt vom politischen Körper des Staatsbürgers, so die gängige Inter- pretation. Agamben behauptet dagegen, dem Tenor seiner Homo-sacer-Reihe treu bleibend, einen fließenden Übergang. Politik stellt sich so für ihn – in der Antike wie heute – als ein „Kraftfeld“ dar: „Die Politik ist ein Feld, das unab- lässig von den polaren Spannungen der Politisierung und der Entpolitisierung, der Familie und der Stadt durchzogen wird.“ Und weiter heißt es: „Die stasis fungiert wie ein Reagens, das unter extremen Bedingungen das politische Ele- ment kenntlich macht, wie eine Schwelle der Politisierung, die von sich aus die politische oder unpolitische Beschaffenheit eines gewissen Wesens bestimmt.“ Um seine These zu untermauern, verweist Agamben auf das solonische Gesetz. Dieses Gesetz zwang die griechischen Bürger – nach Agambens Interpreta- tion –, in Zeiten des Bürgerkriegs für eine Seite Partei zu ergreifen. Taten sie

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201703_Blätter_Buch.indb 122 15.02.17 11:29 Buch des Monats 123

es nicht, verloren sie sämtliche Bürgerrechte. Zugleich herrschte im antiken Griechenland ein Amnestiegebot für alle Verbrechen, die während des Bürger- zwists begangen wurden. Hier kommt wieder die für Agamben typische Denk- figur des gleichzeitigen Aus- und Einschlusses ins Spiel: Der Bürgerkrieg ist demnach kein Ausnahmezustand, der sich von der Ordnung des häuslichen und des politischen Lebens unterscheidet, sondern er ist im städtischen Leben stets latent gegenwärtig. So verschieden die Konzepte des Bürgerkriegs in der Antike und im England des 17. Jahrhunderts auch sind: In beiden Fällen fun- giert der Bürgerkrieg aus Agambens Sicht als „grundlegende Schwelle der Politisierung“. Eine weitere Gemeinsamkeit: Der repräsentative Staat zeichne sich hier wie dort durch die „Abwesenheit des Volkes“ aus. Dem Staat als dem Hobbesschen Leviathan nähert sich Agamben kennt- nisreich im zweiten Teil seines Buches, und zwar über das berühmte Titel- blatt der ersten Ausgabe: Der Kupferstich zeigt eine Herrscherfigur, die Stadt und Land überragt. Ihr Körper ist aus lauter kleinen Menschen zusammen- gesetzt. „Die Vereinigung der Vielzahl der Bürger zu einer einzigen Person ist so etwas wie eine perspektivische Illusion“, schreibt Agamben, „die poli- tische Repräsentation ist bloß eine optische Repräsentation.“ Die neuerdings viel beschworene Krise der Repräsentation, sie findet sich schon bei Hobbes, der bemerkte, dass sich das Volk just in dem Moment, in dem es den Souverän bestimmt, in eine ungeordnete Menge auflöse. An dieser Stelle ist abermals einer dieser Umschlagpunkte auszumachen, für die sich Agamben notorisch interessiert: „Das Volk – der body political – besteht nur für einen Moment, in dem Augenblick, in dem es ‚einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmt, der seine Person verkörpern soll‘; dieser Augenblick aber fällt zusammen mit seinem Verschwinden in der ‚aufgelösten Menge‘.“ Agamben versucht, auch für Hobbes‘ Staatstheorie nachzuweisen, dass der repräsentative Staat nur vordergründig eine Ordnung herstellt. Der Frieden stiftende Staat sei nur in paradoxen Begriffen denkbar. In Wahrheit bleibe die Wirkungsmacht von Naturzustand und Bürgerkrieg allgegenwär- tig. Bei seiner Hobbes-Interpretation lehnt sich Agamben einmal mehr eng an Carl Schmitt an, der in den 1930er Jahren einen Essay über das mythi- sche Symbol des Ungeheuers Leviathan verfasste. Agamben liest Hobbes‘ Schrift genau wie Schmitt in theologischer Perspektive. Am Ende kommt er zu dem gewagten Schluss, dass selbst die „heutige Politik“ „auf einer Säku- larisierung der Eschatologie“ gründet. Was der christlichen Eschatologie das Jüngste Gericht ist, das ist demzufolge der heutigen Politik die „Krise“ – als Endpunkt und Erfüllung aller Politik. Was aber lernen wir daraus für den Umgang mit der Krise? So vir- tuos Agambens Text- und Bildinterpretationen auch sind: Wenn es um die Anschlussfähigkeit seiner Erkenntnisse für die Gegenwart geht, lässt er den Leser ganz bewusst allein. „Stasis“ ist somit eher kein Schlüsseltext der Homo-sacer-Reihe. Dennoch mag sein Erscheinen dazu anregen, die älteren, grundlegenderen Texte noch einmal zur Hand zu nehmen. Selbst, wenn der raunende Unterton der Agambenschen Theoriebildung stört – seine Gedan- kendichtung veranlasst stets zur Reflexion über unsere bewegte Zeit.

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201703_Blätter_Buch.indb 123 15.02.17 11:29 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Lasst uns mutig sein!« Antrittsrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, 12.2.2017

• »Die Werte des Westens haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren« Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert zur Eröffnung der 16. Bundesver- sammlung, 12.2.2017

• »Bei CETA bleiben die Menschenrechte ein uneingelöstes Versprechen« Studie von Verdi, Brot für die Welt, Unternehmensgrün und Forum Umwelt und Ent- wicklung, 8.2.2017

• »Der syrische Staat foltert im Saydnaya-Gefängnis« Bericht von Amnesty International, 7.2.2017 (engl. Originalfassung)

• »Afghanistan: Größte Zahl ziviler Opfer seit Beginn der Aufzeichnung 2009« Bericht der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan, 6.2.2017 (engl. Originalfassung)

• »Ein Drittel der Deutschen zweifelt an der Demokratiefähigkeit der nachfol- genden Generation« Kinderreport 2017 des Deutschen Kinderhilfswerks, 2.2.2017

• »Integration: Sprache ist wichtiger als Herkunft« Studie des Pew Research Centers, 1.2.2017 (engl. Originalfassung)

• »Knapp die Hälfte der Minijobber erhält weniger als den Mindestlohn« Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, 30.1.2017

• »Man muss sich einfach dazu entscheiden, zuversichtlich zu sein.« Rede von Alexander Van der Bellen anlässlich seiner Vereidigung zum österreichischen Bundespräsidenten, 26.1.2017

• »Die Einkommensungleichheit steigt wieder« Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, 25.1.2017

• »Die Korruption in der deutschen Wirtschaft nimmt weiter zu« Korruptionswahrnehmungsindex 2016 von Transparency International, 25.1.2017 (engl. Originalfassung)

• »Die Weltuntergangsuhr steht nach Trumps Amtsantritt zweieinhalb Minu- ten vor zwölf« Statement von »Bulletin of the Atomic Scientists«, 25.1.2017 (engl. Originalfassung)

• »Von diesem Moment an heißt es: Amerika zuerst« Antrittsrede des 45. US-Präsidenten Donald Trump in Washington D.C., 20.1.2017

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201703_Blätter_Buch.indb 124 15.02.17 11:29 Chronik des Monats Januar 2017

1.1. – Syrienkonflikt. Trotz geltender Waf- zwei Angreifer, und Verletzte. Justizminis- fenruhe (vgl. „Blätter“, 2/2017, S. 125 f.) hal- ter Bekir Bozdag beschuldigt die verbotene ten Kämpfe zwischen Regierungstruppen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Alle Er- und Rebellengruppen nahe der Hauptstadt kenntnisse deuteten darauf hin, „dass die Damaskus an. Die Opposition droht mit Boy- separatistische Terrororganisation den Auf- kott geplanter Friedensverhandlungen. – Am trag gegeben hat“. – Am 20./21.1. verab- 6.1. bestätigt Generalstabschef Gerassimow schiedet die Große Nationalversammlung in Moskau, Russland habe im Zusammen- in Ankara in nächtlicher Sitzung die 18 Ar- hang mit der Vereinbarung des Waffenstill- tikel der umstrittenen Verfassungsreform, stands den Abzug seiner Militäreinheiten die dem amtierenden Präsidenten fast unbe- aus Syrien eingeleitet. Zunächst würden der schränkte Vollmachten einräumen soll. Die Flugzeugträger „Admiral Kusnezow“ und Entscheidung fällt mit 339 gegen 142 Stim- der Kreuzer „Pjotr Weliki“ (Peter der Große) men und erreicht damit die vorgeschriebene das Mittelmeer verlassen. – Am 12.1. schla- Dreifünftelmehrheit. Der Abstimmung vor- gen auf einer Militärbasis in Damaskus Ra- ausgegangen waren turbulente Sitzungswo- keten ein. Das Regime beschuldigt Israel, die chen (9.-20.1.). Präsident Erdogan bestätigt, Geschosse seien von den besetzten Golan- bei dem anstehenden Referendum genüge Höhen abgefeuert worden. – Vom 23.-24.1. die einfache Mehrheit. finden in Astana (Kasachstan) Gespräche 7./8.1. – Nato. Erste Kontingente einer ame- auf diplomatischer Ebene über die Zukunft rikanischen Panzerbrigade treffen in Polen Syriens statt (International Meeting on Syri- ein, um in der Ortschaft Zagan stationiert zu an Settlement). Im Mittelpunkt stehen Bemü- werden. Die Nordatlantische Allianz hatte hungen, den brüchigen Waffenstillstand im beschlossen, im Rahmen der Operation „At- Lande zu festigen. Die Verhandlungen sollen lantic Resolve“ mehr als 4000 Militärs nach fortgesetzt werden. Polen und in die baltischen Staaten zu ent- 3.1. – Großbritannien. Londons ständiger senden, die sich von Russland bedroht fühl- EU-Vertreter Sir Ivan Rogers tritt zurück. ten. Verteidigungsminister Macierewicz er- Der Diplomat, der als scharfer Kritiker des klärt, auf die Nato-Soldaten habe man „seit Brexit gilt, hatte mit der Bemerkung Auf- Jahren gewartet“. sehen erregt, die Verhandlungen über eine 8.1. – Naher Osten. Ein Palästinenser rast Regelung des EU-Austritts könnten zehn mit seinem Lastwagen im Jerusalemer Jahre dauern und an der Ratifizierung in Stadtteil Armon Hanaziv in eine Menschen- einem nationalen Parlament scheitern. – Am ansammlung. Vier Personen werden getötet, 17.1. erläutert Premierministerin May den 15 weitere verletzt. Bei den Toten handelt es geplanten Austritt aus der Europäischen sich um junge Soldaten. Der Attentäter wird Union. Ziel sei ein „sauberer“ Brexit, „kei- von Sicherheitskräften erschossen. Eine ne teilweise oder assoziierte EU-Mitglied- bisher unbekannte „Gruppe der Märtyrer schaft, durch die wir halb drinnen und halb Baha Elejan“ übernimmt die Verantwor- draußen sind“. – Am 24.1. stellt das Oberste tung. Ministerpräsident Netanjahu stellt Gericht mit acht gegen drei Stimmen fest, das Attentat in eine Reihe mit den Attacken die Regierung müsse die Zustimmung des von Nizza und Berlin (vgl. „Blätter“, 9/2016, Parlaments einholen, bevor sie den Aus- S. 126 f. und 2/2017, S. 126). – Am 15.1. be- trittsantrag stellen könne. Den Regionalpar- raten Vertreter von mehr als 70 Staaten und lamenten von Nordirland, Schottland und internationalen Organisationen ohne Israel Wales stehe kein Mitspracherecht zu. und die Palästinenser in Paris über den Fort- 5.1. – Türkei. Schwer bewaffnete Terroristen gang des Nahost-Friedensprozesses. Frank- bringen vor dem Justizpalast der Stadt Iz- reichs Außenminister Ayrault warnt vor mir ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug einem Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung. zur Explosion und eröffnen das Feuer auf Es herrsche gefährliches Misstrauen, nie- die Sicherheitskräfte. Es gibt Tote, darunter mand sei vor einer neuen Gewaltexplosion

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201703_Blätter_Buch.indb 125 15.02.17 11:29 126 Chronik

sicher. Es gebe eine „kollektive Verantwor- Grenze festgenommene Migranten müssen tung“, die beiden Konfliktparteien wieder an künftig in Haft bleiben. Der Präsident ver- einen Tisch zu bringen. – Am 18.1. einigen fügt am 28.1. ebenfalls per Dekret und für sich die Spitzen von Hamas und Fatah bei zunächst 90 Tage eine Einreisesperre für Gesprächen in Moskau auf die Bildung einer Bürger aus sieben vorwiegend muslimisch neuen Einheitsregierung, die innerhalb von geprägte Ländern: Irak, Iran, Jemen, Liby- sechs Monaten Neuwahlen vorbereiten soll. en, Somalia, Sudan und Syrien. Im In- und Außerdem soll ein neuer Palästinensischer Ausland wird zum Protest aufgerufen, Kla- Nationalrat gebildet werden. – Am 22.1. ge- gen gegen die neuen Bestimmungen wer- nehmigen die israelischen Behörden den den vorbereitet. Bau von weiteren 566 neuen Wohnungen im 11.1. – Russland/USA. Präsidentensprecher annektierten Ostjerusalem. Das umstritte- Peskow weist Anschuldigungen aus den ne Projekt war Ende Dezember v.J. bis zum USA zurück, Russland habe sich mit nach- Amtsantritt des neuen amerikanischen Prä- richtendienstlichen Mitteln zu Gunsten des sidenten zurückgestellt worden. republikanischen Kandidaten Trump in den 10.1. – USA. Wenige Tage vor dem Ende sei- amerikanischen Wahlkampf eingemischt, ner Amtszeit hält Präsident Barack Obama gleichzeitig aber belastendes Material über vor fast 20 000 Zuhörern in Chicago eine ihn gesammelt: „Das ist eine Ente, absolut vielbeachtete Rede. Der scheidende Präsi- fabriziert und völliger Blödsinn.“ – Am 18.1., dent äußert sich besorgt, die Demokratie sei kurz vor dem Ausscheiden aus dem Amt, gefährdet, wenn sie für selbstverständlich richtet Vizepräsident Joe Biden auf dem gehalten werde. Zu den Gefahren von außen „World Economic Forum“ (WEF) im schwei- und von innen gehörten die krassen Ein- zerischen Davos scharfe Angriffe gegen kommensunterschiede sowie der anhalten- Präsident Putin. Russland wolle Jahrzehnte de und wieder zunehmende Rassismus. Bei- des Fortschritts zerstören und zu einer Poli- des begünstige das gegenseitige Ausspielen tik der Einflusssphären zurückkehren. Da- von Bevölkerungsgruppen im Sinne eines für setze Putin Energie und Propaganda als Teilens und Herrschens. Die Zuwanderung, Waffe ein und stachele zu Gewalt in anderen die heute viele mit Angst erfülle, habe Ame- Ländern auf. rika nie geschwächt, sondern immer ge- 12.1. – Zypern. Erstmals seit Teilung der Insel stärkt. – Am 20.1. wird Donald Trump, Unter- im Jahr 1974 sitzen die Führer der Griechisch- nehmer und Kandidat der Republikaner, als und Türkischzyprioten zusammen mit den 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Vertretern der drei Garantiemächte Türkei, Amerika vereidigt (vgl. „Blätter“, 1/2017, Griechenland und Großbritannien an einem S. 125 f.), Vizepräsident wird Mike Pence. An Tisch. An der Konferenz in Genf nimmt auch der traditionellen Zeremonie auf den Stufen der neue UN-Generalsekretär Guterres teil. des Kapitols in Washington nehmen neben Tiefgreifende Differenzen gibt es vor allem Obama mehrere ehemalige Präsidenten über den Verlauf der Grenzen eines wie- sowie die Präsidentschaftskandidatin der dervereinigten Zypern. Präsident Erdogan Demokraten und frühere Außenministerin schließt am 13.1. einen vollständigen Rück- Hillary Clinton teil. In seiner Antrittsrede zug türkischer Truppen von der Insel aus. wiederholt Trump viele seiner umstrittenen 13.1. – Ungarn. Regierungschef Orban Forderungen aus dem Wahlkampf und be- rechtfertigt geplante Restriktionen gegen kräftigt: „Vom heutigen Tag an wird eine regierungskritische Bürgerorganisationen neue Vision in diesem Land regieren. Von (NGO). Die Ungarn hätten ein Recht darauf, diesem Moment an wird es immer Amerika zu erfahren, „wer woher Geld bekommt“. zuerst sein.“ Zu den ersten Amtshandlun- 14.1. – Vatikan/Palästina. Palästinenser- gen des Präsidenten gehört der Erlass von präsident Abbas eröffnet eine Vertretung Dekreten (Exekutive Order), mit denen auch beim Heiligen Stuhl und wird bei dieser Ge- einige von Obama durchgesetzte Projekte legenheit von Papst Franziskus empfangen. zurückgenommen oder modifiziert werden. Der Vatikan hatte Palästina im Januar 2016 Im Kongress beginnen die Anhörungen offiziell als Staat anerkannt. über die neuen Minister. Trump ordnet am 16.1. – Litauen. Die Medien berichten über 25.1. den Bau einer „großen physischen Bar- den Plan der Regierung, an der Grenze zur riere“ an der Grenze zu Mexiko an. An der russischen Exklave Kaliningrad (früher Kö-

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201703_Blätter_Buch.indb 126 15.02.17 11:29 Chronik 127

nigsberg) einen Zaun zu errichten. Auch um am 12. Februar d.J. auf der Bundesver- die Grenze zu Weißrussland solle stärker sammlung für die Nachfolge von Bundes- geschützt werden. Im Staatshaushalt seien präsident Gauck zu kandidieren. Vizekanz- 3,6 Mio. Euro dafür vorgesehen. ler und Wirtschaftsminister Gabriel wech- 17.1. – Bundesverfassungsgericht. Das Ge- selt ins Auswärtige Amt. Brigitte Zypries, richt lehnt ein vom Bundesrat beantragtes bisher Parlamentarische Staatssekretärin, Verbot der Nationaldemokratischen Partei rückt an die Spitze des Wirtschaftsressorts. Deutschlands ab. In dem Urteil heißt es, die 26.1. – Österreich. Neuer Bundespräsident NPD verfolge zwar verfassungsfeindliche wird Alexander Van der Bellen, langjähriger Ziele, es fehle „aber derzeit an konkreten Vorsitzender der Grünen (zur Wahl vgl. „Blät- Anhaltspunkten von Gewicht, die es mög- ter“, 2/2017, S. 125). Nach dem Ausscheiden lich erscheinen lassen, dass ihr Handeln von Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ) im zum Erfolg führt“. Außerdem ist von einer Frühsommer 2016 hatte das Parlamentspräsi- „Wesensverwandtschaft“ der Partei mit dem dium die Funktion des Staatsoberhaupts aus- Nationalsozialismus die Rede. geübt. Fischer konnte nach zwei Amtszeiten 18.1. – Bundespräsident. Der amtierende nicht mehr kandidieren. Bundespräsident Joachim Gauck, der auf 27.1. – Griechenland/Türkei. Das Oberste der Bundesversammlung im Februar d.J. Gericht in Athen lehnt den Antrag der Tür- nicht mehr kandidiert, hält in Berlin seine kei ab, acht Armeeangehörige auszuliefern, Abschiedsrede. Gauck wendet sich gegen die in der Putschnacht des 25. Juli 2016 mit eine weitverbreitete Geringschätzung der einem Helikopter nach Griechenland ge- Demokratie, die keinen starken Mann, dafür flüchtet waren. Die Türkei wirft den sechs aber Engagement, Diskussionen und Streit Offizieren und zwei Unteroffizieren vor, in brauche. Nicht jede abweichende Meinung den Putsch verwickelt zu sein. In der Be- sei populistisch, Wahrheit und Tatsachen gründung des Gerichts heißt es, es sei un- ermöglichten es, die Macht zu bewerten wahrscheinlich, dass den Betroffenen ein und zu kritisieren. Nötig seien Verfassungs- fairer Prozess gemacht würde. patriotismus und republikanische Verteidi- – USA/Großbritannien. Als ersten aus- gungsbereitschaft. ländischen Staatsgast empfängt Präsident – EU. Das Europäische Parlament, dem Trump im Weißen Haus die britische Premier- acht Fraktionen mit 751 Abgeordneten aus ministerin May. Beide betonen die „spezielle 28 Ländern angehören, wählt in Straßburg Beziehung“ zwischen ihren beiden Ländern. den italienischen Christdemokraten Antonio May lädt den Präsidenten zu einem Besuch Tajani (Europäische Volkspartei/EVP) zum nach London ein. Für den Beschluss Großbri- neuen Präsidenten. Tajani, der in der Stich- tanniens, die Europäische Union zu verlassen, wahl 351 Stimmen bei 282 Gegenstimmen hatte Trump mehrfach Sympathie bekundet. erhält, ist Nachfolger des deutschen Sozial- 29.1. – SPD. Der Parteivorstand nominiert demokraten Martin Schulz (Progressive Alli- einstimmig Martin Schulz, bis vor kurzem anz der Sozialisten und Demokraten/S&D). Präsident des Europäischen Parlaments, für 22.1. – Bundesregierung. Bundesaußen- den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei minister Steinmeier kündigt an, Berlin Deutschlands. Schulz soll auf einem Sonder- werde mit der neuen Administration in Wa- parteitag im März d.J. gewählt werden und shington „das Gespräch suchen“. Mit der die SPD als Spitzenkandidat in den Bundes- Präsidentschaft von Trump in den USA, so tagswahlkampf 2017 führen. Sigmar Gabriel schreibt Steinmeier in einem Zeitungsbei- hatte zuvor auf beide Funktionen verzichtet, trag, sei „die alte Welt des 20. Jahrhunderts bleibt aber Vizekanzler der Bundesregierung. endgültig vorüber“. Welche Ordnungsvor- 30.1. – BRD/Ukraine. Bundeskanzlerin stellungen sich im 21. Jahrhundert durch- Merkel trifft sich in Berlin mit Präsident setzen werden, „ist nicht ausgemacht, ist Poroschenko. Im Mittelpunkt des Gesprächs völlig offen“. Die Welt müsse sich auf unru- steht die explosive Lage in der Ostukraine. hige Zeiten einstellen: „Heute steht beson- Am Rande teilt die Bundeskanzlerin mit, ders viel auf dem Spiel.“ – Am 27.1. kommt der Konflikt zwischen Regierungstruppen es zu personellen Veränderungen unter und den von Russland unterstützten Sepa- den sozialdemokratischen Mitgliedern des ratisten habe nach UN-Angaben bisher über Bundeskabinetts. Steinmeier scheidet aus, 10 000 Tote gefordert.

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201703_Blätter_Buch.indb 127 15.02.17 11:29 Zurückgeblättert...

Vor 30 Jahren schrieb der Soziologe Arno Klönne eine be- stechende Analyse zur Lage der intellektuellen Neuen Rechten am Ende der Bonner Republik: Bundestagswahl, Historiker- Debatte und Kulturrevolution von rechts, in: »Blätter«, 3/1987, S. 285-296.

Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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An der Ausgabe wirkten Miguel de la Riva, Tobias Ritterskamp sowie Sabine Schmidt-Peter mit.

Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 10 Euro, im Abonnement jährlich 84,60 Euro (ermäßigt 67,20 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 4/2017 wird am 31.3.2017 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2017

201703_Blätter_Buch.indb 128 15.02.17 11:29 Autorinnen und Autoren dieses Heftes Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power Anne Britt Arps, geb. 1979 in Ham- Silviu Mihai, geb. 1978 in Bukarest, Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl burg, Politikwissenschaftlerin, „Blät- Philosoph und Politikwissenschaftler, Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß ter“-Redakteurin. freier Journalist und Osteuropakorres- Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester pondent. Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor Ed Blanche, Journalist, Mitglied des Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan International Institute for Strategic Andreas Müller, geb. 1964, Musikwis- Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Studies in London, Redakteur bei „The senschaftler, Hörfunkmoderator, Au- Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Arab Weekly“. tor und Musikkritiker. Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Andreas Fisahn, geb. 1960 in Soest, Tobias Müller, geb. 1975 in Lüden- Walter Kreck Helmut Ridder Dr. iur., Professor für öffentliches Recht scheid, Politikwissenschaftler, Bene- Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling an der Universität Bielefeld. lux-Korrespondent in Amsterdam. In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose Adam Krzeminski Rossana Rossandra Heiko Flottau, geb. 1939 in Wernige- Lisa Paus, geb. 1968 in Rheine, Volks- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer rode, Politikwissenschaftler, lang- wirtin, Mitglied des Bundestags für Jürgen Kuczynski Irene Runge jähriger Nahost-Korrespondent der Bündnis 90/Die Grünen. Charles A. Kupchan Bertrand Russell „Süddeutschen Zeitung“, lebt in Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Berlin. Franziska Schutzbach, geb. 1978 in Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Würzburg, Geschlechterforscherin und Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Gwynn Guilford, Politikwissenschaft- Soziologin an der Universität Basel, lerin, Reporterin für „Quartz“ in New Publizistin. Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer York. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Claudia Simons, geb. 1984 in Berlin, Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Amanda Hess, geb. 1985 in Wiscon- Politikwissenschaftlerin, Afrika-Refe- Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer sin/USA, Publizistin, Reporterin bei rentin der Heinrich Böll Stiftung. Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann der „New York Times“. Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Nikhil Sonnad, Philosoph, Reporter E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Frank Jansen, geb. 1959 in Mettmann, für „Quartz“ in New York . Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Politikwissenschaftler, Reporter beim Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Berliner „Tagesspiegel“. Tamara Tischendorf, geb. 1974 in Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Dortmund, Philosophin, Literatur- und Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer Andreas Knobloch, geb. 1977 in Kulturwissenschaftlerin, WDR-Re- Strausberg, Politikwissenschaftler und dakteurin. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka freier Journalist, lebt in Havanna/Kuba. Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Laura Valentukeviciute, geb. 1980 in Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz Chris Kühn, geb. 1979 in Tübingen, Vilnius/Litauen, Sozialwissenschaft- Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Politikwissenschaftler und Soziologe, lerin, Sprecherin des Vereins Gemein- Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Mitglied des Bundestags für Bündnis gut in BürgerInnenhand (GiB). Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine 90/Die Grünen. Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, Sozialwissenschaftler, „Blätter“-Re- Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal freier Journalist in Berlin. dakteur. Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler gelheim am Rhein, Jurist und Politik- wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer Michael Lüders, geb. 1959 in Bremen, Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Dr. phil., Islam- und Politikwissen- Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will schaftler, freier Publizist und Autor, Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf derzeit Gastprofessor an der Universi- Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler tät Trier. Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

201703_Umschlag_innen.indd 1 15.02.17 11:32 201703_Umschlag_außen.indd 1 erneuert sich in einem ständigen einem erneuert sich Kreislauf. in Speziell D Die »Blätter« im Abo: digital –schon ab 55 gedruckt oder Euro von von Wasserkrieg Öko-Apartheid, ANALYSEN ALTERNATIVEN UND

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