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510 MEDIENwissenschaft 04/2017

Bereichsrezension: Japanische Populärkultur Rayna Denison: : A Critical Introduction London/New York: Bloomsbury 2015 (Film Genres), 191 S., ISBN 9781847884794, USD 23,99

Casey Brienza: in America: Transnational Book Publishing and the Domestication of Japanese Comics London/New York: Bloomsbury 2016, 214 S., ISBN 9781472595874, GBP 17,99

Northrop Davis: Manga & Anime Go to Hollywood: The Amazing Rapidly Evolving Relationship between Hollywood and Japanese Animation, Manga, Television, and Film London/New York: Bloomsbury 2016, 410 S., ISBN 9781623561444, GPB 17,99

Michiko Mae, Elisabeth Scherer, Katharina Hülsmann (Hg.): Japanische Populärkultur und Gender: Ein Studienbuch Wiesbaden: Springer VS 2016, 308 S., ISBN 9783658100629, EUR 49,99

Es gibt einige wissenschaftliche Werke, mation einen alternativen Umgang mit die es schaffen, die Auseinandersetzung Bild, Zeit und Bewegung im Anime mit japanischen Manga und Anime heraus. Marc Steinberg wiederum ver- nicht darauf zu reduzieren, Auskunft bindet in seiner Studie Anime’s Media über eine Populärkultur zu geben, die (Minneapolis/London: University manchen noch eher unbekannt und of Minnesota Press, 2012) den verän- randständig erscheinen mag, sondern derten Objektcharakter einer neuen die diese Auseinandersetzung mit Medienkultur mit der Geschichte des grundsätzlichen Fragen der Medien- Anime – vor allem in den Kapiteln kultur zu verknüpfen verstehen und zu transmedialen Effekten der frühen zur medienwissenschaftlichen Theo- Anime-Serie Astro boy (1963-1966), riebildung beitragen. Thomas Lamarre deren Merchandisingprodukte Fra- bietet etwa mit The Anime Machine gen zur Grenze zwischen Medien als (Minneapo­lis/London: University of immateriellen Trägern von Inhalten Minnesota Press, 2009) eine Medien- und Medien als Objekten aufwerfen. theorie des Anime und stellt mit seiner Ian Condry koppelt in seiner Studie Auseinandersetzung mit der limited ani- The Soul of Anime (Durham: Duke UP, Medien / Kultur 511

2013) die Beschäftigung mit Anime- ben wurde, vor allem aber wie auf diese serien an eine ethnografische Ausei- Weise durch das Publikum die Genres nandersetzung mit neuen Formen der konstruiert wurden (vgl. S.17). Denison Kreativität und einer neuen Produk- mag in ihrer Arbeit immer wieder auch tionskultur, bei der etwa die Grenze Aspekte der Ästhetik des , etwa zwischen Fan und Produzierenden tat- in Bezug auf die Darstellung des Kör- sächlich auf signifikante Weise über- pers und von Sexualität, in den Blick schritten wird. nehmen, sie interessiert sich aber mehr Die vorliegenden Monografien aus für den Effekt der Körperdarstellung dem Bloomsbury-Verlag sowie die bei auf die Debatten über Anime unter Springer VS veröffentlichte Aufsatz- Kritiker_innen und Publikum. Ebenso sammlung Japanische Populärkultur und gerät eine kleine, griffige Skizze der Gender sollen auch daran gemessen wer- Geschichte der Animeproduktion in den, wie es ihnen gelingt, eine medi- Japan und ihrer Adaption in den USA enkulturwissenschaftliche Erkundung zu einer Auseinandersetzung mit den dieses Terrains mit Begriffs- und Theo­ Produktionszwängen der US-Fern- riebildung zu verknüpfen und damit sehserien und ihrem Einfluss auf diese neben dem Fan und den Fachkundigen Produktionen (vgl. S.83), was wiederum noch weitere Lesende für diese Beiträge eine wichtige Rolle bei der Konstruk- und für die japanische Populärkultur tion von Genrekategorien des Anime zu erschließen. Das gelingt, so viel ist spielt. Dass die Aneignung und die festzuhalten, unterschiedlich gut. Diskussion von Anime durch die Fans So verspricht die Studie Anime: A zentral für die Genrebildung ist, macht Critical Introduction von Rayna Denison Denison auf überzeugende Weise in mit dem Titel etwas anderes, als letzt- einem Kapitel deutlich, das sich mit der lich geliefert wird: keine allgemeine Unterscheidung der Genres shōnen (für Einführung in die Geschichte des junge männliche Zuschauer) und shōjo japanischen Animationsfilms, sondern (für junge weibliche Zuschauerinnen) eine Auseinandersetzung mit Genre- beschäftigt. Sie zeichnet die zufälligen bildung im transkulturellen Migrati- Wege nach, wie Anime in die USA onsprozess. Das methodische Vorgehen gekommen ist (über Sender für die bei Denison beruht auf einer Ausei- japanische Diaspora) und beschreibt die nandersetzung mit dem Diskurs, der intensiven, mit Sendungsbewusstsein die Genrebildung begleitet (vgl. S.5). verbundenen Aktivitäten früher Fans, Daher geht es weniger um die jeweils die ihre geliebten Texte für westliche untersuchten Genres – einzelne Kapitel Zuschauende erst zugänglich gemacht widmen sich dem Science-Fiction- oder haben (bspw. als Kopien selbstaufge- Horror-Anime, den Filmen des Studio nommener Sendungen auf Video [vgl. Ghibli oder den Einflüssen bestimm- S.86]). Diese Fans und early adopters ter Medienformate auf die Entwicklung nehmen Anime und seine unterschied- der Animegenres – sondern darum, wie lichen Ausformungen sehr ernst, und über Anime gesprochen und geschrie- diese Formation weist damit auch eine 512 MEDIENwissenschaft 04/2017 sehr elaborierte Genrediskussion auf. und kulturwissenschaftlicher Blick auf Allerdings wirken die Verbindungen, Bedingungen des kreativen Arbeitens die Denison hier findet, mitunter in der Medienindustrie. Die Lesenden reichlich konstruiert: So identifiziert lernen die Geschichte des Entstehens sie beispielsweise wenig überzeugend einer US Manga-Industrie als kultu- in Mack Sennetts Slapstickkomödien relles Feld im Sinne Pierre Bourdieus der ‚Keystone Cops‘ aus den 1910er Jah- kennen, dessen Entwicklung mit dem ren einen Vorläufer für die Animeserie Erfolg von Sailor Moon (1992-1997) Mobile Police (1988-1989), nur und später mit Mangaserien wie Naruto weil beide sich auf humorvolle Weise (1999-2014) oder Piece (1997-) in mit einer Gruppe Polizisten beschäfti- den 1990er Jahren begann. Informatio- gen (vgl. S.98). nen zu amerikanischen Mangaverlagen In der Reihe „Film Genres“ von wie , Kodansha Comics oder Bloomsbury veröffentlicht, zeigt diese Yen Press werden geboten sowie zu den Arbeit Limitationen einer erschöp- Regularien der Lizensierung, aber auch fenden und zu genauen Genrediskus- zu neuen Formen des Publizierens, die sion, die am Ende gar nicht so viel sicherstellen sollen, dass anspruchs- abwirft, weil aufgrund des kurzen volle und interessante Manga, die nur Reihen­formats weder genug Raum ein Nischenpublikum finden können, dafür da ist, einzelne Genres des Anime auf digitalen Plattformen oder durch zu beleuchten, noch dafür, eine auch Crowdfunding veröffentlicht werden für andere Bereiche der Medienwissen- können. Aber es ist es vor allem die schaft überzeugende und produktive genaue Analyse der „labor of domesti­ Diskussion zu eröffnen. cation“ (S.113), einer häuslichen Gelungener in dieser Hinsicht ist Tätigkeit prekärer Existenzen ohne Manga in America von Casey Brienza. Sicherheiten und ausreichendes Aus- Auf den ersten Blick enttäuscht diese kommen, die Manga in America inte- soziologisch ausgerichtete und auf vie- ressant macht und den vielen kreativen len Interviews mit im amerikanischen Beteiligten ein Gesicht gibt: „It would, Manga-Verlagswesen Tätigen basie- in my view, hardly be an exaggeration rende Arbeit, weil auch sie letztendlich to say, that the US-manga publishing wenig zu einzelnen Manga zu sagen field depends upon youth, energy, and hat. Wer sich in diesem Feld nicht so total commitment of its many laborers. gut auskennt, wird diese Expert_innen- Without the nearly superhuman effort diskussion von Adaptionsprozessen, die they put into the transnational pro- hier mit dem Begriff der Domestizie- duction of culture, it would not exist“ rung im transnationalen Rahmen (vgl. (S.112). Gründe dafür, warum diese S.37) erfasst werden sollen, wenig inte- Arbeit geleistet wird – etwa neolibe- ressant finden. Im Laufe der Lektüre rale Formen der Selbstausbeutung, die überzeugt aber der sehr genaue Blick auf Autor_innen wie Marc Andrejevic oder die Produktionsprozesse von Manga­ Angela McRobbie (vgl. S.131) beschrie- adaptionen in den USA als ein medien- ben haben, kann Brienza nur andeuten. Medien / Kultur 513

Am überzeugendsten scheint ein Argu- einigen kanonisierten und bekannten ment zu sein, in dem sich die Fanak- Werken der Manga- und Animefor- tivitäten einer neuen, kollaborativen, schung meist nur Internetquellen, ihm digitalen Medienkultur und das Exper- fehlen theoretische Bezugspunkte tentum der Mitarbeiter_innen der US- und eine stringente Argumentation. Manga-Industrie vermischen: Es geht Diese skurrile Arbeit lässt sich auch nicht um den Wunsch, kulturelle Ver- aus diesen Gründen als medienwis- mittlungsarbeit zu leisten, sondern um senschaftliche Publikation nicht ernst das Gefühl, an etwas beteiligt zu sein nehmen – es bleibt ein Rätsel, wie es und die Ergebnisse in der Produktion dieses Irrlicht durch das Lektorat eines kultureller Güter kontrollieren zu kön- so großen und renommierten Verlages nen (vgl. S.133). Brienzas Studie kann geschafft hat. somit dem Konzept einer partizipativen Der von Michiko Mae, Elisabeth Kultur, das mitunter zu oberflächlich Scherer und Katharina Hülsmann verwendet wird, tatsächlich Bedeutung herausgegebene Band Japanische Popu- geben. lärkultur und Gender unterscheidet sich Manga & Anime Go to Hollywood als Aufsatzsammlung und mit der Bin- von Northrop Davis ist ein eher dung an Genderthemen deutlich von bizarres und wenig medienwissen- den anderen Publikationen. Mae und schaftliches Werk. Das deutet sich Scherer haben bereits mit der Heraus- bereits mit dem sperrig-barocken­ gabe des Essaybands Nipponspiration Untertitel der Publikation an, setzt (Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2013) sich in einem wohl didaktisch gemein- große Beiträge zur Erforschung der ten, unruhigen Layout fort, bei dem japanischen Populärkultur und ihrer in den unzähligen, unterschiedlich Rezeption im Westen geleistet; Scherer formatierten Zwischenüberschriften ist zudem Autorin von Spuk der Frauen- Thesen und Fragen formuliert wer- seele (Bielefeld: transcript, 2011), einer den. Am meisten irritiert allerdings ausgezeichneten Studie zum Geister­ die narzisstische Neigung des Autors motiv im japanischen Kino. Die Autor_ – etliche Fotos zeigen ihn im Urlaub in innen dieses Bandes, die fast alle aus Japan, und in vielen Bildunterschriften den Japanstudien stammen, öffnen und Bemerkungen stellt er seine eige- kenntnisreich den Blick auf ein weites nen Leistungen und die seiner vielen Feld der japanischen Populärkultur. Student_innen, die seine Manga- und Die Perspektive und theoretische Aus- Anime-Klasse besuchen, heraus. Zwi- richtung ist sehr klar, aber nicht neu: schen den unzähligen, teils willkürlich Gendertheorien, die mit Judith Butler ausgewählten Illustrationen und teils die Produktivität und Wandelbarkeit interessanten Expert_inneninterviews von geschlechtlicher Identität heraus- findet sich tatsächlich manchmal auch stellen oder mit den Cultural Studies Wissenswertes über Manga und Anime ein widerständiges und transforma- und ihren Einfluss auf die amerika- tives Potenzial der Populärkultur und nische Kultur. Davis nutzt aber neben ihrer Rezeption zuordnen. Das spielt 514 MEDIENwissenschaft 04/2017 beispielsweise eine Rolle, wenn es in über das unbekannte Feld japanischer dem Beitrag von Mae darum geht, den Fernsehproduktionen und ihrer Eigen- an Leserinnen gerichteten shōjo-Manga heiten berichtet, sondern auch akzentu- als subversiven Raum für Genderex- iert, inwiefern in diesem Format häufig perimente zu betrachten (vgl. S.23). im Beruf erfolgreiche Frauen gezeigt Ein weiteres Beispiel ist der Beitrag werden und sich in ihnen tatsächlich von Stephan Köhn, der die Gender­ häufig Momente des Geschlechter- transgression des Subgenres der tausches finden, die beispielsweise in ­magical-girl-Manga (z.B. Sailor Moon) der Serie Kimi wa petto (2003) sehr in dem Heraustreten aus einer hetero- weit getrieben werden. In ihr hält sich normativen Ordnung in dem Moment eine erfolgreiche Geschäftsfrau einen der Verwandlung der Hauptfiguren Mann als ‚Haustier‘, lässt dies aber als verortet (vgl. S.68). Weniger expli- gleichberechtigte Beziehung erscheinen zite Gender­transgressionen entdeckt (vgl. S.140). Elisabeth Scherer liefert Christian Weigerber in Subgenres der in ihrem Beitrag einige Erklärungen shōnen-Manga (1992-1999), dafür, warum neue Beziehungsformen (1981-1986) oder Cross Game (2005- und Gendermodelle in diesen Serien 2010), die im Baseballmilieu beheima- eine Rolle spielen. Diese hochgradig tet sind, aber wenigstens eine zaghafte kommerziellen Produkte, in denen Anpassung der weiblichen Figuren an Werbung und Serie stark verzahnt die modernen gesellschaftlichen Vor- sind und die Hauptdarsteller_innen oft stellungen der Rolle der Frau vorneh- beworbene Produkte auch repräsentie- men und sie nicht mehr auf die Rolle ren, wird Geschlecht zu einer form- einer unterstützenden Begleiterin der baren Kategorie des Konsums und ist sportlichen Karriere der Hauptfiguren für Veränderungen offen (vgl. S.164). reduzieren (vgl. S.92). Kenji-Thomas Lesenswert sind auch die abschlie- Nishino macht deutlich, dass hybride ßenden vier Beiträge zu Partizipation Figuren männlicher Frauen und weib- und Fankultur, eben weil die japa- licher Männer gerade in populären nische Fankultur äußerst kreativ und Manga wie One Piece, Naruto oder produktiv ist. So fragt Hülsmann mit ­Sailor Moon beheimatet sind, jedoch vor einem komplexen Raster an Begrif- allem weibliche Männer als defizitär, fen und Motiven nach den Gründen übertrieben und unwirklich dargestellt dafür, warum Fans dōjinshi, die japa- werden (vgl. S.113). nische Form der Fanfiction, zu dem Sehr interessant sind in den Bei- erfolgreichen Manga Berserk (1989-) trägen von Hilaria Gössmann und produzieren. Geht es in diesem Beitrag Scherer die Beschreibungen populärer, bereits schon stark um Gendertrans- alltagsnaher, relativ wenige Episoden gression und homosexuelle Subtexte, umspannender japanischer Fernseh- führt Stephanie Klasen diesen Punkt serien (terebi dorama), die meist den noch weiter aus, wenn sie zeigt, wie Zeitraum von drei Monaten einneh- eine Mitmachfiktion als Variante des men (vgl. S.151). Hier wird nicht nur dōjinshi zu Naruto explizit mit dem Medien / Kultur 515

Genderswitch operiert und dazu mit Cosplay einen Möglichkeitsraum einlädt, sich vorzustellen, dass die entfalten, der stärker mit der eigenen männlichen Figuren sich in weibliche Identität als mit der imaginärer Figuren verwandeln (vgl. S.220). verbunden ist (vgl. S.258). So kenntnisreich die einzelnen Nach der Lektüre der vier Publi- Beiträge, an deren Argumentation kationen zur japanischen Populärkul- meist nicht viel auszusetzen ist, sein tur bleibt eine leichte Unzufriedenheit mögen, stellt sich doch der Eindruck zurück, nicht noch mehr über diese von Redundanz ein. Subversion und Kultur gelernt zu haben, weil sich die Transgression finden sich natürlich Beiträge zum Teil eher auf Muster der überall, das transgressive Potenzial der Aneignung, der Genrekonstruktion, japanischen Populärkultur erscheint der Arbeit in der Manga- und Comic­ damit doch etwas überschätzt; die industrie beziehen. Dies ist aber auch Theorien und Begriffe, auf die sich die ein deutlicher Hinweis darauf, dass Autorinnen und Autorinnen beziehen, sich das Feld der Anime- und Manga­ haben sich seit über 30 Jahren nicht studien mittlerweile so ausgeweitet verändert. Den Beiträgen gelingt es hat, dass es in den einzelnen Arbeiten jedoch immer wieder über diese Nei- tatsächlich nicht mehr nur darum geht, gung zur Redundanz hinauszugehen. in eine fremde Kultur einzuführen und So macht Karen Heinrich in ihrer Hagiografien für ihre erfolgreichsten Auseinandersetzung mit dem Phäno- Vertreter und Produkte zu schrei- men des Cosplay, bei dem sich Fans ben. Sie lassen eine Form des Exotis- als Figuren aus Manga- und Animeer- mus, der die Auseinandersetzung mit zählungen kostümieren, etwa deutlich, Manga und Anime immer begleitet dass diese Gendertransgression immer hat, hinter sich und erkennen an, dass auch mit einem Moment der Kontrolle diese Kulturformen mittlerweile Teil durch die Akteur_innen verbunden ist. unseres Alltags geworden sind und Die Grenze zwischen Alltag und ihren medienwissenschaftlich erkundet wer- Auftritten bei Conventions zeigt dies den müssen. sehr genau (vgl. S.254). Sie wollen sich nicht in eine Figur verwandeln, sondern Herbert Schwaab (Regensburg)