Die gewachsene Musikszene, MusicStar und erst recht Grandprix Eurovision de la Chanson!

Autor(en): Bettina Schelker

Quelle: Basler Stadtbuch

Jahr: 2004 https://www.baslerstadtbuch.ch/.permalink/stadtbuch/761cfcf3-012a-4738-a2df-3171571c9b47

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de la Chanson ! Bettina Schelker Zahlen - Daten - Stories Die ganze Region fieberte mit, als Baschi (Sebastian Bürgin) aus Gelterkinden und Piero Esteriore aus Laufen in der Music-Contest-Sendung im Schweizer Fernsehen auftraten. Leider ist die Basler Singer/Songwriterin, Gitarristin und Schweizer Meisterin im Boxen (Halbmittelgewicht) Bettina Schelker nicht dazu gekommen, ihrer Nachbarin - Frau Tschanz - vom Trend der Musikindustrie zum schnellen Geschäft, zur Platitüde und zum Plagiat zu erzählen, und davon, was es heisst, sich im Musikbusiness durchzusetzen. Deshalb erhält sie hier noch einmal Gelegenheit dazu.

Unsere

Stadt und Gesellschaft 71 Musicstar? wie man sich danach so fühlt, also das hätte ich Sonntagmorgen früh. Mein Hund scheisst gerade der Tschanz aus erster Hand sagen können. in Nachbars Vorgarten, ich stehe nervös mit dem Am Abend setze ich mich dann aber trotzdem Robidogsäckli daneben und hoffe, dass keiner vor die Glotze und lasse das MusicStar-Finale mit kommt. Doch wer ist’s? Ausgerechnet Frau Tschanz. viel Bier und zwischenzeitlichem über Mein Gott, so ohne ersten Kaffee gehabt zu haben mich ergehen. Und ja: nicht nur wir Basler ticken jetzt eine Standpauke, was Sinn und Unsinn von anders, sondern auch die Schweizer ! Da gewinnt Hunden in der Stadt halten angeht. Aber nein, sie nicht das Fotomodell und nicht der Schmusesänger grösst mich, während ich verlegen Hunds Würste , sondern eine einsammle, und fragt mich doch tatsächlich, wer bodenständige, natürliche Frau, die wirklich was für mich heute Abend im MusicStar-Finale Favorit drauf hat und die jetzt zu Recht hoffen darf, dass oder Favoritin sei. Universal auch Songschreiber für sie auftreiben Hä? Die Frau Tschanz, Jahrgang was weiss ich, kann, die nicht noch produzieren. die wahrscheinlich nicht mal einen eigenen CD- Das motiviert. Und ich stelle mir natürlich auch Player zu Hause hat? Die Frau Tschanz, die über gleich die Frage: «Wäre ich jetzt sechzehn Jahre mein Velo auf dem Trottoir, die zugeklebten Bebbi- alt, würde ich bei der zweiten Staffel an vorderster säcke und die nicht sauber gebündelten und nicht Front stehen und Vorsingen?» Naja, wahrscheinlich nach Karton und Papier getrennten Zeitungsbündel schon, aber was soil’s, ich bin ja schliesslich schon meckert? Ist es wirklich die Frau Tschanz, die mir über dreissig und kaufe meine CDs immer noch im jetzt eine nette Frage stellt über eine Sendung, die Roxy. ich noch nicht einmal gesehen habe, weil ich sie wahrscheinlich so spannend fände wie Hundekot ... erst recht Grandprix Eurovision! einsammeln ..., nur wenn schon Kacke, dann doch Ich könnte sogar mit Frau Tschanz über vergange­ lieber echte, oder? ne fachsimpeln. zumachen und ihr dann doch lieber was Nettes zu­ Ich war vor der Glotze live dabei, als Nicole 1982 rücksäuseln, da liefert mein Hund gleich einen mit ihrem Friedenslied gewann. Ich schwärmte neuen Meckergrund, indem er sich mit Nachbars 1987 für den Sieger Johnny Logan und kann heute Katze eine wilde Verfolgungsjagd durch dessen noch den Refrain von seinem mit­ Rosengarten liefert. Ich sehe es als meine Hunde- singen. Und Céline Dion war 1988 für mich bereits halterinnenpflicht, ihm und der Katze schreiend schon nach der Schweizer Vorausscheidung die nachzueilen. Als ich mit dem Hund zurückge­ Top-Favoritin. Trotz ihrem sogar für die achtziger kommen bin, ist Frau Tschanz schon weg. Dabei Jahre grässlichen Outfit. Ich hätte Frau Tschanz wollte ich ihr wirklich ganz dezent und in angemes­ mit der Hintergrundinformation, dass ja schliess­ senem Ton meine Meinung sagen. Und überhaupt, lich auch unsere Nella Martinetti dieses wunder­ ich habe zwar MusicStar nicht gesehen, stand schöne Lied mitkomponiert hat, beeindrucken kön­ aber in Stuttgart auch mal vor einer Jury, die fürs nen! Doch der Hammerschlag wäre natürlich ein Musical gecastet hat. Ich Zitat vom Grandprix-Spezialisten Jan Feddersen schlurfte da rein mit meinem Gitarrenkoffer und gewesen: «Jeder weiss, dass der Musikgeschmack fühlte mich wie Jennifer Beals in beim mit den Jahren im Wortsinn konservativer wird. Vortanzen. Grosser Saal, langer Tisch pnd Jury­ Man orientiert sich an den vertrauten Tempi und mitglieder, die mit den Füssen wippten. Ich habe Klängen, mit denen man sich in seinen frühen ge- gespielt so gut ich konnte, doch die Rolle bekam schlechtsreifen Jahren vertraut gemacht hat. In den ein langbein- und -haariges Fotomodell, das nicht Jurys des Song Contests sassen immer auch Punkt­ nur singen, sondern auch Noten lesen konnte. Und richter, die der Sturm- und Drang-Zeit entwach-

72 Stadt und Gesellschaft sen waren. So fiel ihre Wahl oft auf Lieder, die für will, und stellt ihm halbnackte Girls dazu. Bei so Jugendliche nicht satisfaktionsfähig waren.»1 einem Zirkus weiss das Publikum doch nicht mehr, Stimmt, Frau Tschanz, ich gebe zu, auch ich ver­ wer gesungen hat.» lor mit 17 das Interesse am Grandprix, weil völlig Doch Musikgeschmack hin oder her, wir Basler unsatisfakted, und schaltete erst 1998 wieder ein, würden uns natürlich an Piero und seine Music- als die Güildo Horn und Gunvor mehr stars erinnern, wenn sie es bis in das diesjährige Wellen schlugen als die Sieger und Funale schaffen würden. Ein Musiker aus dem von Stefan Raab kurzfristig entthront wurde. Wahr­ Baselbiet im Finale des Grandprix 2004, das wär’s scheinlich entwickelte sich bei mir zu diesem Zeit­ natürlich schon. Und hoffentlich dürfte er dann mit punkt schon dieser konservative Musikgeschmack. einer rockigen Nummer an den Start und müsste Denn sogar Udo Jürgens hat dem nicht so einen total an ihm vorbeikomponierten auf die Frage: «Sie erlebten Ihren internationalen säuseln ! Durchbruch beim Grand Prix Eurovision 1966 mit Schliesslich muss sich die kleine Schweizer . Weshalb schafft das heute keiner Musikbranche, die in den letzten 500 Jahren gera­ mehr?», geantwortet: «Weil die Eurovision zu de mal eine Handvoll Welthits hervorgebracht hat, einem Spektakel verkommen ist. Die Musikindust­ an ihren grossen Nachbarn messen, deren Kon­ rie wählt einen Künstler, den sie durchpauken zepte übernehmen und endlich selbst mal wieder

Piero Esteriore aus Laufen und Sebastian Bürgin aus Gelterkinden.

Stadt und Gesellschaft 73 was Grosses hervorzaubern. Geld und Aufwand Limousine und Helikopter rumchauffiert worden steckt man liebend gern in Casting-Shows und sein, 4-Zimmer-Wohnung, Ruderboot auf dem Stars, die sich natürlich nicht über Jahre, Erfolge Zürisee, Goldzahn und einmal im Hallenstadion und Misserfolge langsam nach oben kämpfen müs­ gespielt haben? Oder sind alle Musiker, die in sen, denn das Ablaufdatum erhalten sie zeitgleich der Schweiz leben und das alles haben, gar keine mit dem Anknipsen des Rampenlichts. Schweizer? Die Konzepte, na und das ist ja super praktisch, Und was heisst hier schon Hallenstadion. Hier sind weltweit die gleichen: Dem Konzern geht es in Basel war man vor zehn Jahren schon wer, nur ums Geld und den Künstlern darum, endlich wenn man im Atlantis spielen durfte. Das war folg­ den ganzen Tag nur noch Musik machen zu können. lich auch das grösste Ziel jeder Basler Rockband Formate wie Pop Idol, Super- und Musicstar sind vom ersten Ton im Übungskeller an ! Da schickte das Eintrittsticket in die Show und Glitzerwelt des man dann zweimal im Jahr die neuste Demokas­ Musikbusiness. sette hin, die sich mit 150 anderen auf einem Berg Das sind wahre Aussichten. stapelte und die sich natürlich keiner der Verant­ Und es gibt sogar Gerüchte, dass es immer mal wortlichen anhörte. Und spätestens nach zwei Jah­ wieder ein Gewinner, der ja erst mal verkrampft ren erfolglosem Bewerben war klar, man braucht versucht, dieses MusicStar-Image loszuwerden, tat­ Beziehungen. Da halfen auch Hartnäckigkeit, das sächlich schafft, von einem 99stel der gewachsenen beste Demoband und die absoluten technischen Musikszene als eigenständiger Musiker ernst ge­ Fähigkeiten nichts. Und schliesslich haben es dann nommen zu werden. Es sei denn gar nicht immer früher oder später viele Basler Bands geschafft, die so, dass das MusicStar-Sein nur ein Nummer-Eins- Atlantisbühne zu rocken. Fertig mit Kindergeburts- Hit bedeute, kurz gehypt und dann belächelt von tag, jetzt durfte man auf der Party für Grosse spie­ der Boulevard Presse. Es bestehe auch immer die len. Und diese Tatsache wurde dann auch mit allen Aussicht, vielleicht in zwanzig Jahren mal als Gast zur Verfügung stehenden Mitteln bekannt gemacht: in einer Retroshow auftreten zu dürfen. Super, Sofort wurde die Bandkasse geplündert und das oder? Geld statt für Bier für Hunderte von Briefmarken Von solchen langfristigen Perspektiven träumen und Konzertanzeige-Postkarten ausgegeben. War ja viele Schweizer Künstler. Schliesslich polarisiert damals noch nix mit Internet, E-Mail und so. Und und fusioniert die Industrie, was das Zeug hält. Na­ für diese Eigenwerbung musste die ganze Band tionales Repertoire wird ausgemistet und die letz­ einen Nachmittag lang 629 Adress-Etiketten auf ten goldenen Kühe werden gehegt, gepflegt und ge­ selbstgemachte Postkarten kleben und sie später molken, bis sie ausgestorben sind. mit dem Velo zur Post bringen. Aber es soll ja nicht gejammert werden, schliess­ «Das waren Aussichten, Frau Tschanz, wahre lich gäbe es ja genug Indies, die als Auffangvor­ Aussichten!» richtung für rausgeschmissene CH-Acts fungieren. Und zum Glück trifft man heute, zehn Jahre Und da müsse ja dann keine Aufbauarbeit mehr später, auch als Basler Berufsmusikerin mal Be­ geleistet werden. rufskollegen aus dem Ausland, die trotz über fünf Millionen verkauften Alben noch keine Villa am Die gewachsene Musikszene... Zürisee besitzen und sich auch mit Vierzig noch ... hat also die besten Perspektiven. Man kann gerne ausgiebig den Arsch abspielen. sich immer noch als nicht-gecasteter, freischaffen­ der, unabhängiger Schweizer Rocker nach oben kämpfen. Nach oben? Was heisst in der Schweiz oben? Anmerkung 250000 verkaufte Alben, Musicstar, einmal in 1 Jan Feddersen, Merci, Jury!, Wien 2000.

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