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Eva Witzel Die Konstitution der Dinge Phänomene der Abstraktion bei Andreas Gursky

Dezember 2011, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1827-3

Mit seinen monumentalen Fotografien gilt Andreas Gursky wie kaum ein an- derer zeitgenössischer Künstler als Diagnostiker der Globalisierung. Sein In- strument: eine neue Bildsprache, deren Ausdrucksfülle stets in Zusammen- hang mit der Abstraktion und der digitalen Bildbearbeitung gesehen wird. Eva Witzel legt mit diesem Buch die erste umfassende Untersuchung der Ab- straktionsphänomene in Gurskys Werk von 1984 bis 2001 vor und identifi- ziert in synoptischer Analyse die Phasen und Strategien der Bildfindung. Da- bei etabliert sie den Terminus »abstrakt« für die thematische Interpretation: als essenzielle Verdichtung des Motivs, die über den singulären Gegenstand hinaus auf etwas Universales weist.

Eva Witzel (Dr. phil.) hat Kunstgeschichte in Bamberg, und Venedig studiert, war Volontärin am Saarlandmuseum und Kuratorin an der Kunst- halle Emden. Sie lebt in .

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© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Inhalt

I. Einleitung | 13

1. Thema | 13 2. Fragestellung und Methodik | 18 3. Literaturbericht | 22 4. Zur Person Gursky | 29

II. Theoretischer Diskurs zur Abstraktion | 37

1. Der Begriff der Abstraktion – Eine philosophische, kunsthistorische und fototheoretische Annäherung | 37 2. Das Ornament als Vermittlungsprinzip | 51 3. ‚Allegorische Potenz‘ | 60 4. Prinzipien für Gursky – potenzielle ‚fotografische Prägnanz‘ | 69

III. Zum Abstraktionsverständnis bei Andreas Gursky: Abbild versus Abstraktion? | 73

1. Strukturkategorie: Das Abstrahierende und das Ornamentale | 73 1.1 Das Abbild erhöht das Abgebildete | 73 1.1.1 Zufallsblick | 74 1.1.2 Horizontale Perspektive | 86 1.1.3 Architektonische Perspektivfluchten | 97 1.1.4 Turmperspektive | 107 1.1.5 Panorama | 113 1.1.6 Vogelperspektive | 118 1.1.7 Surreale Welten | 126 1.1.8 Resümee | 128

Vergleichendes Intermezzo A 1.2 Das Abstrahierende und das Ornamentale in der Tradition der Landschaftsmalerei | 133 1.2.1 Albrecht Altdorfer | 133 1.2.2 Pieter Bruegel d.Ä. | 136 1.2.3 Jan Vermeer | 141 1.2.4 | 150

1.3 Wahrnehmung von „Weltgegenden“ | 160

2. Strukturkategorie: Das Konstruktive und das Ornament | 163 2.1 ‚Ordnungsprinzipien‘ | 163 2.1.1 Konstruktion im Innenraum | 164 2.1.2 Konstruktion Außenarchitektur | 172 2.1.3 All-over im Innenraum | 188 2.1.4 Over-all | 201 2.1.5 Geometrisierung | 212 2.1.6 Hyperordnung | 220 2.1.7 Konstellation | 225 2.1.8 Resümee | 228

Vergleichendes Intermezzo B 2.2 Das Konstruktive und das Ornament in der Tradition der abstrakten Malerei | 232 2.2.1 Piet Mondrian | 233 2.2.2 | 240 2.2.3 Jackson Pollock | 246

2.3 Wahrnehmung von Weltbildern der Masse | 255

3. Strukturkategorie: Abstraktion durch Anschauung | 265 3.1 Strategien fotografischer Abstraktionen | 265 3.1.1 Monochrome Anschauungen | 266 3.1.2 Strukturfelder | 274 3.1.3 Zitate der Malerei | 285 3.1.4 Resümee | 290

Vergleichendes Intermezzo C 3.2 Abstrakte Malerei im Vergleich | 292 3.2.1 Gerhard Richter | 292 3.2.2 Mark Rothko | 296

3.3 Bildliche Raum-Zeit-Phänomene | 301

IV. Reflexionen | 307

1. Gurskys Position in der Fotografiegeschichte – Rückblick, Ausweg, Etablierung, Ausblick | 307 2. Intermedialität: Malerei, Fotografie und Digitalisierung im Dialog | 322 3. Schluss: Die Strukturmomente im Gesamtwerk | 340

V. Literaturverzeichnis | 347

I. Einleitung

„Meine Vorliebe für klare Strukturen ist das Ergebnis meines Bedürfnisses – was vielleicht eine Illusion ist – die Dinge nicht aus den Augen zu verlie- ren und die Welt im Griff zu behal- ten.“ ANDREAS GURSKY

1. THEMA

Nicht die Welt, aber die im Zeitraum von 1984 bis 2001 entstandenen Fotografien von Andreas Gursky „im Griff zu behalten“, ist Anliegen dieser Arbeit. Den Ansatz dazu bieten die formalästhetischen Abstra- hierungsphänomene und Abstraktionsstrukturen, die sich mittelbar und unmittelbar im Werk manifestieren und die sich zu einem übergreifen- den Interpretament innerhalb der Werkgenese Gurskys entwickelt ha- ben.

„In der Tat werden meine Bilder zunehmend formaler und abstrakter. Eine bildnerische Struktur scheint die abgebildeten, realen Begebenheiten zu über- lagern. Ich unterwerfe die reale Situation meinem künstlerischen Konzept der Bildfindung.“1

1 Gursky, Andreas, in einem Briefwechsel mit Veit Görner: ‚... im Allge- meinen gehe ich die Dinge langsam an‘. In: Andreas Gursky. Fotografien 1994-1998. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg; Fotomuseum Winter- thur; Serpentine Gallery, London; Scottish National Gallery of Modern 14 | DIE KONSTITUTION DER DINGE

So beschreibt der Künstler selbst jenes bildnerische Konzept, das es ihm offenbar erlaubt, von der visuellen Erscheinung, d.h. von der ab- bildenden Eigenschaft der Fotografie, zu abstrahieren. Es steht also ei- ne durch Formalisierungsprozesse und Strukturbildung hervorgerufene ‚Abstraktion‘ zur Debatte, die es nun vor dem Hintergrund der Foto- grafie- und Kunstgeschichte werkimmanent zu analysieren gilt. Der Gedanke, fotografische Subbereiche mit der Abstraktion in Verbindung zu bringen, ist nicht neu, innerhalb ganzheitlich wissen- schaftlicher und historischer Untersuchungen aber noch von jungem Erkenntnisinteresse. Die eigentliche Geburtsstunde der fotografischen Abstraktion wird in New York und in London mit den Jahren 1916 und 1917 in Verbindung gebracht. So ist Paul Strand (1890-1976) aus Amerika der erste Lichtbildner gewesen, der 1916 den Titeln seiner Stillleben – Tassen und Schalen als ein Konstrukt aus Kreisen in Schwarz, Grau und Weiß – die Bezeichnung ‚Abstraktion‘ beigibt.2 Strands Landsmann Alvin Langdon Coburn (1882-1966) sprach sich im selben Jahr in London in seinem Aufsatz zur ‚Zukunft der bildmä- ßigen Fotografie‘ für eine Ausstellung mit dem Titel ‚Abstrakte Foto- grafie‘3 aus, zu der es zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht kam, deren Sachverhalt jedoch ausdrücklich und richtungweisend ins Leben geru- fen wurde.4 So fordert Coburn:

„In den Zulassungsbestimmungen soll deutlich festgelegt werden, daß keine Arbeit angenommen wird, in der das Interesse am Bildgegenstand das Gefühl für außergewöhnliche Aspekte übersteigt. Ein Gefühl für Form und Struktur ist

Art, Edinburgh; Castello di Rivoli, Museo d’Arte Contemporanea, Torino; Centro Cultural de Belém, Lisboa. Ostfildern 1998, S. 3-10, hier S. 5. 2 Vgl. Kellein, Thomas: Die Erfindung abstrakter Fotografie 1916 in New York. In: Kellein, Thomas; Lampe, Angela (Hrsg.): Abstrakte Fotografie. Ostfildern-Ruit 2000, S. 33-56, hier S. 33, S. 40. 3 Coburn, Alvin Langdon: „Die Zukunft der bildmäßigen Fotografie (1916).“ In: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie II. 1912-1945. Mün- chen 1999, S. 55-57, hier S. 57. Neudruck der Ausgabe München 1979. 4 Vgl. Kellein 2000a, S. 39. Vgl. auch Jäger, Gottfried: Die Kunst der Abs- trakten Fotografie. In: ders. (Hrsg.): Die Kunst der Abstrakten Fotografie. Stuttgart 2002, S. 11-72, hier S. 16f.

EINLEITUNG | 15 vor allem von Bedeutung, und man sollte die Gelegenheit nutzen, um unter- drückter und unerwarteter Originalität zum Ausdruck zu verhelfen.“5

„Form und Struktur“ sind – wenn auch unter differenten Vorausset- zungen – sowohl für Coburn damals als auch für Gursky heute not- wendige Instrumente, den Gegenstand in den Hintergrund treten zu lassen, um so zu einem neuen Verständnis von fotografischer Realität zu gelangen. Mit den so genannten Vortographs von 1917, durch Spie- gelkonstruktionen entstandenen kaleidoskopischen Bildern, suchte Coburn schließlich zielgerichtet nach abstrakten Bildern, die keine Be- ziehung mehr zu realen Gegenständen aufwiesen.6 Neben den Pionieren Strand und Coburn gelten die New Yorker Photo-Secession und ihre Zeitschrift ‚Camera Work‘ als maßgebliche Protagonisten der abstrakten Fotografie in Europa und Amerika.7 Die Photo-Secession wurde, in Anlehnung an die deutschen Sezessionsbe- wegungen, von Alfred Stieglitz 1902 als „Fotografengruppe“ bzw. später als „Ausstellungsorgan“ gegründet.8 Es folgte 1903 ‚Camera Work‘, ebenfalls von Stieglitz herausgegeben, die nicht nur die Werke und Biographien bedeutender europäischer und amerikanischer Foto- grafen publizierte, sondern auch sachliche Hilfe bei der Wahl von fo- tografischen Arbeitsmaterialien anbot. In der Zeit von 1902 bis zur Einstellung der Fotozeitschrift bzw. bis zum Abriss der ‚Little Galle- ries of the Photo-Secession‘ in der New Yorker Fifth Avenue Nr. 291 im Jahr 1917 findet bei Stieglitz und Mitbegründern der Photo- Secession wie Eduard J. Steichen (Newark in Ohio) und Clarence H. White (Milwaukee) sowie beim Photo-Secessionisten Coburn ein Wandel in der Auffassung des fotografischen Ausdrucks statt. Sie wenden sich ab von der durch Retusche, Gummidruck und Glyce- rinverfahren impressionistisch anmutenden Kunstfotografie bzw. ‚Pictorial Photography‘ und befürworten die ‚Reine Photographie‘, die zu Beginn der 20er-Jahre in die ‚Straight Photography‘ mündet. Der Umgang mit neuen Materialien und die Erprobung ausgefallener Kompositionen bringen abstrakt-linear erscheinende Fotografien her-

5 Coburn (1916) 1999, S. 57. 6 Vgl. Kellein 2000a, S. 39. Vgl. auch Jäger 2002a, S. 17. 7 Thomas Kellein belegt den Sachverhalt der Beeinflussung in seinen Studi- en. Vgl. Kellein 2000a, S. 33ff. 8 Ebd., S. 34.

16 | DIE KONSTITUTION DER DINGE vor, die wesentlich dazu beitragen, der Fotografie einen von der Male- rei unabhängigen spezifischen Ausdruck zu verleihen. Die Ausstellun- gen in der New Yorker Sezessionsgalerie ‚291‘ sind seit 1908 nicht nur durch unkonventionelle und sachliche Bildpräsentationen gekenn- zeichnet, sondern den Fotografien werden überdies avantgardistische Arbeiten aus der Malerei und Bildhauerei gegenübergestellt, um einer- seits die Eigenständigkeit beider Kunstformen zu betonen und anderer- seits die Fotografie an sich als legitime Kategorie der ‚hohen Kunst‘ zu etablieren. Vom Kubismus beeinflusste Formen lösen 1911 den Piktoralismus in der Zeitschrift ‚Camera Work‘ ab; Fotografien wer- den gezeigt, die klaren, spitzwinkligen Bildstrukturen folgen und mit Schatten, Luftperspektiven sowie leeren Flächen spielen. In den Jahren 1916/17 wird der jüngere Paul Strand von Stieglitz in den letzten Aus- gaben von ‚Camera Work‘ als Debütant vorgestellt. Seine avantgardis- tischen Aufnahmen weisen bereits eine dem neuen Realismus zuge- wandte, direkte und objektiv wirkende Bildsprache auf.9 Den 1916 von Coburn definierten Kriterien wird erst im Jahr 2000 mit der Ausstellung ‚Abstrakte Fotografie‘ in der Kunsthalle Bielefeld entsprochen.10 In der ausstellungsbegleitenden Publikation ‚Abstrakte Fotografie‘11 wird die abstrakte Fotografie erstmals ausführlich in ihrer Entwicklungsgeschichte aufgearbeitet und als der abstrakten Malerei gleichwertig dargestellt. Das Spektrum der Fotografien, die von Tho- mas Kellein und Angela Lampe der ‚Abstraktion‘ subsumiert werden,

9 Vgl. ebd., S. 34-36, S. 39f. Vgl. auch Newhall, Beaumont: Geschichte der Photographie. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. München 1998, S. 166-170, S. 173-176. 10 Vgl. Jäger, Gottfried: Vorwort. In: Jäger 2002, S. 7-9, hier S. 7. 11 Kellein, Thomas; Lampe, Angela (Hrsg.): Abstrakte Fotografie. Ostfil- dern-Ruit 2000. Aus Anlass der Ausst. ‚Abstrakte Fotografie‘ vom 3. De- zember 2000 bis 18. Februar 2001 in der Kunsthalle Bielefeld. Mit Teilbe- reichen der Kunstform der abstrakten Fotografie setzte sich 1998 die von Barbara Auer im Kunstverein Ludwigshafen kuratierte Ausstellung ‚Foto- grafie der 50er Jahre – Zwischen Abstraktion und Wirklichkeit‘ auseinan- der. Thematisiert wurde die von Otto Steinert geprägte ‚subjektive Foto- grafie‘ mit ihren unterschiedlichen Ausformungen und Entwicklungen. Vgl. Auer, Barbara (Hrsg.): Fotografie der 50er Jahre. Zwischen Abstrak- tion und Wirklichkeit. Ausst.-Kat. Kunstverein Ludwigshafen am Rhein e.V. Ludwigshafen am Rhein 1998.

EINLEITUNG | 17 umfasst divergente Erscheinungsformen: Sie reichen von der ‚Wissen- schaftsfotografie‘ zur ‚Straight Photography‘ über ‚Fotogramme‘ und Arbeiten der ‚Subjektiven Fotografie‘ bis hin zur ‚Digitalen Fotogra- fie‘. Bemerkenswert ist der Umstand, dass unter den exemplarisch auf- geführten Künstlern Andreas Gursky nicht genannt und damit nicht zu den wesentlichen Vertretern der fotografischen Abstraktion gezählt wird. Trotz der großen Vielfalt an fotografischen Erscheinungsformen und Techniken, die Kellein und Lampe für die Kategorie der Abstrak- tion gelten lassen, scheinen die abstrakter werdenden Arbeiten Gurskys nicht ihren Auswahlkriterien entsprochen zu haben. Parallel zur Ausstellung wird die abstrakte Fotografie auf dem 21. Bielefelder Symposium über Fotografie und Medien an der Fachhoch- schule Bielefeld im Dezember 2000 zum Gegenstand der Untersu- chung. Die Ergebnisse des Leitthemas ‚Abstrakte Fotografie: Die Sichtbarkeit des Bildes’ werden in der 2002 herausgegebenen Publika- tion ‚Die Kunst der Abstrakten Fotografie‘12 zusammengefasst. Be- schäftigen sich die Autoren einerseits mit der Entwicklung der Abstraktion von den Pionieren bis hin zu zeitgenössischen Künstlern, diskutieren sie andererseits auch die theoretische Leitfrage „Was ist Abstrakte Fotografie? Was könnte Abstrakte Fotografie sein? Gibt es Abstrakte Fotografie überhaupt?“13 Auf die Debatte wird zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit ausführlich eingegangen, um den Definitionsrahmen für das Werk Gurskys festzulegen. Es sei jedoch an dieser Stelle bereits betont, dass es keinen Konsens darüber zu geben scheint, welcher Eingrenzungen es innerhalb der Fotografiegeschichte bedarf, um tatsächlich von einem klar definierten Subbereich der Fo- tografie sprechen zu können – eine Erklärung womöglich auch dafür, warum Gursky keine explizite Würdigung in den Besprechungen von Kellein und Lampe erfahren hat. Die Diskussion um die abstrakte Fotografie verweist auf das stets aktuelle Thema der Bildeinteilung. In den vergangenen Jahrzehnten ist bereits eine Vielzahl theoretischer Ansätze aufzufinden, mit denen versucht wird, die diversen Bildarten innerhalb der Fotografie zu cha- rakterisieren und zu unterscheiden. Als beispielhafte Vertreter seien

12 Jäger, Gottfried (Hrsg.): Die Kunst der Abstrakten Fotografie. Stuttgart 2002. 13 Jäger, Gottfried: Vorwort. In: Jäger 2002, S. 7.

18 | DIE KONSTITUTION DER DINGE hier J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Gottfried Jäger genannt. Schmoll gen. Eisenwerth teilt in seinem Vortrag ‚Zum Spektrum der Fotografie‘ von 1979 die Fotografie in die Bereiche „Abbild, Sinn- Bild und Bildstruktur“14 ein. Gottfried Jäger modifiziert diese Katego- rien 1988 in seiner Typologie zu „Abbilder, Sinnbilder und Struktur- bilder“15. Verbunden sind damit die jeweiligen Ziele der fotografi- schen „Aneignung, Vermittlung und Schaffung von ›Wirklichkeit‹“, die sich u.a. in den Bereichen der „abbildende[n]“/„dokumentieren- de[n]“, „subjektive[n]“/„kommentierende[n]“ und „schöpferischen“/ „abstrakten“ Fotografie widerspiegeln.16 Das steigende Interesse der Künstler und Historiker des 20. Jahr- hunderts, die Fotografie mit der Abstraktion zu verbinden bzw. phä- nomenologische Klassifizierungen von ‚Abstraktion‘ in der Fotografie zu finden, und die damit verbundenen definitorischen Schwierigkeiten unterstreichen das Motiv dieser Arbeit, der Frage nach der Abstraktion an einem konkreten Beispiel der Fotografie – dem Werk von Andreas Gursky – nachzugehen. Für diese Untersuchung sind ein differenzier- ter Fragenkatalog und eine polymorphe Methode vorgesehen, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

2. FRAGESTELLUNG UND METHODIK

Zur Erhellung der Abstraktionsparadigmen im Werk von Andreas Gursky sind konstante Leitfragen erforderlich, welche die Werkanaly- se methodisch fundieren:

14 Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Zum Spektrum der Fotografie: Abbild, Sinn-Bild und Bildstruktur. Festvortrag beim Festakt ‚75 Jahre Verband der Deutschen Photographischen Industrie‘ in Verbindung mit dem Kon- gress der Deutschen Gesellschaft für Photographie (‚ und die Photo- graphie‘) im Internationalen Congress Center Berlin am 18. Mai 1979. Abgedruckt in: ders.: Vom Sinn der Photographie. Texte aus den Jahren 1952-1980. München 1980, S. 236-244. 15 Jäger, Gottfried: Fotografik - Lichtgrafik - Lichtmalerei. Bildgebende Fo- tografie. Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform. Köln 1988, S. 111-114. 16 Ebd., S. 111-114. Vgl. ausführlicher Kap. II.1, S. 43.

EINLEITUNG | 19

Um die Abstraktionsphänomene im Werk Gurskys zu entschlüs- seln, bedarf es im Vorfeld einer Erschließung der Bedeutung und Ent- wicklung des Abstraktionsbegriffs in der Fotografiegeschichte bis hin zur Fotografiedebatte der Gegenwart. Zudem werden die Bedeutungs- schichten und Implikationen unter philosophischen und kunsttheoreti- schen Aspekten beleuchtet. Geklärt werden muss, welche Definition von ‚Abstraktion‘ geltend gemacht und am Werk Gurskys erarbeitet werden kann. Dabei wird auch die Möglichkeit einer instrumentellen Erweiterung überdacht: Dafür bieten sich die strukturellen Ausdrucks- varianten des Ornamentalen und des Ornaments an, da mit diesem Formvokabular ein größeres Spektrum der auf die Abstraktion bezo- genen Erscheinungsweisen sprachlich erfasst werden kann. Die An- wendungen sollen zeigen, auf welche Weise sich innerhalb der Werk- genese abstrakte Formalisierungsprozesse darstellen, zudem ob sie partiell in Erscheinung treten oder ob eine kontinuierliche Abstrak- tionssteigerung in den Arbeiten Gurskys stattfindet. Gurskys Fotografien bewegen sich zwischen den Polen Abbild und Abstraktion. Zur genaueren Bestimmung dieser Relation bedarf es nach der Definitionsklärung einer Einteilung der für die Untersuchung exemplarisch ausgewählten Werke, die zwischen 1984 und 2001 ent- standen sind. Dabei wird das Ende des Untersuchungszeitraums durch die Retrospektive im Museum of Modern Art New York – den ersten Höhepunkt in der öffentlichen Rezeption von Gurskys Œuvre – mar- kiert. In der vorliegenden Arbeit werden drei Strukturkategorien ent- wickelt, die unterschiedliche und eventuell aufeinander aufbauende Formalisierungsgrade veranschaulichen sollen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein starres Gerüst, sondern um ein orientierendes Ge- füge, das gleichwohl bildnerische Ausnahmen zulässt. Die Untersuchung der Abstraktion im Œuvre Gurskys ermöglicht zugleich dessen neue Strukturierung, die sich nicht nur von den in der Forschungsliteratur aufgeführten Motivkomplexen Natur, Mensch, Freizeit oder Industrie abgrenzt, sondern auch einen kritischen Stand- punkt zur epochen- und genrespezifischen Zuordnung in die Kunstge- schichte einnimmt. Innerhalb sogenannter Intermezzi – Zwischenkapi- tel, die sich in den einzelnen Strukturkategorien der formalen und in- haltlichen Analyse der Bilder Gurskys anschließen – wird festzustellen sein, welche Kriterien im Bildaufbau, in der Bildstruktur und im Bild- thema einen Vergleich mit der Kunstgeschichte tatsächlich fruchtbar machen. Von Interesse ist überdies der Vergleich mit Pionieren und

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Zeitgenossen der Fotografie, deren Arbeiten gleichartige Kompositio- nen oder Abstraktionsphänomene aufweisen. Die Geschichte der Fotografie als bedeutender Einflussgröße, die immer schon im Dialog zur Malerei stand, darf nicht außer Acht gelas- sen werden. Mit der Frage nach der formalen Abstraktion kristallisiert sich die Frage heraus, ob und – wenn ja – inwieweit Gurskys Werk ei- ner historisch gewachsenen und angereicherten Bildwahrnehmung un- terliegt. Zugleich werden dadurch Gegensätze und Parallelen im Ver- ständnis von Abstraktion in der Geschichte der Fotografie und in jener der Malerei aufgezeigt. Neben der formalen Erschließung eröffnet sich zugleich der zweite Fragenkomplex, ob nämlich hinsichtlich eines ‚formaler und abstrak- ter‘ werdenden Œuvres auch den Inhalten der Bilder eine aufeinander aufbauende Entwicklung zukommt und sich davon womöglich ein konsistenter Bedeutungsfaden ableiten lässt. Es wird zu analysieren sein, inwieweit – auf die einzelne Fotografie und auf das gesamte Werk bezogen – die Formalisierungsprozesse mit den inhaltlichen Bildaussagen korrespondieren und welche Rolle dabei der Rezipient einnimmt. Letzteres wird unter verschiedenen Prämissen beleuchtet: So wird die Perspektive des Rezipienten untersucht, auf den die Ab- straktionsstrukturen einwirken. Dabei wird zu erläutern sein, welche Bildfindungs- und Bildproduktionstechniken Gursky im Dienst seiner Wirkungsabsicht einsetzt und ob die Abstraktion überdies von den Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, die Gursky seit 1992 ne- ben dem analogen Aufnahmeverfahren in Anspruch nimmt, beeinflusst wird und sich dadurch Besonderheiten in der Rezeption eröffnen. Es ist somit dem Spannungsverhältnis und der Interaktion zwischen ‚Bildschaffung‘ und ‚Betrachterwirkung‘ nachzugehen. Der Werkanalyse folgen, mit Blick auf die Ergebnisse dieser Ar- beit, im Kapitel IV die Reflexionen über Gurskys Position in der Fotografiegeschichte, über das Verhältnis zwischen Fotografie, Male- rei und Digitalisierung sowie über die analytische Gesamtbilanz. Als übergeordnetes Interpretationsverfahren bietet sich die kunst- geschichtliche Hermeneutik an, da sie gleichermaßen auf die formalen und inhaltlichen Aspekte des Kunstgegenstandes eingeht sowie auch kontextuelle und historische Bedingungen erörtert. Dem Vier-Stufen-

EINLEITUNG | 21

Modell Oskar Bätschmanns17 folgend, werden die Arbeiten Gurskys innerhalb der Abstraktionskategorien im ‚Einstieg‘ auf ihre formale und inhaltliche Sichtbarkeit hin untersucht sowie auf Unklarheiten und Widersprüche befragt. Innerhalb der ‚Analytik‘ findet zunächst ein Vergleich mit der vorliegenden Forschungsliteratur und persönlichen Äußerungen des Künstlers statt. Wo es sich als angemessen und sinn- voll erweist, werden bildliche Traditionen und Motivänderungen in- nerhalb der Fotografie- und Kunstgeschichte eruiert und Stil-Charak- terisierungen vorgenommen. Außerdem werden im Hinblick auf die künstlerische Produktion die zeitspezifischen Einflüsse bzw. die kultu- rellen Referenzen erörtert. Es schließen sich dann die ‚Kreative Ab- duktion‘ und die ‚Validierung‘ mit einer Erschließung der Bedeu- tungszusammenhänge und einer interpretatorischen Absicherung an. Das interpretierende Vorgehen im Sinne der kunstwissenschaftli- chen Hermeneutik trägt erstens dazu bei, den einzelnen Kunstwerken Gurskys gerecht zu werden. Zweitens kann sie innerhalb der Werkein- teilungen Veränderungen und Entwicklungen im Gesamtwerk aufzei- gen. Um den spezifischen Untersuchungsmerkmalen besonderes Ge- wicht zu verleihen, werden weitere Analyse-Methoden berücksichtigt, welche das hermeneutische Vorgehen ergänzen. Grundlage für die Er- schließung der komplexen Bildzusammenhänge ist demnach ein for- malistischer Ansatz, der es ermöglicht, im Bereich der Formanalyse eine etwaige Entwicklung abstrakter Bildformen zu konstruieren und daraus Strukturgesetze abzuleiten. Im Bereich der Stilanalyse lassen sich charakteristische und zeitgemäße Ausdrucksweisen Gurskys defi- nieren. Die Ergebnisse werden in rezeptionsgeschichtlichen Vergleich gestellt, um die Wiederaufnahme von und das Interesse an bestimmten Motiven und Bildstrukturen zu erörtern sowie die Gemeinsamkeiten und Differenzen aufzuzeigen. Ein rezeptionsästhetischer Ansatz er- weist sich schließlich als sinnvoll, um die Funktion des Betrachters in den Arbeiten Gurskys zu hinterfragen. Gemeint sind die gestalteri- schen Vorgaben wie Personen, Perspektiven und Erscheinungen des Werkes an sich, die den Betrachter zum Bild situieren und zur Rezep-

17 Bätschmann, Oskar: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik. In: Kunstgeschichte – Eine Einführung. Hrsg. von Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer und Mar- tin Warnke. 3. durchges. u. erw. Aufl. Berlin 1988, S. 191-221.

22 | DIE KONSTITUTION DER DINGE tion animieren. Der Grad der „innerbildlichen Kommunikation“18 wird unter Berücksichtigung der Anteilnahme des Betrachters und sozialge- schichtlicher wie auch ästhetischer Aspekte zu analysieren sein.

3. LITERATURBERICHT

Die zahlreichen Besprechungen zum Werk von Andreas Gursky finden sich im Wesentlichen in den Ausstellungskatalogen. Eine genuin wis- senschaftliche Veröffentlichung, die speziell Gursky gewidmet ist, existiert bislang noch nicht. In den Katalogtexten liegen also wissen- schaftliche Besprechungen vor, denen durch den Rahmen der jeweili- gen Ausstellung enge Grenzen gesetzt sind, so dass wichtige Aspekte nur angesprochen, aber nicht grundlegend analysiert werden können. Eine erste umfangreiche Zusammenschau über die Werkgenese Gurskys hat Peter Galassi19 geleistet. Anlass ist die von Galassi kuratierte Ausstellung ‚Andreas Gursky‘ im New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2001 gewesen, eine große Retrospektive, dem Künstler bereits im Alter von 46 Jahren gewidmet. Ausführlich be- schreibt Galassi das Hineinwachsen Gurskys in die Fotografieszene der 70er- und 80er-Jahre, erarbeitet die anfängliche Beeinflussung und spätere Befreiung des Fotografen von der typologischen Methode sei- ner Lehrer Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie und analysiert die Motiv- und Stilentwicklung sowie die Arbeitsmethode des Künstlers. Galassi möchte seine Untersuchung als Beginn und An- regung zu weitergehenden Untersuchungen von „künstlerischen Kon- texten und Ursprüngen“20 verstanden wissen. In diesem Zusammen- hang kritisiert er in seinem mit einer umfassenden Bibliographie schließenden Beitrag den damaligen Forschungsstand: Die bis dato er- schienene Literatur bringe die mit der Malerei vergleichbaren Momen- te in Gurskys Fotografie nur im Ansatz zur Sprache, ohne sie einer de- zidierten Analyse zu unterziehen. Vergleichsbeispiele würden ledig- lich aufgrund formaler Ähnlichkeiten herangezogen, die jeweiligen In-

18 Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz. In: Belting et al. 1988, S. 240-257, hier S. 246. 19 Galassi, Peter: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York. Ostfildern-Ruit 2001. 20 Ebd., S. 7.

EINLEITUNG | 23 halte, ihr kontextueller und historischer Zusammenhang sowie ihre Auswirkungen auf die Rezeption würden jedoch nicht weiter ver- folgt.21 Dieser Umstand dürfte die Ursache dafür sein, dass die Auto- ren der Katalogtexte kaum voneinander abweichende Positionen ver- treten und sich auf wenige stereotype Selbstkommentierungen Gurskys berufen.22 Dennoch bieten die zahlreichen Beiträge der Ausstellungen (z.B. Kunstmuseum Wolfsburg 1998, Kunsthalle Düsseldorf 1998, Tate Gallery Liverpool 1995, Portikus Frankfurt am Main 1995, Deichtor- hallen Hamburg 1994, Museum Haus Lange 1989) und Kunstzeit- schriften (z.B. Art. Das Kunstmagazin 2001, Parkett 1995, Artis 1995) einen wertvollen Fundus von Einzelanalysen, Interpretationen und Werkeinteilungen. In Anbetracht der von mir anvisierten Untersu- chung sind folgende Katalogbeiträge hervorzuheben: Rudolf Schmitz (Deichtorhallen Hamburg 1994) spricht am Bei- spiel ausgewählter Arbeiten typische Stilmerkmale Gurskys an und lei- tet allgemeine Tendenzen für das bis dahin vorhandene Gesamtwerk ab. Neben einer von Gursky neu bewerteten ‚Totalen‘, der Prägung seiner Fotografien durch das kollektive Bildgedächtnis und seinem Hang zu ‚scheinbaren Widersprüchen‘ erwähnt Schmitz das Oszillie- ren der Werke zwischen einer abbildenden Realitätsnähe und einer formalen Fülle, die durch Strukturen bzw. serielle Bildelemente defi- niert wird und den Betrachter auf einer Ebene der Abstraktion vom

21 Vgl. ebd., S. 31. 22 „Die Wohnmaschine vom Bahnhof Montparnasse erweckt Assoziationen an die Farbtafelbilder von Gerhard Richter, [...]. [...] Der neutrale Himmel auf manchen von Gurskys Fotografien erinnert mich an die leicht oder gar nicht grundierte Leinwand, wie sie der amerikanische Maler Robert Ryman zur Erdung seiner Bilder gebraucht. [...] Andreas Gurskys Fotogra- fie eines grauen Teppichbodens hat nichts mit Hoffnungslosigkeit zu tun. Auch handelt es sich nicht um das Verlangen nach Tabula rasa. Aber ähn- lich wie bei dem Maler [Grauvermalungen Gerhard Richters] könnte da- von eine Kur der Vorstellungskraft ausgehen, die zur Auffächerung bildne- rischen Ausdrucks und andersartiger Spannkraft des Werks führen dürfte.“ Schmitz (Deichtorhallen Hamburg 1994, S. 14). „Das Resultat dieses Bil- des, ein monochromes graues Farbfeld, das nicht von ungefähr an die grauen Farbtafeln von Gerhard Richter erinnert, [...].“ Syring (Kunsthalle Düsseldorf 1998, S. 5).

24 | DIE KONSTITUTION DER DINGE

Gegenstand wegleitet. Bedeutsam ist, dass Schmitz für die Ausdrucks- fülle im Werk Gurskys den Begriff des Ornaments heranzieht, diesen jedoch nicht zum Ausgangspunkt einer umfassenden Analyse macht. Wie zu Beginn erwähnt, soll in der vorliegenden Untersuchung die Verbindung von Ornament und Abstraktion als stilbildende Erschei- nungsform in Betracht gezogen werden. Greg Hilty (Tate Gallery Liverpool 1995) teilt die Fotografien des Künstlers erstmals in thematische Gruppen wie ‚Menschen‘, ‚Schau- plätze‘, ‚Fassaden‘, ‚Innenräume‘ etc. ein. Der Aufsatz besticht durch eine konsequente Beschreibung und Kategorisierung der einzelnen Werke – formaler Bildeigenschaften und inhaltlicher Korrespondenzen – sowie ihrer Intentionen. Marie Luise Syring (Kunsthalle Düsseldorf 1998) verfolgt in ihrem Beitrag die das Werk prägenden Abstraktionsphänomene wie All- over-Strukturen und horizontale Bildkompositionen. Zudem deutet sie nicht nur das Verhältnis der Fotografien zur Malerei bzw. zur Kunst des 20. Jahrhunderts an, sondern auch zur Alltagsästhetik einer kon- sumorientierten Gesellschaft. Im selben Katalog äußert sich Rupert Pfab zur digitalen Bearbeitung einiger Fotografien und der damit ver- bundenen Irritation des Betrachters, der das Abgebildete nicht mehr mit der ihm bekannten Realität in Einklang bringen könne. Pfab erläu- tert dabei die Möglichkeiten der Fotografie, die an die Wirklichkeit und zugleich an ein künstliches Konstrukt gebunden sei. Dabei er- wähnt er erstens den aus der Malerei gewohnten aktiven Gestaltungs- vorgang, der Eingang in die neuen Medien gefunden habe, zweitens die Nähe zu kompositorischen Strategien der Malerei und drittens die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Malerei, wenn diese selbst zum Bildgegenstand wird. Lynne Cooke greift diesen Aspekt ebenfalls auf und bespricht die beiden Fotografien Gurskys, in denen Werke von Pollock und Turner zum Thema wurden. In Erweiterung von Syring konkretisiert sie die fotografischen Techniken der Vogelperspektive und des horizontalen Bildaufbaus, die zur „Formalisierung und Abs- traktion“23 bei Gursky führen.

23 Cooke, Lynne: Andreas Gursky: Visionäre (Per)Versionen. In: Syring, Marie Luise (Hrsg.): Andreas Gursky. Fotografien 1984 bis heute. Ausst.- Kat. Kunsthalle Düsseldorf. München, Paris, London 1998, S. 13-17, hier S. 14.

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Annelie Lütgens (Kunstmuseum Wolfsburg 1998) beschäftigt sich im Rahmen ihres Beitrags ebenfalls mit der Abstraktion in den Werken Gurskys: erstens in der Auseinandersetzung mit den seriellen, horizon- talen Bildelementen am Beispiel der Architekturaufnahmen und der Aufnahmen von Warenregalen, zweitens im Hinblick auf das Orna- ment in jenen Fotografien, die All-over-Strukturen – z.B. Menschen- massen – zum Thema haben. Entsprechend lautet ihre Textüberschrift: „Der Blick in die Vitrine oder: Schrein und Ornament“. Mit Schrein und Ornament sind einerseits übergeordnete Kompositionsmerkmale, andererseits Formen der erhabenen Präsentation gemeint. Lütgens un- ternimmt damit einen durchaus bedeutsamen Versuch, den Abstrakti- onsphänomenen bei Gursky auf die Spur zu kommen; allerdings zeigt sich – wie auch bei den anderen Autoren –, dass es sich lediglich um Analyseansätze handelt, denen kein wissenschaftliches Fundament beigegeben wurde. Aufgrund der selektiven Bildbesprechung können zudem weder Rückschlüsse auf das Gesamtwerk gezogen noch konsis- tente Entwicklungslinien dargelegt werden. Bildet das Jahr 2001 im öffentlichen Diskurs über Gurskys Œuvre einen ersten Höhepunkt, so werden dem Fotografen sechs Jahre später erneut umfangreiche Werkschauen in München () und (Kunstmuseum) zuteil, denen 2008 zwei weitere Ausstellungen in Darmstadt (Institut Mathildenhöhe) und Krefeld (Kunstmuseum, Haus Lange und Haus Esters) folgen. Während sich der Münchner Ku- rator Thomas Weski weitgehend auf das Abbilden der von Andreas Gursky selbst ausgewählten Werke beschränkt und Martin Hentschel für das Krefelder Kunstmuseums ebenfalls gemeinsam mit dem Künst- ler die zwischen 1980 und 2008 entstandenen Werke enzyklopädisch zusammenstellt, richten die Beiträge des Kunstmuseums Basel das Augenmerk erstmals ausführlich auf zwei ausgewählte Bildserien – ‚F1 Boxenstopp‘, 2007 und ‚Pyongyang‘, 2007. Die Autoren Beate Söntgen und Nina Zimmer beziehen in ihre Analysen sinnstiftend foto- und kunsthistorische Vorbilder ein und legen die Bedeutung früherer Bildstrategien für die gegenwärtige Rezeption dar. Zudem diskutiert Zimmer den Begriff ‚Ornament der Masse‘ von Siegfried Kracauer zum ersten Mal im ursprünglichen Sinne, sieht das Ornament jedoch nicht als strukturbildendes Paradigma für die formal-ästhetische Ana- lyse des Gesamtwerks Gurskys. 2008 begibt sich Ralf Beil (Mathil- denhöhe, Darmstadt) in seinem Beitrag auf eine umfangreiche Suche nach den fotografischen Standorten Gurskys, um die Architektur-

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Fotografien als komponierte und digital manipulierte Bilder zu entlar- ven. Für denselben Katalog beschreibt Francesca Ferguson anhand ei- niger Bildbeispiele schließlich Gurskys Anliegen, den Betrachter mit den visuellen Codes einer Gesellschaft im urbanen Zeitalter zu kon- frontieren. Die Katalogbeiträge unterscheiden sich von jenen aus den Jahren vor der ersten Retrospektive darin, dass einzelne Werke nicht nur formal, sondern inhaltlich im gegenwärtigen und historischen Kontext sowie rezeptionsästhetisch untersucht werden. Ausführliche Interviews von Tim Ackermann (Welt am Sonntag 2010), Nancy Tousley (Canadianart 2009), Guy Lane (Art World Ma- gazine 2009), Susanne Beyer und Ulrike Knöfel (Der Spiegel 2007), Florian Illies (Monopol 2007), Michael Krajewski (Kunst-Bulletin 1999), Heinz-Norbert Jocks (Kunstforum International 1999), Andreas Reiter Raabe (Eikon 1997) und Bernhard Bürgi (Katalog Kunsthalle Zürich 1992) sowie der Briefwechsel zwischen Gursky und Veit Gör- ner (Kunstmuseum Wolfsburg 1998) enthalten zahlreiche Anhalts- punkte zur fotografischen Ausbildung, zum Arbeitsverfahren und fo- tografischen Konzept Gurskys. Das Gespräch zwischen Gursky und Bürgi liefert im Jahr 1992 erste kurze Bildbesprechungen und umfang- reiche Kommentierungen zur fotografischen Methode und Motivwahl, zum Umgang mit dem Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit, zu den Prozessen der Formalisierung und Strukturierung des Motivs so- wie zur thematischen Bedeutung von Natur und Mensch und deren Korrespondenz mit Motiven aus der Kunstgeschichte. Im Briefwechsel mit Veit Görner äußert sich Gursky selbst zur fotografischen Technik und Bildfindung, deren Möglichkeiten durch die digitale Bildbearbei- tung erweitert worden seien. Vor allem spricht Gursky die zunehmen- den Abstrahierungen in seinen Bildern an, die eine veränderte Rezep- tionshaltung des Publikums erzeugen könnten – Anmerkungen, welche die Beiträge zum Düsseldorfer Katalog maßgeblich beeinflusst haben dürften. Die umfangreiche Befragung durch Heinz-Norbert Jocks ist zunächst auf die Biographie Gurskys gerichtet: wie er zur Fotografie gekommen sei und unter welchen gesellschaftlichen und fotografi- schen Einflüssen er das Studium absolviert habe. Überdies werden sei- ne ersten Landschaftsaufnahmen thematisiert, die Entstehung seiner Bilder und die Themenwahl hinterfragt, der Umgang mit dem Compu- ter erläutert und der Bezug zur abstrakten Malerei hergestellt. Die jüngsten Interviews von Guy Lane, Nancy Tousley und Tim Acker- mann geben schließlich Auskunft über Gurskys digitale Montage- und

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Bearbeitungstechniken sowie über die Zitierung uneigener oder com- putergenerierter Motive, die seinen komplexen Bildkonstruktionen zu- grunde liegen. Neben den Einzelkatalogen gibt es eine Vielzahl an Gruppenkata- logen24, die sich mit Einzelanalysen und ästhetischen Entwicklungen Gurskys auseinandersetzen. Perspektivenreiche Ansätze liefert der Beitrag von Stefan Gronert (Große Illusionen, Kunstmuseum Bonn 1999), der seinen Aufsatz zu Gursky mit ‚Verführung der Wirklich- keit. Abstraktion bei Andreas Gursky‘ betitelt. Er spricht sowohl den ästhetischen Reiz, die Schönheit und Verführungskraft der Fotografien an als auch das Phänomen der Formalisierung als Geometrisierung. Neben der formalen Abstrahierung versucht er überdies in ausgewähl- ten Bildbeispielen eine allgemeine Bildaussage zu identifizieren – da- durch dass spezifische Themen und Motive Gurskys als universale Pa- radigmen aufgefasst werden. Gronerts Ansatz, erprobt an exemplari-

24 U.a.: Click Doubleclick. Das dokumentarische Moment. Hrsg. v. Thomas Weski. Ausst.-Kat. Haus der Kunst, München. Köln 2006; Zwischen Wirk- lichkeit und Bild. Positionen deutscher Fotografie der Gegenwart. Hrsg. v. Rei Masuda. Ausst.-Kat. National Museum of Modern Art, Tokyo 2005; Cruel and Tender. The Real in the Twentieth-Century Photograph. Hrsg. v. Emma Dexter und Thomas Weski. Ausst.-Kat. Tate Modern, London 2003; Zwischen Schönheit und Sachlichkeit. Boris Becker, Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Hrsg. v. Achim Sommer. Ausst.-Kat. Kunsthalle Emden 2002; Ansicht Aussicht Einsicht. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Architekturphotographie. Hrsg. v. Monika Steinhauser. Ausst.-Kat. Museum Bochum; Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. Düsseldorf 2000; Große Illusionen. Thomas Demand, Andreas Gursky, Edward Ruscha. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn; Museum of Contempo- rary Art North Miami. Köln 1999; Räume: Lucinda Devlin, Andreas Gursky, Candida Höfer. Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz. Köln 1999; Landschaften. Michael Bach, Andreas Gursky, Axel Hütte, Michael van Ofen, Andreas Schön. Hrsg. v. Raimund Stecker. Ausst.-Kat. Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1997; Distanz und Nähe. Fotografische Arbeiten von Bernd und Hilla Becher, Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Simone Nieweg, Thomas Ruff, Jörg Sasse, Thomas Struth, Petra Wunderlich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Ausst.- Kat. Institut für Auslandsbeziehungen, Berlin 1992.

28 | DIE KONSTITUTION DER DINGE schen Bildern, wird in dieser Arbeit auf das Gesamtwerk Gurskys übertragen: So werden die formalen Abstrahierungen kritisch geprüft und kategorisiert; darüber hinaus wird untersucht, inwiefern eine über das konkrete Bildmotiv hinausweisende zweite Sinnebene, eine meta- motivliche Bildidee, für Gurskys Fotografien charakteristisch ist. Kai-Uwe Hemken (Ansicht Aussicht Einsicht, Museum Bochum, Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig 2000) äußert sich hinsicht- lich der Problemstellung analoge vs. digitale Fotografie zu einigen Werken von Andreas Gursky und Thomas Ruff. Das digitale ‚Bilder- machen‘ sieht er als Instrument, um Wirklichkeit im Bild zu manipu- lieren und durch diese Manipulation zu einer kraftvolleren – konzen- trierten – Bildaussage zu gelangen. Eine formale Abstraktion führe da- zu, dass Gurskys Fotografien zwischen Dokument und Bild changie- ren. Zudem könnten Bildthemen wie das der Börse oder des Schwimmbades aus der Perspektive der Formalisierung und der visuel- len Verdichtung als „Spurensicherung“ der modernen Massen- und Mediengesellschaft betrachtet werden. Die Filme ‚Andreas Gursky. Das globale Foto‘ (Pars Media, 2009), ‚Gursky World‘ (Channel 4, GB, 2002) und ‚Andreas Gursky und Thomas Ruff‘ (arte, D/F, 1999) sowie der Radiobeitrag25 auf WDR 5 von 2003 zur Entstehung eines Großfotos im Fotolabor Grieger, Düs- seldorf, geben schließlich wichtige Informationen zur künstlerischen Produktion. Rupert Pfab gehört zu den ausgewiesenen Kennern der Fotografen, die bei Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Akademie in den 70er- und 80er-Jahren gelernt haben. In seiner Dissertation ‚Studien zur Düsseldorfer Photographie. Die frühen Akademieschüler von Bernd Becher‘, die 1999 abgeschlossen und 2001 veröffentlicht wurde, arbeitet Pfab die fotografischen Positionen von Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky heraus. Leit- frage dabei ist erstmals ausführlich, inwieweit „die Studenten das Konzept ihrer Lehrer rezipiert und in welcher Weise sie sich davon

25 „Scala, das Kulturmagazin von WDR 5, stellt die Entstehung eines Groß- fotos und die Weiterverarbeitung im Diasec®-Verfahren anhand eines Mo- tivs von Fotokünstler Andreas Gursky vor.“ In: Grieger GmbH & Co KG Fotolaboratorien/Grieger News. Siehe http://www.grieger-online.de vom 18.06.2004. Die Sendung von Claudia Dichter wurde am 17. September 2003 ausgestrahlt.

EINLEITUNG | 29 abgegrenzt haben.“26 In der Einzelanalyse zu Andreas Gursky ent- spricht Pfabs analytisches Vorgehen jedoch weitgehend der Methode der vorangegangenen Literatur: Er geht über eine thematische Ord- nung des Werkes nicht hinaus, erweitert in Beschreibung und Interpre- tation das vorhandene wissenschaftliche Material nur geringfügig und führt typische Stilmerkmale sowie Vergleiche aus der Fotografie- und Kunstgeschichte an, ohne sie differenzierter zu untersuchen.

Die Aspekte der Formalisierung und Abstraktion stehen in den Kata- logtexten und Interviews sowie in den Beiträgen der Kunstzeitschriften bisher nur in Ansätzen zur Diskussion. Eine grundsätzliche Untersu- chung und stringente Überprüfung dieser bildsprachlichen Muster steht noch aus. Die vorliegende Arbeit soll dieser Forderung nachge- hen und damit als Versuch und Beitrag verstanden werden, das gesam- te Werk Gurskys einer einheitlichen, möglichst konsequenten Deu- tungshypothese auf formaler und inhaltlicher Ebene zu unterwerfen. Bevor es nun zu einer Annäherung an das Phänomen der Abstraktion in der Fotografie am Beispiel der Werke von Andreas Gursky kommt, werden zum besseren Verständnis im folgenden Kapitel die Phasen seiner fotografischen Ausbildung dargelegt.

4. ZUR PERSON GURSKY

Andreas Gurskys Weg zur künstlerischen Fotografie ist von drei Aus- bildungssequenzen geprägt. Die erste Phase ist bereits in seiner Kind- heit zu finden, da er sich häufig im Düsseldorfer Werbestudio seiner Eltern aufhielt.27 Gursky wächst somit in einem unmittelbar durch die

26 Pfab, Rupert: Studien zur Düsseldorfer Photographie. Die frühen Akade- mieschüler von Bernd Becher. Weimar 2001, S. 15. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1999. 27 Andreas Gursky wird 1955 in Leipzig geboren. Seine Eltern Rosemarie und Willy Gursky ziehen noch im selben Jahr mit ihm nach Essen und zwei Jahre darauf in das nahe gelegene Düsseldorf. Der Berufsfotograf Willy Gursky – sein Vater Hans ging bereits derselben Tätigkeit nach, je- doch als Industrie- und Strandfotograf – trifft im wirtschaftlichen Auf- schwung des Westens auf einen guten Nährboden für sein Fotoatelier. Gursky stand als Kind seinem Vater für diverse Werbeaufnahmen mehr-

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Fotografie geprägten Umfeld auf; er lernt sowohl das fotografische Handwerk als auch die Methoden der kommerziellen Fotografie ken- nen. Als junger Mann verweigert er sich der aus seiner Sicht allzu ma- terialistisch orientierten Konsumgesellschaft, boykottiert damit auch sein Elternhaus und fühlt sich zunächst zum Beruf des Sozialpädago- gen oder Psychologen hingezogen.28 Die zweite Ausbildungssequenz beginnt 1977/78 mit Eintritt in den Fachbereich Fotografie der von Ot- to Steinert gegründeten Essener Folkwangschule. Steinert vertrat die ‚subjektive fotografie‘, die er 1951 selbst be- gründet hatte und die – unter demselben Namen – in drei Ausstellun- gen zwischen 1951 und 1958 namhaft wurde. Die ‚subjektive fotogra- fie‘ ging aus der Gruppe ‚fotoform‘29 hervor, welche – wie der Name ausdrückt – die Form im Bildmotiv betonte. Sie kann als eine „Art Se- zession“ verstanden werden, im Gegensatz zur Nachkriegsfotografie, die noch sentimentale Mutter-Kind-Szenen und Landschaften sowie ein „heroisierendes Menschenbild“ ablichtete.30 Im Gegensatz zu

fach Modell. Vgl. Jocks, Heinz-Norbert: „Andreas Gursky: ‚Das Eigene steckt in den visuellen Erfahrungen‘. Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks.“ In: Kunstforum International, Bd. 145, Mai-Juni 1999, S. 248-265, hier S. 249. Vgl. auch Galassi 2001, S. 12. 28 Gurskys Kindheit bzw. Jugend fällt in die Studentenproteste Ende der 1960er Jahre. Die vom RAF-Terrorismus geprägte BRD erlebt er im Alter von Anfang zwanzig. Vgl. Galassi 2001, S. 12. Vgl. auch Jocks 1999, S. 249-251. 29 Die Gruppe ‚fotoform‘ wurde als Gegenprojekt zur Ausstellung in Neu- stadt 1949 von Wolfgang Reisewitz gegründet. Der Fotograf Reisewitz or- ganisierte im Auftrag der französischen Besatzer anlässlich einer Wirt- schaftsmesse eine Fotografieausstellung. Die beteiligte Jury lehnte jedoch einen Teil seiner Vorschläge ab. Daher organisierte Reisewitz für die abge- lehnten sechs Fotografen (Peter Keetman, Siegfried Lauterwasser, Toni Schneiders, Ludwig Windstoßer und Otto Steinert) eine zusätzliche Aus- stellung, die schließlich zusammen die Gruppe ‚fotoform‘ bildeten. Vgl. Auer, Barbara: „Die Fotografie ist ein äußerst spannendes Medium, unge- heuer vielseitig, flexibel und sicherlich noch lange nicht ausgelotet.“ Ein Gespräch zwischen Prof. Dr. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Barbara Auer am 29. Juli 1998 in München. In: Auer 1998, S. 7-18, hier S. 11. 30 Schmoll, gen. Eisenwerth, im Gespräch mit Barbara Auer: ebd., S. 11, S. 12.

EINLEITUNG | 31

‚fotoform‘ avancierten die ‚subjektive fotografie‘ und die damit ver- bundenen Ausstellungen zu internationaler Bedeutung. Otto Steinert präsentierte 1951 in Saarbrücken avantgardistische Arbeiten von Foto- grafen wie László Moholy-Nagy, Herbert Bayer und Man Ray der 20er-Jahre, um die Tradition der experimentellen Fotografie aufzuzei- gen. Überdies vertrat er Fotografen, die sich den Zielen von ‚fotoform‘ anschlossen und im Gegensatz zur vermeintlich objektiven Fotografie, im Sinne der Dokumentations- und Sachfotografie, eine experimentel- le, surreale oder abstrahierende Fotografie anstrebten − ihren Arbeiten also bewusst einen subjektiven, persönlichen Ausdruck verliehen. Die ‚neue Fotografie‘ der 20er-Jahre zeichnet sich dadurch aus, dass mit dem Medium der Fotografie erstmals experimentiert wurde und ver- schiedene Techniken, wie das Fotogramm, die Montage, die Doppel- belichtung etc., erprobt wurden. Die Fotografen der 50er-Jahre erwei- terten diese Techniken um die ‚Sandwichtechnik‘, erschlossen syste- matisch die Strukturfotografie, vergrößerten das Bildformat, experi- mentierten mit Bildausschnitt und Blickwinkel und erhöhten die bild- nerische Qualität. Zwar traten Strukturfotografien auch bereits in den 20er-Jahren auf, doch die bewusste und fokussierte Abbildung von grafischen Spuren in Architektur, Technik und Natur bleibt im We- sentlichen eine Erscheinungsform der ‚subjektiven fotografie‘.31 Ne- ben den experimentellen Lösungen war das „formal und inhaltlich ge- staltete Foto“32 von hohem Interesse. Die von Steinert für die Ausstel- lungen ausgewählten Arbeiten reichten

„von Reportageaufnahmen [...] über Bilder, bei denen die Komposition wichti- ger als das Motiv wurde, und nachträglich veränderte Fotografien bis zu Expe- rimenten mit Licht und Fotopapier“33.

31 Vgl. ebd., S. 13ff. 32 Steinert, Otto: Vorwort. In: ders.: subjektive fotografie. Internationale Ausstellung moderner Fotografie. Ausst.-Kat. Fotografische Abteilung der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk. Saarbrücken 1951, S. 5. 33 Koenig, Thilo: „Subjektive Fotografie“ in den fünfziger Jahren. Berlin 1988, S. 9. Dass auch einige Reportageaufnahmen zur ‚subjektiven foto- grafie‘ gezählt wurden, verweist auf die damalige Diskussion, dass im Grunde jede Fotografie als ‚subjektiv‘ bezeichnet werden müsse. Eine Do- kumentarfotografie könne nicht als absolut objektiv gelten, da sie immer vom subjektiv auswählenden Fotografen bestimmt werde. Dieser subjekti-

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Die Fotomontage und die gleichzeitige Verwendung anderer Medien wie noch in den 20er-Jahren gab es nicht, da sich dies zu sehr von der Fotografie als abbildendem Medium entfernte.34 Gurskys zweijähriges Studium war nur zu Beginn von der promi- nenten Lehrerpersönlichkeit geprägt, denn Otto Steinert starb ein hal- bes Jahr nach Gurskys Immatrikulation.35 Neben der ‚subjektiven fo- tografie‘ standen die Werbung, die Illustration und der Fotojournalis- mus im Zentrum der künstlerischen Lehrjahre. Von den diversen Gast- dozenten, die auf Steinert folgten, hinterließ Michael Schmidt mit sei- nen Stadtlandschaften nachhaltigen Eindruck bei dem jungen Studen- ten. Obwohl Gurskys Aufnahmen aufgrund ihrer Nähe zur Werbefoto- grafie von Schmidts Stilvorstellungen weit entfernt waren, verinner- lichte er neben den Einflüssen Steinerts und André Gelpkes – der ebenfalls zu den Vertretern der ‚subjektiven‘ Richtung gehörte – den poetischen Reiz der auf den ersten Blick nüchtern wirkenden Aufnah- men. Nach seinem Abschluss 1979/80 wollte Gursky schließlich in Hamburg Fotojournalist werden, dies gelang jedoch nicht.36 Die entscheidende und letzte Phase der fotografischen Ausbildung beginnt im Herbst 1980, als er sich – dem Vorschlag seines Freundes Thomas Struth folgend – an der Düsseldorfer Kunstakademie bewirbt und auch immatrikulieren kann. Nach dem einjährigen Grundstudium entscheidet sich Gursky für die Vertiefung ‚Freie Kunst‘, die neben der Kunsterziehung an der Kunstakademie angeboten wird. Er bewirbt sich bei Bernd Becher, der 1976 an die Akademie berufen worden war, und wird in den Kreis seiner Schüler aufgenommen. Eine besonders

ve Einfluss rechtfertige somit die Stellung der Fotografie als eine Form künstlerischen Ausdrucks, gleich der Malerei, Graphik etc., die ihr zur Zeit ihrer Erfindung nicht zugestanden wurde. Die ausdrückliche Benennung von Werken als ‚subjektive fotografie‘ sollte nun den Aspekt der Gestal- tung durch den Fotografen ausdrücklich hervorheben. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. dazu ausführlicher die Beiträge von J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Objek- tive und subjektive Fotografie und Franz Roh: Über die innere Reichweite der Fotografie. Beide in: Steinert, Otto (Hrsg.): Subjektive Fotografie. Ein Bildband moderner europäischer Fotografie. Bonn 1952, S. 8-12, hier S. 9 und S. 13-15, hier S. 13f. 34 Vgl. Koenig 1988b, S. 9. 35 Hinweis von Andreas Gursky an die Verfasserin am 10.04.2011. 36 Vgl. Jocks 1999, S. 252f. Vgl. Galassi 2001, S. 12f.

EINLEITUNG | 33 konstruktive Arbeitsatmosphäre lag damals in der nur kleinen Studen- tengruppe und in der intensiven – zum Teil im Privatbereich des Foto- grafenehepaars Bernd und Hilla Becher stattfindenden – Betreuung begründet. Zu den Studenten der Klasse zählten auch Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Struth, Volker Döhne und Tata Ronkholz. Hütte und Struth hatten ihre Ausbildung bereits beendet, als die Studenten Andreas Gursky, Thomas Ruff und Petra Wunderlich dem Kreis bei- traten. Später kamen u.a. Simone Nieweg und Jörg Sasse hinzu. 1987, nach sechsjährigem Studium, verlieh Bernd Becher Andreas Gursky den Titel des Meisterschülers.37 Das Werk des Lehrerehepaars Becher steht maßgeblich für eine gleichermaßen dokumentarische wie künstlerische Fotografie, die in ihrer unpersönlichen Objektivität konträr zur Fotografie Steinerts stand. Ihre typologische Arbeitsweise und die serielle Präsentation der Werke ermöglichen eine vergleichende Bildbetrachtung, die das Prin- zip ihrer künstlerischen Haltung ausmacht. Die aus den Bereichen Schwerindustrie und Funktionsbau gewählten Motive legen zudem Zeugnis ab von einer funktional und kapitalistisch geprägten Architek- turgeschichte. Bernd und Hilla Becher begannen in den 60er-Jahren damit, eine vollständige Dokumentation alter Industriegebäude anzu- streben. Dabei wurden sie nicht von denkmalpflegerischen Ambitionen geleitet, sondern von dem Streben nach einer objektiven Bestandsauf- nahme von Gebäuden, deren ursprüngliche Funktion bereits obsolet geworden war. Ihre fotografische Haltung leitet sich von der frühen Industriefotografie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ab, die einen umfassenden, erhöhten und auf die funktionalen Eigenschaften der Architektur ausgerichteten detailgenauen Blick sowie eine neutrale Himmel- und Lichtsituation bevorzugten.38 Die Bechers entwickelten daraus ihre Strategie der „fotografischen Aufnahme aus der Distanz, um die Dinge nah zu sehen“39. Nach ersten Ausstellungen in Deutsch-

37 Vgl. Jocks 1999, S. 255. Vgl. Galassi 2001, S. 12, S. 15f. 38 Vgl. Herzogenrath, Wulf: Becher und Becher-Schule. In: ders.: Mehr als Malerei. Vom Bauhaus zur Video-Skulptur. Regensburg 1994, S. 202-229, hier S. 202ff. Die Bechers fanden die Aufnahmen der Stahlindustriearchi- tektur – wie z.B. von Peter Weller – u.a. in den Archiven der Firmen des Siegerlandes. Vgl. Galassi 2001, S. 10f. 39 Herzogenrath 1994, S. 203.

34 | DIE KONSTITUTION DER DINGE land, den Niederlanden und den USA40 sowie nach ersten Veröffentli- chungen in Zeitschriften41 in den 60er-Jahren gaben Bernd und Hilla Becher 1970 ihr erstes Buch mit dem Titel ‚Anonyme Skulpturen – Eine Typologie technischer Bauten‘ im Art-Press Verlag Düsseldorf heraus. Darin ordnen sie erstmals die fotografierten Architekturen nach Formverwandtschaft und definieren spezifische Serien. Der von den Bechers bereits 1969 geprägte Begriff ‚Anonyme Skulpturen‘ er- zeugte ein neues Verständnis von industrieller Architektur. Der Direk- tor der Kunsthalle Düsseldorf – Karl Ruhrberg – erklärt 1969 anläss- lich der Ausstellung ‚Anonyme Skulpturen‘:

40 Es handelt sich dabei um folgende Ausstellungen: 1963, ‚Fachwerk‘, (Häuser und Industriegebäude des Siegerlandes), Buchhandlung und Gale- rie Ruth Nohl in Siegen; 1965, (Serien von Kalköfen, Hochöfen, Förder-, Wasser- und Kühltürmen, Häuser etc.), Galerie Pro in Bad Godesberg bei Bonn; 1967, ‚Industriebauten 1830-1930. Eine fotografische Dokumentati- on von Bernd und Hilla Becher‘, mit einem Vorwort von Wend Fischer, Die Neue Sammlung, Staatliches Museum für angewandte Kunst, Mün- chen; 1968, ‚Bouwen voor de Industrie in de negentiende en twintgste eeuw. En fotografische dokumentatie door Hilla en Bernd Becher‘, Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven; 1968, University of Southern California in Los Angeles und 1969, ‚Anonyme Skulpturen. Formverglei- che industrieller Bauten‘, Photos von Bernhard und Hilla Becher, mit Tex- ten von Bernhard und Hilla Becher, Karl Ruhrberg und Thomas Grochowiak, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf. Vgl. Lange, Susanne: Von der Entdeckung der Formen. Zur Entwicklung des Werkes von Bernd und Hilla Becher. In: dies. (Hrsg.): Bernd und Hilla Becher. Festschrift Eras- muspreis 2002. München 2002, S. 11-31, hier S. 16-21. Vgl. auch Lange 2002, S. 159-162. 41 Es handelt sich dabei u.a. um folgende Veröffentlichungen: Kahmen, Vol- ker: Möglichkeiten einer Dokumentation der Industriearchitektur. In: Werk und Zeit. 14. Jg., Juli/August 1965, Heft 7/8 und Kahmen, Volker: Indust- riefachwerk – Beitrag zur Morphologie des Siegerlandes. In: Bauwelt. 57. Jg. 1/2, 10. Januar 1966, S. 21-31. Vgl. Lange 2002a, S. 20.

EINLEITUNG | 35

„Es sind Gebilde, die wie anonyme Skulpturen oder anonyme Strukturen in der Landschaft stehen, die deren Bild bestimmen und eine Art zweiter Natur ge- worden sind: Organe und Zeugen der frühen technischen Existenz.“42

Festzuhalten ist, dass das fotografische Prinzip der Bechers durch eine präzise, sachlich-nüchterne und konstante Arbeitsweise, durch das formatfüllend und in frontaler Darstellung im Zentrum der Fotografie stehende Objekt, durch ein systematisch-archivarisches Vorgehen und durch die typologische Reihung geprägt ist. Das Subjekt tritt insofern zurück, als auf eine originäre Gestaltung verzichtet wird. Bis 1984 verinnerlicht Gursky die streng typologische Arbeitswei- se der Bechers. Für die in dieser Zeit entstandene Serie über Foyers von Industrieunternehmen und Konzernen, in denen Gursky stets zwei stereotyp gekleidete Empfangspersonen vorfand, erhielt er 1984 be- reits den 1. Kodak-Nachwuchs-Förderpreis.43 Nach 1984 ebnet sich Gursky den Weg zu eigenständigem künstlerischen Schaffen, indem er sich bewusst von den Vorgaben seiner Lehrer löst und mit landschaft- lichen Motiven seinen eigenen Stil sucht.44 Zu diesem Zeitpunkt arbei- tet er bereits intensiv mit der Farbfotografie. Ein Graduiertenstipendi- um der Kunstakademie im Jahr 1987, das er mit Hilfe von Kaspar Kö- nig erhält, erlaubt es ihm, sich nach Beendigung der Akademie 1987/88 allein auf seine fotografische Profession zu konzentrieren.45

42 Ruhrberg, Karl: Anonymität als Stilprinzip. Fotos industrieller Bauten von Bernhard und Hilla Becher. In: Anonyme Skulpturen. Formvergleiche in- dustrieller Bauten. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 1969, o.S. Hier nach Ruhrberg, Karl: Avantgarde – klassisch geworden. Zu den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher. In: Lange 2002, S. 39-40, hier S. 40. Siehe auch Lange 2002a, S. 23. 43 Vgl. Meister, Helga: Andreas Gursky. Sonntagsbilder. In: dies.: Fotografie in Düsseldorf. Die Szene im Profil. 1. Aufl. Düsseldorf 1991, S. 176-179, hier S. 177. Vgl. auch Jocks 1999, S. 255. 44 Vgl. Jocks 1999, S. 256. 45 1989 erhält er den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstler und den 1. Deutschen Photopreis Stuttgart sowie 1990 ein Sti- pendium für Zeitgenössische Fotografie der Alfred Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung; es folgt 1991 der RENATA Preis der Kunsthalle Nürn- berg. 1998 wird ihm der Citibank Photography-Prize, London, und 2003 der Wilhelm-Loth-Preis der Stadt Darmstadt verliehen. Zuletzt hat er 2008

36 | DIE KONSTITUTION DER DINGE

den Kaiserring Kunstpreis der Stadt Goslar und den LeadAward, LeadAcademy für Mediendesign und Medienmarketing e.V., Hamburg, erhalten. Die erste große Einzelausstellung erhält Gursky 1994 in den Hamburger Deichtorhallen, der bis zur Retrospektive durch Peter Galassi im Jahr 2001 Einzelausstellungen u.a. in Liverpool, Wolfsburg und Hous- ton folgen. Im Jahr 2007 wird ihm erneut eine Retrospektive im Haus der Kunst, München, gewidmet; Ausstellungen in Basel und 2008 in Dar- mstadt und Krefeld folgen. In der Aufnahme ‚Charles de Gaulle‘ von 1992 bezieht Gursky zum ersten Mal die digitale Bildbearbeitung – die zu einem wesentlichen Merkmal seiner Arbeiten wird – ein. Seit 1993 wird er von der Galerie Sprüth Magers in Köln betreut. 2002 bezieht Gursky mit sei- nem Freund und Kollegen Thomas Ruff das von den Architekten Herzog & de Meuron zum Atelier umgebaute Umspannwerk im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel, wo er seitdem lebt und arbeitet. 2010 nimmt er die Professur für das Fach ‚Freie Kunst‘ an der Düsseldorfer Kunstakademie an.