APuZAus Politik und Zeitgeschichte 63. Jahrgang · 27–28/2013 · 1. Juli 2013

50 Jahre Fußball-

Uwe Seeler „Es geht nur miteinander.“ Ein Gespräch

Gunter Gebauer Vom „Proletensport“ zum „Kulturgut“

Dietrich Schulze-Marmeling Wegmarken aus 50 Jahren Bundesliga

Nils Havemann Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Betrachtungen

Henning Vöpel Wirtschaftsmacht Bundesliga

Gerd Dembowski Organisierte Fanszenen: Zwischen empfundener Enteignung und Self-Empowerment

Jutta Braun Abseits der Bundesliga? Zur Aufarbeitung des DDR-Fußballs Editorial Am 24. August 1963, um 17 Uhr, wurden in acht Stadien die ersten Spiele in der Fußball-Bundesliga angepfiffen. Sie löste die regional begrenzten Oberligen als höchste Spielklasse ab und ging einher mit der allmählichen Einführung des Profifußballs in Deutsch- land – wogegen sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) lange ge- sträubt hatte. Das erste Tor fiel bereits in der ersten Spielminute: Friedhelm „Timo“ Konietzka erzielte es für Borussia Dortmund. Bis heute folgten 46 841 weitere Treffer sowie eine bemerkens- werte Entwicklung: Die damals offiziell geltende Deckelung von Spielergehältern ist heute ebenso undenkbar wie die seinerzeit fehlende Möglichkeit, Spieler ein- und auszuwechseln; die Liga ist inzwischen ein professionell durchkommerzialisierter Betrieb mit einem jährlichen Umsatz von über zwei Milliarden Euro.

Dennoch ist die Bundesliga, die seit 2001 nicht mehr vom DFB, einem eingetragenen Verein, sondern der Deutschen Fußball Liga (DFL), einer GmbH, organisiert wird, auch heute noch mehr als ein bloßes Geschäft. Fußball spielt im Leben vieler Menschen eine so bedeutende Rolle, dass er mitunter als „Ersatzreligion“ bezeich- net wird. Über die Anhängerschaft zu einem Verein wird vielfach und schichtübergreifend Identität gestiftet und Gemeinschaft her- gestellt. Die Liga bietet so nicht nur gemeinsamen Gesprächsstoff, sondern dient zugleich als Projektionsfläche: Ob nun etikettiert als „Spiegel der Gesellschaft“ oder „Parallelgesellschaft“ – in ihr spiegeln sich bestimmte Entwicklungen wider, und an ihr wird verhandelt, was gesellschaftlich akzeptiert ist und was nicht.

Trotz dieser Bedeutungsaufladungen und der umfassenden Kommerzialisierung bleibt Fußball im Kern jedoch ein Spiel – was anzeigt, dass er für Überhöhungen nicht geeignet ist. Es ist richtig und wichtig, wenn seine Akteure gesellschaftliche Pro- bleme angehen und sich etwa gegen Rassismus engagieren – mit ihrer Lösung aber ist der Fußball überfordert. Oder, wie es der erste Bundesliga-Torschützenkönig ausdrückt: „Er kann vieles, aber nicht alles.“

Johannes Piepenbrink Der HSV hat an und für sich damit gerech- net, dass die Bundesliga ein Jahr später kommt. „Es geht nur Und deswegen waren wir nicht sehr gut vor- bereitet. Wir hatten Probleme, weil es bei uns viele Abgänge gab. Mein langjähriger Sturm- ­miteinander.“ partner Klaus Stürmer war zum Beispiel schon weg, weil er nicht bis ’64, ’65 warten wollte. Und so ist er in die Schweiz gegangen, um ein Ein Gespräch mit bisschen Geld zu verdienen. Das war da da- mals schon möglich. Und natürlich haben wir * einige Leute gehabt wie zum Beispiel Jürgen Uwe Seeler Werner als Studienrat, die das mit ihrem Be- ruf nicht vereinbaren konnten. Und damit war Herr Seeler, wenn Sie heutzutage „richtigen“ unsere Mannschaft natürlich schon auseinan- Fußball sehen wollen: Besuchen Sie ein Bun- dergerissen. Aber wir haben uns trotzdem auf desligaspiel bei ihrem Stammverein HSV, die Bundesliga gefreut, weil wir gesagt haben: schauen Sie Champions Wir müssen auch auf hohem Niveau spielen, Uwe Seeler League im Fernsehen, damit wir international mit den anderen Pro- Geb. 1936; von 1953 bis 1972 oder gehen Sie lieber fi-Ländern – England, Spanien, Italien und so Mittelstürmer beim Hambur- die „Zweite“ vom HSV weiter – mithalten können. Insofern haben wir ger SV; Ehrenspielführer der unterstützen? Oder gu- gesagt: „Gehen wir das mal an.“ Fußball-Nationalmannschaft cken Sie sich auf You- und Ehrenbürger der Freien tube alte Spiele von sich Wie haben Sie Ihre Fußballkarriere und und Hansestadt Hamburg, selbst an? den Beruf als Vertreter für Adidas miteinan- Vorsitzender der Uwe Seeler- der vereinbaren können? Stiftung, Rugenbarg 14, Nein, das tue ich 22848 Norders tedt. schon gar nicht. Also, Ich wusste, dass das sehr schwer war – aber www.uwe-seeler-stiftung.de ich guck dann schon bei der damaligen Bezahlung war es im Grunde das, was es gibt – ent- gar nicht möglich, den Beruf ganz aufzugeben. weder Bundesliga oder eben Champions Ich durfte als Bestbezahlter mit Genehmigung League, was natürlich besonders reizvoll ist. vom Deutschen Fußball-Bund 1250 DM brut- Trotzdem guck ich mir immer die gesamte to verdienen. Und wenn man dann in Ham- Bundesliga an, um mir auch ein Urteil erlau- burg wohnt – dafür kann ich nicht mal eine ben zu können. Wohnung halten für meine Familie. Ich habe das die ganze Zeit durchgezogen, bin ja auch Das Spiel an sich und auch das Drumher- nicht mehr ins Ausland gewechselt, obwohl um haben sich ja sehr verändert in den ver- ich einige Angebote hatte. Jährlich bin ich gangenen 50 Jahren. Ist das heute noch der um die 70 000 Kilometer gefahren, und habe „richtige“ Fußball, oder war er früher „rich- natürlich unterwegs alleine trainieren müs- tiger“? sen, damit ich einigermaßen fit bleibe. Natio- nalmannschaft, HSV, und früher gab es noch Ich glaube, Vergleiche sollte man nicht Spiele „Hamburg gegen Berlin“ oder „Nord- ziehen, weil das, was heute ist, und das, was deutschland gegen Westdeutschland“ – das früher war, ist derart unterschiedlich, dass wollte ich natürlich alles gern beibehalten. So man es fast gar nicht beschreiben kann. haben das sehr viele bei uns gemacht, die dann Nicht nur mit der Bezahlung der Spieler, halbtags arbeiten konnten und eben dann auch sondern auch mit allem anderen. Ich brauche Berufsfußball gemacht haben. nur eines zu erwähnen: Dass wir praktisch aus unserer Mannschaft gewachsen waren, Sehen Sie es als Vorteil, dass man heute vom aus der Jugend – die Zeiten sind vorbei. Und Fußball leben kann? Oder war es für Sie auch deswegen braucht man darüber auch nicht schön, beruflich nebenbei etwas anderes zu lamentieren. Ich genieße heute den Fußball, machen? so wie er ist. * Das Gespräch führten Johannes Piepenbrink und Welche Erinnerungen haben Sie an die Anne Seibring am 24. April 2013 in Norderstedt bei Bundesliga-Einführung? Hamburg.

APuZ 27–28/2013 3 Ja, gut, das war noch eine andere Zeit. Das wird, aber: So gut kann keiner Fußball spie- kann man nicht entscheiden. Ich glaube, heu- len, dass er 100 Millionen kostet. Aber das te ist es im Grunde nicht mehr machbar. Das ist halt Angebot und Nachfrage, das freie fängt ja mit Länderspielen an: Wir haben Geschäft – und wenn es denn so sein muss, zu meiner Zeit vier Spiele im Jahr gemacht. muss es so sein. Heute machen sie noch Champions League, Europa League, das gab es ja nur bedingt. Sie hatten 1961 ein Millionenangebot von Und diese ganzen Länderspiele, das wird al- Inter Mailand, das sie nach dreitägigen Ver- les mehr. Heute wäre das nicht mehr mög- handlungen ausschlugen. Wären Sie viel- lich. Aber es muss ja auch nicht möglich sein. leicht länger ins Grübeln gekommen, wenn Wenn man heute einigermaßen hoch dotiert nicht absehbar gewesen wäre, dass es auch in ist, dann hat man ja schnell aus­gesorgt. Deutschland eine Profiliga geben würde?

Aber Sie haben Ihren Beruf als Vertreter Ich wusste schon, dass irgendwann bei uns auch gern ausgeübt. die Bundesliga kommt. Wann sie kommt – das wusste ich nicht, aber die hat gar keinen Ein- Ich hab mich ja auch dafür entschieden, weil fluss darauf gehabt. Entscheidend ist ja, dass es mir Spaß gemacht hat. Aber auch, weil ich Inter Mailand zu der Zeit das Nonplusultra ein Sicherheitsfanatiker war – gerade als Mit- war. Und die wollten mich unbedingt haben telstürmer bin ich ja da hingegangen, wo es und haben das gar nicht verstanden, dass ein wehgetan hat. ’65 hatte ich einen Achilles- Mensch auf so viel Geld verzichtet. Das ha- sehnendurchriss, und alle vor mir mit so ei- ben sie mir auch nachträglich noch mal deut- ner Verletzung haben aufgehört. Da war schon lich übersetzt. Helenio Herrera, der Trainer, mal ganz gut, dass man den Beruf im Hinter- hat nur den Kopf geschüttelt. Ich hab mich grund hatte. Das war auch ausschlaggebend aus dem Bauch heraus für die Sicherheit ent- für die Entscheidung, 1961 nicht nach Italien schieden. Vielleicht bin ich auch schwindelig zu gehen. Ich habe also den schweren Weg ge- geworden, ich weiß es nicht. Es war wirklich wählt. Aber als ich dann erfahren habe, dass viel Geld. ich einen Achillessehnendurchriss habe, da habe ich gesagt: „Okay. Mensch, hast ja doch Sie sagten, ihr Verein war auf die Bundes­ richtig entschieden.“ Aber aus dem Bauch he- liga-Einführung nicht gut vorbereitet. Inwie- raus – Berater gab es nicht. Wichtig ist natür- fern waren andere besser aufgestellt? lich heute, dass ich die Entscheidung nicht be- reue, dass ich sie heute noch gut ­finde. Manche Vereine haben es teilweise besser gemacht als mein HSV. Wir hatten zwar Geld, Der Beruf hat sicher auch dazu beigetragen, aber mein Verein war so hanseatisch, dass da dass Sie mit beiden Beinen auf dem Boden links oder rechts nichts ging. Und wenn es geblieben sind. Heute können Spieler rasch woanders Fußballer gab, die 1200 oder nur enorme Summen verdienen, haben aber nicht 1000 DM verdienen durften und dann Voll- mehr die Möglichkeit, sich auf diese Weise zu profis waren – ja, dann brauche ich nicht mehr erden. viel nachdenken. Ich kann mir nicht vorstel- len, dass das alles war, was die gekriegt haben. Manche sagen: „Ab einer gewissen Summe Aber unser Verein hat da absolut nichts ge- Geld leidet der Kopf.“ Und das ist sicherlich macht. Bevor ich in den Urlaub fuhr, habe ich richtig, aber es muss nicht überall stimmen. immer gesagt: „Kauft vernünftig ein.“ Aber Aber da habe ich schon vom Elternhaus her das hat nie geklappt. Da haben sie sich sehr keine Probleme gehabt. Meine Eltern hat- schwer getan, das fand ich zu hanseatisch. ten nicht viel. Und trotzdem hat alles ge- Aber das waren alles Direktoren bei großen klappt. Wir waren mit dem, was wir hatten, Firmen, die konnten sich nichts erlauben. Das zufrieden. Und das, was es nicht gibt, ver- musste alles à jour sein. So haben sich die Zei- misst man ja auch nicht. Insofern bin ich da ten verändert. Gott sei Dank haben die ja heu- sehr solide groß geworden. Mein Vater hat te freie Verfügung über ihr Geld, und jeder zu mir und meinem Bruder immer gesagt: kann machen, was er will. Ob es gut geht oder „Denkt daran: Geld ist nicht alles.“ Und: nicht, ist ja eine andere Sache. Das müssen sie „Mehr wie ein Steak könnt ihr auch nicht es- selbst verantworten. Also das war eben alles sen.“ Ich freu mich, wenn einer gut bezahlt früher noch sehr eingeschränkt.

4 APuZ 27–28/2013 Lohnt es sich heutzutage noch, in die Ju- Auswärtsspielen zu fahren. Und dann sind gendarbeit und den Aufbau einer Mannschaft sie die ganze Nacht unterwegs und müssen, „von unten“ zu investieren? Oder ist es viel- wenn Sonntagsspiele sind, montags gleich versprechender, Spieler einzukaufen? wieder zur Arbeit. Das ist schon faszinie- rend. Aber deswegen sage ich ja auch immer: Kaufen wird immer sein müssen, du brauchst Jeder kann schlecht spielen – das haben wir ja Eckpfeiler in der Mannschaft. Aber für die auch. Aber eines kann ich, wenn ich Profi Grundstimmung musst du ein eigenes Fun- bin und gesund: Zwei Stunden rennen kann dament haben, das den Verein lebt. Und dann ich und kämpfen. Und dann ist auch alles in kannst du zukaufen. Bayern oder Dortmund Ordnung. Wenn ich sehe, der hat gerackert, sind Beispiele: Wie viele eigene Leute die drin- gemacht, gekämpft – dann darf er auch mal haben – bei Bayern Schweinsteiger, Badstuber, schlecht gespielt haben. Das sind so diese Lahm, Müller – dann kommen die andern hin- Werte – du musst auch von selbst das Gefühl zu. Ich glaube, das wird jetzt vermehrt der Fall haben: „Mensch, ich hab’ den schönsten Be- sein, dass man aus den eigenen Reihen wieder ruf, verdiene sehr, sehr gutes Geld, prima. Nachwuchsspieler heranzieht, die für den Ver- Aber: Dafür muss ich ackern.“ ein – auf Deutsch gesagt – Gras fressen. Woran liegt es, dass dieses Bewusstsein of- Sie sagten mal, die berühmte Formel „Elf fenbar nicht mehr selbstverständlich ist? Freunde müsst Ihr sein“ gelte nicht mehr, sie sei abgelöst worden vom Begriff der „Ich- Sehr wahrscheinlich hat auch der Wohl- AG“. Ist der Trend, wieder stärker auf den stand damit zu tun, dass ich oberflächlicher eigenen Nachwuchs zu setzen, ein Zeichen werde. Oder wenn sehe, wie manche Spieler dafür, dass es wieder mehr in Richtung elf nach Niederlagen nach Ausreden suchen, an- Freunde geht? statt zu sagen: „Heute habe ich auch schlecht gespielt.“ Es gibt ja einige, die das sagen, So wie es früher war – wir sind alle aus und ich finde, da ist nichts dabei. Selbstkri- der eigenen Jugend gekommen und Jürgen tik ist sowieso immer das Beste. Aber das Kurb ­juhn aus Buxtehude war unser „Aus- hat es nie gegeben, dass ich gesagt habe: „Du länder“ –, die Zeiten sind vorbei. Aber: Fuß- bist schuld oder du bist schuld.“ Das passt ball ist Mannschaftssport. Und: Es geht nur für eine Mannschaft und eine Gemeinschaft miteinander. Also musst du eine Gemein- nicht. Das sind so Dinge, die ich als junger schaft bilden. Das ist so ähnlich wie Freun- Mensch von den älteren Mitspielern mitbe- de. Du musst dem, der einen schlechten Tag kommen habe. Im Verein hatte ich meinen hat, helfen; du musst dich in der Mannschaft älteren Bruder und Jochen Meinke als Kapi- organisieren. Das gilt auch über den Sport tän, außerdem Jupp Posipal. Die Alten haben hinaus: Es geht auf Dauer nur miteinander, richtig aufgepasst auf uns, dass wir manche sonst geht es nicht gut. Meine Eltern haben Erfahrung erst gar nicht mehr machen muss- immer gesagt: „Wenn Du in der Bahn sitzt, ten – also irgendwo reinlaufen und merken: und es kommt eine ältere Herrschaft, steh’ „Oh, Du musst schnell wieder zurück. Der auf und biete Deinen Sitzplatz an. Fass einen will mit Dir nur saufen.“ Koffer an, oder hilf, wenn Du merkst, die ha- ben irgendwas.“ Das sind so einfache Dinge, Dem Fußball wird heute eine unheimlich die kosten nichts. Viele Werte sind ja verloren große gesellschaftliche Bedeutung beigemes- gegangen. Und ich finde, das tut uns irgend- sen. Ist er damit überfrachtet, oder kann er wann weh. Die gehören einfach dazu. in bestimmten Bereichen tatsächlich Schritt- macherfunktion übernehmen? Beobachten Sie das auch im Stadion, dass sich die Stimmung und die Fankultur verän- Also der Fußball kann sehr viel helfen. Er dert haben? macht auch unheimlich viel, schon in der Ju- gendarbeit. Und weil Europa zusammen- Die Fankultur ist ja nun auch eine ganz gewachsen ist, weil in jeder Mannschaft andere gewesen. Ich glaube, dass zu meiner Ausländer sind – da hat der Sport sehr wahr- Zeit die Fans etwas kritischer gewesen sind. scheinlich schon Vorbildfunktion. Ich habe ja Wenn ich überlege, dass viele Fans heute ar- meine eigene Stiftung und weiß ja, wie viele beiten und sparen, nur um mit dem HSV zu Fußballer auch eine Stiftung haben und Gu-

APuZ 27–28/2013 5 tes tun. Man versucht natürlich, weil er „in“ wenn man nicht im Ausland gewesen ist, wie ist, über den Fußball alle Unebenheiten aus- gut es uns nach wie vor geht. Ich glaube, da- zugleichen. Aber da muss der Fußball auch rum muss man nicht immer mehr und noch ehrlich sein: Er kann vieles, aber nicht alles. mehr und noch mehr wollen. Die Zufrieden- heit – ich glaube, die ist auch verloren gegan- Hätte man zu Ihrer aktiven Zeit die da- gen. Klar kann es immer ein bisschen mehr maligen Kanzler Ludwig Erhard oder Kurt sein. Aber ich finde, wichtig ist auch, dass ­Georg Kiesinger in die Kabine gelassen? die Menschen irgendwann sagen: „Wir sind zufrieden, uns geht’s gut, wir haben ein tol- Also, wir hätten jeden in die Kabine ge- les Zuhause, wir haben genug zu essen und lassen. Wenn er sich angesagt hätte, wäre er zu trinken.“ – Sie verstehen, was ich meine. herzlich willkommen gewesen. Das ist un- Es ist ja nur steil bergauf gegangen, und das ser Verständnis von Sport, da gibt es gar kei- schon einige Jahrzehnte. ne Probleme. Ob der nun von der Partei oder der Partei gekommen wäre, ist egal. Klar schimpft man auch mal. Aber wenn ich jetzt an Leute denke, die 50 oder 60 Jah- Haben Sie denn den Eindruck, dass die re wirklich geschuftet haben und die uns ja Nähe zwischen Politik und Fußball größer ge- in diesen Wohlstand gebracht haben: Wenn worden ist? Die Bundeskanzlerin ist ja zum ich da jetzt noch an die Renten ran will – ich Beispiel bei vielen wichtigen Länderspielen finde, da gibt es gewisse Grenzen, wo auch dabei. die Politik einfach gefragt ist. Und wenn ich dann höre, dass für Schulen kein Geld da ist Ja gut, warum sollen Politiker, egal welcher oder für Krankenhäuser – dafür habe ich kein Couleur, nicht zum Länderspiel kommen? Verständnis. Wenn ich weiß, was die Kran- Sie sind ja immer alle da. Also nicht immer kenpflegerinnen verdienen, dann brauche ich nur der oder der. Wenn einer ein Interesse hat nichts mehr sagen. Dafür muss Geld da sein. und ein Länderspiel sehen möchte: Herzlich Da darf es keinen Engpass geben. Da muss willkommen. Ich weiß natürlich, worauf Sie ich woanders sparen. hinaus wollen. Vor einer Wahl sind natürlich immer mal ein paar mehr da. Es ist ja auch Damit sind wir natürlich beim Thema, dass gut, wenn sie zeigen, dass sie für Sport Inte- das alles durch Steuern finanziert wird, und resse haben. Und das ist für Sport aller Art was es bedeutet, wenn zum Beispiel der FC- gut, würde ich sagen. Weil ich glaube, Sport Bayern-Präsident Uli Hoeneß Steuern hin- ist in unserer Gesellschaft äußerst wichtig. terzieht. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich an allen Schulen jeden Tag eine Sportstunde ein- Also, dazu äußere ich mich nicht, das ist führen. Wenn Schüler fünf, sechs oder sieben seine persönliche Geschichte. Ich weiß nur, Stunden sitzen, brauchen die auch mal Bewe- dass Uli auch ein Typ ist, der unheimlich viel gung. Zwei Stunden in der Woche, das ist ein- hilft. Und er hilft auch wirklich da, wo Not fach zu wenig. ist.

Sowohl mit Blick auf die Bundesliga als Sie selbst haben auch eine gemeinnützige auch auf die Politik wird ja ab und zu der Stiftung. Sind Sie generell der Meinung, dass Mangel an „echten Typen“ beklagt. Sehen Sie man sich mit der Aufmerksamkeit, die man einen Zusammenhang, dass es für beide Be- als Fußballstar heute bekommt, und mit dem reiche diese Beobachtung gibt? Geld, das man verdient, für soziale Zwecke einsetzen sollte? Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Kon- rad Adenauer, und wie sie alle hießen – ja, Ja. Wobei ich mit dem Fußball ja gar nicht diese Typen, die auch diese Ausstrahlung so viel Geld verdient habe. Mein damaliges oder Aura haben, haben wir heute natürlich Gehalt kriegen die heute als Prämie. Aber das nicht. Warum, kann ich nicht sagen. Die Zeit ist auch in Ordnung. Alles zu seiner Zeit. Ich hat sich so verändert, der Wohlstand hat sich mache es mit der Stiftung so gut ich es kann verändert – wir haben ja im Grunde alles. in meiner Größenordnung. Und ich glaube, Es gibt ja nichts, was es nicht gibt. Und wir ich mache es recht ordentlich – ich bin auch haben ja vielleicht auch gar kein Maß mehr, viel unterwegs dafür. Geld kommt ja nur

6 APuZ 27–28/2013 rein, wenn du viel unterwegs bist. Und solan- Angst gehabt, unsere Mannschaft oder unse- ge ich Kraft habe, mache ich es gerne. ren Kollegen allein zu lassen, denn auswech- seln durfte man noch nicht. Zurück zur Bundesliga: Kurz vor dem Ende Ihrer Spielerkarriere war 1971 der „Bundes­ Aber es war eine schöne Zeit. Ich und ei- liga ­skan­dal“. Kam der für Sie genauso über- nige Mitspieler haben gerade wieder zusam- raschend wie für die Öffentlichkeit? mengesessen und gesagt: „Das viele Geld, das die heute verdienen, hätten wir auch gerne – Ja. Als man mir das gesagt hat, habe ich aber: Unsere Zeit kann man mit Geld nicht gesagt: „Das kann nicht stimmen.“ Da bin bezahlen, die war so schön.“ Kann man nicht ich auch zu gutgläubig gewesen. Ich hab das bezahlen, kann man aber auch nicht erklären. nicht für möglich gehalten. Aber wie man ge- Jeder, der in unserer Truppe war, sagt das. sehen hat, gibt es viele Dinge, die man nicht Und das ist eine schöne Sache, weil alle das für möglich hält. Überraschungen gibt es im- gleiche Empfinden haben. mer wieder. Im Umkehrschluss: Wenn Sie heute Profi Anschließend folgte Ihre letzte Saison als wären, hätten Sie nicht eine so schöne Zeit? Spieler. Nein, ich glaube schon. Heute wäre eine Ich bin mit fast 35 Jahren schon verhältnis- andere Zeit. Weil wir ja aus der Jugend ge- mäßig alt gewesen. Ich sagte mir: „Lieber ein meinsam gewachsen sind. Heute wächst man Jahr früher als ein Jahr zu spät.“ Irgendwann ja nicht mehr, heute wächst nur dazu. Und hat man ein Niveau geschaffen, und das kann diese Erlebnisse als Jugendliche – das ist ja man mit zunehmendem Alter nicht mehr hal- der Sinn gewesen. Wir sind ja nicht Fußballer ten, ist doch klar. Ein Jahr vorher habe ich geworden, weil wir wussten, dass viel Geld mich noch überreden lassen, weil der HSV zu verdienen ist. Das kam ja alles nachher. Probleme hatte. Dann wollten sie aber noch Der Sinn war ja immer, aus der Jugend in die ein Jahr. und ich waren die alten Liga zu kommen. Und wenn man in der Liga Haudegen in der Mannschaft. „Nee“, sagte stand, mal Nationalspieler zu werden. Das ich, „Willi ist hinten drin, der kann das allei- sind unsere Ziele gewesen – mehr Ziele hat- ne machen.“ Das war auch gut so – bevor die ten wir gar nicht. Das andere stand ja zu der Leute sagen: „Der Alte da, der muss aber jetzt Zeit alles noch in den Sternen. auch langsam mal aufhören.“ Das ist immer besser, du machst das selbst. Einer Ihrer Enkel (Levin Öztunali) ist auf dem besten Wege, auch Profifußballer zu wer- Bei den vielen Verletzungen, die ich hatte, den. Gibt es Dinge, die Sie ihm noch mitgeben hat es natürlich schon überall geknackt. Wir können? Oder sagt er nur: „Opa, das war bei wurden ja früher nicht so betreut wie heute. Dir doch alles ganz anders“? Ich habe Glück gehabt, meine Knie waren nie verletzt, aber es ist schon einiges hängen ge- Nein, nein, sagt er überhaupt nicht. Er blieben. Allerdings haben wir das alles auch fragt mich auch. Aber ich bin genau wie mein ein bisschen bagatellisiert. Heute horchen die Alter, ich sage immer nur kurze Sätze. Weil ja in sich rein – das haben wir nicht gemacht. sonst, glaube ich, grübelt er. Er ist sehr ehr- Wenn wir eine leichte Zerrung hatten, haben geizig, aber auch ehrgeizig, sein Abitur zu wir ein ABC-Pflaster draufgeklebt und ge- machen. Das ist vorrangig. Es kann ja immer sagt: „Kommt, Jungs!“ Ja, wir haben immer mal was passieren, im Fußball muss man im- gesagt, wir dürfen die Mannschaft nicht im mer mit Eventualitäten rechnen. Und dann Stich lassen. Oder die Mannschaft hat gesagt: ist es gut, wenn er sein Abitur als Fundament „Komm, Uwe. Wenn Du auf’m Platz stehst, hat. dann hast Du schon mal zwei, die Du fesselst. Brauchst nicht so viel laufen.“ Aus einer Zer- Wie sehen Sie die Zukunft der Bundesliga, rung habe ich dann einen Muskelriss gehabt. wohin geht der Weg? In der Pause habe ich eine Spritze gekriegt, und erst nach dem Spiel habe ich es gemerkt. Im Moment sehe ich sie so, dass die Bay- Aber wir wollten. Es ist nicht so, dass die ge- ern die Bundesliga beherrschen werden. Und sagt haben: „Du musst.“ Wir haben immer da ist die Frage, wie reagiert die Liga, wie

APuZ 27–28/2013 7 reagiert das Publikum? Nach dieser Saison Gunter Gebauer würde ich sagen, die nächsten Jahre können wir abhaken: Bayern München. Geld regiert die Welt. Die Bayern haben schlauerweise Vom „Proletensport“ aus den anderen Vereinen immer die Stärks- ten rausgekauft. Ja, und dann wird es schwie- rig für die anderen. Und das Geld spielt dann zum „Kulturgut“ ja schon eine Rolle. Wenn man mal überlegt: Götze, 37 Millionen Euro – das muss man ja Essay erst mal bezahlen. Und Bayern hat das Geld und ist trotzdem gesund. Die haben ja zwei Mannschaften. Wenn sie beide aufstellen b man den Fußball liebt oder ihn für würden in der Bundesliga, würde ich sagen, Ovöllig überschätzt hält – er ist aufs Engs- Erster und Zweiter oder Erster und Dritter te mit der Geschichte der Bundesrepublik würden sie immer werden. Und dann ist da verbunden. Viele mar- noch Dortmund, und dann ist Feierabend. kante Entwicklungen, Gunter Gebauer Und ob das gut ist, werden wir sehen. Aber die unser Land und Dr. phil., geb. 1944; ­Professor Uli (Hoeneß) hat ja selbst gesagt, dass ihm seine Wahrnehmung em. für Philosophie an der das nicht gefällt. prägen, können wir Freien Universität Berlin, in der Geschichte des ­Thiel­allee 43, 14195 Berlin. Ja, und dann hat er Götze gekauft. Fußballs in Deutsch- [email protected] land wie in einem Ja, und dann liest Du den andern Tag, dass Buch lesen. Was wir darin finden, ist keine Götze gekauft worden ist. Das ist halt so. reine Spiegelung der Nachkriegszeit bis heu- Fußball ist Geschäft. Das ist legitim. Aber te; es ist vielmehr eine Erzählung, die man- ob das jetzt für den Fußball, für die Liga gut ches übertreibt und verzerrt: Alle wichtigen oder schlecht ist – nächstes Jahr wird man se- Ereignisse dieser Zeit werden hier ausgehend hen, was Sache ist. Wenn es wieder so lang- vom Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft weilig wird, dann weiß man, dass es nicht gut 1954 auf eine je eigene Weise geschildert; und ist. Lassen wir uns mal überraschen. Aber umgekehrt prägen die großen Ereignisse des wer ein bisschen nachdenken kann, der weiß Fußballs das nationale Gedächtnis. Wie ist es genau, dass da nix passiert. möglich, dass der Fußball in Deutschland zur nationalen Repräsentation gehört wie in Eng- Vielleicht wird ja Ihr Enkel in 50 Jahren zu land die Queen und in Österreich die Wiener 100 Jahren Bundesliga interviewt. Was könn- Oper? Gewiss hinkt dieser Vergleich: Fuß- te der antworten? ball ist weder eine Institution der politischen Geschichte noch eine der hohen Kultur; er Weiß ich nicht. Müssen wir mal abwarten, füllt jedoch im nationalen Symbolhaushalt wie es überhaupt aussieht, wenn der mal so eine Stelle aus, die sonst leer bleiben würde. weit ist. Die haben ja auch ganz andere Ein- flüsse. Wenn ich dann noch da bin, dann frag’ Niemand hätte sich 1954 träumen lassen, ich ihn. dass Fußball einmal derart in der öffentli- chen Aufmerksamkeit stehen würde. Was in Deutschland heute von der breiten Öffent- lichkeit diskutiert wird, sind weniger Fragen der großen Politik, es geht vielmehr um die Leistungen deutscher Clubs in der Champi- ons League und die Aussichten der Natio- nalmannschaft bei der WM 2014 in Brasilien. Dies sind offenbar die bewegenden Fragen der Zeit, egal ob man mit Taxifahrern, Wis- senschaftlern, Kulturschaffenden oder politi- schen Redakteuren spricht. Wir leben in Zei- ten der europäischen Finanzkrise; die Staaten in Südeuropa leiden unter der von der EU ver- ordneten Sparpolitik, die Jugendarbeitslosig-

8 APuZ 27–28/2013 keit in jenen Ländern nimmt ein angsterregen- nach einer 1:4-Testspielniederlage gegen Ita- des Ausmaß an; in Griechenland wird Angela lien eine allgemeine Niedergeschlagenheit in Merkel gar mit Hitler verglichen. Wir können Deutschland; drei Monate später begann das das nicht verstehen – niemand in Deutschland „Sommermärchen“, und auch die Kanzlerin denkt an Krieg, Aggression oder auch nur an entdeckte ihre Liebe zum Fußball. Als sie Herrschaft über Europa – wir denken an Bra- auf der Ehrentribüne vor Freude in die Hän- silien, wir wollen das Spanien- und Italien- de klatschte, schien alles vergessen. In einem Trauma überwinden (jene Mannschaften, an politischen Klima immer schlechter werden- denen die deutsche Fußball-Nationalmann- der Luft bersten die Fußballarenen an jedem schaft zuletzt immer scheiterte). Wochenende vor begeisterten Zuschauern. Es wird richtig schöner Fußball gespielt, die Deutsche wollen schon lange, dass nicht Nationalmannschaft zaubert inzwischen wie Deutschland gefürchtet wird, sondern die Brasilien und kombiniert wie Holland, aus deutsche Nationalmannschaft. Seitdem im- dem Nachwuchs kommen reihenweise neue mer mehr Spieler nicht-deutscher Herkunft Talente. War Fußball nicht immer das Trost- aufgespürt, aktiv gefördert und in „unsere“ pflaster auf der Seele der Nation, jedenfalls Mannschaft aufgenommen worden sind, ist seit dem Gewinn der Fußball-WM 1954? Das der deutsche Fußball deutlich größer als das ist die heutige Sicht – allerdings stimmt sie deutsche Volk. Von dem Wunsch nach fuß- nicht ganz. Der Fußball hatte einen langen ballerischer Größe werden alle geheimen in- Weg zurückzulegen, bis er zu einem Eckstein neren Zäune gegenüber eingewanderten Tür- wurde, in den wichtige Daten der National- ken, Polen, Deutschen mit afrikanischen oder geschichte eingelassen sind. spanischen Vätern weggekickt. Im deutschen Fußball hat man nachgeahmt, was die Hol- länder (mit Ajax Amsterdam) in den 1980er 1954 als Ende und Anfang und das französische Sportsystem in den 1990er Jahren mit Erfolg vorgemacht haben: Das „Wunder von Bern“ führte das Bild ei- die Integration ihrer fußballerisch begabten nes gewandelten deutschen Staats vor Augen, Einwandererkinder. der Altes und Neues miteinander verschmol- zen und selbst zugeschriebene nationale Ei- Wird im Fußball geheilt, was sonst in der genschaften, die durch die Nazizeit kompro- Bundesrepublik als problematisch, ja als ge- mittiert waren, in die neuen Tugenden des fährlich angesehen wird? Auf den ersten Blick Wiederaufbaus umgeformt hatte. Im Berner sieht dies fragwürdig aus. Oft genug erschei- Endspiel kamen die Sporttradition des „Drit- nen Fußballarenen wie große Kessel, in denen ten Reichs“ und dessen Männlichkeitsideale das völkische Gift brodelt; Ausländerfeind- zu einem finalen Höhepunkt, jetzt aber nicht lichkeit und Rassismus scheinen zum Fußball mehr als Merkmale von Soldaten, sondern als zu gehören. Immer aber richtet sich diese Ten- höchst erfolgreiche Eigenschaften deutscher denz gegen Spieler der gegnerischen Mann- Arbeiter und Angestellter, die den Aufbau schaft – im eigenen Team werden sie als „Leis- eines antimilitaristischen Landes repräsen- tungsträger“ ausgesprochen gern akzeptiert, tierten. Im Mythos von 1954 ist der Held die und dies sogar in Regionen, die in dieser Hin- Mannschaft. Sie war eine Gemeinschaft, die sicht als schwierig gelten (Energie Cottbus das provinzielle Deutschland verkörperte und war 2001 der erste Bundesligaverein, der mit sich unter ihrem „Chef“, dem Bundestrainer elf Ausländern in der Startformation auflief). , aufopferte. Die Heldenfigur Allen bösen Auguren zum Trotz ist die Inte- dieser Mannschaft beeinflusst bis heute die gration – jedenfalls im Spitzenfußball – bisher Selbst- und Fremdwahrnehmung der Leistun- gelungen und hat das Niveau des deutschen gen aller deutschen Nationalteams. Nationalsports beträchtlich angehoben. Ihre Tugenden und ihre Beschreibung Seit der WM 2006 im eigenen Land hat („Opfer“, „Helden“, „Kampf“) waren noch sich Fußball als Stimmungsaufheller etabliert aus alten Zeiten vertraut. Es war das Alte, und ein Wir-Gefühl ermöglicht, das selbst aber auch schon etwas Neues: An der Stelle kritische Intellektuelle für einen akzepta- der alten Anführer sah man jetzt die niedri- blen „Patriotismus“ halten. Noch kurz vor gen Ränge, den „kleinen Mann“ in der Rolle Beginn der WM beobachtete „Der Spiegel“ des Helden. Bis dahin hatte es keine symbo-

APuZ 27–28/2013 9 lische Repräsentation jener Kräfte gegeben, chen sollte. Einige Clubs waren sogleich in die den Wiederaufbau zustande brachten; an- der Lage, ihre traditionelle Organisation als ders als in Frankreich gab es in Deutschland Sportverein in Unternehmensstrukturen zu keine Romantik des Volkes. Mit dem Gewinn überführen. Es waren zunächst die bürger- der Weltmeisterschaft wurde eine Bühne ge- lichen Vereine wie der 1. FC Köln, der ers- schaffen, auf der die Kraft und die Leistung te Bundesliga-Meister, und seine Nachfolger der „kleinen Leute“ pathetisch dargestellt Werder Bremen und Eintracht Braunschweig, wurde, mit höchster Glaubwürdigkeit und die mit Mannschaften ohne Starallüren den breiter Wirkung. Jeder in Deutschland be- modernsten Fußball in Deutschland spielten. griff, dass der Erfolg dieser Fußballmann- Diese Vereine hatten am besten begriffen, schaft die durch die Niederlage und deutsche dass das Prinzip des professionellen Fußballs Kriegsschuld erlittenen und selbst zugefüg- die Transformation eines von der Erinne- ten Verletzungen symbolisch linderte. In die- rung produzierten Werts in einen ökonomi- ser Perspektive erhält der Weltmeistertitel schen ist. Daher ist es auch geschäftlich nicht von 1954 einen anderen Sinn als jenen, den unvernünftig, wenn vom Deutschen Fuß- man ihm gewöhnlich zuschreibt: Er ist das ball-Bund (DFB) ständig die alten Werte be- Ende des Krieges – insofern als die Verlierer schworen werden; dies ist Teil des Spiels. Es in ihrer symbolischen Repräsentation wieder ist allerdings falsch, zu meinen, traditionelle ein Gesicht bekamen. Werte und moderne Geldwirtschaft könnten unabhängig nebeneinander koexistieren. Da- Mit dem unerwarteten Titelgewinn wur- durch, dass die Fähigkeiten der Spieler einen de den Deutschen etwas gegeben, worauf sie Preis haben, wird nicht notwendig der sport- wieder stolz sein konnten. In den Augen der liche Wert des Spiels zerstört, sondern im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegenteil stimuliert das zirkulierende Kapi- Eliten zählte der WM-Sieg jedoch wenig – ih- tal sowohl die Athleten als auch die Erinne- nen galt das Rasenspiel eher als eine schmud- rung der Liebhaber und treibt diese bei stei- delige Angelegenheit. Darin lag aber zugleich genden Preisen auf Hochtouren. Wertvoll im die Chance, dass die Nationalmannschaft zu- ökonomischen Sinne ist daran das Außerge- erst für die unteren sozialen Schichten zur wöhnliche, das Große, das man im Fußball nationalen Identitätsbildung beitragen konn- immer wieder zu sehen wünscht. te. Im Gedächtnis vieler Deutscher blieb so- mit der Eindruck verankert, dass Deutsch- Eine Gesellschaft wie die deutsche will in land mit einem Sieg im Fußball die Achtung ihrem Lieblingsspiel die Spielweisen, die ihr der Welt gewinnen könne. vertraut sind, wiedererkennen. Sie will die Vorstellungen, die sie sich von ihren Tugen- den macht, auf dem Rasen gegen die interna- Gesellschaftliche und tionale Konkurrenz aufgeführt sehen. Von fußballerische Modernisierungen einer deutschen Nationalmannschaft wer- den Disziplin, Fleiß, mannschaftsdienliches Ein Spiel ist nur dann fähig, ein Land zu re- Spiel, „männliche“ Härte und Kampf erwar- präsentieren, wenn es von allen sozialen tet – sowie der Wille, nie aufzugeben. An der Schichten akzeptiert wird. Wenn die domi- Beharrlichkeit dieser Zuschreibungen ist zu nierenden Schichten es nicht annehmen, gilt erkennen, dass sie nicht beliebig sind, son- es als eine mehr oder weniger primitive Kör- dern eine Fundierung in der Wahrnehmung perpraxis. Zum „offiziellen“ Kulturgut wird des eigenen Handelns haben. Ein Erfolg im es erst durch die Akzeptanz der Eliten. Fußball wird als Beweis dafür angesehen, dass die nationale Mythologie der „deutschen Wesentliche Schritte in diese Richtung fie- Mannschaft“ lebt und den aktuellen Zustand len in die allgemeine Aufbruchszeit der so- der Nation trifft. Dieses Interesse, in dem zialliberalen Koalition unter Willy Brandt Handlungsstile, Werte, Mythen und Gefüh- ab 1969, als junge, außerordentlich erfolg- le zusammenfließen, bildet die engste Verbin- reiche Mannschaften auf den Plan traten. dung zwischen Fußball und Politik. Die grundlegende Modernisierung hatte be- reits 1963 mit der Gründung der Bundes­ Kurz nach der Einführung der Bundes- liga begonnen, welche den bundesdeutschen liga trat in Deutschland eine Verjüngung in Fußball international wettbewerbsfähig ma- allen wichtigen politischen Funktionen ein:

10 APuZ 27–28/2013 zuerst durch die Versetzung des alten Perso- ten zu gehören. Ein solches Selbstbewusst- nals in den Ruhestand, dann 1966 mit dem sein der jungen Generation hatte es vorher Eintritt der Sozialdemokraten in die poli- nicht gegeben. Das neue Spiel- und Selbstver- tische Führung des Landes (durch Bildung ständnis begann den gesamten Bundesliga- der ersten Großen Koalition). Weniger sicht- Fußball zu verändern – er wurde ästhetisch. bar, aber nicht minder wirkungsvoll war die Verjüngung des Lehrkörpers an Schulen, Der Gladbacher Trainer Hennes Weißwei- Universitäten und in den Medien. Wichti- ler hatte seine Mannschaft aus dem Nach- ge Häuser der Kultur, insbesondere Theater wuchs des Vereins gebildet; er lehrte sie eine und Kunsthallen, kamen in die Hände jun- Mischung aus Kreativität, Mannschaftsspiel ger „Macher“. Mit den angloamerikanischen und Disziplin, die insbesondere vom Mittel- Einflüssen wurden diePop Art und das Hap- feld-Regisseur Günter Netzer, unterstützt pening nach Deutschland geholt; nach fran- vom „Laufwunder“ Herbert Wimmer, in ein zösischem Vorbild entstand der Autorenfilm. mitreißendes Spiel umgesetzt wurde. Bay- Innovation und Traditionsbruch waren die erns Spielanlage war anders: Die Mannschaft Mittel, um an die Spitze der Kultur zu gelan- war stärker in der Abwehr; der Libero Franz gen – zur Avantgarde zu gehören, wurde ein Beckenbauer, von dem man öffentlich sagen erstrebenswertes kulturelles Ziel. durfte, dass er genial spielte, war von Mit- spielern umgeben, die es ihm erlaubten, sei- Durch die Suche nach Erneuerung wurde ne Stärken voll zur Geltung zu bringen. Und auch das Ansehen des Fußballs deutlich geho- mit Gerd Müller trat das für Deutschland ben. Während die „hohe Kunst“ ihr Prestige neue Phänomen auf, dass es einen Mittelstür- durch feiertägliche Leibferne gewonnen hatte, mer gab, der immer, wenn es darauf ankam, suchten viele der neuen Strömungen die Nähe ein Tor schoss. Die Mannschaft der Bayern zur Arbeitswelt, zum Alltag, zu lebensnahen war ideal geeignet, die neuen Entwicklun- Situationen. Den Kern des Neuen kann man gen in der Bundesrepublik zu repräsentieren: in der Rückschau in der Suche nach Erfahrung Sie spielte erfolgsbezogen und inspiriert, zu- und Körperlichkeit erkennen. Fußball avan- gleich höchst verlässlich. cierte so zu einem Objekt von Kunst. Den Anfang machte 1968 der Schriftsteller Peter Die erste Glanzzeit der Bundesliga endete Handke mit einem Gedicht, das aus nichts an- mit dem Gewinn des zweiten Weltmeister- derem bestand als der Mannschaftsaufstellung titels 1974. In den Jahren danach wurde all- des 1. FC Nürnberg, die auf einer Seite der eli- mählich erkennbar, dass viele erfolgreiche tären „Edition Suhrkamp“ erschien, grafisch Fußballer die Mentalität von erfolgreichen angeordnet wie im Sportmagazin „Kicker“ Geschäftsleuten übernahmen. Hier zeigte und dadurch aussah wie ein Stück Konkreter sich, welcher Preis für die Verbürgerlichung Lyrik. Fußball wurde zu einem Lieblingsob- des Fußballs zu entrichten war: Einsatz und jekt junger Künstler, Intellektueller und Wis- möglicher Gewinn wurden stärker gegenei- senschaftler. Gemeinschaft wurde nicht mehr nander abgewogen, die Sicherung des eige- mit Gemeinheit assoziiert, und auf Seiten der nen Vermögens erhielt größeren Stellenwert. Fußballer gab es mehrere, die gern den Künst- Diese Tendenz wurde zuerst sichtbar bei den ler gaben (Paul Breitner vor Mao-Poster, Gün- Bayern: Der Verzicht auf Risiko und das ter Netzer in der Pose eines Dandys) oder die endgültige Ablegen jugendlicher Attitüden Nähe der etablierten Kunst suchten (Franz brachten dem Verein zwar größte Erfolge – er Beckenbauer in Bayreuth). gewann ab 1974 dreimal in Folge den Europa- pokal der Landesmeister –, aber die Art und In diese Phase der deutschen Runderneue- Weise, wie diese errungen wurden, ließen die rung fiel die erste große Zeit der Bundes­liga; Begeisterung früherer Tage vermissen. sie wurde geprägt durch Bayern München und Borussia Mönchengladbach, die kurz zuvor in die höchste Spielklasse aufgestiegen Krise, schwierige Modernisierung waren. Beide Mannschaften boten zweifellos und neue Impulse den intelligentesten Fußball, der bis dahin in Deutschland gezeigt worden war. Sie spielten Gegen Ende der 1970er Jahre versuchte die ihren herausfordernden Fußball zudem in der Bundesliga auf die defensiver gewordenen Überzeugung, auch international zu den Bes- Spielstile mit neuen Attraktionen zu reagie-

APuZ 27–28/2013 11 ren. Der damalige Präsident des Hamburger Vernachlässigung der Nachwuchsarbeit. An- SV, der Marketing-Fachmann Peter Krohn, ders als beispielsweise in der englischen Liga gab die Richtung vor: die Transformation des wurden weder von den Bundes- noch von den Fußballs in eine Show. Trotz der grotesken Vereinstrainern wissenschaftliche Erkennt- Züge, die seine Ideen bisweilen trugen, hat- nisse aus der Trainings- und Bewegungsfor- te er etwas Wichtiges erkannt: dass es auf ei- schung aufgenommen. Es gab Bestrebungen, nen Professionalisierungsschub ankam, auf die Kinder- und Jugendsportschulen, das Er- die systematische Bearbeitung der Öffent- folgsmodell der untergegangenen DDR, fort- lichkeit, die Veränderung der Präsentation zuführen, was aber nicht effizient gelang. des Sports, die Erzeugung eines Unterhal- Kinder aus Migrantenfamilien spielten zwar tungswerts über das Fußballerische hinaus. guten Fußball, wurden aber weder von Verei- Der HSV wurde zur stärksten Mannschaft nen noch vom DFB ausreichend umworben. der Liga und gewann 1983 den Europacup Die gängige Strategie der Bundesligaverei- der Landesmeister. Auch andere Vereine hat- ne war es, „fertige“ Spieler aus dem Ausland ten es verstanden, Wirtschaftlichkeit, Unter- einzukaufen; da sie aber an ökonomischer haltung und fußballerisches Können mitei- Kraft mit den Clubs aus England, Spanien nander zu verbinden; die zweite erfolgreiche und Italien nicht mithalten konnten, gehör- Mannschaft dieser Zeit war wiederum Bayern ten diese nicht zu den Besten. Die wichtigs- München. Ähnlich wie in Hamburg schufen ten Konkurrenten im europäischen Fußball die Münchner eine moderne Management- hatten den grundlegenden Wandel, dem die struktur und einen neuen, hochtechnischen europäischen Gesellschaften seit den 1970er und rationalen Fußballstil. Im Unterschied Jahren unterworfen waren, mitvollzogen: Sie zum HSV, der mit ausländischen Trainern hatten die nationalistischen Leitplanken aus und Spielern arbeitete, setzten die Bayern je- dem Feld des Sports herausgerissen und sich doch auf deutsche Spitzenfußballer, die sie unter den Gesichtspunkten sportlicher Erfor- aus dem Ausland zurückholten; im Zeitraum dernisse neu organisiert. Doch so, wie Men- von 1980 bis 1990 errang der FCB siebenmal schen fremder Herkunft an der deutschen die deutsche Meisterschaft. Ausländerbehörde scheiterten, wurden auch im Sport Migranten vielfach auf der Bank sit- Auch ab 1990 verliefen die Spielzeiten nach zen gelassen. einem wenig variablen Schema: Favorit wa- ren die Bayern, und der jeweilige Herausfor- Entscheidende Impulse für die Erneuerung derer versuchte, ihnen den sicher geglaub- kamen von dem im Vorfeld der WM 2006 ten Titel abzujagen – manchmal mit Erfolg, engagierten Trainergespann Jürgen Klins- wie vereinzelte Meistertitel von Werder Bre- mann/Joachim Löw. Von ihnen wurden men, dem 1. FC Kaiserslautern oder dem VfB überkommene Verbandsstrukturen beseitigt Stuttgart zeigen. Bayerns erfolgreichster Ge- und neue strategische Positionen geschaffen, genspieler war Borussia Dortmund, das 1995 die Trainerausbildung wurde verbessert, der und 1996 Meister wurde; 1997 gelang den Spielerkader erheblich verjüngt. Eine grund- Westfalen gar der Gewinn der Champions sätzliche Veränderung wurde in der Ausbil- League. Unter dem Trainer Ottmar Hitzfeld, dung des Nachwuchses und der Jugendtrai- den die Bayern von Dortmund abgeworben ner vorgenommen. Als wesentliche Gestalter hatten, konnten 2001 auch die Bayern diesen der neuen Spielweise traten nun neue, jun- Titel gewinnen. Langfristig erwiesen sich der ge Trainer mit deutlich besseren taktischen Markenname der Bayern, der geschickt kom- und trainingstechnischen Kenntnissen als merzialisiert wurde, und ihre solide Finanz- ihre Vorgänger auf, die Mannschaften kleine- politik als außerordentlich einträglich. rer Vereine zu erstaunlichen Erfolgen in der Bundesliga führten. Unter dem Einfluss des Trotz einiger Erfolge verlor der deutsche Bundestrainers Löw gestaltete sich das Spiel Fußball gegen Ende der 1990er Jahre sei- der Nationalelf feiner, geschickter und intel- ne Spitzenstellung in Europa. Ein wichtiger ligenter; es war nicht mehr ängstlich auf Si- Grund für diesen Bedeutungsverlust war der cherheit bedacht wie früher, sondern wur- im Vergleich zu ausländischen Ligen gerin- de „nach vorn“ ausgerichtet. Die gestiegene gere Grad der Professionalisierung der Ver- Professionalität der Trainer und Spieler führ- bands- und Vereinsführungen, die Rück- te insgesamt zu einem höheren Arbeitsethos. ständigkeit der Trainingsmethoden und die Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass

12 APuZ 27–28/2013 auch die Vereinsführungen an Qualität ge- Fußball und der Nationalmannschaft. Fuß- wonnen haben und die für einen professio- ball ist inzwischen zu einem Spektakel der nellen Fußball notwendigen Innovationen Politik geworden – und die Politiker zu ei- unterstützen. nem Teil des Fußballspektakels: Als etwa die enthusiastische Kanzlerin im Oktober 2010 Nach etlichen mageren Jahren, die dem die DFB-Mannschaft nach einem siegreichen Champions-League-Gewinn 1997 folgten, Qualifikationsspiel in der Umkleidekabine stieg auch der Stern Borussia Dortmunds besuchte, waren ihr die Titelseiten des kom- wieder auf: Grund dafür war der Einsatz des menden Tages gewiss. Bei staatstragenden talentierten eigenen Nachwuchses, die erfolg- Ereignissen dürfen die Spitzen der Gesell- reiche Integration ausländischer Spieler und schaft nicht abseits stehen – in der Berliner das innovative Spielverständnis des Trainers Republik wurden sie zu Anhängern der Na- Jürgen Klopp. Nach zwei gewonnenen deut- tionalmannschaft. schen Meisterschaften (2011, 2012) hat es der Verein 2013 bis ins Champions-League-Fina- Zweitens schuf der Fußball die Möglich- le geschafft. Im ersten „deutschen Finale“ in keit, Sportbegeisterung und Geschäfte an ei- der Geschichte des Wettbewerbs unterlagen nem Ort miteinander zu verbinden. Der so- sie jedoch Bayern München. Die Bayern hat- genannten Elite wird es heute leicht gemacht, ten das Endspiel bereits zum dritten Mal in Fußballspielen beizuwohnen. In die neu- den vergangenen vier Jahren erreicht, nach- en Arenen wurden VIP-Lounges eingebaut, dem sie im Halbfinale zuvor den FC Barcelo- mit eigenen Zugängen, verglasten Innenräu- na, der bis dahin als das unerreichte Vorbild men, Catering, Clubatmosphäre, Bildschir- für ästhetischen und erfolgreichen Fußball men. Wie bei einem First-Class-Flug nimmt galt, mit zwei eklatanten Siegen aus dem man an demselben Ereignis teil wie das Volk, Rennen geworfen hatten. Ob das „deutsche ohne zwischen ihm sitzen zu müssen. Von Finale“ tatsächlich das erste Zeichen für eine den Hardcore-Fans, den Ultras, wurde die dauerhafte Spitzenstellung der Bundesliga in VIP-Etage instinktsicher zum Gegner er- Europa ist, bleibt jedoch abzuwarten. klärt, weil dort der Fußball verraten werde. Ihnen erscheint der kontinuierliche Umbau der Fußballstadien in Orte des Entertain- Am Gipfel – und in seinem Schatten ments als der falsche Weg, der sich vom „ech- ten“ Fußball entfernt. Noch in den 1980er Jahren wurde Fußball von den gesellschaftlichen Eliten nicht endgültig Drittens – und das ist auch für die ersten akzeptiert. Für die feine Gesellschaft, die ihre beiden Entwicklungen ausschlaggebend – sports abseits der Massen in exklusiven Clubs spielt die immer stärker gewordene Präsenz pflegte, diente der Stadionbesuch nur zur des Fußballs im Fernsehen und die damit ver- Kontaktpflege mit dem Volk. Der Fußball war bundene rasante ökonomische Entwicklung noch nicht in den Rang eines deutschen Kul- der Bundesliga eine wichtige Rolle. Mit der turguts aufgestiegen. Die Erfolge der deut- Einführung des Privatfernsehens kam es zu schen Spitzenteams in der „Königsklasse“ des regelrechten Überbietungskämpfen um die europäischen Sports, die von Wirtschaftsfüh- Übertragungsrechte. Als erster Privatsender rern und Spitzenpolitikern umworben wird, kaufte RTL für die Saison 1988/89 die Sende- zeigen jedoch an, dass es der Fußball inzwi- rechte für 40 Millionen DM – und damit für schen geschafft hat, die Anerkennung der mehr als das Doppelte des Betrags, den die öf- höchsten Gruppen der deutschen Gesellschaft fentlich-rechtlichen Sender zuvor bezahlt hat- zu gewinnen. Ermöglicht wurde dieser Auf- ten. Zwei Jahre später war die Summe schon stieg durch drei Entwicklungen: wieder verdoppelt worden. Für die Spielzeit 2000/01 bezahlte Sat.1 bereits 355 Millionen Erstens gibt es inzwischen ein gewachse- Euro, für die kommende Saison bringen die nes und dauerhaftes Interesse der politischen Übertragungsrechte gar 628 Millionen Euro Spitzen. Schon in den 1980er Jahren hatte die ein. Fußball ist zu einem umkämpften „Roh- Politik das Fußballstadion als Ort der Nähe stoff“ für die Bildmedien geworden. zum Wähler entdeckt. Spätestens seit Ger- hard Schröder und Angela Merkel suchen Im Vergleich zu diesem ökonomischen auch die Bundeskanzler aktiv die Nähe zum Spiel scheint die Mäkelei der Fans, insbeson-

APuZ 27–28/2013 13 dere der Ultras, vorgestrig zu sein. Mit die- Dietrich Schulze-Marmeling ser Aburteilung macht man es sich jedoch zu einfach: Große Teile des Publikums su- chen in der Arena (selbst bei TV-Übertra- gungen) den emotionalen „Kick“. Und gro- Wegmarken ße Gefühle können nur entstehen, wenn sich große Zuschauergruppen „total“ für „ihre“ Mannschaft engagieren – mit einem körper- aus 50 Jahren lichen Einsatz, der oft an die Grenze geht. Auf der anderen Seite dieses Limits beginnt das Ausleben von Gewalt, das wiederum im Bundesliga Stadion nicht toleriert werden kann. In die- sem Dilemma befinden sich einige Vereine m 28. Juli 1962, um 17:45 Uhr war es der Bundesliga, die den Gewalteinsatz ihrer Aendlich soweit: Im Goldsaal der Dort- Fans nicht mehr zu steuern vermögen. Hinzu munder Westfalenhalle votieren die Delegier- kommt, dass in diesem Umfeld rechtsradikale ten des außerordentli- Gruppen nach Anhängern fischen, die ihnen chen Bundestags des Dietrich Schulze-Marmeling in der Begeisterung des Spiels leicht ins Netz Deutschen Fußball- Geb. 1956; Autor und Lek- gehen können. Bundes (DFB) mit tor beim Verlag Die Werk- deutlicher Mehrheit statt, Lotze­straße 22a, Der Fußball hat sich in den vergangenen für die Einführung ei- 37083 Götting en. Jahrzehnten von Grund auf verändert; er ist ner „zentralen Spiel- d.schulze-marmeling@ inzwischen vom Kommerz durchdrungen. klasse mit Lizenzspie- werkstatt-verlag.de Der Qualität des Spielgeschehens ist dies gut lern unter Leitung des bekommen, der Persönlichkeit mancher Spie- DFB“, genannt „Bundesliga“. Im „Hammel- ler eher nicht. Die größten Einbußen aber sprung“ stimmten 103 Delegierte mit „Ja“, 26 sind bei der Berichterstattung im Fernse- mit „Nein“. hen zu beklagen, die unter dem Einfluss der privaten Sender ihr journalistisches Niveau Deutschland war ein Nachzügler. Im deutlich gesenkt hat. Mit der relativ distan- „Fußball-Mutterland“ England wurde be- zierten Kommentierung der Fußballereig- reits seit 1885 offiziell professionell und seit nisse ist es vorbei; sie wurde als langweilig 1888 in einer zentralen Liga gespielt. Auf und altbacken empfunden. An ihre Stelle trat dem Kontinent war 1924 Österreich das ers- eine Inszenierung aus der Fanperspektive, te Land gewesen, das eine Profiliga einrichte- ohne kritische Distanz. Dass die kommer- te – gefolgt von der Tschechoslowakei (1925), ziellen Sender aus dem Sport eine Unterhal- Ungarn (1926), Italien (1926), Spanien (1928), tungsware gemacht haben, ist noch verständ- Frankreich (1932) und Portugal (1934). Die lich – warum aber die gebührenfinanzierten DFB-Führung hatte sich jahrzehntelang ge- Programme ihnen dabei gefolgt sind, bleibt gen eine Nationalliga gewehrt, auch weil unbegreiflich. diese ohne eine Legalisierung des Profifuß- balls nicht zu realisieren war. Nationalliga So wirken sich die ungeheuren Geldsum- und Profifußball waren so zwei Seiten dersel- men, die heute in den Fußball fließen, unter- ben Medaille. Außerdem bedeute eine Nati- schiedlich aus: als Verbesserung des Spiels, onalliga eine Kräfteverschiebung zugunsten als Verbürgerlichung des Publikums mit der großen Vereine. Akzeptanzproblemen bei den eingefleisch- ten Fans und als Qualitätsverlust der Sport- darstellung im Fernsehen. Gesellschaftlich Vom Vertragsspieler zum Lizenzspieler schließlich hat der Fußball den Weg von „un- ten“ nach „oben“ geschafft. Er hat eine Be- Die Entscheidung von Dortmund besaß deutung und Qualität erhalten, auf die man Kompromisscharakter. Denn gestimmt wur- in Deutschland stolz ist – und wofür es sogar de für die Einführung des Lizenzspielers, der aus dem Ausland Beifall gibt. noch kein Vollprofi war. „Ein Mittelding, wenn ich so sagen darf, zwischen dem Ver- tragsspieler und dem Lizenzspieler“, wie der neue DFB-Präsident Hermann Gösmann er-

14 APuZ 27–28/2013 läuterte. ❙1 Der Antrag, „dass vom 1. August Spieler mit diesen Beträgen zufrieden sind? 1963 die zentrale Spielklasse mit Berufs- Die Vereine werden erneut unter Druck ge- spielern eingeführt wird“, wurde mit 80 zu setzt, und sie müssen dann eben wiederum 49 Stimmen abgelehnt. Mit 91 zu 37 Stim- mehr geben, als gesetzlich zulässig ist.“ ❙5 men angenommen wurde hingegen ein An- trag, der sich einzig dadurch unterschied, Der Journalist Helmut Sohre resümier- dass nicht mehr von „Berufsspielern“, son- te drei Jahre später: „Die Bundesliga ist we- dern von „Lizenzspielern“ die Rede war. 91 der eine Zufallsschöpfung noch eine willkür- Stimmen waren nur fünf mehr als für die er- liche Maßnahme. Sie ist ein Kind ihrer Zeit, forderliche Zweidrittelmehrheit notwendig. logisch gewachsen. Doch das damit verbun- So öffnete das erste Bundesliga- und Lizenz- dene Lizenzspielertum ist in unserer Epoche spielerstatut zwar das Tor zum Berufsfuß- der Halbheiten – auch eine Halbheit. Weder ball, bemühte sich aber zugleich auch um des- Fisch noch Fleisch! Es entstand, weil man sen Einhegung. aus vielerlei Gründen – nicht zuletzt auch aus steuerlichen – das offene Bekenntnis zum Der Vollprofi ließ in Deutschland noch im- Professionalismus scheute.“ ❙6 mer auf sich warten. Lizenzspieler mussten zwar nicht mehr wie vorher die Vertragsspie- ler in den alten Oberligen neben dem Fußball 16 aus 46 einen „ordentlichen“ Beruf ausüben, konn- ten dies aber, „soweit dadurch ihre vertrag- Die Bewerber für die neue Liga mussten eine lichen Verpflichtungen gegenüber ihrem Ver- Reihe von Bedingungen erfüllen. Ihre Stadien ein nicht beeinträchtigt werden“. ❙2 Das vom mussten mindestens 30 000 Zuschauern Platz Verein gezahlte monatliche Gehalt musste bieten und über eine Flutlichtanlage verfü- zwischen 250 und 500 DM liegen und durfte gen. Außerdem waren wirtschaftlich soli- 1200 DM nicht überschreiten. In Ausnahme- de Verhältnisse vorzuzeigen. Laut Experten fällen, die der Zustimmung des DFB bedurf- mussten die Clubs mindestens 700 000 DM ten, waren auch 2500 DM gestattet. ❙3 In Eng- einnehmen, um zu überleben. land hatte die Spielergewerkschaft 1961 die Abschaffung der Gehaltsgrenzen durchge- Zum Streitfall wurden die Auswahlkriteri- setzt. Auch für Ablösezahlungen gab es eine en. Dies begann mit der Zahl der Bundesli- Obergrenze, die bei 50 000 DM lag. gisten. Der DFB entschied sich für 16, aber viele Vereine und das Fußball-Magazin „Ki- Das Lizenzspielerstatut und die Diszipli- cker“ wollten eine Liga mit 18 oder sogar 20 narordnung von 1963 kamen noch nicht ohne Vereinen sehen. Brisant war vor allem die Fußball-Pädagogik aus; so wurde unter ande- Verteilung der begehrten Plätze. Der DFB rem festgelegt, dass Spieler „einen guten Leu- reservierte für West- und Süddeutschland je- mund haben“ müssten und „insbesondere weils fünf, Norddeutschland drei, den Süd- sportlich einwandfreier Lebenswandel, vol- westen zwei und Berlin einen. Bis zum Mel- le Einsatzbereitschaft und Ritterlichkeit ge- deschluss am 31. Dezember 1962 bewarben genüber dem Gegner“ zu ihren Pflichten ge- sich 46 der 74 Oberligisten für die neue Liga. hörten. ❙4 Noch in Dortmund zeigte sich Paul Die ersten neun Auserwählten waren der Flierl, der Vertreter Süddeutschlands, ange- Hamburger SV, Werder Bremen, 1. FC Köln, sichts solcher hehren Regelungen skeptisch Borussia Dortmund, Schalke 04, Eintracht und warnte: „Ja, glauben Sie denn, dass die Frankfurt, 1. FC Nürnberg, Hertha BSC Berlin und 1. FC Saarbrücken. Die restlichen Sieben wurden erst im Mai 1963 benannt. ❙1 Zit. nach: Udo Muras, Geboren im Goldsaal, in: DFB-Journal, (2012) 2, S. 62–66, hier: S. 65. Karlsruher SC, VfB Stuttgart und 1. FC Kai- ❙2 Zit. nach: Mirjam Bach, „Einsatz und Ritterlich- serslautern waren keine Überraschung, die keit“ – Das Bundesligastatut 1963, 13. 7. 2011, www. Berücksichtigung von 1860 München, Preu- ndr.de/sport/sportmomente/lizenz103.html (7. 6. ​2013). ßen Münster, Meidericher SV und Eintracht 3 ❙ Vgl. Hardy Grüne, 100 Jahre Deutsche Meister- Braunschweig indes höchst umstritten, zu- schaft. Die Geschichte des Fußballs in Deutschland, Göttingen 2003; Dietrich Schulze-Marmeling/Gerd Kolbe, Ein Jahrhundert Borussia Dortmund, Göttin- ❙5 Zit. nach: U. Muras (Anm. 1). gen 2009. ❙6 Helmut Sohre, Bundesliga intim, München 1966, ❙4 Zit. nach: M. Bach (Anm. 2). S. 6.

APuZ 27–28/2013 15 mal Düsseldorf und Hannover, Großstädte len“ für den DFB, in dem die Gehaltsober- und Landeshauptstädte mit großen Stadien, grenze nicht überschritten wurde, und einen unberücksichtigt blieben. weiteren, der das tatsächliche Gehalt fest- schrieb. Beim Transfer des ehemaligen Nati- In München hatte der TSV 1860 den Vor- onaltorwarts Wolfgang Fahrian an die Spree zug gegenüber dem FC Bayern erhalten, weil konnte den Berlinern ein Verstoß gegen das die Auswahlkommission kurzfristig und Zahlungslimit nachgewiesen werden: Der klammheimlich ihre Kriterien verändert hat- Frankfurter Spielervermittler Karl Alt hatte te. So wurde das Abschneiden in der letzten eine Provision von 12 000 Mark für die Ver- Oberligasaison 1962/63 zum entscheidenden mittlung an Hertha in Rechnung gestellt. Faktor erhoben. Die „Löwen“ waren Süd- Da als Managergebühren zehn Prozent üb- meister geworden, der Lokalrivale nur Drit- lich waren, mutmaßte „Der Spiegel“, Fahrian ter. Der DFB monierte außerdem, dass dem habe die Berliner 120 000 Mark gekostet. Da- FC Bayern die „sportliche Vergangenheit“ mit hatte die Bundesliga ihren ersten Skan- fehlte, wobei der Verband „vergaß“, dass die dal, und am Ende der Saison 1964/65 wurde „Roten“ der einzige Münchener Club wa- Hertha BSC zum Zwangsabstieg in die Regi- ren, der schon Mal Deutscher Meister ge- onalliga verurteilt. worden war (1932). Im Nachhinein erwies sich die Nichtberücksichtigung als Glücks- Berlin war nun nicht mehr in der höchsten fall: Wäre der FC Bayern zur neuen Elite- Spielklasse vertreten und im Fußball von der klasse zugelassen worden, hätte er sich ange- Bundesrepublik abgekoppelt. Tennis Borus- sichts leerer Kassen tief verschulden müssen sia Berlin war als Meister der Berliner Regi- und wäre anschließend möglicherweise nicht onalliga in der Aufstiegsrunde zur Bundes- zum erfolgreichsten deutschen Fußballverein liga gescheitert. In dieser Situation drängte ­geworden. ❙7 unter anderem der Axel Springer Verlag da- rauf, einen Berliner Verein zu kooptieren, um so die Einbindung Berlins in die Bundesre- Erste Skandale publik auch im Fußball zu unterstreichen. Da Vize­meister Spandauer SV verzichtete, fiel Wie Paul Flierl prognostiziert hatte, wurde die Wahl auf den drittplatzierten SC Tasma- das erste Bundesligastatut schon bald von der nia 1900 Berlin. Die Neuköllner waren auf Realität überholt. In der Saison 1964/65 er- das Abenteuer Bundesliga nicht vorbereitet zählte der Vizepräsident des Hamburger SV, und erwarben in der Saison 1965/66 die trau- Horst Barrelet, dem „Spiegel“, dass ein Nati- rige Berühmtheit des bis heute schlechtesten onalspieler unter 70 000 Mark nicht zu haben Absteigers aller Zeiten. Als Spätfolge des Ab- sei. Und HSV-Schatzmeister Karl Mechlen stiegs musste Tasmania 1973 den Konkurs ergänzte: „Man verspricht sich in die Hand, anmelden und sich auflösen. Der Club wurde keine Spieler abzuwerben und nicht mehr als wenig später als SV Tasmania Neukölln 1973 die erlaubten Handgelder zu zahlen. Doch neu gegründet. ❙9 kaum sind sie aus dem Haus, da rotieren sie, um Spieler schwarz zu angeln.“ ❙8 Im Juli 1965 widmete „Der Spiegel“ dem Finanzgebaren der jungen Liga sogar eine Schalke 04 unterlief die Ablöse-Obergren- Titelstory („Notstand im Fußball“), in dem ze, indem der Club dem Karlsruher SC zu- die Realitätsferne der DFB-Führung ange- sätzlich zum Nationalspieler Günter Her- prangert wurde: „Eigentliche Ursache für mann, den der KSC für 50 000 Mark nicht das deutsche Bundesliga-Chaos sind die un- freigeben wollte, noch einen kaum bekann- realistischen Zahlungsgrenzen des Bundesli- ten Ersatzspieler abkaufte und für beide Spie- ga-Statuts. Sie wurden von Alt-Funktionä- ler zusammen 100 000 Mark überwies. Her- ren festgelegt, die sich der Entwicklung nicht tha BSC Berlin ließ für seine Lizenzspieler angepasst haben. Während sie Idealismus zwei Verträge anfertigen: einen „offiziel- predigten, sahen sich die Vereine geradezu gezwungen, das Zahlungslimit zu durchbre- chen. Zu den vorgeschriebenen Höchstprei- ❙7 Vgl. Dietrich Schulze-Marmeling, Die Bayern. Die Geschichte des Rekordmeisters, Göttingen 20125. ❙8 Schwarz geangelt, in: Der Spiegel, Nr. 18 vom ❙9 Vgl. Hanns Leske, Tasmania Berlin. Der ewige 28. 4. 1965, S. 136. Letzte, Kassel 2011.

16 APuZ 27–28/2013 sen mag sich schon seit Jahren kein namhafter aus. Wer sich an die DFB-Zahlungsgrenzen Spieler mehr verpflichten.“ ❙10 hielt, blieb an der Spielerbörse auf Statisten sitzen.“ ❙12 Der Journalist Ulfert Schröder for- Nach dem Skandal um den Zwangsabstieg derte eine „eigene Organisation und Fußball- von Hertha BSC erhöhte der DFB das im Liga“ für die Profis. „Die totale, nicht auf- Bundesligastatut fixierte Hand- und Treue- zuhaltende Vermarktung des Fußballsports geld von 10 000 auf 15 000 Mark. Das Min- wäre dann abgeschlossen.“ ❙13 destgehalt eines Lizenzspielers wurde von 250 auf 400 Mark angehoben, die Ablöse- 1972 fielen alle Obergrenzen für Gehalts- summen für Lizenzspieler auf 100 000 und zahlungen. Zwei Jahre später wurden Bun- für Vertragsspieler (Regionalliga) auf 75 000 desliga- und Lizenzspielerstatut miteinan- Mark. Der DFB-Kontrollausschuss konn- der vereinigt und auch die Begrenzung bei te sogar noch höhere Summen genehmigen. den Ablösesummen abgeschafft. Ende 1973 Außerdem wurde bei Vertragsabschlüssen wurde auch die Trikotwerbung legalisiert. und -verlängerungen eine einmalige Zahlung In der Saison 1974/75 spielten bereits sechs von bis zu 20 000 Mark gestattet. Verglichen Vereine mit Werbung auf der Brust, in der mit den finanziellen Möglichkeiten, die sich Saison 1979/80 dann alle Erstligisten. Eine deutschen Spitzenfußballern im Ausland bo- Professionalisierung erfuhr auch der Unter- ten, war das immer noch nicht viel. bau. Die fünf Regionalligen wurden zuguns- ten von zwei 2. Bundesligen aufgelöst, wo- durch sich die Zahl der Zweitligisten deutlich Vom Lizenzspieler zum Vollprofi ­verringerte.

Es bedurfte eines weiteren Skandals, um auch Die vom Journalisten Schröder gefor- die letzten Schranken im Berufsfußball zu derte Eigenständigkeit der Profi-Vereine beseitigen. In der Saison 1970/71 wurden im ließ allerdings noch auf sich warten. Erst Kampf gegen den Abstieg eine Reihe von Spie- im Herbst 2000 entließ der DFB die Verei- len „verkauft“. 52 Spieler, zwei Trainer und ne der 1. und 2. Bundesliga aus seiner Kon- sechs Vereinsfunktionäre wurden bestraft, trolle. Damit fand eine Auseinandersetzung Arminia Bielefeld wurde in die Zweitklassig- ein Ende, die bereits Mitte der 1920er be- keit (Regionalliga) verbannt. ❙11 „Der Spiegel“ gonnen hatte, als sich die führenden deut- sah die tieferen Ursachen in den Geburtsfeh- schen Clubs gegen die Gängelung durch die lern der Liga: „In Hurra-Patriotismus be- DFB-Führung verwahrten. Damals war es fangen, verpaßte das Amateur-Fußvolk den um Fragen wie die Entlohnung von Spie- Aufbruch ins 20. Fußball-Jahrhundert. So lern, Begegnungen mit ausländischen Pro- zwängte die Amateur-Mehrheit des DFB- fivereinen sowie die Spielberechtigung für Bundestages die Spitzenclubs in eine recht- ausländische Akteure gegangen. ❙14 Knapp lich und wirtschaftliche fehlkonstruierte 80 Jahre später ging es vornehmlich um Bundesliga. Die Profis wurden eine Vereins- die Vermarktung der Bundesligen und die einrichtung der Amateure; auf die Wirtschaft Verteilung der millionenschweren Fern- übertragen würde die Börse gleichsam eine sehgelder. Am 18. Dezember 2000 wur- Sektion des Sparvereins. (…) Bezahlung für de schließlich die Deutsche Fußball Liga Spitzenspieler ließen sich die Amateure noch (DFL) gegründet, wodurch die Profivereine abringen. Aber ein bißchen Jungfrau soll- der 1. und 2. Liga endlich eine eigenständige ten die Profis doch bleiben: Knauserig setz- Organisation besitzen, die für die Vermark- te die DFB-Mehrheit Grenzen für Prämien und Gehälter fest, statt die Marktregel von ❙12 „Ein Elfmeter kostet 1000 Mark“, in: Der Spiegel, Angebot und Nachfrage zu akzeptieren. (…) Nr. 25 vom 14. 6. 1971, S. 80 f. Am Rande und abseits der unrealistischen ❙13 Ulfert Schröder, Stars für Millionen, Bayreuth DFB-Legalität weitete sich eine graue Zone 1974, S. 61 f. ❙14 Vgl. Rudolf Oswald, „Fußball-Volksgemein- schaft“. Ideologie, Politik und Fanatismus im deut- ❙10 Das ist schrecklich, in: Der Spiegel, Nr. 28 vom schen Fußball 1919–1964, Frank­furt/M.–New York 7. 7. 1965, S. 70–79, hier: S. 73. 2007, S. 92–129; Dietrich Schulze-Marmeling, Der ❙11 Vgl. Ulfert Schröder, Stars für Millionen. Infor- FC Bayern und seine Juden. Aufstieg und Zerschla- mationen, Schlaglichter, Hintergründe, Bayreuth gung einer liberalen Fußballkultur, Göttingen 20132, 1974, S. 36–70, H. Grüne (Anm. 3), S. 360–365. S. 95–111.

APuZ 27–28/2013 17 tung und Organisation des Profifußballs in Avantgarde aus dem Süden Deutschland zuständig ist. 1966 erhielt München den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Sommerspiele Kräfteverschiebungen 1972. Die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees sollte auch die weite- Der Übergang zum Vollprofitum blieb nicht re Entwicklung der Bundesliga beeinflussen. ohne Auswirkungen in Europa. Aber auch Die bayerische Landeshauptstadt war zwar innerhalb Deutschlands verschoben sich die seit 1957 Millionenstadt, besaß aber ein klei- Kräfte. Die Jahre 1933 bis 1963 waren für die neres Stadion als etwa Nürnberg, Hannover großen Clubs aus dem Ruhrgebiet die erfolg- oder Ludwigshafen. Dies änderte sich mit der reichsten gewesen. 15 der 27 Finals um die neuen olympischen Arena, die über 77 000 Deutsche Meisterschaft fanden mit Beteili- Zuschauern Platz bot und dem FC Bayern gung eines Revierclubs statt, elfmal verließen am letzten Spieltag der Saison 1971/72 erst- diese als Sieger den Platz. So auch im letzten mals eine Millioneneinnahme bescherte (im Finale vor der Einführung der Bundesliga. zuvor gemeinsam mit dem TSV 1860 genutz- Die Revierclubs profitierten nicht nur vom ten Stadion an der Grünwalder Straße wa- großen Reservoir an „Straßenfußballern“, ren maximal 350 000 DM zu erzielen). Und sondern auch von der Unterstützung durch die Zuschauer waren in diesen Jahren noch die regionale Industrie (Kohle, Stahl, Bier), die wichtigste Einnahmequelle. Es darf als die ihnen einen „informellen Professionalis- gesichert gelten, dass die legendäre Bayern- mus“ gestattete. Mannschaft um Franz Beckenbauer ohne den Umzug ins Olympiastadion auseinanderge- Nach der Einführung der Bundesliga sollte fallen wäre und es den Rekordmeister Bayern es 32 Spielzeiten beziehungsweise bis zur Sai- München nicht gegeben hätte. son 1994/95 dauern, ehe mit Borussia Dort- mund wieder ein Revierclub die Meisterschale Der Wert des Stadions lag aber nicht nur im in Empfang nehmen durfte. Der erste Bundes- enormen Fassungsvermögen. Das Olympia- ligameister 1. FC Köln stammte zwar auch aus stadion war auch das erste in Deutschland, dem Einzugsbereich der West, aber das moderne VIP-Kapazitäten besaß, was die Domstädter waren ein bürgerlicher Club dem Verein ermöglichte, auch ein betuch- aus einer Dienstleistungsmetropole. Die von teres Publikum und Prominenz aus Wirt- Franz Kremer, einem der Väter der Bundes- schaft, Politik und Kultur anzusprechen. Bei liga, geführten Domstädter waren in diesen Begegnungen in Italien und in Spanien war Jahren der modernste Club Deutschlands, der nicht nur den Bayern-Funktionären, son- auch Bayerns Münchens Boss Wilhelm Neu- dern auch den Spielern aufgefallen, „dass es decker als Vorbild diente. Vizemeister wurde dort neben den üblichen Fans noch eine an- überraschend der Meidericher SV, dessen Be- dere Gruppe gab, die zum Spiel ging wie zu rücksichtigung umstritten gewesen war. einem gesellschaftlichen Ereignis: elegant ge- kleidete Männer, meist mit Blazer und dunk- In den folgenden Jahren entwickelte sich lem Anzug, weißem Hemd, Krawatte. Die München zur Fußballhauptstadt der Bun- Herren saßen in Logen und ließen sich ihre desrepublik. In der Saison 1964/65 wurde der Anwesenheit etwas kosten.“ ❙15 Beim FC Bay- TSV 1860 Pokalsieger. Zeitgleich stieg auch ern kam man nun auf die Idee, die Plätze in der Lokalrivale FC Bayern in die Bundesliga der VIP-Loge als Jahreskarten anzubieten – auf, womit München als erste Stadt mit zwei für 1000 DM, inklusive kaltem Buffet in der Clubs in der Eliteklasse vertreten war. In der Halbzeitpause. „In München kam jetzt so- folgenden Spielzeit 1965/66 gewann der TSV viel Prominenz, dass neben den Sportrepor- die Deutsche Meisterschaft. Aufsteiger FC tern auch die Gesellschaftskolumnisten ins Bayern wurde in der Liga gleich Dritter und Stadion mussten. Franz-Josef Strauß war oft gewann den DFB-Pokal. In den folgenden da, neben ihm Schauspieler, Sänger, Unter- Spielzeiten waren Eintracht Braunschweig nehmer, Banker, Vorstandsmitglieder großer (1967) und der 1. FC Nürnberg (1968) die Firmen. Nicht die 1000 Mark waren so wich- Überraschungsmeister, ehe von 1969 bis 1978 der Deutsche Meister ununterbrochen ent- ❙15 Franz Beckenbauer, Ich. Wie es wirklich war, weder Bayern oder Mönchengladbach hieß. München 1992, S. 41.

18 APuZ 27–28/2013 tig, die sie bezahlten, sondern die Signalwir- Für die Etablierung dauerhafter „Erstklas- kung, die ihre Anwesenheit hatte: Fußball, sigkeit“ mangelte es dem „Ost-Fußball“ nach das ist nicht ein Vergnügen von zweifelhaf- der Wiedervereinigung an Geld und qualifi- tem Wert, veranstaltet für das gewöhnliche zierten Fachleuten für den Profifußball. Ein Volk, das, phantasielos wie es ist, mit seiner Vakuum, das durch zwielichtige „Helfer“ aus Freizeit nichts anzufangen weiß, keine Un- dem Westen gefüllt wurde, die aber lediglich terhaltung für Proleten, sondern ein sehens- zur Verschlechterung der Verhältnisse bei- wertes Ereignis.“ ❙16 trugen. Und die besten Spieler zog es rasch zu den etablierten westdeutschen Proficlubs. Diesen sozialen Wandel verkörperte aber auch die Mannschaft selbst: Mit Paul Breit- Hansa Rostock musste sich bereits nach ei- ner, Uli Hoeneß, Karl-Heinz Mrosko, Ed- ner Saison wieder aus der 1. Bundesliga ver- gar Schneider und Rainer Zobel zogen die abschieden. Zur Saison 1993/94 stieg zwar Abiturienten und Studenten in die Bundes- der VfB Leipzig auf, aber die Heimatstadt des liga ein. Dem „Kicker“ war dies zum Start ersten deutschen Fußballmeisters durfte bis der Saison 1970/71 eine Story wert („Studi- heute nur ein Jahr Bundesliga genießen. Im um durch Stimulans“), in der Hoeneß mit den Sommer 1995 war auch Dresdens Bundesli- Worten zitiert wurde: „Die heutige Art Fuß- gapräsenz beendet. Dafür stieg Hansa Ros- ball zu spielen, setzt eine gewisse Intelligenz tock wieder auf und blieb für zehn Spielzei- voraus.“ ❙17 ten ununterbrochen erstklassig. 1995/96 und 1997/98 wurde Hansa jeweils Sechster – die Für die in dieser Zeit einsetzende Domi- bislang beste Platzierung eines „Ostvereins“ nanz des FC Bayern spielte auch Europa eine in der 1. Bundesliga. Auch Energie Cottbus Rolle. Mit Ausnahme einer Saison (1968/69) spielte immerhin sechs Spielzeiten lang erst- war der FC Bayern in den Spielzeiten 1966/67 klassig (2000/01–2002/03, 2006/07–2008/09). bis 1977/78 permanent in einem europäischen Seit dem Sommer 2009 ist der Osten nicht Wettbewerb vertreten, was mit einer für die mehr in der 1. Bundesliga vertreten. Betrach- damalige Zeit hohen TV-Präsenz verbunden tet man den gesamten Zeitraum von 1991/92 war. Der FC Bayern avancierte in diesen Jah- bis 2012/13 (22 Jahre) und addiert die ver- ren zu dem deutschen Repräsentanten auf der brachten Saisons in der höchsten Spielklasse, Bühne des europäischen Clubfußballs und so kommen die Clubs aus den fünf „neuen“ schuf sich eine bundesweite Anhängerschaft. Bundesländern auf gerade mal 23 Bundesliga- jahre – weniger, als etwa der Stadtstaat Ham- burg zählt. Bundesliga ohne Osten Interessant ist aber, dass die Regionalli- Nach der Wiedervereinigung wurde die Bun- ga Nordost mit einem Schnitt von 1808 Zu- desliga für eine Saison (1991/92) auf 20 Ver- schauern pro Spiel (Saison 2012/13) den eine aufgestockt. Im Vorfeld hatten sich der höchsten Publikumszuspruch aller fünf Re- DFB und der Fußball-Verband der DDR gionalligen aufweist (West: 1198, Südwest: (DFV), der Ende 1990 aufgelöst wurde, auf 939, Nord: 816, Bayern: 587). ❙18 Dass die ost- die Formel „2 plus 6“ geeinigt. Dies bedeu- deutsche Regionalliga somit einen größeren tete, dass zwei Clubs der DDR-Oberliga in Zuspruch erfährt als die Regionalligen in der die 1. Bundesliga aufgenommen wurden (Dy- „alten Bundesrepublik“, liegt möglicherwei- namo Dresden, Hansa Rostock), sechs in die se auch im noch immer ausgeprägten „Ei- 2. Bundesliga (VfB Leipzig, Rot-Weiß Erfurt, genleben“ des Ostens begründet: In der vier- Carl Zeiss Jena, Stahl Brandenburg, Chem- ten Spielklasse lebt zu einem gewissen Maße nitzer FC und Hallescher FC). Die übrigen die alte Eliteliga der DDR weiter, die DDR- DDR-Erst- und Zweitligisten wurden im Au- Oberliga, die von 1949 bis 1991 existierte. gust 1991 in den Amateurfußball verbannt, darunter auch der 1. FC Magdeburg, der ein- Den Fußballvereinen im Osten fehlen auch zige Europapokalsieger in der Geschichte des heute noch generell die großen Investoren, DDR-Fußballs (1974). sieht man vom Getränkehersteller Red Bull

❙16 Ebd., S. 42. ❙18 Quelle für die Zuschauerzahlen: www.weltfuss- ❙17 Zit. nach: D. Schulze-Marmeling (Anm. 7), S. 158. ball.de (7. 6. 2013).

APuZ 27–28/2013 19 ab. Dieser engagiert sich nicht zufällig in Quo vadis? Leipzig, dem Gründungsort des DFB und Heimat des ersten deutschen Fußballmeis- Im Sommer 2013 kehrte Eintracht Braun- ters, wo sich aber der heimische Fußball in schweig, Gründungsmitglied der Bundesli- einem sportlich miserablen und organisa- ga und „Überraschungsmeister“ der Saison torisch zersplitterten, von Insolvenzen und 1966/67, in die 1. Liga zurück. Die Eintracht Neugründungen und auch Fanausschreitun- war 1985 abgestiegen und bewegte sich seit- gen geprägten Zustand befand. Gleichzei- her zwischen 2. Liga und 3. Liga. Der Auf- tig existiert mit dem zur Weltmeisterschaft stieg signalisiert aber keine Renaissance der 2006 umgebauten Zentralstadion mit einem „Traditionsvereine“, denn zur gleichen Zeit Fassungsvermögen von über 44 000 Zuschau- wurde dem MSV Duisburg die Lizenz für ern eine erstklassige Spielstätte. Nachdem die die 2. Liga verweigert und mussten die Dritt- Leipziger Clubs Lokomotive und FC Sach- ligisten Alemannia Aachen und Kickers Of- sen eine Kooperation mit Red Bull abgelehnt fenbach Insolvenz anmelden. hatten, wurde 2009 der eigenständige Verein RasenBallsport Leipzig (abgekürzt „RB“ wie Im deutschen Fußball sind die Kräftever- „Red Bull“) gegründet, der vom SSV Mar- hältnisse mittlerweile weitgehend zemen- kranstädt das Startrecht für die Beteiligung tiert. Im Zeitraum 1992/93 bis 2012/13 ge- am Spielbetrieb in der Oberliga übernahm. wannen sechs unterschiedliche Clubs die Außerdem erwarb der Brausehersteller die Meisterschaft, wobei 17 der 20 Titel auf drei Namensrechte für das Stadion, das seit- Clubs entfielen: Bayern München (11), Bo- her seinen Namen trägt. RB Leipzig ist kein russia Dortmund (5) und Werder Bremen (2). normaler Club, sondern wird vom Konzern Die einmaligen Titelgewinne Kaiserslau- wie eine Unternehmensfiliale gesteuert. Der terns, Stuttgarts und Wolfsburgs führten „Verein“ hat keine Mitglieder, der dreiköpfi- nicht dazu, dass diese Clubs auch fortan in ge Vorstand besteht komplett aus Red-Bull- der Spitzengruppe der Liga mitmischten. Es Kräften, die von einem ebenfalls dreiköpfi- blieben Momentaufnahmen – wie auch die gen Ehrenrat gewählt werden, die auch aus Teilnahme dieser Clubs an der „Geldmaschi- dem Unternehmen kommen. ne“ Champions League.

In der Saison 2012/13 schließlich gelang RB Ein realistisches Bild für die Zukunft bie- Leipzig der Aufstieg in die 3. Liga, und an- ten vielleicht die fünf Spielzeiten von 2008/09 gesichts der enormen Investitionen, die der bis 2012/13: Bayern München und Borussia Getränkekonzern in den Fußballstandort Dortmund wurden jeweils zweimal Meis- Leipzig tätigt, ist zu erwarten, dass der Red- ter, der VfL Wolfsburg durfte einmal feiern. Bull-Club in wenigen Jahren in der 1. Bun- Bayer Leverkusen wurde in diesem Zeitraum desliga ankommen wird. Auch Dynamo immerhin einmal Vizemeister, einmal Drit- Dresden, das in der Saison 2012/13 nur um ter und einmal Vierter. Zu diesen vier Clubs Haaresbreite dem Abstieg in die Drittklassig- könnte sich in Zukunft dann auch noch RB keit entging, wird den Marsch des „Retorten- Leipzig gesellen. Drei dieser fünf Clubs wür- clubs“ an die Spitze des Ost-Fußballs nicht den die „50+1-Regel“ unterlaufen. Und bei stoppen können – das könnte nur die DFL. Bayern München sind externe Investoren Ob RB bei einem Aufstieg in die 2. Liga die immerhin mit 20 Prozent beteiligt. Vor die- Lizenz bekommen würde, ist unklar, da Sat- sem Hintergrund ist nicht auszuschließen, zung und Struktur mit der „50+1-Regel“ kol- dass die vom Hannover-96-Präsidenten Mar- lidieren: Während sich im englischen Profi- tin Kind vorgeschlagene Abschaffung der fußball die Vereine im Privatbesitz befinden, „50+1-Regel“ mittelfristig doch noch breite- müssen in der Bundesliga 50 Prozent plus re Zustimmung erlangt. eine Stimme dem Verein gehören. Genehmig- te Ausnahmen sind bislang nur Bayer Lever- kusen und der VfL Wolfsburg. ❙19

❙19 Clubs, die vor dem 1. 1. 1999 länger als 20 Jahre er- heblich und ununterbrochen von einem Wirtschafts- unternehmen gefördert wurden, können von der Re- gelung befreit werden.

20 APuZ 27–28/2013 Nils Havemann Bundesligageschichte. Mehr noch: Dadurch eröffnen sich Einsichten, welche die Beschäfti- gung mit scheinbar wichtigeren und seriöseren Die Bundesliga als Themen kaum noch zu bieten vermag. Schon ein erster Blick auf die nackten Zahlen verrät, dass es erhebliche Schwierigkeiten bereitet, ein Objekt wirtschafts- gesellschaftliches Phänomen zu benennen, das in den vergangenen 50 Jahren größeren Zulauf und kulturgeschicht- erfuhr als der Fußball im Allgemeinen und die Bundesliga im Besonderen. Welchen 1963 eta- blierten Parteien, Verbänden oder Glaubens- licher Betrachtungen gemeinschaften in der Bundesrepublik gelang es wie dem Deutschen Fußball-Bund (DFB), Essay den Mitgliederbestand mehr als zu verdreifa- chen? Und welches Ereignis vermag im Jah- re 2013 die Bevölkerung noch in einem derart st es aus geschichtswissenschaftlicher Sicht hohen Ausmaß zu elektrisieren wie ein Spiel Ilohnend, sich mit der Bundesliga zu beschäf- zwischen Borussia Dortmund und dem FC tigen? Bei flüchtiger Betrachtung ist diese Frage Bayern München? Eine wichtige Regierungs- klar zu verneinen. Das erklärung, die gefeierte Neuinszenierung ei- Nils Havemann Wissen darum, dass vor ner Wagner-Oper oder eine bedeutsame Ver- Dr. phil., geb. 1966; Wissen- rund 50 Jahren ein ge- lautbarung der Deutschen Bischofskonferenz schaftlicher Mitarbeiter am wisser Timo Konietz- jedenfalls schon lange nicht mehr. Historischen Institut der Univer- ka für Borussia Dort- sität Stuttgart, Keplerstraße 17, mund das erste Bun- Doch mit welchen Fragestellungen und mit 70174 Stuttgart. desligator markierte, ist welcher Methodik lassen sich der Bundesliga- [email protected] für das Verständnis der geschichte Einsichten entlocken, die für das Geschichte der Bun- Verständnis der bundesrepublikanischen Ge- desrepublik ziemlich belanglos. Ebenso wenig schichte aufschlussreich sind? Unüberseh- verdient die Tatsache, dass Borussia Mönchen- bar handelt es sich bei Fußball- zunächst um gladbach und der FC Bayern München in den Kulturgeschichte, die dadurch gekennzeich- 1970er Jahren die beiden dominierenden Mann- net ist, dass der im Grunde profane Kampf um schaften im bundesdeutschen Fußball waren, ir- das Tor in der Vergangenheit stets mit unter- gendeine besondere Beachtung, wenn es darum schiedlichen Sinnbezügen aufgeladen wurde. ❙1 geht, die politische, wirtschaftliche und soziale Dass dieser Sport eine wichtige Quelle für na- Entwicklung dieses Landes zu beleuchten. Und tionale Mythen geworden ist, die ins kollektive dass der FC Schalke 04 seit mehr als einem hal- Gedächtnis der Bundesrepublik eingegangen ben Jahrhundert darauf wartet, die Meisterscha- sind, ist schon 2004 klar geworden, als sich das le in die Höhe zu recken, mag für seine vielen „Wunder von Bern“ – der als Sensation emp- Anhänger schmerzvoll sein – Historiker sollten fundene Sieg der Nationalmannschaft über daran nicht einmal eine Fußnote verschwenden. Ungarn bei der Weltmeisterschaft 1954 in der Kein Zweifel: Wird die Geschichte der Bundes- Schweiz – zum 50. Mal jährte. Die Spiele um liga auf die Nacherzählung von wichtigen Spie- das runde Leder – genauer: die Gespräche und len, auf die Beschreibung von spektakulären die Fachsimpeleien darüber – sind aufgrund Toren oder die Auflistung von Ergebnisstatis- der enormen Popularität des Sports und seiner tiken reduziert, tendiert ihr Erkenntniswert ge- Breitenwirkung offenkundig zu zuverlässigen gen null. Indikatoren für Stimmungen und die geistige Verfassung einer Gesellschaft geworden. Anders verhält es sich hingegen, wenn die Bundesligahistorie mit kultur- und wirt- Indes sind diese Bedeutungszuschreibun- schaftshistorischen Problemstellungen ver- gen, die der Fußball im Laufe seiner Geschich- knüpft wird. Sobald solche bewährten Fragen und Methoden aus der Geschichtswissenschaft ❙1 Vgl. Wolfram Pyta, Sportgeschichte aus der Sicht auf die 50 Jahre des Kampfes um Tore, Punkte des Allgemeinhistorikers, in: Andrea Bruns/Wolf- und Meisterschaft angewandt werden, offen- gang Buss (Hrsg.), Sportgeschichte erforschen und bart sich das enorme Erkenntnispotenzial der vermitteln, Hamburg 2009, S. 9–21.

APuZ 27–28/2013 21 te erfahren hat, oft nur zu verstehen, wenn sie meist bürgerlichen Repräsentanten, ❙6 dass das vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Spiel den nationalen Gedanken fördere. In Entwicklungen und Verwertungsinteressen der Weimarer Zeit waren vermehrt Stimmen im Fußball betrachtet werden. Hier ist Hans- zu vernehmen, die den völkerverbindenden Ulrich Wehler zuzustimmen, der im letzten Charakter des runden Leders hervorhoben, Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschich- während im „Dritten Reich“ der profa- te Stellung gegen eine Kulturgeschichte bezog, ne Kampf um das Tor dem „Volksgemein- die in der Tat in einer bisweilen weltfremden schaftsgeist“ Vorschub leisten sollte. ❙7 Nach Weise ökonomische Fragestellungen schlicht- dem Krieg hingegen, als dieser Gedanke dis- weg ignoriert und daher nicht die „Synthe- kreditiert war, wurde eine unverfängliche- sefähigkeit“ wie die Gesellschaftsgeschichte re Variante von Gemeinschaftsvorstellung entwickelt hat. ❙2 Dabei ist Fußball seit der Zeit gefunden, welcher der Fußball vermeintlich der Weimarer Republik ein gewaltiges Ge- diene: Nun war der Sport angeblich von „Ka- schäft ❙3 – eine Tatsache, die viele Historiker, meradschaft“ beseelt, einer Eigenschaft, mit die sich mit dem Sport beschäftigen, bislang der das „Wunder von Bern“ erklärt wurde nahezu vollständig ausgeklammert haben, ❙4 und als deren vornehmster Repräsentant sich weil sie sich ausschließlich mit Sport als Stifter Fritz Walter, der legendäre Kapitän der Welt- von Identitäten und als Vehikel zur Verbrei- meisterelf, profilieren konnte. tung von Ideologien beschäftigten. Solche sympathischen Zuschreibungen hat- Doch welche Schlüsse können aus einer ten zwei gravierende Wirkungen. Zum einen Geschichte der Bundesliga gezogen werden, trugen sie dazu bei, die Akzeptanz des Fuß- die sich ihr unter kultur- und wirtschaftshis- balls in der bildungsbürgerlich orientierten torischen Aspekten zu nähern versucht? Die bundesdeutschen Gesellschaft zu steigern. Erkenntnisse, die im Rahmen eines dreijähri- Immerhin galt es, den wenig schmeichelhaften gen Projekts an der Universität Stuttgart zu- Ruf dieses Sports als billiges Massenvergnü- tage gefördert wurden, sind nicht zuletzt auf- gen zu überwinden. Zum anderen erleichter- grund der Auswertung einer Vielzahl bislang ten sie es den Verantwortungsträgern in den unbekannter Dokumente derart vielfältig, großen Vereinen und beim DFB, unter dem dass an dieser Stelle lediglich drei Aspekte in fußballbegeisterten Publikum die Illusion zu einer stark verkürzten und daher etwas zu- erzeugen, als handelte es sich bei den großen gespitzten Form dargestellt werden können. ❙5 Stars der 1950er und 1960er Jahre um biedere Amateure, zumindest Halbamateure, die nur bescheiden für ihre Ballkünste entlohnt wur- Gemeinschaftsdiskurse, ökonomische den. Dabei erhielten die besten Spieler bereits Interessen und kaufmännische Seriosität auf legalem Wege etwa das Sechsfache des da- maligen durchschnittlichen Verdienstes eines Der Fußball eignete sich stets dazu, ihn mit vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers in der bestimmten Vorstellungen von Gemeinschaft Bundesrepublik. Hinzu kamen nicht selten zu verbinden. Als sich dieser Sport zum Aus- zusätzliche Einkünfte über Scheinarbeitsplät- gang des 19. Jahrhunderts in Deutschland ze, Sponsoringverträge, die Einrichtung von auszubreiten begann, behaupteten seine zu- Kleinbetrieben oder Zahlungen aus „schwar- zen Kassen“, die viele Vereine der Oberligen, ❙2 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts- ab 1963 der Bundesliga, außerhalb der offiziel- geschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949– len Bilanzen unterhielten. In anderen Worten: 1990, München 2008, S. 362. Die großen Fußballstars der Bundesrepublik ❙3 Vgl. Erik Eggers, Fußball in der Weimarer Republik, waren schon in der Zeit des Wiederaufbaus Kassel 2001, S. 154 ff.; Nils Havemann, Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und großzügig entlohnte Profis, die sich oft nur Kommerz, Frank­furt/M.–New York 2005, S. 67 ff. noch zum Schein in anderen Berufen ablich- ❙4 Ähnlich trist ist der Zustand der sporthistorischen Literatur aus dem angelsächsischen Raum, worauf ❙6 Vgl. Christiane Eisenberg, Fußball in Deutsch- jüngst Stefan Szymanski verwiesen hat: Economists land 1890–1914, in: Geschichte und Gesellschaft, 20 and Sport History, in: Journal of Sport History, 37 (1994), S. 190. (2010), S. 76 f. ❙7 Vgl. Rudolf Oswald, „Fußball-Volksgemein- ❙5 Die folgenden Ausführungen werden im Detail be- schaft“. Ideologie, Politik und Fanatismus im deut- legt in: Nils Havemann, Samstags um halb 4. Die Ge- schen Fußball 1919–1964, Frank­furt/M.–New York schichte der Fußballbundesliga, München 2013. 2008.

22 APuZ 27–28/2013 ten ließen und nicht zuletzt über versteckte ße Bundesligaskandal von 1971, der Kauf von kommerzielle Aktivitäten finanziert wurden. zahlreichen Spielen, erklärt sich aus dieser jahrzehntelangen Finanzanarchie im deut- Die hervorragenden Verdienstmöglichkei­ schen Berufsfußball und war daher auch kein ten, die sich jungen Fußballspielern eröff- Novum: Schon zuvor hatte es Bestechungsver- neten, wurden im Zuge der Bundesliga- suche gegeben, mit denen der Ausgang einzel- gründung mit Bedacht geheim gehalten. Ein ner Partien beeinflusst werden sollte. Grund war das Bewusstsein dafür, dass eine zu stark sichtbare Kommerzialisierung des Nun stellt die Bundesliga zweifellos nur ei- Fußballs mit dem Harmonie-, Kompromiss- nen Ausschnitt der Gesellschaft dar. Doch und Sozialgedanken des Rheinischen Kapi- gerade weil die Vorstände der Vereine und talismus nicht zu vereinbaren war. Viele Vor- Verbände in einem auffällig hohen Maß von stände bevorzugten es angesichts der in den Kaufleuten, Unternehmern und Juristen be- Medien und in der Anhängerschaft verbreite- herrscht wurden, stellt sich die Frage, ob an- ten Empörung über die „Geschäftemacherei“, gesichts der oft zu hörenden Klage über den das gesamte Ausmaß der Bedeutung des Gel- vermeintlichen „Raubtierkapitalismus“ der des im Fußball möglichst zu kaschieren. Dies Gegenwart die verklärende Verherrlichung erschien ihnen umso notwendiger, als sie gro- der sozialen Marktwirtschaft der frühen ßen Wert darauf legten, als gemeinnützig an- Bundesrepublik nicht unangemessen ist. Viel- erkannt zu bleiben, so dass sie in den Genuss mehr drängt sich die Hypothese auf, dass Ge- einer Vielzahl steuerlicher Privilegien kamen schäftsinteressen, Gewinnorientierung und (z. B. Befreiung von der Körperschaftssteu- die angeblich so große „Gier“ von „Eliten“ bis er, Vermögenssteuer und ab Ende der 1960er weit in die 1980er Jahre hinein lediglich bes- Jahre von der Vergnügungssteuer). ser hinter der gesellschaftlich erwünschten Fassade von Maß, Solidarität und möglichst Aufschlussreich für die Charakterisierung geringen sozialen Ungleichheiten versteckt der sozialen Marktwirtschaft in der Bun- werden konnten als in Zeiten der „Globali- desrepublik waren die tatsächlichen Verhält- sierung“. Anders gewendet: Was heute – aus nisse, die sich unter den Bedingungen eines welchen Gründen auch immer – in der Öf- scheinbar „gezügelten Kapitalismus“ einstell- fentlichkeit heftig skandalisiert und als Aus- ten: Während der DFB und die großen Verei- druck „wachsender Ungleichheit“ gegeißelt ne große Anstrengungen unternahmen, in der wird, drang früher entweder nicht an die Öf- Öffentlichkeit das Bild von einem solidarisch fentlichkeit oder rief keine sonderlich große und wirtschaftlich maßvoll operierenden Fuß- Aufregung hervor. Daher sollten gegenwär- ballbetrieb aufrechtzuerhalten, stellten sich im tig hitzig diskutierte Fälle von prominen- Hintergrund geradezu anarchisch anmuten- ten „Steuersündern“ aus der Bundesliga über de Verhältnisse ein. Spieler und Trainer wur- eine Tatsache nicht hinwegtäuschen: Im Ver- den derart großzügig entlohnt, dass trotz eines gleich zu den 1960er, 1970er und teilweise regen Zuschauerzuspruchs 14 der 18 Bundesli- auch 1980er Jahren ist die kaufmännische Se- gavereine im Frühjahr 1971 erhebliche Liqui- riosität, Solidität und Integrität im heutigen ditätsschwierigkeiten hatten. Die meisten Li- Fußballoberhaus erheblich gestiegen. Dies zenzspielerabteilungen konnten nur dadurch wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass die vor der Insolvenz bewahrt werden, dass die 36 Vereine und Kapitalgesellschaften der bei- Kommunen ihnen mit juristisch äußerst frag- den obersten Ligen immerhin wieder Steu- würdigen Rettungsaktionen zu Hilfe eilten, ern und Abgaben zahlen – laut Auskunft der Steuerschulden erließen oder mit sonstigen Deutschen Fußball Liga (DFL) allein in der Subventionen aus der Misere halfen. ❙8 Gedul- Saison 2010/11 knapp 719 Millionen Euro. ❙9 In det, teilweise sogar gefördert durch politische der Saison 1970/71 hingegen hatten zahlreiche Institutionen, hatte sich im Fußballoberhaus Bundesligisten die Entrichtung fälliger Steu- ein gehöriges Maß an Wirtschaftskriminali- ern und Abgaben eingestellt oder arbeiteten tät in Form von Bilanzmanipulationen und mithilfe des DFB bei den zuständigen Justiz- Steuerhinterziehung ausgebreitet. Der gro- und Finanzbehörden an weiteren Subventio- nen für ihre Lizenzspielerabteilungen. ❙8 Besonders häufig zu beobachten in Gelsenkirchen, München und Berlin. Vgl. N. Havemann (Anm. 5), ❙9 Vgl. DFL (Hrsg.), Bundesliga. Report 2012, o. O. S. 167 ff., S. 327 ff., S. 380 ff. 2012, S. 18.

APuZ 27–28/2013 23 Subventionen und Konkurrenzfähigkeit der Kommunen gegen solche Rettungspakete wurden unter anderem mit dem Verweis auf Die strahlenden sportlichen Erfolge des bun- ihre vermeintliche Alternativlosigkeit weg- desdeutschen Fußballs in den frühen 1970er gewischt, und die Lizenzspielerabteilungen Jahren täuschen also darüber hinweg, dass er erhoben sich bisweilen selbst zu gleichsam damals schon schwer krank war und dass die systemrelevanten Institutionen zur Aufrecht- große Krise, die er wenige Jahre später durch- erhaltung des Breitensports. Insofern ist die laufen sollte, eine Folge jener Fehler war, die Geschichte der Bundesliga auch ein hervor- im Jahrzehnt zuvor begangen worden waren. ragendes Beispiel für die Funktionsweise des Denn einer der stärksten Gründe für den ver- bundesdeutschen Steuerstaates. Sie verleiht heerenden finanziellen Zustand des gesamten dem gegenwärtigen Furor über prominente Bundesligabetriebs in jener Zeit war die enge Steuerstraftäter eine heuchlerische Note, die Liaison zwischen den großen Vereinen und vom eigentlichen Missstand ablenkt: einer seit der öffentlichen Hand. Jahrzehnten verfehlten Steuer- und Finanzpo- litik, die jene bestraft, die solide zu wirtschaf- So sehr es Politiker lieben, Steuerehrlichkeit ten und auf eigenen Beinen zu stehen versu- einzufordern, um das damit gewonnene Geld chen. Denn im Grunde lief es immer wieder in Bildung investieren oder für die Herstellung darauf hinaus, durch geschickte Lobbyarbeit „sozialer Gerechtigkeit“ ausgeben zu können: für einzelne Gruppen neue Gesetze, Verord- Das Fußballoberhaus war ein exzellentes Bei- nungen und damit auch neue Steuerschlupflö- spiel dafür, wie politische Institutionen, in die- cher zu schaffen, mit denen lange Zeit geübte sem Fall vor allem die örtlichen Kommunen, Praktiken zwielichtiger „Steuervermeidung“ dazu neigen, sich mit dem eingetriebenen Steu- legalisiert wurden. ❙10 Das Resultat dieser ge- ergeld zum Anwalt starker Lobbygruppen zu wiss nicht nur in der Bundesliga zu beobach- machen und der Verschwendung öffentlicher tenden Vorgehensweise war ein stetig kompli- Mittel – dem legalen Zwilling der Steuerhin- zierter und absurder werdendes Steuerrecht, terziehung – Vorschub zu leisten. Ständig ga- das selbst die Experten nicht mehr beherr- ben sie Forderungen aus dem Berufsfußball schen und die angeblich angestrebte Einzel- nach und mischten somit in einem wirtschaft- fallgerechtigkeit in ein hohes Maß an Rechts- lichen Bereich mit, der nicht zu ihren eigent- unsicherheit verkehrt hat. lichen Hoheitsaufgaben gehörte. Diese Ent- wicklung, die in einigen Städten bereits in den Das Fußballoberhaus war also Anfang der 1920er Jahren zu beobachten war, verstärkte 1970er Jahre auf dem direkten Wege, zu einer sich mit dem beeindruckenden Siegeszug des Staatsbundesliga zu werden, in der grundle- Fernsehens, das die gesellschaftliche Bedeu- gende marktwirtschaftliche Regeln wie freier tung des runden Leders immer deutlicher vor Wettbewerb, Eigenverantwortung, Gesetzes- Augen führte und somit auch Politikern verlo- treue oder die Koppelung von Gewinnaussicht ckende Möglichkeiten der Selbstinszenierung und Verlustrisiko außer Kraft gesetzt worden eröffnete. Hinzu kam die Hoffnung vieler waren. Die Konsequenzen dieser Missachtung Kommunen, über einen Bundesligaverein die marktliberaler Grundprinzipien waren gra- lokale Wirtschaft stärken und das eigene Re- vierend: Anstatt bankrotte Vereine in die In- nomee fördern zu können. solvenz zu entlassen, flossen aus den Kassen der öffentlichen Hand beträchtliche Summen Zahlreiche Bundesliga-Städte – Ausnahmen in die Bundesliga, mit denen wiederum nicht sind bislang nicht bekannt – halfen daher ihren vornehmlich die Rechnungen kleiner Gläubi- sportlichen Aushängeschildern immer wieder ger bezahlt oder der Sportbetrieb der wirkli- über akute Liquiditätsschwierigkeiten hinweg, chen Amateure finanziert, sondern die An- indem sie nicht nur Steuerschulden erließen und Zuschüsse leisteten, sondern bisweilen ❙10 Beispielhaft dafür stand der Umgang mit der Ver- auch die halbseidenen Bilanzierungsmetho- gnügungssteuer, die eigentlich jeder Bundesligist zu den der Vereine duldeten. Etliche Initiativen entrichten hatte: Ende der 1960er Jahre war die wirt- wurden gestartet, mit denen die Bundesligis- schaftliche Situation der Vereine derart katastrophal ten steuerlich weiter entlastet werden sollten, geworden, dass viele von ihnen diese Abgabe schlicht nicht mehr an die Kommunen überwiesen. Diese obgleich sie in der Realität die Zahlung von strebten nach und nach die Streichung dieser Steuer Steuern und Abgaben vielfach schon einge- an und billigten somit nachträglich die Zahlungsver- stellt hatten. Rechtliche Einwände innerhalb weigerung. Vgl. N. Havemann (Anm. 5), S. 204, S. 277.

24 APuZ 27–28/2013 sprüche begehrter Kicker befriedigt wurden. ❙11 Konkurrenzfähigkeit von Wirtschaftsbran- Die kontinuierliche finanzielle Unterstützung chen eher beeinträchtigt als befördert. der Bundesligisten durch den Staat trug zu ei- ner Verlotterung aller guten Kaufmannssitten Kritiker erblickten in der mit diesem Prozess bei, begünstigte in Einzelfällen die Korrupti- einhergehenden Kommerzialisierung der Bun- on und schläferte bei etlichen Vorständen den desliga den Verlust des kulturellen Wertes des Ehrgeiz ein, die Vereine auf eine betriebswirt- Fußballs, der für viele Anhänger vor allem im schaftlich gesündere Basis zu stellen. rituellen Gemeinschaftserlebnis und im Aus- druck kollektiver, zumeist lokaler oder regio- Von dieser Warte aus hatte der große Bun- naler Identitäten bestand. Solche immer wieder desligaskandal von 1971 auch etwas Gutes: zu vernehmenden Klagen über den vermeint- Die Kommunen begannen – nicht zuletzt lichen Verlust des „ideellen Kerns“ im Sport unter dem Druck einiger unabhängiger Fi- sowie des beschaulichen Charakters der Bun- nanzbehörden und eigener finanzieller Pro- desliga ignorierten, dass dieser „ideelle Kern“ bleme – ihr Verhältnis zum Berufsfußball zu bereits im Spitzenfußball der 1920er Jahre nicht überdenken. Dies bedeutete zwar nicht, dass mehr existierte. Vielmehr wurden die vielen sich der Staat vollständig von der Unterstüt- gewöhnlichen Geschäftsinteressen im Berufs- zung der Bundesliga zurückzog. Auch in den fußball im Vergleich zu früheren Jahrzehnten Jahrzehnten darauf sollte es zahllose verwe- lediglich transparenter. Da überdies die wirt- gene Aktionen zur Rettung bankrotter Li- schaftliche Entwicklung seit 1960 weltweit von zenzspielerabteilungen geben. Aber zwei- einem gigantischen Wirtschaftswachstum und fellos war eine allmähliche Abkehr von der einer extremen Ausweitung der Geldmenge Dauersubventionierung zu beobachten. Dies gekennzeichnet war, ❙13 veränderten sich ledig- verdeutlichte den Vereinen, sich nach neu- lich der Umfang der Geschäftstätigkeit und die en Geldquellen umschauen zu müssen, wenn Möglichkeiten des Kommerzes, nicht aber das sie sich finanziell über Wasser halten wollten. grundsätzliche Interesse an der ökonomischen Clubs wie dem Hamburger SV, dem FC Bay- Verwertung des Kulturguts Fußball. ern München oder dem SV Werder Bremen wurde daher bewusst, dass es neuer Ideen be- durfte, um eine anspruchsvolle Profimann- Verflüchtigung traditioneller Identitäten schaft finanzieren zu können. Sie beschlossen, und Spiritualisierung des runden Leders den Geschäfts-, Entertainment- und Konkur- renzcharakter des Berufsfußballs nicht mehr Interessant an der Geschichte der Fußball- hinter der bigotten Fassade des alten Wahl- bundesliga ist darüber hinaus, wie ein Teil spruchs „Elf Freunde müsst ihr sein“ zu ver- der Anhängerschaft auf die Entwicklung vom stecken. Vielmehr ermöglichten sie durch versteckten zum offenen Kommerz reagierte. den Übergang vom versteckten zum offenen Jedenfalls stellen die regelmäßigen Kundge- Sponsoring eine neue Aufrichtigkeit im Um- bungen in den Stadien „gegen den moder- gang mit dem Kommerz. Andere Vereine hin- nen Fußball“ sowie die im Tenor ähnlichen gegen wie Hertha BSC Berlin, der TSV 1860 Klagen vieler Journalisten über die Allgegen- München oder der FC Schalke 04, die sich wart des Geschäfts viele herkömmliche Mo- weiterhin vornehmlich auf die staatlichen dernisierungstheorien infrage. ❙14 Parolen wie Quellen bei der Geldbeschaffung verließen, ❙12 „Holt euch das Spiel zurück“ oder die ver- verloren den Anschluss an die Konkurrenz breitete Trauer über den angeblichen „Nie- und verschwanden somit für viele Jahre in die dergang des Volksfußballs“ ❙15 zeugen nicht sportliche Bedeutungslosigkeit. Die zum Teil beachtlichen Erfolge, die Vereine wie der FC ❙13 Vgl. Axel A. Weber, Humankapital, Schulbildung Bayern München, der Hamburger SV und der und Wirtschaftswachstum, in: Hans-Joachim Bo- SV Werder Bremen in den 1980er und 1990er denhöfer/Robert K. von Weizsäcker (Hrsg.), Bildung Jahren im Gegensatz zu den anderen genann- und Wirtschaftswachstum, Berlin 1998, S. 59 ff. ten Traditionsvereinen feiern durften, können ❙14 Vgl. zum Stand der Modernisierungsdiskussion folglich als schlagender Beleg dafür gewertet auch die treffenden Ausführungen von Nina Degele/ werden, dass der Staat mit Subventionen die Christian Dries, Modernisierungstheorie. Eine Ein- führung, Paderborn 2005, S. 15. ❙15 Dietrich Schulze-Marmeling, Vom Spieler zum ❙11 Vgl. ebd., u. a. S. 171 ff., S. 206 f., S. 378 f. Fan, in: ders. (Hrsg.), „Holt Euch das Spiel zurück“. ❙12 Vgl. ebd., S. 327 ff., S. 377 ff. Fans und Fußball, Göttingen 1995, S. 11.

APuZ 27–28/2013 25 minder von dem Widerwillen gegen die not- der sich mehrheitlich lange Zeit sträubten, die wendige Weiterentwicklung des modernen Umgestaltung des Vereins zu einem profes- Sports, der in den vergangenen beiden Jahr- sionell geführten Wirtschaftsunternehmen zehnten lediglich neuere Möglichkeiten und mitzugehen. Hans-Joachim Fenne war trotz Entwicklungen in der Informationstechnolo- seiner kaum bestreitbaren Kompetenzen als gie, in der Fernsehlandschaft und auf den in- Präsident der „Königsblauen“ auch deshalb ternationalen Märkten nutzte, um die schon nicht sonderlich beliebt, weil er 1981 behaup- in der Zeit der Weimarer Republik erkenn- tete: „Schalke als Weltanschauung, als Glau- baren ökonomischen Verwertungsinteressen bensbekenntnis – das ist überholt.“ ❙16 Hin- der Hauptakteure zu befriedigen. Zunächst gegen sprach der damalige Schalker Trainer verdeutlichen solche Proteste, dass nicht nur Peter Neururer den Fans aus der Seele, als er viele Verantwortungsträger in der Politik, in behauptete, dass Schalke 04 „ein sportliches den Vereinen und Verbänden, sondern auch Glaubensbekenntnis“ sei. ❙17 viele Fans an der Basis eine starke Aversi- on gegen den marktliberalen Teil der sozia- Auf den ersten Blick scheint vielen dieser len Marktwirtschaft hegen. Dabei wäre es ei- quasireligiösen Ausdrucksformen, die an je- gentlich ziemlich einfach: Wer die Preise für dem Spieltag zu beobachten sind, die Ernst- die Tickets als überhöht, ein Abonnement für haftigkeit zu fehlen. Doch dies täuscht. Selbst die Bezahlsender als maßlos teuer, die Ge- die beiden großen christlichen Kirchen in der hälter der Spieler als „unmoralisch“ oder die Bundesrepublik merkten schon in den 1950er ständige Präsenz von Reklame als unerträg- Jahren, dass sie ihre Mitglieder auch an den lich empfindet, wird nicht gezwungen, ins Fußball verloren, der ihnen all das zu bieten Stadion zu gehen, die Liveübertragung ein- vermochte, wofür ursprünglich die traditionel- zuschalten oder sich das Produkt zu kaufen, len Glaubensgemeinschaften sorgten: Gemein- für das der umjubelte Ballkünstler Werbung schaft unter Gleichgesinnten, ekstatische Er- macht. lebnisse, eine feste zeitliche Struktur abseits der alltäglichen Verpflichtungen, rituelle Hand- Dass ungeachtet dieses ständigen Gezeters lungen und in diesem Sinne religiöse Vollzü- über die große Rolle des Geldes die Popula- ge. Diese verbreitete Emotionalisierung und rität der Bundesliga kontinuierlich gewach- Spiritualisierung des runden Leders erschüt- sen ist, deutet daher auf ihre enorme kultu- tern daher die Behauptung, wonach die west- relle Werthaltigkeit hin. Ein wesentlicher lichen Gesellschaften in den zurückliegenden Grund dafür, dass der offene Kommerz die Jahrhunderten einen Prozess der Aufklärung Anhängerschaft nicht dauerhaft vergraulte, durchlaufen hätten, der geistesgeschichtlich oft war die Überführung traditioneller Identifi- als Sieg der Vernunft gefeiert wurde. kationen ins Transzendente, wo sie sich jegli- cher rationalen Überprüfung entzogen. Ver- Zu diesen irrationalen Verhaltens­weisen un- einfacht ausgedrückt: In den Augen vieler ter den Anhängern gehörte es, vor allem den Fans blieb die Lieblingsmannschaft Reprä- DFB für den Verlust des „ideellen Kerns“ im sentant der eigenen Region, einer sympathi- Fußball verantwortlich zu machen. In dem schen Weltanschauung oder einer bestimm- Maße, wie seit den 1970er Jahren der Kommerz ten gesellschaftlichen Schicht, selbst wenn nicht mehr schamvoll verhüllt wurde, sondern die Stars schon lange nicht mehr vornehm- immer deutlicher an die Oberfläche trat, ver- lich aus der Region kamen, eigentlich das festigte sich das Feindbild von einer vermö- glatte Gegenteil dieser sympathischen Welt- genden Organisation, deren Funktionäre sich anschauung verkörperten oder in ihrem Ein- angeblich am Sport persönlich zu bereichern kommen und Lebensstil längst der gesell- versuchten. Die Frustrationen über diesen schaftlichen Schicht entwachsen waren, der scheinbar ungehemmten Materialismus gin- sie vielleicht ursprünglich einmal angehört gen bisweilen mit der Behauptung einher, dass hatten. Dies weist auf ein hohes Maß an Re- der DFB eine „konservative“, „rechte“ oder gar alitätsverdrängung in einem großen Teil der Anhängerschaft hin, die sich mit einer un- ❙16 übersehbaren Tendenz zu irrationalen, quasi- Das Schalker Herz wurde inzwischen vom Hirn eingeholt, in: Schalker Kreisel, Nr. 41 vom religiösen Verhaltensmustern vermengte. Das 25. 10. 1981. anschaulichste Beispiel für diese Entwick- ❙17 Neururer: Mit Kratzen, Beißen, Spucken aus dem lung ist der FC Schalke 04, dessen Mitglie- Tief, in: Schalker Kreisel, Nr. 39 vom 2. 5. 1989.

26 APuZ 27–28/2013 „faschistische“ Vereinigung sei. ❙18 Nicht zuletzt Henning Vöpel die oft skandalisierten Ereignisse um die Welt- meisterschaft 1978 in Argentinien, als der nach Bue­nos Aires emigrierte Altnazi Hans-Ulrich Rudel im DFB-Trainingsquartier in Ascochin- Wirtschaftsmacht ga auftauchte und sich der Verband überdies weigerte, gegen die Verletzung der Menschen- Bundesliga rechte im Gastgeberland zu protestieren, schie- nen dies zu bestätigen. Wie die Quellen nun belegen, laufen all diese Vorwürfe ins Leere: ie Bundesliga feiert in diesem Jahr ih- Zwar war der DFB in der Tat ein an betriebs- Dren 50. Geburtstag. Passend zum Jubi- wirtschaftlichen Denk- und Handlungsweisen läum standen sich am 25. Mai 2013 mit Bay- orientierter Verband, und es gab in der Bundes- ern München und republik nur wenige Organisationen, die der- Borussia Dortmund Henning Vöpel art konsequent ihre Interessen bei den politi- erstmals zwei deut- Dr. rer. pol., geb. 1972; Professor schen Instanzen durchzusetzen vermochten. sche Mannschaften für Volkswirtschaftslehre an der Doch wäre es nach den Vorstellungen des DFB im Finale der Cham- Hamburg School of Business gegangen, wäre der Kommerz weiterhin hinter pions League gegen- Administration; wissenschaft- der Fassade des gemeinnützigen Fußballs ver- über. Das rein deut- licher Mitarbeiter am Hambur- borgen geblieben. Was seine Haltung zur Mi- sche Finale dokumen- gischen Weltwirtschaftsinstitut litärdiktatur in Argentinien anbelangte, so war tiert eindrucksvoll, (HWWI), Heimhuder Straße 71, es die sozialliberale Regierungskoalition unter wie erfolgreich sich 20148 Hamburg. Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher, die Bundesliga in den [email protected] die den Verband zur Zurückhaltung gegenüber vergangenen Jahren den Generälen ermahnte: Nachdem DFB-Prä- auch international entwickelt hat. Kaum noch sident Hermann Neuberger wenige Wochen etwas erinnert heute an die Anfänge der Bun- vor dem WM-Start erklärt hatte, eventuell die desliga in der ersten Saison 1963/64. Das Spiel Bemühungen von Amnesty International un- selbst ist fast unverändert geblieben, die wirt- terstützen und sich gezielt für politisch Ver- schaftlichen Dimensionen haben sich dage- folgte einsetzen zu wollen, wurde er von der gen grundlegend gewandelt: Fußball ist mitt- damaligen Staatsministerin im Auswärtigen lerweile ein Milliardengeschäft – über zwei Amt, Hildegard Hamm-Brücher, gemaßre- Milliarden Euro Umsatz hat die Bundesliga gelt, die im Namen der Regierung die Proteste in der Saison 2011/12 gemacht. Die Populari- der Menschenrechtsorganisation als eine uner- tät des Fußballs hat fast die gesammte Bevöl- wünschte Einmischung in innere Angelegen- kerung erreicht. Das wiederum lockt Medi- heiten bezeichnete. ❙19 Und Rudel kam nicht en und Sponsoren. Die Kommerzialisierung auf offizielle Einladung des DFB, sondern als und die Popularität des Fußballs bringen in- persönlicher Freund des damaligen Bundes- des auch Probleme mit sich: Der Fußball ist trainers Helmut Schön ins Quartier: Sie hatten „attraktiv“ geworden für Wettmanipulati- sich Jahrzehnte zuvor über Schöns Vorgänger onen und Korruption; darüber hinaus wird Sepp Herberger kennengelernt. er wieder zunehmend als öffentliche Bühne für Gewalt und Rassismus missbraucht. Ob Die Bundesligageschichte hält also eine er will oder nicht, der Fußball übernimmt in weitere wichtige Erkenntnis parat: Der Sport diesem Spannungsfeld eine wichtige soziale ist und bleibt ein Feld intensiver Vergemein- Funktion und Verantwortung. schaftungsprozesse, die nicht unbedingt aus einer gemeinsamen Begeisterung für eine wi- Der Konflikt zwischen voranschreitender derliche Weltanschauung erwachsen müssen. Kommerzialisierung und bewahrender Tra- dition hat die Frage aufgeworfen, wem ei- gentlich der Fußball gehört – den Fans, den ❙18 Vgl. zu solchen unsinnigen Behauptungen auch Funktionären oder gar den Sponsoren und die erhellenden Erläuterungen von Markwart Her- Medien? Die rechtliche Autonomie des Fuß- zog, Fußballsport in der Zeit des Nationalsozialis- balls, seine wirtschaftliche Monopolstellung mus, in: A. Bruns/W. Buss (Anm. 1), S. 51 f. ❙19 Vgl. N. Havemann (Anm. 5), S. 253 f. und seine gesellschaftliche Bedeutung haben in Teilen eine „Parallelwelt“ geschaffen, die eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Der

APuZ 27–28/2013 27 Profifußball besteht mittlerweile aus einer der Einnahmen ist über die vergangenen Jah- Reihe von Akteuren mit sehr unterschiedli- re nahezu konstant gewesen; der relativ sta- chen wirtschaftlichen Interessen, Netzwer- bile und ausgeglichene Mix kann als Vorteil ken, tradierten Normen und branchenspe- gegenüber einer zu einseitigen Finanzie- zifischen Handlungsmustern. Aus diesem rung und unerwarteten Ausfällen von Ein- Gefüge entstehen Strukturen, Abhängigkei- nahmen gesehen werden. Den Einnahmen in ten und Konflikte. Im Folgenden werden die Höhe von 2,08 Milliarden Euro standen in wichtigsten Zusammenhänge des Fußball- der Saison 2011/12 Aufwendungen in Höhe Business rund um die Bundesliga dargestellt von 2,02 Milliarden Euro gegenüber. Die und diskutiert. Bundesliga hat damit einen Überschuss von rund 60 Millionen Euro erzielt. Den größten Posten bei den Aufwendungen machen die Ökonomische Entwicklung Spielergehälter mit 787 Millionen Euro aus, was einem Anteil an den Gesamtaufwendun- Fußball dominiert mit großem Abstand den gen von 39 Prozent entspricht. ❙2 professionellen Sport in Deutschland – das gilt für die Zahl der Aktiven wie auch pas- Die Bundesliga ist wirtschaftlich weit- siv Interessierten, aber viel mehr noch ge- gehend gesund – abgesehen von einzelnen messen an wirtschaftlichen Kennzahlen. Clubs, die sich aufgrund hoher Investitio- Nach Umsatz rangiert selbst die 3. Liga im nen und unerwartet geringem sportlichen Fußball noch vor der Handball-Bundes- Erfolg nun konsolidieren müssen. Ein Blick liga (HBL), der Deutschen Eishockeyliga in die Bilanzen bestätigt die gute Verfassung (DEL) und der Deutschen Basketball-Bun- der Bundesliga: Das Eigenkapital der Verei- desliga (BBL). ❙1 Der Abstand des Fußballs ne betrug zum 30. Juni 2012 rund 779 Millio- wächst sogar noch – die Weltmeisterschaft nen Euro. Auf der Aktivseite stehen das Sach- 2006 in Deutschland hat ihm einen zusätz- und Anlagevermögen und die Forderungen, lichen Schub verliehen. Nahezu alle Alters- auf der Passivseite die Verbindlichkeiten und und Einkommensschichten interessieren sich als Saldo aus Vermögen plus Forderungen für Fußball, insgesamt zwei Drittel der Be- minus Verbindlichkeiten das Eigenkapital. völkerung. Über 44 000 Zuschauer kommen Auf der Aktivseite stehen unter anderem Fi- durchschnittlich pro Spiel in die Stadien. Mit nanzanlagevermögen in Höhe von 474 Milli- der Saison 2011/12 hat die Bundesliga beim onen Euro, Sachanlagevermögen in Höhe von Umsatz sogar die Zwei-Milliarden-Euro- 237 Millionen Euro und ein Spielervermögen Grenze überschritten. In der Saison 2001/02 in Höhe von 371 Millionen Euro zu Buche, war es noch rund eine Milliarde Euro. Auch auf der Passivseite unter anderem 624 Milli- die Zweite Bundesliga entwickelt sich solide. onen Euro an Verbindlichkeiten. Die Eigen- Die Kombination aus sportlichem Erfolg und kapitalquote, das ist der Anteil des Eigenka- gesunder finanzieller Basis machen die Bun- pitals an der Bilanzsumme (Gesamtkapital), desliga womöglich zu einem Erfolgsmodell beträgt damit rund 44 Prozent. und Vorbild auch auf europäischer Ebene. Besonders eindrucksvoll ist die Entwick- Interessant ist die Verteilung der Ein- lung der Fernsehgelder in der Bundes­liga. nahmen und Ausgaben der Bundesligaver- Gab es in den Anfängen der Bundesliga eine. Die Einnahmen aus dem Ticketver- „nur“ eine knappe halbe Million Euro, sind kauf (441 Millionen Euro), der Werbung es ab der Saison 2013/14 rund 628 Millionen (553 Millionen Euro) und den Medienrech- Euro. Die Liberalisierung der Telekommuni- ten (546 Millionen Euro) machen mit je- kationsmärkte und das Aufkommen des Pri- weils rund einem Viertel den größten Anteil vatfernsehens haben maßgeblich dazu bei- an den Gesamteinnahmen aus. Die Struktur getragen. Zweifelhaft ist aus ökonomischer und ordnungspolitischer Sicht, ob die öffent- lich-rechtlichen Anstalten um Fußballrechte ❙1 Die 3. Liga erzielte 2010/11 einen Umsatz von 112,3 Millionen Euro, die HBL 84,4 Millionen, die DEL 79,2 Millionen und die BBL 60,9 Millionen. Der ❙2 Vgl. Deutsche Fußball Liga (Hrsg.), Bundes­ Umsatz der Fußball-Bundesliga lag in jener Saison liga Report 2013, Frank­furt/M. 2013, online: www. bei über 1,9 Milliarden Euro. Vgl. Finanzreport deut- bundesliga.de/media/native/autosync/report_2013_ scher Profisportligen, in: Sponsors, (2011) 12, S. 55. dt_72dpi.pdf (3. 6. 2013).

28 APuZ 27–28/2013 mitbieten sollten, da es kein Versagen priva- Internationaler Vergleich ter Märkte gibt und Fußball nicht im engeren Sinne zum öffentlich-rechtlichen Programm- Die Bundesliga agiert nicht allein auf dem auftrag gehört. heimischen Markt, sondern ist über die Wett- bewerbe des europäischen Fußballverban- des UEFA und die Auslandsvermarktung Geben und Nehmen auch auf internationalen Märkten engagiert. Ein guter Gradmesser für die wirtschaftli- Nicht zuletzt macht sich der Wirtschaftsfak- che und sportliche Entwicklung der Bundes- tor Fußball auch fiskalisch bemerkbar. Die liga ist ihre Position gegenüber den anderen Bundesliga zahlte in der Saison 2011/12 ins- großen europäischen Ligen. Ein internati- gesamt fast 662 Millionen Euro an Steuern onaler Vergleich ist jedoch insofern schwie- und Abgaben, davon 174 Millionen Umsatz- rig, als sich die heimischen Märkte und damit steuer (abzüglich Vorsteuer) und 363 Millio- das Erlöspotenzial zwischen den nationa- nen Euro Lohnsteuer. Allerdings profitiert len Ligen erheblich unterscheiden. Deutsch- die Bundesliga auch in besonderer Weise von land stellt gemessen an Einwohnerzahl, Pro- öffentlich finanzierter Infrastruktur, etwa Kopf-Einkommen und Fußball-Affinität den von der Zuwegung zu Stadien, dem öffentli- größten Markt in Europa dar. Insoweit ist es chen Nahverkehr, Subventionen bei Stadion- nicht überraschend, dass die Zuschauerzah- bauten oder Polizeieinsätzen an Spieltagen. len in den Stadien und vor dem Fernsehen höher sind. Entsprechend hoch sind die Er- Gerade in strukturschwachen Regionen löse aus dem heimischen Markt. Andere eu- stellen Bundesligavereine oftmals einen wich- ropäische Ligen dagegen sind in der interna- tigen Wirtschaftsfaktor dar. Um zu verhin- tionalen Vermarktung erfolgreicher, wie etwa dern, dass die positiven regionalwirtschaft- die spanische Primera División, die aufgrund lichen Effekte durch einen etwaigen Abstieg ihrer vielen Stars attraktiv ist, oder die eng- in Gefahr geraten, unterstützen Kommunen lische Premier League, die wegen des Com- den ortsansässigen Verein oftmals auf vielfäl- monwealth historisch bedingt einen großen tige Weise, etwa durch Aufschub von Steuer- internationalen Markt findet. schulden oder mithilfe von Subventionen bei Stadionneubauten. Da eine andere Nutzung Was den Gesamtumsatz aus TV-Rechten, eines Fußballstadions als durch den regiona- Werbung, Sponsoring, Merchandising und len Fußballclub ohnehin kaum möglich ist, Ticketing betrifft, führt die Premier League stellt der kommunale Besitz des Stadions oft die Rangliste der großen Fußballligen seit nur eine verdeckte Finanzhilfe für den Verein Jahren unangefochten an (Umsatz 2010/11: dar. In Europa befinden sich über die Hälf- 2,5 Milliarden Euro). Es folgen dahinter die te der Stadien und Trainingsanlagen im kom- Bundesliga (1,75 Milliarden Euro), die Pri- munalen Besitz. ❙3 mera División (1,72 Milliarden Euro) und die italienische Serie A (1,55 Milliarden Solche staatlichen und kommunalen Hilfen Euro), mit etwas Abstand dann die franzö- stellen jedoch potenziell auch eine Wettbe- sische Ligue 1 (1,04 Milliarden Euro). ❙5 Im werbsverzerrung dar. Vereine mit hoher re- Zeitverlauf zeigt sich, dass die Einnahmen gionaler Bedeutung antizipieren sogar einen für alle Ligen kontinuierlich steigen. Die möglichen bailout durch die Kommune und globale Finanzkrise und die europäische gehen stärker ins finanzielle Risiko. Und tat- Schuldenkrise haben aber dazu geführt, sächlich fangen die Kommunen in finanzi- dass auch der Fußball, wenngleich sich die- elle Nöte geratene Vereine oftmals auf, was ser ziemlich robust und krisenfest gezeigt gerade in Zeiten überschuldeter Kommunen hat, einen Rückgang des Umsatzwachstums höchst umstritten ist. ❙4 hinnehmen musste. Der italienische Fußball hat in den vergangenen Jahren insgesamt an ❙3 Vgl. UEFA, Benchmarking-Bericht zur Club­lizen­ Bedeutung eingebüßt – in den 1980er Jah- zie­rung in Europa – Finanzjahr 2011, Nyon 2012. ❙4 Im März 2012 erklärten der EU-Wettbewerbskom- missar Joaquín Almunia und der UEFA-Präsident ❙5 Der Bundesliga-Umsatz weicht hier von der oben Michel Platini, künftig stärker gegen Staatshilfen im genannten Zahl ab, da in diesem Vergleich die Trans- Fußball vorzugehen, um Wettbewerbsverzerrungen fererlöse nicht enthalten sind. Vgl. Deloitte, Annual zu vermeiden. Review of Football Finance, London 2012.

APuZ 27–28/2013 29 ren noch führend, haben marode Stadi- Im Gegensatz zu den USA, wo der Profi- en, Gewalt und Rassismus unter den Fans, sport in „geschlossenen“ Ligen organisiert aber auch Korruptionsskandale unter den ist, ist in Europa die „offene“ Liga mit Auf- Funktionären zu einem Abstieg der Serie A und Abstieg vom Profibereich bis hinunter in ­geführt. den Amateurbereich das vorherrschende Mo- dell. Der Anbieter von Fußball in Deutsch- Die umsatzstärksten Ligen sind zugleich land ist die Deutsche Fußball Liga (DFL), die sportlich erfolgreichsten: In der UEFA- in der die Profivereine organisiert sind. Sie Fünfjahreswertung, in der sich die Erfol- vergibt einerseits die Lizenzen an die Verei- ge der Vereine in den europäischen Wett- ne für den Spielbetrieb und vermarktet ande- bewerben jeweils in Punkten für ihr Land rerseits die Fernseh- und Werberechte. Aus niederschlagen, führt Spanien vor England, ökonomischer Sicht tritt die DFL damit als Deutschland, Italien und Frankreich. Die Monopolist auf den Absatzmärkten und als Bundesliga ist in den vergangenen Jahren Monopsonist (einziger Nachfrager) auf den deutlich dichter an Spanien und England her- Faktormärkten auf (Abbildung). Die Nach- angerückt. So offensichtlich zunächst der Zu- frage nach Trainern, Spielern, Beratern etc. sammenhang zwischen Umsatz und sportli- konzentriert sich bei der DFL als Vertretung chem Erfolg sein mag, die Kausalität ist indes der Profivereine. Auf der Vermarktungssei- nicht eindeutig: Wer erfolgreich ist, verzeich- te schöpft die DFL sämtliche Monopolren- net zwar hohe Einnahmen und kann mehr ten ab: Werden zum Beispiel die TV-Rechte für gute Spieler ausgeben. Wichtig ist darüber exklusiv an einen Sender vergeben, ist dieser hinaus aber nicht nur die Höhe des Gesamt- Monopolist auf dem Programmmarkt und umsatzes, sondern auch dessen Verteilung: kann entsprechende Werbeerlöse erzielen. Es fällt auf, dass zum Beispiel der Umsatz der Diese kalkuliert der Sender aber im Aukti- Primera División deutlich geringer ist als in onsverfahren um die TV-Rechte schon ein, so der Premier League; jedoch konzentrieren dass letztlich diese Einnahmen über die TV- sich die Umsätze im Wesentlichen auf Real Rechte an die DFL fließen. Madrid und den FC Barcelona, was jeden- falls zum Teil den sportlichen Erfolg Spani- Häufig wird beklagt, dass die Einnahmen ens erklärt. aus der medialen Vermarktung, insbesondere der Fernsehrechte, im Vergleich zu anderen europäischen Ligen zu gering seien. Dagegen „Monopol Bundesliga“ sind die Werbeeinnahmen in der Bundesliga deutlich höher als in anderen Ländern. Wird Im Zuge der Kommerzialisierung des Fuß- Fußball stärker im Free-TV vermarktet, ver- balls sind viele lukrative Märkte entstanden. zichtet man möglicherweise auf Mehrein- Das „Produkt“, das im Mittelpunkt steht, ist nahmen aus einer alternativen Pay-TV-Ver- der Fußball selbst, also der Spielbetrieb. Die- marktung, jedoch ist im Free-TV die Zahl ses wird gemeinschaftlich von den Vereinen der Zuschauer deutlich höher und es wird erstellt. Gleichzeitig befinden sich die Verei- für Unternehmen attraktiver, mehr Geld für ne in Konkurrenz zueinander. Dieses Span- Sponsoring auszugeben. Auch lohnen sich nungsfeld zwischen dem individuellen Be- Werbespots eher im Umfeld von Fußballsen- streben, als Verein möglichst erfolgreich zu dungen im Free-TV; die Fernsehanstalten er- sein, und dem kollektiven Ziel, eine mög- lösen mehr Geld und können im Bieterwett- lichst spannende Liga mit einem entspre- bewerb um die TV-Rechte ihre Angebote chend hohen Zuschauerzuspruch und ho- erhöhen, wodurch auf Umwegen die Einnah- her Vermarktbarkeit anzubieten, wird oft als men letztlich dem Fußball zufließen. „assoziative Konkurrenz“ bezeichnet. Wie ausgeglichen eine Liga wirklich sein muss, um attraktiv für den Zuschauer zu sein, Wettbewerb zwischen und wie man den Spannungsgrad am bes- Vereinen und Ligen ten misst, ist empirisch eine schwierige Fra- ge. Zuschauer können auch daran interessiert Proficlubs haben mit „Vereinen“ im enge- sein, internationale Stars oder – wie im DFB- ren Sinne kaum noch etwas zu tun. Sie sind Pokal – „Goliath“ gegen „David“ verlieren zu echten Unternehmen geworden. Ihr Ma- zu sehen. nagement hat sich professionalisiert, es gibt

30 APuZ 27–28/2013 Abbildung: Akteure und Märkte im Fußball-Business

Zuschauer Ticketing Rezipienten- Markt Pay-TV vergibt vergibt TV- und Transfer- Vereine Lizenz Bundesliga (DFL) Markt Medien- Free-TV Rechte

MONOPSON auf MONOPOL auf Faktormärkten Absatzmärkten Internet Werbe- Sponsoring Markt Unternehmen

Quelle: eigene Darstellung. ein Corporate Governance, das die Aufgaben Der Wettbewerb zwischen den Vereinen ist von Vorständen und deren Kontrolle durch ein spezieller – er gleicht einem „Rattenren- Aufsichtsräte regelt. Und schließlich hat sich nen“: Es kommt darauf an, unter allen Um- die Rechtsform von Fußballclubs gewandelt. ständen vor seinen Konkurrenten ins Ziel Immer häufiger wird die Lizenzspielerabtei- zu gelangen. Die ökonomischen Anreize in lung eines Vereins „ausgelagert“, um professi- einem solchen rat race sind extrem, denn es oneller und unabhängiger agieren zu können, zählt nur der erste Platz; nur der Sieger erhält zum Beispiel in der Frage der Finanzierung das „große Stück Käse“. ❙6 Übertragen auf den und der Mitbestimmung. In Europa sind Fußball bedeutet dieses: Wer Meister wird, nur noch knapp ein Drittel der Clubs echte qualifiziert sich für die Champions League, ­Vereine. kassiert viel Geld, welches in die Mann- schaft reinvestiert werden kann und dafür Nicht ganz so klar ist indes der Unterneh- sorgt, dass man die einmal eroberte Positi- menszweck. Anders als für „normale“ Un- on behaupten und sogar festigen kann. Am ternehmen geht es den Proficlubs nicht um Ende aber kann nur einer als Erster durch Gewinnmaximierung, eher schon um Erlös- das Ziel gehen und nur für einen die Rech- maximierung, um mit den Einnahmen in den nung tatsächlich auch aufgehen. Diese Art sportlichen Erfolg zu investieren. Mediale von Wettbewerb wird auch „positionaler“ Aufmerksamkeit, Prestige für Vereinsfunk- Wettbewerb genannt. Die Anreize sind sehr tionäre und Zufriedenheit bei den vielfälti- kurzfristig angelegt, was erklärt, weshalb im gen „Stakeholdern“ eines Vereins, von den Fußball die verantwortlichen Funktionäre so Fans über die Medien bis hin zu den Sponso- ungeduldig sind und oftmals Trainer vorzei- ren, dürften zu den diffusen Zielen eines Ver- tig entlassen, bevor diese überhaupt ihr Kon- eins gehören. Vereine konkurrieren primär zept haben umsetzen können. Die Anrei- um sportlichen Erfolg und – daraus abgelei- ze, dem kurzfristigen Erfolg nachzulaufen, tet – um Zuschauer, Sponsoren und natürlich können zudem zu einem „Überinvestitions- Spieler. Mit dem bekannten „Bosman-Ur- verhalten“ führen. ❙7 Die Vereine verschulden teil“ sind 1995 Ablösesummen bei abgelaufe- sich in der Erwartung, an das große Geld zu nen Verträgen und „Ausländerquoten“ vom gelangen, mit dem sie dann – so die Kalkula- Europäischen Gerichtshof als unvereinbar tion – die Schulden begleichen können. mit dem Grundrecht auf Arbeitnehmerfrei- zügigkeit im Europäischen Binnenmarkt er- 6 klärt worden. Dieses Urteil bedeutete eine ❙ Vgl. George A. Akerlof, Economics of caste and of starke Veränderung des Wettbewerbs zwi- rat race and other woeful tales, in: Quarterly Journal of Economics, 90 (1996), S. 599–617. schen den Vereinen, die seitdem – in natio- ❙7 Vgl. Henning Vöpel, Wettbewerb und Regulie- nalen Ligen organisiert – auf internationalen rung in der Fußball-Bundesliga, in: Wirtschaftswis- Transfermärkten agieren. senschaftliches Studium, 38 (2009) 12, S. 629–634.

APuZ 27–28/2013 31 Die natürliche Monopolisierungstendenz ein Verein sich schon fast notwendig für die in Ligawettbewerben steht in Konflikt zu Champions League qualifizieren. Die UEFA dem übergeordneten Ziel einer professionel- schüttete in der Saison 2012/13 über 1,2 Mil- len Liga, nämlich einen spannenden und at- liarden Euro an Prämien für die Teilneh- traktiven Wettbewerb zu „produzieren“. mer an der Champions League und der Eu- Der Unterhaltungswert des Sports entsteht ropa League aus, davon rund 900 Millionen zu Teilen aus der Unvorhersagbarkeit des allein für die Champions League. Als fixe Ausgangs (Uncertainty-of-outcome-Hypo­ Prämie gibt es für jede der 32 teilnehmenden these). Es liegt daher im kollektiven Interesse Mannschaften 8,6 Millionen Euro, der Sie- der Vereine, die gemeinsame Grundlage des ger der Champions League kann insgesamt kommerziellen Erfolgs, die Ausgeglichen- über 60 Millionen Euro einnehmen. Hinzu heit zwischen den Vereinen (competitive ba- kommen bei einem solchen Erfolg noch Zu- lance) und somit die Spannung der Liga zu wächse bei den Einnahmen aus Merchandi- erhalten. ❙8 Um die beschriebenen Mono- sing, Sponsoring und schließlich steigt auch polisierungstendenzen abzuschwächen, ist der Wert des Kaders. der Ligawettbewerb häufig reguliert. In der Bundesliga findet ein Finanzausgleich statt. In einer schwierigen finanziellen Situation Die Fernsehgelder aus der Zentralvermark- befindet sich die 3. Liga. Sie stellt das Binde- tung werden unter den Vereinen nach einem glied zwischen dem Amateurbereich und dem Schlüssel aufgeteilt. Eine zentrale Vermark- Profifußball dar. Oftmals haben die ambiti- tung der TV-Rechte, wie sie in der Bundes- onierten Drittligisten ähnlich hohe Kosten, liga praktiziert wird, ist jedoch – anders als aber deutlich geringere Einnahmen als die oft behauptet wird – keine Voraussetzung für Vereine der Zweiten Bundesliga. Gelingt der eine Umverteilung der Erlöse; dies kann auch Aufstieg nicht, geraten Vereine oft in finanzi- bei Einzelvermarktung über einen gemeinsa- elle Probleme, weil sich der teure Kader nicht men Pool erfolgen. ❙9 lange mit den geringen Einnahmen finanzie- ren lässt. Eine stärkere Angleichung der Ein- In der Bundesliga sind die finanziellen Un- nahmen könnte hier die sportliche Durchläs- terschiede zwischen den Vereinen trotz Um- sigkeit zwischen den Ligen und insbesondere verteilung der Einnahmen sehr groß. Aller- zwischen der Dritten und der Zweiten Liga dings zeigt sich, dass ihre Platzierung am deutlich erhöhen. Zwar ist die Durchlässig- Saisonende nicht immer mit der Höhe ihres keit durch Auf- und Abstieg formal gegeben, Lizenzspieleretats korreliert. Immer wieder zumeist handelt es sich dabei aber um „Fahr- werden vor allem durch kleinere Vereine neue stuhlmannschaften“, die zwischen den Ligen und junge Talente entdekt. Viele der Vereine, hin- und herpendeln, aber kaum Chancen ha- die überraschende Erfolge feierten, wie zu- ben, sich zu etablieren. letzt der SC Freiburg oder Eintracht Frank- furt, stecken jedoch in einer Art „Erfolgsfal- Auf europäischer Ebene gibt es einen ex- le“: Durch den sportlichen Erfolg steigt der klusiven „Club“ von Clubs, die sich auf- Marktwert ihrer Spieler. Steigen die Einnah- grund ähnlicher Interessen ehemals zu der men nicht in gleichem Ausmaß mit, sind die sogenannten G14 zusammengeschlossen ha- Spieler nicht refinanzierbar und werden an ben. ❙10 Ihre Verhandlungsmacht gegenüber andere Vereine abgegeben. Die Folge: Verei- der UEFA ist relativ groß und so gibt es im- ne wie Freiburg oder Frankfurt fallen wieder mer wieder mal die Drohung dieser Vereine, in ihre Ausgangslage zurück, bevor sie eine sich abzuspalten und eine eigene europäische nachhaltige Aufwärtsentwicklung initiieren Liga zu gründen. Das Marktpotenzial dieser können. Um dieser Falle zu entgehen, muss Vereine ist riesig; allein der Erlös von Real Madrid betrug in der Saison 2011/12 erst- ❙8 Vgl. u. a. Stefan Szymanski, Income inequality, mals über eine halbe Milliarde Euro. Schlüs- competitive balance and the attractiveness of team sel für den dauerhaften Aufstieg von Verei- sports: some evidence and a natural experiment from nen in die europäische Spitze ist nationale English soccer, in: The Economic Journal, 111 (2001), Dominanz; sie garantiert die wiederkehren- S. F69–F84. ❙9 Vgl. Jörn Kruse/Jörn Quitzau, Fußball-Fernseh- rechte – Aspekte der Zentralvermarktung, Diskussi- ❙10 Mittlerweile ist die „G14“ durch die European onspapier Nr. 14, Universität der Bundeswehr Ham- Club Association (ECA) ersetzt worden, der 207 Ver- burg 2003. eine aus 53 UEFA-Mitgliedsländern angehören.

32 APuZ 27–28/2013 den Einnahmen aus der Champions League. bedrohlich, zumal eine echte Überschuldung Dies gilt jedoch nur für Vereine aus Ländern nicht droht. Die Summe der Verbindlichkei- mit einem großen heimischen Fußballmarkt. ten aller europäischen Erstligaclubs betrug Der Unternehmenswert vieler europäischer 2011 rund 18,5 Milliarden Euro, die Summe Spitzenclubs erreicht mehr als eine Milliarde aller Vermögenswerte rund 21,8 Milliarden Euro. Real Madrid führt laut einer Liste des Euro. Bei Erträgen von insgesamt 13,2 Mil- Magazins „Forbes“ die Rangliste mit rund liarden Euro im Jahr 2011 wurden 6,9 Milli- 2,5 Milliarden Euro vor Manchester United arden Euro für Spielergehälter ausgegeben. ❙13 und FC Barcelona an. ❙11 Die Verschuldung der europäischen Clubs ist somit allgemein nicht zwingend besorgnis- erregend. Dass einzelne Vereine in Schwie- Financial Fair Play? rigkeiten geraten könnten, stellt keine sys- temische Gefahr für den Fußball dar. Auch Im europäischen Profivereinsfußball haben der Anstieg bei den Spielergehältern ist durch in den vergangenen Jahren die Verschuldung den Zuwachs an Einnahmen gedeckt. Gera- einiger Vereine und der Einfluss von Mä- de jene Spieler, die in der Lage sind, „große zenen und Investoren deutlich zugenom- Spiele“ zu entscheiden, lenken aufgrund ih- men. Die UEFA sieht laut eigener Aussage rer Verhandlungsmacht die steigenden Ein- die „Integrität und die langfristige Finanz- nahmen der Vereine als Gehalt zu sich um. stabilität des Fußballs“ in Gefahr. Zudem Der oft als „Inflation der Spielergehälter“ be- wird der Anstieg der Spielergehälter, die un- zeichnete Anstieg ist ökonomisch somit ge- moralische Ausmaße angenommen hätten, rechtfertigt, denn schließlich sind es die Spie- mit Sorge gesehen. Aus diesem Grund hat ler, die das „Produkt Fußball“ erstellen. der europäische Fußballverband mit Beginn der Saison 2013/14 das sogenannte Financial Das eigentliche „Marktversagen“ im Fuß- Fairplay eingeführt. ❙12 Kern dieser Regelung ball besteht in der Art des Wettbewerbs, ist die Break-even-Bedingung: Vereine dür- wie sie oben geschildert wurde. Das Verbot, fen nur noch so viel ausgeben, wie sie vorher Schulden zu machen und Geld von Investo- eingenommen haben. Weiterhin gibt es eine ren zu verwenden, trägt nur oberflächlich Definition der hierfür maßgeblichen „rele- dazu bei, die finanziellen Probleme im Fuß- vanten Einnahmen“ und „relevanten Ausga- ball zu lösen; es geht die Symptome an, aber ben“. Zu den Einnahmen zählen nur jene aus nicht die Ursachen. Im Gegenteil: Die Ausge- dem operativen Fußballgeschäft, nicht dazu glichenheit und Durchlässigkeit im Fußball, zählen Gelder von Investoren. Auf der an- die competitive balance, wird sogar negativ deren Seite werden bei den relevanten Aus- beeinflusst. Die extremen Anreize des „Rat- gaben Investitionen in Infrastruktur und tenrennens“ werden nicht durch ein Verbot Jugendarbeit nicht hinzugezählt, damit die des Schuldenmachens geheilt, sondern durch Finanzierung der Substanz und der langfris- eine stärkere Umverteilung der Einnahmen tigen Grundlagen des Fußballs nicht einge- gemildert. Mehr noch: Ohne eine begleiten- schränkt wird. de Umverteilung stellt das Financial Fairplay sogar eine Beschränkung des Wettbewerbs Tatsächlich scheinen die Ziele der UEFA dar. Die bestehende Hierarchie wird zemen- auf den ersten Blick plausibel und sinnvoll. tiert, weil es keine Möglichkeit mehr für die Doch wie sieht der empirische Befund aus? kleineren Vereine gibt, über eine temporäre Zwar sind die kumulierten Verluste im euro- Verschuldung in den Aufbau eines erfolgrei- päischen Fußball von 2007 bis 2011 deutlich chen Teams zu investieren. Wenn die Ausga- gestiegen (von 600 Millionen auf fast 1,7 Mil- ben auf die Höhe der Einnahmen beschränkt liarden Euro), wodurch ihr Anteil an den Er- sind, bleiben die reichen Clubs reich und die trägen auf rund 12 Prozent angewachsen ist, armen Clubs arm. Financial Fairplay schützt aber dennoch ist ein solcher Wert noch nicht also die Position der führenden Clubs und er- richtet eine Markteintrittsbarriere für kleine- re Vereine. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob ❙11 Vgl. Bayern erstmals mit Milliarden-Wert, 17. 4. ​ allein die Höhe der Verschuldung ein adäqua- 2013, www.sport1.de/de/fussball/fussball_bundesli- ga/newspage_704945.html (1. 6. 2013). ter Indikator für gutes Management und soli- ❙12 Vgl. UEFA, Club Licensing and Financial Fair Play Regulations, Nyon 2012. ❙13 Vgl. UEFA (Anm. 3).

APuZ 27–28/2013 33 de Finanzen ist, denn gerade kleinere Vereine fallen so wenige Tore, dass eine Manipulation müssen ihre Investitionen fremdfinanzieren. leichter möglich ist als beispielsweise im Bas- Auch die Überwachung und Sanktionie- ketball, wo ein einzelner Fehlwurf kaum dem rung von Verstößen gegen das Financial Fair- schlechteren Team den Sieg gegen ein besse- play dürfte die regulatorische Praxis vor er- res ­einbringt. hebliche Probleme stellen. Klarer Gewinner des Financial Fairplay dürfe in der Bundes­ Auch Funktionäre geraten immer wieder liga Bayern München sein. Die nationale Do- in den Verdacht der Korruption. Die Ver- minanz wird gestärkt, weil kleinere Verei- gabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ne nicht aufholen können, die internationale an Deutschland oder an Katar 2022 wur- Wettbewerbsfähigkeit erhöht sich, weil die den jüngst als Beispiele genannt. Wie andere europäischen Konkurrenten ihre Ver­eins­ Sportverbände, die ihre Sportart vermarkten finan­zen konsolidieren müssen. Insofern ist sollen, hat auch der Weltverband FIFA kein die Frage, ob Financial Fairplay wirklich fair Interesse daran, Korruption aufzudecken, ist, berechtigt. ❙14 weil dies dem Ruf der Sportart und schließ- lich seiner Vermarktung schaden könnte. Ähnlich verhält es sich im Radsport mit der Wettmanipulation und Korruption Aufklärung von Dopingfällen. Die Ausarbei- tung eines Code of Honour oder von Compli- Durch das „große Geld“, das um ihn herum ance-Regeln helfen nur wenig. Die Kontrolle zirkuliert, gerät der Fußball immer wieder müsste einer externen Instanz übertragen in den Verdacht von Korruption und Wett- werden, um Unabhängigkeit und Transpa- manipulation. Der erste Skandal in der Bun- renz zu gewährleisten. desliga ereignete sich 1970/71, als es durch Schmiergeldzahlungen zu Spielmanipulati- onen gekommen war. Im Jahr 2005 hat der Ausblick „Hoyzer-Skandal“ im Zusammenhang mit Wettmanipulationen für Schlagzeilen ge- Die Bundesliga stellt mittlerweile einen wich- sorgt, und jüngst war zu lesen, dass Inter- tigen Wirtschaftsfaktor dar. Im Spannungs- pol mehrere Dutzend Fälle von verschobenen feld von rechtlicher Autonomie, wirtschaftli- Spielen verfolgt. Die Bekämpfung der „Wett- cher Monopolstellung und gesellschaftlicher mafia“, in der offenbar auch Spieler, Funktio- Verantwortung entstehen zahlreiche Inter- näre und Schiedsrichter beteiligt sind, gehört dependenzen und Konflikte. Die wichtigs- zu den wichtigsten Aufgaben der Verbände, te Frage in diesem Zusammenhang ist wohl, um die Integrität und Glaubwürdigkeit des wie der Fußball in seiner unaufhaltbaren Fußballs zu retten. Kommerzialisierung die Glaubwürdigkeit erhalten kann, die Werte des Sports – Fair- Die Liberalisierung der Wettmärkte und ness, Solidarität und Verantwortung – ge- die Kommerzialisierung des Fußballs ma- genüber den vielfältigen Stakeholdern, aber chen den professionellen Fußball anfällig für insbesondere gegenüber der Gesellschaft zu Korruption und Manipulation. Jedoch gibt vertreten. Der Schlüssel hierfür liegt in der es kaum ein Mittel dagegen. Auch eine Re- Transparenz – ob für die DFL, die UEFA gulierung und mehr Transparenz der Wett- oder die FIFA. Ansonsten verlieren die Ver- märkte stellen keine Lösung dar. Im Prin- bände die Legitimation dafür, die Geschicke zip reicht eine private Wette zwischen zwei des Fußballs zu lenken und gleichzeitig sei- Milliardären irgendwo auf der Welt, um ei- ne Tradition und Kultur zu bewahren. Da- nen Anreiz zu bieten, Spieler oder Schieds- für ist es notwendig, den Fußball nicht allein richter zu bestechen. Im Fußball passieren als Business, sondern zuallererst als Spiel zu zudem so viele unbeabsichtigte Fehlleistun- verstehen. gen, dass eine Absicht nur sehr schwer auf- zudecken und nachzuweisen ist. Gleichzeitig spielt der Zufall eine so große Rolle, und es

❙14 Vgl. Henning Vöpel, Do we really need Finan- cial Fairplay in European club football?, in: CESifo DICE Report, (2011) 3, S. 54–59.

34 APuZ 27–28/2013 Gerd Dembowski erst erfunden werden. Im Falle des moder- nen Fußballs ist die Geschichte der Aufla- dung von Symbolen und Farben mit Tradi- Organisierte Fan- tionen und Leerformeln, die so weit reichen, dass sich möglichst viele damit identifizieren szenen: Zwischen können, noch sehr jung. Zwar bedeutete die Professionalisierung des empfundener höherklassigen Fußballs historisch eine Öff- nung für Spieler und Zuschauer aller sozialer Schichten, ❙3 doch die Transformation der Ver- ­Enteignung und eine und ihrer Akteure blieb nicht ohne Aus- wirkungen auf das Publikum, wie der Sozio- loge Gerd Hortleder bereits nach elf Jahren Self-Empowerment Bundesliga konstatierte: Die Zuschauerschaft „betrachtet die Spieler und insbesondere die ie Geschichte organisierter Fansze- Stars als Produkte der Dienst­leis­tungs­indus­ Dnen in Deutschland ❙1 ist eine des Abre- trie. (…) Der Abstand zwischen Publikum und agierens, der Aufladungen und Ambivalen- Spielern ist inzwischen so groß geworden, dass zen. Die Spannweite eine totale Identifikation immer seltener wird Gerd Dembowski reicht dabei von Freu- und darüber hinaus zeitlich begrenzt ist“. ❙4 Die Dipl.-Sozialwissenschaftler, de zu Trauer, von Bin- fortschreitende Professionalisierung, Kommer- geb. 1972; wissenschaftli- dung und Halt zu Ent- zialisierung, „Oligopolisierung“ ❙5 und „Eventi- cher Mitarbeiter in der Kom- grenzung und Verlust, sierung“ der Bundesliga – von ihrer Gründung petenzgruppe Fankulturen von Gemeinschaft und 1963 bis zur heutigen, 1992 ❙6 eingeleiteten Phase & Sport bezogene Soziale Verständigung bis hin des „postmodernen Fußballs“ – vollzieht sich Arbeit (KoFaS) am Institut für zu Feindschaft, Aus- als Drahtseilakt zwischen suggerierter Nähe Sportwissenschaft der Leibniz grenzung und Hass. und einer fortschreitenden Distanzierung des Universität Hannover; Mitglied Dies bestätigen auch Sports von seinen Fans. Aus den Wechsel- der AG Antidiskriminierung die Soziologen Gabri- wirkungen von intrapersonellen und sozia- beim Deutschen Fußball-Bund; ele Klein und Michael len Identitäten ❙7 entstehen immer wieder neu KoFaS, Moritzwinkel 6, Meuser, wenn sie Fuß- erzählte Versionen von Realität. Schließlich 30167 Hannover. ball als „ein geeignetes gerd.dembowski@sportwiss. Medium und ein(en) ❙1 uni-hannover.de geeignete(n) Ort so- Dieser Text bezieht sich ausschließlich auf den deutschen Männerfußball und seine organisierten zialer In- und Exklu- Fanszenen. sion“ deuten: „Er gilt vielen als ein proba- ❙2 Gabriele Klein/Michael Meuser, Fußball, Poli­ tik, tes Mittel gesellschaftlicher Integration, aber Vergemeinschaftung. Zur Einführung, in: dies. Fußball ist auch Kristallisationspunkt so- (Hrsg.), Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des zialer Kämpfe, Austragungsort von Gewalt Fußballs, Bielefeld 2008, S. 7–16, hier: S. 8. ❙3 und Präsentationsraum für neofaschistische Vgl. Detlev Claussen/Diethelm Blecking, Der konkrete Kosmopolitismus im Fußball des 21. Jahr- Gruppen. Während eines Fußballspiels kön- hunderts, in: Diethelm Blecking/Gerd Dem­bow­ski nen – zumindest temporär – soziale Statusun- (Hrsg.), Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und terschiede als unbedeutend erfahren werden, die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frank­ Fußball kann aber auch Rassismus, Nationa- furt/M. 2010, S. 20–28. Siehe auch den Beitrag von lismus und Sexismus provozieren.“ ❙2 Grund- Gunter Gebauer in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). ❙4 legende Voraussetzung dafür bildet die nahe- Gerd Hortleder, Die Faszination des Fußball- spiels. Soziologische Anmerkungen zum Sport als zu zwanghafte Konstruktion unterschiedli- Freizeit und Beruf, Frank­furt/M. 1974, S. 68 f. cher Niveaus von „Wir“ und „Die“: Die Funk- ❙5 Vgl. Rolf Lindner/Heinrich Th. Breuer, „Sind tionalisierung eines „Anderen“ dient dabei doch nicht alle Beckenbauers“. Zur Sozialgeschich- schier unauflösbar den Identifizierungen - ei te des Fußballs im Ruhrgebiet, Frank­furt/M. 1978, nes „eigenen“ Selbst und steigert sich fließend S. 84 ff. ❙6 in ein „Wir sind besser als die Anderen“. Vgl. Christoph Biermann, Das Jahr der Großen Revolution, in: 11 Freunde, 132 (2012), S. 24–31. ❙7 Vgl. Henri Tajfel/John C. Turner, The Social Iden- Zur symbolischen Aufwertung des Selbst tity Theory of Intergroup Behaviour, in: European mit Hilfe einer Gemeinschaft muss Letztere Journal of Social Psychology, (1986) 1, S. 149–178.

APuZ 27–28/2013 35 kommen und gehen Spieler, Trainer und Spon- gangruppen. ❙11 Während Stehplatzareale insti- soren in immer kürzeren Abständen; selbst tutionell lange per se als Sicherheitsschwach- Stadionnamen, ihre Standorte, Trikotfarben stelle und zum Teil als Brutstätten für Gewalt und Vereinslogos sind zunehmend flexibel ge- ausgemacht wurden, waren die zunehmend worden. Während greifbare Identitätsange- unauffällig und markenbewusst gekleideten bote abnehmen, entwickeln organisierte Fan- Hooligans der 1980er und 1990er Jahre als gruppen zunehmend ein eher instrumentelles, selbsternannte Fanelite in Abgrenzung vom durchaus kritisches Verhältnis zum eigenen „Pöbel“ bereits in die vermeintlich schickeren Verein. Zwar wirkt die historisch noch jun- Sitzplatzbereiche abgewandert. Auf Fantren- ge Erfindung des „eigenen Vereins“ weiterhin nung im Stadion und auf den An- und Abrei- etabliert wie ein Naturgesetz. ❙8 Aber diverse sewegen wurde mit Ausweichmanövern, ge- Positionierungen des Vereins werden proak- zielten Verabredungen und Distanzwaffen tiv und massenwirksam angeprangert, beson- (etwa Abschussstifte für Leuchtspurmuniti- ders wenn sie als Beschneidung des Auslebens on) reagiert. Die institutionelle Betrachtung von Fantum und Verlust von Traditionsbezug von Gewaltförmigkeit durch eine vorrangig empfunden werden. ordnungspolitische Brille verstärkte darüber hinaus die spezifische Ausfeilung interner Hackordnungen und Strategien des Gruppen- Kurze Protestgeschichte aufretens in gewaltaffinen Gruppierungen.

Mit der Einführung der Bundesliga, der im Solche Techniken von Hooligans und ande- Laufe ihrer Geschichte fortschreitenden ren, situativ zu Gewalt neigenden „Fans“ sind Kommerzialisierung, der damit verbundenen durchaus als indirekte Folge beziehungswei- sozialen Aufwertung des Fußballs sowie der se Nebeneffekt von Professionalisierung und regionalen Ausdehnung von Ligenkonstellati- Kommerzialisierung und der damit einher- onen änderten sich vielerorts auch Lokal- und gehenden Disziplinierung von Fankulturen Derbyrivalitäten. ❙9 Zugleich wurde das Po- zu betrachten. Die anteilig zwar nur im Pro- tenzial für Herabwürdigungen und Gewalt- millebereich messbare, aber medial äußerst förmigkeiten unter Stadionbesuchern mit der auffällige Hooligangewalt geriet in der Folge Zeit immer weniger abhängig von direkten, zum Anlass für eine völlige Trennung gegne- vom Spielverlauf erzeugten Emotionen; Fan- rischer Fangruppen durch entsprechende bau- szenen kennzeichnete generell „eine immer liche und polizeiliche Maßnahmen, wodurch größer werdende Sensibilität für ihre eigene sich jedoch nicht nur potenzielle Gewalttäter, Anwesenheit“. ❙10 Während Organisation und sondern alle Fußballfans (vor allem bei Aus- Vielfalt der Ausdrucksformen von Fan­szenen wärtsspielen) in ihrer Bewegungsfreiheit zu- zunahmen, bildeten sich besonders in den nehmend eingeschränkt sahen. Insbesonde- 1980er Jahren distinguierte, gruppenbezogene re im Vorfeld der Europameisterschaft 2000 soziale Techniken der Gewaltförmigkeit her- in Belgien und den Niederlanden sowie bei aus, die auch losgelöst vom Stadion wirksam der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland werden konnten – beispielsweise in Hooli- wurden derlei Maßnahmen von organisierten Fußballfans verstärkt wahrgenommen und vielfach als Sicher­heits­hysterie kritisiert. ❙8 Dass die Geschichte aller deutschen Fußballver- eine noch jung ist (auch die der sogenannten Tradi- Verschränkt mit der als Gentrifizierung tionsvereine), wird vielfach übersehen – ebenso wie empfundenen Herausdrängung der „einfachen die Tatsache, dass Farben, Namen und Standorte von Fans“ zugunsten zahlungskräftiger Kund- Vereinen und deren Stadien nicht erst seit Beginn des schaft (etwa durch Reduzierung der Stehplät- postmodernen Fußballs auswechselbar sind. ❙9 Vgl. Rudolf Oswald, „Von Tschammer und Os- ze, Einführung von VIP-Logen, Erhöhung ten – dein Pokal soll verrosten“. Fankulturen in der der Ticketpreise), formierten sich ab Anfang Kaiserzeit, im Nationalsozialismus und in der frü- hen Bundesrepublik, in: Martin Thein (Hrsg.), Fuß- ball, deine Fans. Ein Jahrhundert deutsche Fankul- ❙11 Vgl. Dieter Bott, Fußballfans, Hooligans und Le- tur, Göttingen 2013, S. 30–42. genden, in: ders./Marvin Chlada/Gerd Dembowski ❙10 Gunter A. Pilz, Zur Geschichte der Fußballbe- (Hrsg.), Ball & Birne. Zur Kritik der herrschenden geisterung, in: Peter Becker/ders. (Hrsg.), Die Welt Fußballkultur, Hamburg 1998, S. 109–120; Randall der Fans. Aspekte einer Jugendkultur, München Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologi- 1988, S. 15–20, hier: S. 20. sche Theorie, Hamburg 2011, S. 498 f.

36 APuZ 27–28/2013 der 1990er Jahre kritische Stimmen und Zu- in fanmultiplikatorisch und gesellschaftsdis- sammenschlüsse von Einzelfans und Fangrup- kursiv prägender Hinsicht wichtige Vorreiter pen. ❙12 Mit Slogans wie „Reclaim the Game!“ für partizipativere und menschenrechtsorien- oder „Sitzen ist für’n Arsch!“ bezogen sie Stel- tiertere Fankulturen. Ihr zum Teil ironisch- lung gegen Kommerzialisierung und als über- distanzierter, humorvoller Einsatz für ein zogen empfundene Sicherheitsansprüche, be- Self-Empowerment junger Fußballfangrup- arbeiteten zum Teil aber auch gesellschaftliche pen passte sich ungewollt in die einsetzende Themen wie Rassismus. Im Verlauf der Saison Gentrifizierung des Fußballs ein: Ihr men- 1993/94 gründete sich unter anderem aus dem schenrechtsorientiertes Engagement impli- Umfeld einer bundesweiten Fanzine-Szene ❙13 zierte auch kulturalisierende Momente, die sowie dem „alternativen“ Milieu um den FC dem Produkt Fußball in seinem feuilletoni- St. Pauli das Bündnis Antifaschistischer Fuß- sierten Image und damit der Ansprache neuer ballfans. Sein Themenspektrum umfasste ne- Zuschauergruppen durchaus zuträglich waren. ben fanpolitischen Themen auch die steigen- den neonazistischen Tendenzen in den Stadien Mit ProFans etablierte sich zu Beginn des sowie die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit neuen Jahrtausends eine nächste, eher von des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und den Ultraszenen getragene Protestorganisa- seiner Vereine. Mit zahlreichen Aktionen en- tion, die aus der Kampagne „Pro 15:30“ für gagierte sich das Bündnis unter anderem für den Samstag als Kernspieltag und fanfreund- den Erhalt der Stehplätze, für die Beibehal- liche Anstoßzeiten hervorging. Auch unter tung des Samstags als weitgehend einheitli- dem bundesweiten Dach Unsere Kurve (UK) chen Spieltag, gegen das als immer absurder fanden Zusammenschlüsse von Fanclubs erachtete Merchandising der Vereine, gegen Aufmerksamkeit von Vereinen und Verbän- privates Bezahlfernsehen, für sozialverträg- den. Auf europäischer Ebene spielten deut- liche Ticketpreise, für die Distanzierung von sche Fußballfans und Fanprojekte seit dem Hooligangruppen, gegen aggressiven Nati- Ende der 1990er Jahre zudem eine erhebliche onalismus, Rassismus und zunehmend auch Rolle beim Aufbau des Netzwerks Football gegen andere Formen von Diskriminierung. Against Racism in Europe (FARE), beim an- Nicht zuletzt diese Themenvielfalt führte tirassistischen Ultra-Zusammenschluss Aler- Ende 1995 zur Umbenennung in Bündnis Ak- ta sowie bei der Fanvertretung Football Sup- tiver Fußballfans (BAFF). porters Europe (FSE). Über Lobbyarbeit beim europäischen Fußballverband UEFA Wichtige Mittel der Interessenvertretung und beim Weltverband FIFA wirken sie auf waren dabei zum Beispiel die eigenen Szene­ die nationalen Fandiskurse zurück. publikationen, Aktionen mit Bannern, Flug- zetteln und Unterschriftenlisten in und um Trotz ihrer ausgeprägten Freund-Feind- Stadien, Fankongresse, thematisch unterleg- Einstellungsmuster koordinieren die Ultra­ te Konzertveranstaltungen, lokale ­Gremien- szenen auch bundesweite Zusammenschlüsse, und Lobbyarbeit in den Fanszenen sowie ge- etwa für Kampagnen wie „Kein Zwanni für zielte Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. nen Steher“ gegen steigende Ticketpreise oder Zusammen mit ähnlichen Initiativen aus dem für Demonstrationen wie „Kein Kick ohne Fanzine- und Fanclubumfeld und sozial­päda­ Fans. Für den Erhalt der Fankultur“ 2010 in go ­gisch orientierten Fanprojekten waren das Berlin. Nach einer erneuten Hysteriewelle BAFF und andere lokale Faninitiativen mit ih- um Gewalt und Pyrotechnik in und um Fuß- ren Aktionen besonders in den 1990er Jahren ballstadien kulminierten ihre Bemühungen 2012 vorläufig in der Initiative „12:12 – Ohne Stimme keine Stimmung“. Auslöser war ein ❙12 Organisierte Fanproteste in lokalen Fanszenen ge- gen wachsende ordnungspolitische Maßnahmen las- von der Deutschen Fußball Liga (DFL) erar- sen sich mindestens seit Ende der 1970er Jahre be- beitetes, neues Sicherheitskonzept („Für ein obachten. Vgl. Gerd Dembowski, Von Gorillas und sicheres Stadionerlebnis“), das unter anderem Blockräumungen. Seit je her protestieren Fans, in: verschärfte Einlasskontrollen vorsah und von Bündnis Aktiver Fußballfans (Hrsg.), Die „schöns- vielen Fans als unangemessen kritisiert wur- ten“ Schikanen gegen Fußballfans. Repression und de. Nachdem Dialogversuche gescheitert wa- Willkür rund ums Stadion, Grafenau 2004, S. 141–145. ❙13 Zahlreiche Ausgaben dieser selbstkopierten Fan- ren, rief „12:12“ die Fans dazu auf, an meh- zeitungen sind im Archiv der Arbeiterjugendbewe- reren Spieltagen bis zur Entscheidung über gung in Oer-Erkenschwick recherchierbar. das Konzept bei allen Bundesligaspielen je-

APuZ 27–28/2013 37 weils die ersten 12 Minuten und 12 Sekunden aber die Fankurve lautstark mitreißen kön- zu schweigen. Da andere Fangruppen und die nen: „Ultras“, so der Fanforscher Jonas Gab- eher „Stimmung konsumierenden“ Zuschau- ler, „haben einen gewissen Vertretungsan- er sich solidarisch zeigten, führte die Akti- spruch, sie wollen die Fanszene nach außen on in den meisten Stadien tatsächlich zeit- und nach innen prägen“. ❙14 Dabei sind sie in weilig zu gespenstischer Stille. Zwar wurde ihrer milieu- und (politisch) interessenspezifi- das Konzept am 12. Dezember dennoch be- schen Zusammensetzung auch gruppenintern schlossen, aber mit dem Stimmungsboykott heterogen – sie bewegen sich in einem Bedürf- hatten die Fans nicht nur enorme Aufmerk- nisdreieck aus Gemeinschaft, Individualismus samkeit erzeugt, sondern vielfach auch grö- und gegenseitiger Hilfe. Noch deutlicher wird ßeres Verständnis für ihre Anliegen. die Heterogenität dann, wenn sich von Grup- pe zu Gruppe und zum Teil situativ von Phase zu Phase unterschiedliche Schwerpunktcha- Ultras: Ambivalente Szene rakteristika ihres Fantums und überzogene Feindschaftsszenarien ausprägen. Das provokative Aufbegehren der seit den 1990er Jahren aufkommenden Ultraszenen Zur Entwicklung eines distinktiven Stils mit Identitätskrücken wie „Tradition“ und orientieren sie sich am sozialen Handeln und „Authentizität“ kann als eine jugend(sub) aufrührerischen Habitus anderer Jugend­ kulturelle Reaktion auf abnehmende Identifi- (sub)­kul­tu­ren. Dieses Identitäts-Patchwork kationsangebote des höherklassigen Fußballs ermöglicht den Einzelnen trotz der Be- gedeutet werden. Mit dem zunehmenden schwörung von Gemeinschaft weiterhin die Wandel des Stadionpublikums in den 1990er Pflege ihrer individuellen Anteile und Posi- Jahren verschob sich auch die Bedeutung von tionierungen. Diese fließenden Ausdifferen- alteingesessenen Fanclubs beziehungsweise zierungsprozesse machen Ultragruppen für „Kuttenträgern“. Während Fanclubs zuneh- Jugendliche als Suchbewegung interessant. mend an Einfluss in den Fankurven einbüß- In ihrer inneren Gruppenvielfalt schaffen sie ten, stieg ihre Anzahl und ihr Einfluss gegen- es, Wünsche nach Zusammenhalt, Nähe, Lo- über den Vereinen als verbindlicher, durchaus yalität, Solidarität und größerem Selbstwert- konsumorientierter Zuschauerstamm. gefühl zu befriedigen.

In ihrer jugendkulturellen Prägung ent- So haben sich Self-Empowerment und eine wickelten Ultras ein kritischeres Verhältnis proaktive Faninteressenvertretung etabliert, zum Verein. Sie entdeckten sich als eine iden- die sich gegen übertriebene Disziplinierung titätscharakteristische Konstante und bilde- und Einschränkung des „Freiraums Stadion“ ten sozusagen einen Verein im Verein, nach wehrt. Gleichzeitig wirken Fanorganisatio- dem Motto: „Spieler kommen, Trainer ge- nen über Wohltätigkeitsaktionen, gemeinwe- hen – wir bleiben.“ Im Zentrum stehen seit- senarbeitsähnliches Ehrenamt mit Hilfe zur dem die vielfältigen Formen ihrer organisier- Selbsthilfe regionalgesellschaftlich: von der ten Stimmungserzeugung als Reaktionen auf Unterstützung bei Hausaufgaben und dem Stimmungsflauten seit Mitte der 1990er Jahre. Schreiben von Bewerbungen bis hin zur Un- Dies verlief stark inspiriert von italienischen terstützung von gewerkschaftlichen Streiks Fankurven: Schillernde und stets wechselnde und sozialen Inklusionsbestrebungen für Choreografien mit Fahnen, Bannern, Spruch- Asylsuchende. In zahlreichen Fanszenen ha- bändern, Doppelhaltern, vielfältigen Gesän- ben Ultras durch ihr Verhalten antirassisti- gen sowie „Vorsängern“ mit Megafon auf dem sche Gruppenkonsense durchsetzen können Zaun als Garant für Gemeinschaftserleben und organisieren Aktionen gegen Antise- und abrufbereite, durch den Ort vorstruk- mitismus, Antiziganismus, Nationalismus, turierte Emotionalität. Darüber hinaus präg- (Hetero-)Sexismus und Homophobie. te sich eine Wettbewerbsmentalität in Sachen Stimmung ebenso aus wie eine häufig elitäre 14 Selbstwahrnehmung der eigenen Gruppe. ❙ Vgl. Jonas Gabler, Rechtsradikalismus und Ras- sismus in der Fußballfankultur in Deutschland, in: AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bun- Ultras empfinden sich inzwischen als Stich- desvorstand der Partei Die Linke (Hrsg.), Rundbrief wortgeber der Kurven, die zwar nur einen mi- 1–2/2012: Nazis in der Kurve? Neonazismus und nimalen Teil der Zuschauerschaft ausmachen, Rassismus im Fußball, S. 4–8, hier: S. 6.

38 APuZ 27–28/2013 Durch ihre Fragilität, Momenthaftigkeit im Umringt von imaginären Hackordnun- Setting eines stets abrufbaren Klimas „Grup- gen und hegemonialer Männlichkeit war und penbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Wil- ist es besonders für Frauen schwer, in den helm Heitmeyer) können einzelne Teilgrup- fan­club­orien­tier­ten Szenen eigene (Grup- pen jedoch ebenso leicht ins Rechtsoffene pen-)Identitäten zu entfalten. Bis heute müs- kippen. Erschwert wird der Kampf um die sen sie – wie auch junge Männer – durch die Positionen noch durch den raschen Wechsel diskursive Schule hegemonial männlich vor- von handelnden Personen („Lautsprecherper- geprägter Fanstrukturen und Hierarchien, sönlichkeiten“), die in drei Jahren nicht mehr um sich zu etablieren. Mit dem Unterschied, unbedingt die gleiche soziale Gruppenposi- dass Frauen meistens Fans auf Bewährung tion innehaben müssen: Ultragruppen sind bleiben: Ihr Interesse droht ständig hinter- mehrheitlich temporär begrenzte Durch- fragt und auf Authentizität überprüft zu laufzentren für prägende Phasen ihrer Mit- werden. Im Gegensatz dazu steht die „patri- glieder in der Austarierung von intraperso- archale Dividende“ der Männer, ❙17 deren Inte- nellen und sozialen Identitäten. Dass man in resse für den Fußball als „natürlich“ gilt. In zahlreichen Gruppen noch weit von antiho- zahlreichen Fanclubs gab es Aufnahmestopps mophoben und antisexistischen Konsensen für Frauen, und bis heute werden Frauen aus entfernt ist und einzelne Gruppenteile im- paternalistischem Schutzdenken und wegen mer wieder Akzeptanz für rechtsoffene Po- des Gruppenansehens bei den sogenannten sitionen äußern können, zeigt die gegenwär- Ultramärschen zum Stadion immer mal wie- tige Entwicklung. Homophobe Sprüche und der aus den vorderen Reihen verbannt. Banner werden krude, zum Teil unreflektiert, aber auch gezielt als „Humor“ getarnt – etwa Dennoch fügen sich zahlreiche Frauen wenn die rechtsoffene Aachener Ultragrup- heutzutage nicht mehr in die ihnen vielfach pe „Karlsbande“ im März 2013 in Anspielung zugedachte, potenzielle Opferrolle. In orga- auf den Namen „Karl-Liebknecht-Stadion“ nisierten Fanszenen versuchen sie mit unter- des SV 03 Babelsberg ein großes Blockban- schiedlichen Herangehensweisen klassische ner spannt, auf dem steht: „Euer Karl ist un- wie subtile (Hetero-)Sexismen zu enttarnen ser Liebesknecht“. Dazu verstecken sich viele und Alternativen zu schaffen. ❙18 Sie besetzen unter dem zweifelhaften Schutzmantel „Kei- den Ort Fußball zunehmend selbstbewusst, ne Politik im Stadion“: So wird menschen- während die Massenwirksamkeit der Männer rechtsorientiertes Engagement bisweilen als sie je nach Situation weiterhin auf sozial kon- „Parteipolitik“ abqualifiziert und werden zi- struierte Zuschreibungen wie Mildtätigkeit vilcouragierte Menschen als „linksorientierte und Friedfertigkeit, zur „Mutter der Kompa- Nestbeschmutzer“ beschimpft. nie“ und zum Sexualobjekt reduzieren kann. Somit bleiben Ultras insgesamt betrachtet in ihrer Entwicklung ambivalente Gruppen, die Hegemoniale Männlichkeit auch konservative Werte und Traditionsbe- und Gewaltförmigkeit bei Ultras wusstsein einbinden können.

Partizipative Aushandlungen befinden sich im Immer bezeichnender werden dabei ter- ständigen Balancekampf mit den auffälligen, ritoriale, sozialdarwinistisch geprägte Aus- durchsetzungsfähigen Köpfen der Gruppe deutungen gegenüber anderen Fangruppen. und finden häufig auf der Folie hegemonialer Ultras erfahren sich als jugend(sub)kulturell Männlichkeit ❙15 und Heteronormativität statt, geprägte Gruppen in einer multiplen Druck- inklusive ihrer scheinmodernisierten Facet- konstellation aus „Wir“ und „Die“: Sie und ten „weicher“ und „trendqueerer“ Männlich- die Ultras des anderen Vereins, sie und „die keiten. ❙16 Polizei“, sie und „die Medien“, sie und „der DFB und die DFL“, sie und „die Politik“, sie ❙15 Vgl. R. Connell, Der gemachte Mann. Konstruk- und „ihr“ anders interessengesteuerter Ver- tion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 20063. ein, sie und andere Fans des eigenen Vereins, ❙16 Vgl. Gerd Dembowski, „Ich hab“ ja nichts gegen Schwule, aber …“. Stichworte zur Modernisierung von hegemonialen Männlichkeiten im deutschen ❙17 Vgl. R. Connell (Anm. 14). Fußball, in: Faninitiative Innsbruck (Hrsg.), Fußball ❙18 Vgl. Almut Sülzle, Fußball, Frauen, Männlich- ohne Vorurteile. Begleitband zur Ausstellung Tatort keiten. Eine ethnographische Studie im Fanblock, Stadion, Innsbruck 2011. Frank­furt/M.–New York 2011.

APuZ 27–28/2013 39 die den Ultra-Interpretationen von Fantum nehmen Ultras ihr gegenüber eine politische nicht immer wohlwollend gegenüberstehen. Protesthaltung ein und kritisieren organisiert polizeiliche Vorgehensweisen, durch die sie ih- Ultras haben sich nicht gegründet, um ak- ren Freiraum willkürlich eingeschränkt sehen. tiv Gewalt zu suchen, sondern um Stimmung Zusätzlich zu dieser im Ursprung als reaktiv zu organisieren. Ihre Ausprägungen von Ge- empfundenen Gewaltkonstellation haben sich waltförmigkeit unterscheiden sich erheblich parallel zum Gemeinschaftsleben innerhalb von denen der besonders in den 1980er und vieler Ultragruppen sogenannte Ackergrup- 1990er Jahren aktiven Hooligans. Auf das pen herausgebildet: In zahlenmäßig minima- nach außen sehr organisiert, zum Teil uni- ler wie loser Zusammensetzung lösen sie sich form wirkende Auftreten von Ultragruppen, im Stile einer Arbeitsgruppe regelmäßig aus ihre expressive, zum Teil brachial wirkende den hauptsächlichen Ultrakontexten heraus, Selbstinszenierung, ihr Aufgreifen überhöh- um sich – zum Teil auch unabhängig von Spie- ter Freund-Feind-Konstellationen mit Re- len – zu körperlichen Auseinandersetzungen vierdenken und Eroberungsritualen ❙19 wur- mit Gleichgesinnten aus anderen Ultragrup- de von Polizei und Politik, von Vereinen und pen körperlich gewalttätig zu messen. Verbänden sowie von zahlreichen Medienver- tretern häufig verkürzend, überwachungs- und repressionsfixiert reagiert. Hinzu kommt Seismografen in der Kurve die öffentliche Umwertung der von Ultras im Stadion gern verwendeten Bengalfackeln. Ju- All diese Merkmale verdeutlichen: Es er- ristisch als Ordnungswidrigkeit und Bagatell- gibt Sinn, Ultras weniger als eine homoge- delikt zu werten, galten sie in der öffentlichen ne Gruppe, sondern vielmehr als „Temporäre Wahrnehmung lange als Kennzeichen „süd- Autonome Zone“ zu begreifen. ❙21 Bliebe man ländischer, toller Stimmung“. Heutzutage bei den eingeführten, seit jeher stark verkür- werden „Bengalos“ von Ultraszenen ebenso zenden Polizeikategorien A (konsumorien- wie von den Ordnungsinstanzen symbolisch tiert), B (vereinszentriert und situativ zur auf- und überbewertet und in der öffentlichen Gewalt neigend) und C (erlebnisorientiert, Debatte häufig mit Gewalt gleichgesetzt, was Hooligans), ❙22 so könnte man sagen, die Ver- auf allen Seiten zu maßlosen Empörungen teilung dieser Kategorien bildete sich inner- führt und konsensuale Lösungen erschwert. halb einer Ultragruppe noch einmal wie un- ter einem Brennglas als Mikrokosmos ab. Ohnmächtig gegenüber der als entfremdend empfundenen Kommerzialisierung des Fuß- Ultragruppen können Masken je nach Ta- balls entwickelte sich bei vielen Ultras eine gesform und auf die Außensituation reagie- Art resistance identity, ❙20 deren soziale Technik rend wechseln – zum Teil können das ihre ein- die organisierte Provokation ist. Heutzutage zelnen Mitglieder als Individuen. Ultras haben schließt die überwiegende Mehrheit deutscher gelernt, sich in ihrem Auftreten und Verhalten Ultragruppen gewaltförmiges Verhalten längst kreativ zu wandeln; sie können positiv wie ne- nicht mehr aus. Im Gegensatz zu den Hooli- gativ verstärkend wie das innere Rädchen ei- gans erleben sie dieses jedoch betont als reak- nes Kugellagers adäquat auf die Bewegungen tiv. Während Hooligans die Polizei auf einer des äußeren Rades aus den funktionstragen- hegemonial männlichen Ebene respektierten, den Institutionen (Vereine, DFB und DFL, Politik und Polizei) innovativ reagieren und ❙19 Während sich Eroberungsrituale beispielswei- teilweise antizipieren. So gesehen bleibt der se über Schal- und Bannerklau abzeichnen können, Weg organisierter Fanszenen mit den Ultra- führt das Revierdenken so weit, dass Ultragruppen gruppen als seismografische Faktoren auch in den Ultragruppen anderer Vereine mitteilen, dass diese sich an markanten oder szenefixierten Orten Zukunft kurvenreich und wandelbar. ihrer Stadt nicht aufhalten „dürfen“. ❙20 Vgl. John M. Hagedorn, A World of Gangs, Minne- apolis, MN 2008. Im Gegensatz zu den von Hagedorn untersuchten Jugendgangs handelt es sich bei Ultras ❙21 Vgl. Hakim Bey, T. A. Z. – Die Temporäre Auto- jedoch um eher bildungsbürgerlich beeinflusste Grup- nome Zone, Berlin 1994. pierungen, die sich – als vorwiegend weiße, deutsche ❙22 Vgl. Wilhelm Heitmeyer/Jörg-Ingo Peter, Jugend- Männer, die außerhalb des Fußballumfeldes relativ liche Fußballfans, Weinheim–München 1988. privilegiert leben können – ohne äußere Not in repres- sive Situationen bringen.

40 APuZ 27–28/2013 Jutta Braun hingegen mehrfach auf: Nach Bronze 1964 und 1972 erreichte die DDR-Elf 1976 sogar den Olympiasieg und errang 1980 noch einmal eine Silbermedaille. Doch war das Interesse an Abseits diesen Auszeichnungen gering, da der olym- pische Wettbewerb im Gegensatz zum Pro- der Bundesliga? fifußball unter Amateuren ausgetragen wur- de. ❙3 Über die Gründe für den mäßigen Erfolg des DDR-Teams ist viel spekuliert worden: Zur Aufarbeitung Wie viele andere sieht der ehemalige Natio- naltrainer Georg Buschner „DDR-Sportchef“ Manfred Ewald als eigentlichen Totengräber des DDR-Fußballs des DDR-Fußballs, da Talente und Ressour- cen vor allem in sogenannte medailleninten- sive Sportarten kanalisiert wurden. ❙4 „Die enn von 50 Jahren Bundesliga als Erin- langen Fußballer sind bei uns Ruderer“, ❙5 er- Wnerungsort ❙1 der Deutschen die Rede ist, klärte 1986 der Jenaer Trainer Lothar Kurbju- so gilt dies nicht allein für das soziale Gedächt- weit entsprechend sarkastisch, als er nach den nis fußballbegeisterter Gründen für die wenigen hochgewachsenen Jutta Braun Westdeutscher. Vor al- DDR-Auswahlspieler gefragt wurde. Dr. phil., geb. 1967; Vorsitzende lem in den 1970er und des Zentrums deutsche Sport- 1980er Jahren war der Die Begeisterung der DDR-Fans für die geschichte Berlin-Brandenburg bundesdeutsche Pro- westdeutschen Kicker war für die SED-Füh- e. V.; assoziierte wissenschaftli- fifußball im Alltag rung, die seit Mitte der 1950er Jahre auf scharfe che Mitarbeiterin am Zentrum für vieler Fußballanhän- Abgrenzung von der Bundesrepublik bedacht Zeithistorische Forschung, Am ger in der DDR dauer- war, ein peinliches Phänomen. Für die Verfech- Neuen Markt 1, 14467 Potsdam. präsent: HSV-Wimpel ter einer „sozialistischen Nation“ ❙6 war beson- [email protected] zierten Jugendzimmer, ders irritierend, dass sich, wie das Leipziger Rummenigge-Auto- Zentralinstitut für Jugendforschung in einer grammkarten waren begehrte Schwarzmarkt- geheim gehaltenen Studie feststellte, ❙7 gerade Trophäen, und natürlich wurden auch ost- die Jugend für die bundesdeutschen Fuß­ball­ deutsche Familienväter samstagnachmittags idole interessierte – und damit eine Generati- magisch vom Fernsehschirm angezogen, wo on, die in der DDR aufgewachsen war und ei- es ein doppeltes Programm zu bewältigen galt: gentlich keinen gesamtdeutschen Bezug mehr „Um 17 Uhr 35 begann ‚Sport aktuell‘ mit kennen sollte. Als 1971 in Warschau anläss- den Berichten von der DDR-Oberliga. Das lich eines EM-Qualifikationsspiels der bun- Thüringen-Derby tobte, Jena gegen Erfurt, desdeutschen Nationalmannschaft Hunderte ein herzaufregendes Superspiel, doch Punkt 18 Uhr schaltete Onkel Rittmüller zur ‚Sport- 1 schau‘ um: nach drüben. Alemannia Aachen ❙ Vgl. Gunter Gebauer, Die Bundesliga, in: Etienne und 1860 München fabrizierten ein gähnendes François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinne- rungsorte, München 2005, S. 463–476. 0:0. ‚Aha‘ schwärmte Onkel Rittmüller, ‚Bun- ❙2 Christoph Dieckmann, Drüben. Vom Verschwin- 2 desliga, das ist wenigstens Fußball!‘“ ❙ den einer deutschen Himmelsrichtung, in: Zeitge- schichtliches Forum Leipzig (Hrsg.), Drüben. Deut- Vor allem die Nationalmannschaft der Bun- sche Blickwechsel, Leipzig 2006, S. 78–87, hier: S. 79. 3 desrepublik mit ihren zwei Welt- und Europa- ❙ Die faktisch unter Profibedingungen trainierende meistertiteln genoss bei Fans in der DDR hohe DDR-Elf nahm offiziell für sich den Amateurstatus in Anspruch. Wertschätzung. Demgegenüber gelang es der ❙4 Vgl. Thomas Stridde, Die Peter-Ducke-Story, Jena DDR-Elf nur einmal, bei der WM 1974, an 2006, S. 46 f. der Endrunde eines internationalen Turniers ❙5 „Der Fußball-Trainer aus Jena leistet sich Träume, teilzunehmen. „Freundschaftsspielweltmeis- weil er Realist ist“, in: Frankfurter Allgemeine Zei- ter“ und „Qualifikationsversager“ sind die tung vom 18. 9. 1986. ❙6 von Enttäuschung geprägten Bezeichnungen, Der Bezug auf die „deutsche Nation“ war in der DDR-Verfassung von 1974 endgültig eliminiert mit denen diese vergleichsweise magere Bilanz worden. im Volksmund belegt wurde. Bei olympischen ❙7 Vgl. Hans-Jörg Stiehler, Jugendliche Fußballfans. Fußballturnieren trumpfte der DDR-Fußball Struktur und Einstellungen, Leipzig 1984.

APuZ 27–28/2013 41 aus der DDR angereiste Fans Grüße an „die die ostdeutschen Fans ihren Fußball liebten: deutsche Nationalelf und den Kaiser Franz“ weniger die Nationalelf, die häufig mit dem skandierten, griff der Sicherheitsapparat rigide System identifiziert wurde, als vielmehr die durch. Die Fans wurden bis an ihren Heimat- Mannschaften der Oberliga und ihres Unter- ort verfolgt und mit empfindlichen Sanktionen baus, der DDR- und Bezirksligen. bestraft. ❙8 Während sich die Sportpolitiker an- derer Staaten in West- und Osteuropa vor al- Im Unterschied zur jüngsten wissenschaft- lem um die wachsende Zahl gewalttätiger Fans lichen Erforschung der bundesdeutschen Fuß- in den Stadien sorgten, schufen sich die DDR- ballgeschichte fehlt bislang jedoch eine ver- Funktionäre ein zusätzliches „Fanproblem“ gleichbare Auseinandersetzung mit 40 Jahren selbst, indem sie Bundesliga-Anhänger pau- DDR-Fußball. Das ist umso bedauerlicher, als schal als „negativ-dekadent“ etikettierten und gerade eine systematische Untersuchung der mit Knüppeln, durch Inoffizielle Stasi-Mitar- auch in Ostdeutschland populärsten Sport- beiter in Fanclubs und weitere Schikanen zu art einen breiten Zugang zum Verständnis der bekehren suchten. Doch ließen sich echte Fans Gesellschaftsgeschichte der DDR erschlie- natürlich nicht abschrecken, und so gerieten ßen kann. Im Folgenden soll anhand von zwei Auftritte von Bundesliga-Clubs im Ostblock Forschungsfeldern das Potenzial des The- stets zu fröhlichen Treffen ihrer ostdeutschen mas ausgelotet werden: Zunächst wird mit der Schlachtenbummler. Verfasstheit des Sports in der DDR, einer „Ver- einskultur ohne Vereine“, das Spannungsver- Im Rahmen des Möglichen wurde der hältnis zwischen politischer Durchherrschung deutsch-deutsche Doppelpass von den west- und Versuchen zivilgesellschaftlicher Selbst­ deutschen Vereinen auch zurückgespielt: So orga­ni­sa­tion umrissen. Anschließend wird ermöglichte es etwa Werder Bremen, dass ost- der Frage der politisch bedingten In- und Ex- deutsche Fans heimlich eine Mitgliedskar- klusion im Bereich des Spitzenfußballs nach- te erhielten. Und FC-Bayern-Präsident Fritz gegangen. Die Ausgrenzung sportlicher Leis- Scherer schmuggelte an einem Winterabend tungsträger aus ideologischen Gründen zeigt, 1981 ein von allen Spielern signiertes Mann- welche Restriktionen die ostdeutsche Diktatur schaftstrikot unter seinem Pullover nach Ost- der Entwicklung des Fußballsports auferlegte Berlin, als Überraschungsgeschenk für einen und hiermit auch zu einem Modernisierungs- der treuesten Fans im Osten. ❙9 Was als freund- defizit beitrug. Gleichzeitig ist die „Kaltstel- schaftliche Geste der Bundesliga-Vereine ge- lung“ von Personen stets auch mit der mora- dacht war, interpretierte die Stasi als organi- lischen Frage des „SED-Unrechts“ verbunden, sierte Agententätigkeit zur „Zersetzung“ der das auch im Sport deutliche Spuren hinterließ. DDR. Nirgends wurde das Misstrauen des Regimes deutlicher als beim Europapokal- spiel der Landesmeister, das der BFC Dyna- Vereinskultur ohne Vereine mo am 15. September 1982 im Ost-Berliner Jahnsportpark gegen den Hamburger SV be- Ein grundlegendes Desiderat der Fußballge- stritt. Um deutsch-deutsche Verbrüderungs- schichte der DDR ist zunächst nach wie vor szenen zu verhindern, wurde ein freier Kar- eine Organisationsgeschichte der Verbands- tenverkauf unterbunden: Nur 2000 Tickets struktur, also des ostdeutschen Pendants zum gingen an handverlesene Fans, die überwälti- Deutschen Fußball-Bund (DFB), des Deut- gende Mehrheit der Plätze auf den Tribünen schen Fußball-Verbandes (DFV) der DDR. ❙11 wurde von Staatsschützern, Funktionären Auch die Ebene der Clubs und Betriebssport- und Sicherheitsorganen eingenommen, dar- gemeinschaften (BSG) ist bis auf wenige Aus- unter etwa 10 000 Stasi-Mitarbeiter. ❙10 Doch nahmen nicht wissenschaftlich fundiert un- sollte die Begeisterung für den Bundesliga- tersucht worden. Die Literatur wird von einer Fußball nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vielzahl entweder lexikalisch ❙12 oder populär-

❙8 Vgl. Protokoll Nr. 55/71 der Sitzung des Sekretariats ❙11 Anders als der DFB war der DFV keine unabhän- des ZK am 17. 11. 1971, SAPMO DY 30/JIV2/3/1809. gige Organisation, sondern der staatlichen Massenor- ❙9 Vgl. René Wiese/Jutta Braun, Doppelpässe – Wie ganisation DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund) die Deutschen die Mauer umspielten, Hamburg 2006, unterstellt. Allerdings fehlt eine Organisationsge- S. 121. schichte des DTSB bislang ebenfalls. ❙10 Vgl. Hanns Leske, Erich Mielke, die Stasi und das ❙12 Vgl. Hanns Leske, Torhüter der DDR – Magneten runde Leder, Göttingen 2004, S. 413. für Lederbälle, Kassel 2010.

42 APuZ 27–28/2013 wissenschaftlich gehaltener Werke zum „Zo- durchaus Proteste gegen die Zwangsumwand- nenfußball“ ❙13 bestimmt. Bislang fehlt vor al- lungen überliefert, ❙19 und in den Turbulenzen lem eine grundsätzliche, wissenschaftliche der Frühphase gab es nicht wenige Republik- Reflexion der Tatsache, dass in der DDR kein fluchten, darunter die des späteren Bundestrai- Vereinswesen bürgerlicher Prägung existierte. ners Helmut Schön im Jahr 1950. Doch auch So wurden auch im Bereich des Fußballs die in den kommenden Jahren präsentierte sich der traditionellen und selbstverwalteten Vereine DDR-Fußball als ein brodelndes Laboratori- faktisch verboten und im Jahr 1948 flächen- um auf dem Feld des „Erfindens von Traditio- deckend durch staatlich gelenkte und kon- nen“: ❙20 Mannschaften wurden per Parteiorder trollierte Körperschaften, die sogenannten in andere Teile des Landes verpflanzt, und mit Sportgemeinschaften, ersetzt. ❙14 Allerdings der Gründung der Sportvereinigung Dyna- hatten die Sportvereine bereits im Nationalso- mo und der Armeesportvereinigung Vorwärts zialismus ein hohes Maß ihrer Eigenständig- wurden explizit Elemente des sowjetischen keit eingebüßt, so dass zur Zeit der DDR be- Sportsystems auf die deutschen Verhältnisse reits die zweite Welle der Umstrukturierung übertragen. des organisierten Sports innerhalb von rund zehn Jahren erfolgte. ❙15 Die SED-Führung be- 1966 wiederum erfolgte ein weiteres grund- absichtigte, strukturell gründlich aufzuräu- legendes Revirement, als mit der Gründung men und „brach radikal mit einem seit über von zehn „Fußballclubs“ die parteilich ge- hundert Jahren verankerten Organisations- wollten „Leistungsschwerpunkte“ im Fuß- prinzip in der deutschen Turn- und Sportbe- ball endgültig definiert und entsprechend wegung“. ❙16 Die Neuformierung des Fußballs ausgestattet wurden. Doch trotz der Viel- betraf nicht allein seine innere Organisation, zahl staatlicher und parteilicher Eingriffe die zumeist als Betriebssportgemeinschaften bewahrten die Betriebssportgemeinschaften nach sowjetischem Modell erfolgte, sondern und Fußballclubs ihre Anhängerschaft bezie- ging einher mit der Einführung von bislang hungsweise fanden sie aufs Neue. Das neue unüblichen Symbolen und Namen wie „Fort- Gewand des Fußballs wurde letztendlich an- schritt“ und „Aktivist“. genommen – selbst einem Club mit dem sper- rigen Titel „ZSK Vorwärts Berlin“ zollten die Die „Entbürgerlichung“ ❙17 wurde zuweilen Fans Respekt und Treue, denn die Armee­ sogar mit Hilfe politischer Justiz vorangetrie- kicker schossen eine Menge Tore. ❙21 Auch ben, wie etwa ein Schauprozess gegen ehema- blieb „Verein“ in der Alltagssprache der DDR lige Anhänger und Mitglieder des Dresdner die gängige Bezeichnung für eine BSG bezie- SC Ende der 1950er Jahre belegt. ❙18 Zwar sind hungsweise einen Club. Fußball in der DDR, mochte er noch so sehr staatlich gelenkt sein, ❙13 Hervorzuheben sind hier die Publikationen von bot auch hier nicht nur Zerstreuung, sondern Frank Willmann, zuletzt: Zonenfußball. Von Wis- die Möglichkeit der regionalen Identifikati- mut Aue bis Rotes Banner Trinwillershagen, Berlin on mit einem Teil der „sozialistischen Hei- 2011. mat“. Fußball, mit seinen Ritualen und den 14 ❙ Vgl. Giselher Spitzer et al. (Hrsg.), Schlüsseldoku- Wochen- wie Jahresrhythmus strukturieren- mente zum DDR-Sport, Aachen 1998, S. 15–74. den Spielplänen, trug durchaus zur Norma- ❙15 Nach der Umbildung des „Deutschen Reichsbun- des für Leibesübungen“ zum Nationalsozialistischen lität des Alltags in der DDR und damit zur 22 Reichsbund für Leibesübungen“ (NSRL) 1938 wurde „heilen Welt der Diktatur“ ❙ bei. die Berufung der Vereinsführer vom Einvernehmen mit dem zuständigen Kreisleiter der NSDAP abhän- gig gemacht und das Recht auf Vereinsauflösung dem ❙19 Vgl. Hans Joachim Teichler, Tumulte in Planitz, NSRL übertragen. Vgl. Hans Joachim Teichler, Die in: Horch und Guck, 51 (2005) 3, S. 10–13. Sportbeschlüsse des Politbüros, Köln 2002, S. 44. ❙20 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (eds.), The In- ❙16 Ebd. vention of Tradition, Cambridge 1984. ❙17 Konrad Jarausch, Kollaps des Kommunismus ❙21 Probleme hatte die Etablierung der neuen Fußball- oder Aufbruch der Zivilgesellschaft?, in: Eckart clubs allerdings in der geteilten Stadt Berlin, da hier Conze/Katharina Gajdukowa/Sigrid Koch-Baum- zahlreiche Ost-Berliner weiterhin zum vertrauten garten (Hrsg.), Die demokratische Revolution 1989 Verein Hertha BSC hielten. Vgl. René Wiese, Wie der in der DDR, Köln u. a. 2009, S. 25–45; hier S. 27. Fußball Löcher in die Mauer schoss, in: Jutta Braun/ ❙18 Vgl. die zeitgenössische propagandistische Aus- Hans Joachim Teichler (Hrsg.), Sportstadt Berlin im wertung: Horst Bartzsch, Verbrechen unter dem Kalten Krieg, Berlin 2006, S. 239–284. Deckmantel „sportlicher Traditionen“, in: Theorie ❙22 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Praxis der Körperkultur, 6 (1959), S. 485–489. und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Bonn 1998.

APuZ 27–28/2013 43 Gleichzeitig gelang es der SED jedoch nicht, derten, den Fußballsport beliebig zu instru- den Fußball, der wie der Sport der DDR gene- mentalisieren. rell neben der Produktion von Leistung auch ein „organisiertes Weltbild“ ❙23 zu transportie- Doch war auch der Fußballsport der DDR ren hatte, zu einem Transmissionsriemen ih- in weiten Teilen von Dirigismus der Par- rer politischen Botschaften werden zu lassen. tei und Stasi-Verstrickungen geprägt. Diese Davon zeugt zum einen die spöttische Dis- Durchherrschung ist von Hanns Leske tanzierung der Spieler von der obligatorischen für den in dieser Hinsicht besonders ein- ideologischen Schulung als lästige „Rotlicht- schlägigen BFC Dynamo, dessen Ehren- bestrahlung“, vor allem aber das alles andere vorsitzender der Minister für Staatssicher- als staatskonforme Auftreten der Fans in den heit Erich Mielke war, gründlich erforscht 1970er und 1980er Jahren. Von „Wismut Aue worden. ❙28 Die verhängnisvollen Verdäch- bis Rotes Banner Trinwillershagen“ ❙24 entfal- tigungen, die einen Sportler oder Funktio- tete sich eine bunte Fankultur, die in ihrem när treffen und ihn das Berufsleben kosten Spektrum sämtliche Spielarten der entspre- konnten, waren immer wieder mit den glei- chenden Fanszene im Westen aufzuweisen chen Schlagworten verbunden: Kontakte mit hatte. Hilflos erscheinen die gescheiterten dem „Klassenfeind“, damit waren vor allem Versuche der SED-Sportführung, die Fan- Bundesdeutsche gemeint, oder Beziehun- clubs mit Hilfe staatlicher Eingriffe zu homo- gen zu „Staatsfeinden“, wozu etwa ostdeut- genisieren, indem nur Utensilien und Fahnen sche Bürgerrechtler oder Ausreiseantragstel- erlaubt sein sollten, die der Symbolik der Fuß- ler zählten. Anhand von zwei Beispielen soll ballteams entsprachen. ❙25 im Folgenden gezeigt werden, wie das ideo- logische Fallbeil selbst erfolgreichste Per- Insofern wäre zu fragen, inwieweit der sönlichkeiten im Fußballsport unvermittelt „Fußball Marke DDR“ trotz seiner orga- treffen konnte. nisatorisch völlig anders gearteten Grund- lage auch im Osten zu einem Fixpunkt von – staatlich nicht erwünschter – Selbstorgani- Verhängnis Fair Play: Heinz Krügel sation werden konnte. Hierzu gehört auch, dass ehrgeizige Betriebssportgemeinschaften 2014, wenn die Fans bei der WM in Brasi- wie Stahl Brandenburg es schafften, den ma- lien mitfiebern, werden zahlreiche Medi- teriell und kaderpolitisch privilegierten, und en auch an das 40-jährige Jubiläum der Fuß- damit für die Oberliga prädestinierten Fuß- ball-WM von 1974 erinnern, bei der nicht ballclubs die Stirn zu bieten. Mit Hilfe groß- nur die Bundesrepublik Weltmeister wur- zügiger Prämien und gezielter Rekrutierung de, sondern Jürgen Sparwasser sein berühm- von Talenten verstanden es Kombinatsdi- tes Überraschungstor für die DDR gegen das rektoren, die sportpolitisch programmierte bundesdeutsche Team erzielte. Doch für vie- Überlegenheit der FC zu konterkarieren und le DDR-Fußballanhänger ist mit dem Jahr den Traum vom Aufstieg zu verwirklichen. ❙26 1974 vor allem die legendäre Nacht von Rot- Hier ist es auch möglich, die Grenzen einer terdam verbunden, als der 1. FC Magdeburg Diktatur ❙27 aufzuzeigen, die offenbar verhin- am 8. Mai den Sieg im Europapokal der Po- kalsieger und damit den größten Erfolg des ❙23 Zu Vereinen als Trägern kultureller Sinnstiftung DDR-Fußballs erreichte. Unvergessen sind vgl. Frank Bösch, Das konservative Milieu. Ver- die Fernsehbilder, als die erschöpften, aber einskultur und lokale Sammlungspolitik, Göttingen glücklichen Magdeburger in weißen Mali- 2002, S. 57 f. mo-Bademänteln ihre Ehrenrunde über das ❙24 F. Willmann (Anm. 13). Spielfeld im Stadion „De Kuip“ drehten, ❙25 Vgl. Jutta Braun, Sportfreunde oder Staatsfeinde, in: Deutschland Archiv, (2004) 3, S. 440–447, hier: S. 441. während die mit 2:0 geschlagenen Titelver- ❙26 Vgl. Uta Klaedtke, „Stahl Feuer!!!“ – Die Fuß- teidiger des AC Milan fassungslos die Köpfe baller des Stahl- und Walzwerkes Brandenburg zwi- hängen ließen. ❙29 schen politischer Anpassung und betrieblichem Ei- gensinn, in: Hans Joachim Teichler (Hrsg.), Sport in der DDR. Eigensinn, Konflikte, Trends, Köln 2003, ❙28 Vgl. H. Leske (Anm. 10), S. 518 f. S. 238–270, hier: S. 264. ❙29 Vgl. Peter Skubowius, Krügels Börde-Frücht- ❙27 Vgl. Ralph Jessen/Richard Bessel (Hrsg.), Die chen, in: Horst Friedemann (Hrsg.), Sparwasser und Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der Mauerblümchen. Die Geschichte des Fußballs in der DDR, Göttingen 1996. DDR 1949–1991, Essen 19962, S. 115–121.

44 APuZ 27–28/2013 Zum Helden wurde an diesem Abend auch Büßen für den Sohn: Walter Jahn Heinz Krügel. Einst hatte der Sachse als jüngs- ter Trainer der Oberliga in Leipzig begonnen Ein zweites Beispiel für die Rücksichtslosig- und von 1959 bis 1961 die Verantwortung für die keit, mit der das SED-Regime verdiente Fuß- DDR-Nationalmannschaft übernommen, be- ball-Idole aussortierte und diffamierte, so- vor Mitte der 1960er Jahre seine Zeit beim 1. FC bald sie politisch in Ungnade gefallen waren, Magdeburg begann, mit dem er zwei Pokalsiege ist das Schicksal von Walter Jahn, „Vaterfigur und drei Meisterschaften feierte. Nach dem Er- des Jenaer Nachwuchsfußballs“, ❙33 und Vater folg von Rotterdam versprach das Los im Eu- des Bürgerrechtlers Roland Jahn, des heuti- ropapokal der Landesmeister noch im selben gen Bundesbeauftragten für die Unterlagen Jahr einen weiteren Höhepunkt: das Aufeinan- des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen dertreffen mit dem Bundesliga-Meister Bayern DDR. Jahn war bereits seit 1948 als Sportfunk- München. Am 6. November 1974 kam es beim tionär aktiv, dreißig Jahre lang leitete er die Rückspiel in Magdeburg jedoch zu einem po- Nachwuchsabteilung des FC Carl Zeiss Jena. litischen Fauxpas des altgedienten Trainers: Vor allem als Talentspäher genoss er einen „Das Schlimmste war nach der Halbzeitpause, glänzenden Ruf, an die zwanzig spätere Nati- da kommt einer von der Stasi zu mir und sagt: onalspieler holte er nach Jena. Auch sein Sohn ‚Herr Krügel, wir möchten Sie aufmerksam ma- Roland wuchs mit dem Fußballsport auf: „Das chen, wir haben zur Halbzeit von Herrn Lat- Ernst-Abbe-Sportfeld war mein Zuhause.“ ❙34 tek alles gehört, was er gesagt hat gegen uns.‘“ ❙30 Und tatsächlich schaffte es der junge Jahn bis Das Ministerium für Staatssicherheit hatte of- in die Juniorenoberliga, bevor er sich endgültig fenkundig die Bayern-Kabine im Magdeburger für die Aufnahme eines Studiums und damit Ernst-Grube-Stadion verwanzen lassen und einen Weg abseits des Sports entschied. drängte Krügel, die Anweisungen des Bayern- Trainers an seine Spieler auszuwerten. Krügel Nicht allein im Fußballclub, auch im Kom- weigerte sich mit dem Verweis auf sportliche binat von Carl Zeiss agierte der parteilose Fairness – eine folgenschwere Entscheidung. Walter Jahn an verantwortlicher Stelle: Die Die Magdeburger verloren das Spiel, und kurz von ihm geleitete Forschungsabteilung ent- darauf wurde Heinz Krügel zur Berliner Ver- wickelte eine Multispektralkamera, die bei bandsleitung zitiert, die ihm das baldige Ende Sigmund Jähns Weltraumfahrt zum Einsatz seiner Trainerkarriere androhte. kam. Er schaffte es sogar, dem Kosmonau- ten nicht nur die Kamera, sondern auch einen Krügel lag bereits seit längerer Zeit mit der Vereinswimpel mit auf die Reise zu geben. SED-Bezirksleitung im Streit: ❙31 Zum einen ig- norierte er die praxisfernen Trainingspläne des Doch spielte sein Engagement über Nacht Verbandes, die ein Dauerärgernis im DDR- keine Rolle mehr, als Sohn Roland, der mitt- Fußball darstellten, zum anderen machte er lerweile als Bürgerrechtler in der Jenaer Frie- sich für ideologisch unkorrekte Modernisie- densbewegung aktiv war, zum Staatsfeind er- rungen wie etwa die Einführung von Trikot- klärt und am 7. Juni 1983 gewaltsam in den und Bandenwerbung stark. 1976 erhielt Krü- Westen abgeschoben wurde. Bereits am nächs- gel eine lebenslange Sperre als Trainer. Fortan ten Tag bekam auch der Vater die Reaktion des musste er als „Objektleiter“ in der Hausver- Staates zu spüren: Auf Weisung des Vereins waltung bei der unterklassigen BSG Motor wurden alle Arbeitsunterlagen zum Sportclub Mitte Magdeburg sein Dasein fristen. Versuche aus seiner Wohnung entfernt. Der führende des Trainers und späteren Staatsanwalts Bernd Vereinsfunktionär und Inoffizielle Mitarbei- Tiedge, sich für seine Rehabilitierung einzuset- ter „Günter Eisler“ kündigte zudem der ört- zen, wurden vom DFV rigoros abgeblockt. ❙32 lichen Stasi an, Walter Jahns Kandidatur für die Vorstandswahlen im FC Carl Zeiss Jena zu verhindern. Es folgten weitere Diskriminie- ❙30 Michael Barsuhn, Gespräch mit Heinz Krügel rungen, sowohl durch die Sportführung des und Bernd Tiedge, 24. 5. 2008 in Magdeburg. Bezirkes Gera als auch von Angehörigen des 31 ❙ Das schwierige Verhältnis des Trainers zur SED- FC Carl Zeiss Jena. „Es wurde angewiesen, Bezirksleitung rekapituliert Jürgen Sparwasser in sei- nen Erinnerungen. Vgl. Wolfgang Nagorske, „Spar- wasser, Sparwasser, Toor!“ Biographie eines Stürmers, ❙33 T. Stridde (Anm. 4), S. 45. Cottbus 2008, S. 159 ff. ❙34 Jutta Braun, Gespräch mit Roland Jahn, 29. 4. 2013 ❙32 Vgl. M. Barsuhn (Anm. 30). in Berlin.

APuZ 27–28/2013 45 keine Gespräche mit mir zu führen. Wer mit historische Aufklärung bemühte, mittlerweile mir spricht, sei politisch untragbar und setze eine umfassende Würdigung. ❙40 seine Arbeit und seine weitere Karriere aufs Spiel. Ich war unter Sportlern unerwünscht und damit ein Störfaktor.“ ❙35 Verwandte und Perspektiven der Forschung Bekannte zogen sich aus Angst zurück; er erfuhr eine soziale Ausgrenzung, die in ei- Auch Heinz Krügel erfuhr noch zu Leb- ner mittelgroßen Stadt wie Jena bedrückende zeiten eine Rehabilitierung. Zudem wur- Ausmaße annehmen konnte. Doch am gra- de im Juni 2009, ein Jahr nach seinem Tod, vierendsten erlebte Jahn den „Rausschmiss“ der Platz vor dem Magdeburger Stadion aus seinem Verein, der einer Aberkennung nach ihm benannt. Doch muss betont wer- seines Lebenswerkes gleichkam. ❙36 Die drei den, dass es für das Ende einer Sportkarrie- Jahre zuvor verliehene Ehrenmitgliedschaft re in der SED-Diktatur nicht eines streitba- wurde ihm entzogen, und auch an der Jubilä- ren Temperaments oder eines Bürgerrechtlers umsveranstaltung zum 20-jährigen Bestehen als Sohn bedurfte. So entzog ein „Fußballbe- des Clubs im Januar 1986 durfte er nicht teil- schluss“ des DFV aus dem Jahr 1970 pauschal nehmen, weil er aufgrund der „üblen Tätig- allen Fußballern mit Westverwandtschaft die keit von Roland“ als nicht erwünscht galt. ❙37 Spielgenehmigung. Es ist wenig verwunder- lich, dass Kritik an staatlicher Gängelung Erst zehn Jahre später, nach der Friedlichen und an Übergriffen der SED und der Stasi zu Revolution 1989 und der Vereinigung im Fuß- den wichtigsten Vorwürfen vieler Delegierter ballsport 1990, kam es zur „Wiedergutma- gehörte, als es im Rahmen des achten DFV- chung“. Zur Feier des 30-jährigen Clubjubilä- Verbandstages am 31. März 1990 zur ersten ums erhielt Jahn im Januar 1996 die Ehrentitel freien Aussprache in diesem Gremium kam. seines Vereins zurück. Als einer der Ersten – Auch Heinz Krügel ließ sich die Gelegenheit zeitgleich mit den frühesten historischen For- nicht nehmen, die Verantwortlichen mit der schungen zum DDR-Sport – suchte Walter unwürdigen Situation der Verwanzung der Jahn nach Antworten und Verantwortlichen Bayern-Kabine zu konfrontieren. ❙41 für sein Schicksal und fand sie in der papierenen Hinterlassenschaft der Diktatur. Im März 1995 Viele der handelnden Akteure des DDR- stellte er einen Forschungsantrag bei der BStU Fußballs und der Wendezeit sind mittlerwei- zum „Einfluss des MfS auf den FC Carl Zeiss le verstorben. Historiker müssen sich beeilen, Jena“. ❙38 Für seine akribische Dokumentation, wollen sie die Geschichte des DDR-Fußballs die mehrere Bände umfasst, interessierte sich nicht allein aus Akten rekonstruieren. Im April der organisierte Fußball damals jedoch nur we- 2013 kündigte DFB-Präsident Wolfgang Niers- nig. Von ehemaligen Kollegen wurde Jahn ob bach die Ausschreibung mehrerer Forschungs- seiner Recherchearbeit sogar beschimpft. ❙39 Im projekte an, um die Organisations- und Club- Rahmen einer historischen Aufarbeitung des geschichte, die Kultur und Alltagsgeschichte Sports in Thüringen erhält die Arbeit von Wal- sowie den Fußball im Vereinigungsprozess un- ter Jahn sowohl als Fußballlehrer als auch als tersuchen zu lassen. Sollte der Ball der Auf- von Repression Betroffener, der sich selbst um arbeitung zügig ins Rollen kommen, könn- ten bereits im Jahr 2015, zum 25. Jahrestag ❙35 Walter Jahn, „Du bist wie Gift“. Erinnerungen ei- der „Fußball-Einheit“, die der erste Reform- nes Vaters, hrsg. vom LStU Thüringen, Erfurt 1996. präsident des Ost-Fußballs Hans-Georg Mol- ❙36 Vgl. J. Braun (Anm. 34). denhauer und DFB-Präsident Hermann Neu- 37 ❙ Auch Rolands Bruder Jürgen wurde sozial ausge- berger am 21. November 1990 in Leipzig mit grenzt, bis er schließlich ausreiste. Vgl. Gerald Pra- einem historischen Handschlag besiegelten, schel, Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef, Ber- lin 2011, S. 86. Das Muster der „Sippenhaft“ ist vor erste Ergebnisse vorgestellt werden. allem auch bei republikflüchtigen Fußballern ausführ- lich dokumentiert. Vgl. etwa das Interview mit Falko ❙40 Vgl. Jutta Braun/Michael Barsuhn, Zwischen Er- Götz im Rahmen der Ausstellung „ZOV-Sportverrä- folgs- und Diktaturgeschichte. Sport in Thüringen, ter“, online: www.zov-sportverraeter.de .(13. 5 ​2013). Göttingen 2013 (i. E.). ❙38 Vgl. Walter Jahn, Dokumentation. Der Einfluss ❙41 Vgl. Michael Barsuhn, Die Wende und Vereini- des MfS auf den FC Carl Zeiss Jena, 1996, Privat­ gung im Fußball 1989/1990, in: J. Braun/H. J. Teich- archiv Roland Jahn. Eine Kopie lagert im Thüringer ler (Anm. 21), S. 376–415, hier: S. 393. Archiv für Zeitgeschichte. ❙39 Vgl. T. Stridde (Anm. 4), S. 47.

46 APuZ 27–28/2013 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail über die neuen Ausgaben. Dr. Asiye Öztürk Johannes Piepenbrink Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell (verantwortlich für diese Ausgabe) Anne Seibring Sarah Laukamp (Volontärin) Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected]

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Uwe Seeler 3–8 „Es geht nur miteinander.“ Ein Gespräch Der Ehrenspielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und erste Bun- desliga-Torschützenkönig spricht unter anderem über die Einführung der Bun- desliga, die Nähe des Fußballs zur Politik und Tipps an seinen Enkel.

Gunter Gebauer 8–14 Vom „Proletensport“ zum „Kulturgut“ Fußball ist weder eine Institution der politischen Geschichte noch der hohen Kul- tur; er füllt jedoch im nationalen Symbolhaushalt eine Stelle aus, die sonst leer bleiben würde. Dennoch dauerte es lange, bis er von den Eliten akzeptiert wurde.

Dietrich Schulze-Marmeling 14–20 Wegmarken aus 50 Jahren Bundesliga Der DFB hatte sich lange gegen eine Nationalliga gewehrt, weil diese ohne eine Legai ­l ­sie­rung des Profifußballs nicht zu realisieren war. Auch nach ihrer Gründung war es für die Bundesliga noch ein weiter Weg bis zur eigenständigen Profiliga.

Nils Havemann 21–27 Wirtschafts- und kulturgeschichtliche Betrachtungen Wird die Geschichte der Bundesliga auf die Nacherzählung von wichtigen Spielen reduziert, tendiert ihr Erkenntniswert gegen null. Anders verhält es sich, wenn sie mit kultur- und wirtschaftshistorischen Problemstellungen verknüpft wird.

Henning Vöpel 27–34 Wirtschaftsmacht Bundesliga Die Bundesliga stellt mittlerweile einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Im Span- nungsfeld von rechtlicher Autonomie, wirtschaftlicher Monopolstellung und gesell- schaftlicher Verantwortung entstehen zahlreiche Interdependenzen und Konflikte.

Gerd Dembowski 35–40 Organisierte Fanszenen: Zwischen empfundener ­Enteignung und Self-Empowerment Seit Anfang der 1990er Jahre beziehen Fans kritisch Stellung gegen Kommerzia- lisierung im Fußball und als überzogen empfundene Sicherheitsansprüche. Ultra- gruppen bearbeiten zum Teil aber auch gesellschaftliche Themen wie Rassismus.

Jutta Braun 41–46 Abseits der Bundesliga? Zur Aufarbeitung des DDR-Fußballs Wenn von der Bundesliga als Erinnerungsort die Rede ist, so gilt dies nicht nur für das soziale Gedächtnis Westdeutscher. Die Liga war im Alltag vieler DDR-Bürger dauerpräsent. Die Aufarbeitung des DDR-Fußballs steht indes noch am Anfang.