SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Musikstunde

Ein kreuzbraver Anarchist Anton Bruckners Leben und Werk 1

Von Werner Klüppelholz

Sendung: Montag, 13. Januar 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

2

Musikstunde mit Werner Klüppelholz

Ein kreuzbraver Anarchist

Anton Bruckners Leben und Werk

SWR 2, 13. – 17. Januar 2014, 9h05 – 10h00

I

Indikativ

Anton Bruckner? „Halb Genie, halb Trottel“, sprach Gustav Mahler. Es stimmt schon, normal war Bruckner nicht. Das beginnt beim Äußeren. „Welcher

Tischler hat Ihnen denn diesen Anzug gemacht?“, fragt eine wohlmeinende

Dame, zu schweigen vom grellbunt karierten Taschentuch in der Größe eines

Bettlakens, vom altmodischen Riesenhut, den er stets in der Hand schwenkte oder von den Seehundstiefeln, die unter dem Frack hervorlugten. Auf der

Bayreuther Baustelle fällt er in ein Mörtelfass und in Berlin vor einem vierjährigen Mädchen auf die Knie, als Siebzigjähriger, damit der Vater, ein

Konzertagent, seine Werke dort aufführen möge. Brahms redet er mit „Herr

Präsident“ an und holt ihm das Bier vom Tresen, Liszt mit „Euer Gnaden, Herr

Kanonikus“ und küsst ihm - wie allen Männern - die Hand, dem Kritiker

Hanslick hilft er aus dem Pelz und steckt dessen Tochter Geld zu, damit er 3 endlich einmal gut über ihn schreibt. Er ist fasziniert von Punkten am Satzende und Bruckner litt an Arithmomanie wie Graf Zahl in der „Sesamstraße“, unentwegt zählte er die Fenster der Häuser, die Blätter der Bäume oder die

Perlen einer Kette, irrte sich dabei oft und musste wieder von vorne anfangen.

Stundenlang konnte er Leichen betrachten und als ein vielfacher Frauenmörder als Henkersmahlzeit sich ein Schnitzel vom Gasthaus bestellte, wollte Bruckner ebenfalls eines haben, und zwar aus genau demselben Stück Kalbfleisch. Ja, das ist alles wahr. Aber Trottel komponieren anders, ganz anders.

Bruckner: IX. Sinfonie, Scherzo 11’08“

RSO Stuttgart, Ltg. R. Norrington

M 0299620 002

Das Radio-Sinfonie-Orchester Stuttgart unter Roger Norrington spielte das

Scherzo aus der IX. Sinfonie, wie alles in dieser „Musikstunden“-Woche von

Anton Bruckner, wenn auch Kürzungen zuweilen leider unvermeidlich sind.

Zum Trost wechseln die Interpreten ständig.

Die ersten vierundvierzig Lebensjahre hat er in Oberösterreich verbracht, das liegt auf der Landkarte oben links. Geboren wird Bruckner 1824 in Ansfelden nahe der Landeshauptstadt , als ältestes Kind eines Dorfschullehrers. Das heißt damals: zugleich Organist, Küster und Wirtshausmusiker in 4

Personalunion. Anton muss von klein auf bei allem helfen, musikalische

Begabung zeigt sich und er wird mit elf Jahren zu einem musikgebildeten Verwandten in Pension gegeben, der ihn mit den Wiener

Klassikern vertraut macht, bis er wegen ungerechtfertigter Betrugs-Vorwürfe

Selbstmord begeht. Wenig später stirbt Vater Bruckner ebenfalls, an der

„Lehrerkrankheit“, nämlich „Lungensucht und Auszehrung“, mit 46 Jahren. Das

Einkommen ist weg, die Familie muss aus der Dienstwohnung ausziehen, schon am Todestag wird der dreizehnjährige Anton als Sängerknabe in das Stift St.

Florian gesteckt; eine prachtvolle Barockanlage, die noch heute hoch über der

Donau thront. Im „Buch der Ehre und des Fleißes“ steht der Schüler Bruckner bald regelmäßig auf Platz eins. In St. Florian hört er Lieder eines anderen

Lehrersohns und Sängerknabens, namens Schubert, da erwächst in Bruckner der Wunsch, Komponist zu werden. Dann, meint Antons Religionslehrer, müsse er sich aber von Frauen strikt fernhalten; ein Rat, über den Wagner, Berg oder

Stockhausen nur spöttisch gelächelt hätten. Bruckner, seit Kindesbeinen die

Autoritätshörigkeit in Person (mit gelegentlichen, doch entscheidenden

Ausnahmen), wird zumindest an Beichttagen immer Handschuhe tragen, falls er in Verlegenheit kommen sollte, einer Frau die Hand zu geben. Am Ende der

Schulzeit fragt man Bruckner nach seinem Berufswunsch und er antwortet brav

„Wie der Vater“. Als Schulgehilfe tritt er seine erste Stelle in Windhaag an, ein ungemütliches Dorf an der böhmischen Grenze, zweihundert Einwohner. 5

Bruckner ist gutmütig, straft selten, wenn sich auch erste Keime anarchistischer

Neigungen in seinem Unterricht zeigen. Einmal erklärt er den Kindern doch tatsächlich, dass sich die Erde um die Sonne dreht – so weit war Mutter Kirche seinerzeit noch gar nicht. Schulgehilfe bedeutet Aushilfslehrer, Glöckner,

Messdiener und Bauernknecht in Personalunion, doch bei aller

Unterwürfigkeit: Mist über die Felder zu streuen, das verweigerte der junge

Bruckner und dachte sich einen Streich aus. Friedlich sitzen die Männer des

Dorfes abends im Wirtshaus, als der Pfarrersknecht hereinstürzt mit der Kunde, auf dem Friedhof spuke es. Da hatte der Schulgehilfe einer Schar von lebenden

Krebsen kleine Kerzen auf den Rücken geklebt. Bruckner, der zeitlebens nie ein

Buch gelesen hat außer der Bibel, hätte bei Erasmus von Rotterdam erfahren können, dass dies eine Form des Protests gegen die Ausbeutung der Armen durch den Klerus war. In seiner kargen Freizeit beginnt Bruckner zu komponieren, als Erstes eine Messe.

Bruckner: , 1’54“

Altstimmen des NDR-Chors, E. Lauer, Orgel, Ltg. H. C. Rademann

M 0067152 002

6

Wir hörten das „Kyrie“ aus der Messe C-Dur, der sogenannten „Windhaager

Messe“, mit den Altstimmen des NDR-Chors und Eberhard Lauer, Orgel. Die

Leitung hatte Hans Christoph Rademann.

Bruckner lässt sich versetzen nach Kronstorf, einhundert Einwohner, und fühlt sich gleich viel besser, obwohl seine Kammer nur sechs Quadratmeter misst.

Der neue Chef fördert seine musikalische Interessen und erlaubt ihm, ein

Spinett in den Schulraum zu stellen. Bis nachts um eins studiert er bei

Kerzenlicht das „Wohltemperierte Klavier“ oder er schreibt die „Kunst der

Fuge“ ab. Obgleich die k. u. k Instruktion für Schulgehilfen es ausdrücklich verbietet, spielt Bruckner - um sein kärgliches Gehalt aufzubessern - Tanzmusik am Wochenende, bei Hochzeiten oder im Fasching, wie sein Vater auf der

Geige. Dabei lernt er die oberösterreichische Volksmusik bestens kennen. Im

Gegensatz zu Johann Strauß soll Bruckner ein guter Tänzer gewesen sein.

Später in Wien protokolliert er gewissenhaft seine einschlägigen Aktivitäten:

„Quadrille Frl. Igler – Schnellpolka Frl. Werndl aus Steier – Walzer Frl. Reinhold -

Getanzt: mit Frl. Keller 3 mal, Frl. Wagner, mit beiden Frl. Pansek - Frl. Blum bewundert, nicht getanzt.“ Bruckners Erfahrungen auf dem Tanzboden sind nicht nur in die Scherzi seiner Sinfonien eingegangen, wobei das gehörte

Scherzo der Neunten mit seinem bum-bum-bum auch außerhalb des

Konzertsaals, etwa bei einer Rave-Party heutiger Jugend Verwendung finden könnte. Eigentliche Tanzmusik hat Bruckner sehr wenig geschrieben. Hier eine 7

Quadrille für Klavier, die allerdings vom „Urgestein“, wie Adorno Bruckners

Sinfonik nennt, noch etwas entfernt ist.

Bruckner: Lancier-Quadrille Nr. 2 1’51“

F. Shiraga

BIS-CD-1297

Fukimo Shiraga spielte die zweite der Lancier-Quadrillen.

Manche Menschen leiden an Prüfungsangst, bei Bruckner war es nachgerade

Prüfungs-Sucht; immer war er es selbst, der geprüft werden wollte. Dem

„Classifications-Abschluss“ für Schulgehilfen, mit einem ungerechten „gut“ für

Orgelspiel statt ausgezeichnet, folgt ein weiteres Examen auf der Orgel, die

Prüfung für das Lehramt an Höheren Schulen und Bruckner beginnt eine Art

Fernstudium bei Simon Sechter in Wien, Hoforganist und unbestrittene

Autorität in Harmonielehre und Kontrapunkt. Sieben dicke Bände hat Bruckner mit Aufgaben gefüllt und Sechter bemerkt, er habe noch nie einen fleißigeren

Schüler gehabt.

Als es zu einer abschließenden Orgelprüfung in Wien kommt, wo Bruckner über ein gegebenes Thema zu improvisieren hat, spricht am Ende ein Mitglied der

Kommission: „Er hätte uns prüfen sollen.“ 8

Bruckners berufliche Karriere entwickelt sich. Nach und nach wird er in St.

Florian Hilfslehrer, provisorischer, dann regulärer Stiftsorganist und er kann nun seine Mutter finanziell unterstützen. Freilich war das Ansehen von

Musikern für den Klerus so gering wie für den Adel; Bruckner hatte am Ende des Katzentischs zu essen, wo regelmäßig die Schüsseln schon fast leer waren.

Ein hartes Schicksal für ihn, der am liebsten von allem gleich mehrere Portionen bestellte, nach seiner Devise „Auch die künstlerische Produktion ist von der

Ernährung abhängig.“ Aber Bruckner hatte eine gar nicht so trottelige Idee. Als an einem hohen Feiertag die Kirche gefüllt und sämtliche Würdenträger versammelt waren, zog er alle Register der Orgel und spielte nichts als die C-

Dur-Tonleiter rauf und runter. Der zornentbrannte Prälat zitiert ihn gleich nach dem Gottesdienst zu sich, doch Bruckner entgegnet auf dessen Vorwürfe in aller Seelenruhe: „Für ein paar Knöcherln oder ein paar Fleischfetzen in der

Soße kann ich nix anderes spielen.“ Wenn in den Sinfonien Tonleitern erscheinen, was häufiger geschieht, dürfen wir also vermuten, hier ist der

Komponist hungrig gewesen.

Bruckner: WAB 6 3’32“

Kammerchor Stuttgart, Ltg. F. Bernius

M 0014487 010

9

Der Kammerchor Stuttgart, geleitet von Frieder Bernius, mit dem “Ave Maria”,

Bruckners letzter Komposition für St. Florian.

In Linz ist die Stelle des Domorganisten frei geworden, ohne Einladung absolviert Bruckner dort ein Probespiel und schlägt alle Konkurrenten aus dem

Feld, kann sich aber nicht entschließen, die Stelle anzunehmen. Zwar reimt ein

Dichter: „Mit Zyankali hat es keine Eile, man kann auch sterben aus Langeweile, wie in der Provinz – in Linz.“ Doch für den Dörfler ist es eine Metropole. Die

Stadt hat 27.000 Einwohner und besitzt nicht nur einen Dom, sondern auch ein

Opernhaus, für Bruckner freilich die „Brutstätte des Teufels“. Gleichwohl geht er schließlich nach Linz und ist jetzt kein Lehrer mehr. Doch erneut Schüler, beim Kapellmeister Otto Kitzler nimmt der Domorganist Unterricht in

Komposition und Instrumentation. Bei Simon Sechter hatte Bruckner die

Satztechniken des 18. Jahrhunderts gründlich gepaukt, Kitzler hingegen konfrontiert ihn zum ersten Mal mit neuer Musik. Mit Liszt oder dem Faust und dem von Berlioz, das Bruckner sehr beeindruckt, vielleicht wegen seiner Lautstärke, und – Gott sei bei uns – mit Wagners „Tannhäuser“. Von der

Musik ist er spontan begeistert, doch wie konnte Bruckner, dies Musterbeispiel an Frömmigkeit und Keuschheit, ein solches Bühnengeschehen mit einer leibhaftigen Venus ertragen; erst recht beim Tristan, dessen Uraufführung er in

München gegen den entschiedenen Rat seines Beichtvaters besucht? Ich vermute: Bruckner hielt die Augen stets geschlossen. So konnte er sich 10 unfromme Anblicke ersparen und ganz auf das Hören der Musik konzentrieren.

Die Abläufe im Orchester hat er nämlich sehr genau wahrgenommen, von der

Handlung auf der Bühne dagegen kaum jemals etwas verstanden. „Der Mensch geht ja schon wieder zu dem Weibsbild“, empört sich Bruckner im

„Tannhäuser“, als die Augen zufällig einmal offen standen oder später fragt er, warum die Walküre am Ende verbrannt wird. Wagners Tristan, wo es im zweiten Akt zwischen Mann und Frau ja wirklich zur Sache geht, hat Bruckner genauestens studiert - mit einem Klavierauszug ohne Text. Sechter war zweifellos ein wichtiger Mann für ihn, doch mit kunstvollem Kontrapunkt allein wäre er nicht Bruckner geworden. Erst die Wagner- und Berlioz-Vermittlung durch Otto Kitzler hat ihn gleichsam zur Instrumentalmusik säkularisiert. Ein

Schritt auf diesem Weg ist die einsätzige Klaviersonate g-moll, die aus Kitzlers

Unterrichtszeit stammt und vor allem rhythmisch an den frühen Beethoven erinnert – was kein Tadel ist. Der Pianist Fumiko Shiraga.

Bruckner: Klaviersonate g-moll 7’47“

Fumiko Shiraga

BIS-CD-1297

Um 1860 sprießen Chöre wie Pilze aus dem Boden. In Wien etwa gibt es den

Männerchor der Bäcker, Tischler, der Fleischer oder des Südbahnbundes. 11

Bruckner übernimmt in Linz zusätzlich die Leitung der Liedertafel „Frohsinn“. Er soll ein hervorragender Chordirigent gewesen sein, der peinlich genau die

Noten einstudiert, auf korrekte Aussprache achtet und auf die richtige Atmung.

Vor allem die leisen Stellen lagen ihm am Herzen, da ging er so weit in die Knie, dass er fast auf dem Boden saß. Doch der Chor konnte es ihm nicht recht machen, dieses dreifache Piano klingt ja so laut wie eine Trompete, und er hörte nicht auf zu nörgeln. Da verabreden die Choristen heimlich, überhaupt nicht mehr zu singen; Bruckner schlägt selig weiter und als er geendet hat, spricht er „So war’s schön!“

Ein Chorwerk ist Bruckners erste gedruckte Komposition, der „“, geschrieben für das oberösterreichische Sängerfest 1865 in Linz, wo ihr zum

Ärger des Komponisten nur ein zweiter Preis zugesprochen wurde, aber noch das ist geschmeichelt; denn das Stück ist ein Schmachtfetzen wie nachmals die

Kantate „“. Als wenig später der „Frohsinn“ ein Jubiläum feiern möchte, wendet sich der Chor an Richard Wagner. Der kann sich an seine

Begegnung mit dem Chorleiter in München noch gut erinnern, wo Bruckner bereits als fertiger Wagnerianer angekommen war und schon damals vom lieben Gott und von Wagner, dem „Meister aller Meister“, nur im Flüsterton sprach. Wagner seinerseits dürfte gedacht haben, einen so unterwürfigen

Gesellen noch einmal gut für seine Zwecke einspannen zu können. Er überlässt der Liedertafel „Frohsinn“ den Schlusschor der „Meistersinger“, der noch vor 12 der Münchner Uraufführung zum ersten Mal in Linz unter Bruckners Leitung erklungen ist. In diese Zeit fällt ebenfalls die I. Sinfonie. Zwar sind noch nicht alle Charakteristika der Brucknerschen Sinfonik hier vollständig versammelt, doch hellsichtig stand anderntags im „Abendboten“: „Bruckner geht in voller

Originalität seine eigenen Wege“. In Wien urteilt Eduard Hanslick ebenfalls recht positiv, was aber vielleicht daran lag, dass er das Stück weder gehört noch gelesen hatte. Das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt, geleitet von Eliahu

Inbal, mit dem ersten Satz.

Bruckner: I. Sinfonie, 1. Satz 13’10“

RSO Frankfurt, Ltg. E. Inbal

Teldec 8.43619 2 K LC 3706