Francesco Spöring Mission und Sozialhygiene

Francesco Spöring Mission und Sozialhygiene

Schweizer Anti-Alkohol-Aktivismus im Kontext von Internationalismus und Kolonialismus, 1886-1939

WALLSTEIN VERLAG

Inhalt

Kurzfassung ...... 9

Einführung ...... 11 Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität ...... 15 Eingrenzung I: temporal ...... 18 Forschungsstand ...... 20 Globale Bezugspunkte ...... 23 Eingrenzung II: Auswahl der Akteure ...... 28 Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus ...... 37 Sprachliche Anmerkungen ...... 43

1. Eine Verortung der international orientierten Anti-Alkohol- Akteure der Schweiz im internationalen Kontext . . . . . 47 1. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert ...... 48 Die Mäßigkeitsbewegung als transnationales Phänomen . . . 50 Hinwendungen zur Abstinenz ...... 53 Medizinische Problematisierungen des Alkoholgenusses . . . 56 Die Weltkriege als Zäsuren ...... 65 2. Die Basler Missionsgesellschaft ...... 68 Die Basler Mission als Teil eines evangelischen Netzwerks . . 72 3. Auguste Forel als Botschafter der sozialhygienisch geprägten Abstinenzbewegung...... 75 Die sozialhygienisch geprägte Abstinenzbewegung ...... 81 Zur Charakterisierung der sozialhygienisch geprägten . . . . . Abstinenzbewegung ...... 85 Der Guttemplerorden als Knotenpunkt sozialhygienischer Ansichten ...... 94 6 Inhalt

4. Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf ...... 108 Das International Bureau against als global vernetzte NGO ...... 110 Ergebnisse und Folgen der Konferenz ...... 115 Die Resolution A.62 vor dem Völkerbund ...... 117

2. Die Rhetorik der Freiheit ...... 123 Innen / Außen: Eine prägende Distinktion ...... 125 Süchtigkeit und Selbstkontrolle ...... 127 Das autonome Subjekt und das Unbewusste ...... 128 1. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung ...... 131 Der »legitime Handel« als Ermächtigungsstrategie ...... 134 Alkohol und Sklaverei ...... 136 Die Rolle der Basler Mission in der Debatte zum »überseeischen Branntweinhandel« ...... 138 Gesellschaftliche Mitbestimmung aus sozialhygienischer Perspektive ...... 145 Abstinenz und Demokratie ...... 149 Gleichberechtigung und Nüchternheit ...... 151 2. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit ...... 155 Sozialhygienische Geistigkeit ...... 161 Wille, Suggestibilität & Spiritualität ...... 164 Populäre Gegenpositionen: William James ...... 170 Freiheit und Liebe ...... 172 Sucht als medikalisierte ›Sklaverei des Geistes‹ ...... 174 Langfristigkeit & Weitsicht ...... 177 Zwischenfazit ...... 182

3. Die Rhetorik der Natürlichkeit ...... 185 1. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« ...... 188 Unreine »trade spirits« als internationaler Angriffspunkt . . . 191 Unreine Städte: Überbevölkerung, Schmutz und Prostitution 196 Inhalt 7

2. Bunges »Alkoholfrage« ...... 204 »Unsere Gewebe sind gar nicht darauf eingerichtet, mit jedem Material gespeist zu werden« ...... 208 3. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte ...... 215 Koloniale Bilder zum Alkoholgenuss ...... 220 Missionarische Verhaltenserklärungen zwischen Kultur, Klima und biologischer Prädetermination ...... 222 Koloniale Verhaltenserklärungen in den Medien des Blauen Kreuzes ...... 230 Sozialhygienische Erklärungen der Verhaltensunterschiede . . 231 Alkohol in Afrika an den Internationalen Kongressen gegen den Alkoholismus ...... 234 Nachahmung und Tierhaftigkeit ...... 237 »Mordlust und Unmäßigkeit« als koloniale Denkfigur für gefährliche Instinkte ...... 243 Zwischenfazit ...... 245

4. Die Rhetorik der Wirklichkeit ...... 247 Wissenschaftlichkeit und »Autoritätenkalamität« ...... 250 1. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit ...... 254 Produktion und Produktivität ...... 256 Sterblichkeit und Unfälle ...... 264 Kriminalität und kindliche Entwicklung ...... 267 Gesundheit und Medikalisierung ...... 273 2. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana . . . . 277 Rudolf Fischs Wirklichkeitsreferenzen ...... 286 Das erste Flugblatt ...... 287 Das zweite Flugblatt ...... 291 3. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen ...... 293 Abrahamitische Konkurrenz ...... 300 4. Die Motive des Aberglaubens und des Eskapismus . . . . . 306 Zwischenfazit ...... 312 8 Inhalt

5. Schlussbetrachtung ...... 315 1. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs ...... 315 Verwobenheit von Innerer und Äußerer Mission vor dem europäischen Erfahrungshintergrund ...... 317 Koloniale Tropen in der ›Inneren‹ alkoholgegnerischen Mission ...... 320 Koloniale Tropen in der sozialhygienischen ›Mission‹ . . . . 324 2. Ein Überblick und Ausblick zu transnationalen Medikalisierungsbestrebungen ...... 329 Aufstieg der transnational orientierten Anti-Alkohol-Verbände aus der Schweiz ...... 329 Alkoholgegnerische Denkfiguren, Argumente und Modi des Begründens ...... 333 Unterschiedliche Modi des Argumentierens ...... 334 Ausblick ...... 339

Anhang 1. Quellen ...... 343 1.1 Ungedruckte Quellen ...... 343 1.2 Gedruckte Quellen aus den untersuchten Periodika . . . . . 344 1.3 Gedruckte Quellen zur Anti-Alkohol-Bewegung ...... 353 1.4 Einflussreiche Texte ...... 361 2. Sekundärliteratur ...... 362 3. Abkürzungsverzeichnis ...... 385 4. Abbildungsverzeichnis ...... 386

Danksagung ...... 387 Kurzfassung

Als eine der frühsten zivilgesellschaftlichen Bewegungen mit globaler Reich- weite hat die Anti-Alkohol-Bewegung den gesellschaftlichen Umgang mit Trunkenheit und Berauschung mitgeprägt. Durch Einflussnahme auf in- ternationale Regulierungen von Rauschmittel, aber auch durch die Prägung eines spezifischen Sprechens darüber hat sie Spuren hinterlassen, deren Fol- gen sich noch heute bemerkbar machen. Diese Studie beschäftigt sich mit den Fragen, wie die Forderungen nach einer Eindämmung des Konsums von Alkoholika und anderen Rauschmittel dominant wurden und von wel- chen Vorstellungen und Denkmuster diese Argumente getragen wurden und werden. Ausgehend von einem internationalen Wissensaustausch wird aufgezeigt, wie die unterschiedlichen Akteure Motive und Strukturen auf- nahmen, modifizierten und – mit zumeist globalen Geltungs ansprüchen – in einem die Landes grenzen überschreitenden Diskurs weiter verbreiteten. In einem ersten Teil (Kapitel 1) wird die Ausbreitung des alkoholgeg- nerischen Trans national Advocacy Network skizziert und aufgezeigt, in welche Stränge die verschiedenen, international orientierten Akteure der Schweiz eingebunden waren und welche Impulse sie aussandten. Dabei wird einerseits auf das evangelisch geprägte Anti-Alkohol-Kollektiv um die Basler Mission und das Blaue Kreuz fokussiert, deren Problematisierungen des Branntweinexports nach Westafrika von zentraler Bedeutung waren, um internationale Handelsbeschränkungen durch den Völkerbund einzu- fordern. Andererseits steht die sozialhygienisch geprägte Abstinenzbewe- gung im Fokus, deren Impulse zu einer »religiös neutralen« Auseinander- setzung mit der »Alkoholfrage« erstaunlich stark von Akteuren ausgingen, die in der Schweiz ansässig waren. In einem zweiten Teil (Kapitel 2 bis 4) werden die dabei verwendeten, zumeist ineinandergreifenden Rhetoriken der Freiheit, der Natürlichkeit sowie der Wirklichkeit genauer betrachtet. Da diese Ideologeme prinzipiell unterschiedliche Lesarten zulassen, stellt sich die Frage, auf welche Lesart die Anti-Alkohol-Akteure diese positiv ausgelegten ›Container‹-Begriffe reduzierten. Welche Bilder, Motive und Denkfiguren setzten sie ein, um ihre Adressatinnen und Adressaten von der Richtigkeit ihrer Deutung zu über zeugen? Und wie räumten sie widersprechende Interpretationen von Freiheit, Natürlich keit und Wirklichkeit aus? 10 Kurzfassung

Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sich anhand dreier Thesen knapp zuspitzen: Erstens war die Alkoholgegnerschaft der Schweiz im transnationalen Anti-Alkohol-Netzwerk besonders gut vernetzt und hatte bedeutenden Anteil sowohl an interna tionalen Anti-Alkohol-Kampagnen als auch an der Medikalisierung des Alkoholismus. Der Schweizer Blick- winkel auf die international ausgerichtete alkoholgegnerische Agitation hinterfragt damit das in der Geschichtsschreibung verbreitete Narrativ einer einseitig vom angelsächsischen Sprachraum ausgehenden Wissens- diffusion. Zweitens unterschieden sich sowohl die wissenschaftlichen als auch die religiösen alkohol gegnerischen Positionen in Bezug auf ihre pro- pagierten Weltanschauungen nicht so stark, wie ihre postulierten Abgren- zungsversuche nahelegten. Auffällig sind die drei Gemeinsamkeiten einer Ethik der Nächstenliebe, der Askese als Mittel der Selbsterkenntnis sowie des Denkens in langfristigen Zeithorizonten. Diese normativen Gemein- samkeiten erleichterten die Kooperation der verschiedenen Akteurskollek- tive und trugen damit zur Verfestigung eines permanent-reflexiven Per- sönlichkeitsideals bei. Drittens thematisierten die untersuchten Akteure den Alkoholhandel in afrikanischen Kolonien ausgiebig, wobei die kolo- niale Konstellation mit den aufkommenden rassistischen Stereo typen um- gekehrt den Anti-Alkohol-Diskurs in der Schweiz verschärft hat. So wur- den ›unauffällige‹ Alkoholkonsumenten in der Schweiz in ironisierenden Bezug nahmen auf derartige koloniale Pauschalisierungen als »Schweizer Neger« bezeichnet. Diese drei Beobachtungen illustrieren nicht zuletzt, wie globalhistorische Zugänge die Anti-Alkohol-Bewegung in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus in einem anderen Licht erscheinen las- sen vermögen. Einführung

Als der amerikanische Physiolo ge Elvin Morton Jellinek 1960 seine ein- flussreiche Mono grafie The Disease Concept of Alcoholism veröffentlichte, war dessen Botschaft in medizinischen Kreisen weitgehend etabliert: Al- koholismus stelle eine Krankheit dar. Jellinek trug damit die Idee der »Alkohol krankheit«, die er zuvor in die Expertengremien der World Health Organisation (WHO) eingebracht hatte, an eine Weltöffentlichkeit.1 Da- bei verdeut lich te er anhand eines internationalen Überblicks, dass die pro- pagierte Krankheits-Konzeption auf eine lange Geschichte zurückblicken könne. Am gründlichsten sei die Frage der »illness nature of ›alcoholism‹«2 gar in der Schweiz erörtert worden. Unab hängig vom tatsächlichen Wahr- heitsgehalt ist dieser Ein druck dieses renommierten Alkohol-Spezialisten bemerkenswert; legt er doch die Vermutung nahe, dass von der Schweiz aus wesentliche Impulse zur Medikalisierung des chronischen Alkoholge- nusses ausgegangen sind. Damit empfiehlt sich ein Blick auf die international orientierten Anti- Alkohol-Aktivisten und -Aktivistinnen in der Schweiz, die insbeson- dere im Zeitraum zwischen 1886 und 1939 mit unterschiedlichem Erfolg versuch ten, den Alkohol von einem »hygienischen« Heilmittel zu einem »Nervengift« umzudeuten. Exemplarisch verdeutlicht ein Gerichts fall die angestrebte Um deutung: Im Sommer 1896 wurde ein abstinenter Arzt aus Charlottenburg der fahrlässigen Tötung angeklagt, weil er einem Patien- ten mit Blutvergiftung keinen Alkohol, sondern Fleischbrühen verabreicht hatte. »Trotz« hoher Alkohol- und Chiningaben, so die Argumentation des anklagenden Gutachtens des Medizinialrats, verstarb der Patient acht

1 Jellinek (1890-1963) verfestigte auch die noch gegenwärtig geläufige Typologi- sierung, die von einem Alpha- bis zu einem Epsilon-Typ reicht. Zu Jellineks Be- deutung vgl. Conrad, P. und Schneider, J. W., Deviance and medicalization: From badness to sickness (Philadelphia, PA.: Temple University Press, 1992), S. 91; Lucas, B., »Reducing discursive complexity: The case of policies in Europe (1850- 2000)«, in From science to action?: 100 years later – alcohol policies revisited, herausge- geben von Müller, R. und Klingemann, H. (Dodrecht, London: Kluwer Academic, 2004), S. 70-100 (84). Vgl. auch Brändle, F. und Ritter H. J., Zum Wohl! 100 Jahre Basler Abstinenzverband (Basel: Basler Abstinenzverband, 2010), S. 32 f. 2 Jellinek, E. M., The Disease Concept of Alcoholism (New Haven, CT: Hillhouse Press, 1960), S. 169. 12 Einführung

Tage später.3 Die vorgebrachte Beschuldigung mag aus heutiger Sicht er- staunen, illustriert aber den profunden Wahrnehmungswandel, den das einstige Heilmittel Alkohol in den vergangenen 120 Jahren durchschritten hat. Noch um 1900 führten medizinische Kompendien die Verabreichung von Alkohol als Heilmittel gegen Vergiftungen, Fieber oder Lungenent- zündungen auf, selbst wenn diese von abstinenten Ärzten zusammenge- stellt worden sind.4 Anlässlich der Klage von 1896 machten sich jedoch bereits verdichtete Anzei chen eines Meinungsumschwungs bemerkbar. Der im selben Jahr gegründete Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes mobili- sierte zu diesem Fall zahlreiche abstinente Ärzte und Professoren, die mit Verweisen auf Erfahrungen und neuere Studien die Legitimität der kriti- sierten Therapie bekräftigten. Deren Agitation zeigte Wirkung: Der an- geklagte Arzt Dr. Hirschfeld, vermutlich der später bekannt gewordene Sexualwissen schaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935), wurde freigespro- chen. Einerseits scheint dieser Freispruch die Aussage der Historikerin Ma- riana Valverde stützen, wonach Alkohol in der späten viktorianischen Ära in medizinischen Kreisen Deutschlands, Großbritanniens sowie der USA seinen Status als therapeutisches Heilmittel größtenteils eingebüßt habe.5 Andererseits hält aber der deutsche Historiker Hasso Spode fest, dass der Wein im deutsch spra chigen Raum auch nach der Jahrhundertwende noch für viele Ärzte ein beliebtes Therapeutikum darstellte.6 Es empfiehlt sich deshalb, das Urteil in der causa Hirschfeld als einzelnes Indiz innerhalb eines andauernden Umdeutungsprozesses zu lesen. Die Tendenz der Umdeutung des Alkohols von einem Heilmittel zu einem potenziellen Krankheitsverursacher lässt sich auch in der Schweiz

3 Vgl. Hirschfeld, [M.], »Der Alkohol vor Gericht«, Internationale Monatsschrift 7 (1896), S. 194-204. 4 Vgl. etwa Abderhalden, E., Bibliographie der gesamten wissenschaftlichen Literatur über den Alkohol und den Alkoholismus (Berlin etc.: Urban & Schwarzenberg, 1904), S. 121 f. Der Physiologe Emil Abderhalden (1877-1940) war selbst in der Abstinenz- bewegung aktiv. 5 Vgl. Valverde, M., Diseases of the will: alcohol and the dilemmas of freedom (Cam- bridge: Cambridge University Press, 1998), S. 51 f. Im Kontext der Schweiz stützt der Historiker Markus Mattmüller diese Ansicht mit seiner optimistischen Aussage, um 1890 sei der »Aberglaube«, dass Alkohol ein Heilmittel darstellt, auf »akademischem Niveau besiegt« gewesen (Mattmüller, M., Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz: Ein unbekanntes Kapitel der Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert (Bern: Blaukreuz-Verlag, 1979), S. 33). 6 Spode, H., Die Macht der Trunkenheit: Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland (Opladen: Leske + Budrich, 1993), S. 140. Einführung 13 beobachten.7 Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten ver- einzelte Gelehrte vor der therapeutischen Verwendung von Spirituosen gewarnt. Ab den 1870er-Jahren mehrten sich wissenschaftli che Arbeiten zu den allgemeinen Wirkungen des Äthylalkohols auf den Menschen, die zumeist auf das Schadenspotenzial der berauschenden Getränke fokussier- ten.8 Diese einsetzende Medikalisierung war trotz der nationalstaatlichen, sprachlichen und kulturellen Grenzen ein länderübergreifender Prozess. Ein Prozess, der eine bestimmte Art des Sprechens über den Umgang mit Rauschgetränken prägte – mit Kontinuitäten, die bis in die Gegenwart reichen. Angesichts der noch heutzutage feststellbaren Allgegenwärtigkeit von Alkohol drängt sich eine Auseinandersetzung mit dieser Verfestigung von Verhaltensnormen zu berauschten Menschen und berauschenden Stoffen auf. In Bezug auf Alkohol, aber auch in Bezug auf andere Genuss- formen lohnt es sich, die international ausgerichteten Anti-Alkohol-Akti- visten und -Aktivistinnen aus der Schweiz eingehender zu betrachten und zu fragen, welche Argumente, Narrative und Motive diese über welche Netzwerke verbreiteten. Die sich wandelnde Wahrnehmung gegenüber alkoholischen Geträn- ken beschränkte sich nicht nur auf medizinische Kreise. Die soziale Le- gitimität des Alkoholgenusses hat sich innerhalb der vergangenen beiden Jahrhunderten in den meisten Trinkkulturen Europas stark verändert.9 Während heutzutage vielerorts bereits ein alkoholisches Getränk beim Mittagessen irritierte Blicke auf sich zu ziehen droht, stellte zum Fin de Siècle etwa der »Morgenschnaps« noch für weite Teile der Schweizer Be- völkerung eine alltägliche Selbstverständ lichkeit dar.10 Auch die Statisti-

7 Vgl. Jeanneret, O. und Jenni, D., »Volksgesundheit und Alkoholismus«, Drogalko- hol 1, no. 1 (1977), S. 3-19 (10). 8 Vgl. Schlup, H., »Contribution à l’histoire de la lutte contre l’alcoolisme en Su- isse«, Internationale Monatsschrift 2 (1924), S. 73-91 (83). Bekannte Arbeiten aus den 1870er-Jahren stammten etwa von Dr. Challand; C. Bouvier; F. Conrad; J. L. Prévost; L. Guillaume; W. von Speyr; als früher medizinischer Spirituosengeg- ner machte insbesondere der Genfer Professor Ernest Naville (1816-1909) von sich reden. 9 Vgl. Spode, H., »Trinkkulturen in Europa. Strukturen, Transfers, Verflechtungen«, in Die kulturelle Integration Europas herausgegeben von Wienand, J. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010), S. 361-391 (366-372). Levine spricht im Fall der USA von einem derartigen sozialen Legitimitätsverlust bereits um 1800. Vgl. Levine, H. G., »The Discovery of Addiction: Changing Conceptions of Habi- tual Drunkenness in America«, Journal of Studies on Alcohol 15 (1978), S. 493-506. 10 Mattmüller, M., Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz, S. 13. Zur Be- deutung des Schnaps als »Zwischenmahlzeit« vgl. Schuler, F., Zur Alkoholfrage: die Ernährungsweise der arbeitenden Klassen in der Schweiz und ihr Einfluss auf die Aus- 14 Einführung ken zur Entwicklung des Gesamt-Alkoholkonsums in der Schweiz ver- deutlichen den Wandel der Trinkmuster – obschon deren Aussagekraft sowohl über die Verteilung des Konsums als auch über die verschiedens- ten All tagsrituale begrenzt ist.11 In den letzten 110 Jahren hat sich der Pro- Kopf-Konsum von durchschnittlich rund 17 Liter Reinalkohol auf rund neun Liter beinahe halbiert.12 Die auffälligste Abnahme vollzog sich in der Zeitspanne zwischen 1900 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrie- ges. Damit fällt diese Abwärtstendenz in die Hochkon junktur der Anti- Alkohol-Bestrebungen, während der zahlreiche Länder gar die (Alkohol-) einführten.13 Spode argumentiert, dass derartige Forderungen vor 1800 noch kaum denkbar gewesen seien: Ein umfassendes Verständ- nis von »alkoholfrei«, nach welchem nicht nur »harte« Schnäpse, sondern auch gegorene Getränke gemieden werden, setze eine etablierte sprachliche Konvention voraus, wonach die aus verschiedensten Ausgangsstoffen und Herstellungsprozessen gewonnenen Getränke auf grund ihres Äthylgehalts mit der Sammelbezeichnung »Alkohol« zusammengefasst werden. Diese vereinfachende Vereinheitlichung habe sich erst im 19. Jahrhundert verfes- tigt – zusammen mit einem medizinischen Blick auf potenzielle Risiken, die dem Alkoholgenuss vermehrt zugeschrieben wurden.14 Eine weitere, bisher nur lückenhaft erforschte Bedingung dafür war die technologische und epistemische Aufwertung alko hol freier Alternativen.

beutung des Alkoholismus (Bern, 1884), insbes. S. 8. In den späten 1970er-Jahren war der Alkoholkonsum zum Mittagessen noch stark verbreitet, während das Trinken vor 9 Uhr morgens kaum mehr gebilligt wurde. Vgl. dazu Wüthrich, P., Alkohol in der Schweiz. Kulturelle Gebrauchsmuster und Definitionen (Frauenfeld: Huber, 1979), S. 92. 11 Vgl. Eidgenössische Alkoholverwaltung, »Alkohol in Zahlen 2012« (Bern, 2012), S. 25. Zur Kritik an diesen Statistiken vgl. Müller, R. und Tecklenburg, U., Trink- sitten im Wandel (Lausanne: Sfa-Ispa, 1983), S. 2; Müller, R., »Swiss Alcohol Pol- icy – ›Model‹ or ›Sonderfall‹?«, in From science to action?: 100 years later – alcohol policies revisited, ed. Müller, R. und Klingemann, H. (Dodrecht; London: Kluwer Academic, 2004), S. 185-192 (189). 12 Eidgenössische Alkoholverwaltung, »Alkohol in Zahlen 2012«, S. 26. 13 Zu den Staaten mit landesweiter Prohibition zählen Belgien, Russland, Island, Norwegen, Faröer, Grönland Finnland, Estland, Kanada, Ungarn, die USA und die Türkei; sowie kurzfristig de facto auch Panama und Honduras (vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas: Networks, Institutions, and the Global Pro- hibition Wave (New York, Oxford: Oxford University Press, 2010), S. 4 f.); Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 378. 14 Vgl. Spode, H., »Präventionskonzepte in Geschichte und Gegenwart«, in Strategien und Projekte zur Reduktion alkoholbezogener Störungen, herausgegeben von Bührin- ger, G. (Lengerich, 2002), S. 32-58 (53). Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 15

An der Verbreitung des aufkommenden, einseitig auf Gefahren hin ausgerichteten »Alkoholwissens« 15 waren erstaunlich viele Anti-Alkohol- Aktivisten und -Aktivistinnen aus der Schweiz beteiligt, die sich nicht bloß an den lokalen Gegebenheiten orientierten, sondern mit gleichgesinnten Akteuren jenseits der Landesgrenzen eng vernetzt waren. Obschon ein komplexes Gewebe von Akteuren und Entwicklungen an der sinkenden sozialen Legitimität der Trunkenheit beteiligt war, lassen sich diese trans- national operierenden Akteure besonders plausibel mit dem längerfristigen Wandel in Beziehung bringen.

Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität

Für die folgenden Ausführungen drängt sich eine Klärung der beiden zen- tralen Termini Medikalisierung und Transnationalität auf. Der Begriff der Medikalisierung wird schon seit über drei Jahrzehnten auf den Alkoholis- mus bezogen, wobei der amerikanische Sozio loge Robert J. Gusfield die- ses Phänomen besonders umfassend umschreibt. Demzufolge be schreibt der Begriff einen Prozess, währenddessen sich die öffentliche Wahrneh- mung gewisser Phänomene zusehends am Gegensatzpaar »krank/gesund« ausrichtet. Gusfield unterscheidet dabei zwei Dimensionen: Die kultu- relle Dimension fokussiert auf die Art und Weise, wie dadurch ein Zu- stand gedacht oder interpretiert wird, während auf einer institutionellen Dimension danach gefragt werden kann, welchen Institutionen und Ex- pertenberufen dabei ein Vertrauen zu einer effektiven Verbesserung der Zustände zu kommt.16 Letztere institutionelle Dimension war insbeson- dere für die sozialhygienisch geprägte Alkoholgegnerschaft zentral. Diese

15 Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, S. 126. 16 Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems: Drinking-Driving and the Sym- bolic Order«, in Morality and Health, herausgegeben von Rozin, P. und Brandt, A. M. (New York: Routledge, 1997), S. 201-230 (204). Zum Thema der Medikali- sierung ist auch die Übersicht von Conrad, P. und Schneider, J. W., Deviance and medicalization, insbesondere S. 73-109 empfehlenswert, jedoch beschränkt sich die dabei eingenommene Perspektive auf den Machtgewinn der Mediziner in den USA, ohne sich differenzierter mit den unterschiedlichen möglichen Motiven aus- einanderzusetzen. Aufgrund der Breite der Themen bei einem Untersuchungszeit- raum von über drei Jahrtausenden überraschen die teilweise stark vereinfachenden Polemiken nicht besonders. Im Schweizer Kontext wurde die Medikalisierung des Alkoholismus bereits 1978 grob umrissen von Müller, R. und Tecklenburg, U., »Die Medikalisierung des Alkoholismus«, Drogalkohol 2 (1978), S. 15-27. 16 Einführung

Akteure fühlten sich dazu verpflichtet, unter Berufung auf die universelle Gültigkeit physiologischer Experimente über die eigenen Landesgrenzen hinweg gegen den Alkoholgenuss vorzugehen. Dabei forcierten sie nicht bloß einen »Internationalismus« im Sinne einer diplomatischen Lösung zwischen souverä nen Nationalstaaten; vielmehr war ihre Propaganda von einem »Transnationalismus« nach dem Verständnis Ian Tyrrells geprägt: Wie zahlreiche weitere Anti-Alkohol-Akteure zielten die Sozialhygieni- ker auf eine soziale, kulturelle und wirtschaftliche Einflussnahme auch neben dem diplomatischen Parkett ab.17 Gebunden an die Über zeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, zeugten die Akteure von einem die eige- nen Landesgrenzen transzendierenden Sendungsbewusstsein. Nach einer bekannten Unter scheidung wird dieses Gefühl der länderüber greifenden Zugehörigkeit mit dem Begriff Transnationalität umschrieben, während der Begriff »Transnationalismus« eher auf Ver netzungs prozesse ausgerichtet ist.18 Das im Folgenden oft verwendete Adjektiv »trans national« beinhaltet zumeist beide Bedeutungen. Denn die mit dem Etikett »internatio nal« be- tonte globale Ausrich tung der zu untersuchenden Ideen und Organisatio- nen beanspruchte vielfach eine universelle Geltung, wie etwa die zahlrei- chen Bezug nahmen auf eine »göttliche Vors ehung« oder auf »Naturgesetze« verdeutlichen. Die betonte Transnationalität bedeutete für viele Akteure aber auch, ihre lokale Lebenswelt aus der Perspektive eines imaginierten, transnationalen Raums zu erfahren. Bereits vor dem Fin de Siècle lassen sich Spuren eines transnationalen Netzwerks zivil gesell schaftlicher Vereinigungen ausmachen, deren Mit- glieder – je nach Region – schon seit geraumer Zeit für ein distanziertes Verhältnis zur Trunkenheit und teilweise zum Rausch allgemein eintraten. Der transnationale Charakter dieses Netzwerks wurde insbesondere in den Dekaden ab 1870 deutlich, wobei sich über diesem von Heterogenität und Asymmetrie gezeichneten Verbund unterschiedliche Akteure mit unter- schiedlichen Klassifi kations systemen19 austauschten. Zwar fiel zu Beginn

17 Tyrrell, I., Reforming the World: the creation of America’s moral empire (Princeton: Princeton University Press, 2010), S. 6. Diese Unterscheidung propagiert auch Ste- ven Vertovec (vgl. Vertovec, S., Transnationalism (London, New York: Routledge, 2009), S. 3. 18 Kaelble, H., Kirsch, M. und Schmidt-Gernig, A., »Zur Entwicklung transnatio- naler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert – eine Einleitung«, in Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert herausgegeben von Kaelble, H., Kirsch, M. und Schmidt-Gernig, A. (Frankfurt am Main: Cam- pus, 2002), S. 7-36 (10). 19 Vgl. Tanner, J., »Eugenik und Rassenhygiene in Wissenschaft und Politik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Ein historischer Überblick«, in Zwischen Erziehung Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 17 eine auffallende Präsenz evangelisch geprägter Sittlichkeitsreformerinnen und -reformer auf, doch konnten die einzelnen Mitwirkenden zugleich mit Prostitutionsverboten, Sexualreform, Gleichberechtigung der Ge- schlechter, Pazifismus, Esperanto, Icarie Bahá’í oder weiteren Zielen oder Interessen in Verbindung stehen. Spode bezeichnet die »alkoholfreie Sub- kultur« gar als »wichtigsten Teil der Lebensreform-Bewegung«.20 Bemer- kenswert ist dabei das ausgeprägte »globale Bewusstsein«,21 das viele Betei- ligte an den Tag legten – auch wenn sich viele Verbände aus praktischen Gründen dem Namen nach auf lokale Gebiete beschränkten und sich auch die Gesetzgebung an derartigen amtlichen Grenzen zu orientieren hatte. Neben dem gemeinsamen alkoholgegnerischen Identitätsmerkmal wur- den verschiedene weitere Zugehörigkeits-›Marker‹ hervorgehoben: In der Schweiz waren Betonungen des Geschlechts (Schweizer Bund abstinenter Frauen), des Berufs (Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes, Verein abstinenter Eisenbahner, Verein abstinenter Lehrer) der Religion oder der Ideologie (Sozialistischer Abstinentenbund, Blaues Kreuz, katholische Abstinentenliga, sowie viele weitere Verbände mit evangelischem Hinter- grund) besonders auffällig. Für alkoholgegnerische Organisationen mit politischen Zielen auf nationaler und supranationaler Ebene stellte diese ebenso faszinierende wie komplexe Hetero genität eine die Bewegung schwächende »Zersplitterung« dar.22 Selbst die scheinbar breit abgestütz- ten internationalen Kampagnen gegen den Alkohol waren von zahlreichen ideologischen, religiösen, nationalen, sprachlichen und kulturellen Diffe- renzen gezeichnet. Von dieser komplexen Vielfalt und gesell schaftlichen Reich weite, die sich in einen nahezu unüberschaubaren Quellenkorpus niederschlägt, können in diesem Buch nur beschränkte Ausschnitte un- tersucht werden.

und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhun- derts, herausgegeben von Zimmermann, M. (Stuttgart: 2007), S. 109-121 (118). 20 Spode, H., »›Extrem hoher Alkoholkonsum‹ – Thematisierungskonjukturen des sozialen Problems ›Alkohol‹«, in Der Geist der Deutschen Mäßigkeitsbewegung: De- batten um Alkohol und Trinken in Vergangheit und Gegenwart, herausgegeben von Wassenberg, K. (Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag, 2010), S. 180-204 (191). Zum Verhältnis der Bahá’í zum Alkohol vgl. Abdu’l-Bahà, Brief an Forel (Hofheim- Langenheim: Bahá’í -Verlag, 1998). 21 Lechner, F. J. und Boli, J., World Culture: Origins and Consequences (Malden etc.: Blackwell, 2005), S. 2. 22 Vgl. dazu etwa Blocher, E., »Taschenbuch für Alkoholgegner«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1905), S. 26 f. Zu Eduard Blocher vgl. Marti-Weissenbach, K., »Blo- cher, Eduard«, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www. hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10550.php [Stand 25.6.2007]. 18 Einführung

Eingrenzung I: temporal

Über die sogenannte »Alkoholfrage« wurden rechtliche, medizinische, wirt- schaftliche und soziale Auseinandersetzungen über Deutungshoheiten und Herrschaftsverhältnisse ausgetragen. Nicht zuletzt trugen die alkoholgegne- rischen Beiträge – so die These dieser Arbeit – zur Verfestigung einer rati- onal-selbstbestimmten Subjektskonzeption bei. Zwischen dem ausgehen- den 19. Jahrhundert und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat die alkoholgegneri sche Bewegung eine enorme Quellendichte hinterlassen. Daher empfiehlt sich zunächst eine zeitliche Eingrenzung. Wie im Über- blick über alkohol gegnerische Entwicklungen im 19. Jahrhundert in Kapitel 1 ausgeführt wird, bieten sich aus alkoholgegnerischer Sicht einige wichtige Jahreszahlen für einen Einstieg an: Zu den wichtigen Meilensteinen zählt etwa 1877 als Gründungsjahr des Blauen Kreuzes oder 1885 als das Jahr, in dem sich die Basler Missionsgesellschaft als Nichtregierungs-Organisation mit Sitz in der Schweiz mit einem alkoholgegnerischen Gesuch an eine ›ausländische‹ Regierung wandte.23 Im selben Jahr folgte mit dem Meeting international d’Anvers contre l’abus des boissons alcooliques die erste Austra- gung der Internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus, die mit we- nigen Ausnahmen alle zwei Jahre stattfanden.24 Aus Schweizer Sicht bietet sich das Jahr 1886 aber aus mehrfacher Hinsicht an: Erstens hielt der Phy- siologe Gustav von Bunge (1844-1920) in diesem Jahr seine für die »mo- derne Abstinenz bewegung« grundlegende Antrittsvorlesung Die Alkoholfra- ge.25 Zweitens markiert das Jahr die internationale Ausbreitung des Blauen Kreuzes über das Comité international.26 Und drittens bildete sich auf die im

23 Vgl. »Eine Eingabe«, Evangelischer Heidenbote 5 (1885), S. 33 f.; Wanner, G. A., Die Basler Handels-Gesellschaft A. G., 1859-1959 (Basel: Basler Handels-Gesellschaft A. G., 1959), S. 178. 24 Vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 8 f.; Spode, H., »Trinkkultu- ren in Europa. Strukturen, Transfers, Verflechtungen«, S. 378. 25 Bunge, G. v., Die Alkoholfrage (Leipzig: Vogel, 1887). Vgl. dazu u. a.: Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹ in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert«, Drogalkohol 10, no. 3 (1986), S. 147-168 (157); Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, 1877-1927 (Bern: Blaukreuz-Verlag, 1927), S. 131; Mattmüller, M., Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz, S. 30; Jagella Denoth, C., »Bunge, Gustav von«, in Historisches Lexi- kon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14312. php [Stand: 8. 7. 2003]; Brändle, F. und Ritter H. J., Zum Wohl!, S. 57-73; sowie Kapitel 3.2. 26 Die Reorganisation in Landesvereine erfolgte laut Trechsel jedoch erst 1887, vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Lausanne: Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Abstinentenorga- nisationen, 1990), S. 33. Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 19

Anschluss an Bunges Antritts vorlesung erfolgte Radikalisierung der Anti- Alkohol-Bewegung eine Vielfalt an zugänglichen Quellen aus. Dagegen ist das Ende des Untersuchungszeitraums einfacher einzugren- zen, da nur zwei wichtige ›Marker‹ hervorragen: Einerseits der ›ernüch- ternde‹ Abbruch des »noblen Experiments« der Prohibition 1933 in den USA kurz nach Finnland, worauf in der Alkoholgegnerschaft zusehends der Ruf nach einem turn in Richtung »moderne Psychologie« laut wurde.27 Andererseits stellte der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der zahlrei- che transnationale Verbindungen unterbrach, eine gewichtige Zäsur dar. Mit dem Krieg verschob sich die internationale Deutungshoheit über die »drink question« maß geblich nach Nordamerika, insbesondere an das Yale Center of Alcohol Studies, während der globale Alkoholkonsum nach Jahren des Sinkens ab 1945 wieder anstieg.28 Stand vor Kriegsausbruch vor allem der Rückgang des totalen Alkoholkonsums einer Gesellschaft im Zentrum, wurde nach 1945 wieder vermehrt auf die einzelnen »Problemtrinker« fo- kussiert. Dabei verdrängte das in europäischen Ländern aufkommende Phäno men des »Wohlstandsalkoholismus« den »Elendsalkoholismus« zuse - hends.29 Damit bietet sich der Sommer 1939 als Endpunkt des Unter- suchungszeitraums an: Einerseits wird dadurch die alkoholgegnerische Hinwendung zur »modernen Psychologie« berücksichtigt, und anderer- seits konnten am Internationalen Kongress gegen Alkoholismus 1939 die ersten Früchte der Anti-Alkohol-Kampagne beim Völkerbund präsentiert werden.30 Zur Eingrenzung des Forschungsfelds auf spezifische Akteure empfiehlt sich ein Blick in die bereits reichhaltige Literatur zu der Anti- Alkohol-Bewegung in der Schweiz.

27 Vgl. Furuskog, J., »Der Alkoholgenuss und die moderne Psychologie«, Interna- tionale Monatsschrift 4 (1933), S. 205 f.; Hercod, R., »Neue Argumente für unsere Bewegung«, Schweizer Abstinent 1 (1934), S. 3. 28 Vgl. Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 380 ff. 29 Vgl. Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 163 f. 30 An diesem Kongress präsentierte der Finne Tapio Voionmaa, der lange Zeit für die ILO arbeitete und zugleich als Präsident des International Bureau against Alcoholism fungierte, eine durch den Völkerbund anerkannte, international vergleichende Alkohol-Statistik, vgl. Voionmaa, T., »An International Survey of the Production and Consumption of Alcoholic Beverages«, in Proceedings of the Twenty-Second International Congress against Alcoholism (Helsinki: Raittiuskansan Kirjapaino Oy, 1939), S. 222-245. Vgl. dazu Bruun, K. et al., Alcohol control policies in public health perspective, vol. 25, The Finnish Foundation for Alcohol Studies (Helsinki: Akatee- minen kirjakauppa, 1975), S. 47. 20 Einführung

Forschungsstand

Aus Schweizer Sicht haben sich allen voran Richard Müller, Jakob Tanner, Ueli Tecklenburg, Rolf Trechsel, Regula Zürcher, Heinz Polivka, Fabian Brändle, Hans Jakob Ritter sowie Katharina Kuhn mit dieser Bewegung auseinandergesetzt.31 Der Soziologe Richard Müller argumentiert, dass die im theozentri- schen Weltbild noch ausgeprägte Toleranz gegenüber der Berauschung im Zuge der Aufklärung zurückging. Dies führt Müller auf die sich ver- breitende Konzeption des selbstbestimmten und damit schuldfähigen In- dividuums zurück sowie auf die aufkommende Deutungshoheit der Wis- senschaften, unter der sich seit dem 19. Jahrhundert eine Mischform aus liberalen und sozialistischen Ansichten zu alkoholrelevanten Praktiken eta- bliert habe.32 Einen anderen soziologischen Zugang als Müller wählt Ueli Tecklenburg, der in Anlehnung an die Thesen des amerika nischen Sozio-

31 Müller, R. und Tecklenburg, U., »Die Medikalisierung des Alkoholismus«, S. 15- 72; Tecklenburg, U., Abstinenzbewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz (Lausanne: SFA-IPSA, 1983); Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 147-168; Hölzer, C., Die Alkoholbewegung in den deutschspra- chigen Ländern (1860-1930) (Frankfurt am Main etc.: Lang, 1988); Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz; Zürcher, R., Von Apfelsaft bis Zollifilm: Frauen für die Volksgesundheit (Kloten: Schweizerischer Bund abs- tinenter Frauen, 1996); Polivka, H., Wider den Strom. Abstinente Verbindungen in der Schweiz (Bern, Schweizerische Vereinigung für Studenten geschichte, 2000); Brändle, F. und Ritter H. J., Zum Wohl!; Kuhn, K., »Wider den Alkoholteufel – Auguste Forels antialkoholische Mission für den Kulturfortschritt« (Inaugural- Dissertation, Universität Zürich, 2012). Erwähnenswert sind zudem der 39-sei- tige Vortrag Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz: Ein unbekanntes Kapitel der Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert (Bern: Blaukreuz-Verlag, 1979) des Historikers Markus Mattmüller anlässlich des 100-jährigen Blaukreuz-Ju- biläums sowie die Übersicht Rausch & Ordnung: Eine illustrierte Geschichte der Alkoholfrage, der schweizerischen Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkohol- verwaltung (1887-2015) (Bern: Eidgenössische Alkoholverwaltung 2016) von Auder- set, J. und Moser, P. 32 Müller, R. und Tecklenburg, U., »Die Medikalisierung des Alkoholismus«. Laut Müller habe die als »Liberalismus« bezeichnete Ideologie im Zuge der Industriali- sierungsschübe des 19. Jahrhunderts zu neuen sozialen Rollenerwartungen – insbe- sondere in Bezug auf die Produktivität – geführt. Dem Liberalismus setzte Müller den Sozialismus entgegen, der das Subjekt als verantwortlich für und abhängig von seinem sozialen Umfeld versteht. Vgl. Tecklenburg, U., Abstinenzbewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz; Gusfield, J. R., Symbolic crusade: status politics and the American (Ur- bana: University of Illinois Press, 1986). Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 21 logen Joseph Gusfield den symbolischen Verzicht auf bestimmte Getränke aus dem Blickwinkel einer sozialkonstruierten Legitimation erklärt.33 Auffällige Wandlungen der Trinkmuster in der Schweiz zeichnet der Historiker Jakob Tanner in seinem zur »Alkoholfrage« nach, der zum hun- dertsten Geburtstag von Gustav von Bunges gleichnamiger Vorlesung er- schienen ist. Im weiten Überblick von der frühen »Härdöpfeler-Welle«34 ab 1815 bis hin zum Phänomen des mit einem »Elendsalkoholismus« über- lagerten »Wohlstandsalkoholismus« in den 1970er-Jahren stellt der Histo- riker zwei »Thematisierungskonjunkturen« der »Alkoholfrage« fest. Diese interpretiert er im Rahmen von Wechselbeziehungen zwischen den sich im Zuge der Industrialisierung verändernden Trinkmustern und einer sich verändernden Wahr nehmung des Alkoholkonsums durch politische Ent- scheidungsträger sowie durch mora lische Instanzen. Mitunter legt Tanner an diesem Prozess beteiligte Herrschaftsverhält nisse offen, ohne dabei die Berechtigung zur Problematisierung der »Alkoholdroge« ganz in Abrede zu stellen. Besonders bemerkenswert ist seine Feststellung von sogenann- ten »time lags«, womit er den Umstand beschreibt, dass die festgestellten »Thematisierungskonjunkturen […] nie direkt synchronisiert sind mit der statistisch belegten Entwicklung, auf die sie sich beziehen«.35 Mit diesem Hinweis verweist der Historiker auf die Möglich keit eines sozialkonstruk- tivistischen Moments der gegen Rauschmittel gerichteten Diskurse, die zu einer kritischen Auseinandersetzung anregen. Diese Anregung bestärkt die Medizinerin Katharina Kuhn, die Auguste Forels (1848-1931) handschrift liche Nachlässe ausgewertet hat, zusätzlich.

33 Bei dieser äußerst weitreichenden, aber auf groben makrosozialen Hierarchien basierenden These bliebe zu prüfen, wie sich das Bild bei einer feineren Eintei- lung in heterogenere Akteurskollektive verändert. Vgl. dazu insbesondere James Nicholls’ Kritik gegen zu simple Modelle von über die Alkoholfrage ausgetrage- nen Klassenkonflikten (Nicholls, J., The politics of alcohol: A history of the drink question in England (Manchester, New York: Manchester University Press, 2009), S. 126). Dabei würde auch die Frage aufgeworfen, ob nicht auch eine »Mikrophy- sik der Macht« sichtbar gemacht werden kann (vgl. Tanner, J., »Rauschgiftgefahr und Revolutionstrauma. Drogenkonsum und Betäubungsmittelgesetzgebung in der Schweiz der 1920er Jahre«, in Schweiz im Wandel. Studien zur neueren Gesell- schaftsgeschichte, herausgegeben von Brändli, S. und Braun, R. (Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1990), S. 397-416 (399)). Tecklenburg be schreibt in einem dritten Teil, wie die ursprünglich durch zivilgesellschaftliche Vereinigungen organisierte »Trinkerbehandlung« zunehmend durch den Nationalstaat institutionalisiert wird (vgl. Tecklenburg, U., Abstinenzbewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, S. 38-61). 34 Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 149. 35 Ebd., S. 151. 22 Einführung

Ein zentraler Aspekt in Kuhns Arbeit stellt die Infragestellung der Wissen- schaftlichkeit und Kritikfähigkeit des Forschers Forel dar, dem sie in Be- zug auf die stationäre und ambulante Behandlung von Alkoholismus zwar einen großen Einfluss attestiert, jedoch in Übereinstimmung mit Anne- marie Leibrandt-Wettley in Forels emotionaler Hingabe an seine alkohol- ge gneri sche Vision einen »missionarischen« Eifer ausmacht.36 Besonders ausführlich haben sich Fabian Brändle und Hans Jakob Ritter mit der Ge- schichte des Basler Abstinentenverbands auseinandergesetzt, dessen Mit- glieder für die sozialhygienisch geprägte Abstinenzbewegung von zentraler Bedeutung waren.37 Ein grundlegender Beitrag zur Anti-Alkohol-Bewegung in der Schweiz stammt von Rolf Trechsel, der die größten Verbände der Schweizer Abs- tinenzbewegung untersucht hat.38 Dabei teilt Trechsel diese Bewegung in drei »Richtungen« ein: Erstens die religiöse Ausprägung, die hauptsäch- lich durch das Blaue Kreuz und die Katholische Abstinentenliga repräsentiert wurde, zweitens die sozialhygienische Ausprägung, die er hauptsächlich im Alkoholgegnerbund (AGB), dem Guttemplerorden und dem Bund abstinen- ter Frauen (SBaF) vertreten sieht, und drittens die durch den sozialistischen Abstinen tenbund (SAB)39 repräsentierte sozialistische Richtung. Trechsel stellt die Abstinenz bewegung und ihre politische Agitation innerhalb der Schweizer Landesgrenzen bemerkenswert präzise vor, jedoch werden inter- nationale Dynamiken bloß angedeutet. Diese bleiben bis anhin unterer- forscht, obschon Cordula Hölzer bereits 1988 grob auf die Anti-Alkohol- Bewegung im deutschsprachigen Raum eingegangen ist, Regula Zürcher den SBaF sowie Sabine Schaller die Rolle der Frauen in der deutschen Anti-Alkohol -Bewegung eingehend untersucht und auch in den interna- tionalen Kontext eingebettet haben.40

36 Kuhn, K., »Wider den Alkoholteufel«; Leibbrand-Wettley, A., August Forel: ein Arztleben im Zwiespalt seiner Zeit (Salzburg: Otto Müller, 1953). Die hohe Be- deutung, die Forel dem Kampf gegen den Alkohol als psychotherapeutisches und sozialhygienisches Mittel beimaß, wird auch deutlich in Mirjam Bugmanns Disser- tation Hypnosepolitik. Der Psychiater Auguste Forel, das Gehirn und die Gesellschaft (1870-1920) (Köln etc.: Böhlau), insbesondere S. 45-53; S. 154-157. 37 Vgl. Brändle, F. und Ritter H. J., Zum Wohl! Neben Gustav von Bunge waren etwa Eugen Blocher, O. Kleiber oder Emil Korrodi in den untersuchten Medien sehr präsent. 38 Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz. 39 Zwischen 1900 und 1921 nannte sich der SAB noch Sozialdemokratischer Abstinen- tenbund. 40 Zürcher, R., Von Apfelsaft bis Zollifilm, insbesondere S. 352-366; Schaller, S., Kampf dem Alkohol: Weibliches Selbstverständnis und Engagement in der deutschen alkohol- Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 23

Globale Bezugspunkte

Dieser auf die Schweiz beschränkte Überblick deutet einerseits das breite Spektrum von Ansätzen und Fragestellungen zur komplexen Thematik der »Alkoholfrage« an. Anderer seits verdeutlicht er auch, dass die ausgespro- chen internationale oder globale Ausrichtung, die für bedeutende Teile der Alkoholgegnerschaft charakteristisch war, im Schweizer Kontext noch kaum ausgeleuchtet wurde. Dies überrascht angesichts des Umstandes, dass verschiedenste Anti-Alkohol-Gruppierungen die abstinente Lebensweise als ein welt weit gültiges Symbol für Fortschrittlichkeit auslegten. So schmück- ten sich viele Profes sions gruppierungen wie der Internationale Verband abs- tinenter Lehrer oder der Inter nationale Eisenbahn-Alkoholgegner-Verband mit dem Etikett der »Internationalität«, das universelle Geltungsansprüche ver- mittelte und zusätzlich zu internationalen Vergleichen in Form von Selbst- und Fremdverortungen anregte. Nicht nur in gegenwärtigen Studien zur Anti-Alkohol-Bewegung wird in der Agitation gegen den Alkohol ein glo- bales Phäno men erkannt,41 auch in den untersuchten Quellen offenbaren sich Wahrnehmun gen, die zwischen einem »globalen Bewusstsein«42 und einem Wettkampf von verschie denen Volkskollektiven oszillierten. Trotz eines offensichtlichen Bemühens der auf supranati onale Regulierungen pochenden Anti-Alkohol-Akteure, die nicht zuletzt auch den »global is- sue« des grenzüberschreitenden Handels mit Alkoholika auf die Agenda des Völkerbunds brachten, ist diese globale Ausrichtung erst ansatzweise erforscht. Erste grundlegende Arbeiten zum zivilgesellschaftlich getrage-

gegnerischen Bewegung (1883-1933) (Eschborn: fwpf, 2009), S. 301-320; Hölzer, C., Die Alkoholbewegung in den deutschsprachigen Ländern (1860-1930). 41 Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 31; Tyrrell, I., Reforming the World; Eisenbach-Stangl, I., »From temperance movement to state action: A his- torical view of the alcohol question in industrialised countries«, in From science to action?: 100 years later – alcohol policies revisited, herausgegeben von Müller, R. und Klingemann, H. (Dodrecht; London: Kluwer Academic, 2004); Rosenberg, E. S., »Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückt«, in Geschichte der Welt, herausgegeben von Iriye, A. und Rosenberg; E. S. (München: Beck, 2012), S. 819-998 (882 f.); Fischer-Tiné, H., »Global Civil Society and the Forces of Em- pire: The Salvation Army, British Imperialism and the ›pre-history‹ of NGOs (ca. 1880-1920)«, in Competing Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880s – 1930s, herausgegeben von Conrad, S. und Sachsenmaier, D. (New York: Palgrave-Macmillan, 2007), S. 29-67; Pliley, J., Kramm, R. und Fischer-Tiné, H. (Hg.), Global Anti-Vice Activism, 1890-1950: Fighting Drinks, Drugs, and ›Immora- lity‹ (New York: Cambridge University Press, 2016). 42 Vgl. Lechner, F. J. und Boli, J., World Culture: Origins and Consequences (Malden etc.: Blackwell, 2005), S. 2. 24 Einführung nen, transnationalen Anti-Alkohol-Aktivismus haben allen voran Mark Schrad und Ian Tyrrell veröffentlicht. Der Politikwissenschaftler Schrad zeichnet nach, wie ein global agierendes, alkoholgegneri sches Transnational Advocacy Network der Idee der Prohibition zu einem inter nationalen Durch- bruch verhalf. Die Entwick lung dieses Netzwerks teilt er in drei Phasen ein: In eine Phase des Aufstiegs zwischen 1846-1885, eine Phase der Reife zwi- schen 1885-1925 sowie eine Phase des Niedergangs zwischen 1925-1935.43 Der Missions historiker Tyrrell zeichnet den von transnatio nal vernetzten evange- lischen Sozialreformern und -reformerin nen ausgehenden Einfluss auf die Perpetuierung eines US-amerikanisch geprägten und global ausstrahlen den »moral empires« nach.44 In beiden Studien wird die Rezeption im deutsch- sprachigen Raum kaum berücksichtigt, obschon diesem eine gewichtige Rolle zugekommen sein könnte, wie etwa der eingangs erwähnte Jellinek nahelegt. Die Schweiz bot für Internationalisierungsvorhaben einen geeig- neten Raum, empfahl sie sich doch zusammen mit Belgien bereits während des Untersuchungs zeitraums durch aktive Internationalisierungs strategien als Standort für internationale Kongresse und inter nationale zivilgesellschaf- tliche Organisationen.45 Die Schweizer Grenzstadt Genf versammelte und versammelt zahlreiche bekannte Organisatio nen wie etwa das Rote Kreuz (dessen Name dem Blauen Kreuz als Vorlage diente),46 die International Labour Organisation (ILO), und nicht zuletzt den Völkerbund sowie die Vereinigten Nationen, deren WHO sich auch mit den gesundheitlichen Aus- wirkungen des Alkoholkonsums beschäftigt. Auch die in der Schweiz an- sässigen alkoholgegnerischen Akteure schmückten sich mit der Vorstel lung eines besonders stark ausgeprägten internationalen Denkens, das sie auf die sprachliche Diversität der Schweiz sowie auf die daraus abgeleitete dreifache Orientierung nach Berlin, Rom und Paris abstützten.47 Diese internationale

43 Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, insbesondere S. 41-59. 44 Tyrrell, I., Reforming the World. Dabei suggeriert Tyrrell die Vorstellung eines weitgehend einseitigen Diffusionsmodell, das nur selten die eigenständigen Adap- tionen der Empfän ger in den Blick nimmt. An diesem weitgehenden ›Leerraum‹ ändert auch die 2012 erschienene Monografie Alcohol in World History von Gina Hames wenig: In ihrem Vorhaben, über 2000 Jahre Weltgeschichte auf rund 150 Seiten abzuhandeln, nehmen zivilgesellschaftliche Bewegungen wenig Raum ein; vgl. Hames, G., Alcohol in world history (London, New York: Routledge, 2012). 45 Vgl. Osterhammel, J., Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhun- derts (München: Beck, 2009), S. 733. 46 Vgl. Illustrierter Arbeiterfreund 1 (1885), S. 1. 47 Vgl. Hercod, R., »Die Schweiz in der internationalen Bewegung gegen den Al- koholismus«, Schweizer Abstinent 15 (1936) [Festnummer zur Weltlogentagung in Zürich], S. 62. Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 25

Orientierung verschiedenster Anti-Alkohol-Verbände aus der Schweiz steht im einführenden Kapitel 1 im Zentrum. Von besonderer Bedeutung für diese internationale Ausrichtung der Alkoholgegnerschaft erwies sich die globale Konstellation des Kolonialis- mus. Die zentrale Bedeutung des kolonialen Kontexts illustriert etwa der Umstand, dass internationale Abkommen zu Beschränkungen für den Handel mit psychoaktiven Substanzen am frühsten für afrikanische Ko- lonien in Kraft traten. Mit den Brüsseler Generalakten von 1890 /91 wur- den die ersten internationalen Vereinbarungen zur Restriktion des Han- dels mit Rausch mittel erzielt. Noch vor dem Opiumhandel wurde damit der Branntweinexport einge schränkt.48 Tatsächlich war der Alkoholhan- del mit Kolonien für koloniale Projekte ein sensibles Thema, das beson- ders im westafrikanischen »gin belt«49 heftige Debatten entfachte. Wie der Afrika-Historiker Paul Nugent aufzeigt, hatten Schnäpse in westafri- kanischen Kontexten allgemein eine gewichtigere Bedeutung inne als in süd afrikanischen Kontexten.50 Die im letzten Viertel des 19. Jahrhun- derts anschwellenden Importe der billig produzierten »trade spirits« nach Afrika51 wurden bereits in verschie denen Beiträ gen beleuchtet. In diesen wurde Alkohol einerseits als Instrument der Beherr schung durch die am Handel verdienenden Kolonialmächte,52 andererseits aber auch als Aus-

48 Vgl. dazu Pan, L., Alcohol in Colonial Africa, vol. 22. The Finnish Foundation for Alcohol Studies (Helsinki: The Scandinavian Institute of African Studies, Upp- sala 1975), S. 12; Heap, S., »›We Think Prohibition is a Farce‹: Drinking in the Alcohol-Prohibited Zone of Colonial Northern Nigeria«, The International Jour- nal of African Historical Studies 31, no. 1 (1998), S. 23-51 (27); Mills, J. G., »Revision of the Brussels General Act of 1890-1891«, in Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke (Basel, 1895), S. 146- 156. 49 Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps: Gin from modernity to tradition (Leiden: Brill, 2007), S. 24. Dabei zählen die küstennahen Gebiete Kameruns zu diesem Gürtel, obwohl Kamerun üblicherweise nicht zu Westafrika zählt. 50 Nugent, P., »Modernity, Tradition, and Intoxication: Comparative Lessons from South Africa and West Africa«, Past and Present 222, Supplement 9 (2014), S. 126- 145 (131). 51 Eine Übersicht über die Importe verschiedener afrikanischer Regionen findet sich in Pan, L., Alcohol in Colonial Africa, S. 67-92. 52 Diesen Aspekt betonen insbesonders: Heap, S., »Living on the Proceeds of a Grog Shop: Liquor Revenue in Nigeria«, in Alcohol in Africa: mixing, pleasure, and politics, herausgegeben von Bryceson, D. F. (Portsmouth, NH: Heinemann, 2002), S. 139-159 (156); Heap, S., »›A Bottle of Gin is Dangled before the Nose of the Na- tives‹: The Economic Use of Imported Liquor in Southern Nigeria, 1860-1920«, African Economic History 33 (2005), S. 69-85 (82); Laisisi, R. O., »Liquor traffic in 26 Einführung druck kultureller afrika nischer Identitäten erörtert.53 Dabei zeichnen diese Beiträge nach, wie Individuen über ihren Umgang mit Alkohol sowohl Konformität als auch Widerstand gegen bestehende soziale Hierarchien zum Ausdruck brachten. In diesem Buch liegt der Fokus hauptsächlich auf dem vom deutsch- sprachigen Raum ausgehenden Aktivismus gegen den west afrika nischen Schnapshandel, der kollektive Vorstellungen der Schweizer Bevölkerung über die fernen Kolonien und ihre Bewohner mitprägte. Für diesen Ak- tivismus waren christliche Missionsgesellschaften, die sich der »Äußeren Mission« verschrieben haben, von zentraler Bedeutung. Nach Auslegung der amerikanischen Anthropologen John und Jean Comaroff stellten der- artige Missionen zentrale Knotenpunkte einer virtuellen globalen Ord- nung dar, die von ihren »ätheri schen« Dimensionen her mit dem heuti- gen Cyberspace vergleichbar sei.54 Über verschiedene alkoholgegnerische Medien vermittelten solche äußeren Missionen das koloniale Stereotyp des »willensschwachen Eingeborenen«, der nicht »maßvoll« mit dem als »abend ländisch« verstandenen Branntwein umzugehen wisse. Diese Bil- der sind neben ihrem rassistischen Gehalt auch problematisch, da sie oft der Rechtfertigung imperialer Herrschaftsverhältnisse dienten. In- dem die ›Kolonisierenden‹ damit ihre Absicht bekräftigten, die ›Koloni- sierten‹ aus ihrer »Unmündigkeit« befreien zu wollen, werteten sie die Kulturen der Letzteren zugleich ab und bestärkten die Legitimität einer »Zivilisierungsmission«. Wie bereits erste Arbeiten mit postkolonialem Blickwinkel verdeut- lichen, war auch die Schweiz in diese globale Konstellation des Koloni-

Africa under the League of Nations 1919-1945: French Togo as an example«, Nordic Journal of African Studies 5, no. 1 (1996), S. 11-24. 53 Diesen Aspekt betonen insbesondere: Crush, J. und Ambler, C. H., Liquor and labor in Southern Africa (Athens: Ohio University Press, 1992), S. 11; Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change: A Social History of Alcohol in Ghana, c. 1800 to Recent Times, herausgegeben von Isaacman, A. und Hay, J., Social History of Africa Series (Oxford, Portsmouth, 1996), S. 13 ff.; Schler, L., »Looking through a glass of beer: alcohol in the cultural spaces of Duoala, 1910-1945«, The International Journal of African Historical Studies 35, no. 2 /3 (2002), S. 315-334 (334). 54 Comaroff, J. und Comaroff, J. L., Of revelation and revolution (Chicago etc.: Uni- versity of Chicago Press, 1991), II, S. 12. Auch Alexandra Przyrembel betont die Verflochtenheit des Wissens in Europa mit den transnationalen Kommunikations- netzwerken der Äußeren Mission (Przyrembel, A., Verbote und Geheimnisse: Das Tabu und die Genese der europäischen Moderne (Frankfurt, New York: Campus, 2011), S. 66). Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 27 alismus eingebunden.55 So fanden sich rassistisch aufgela dene Stereotype nicht nur im kolonialen Diskurs der Großmächte, sondern auch im sozi- alreformerischen Diskurs der Schweizer Alkoholgegnerschaft. Allerdings vermag eine eingehende Betrachtung jener kolonialen Figuren selektive Aneignungsprozesse und Hybridität56 aufzuzeigen, die einfache Gegen- überstellungen – etwa von ›Kolonisierten‹/›Kolonisierenden‹ – infrage stellen.57 Als Empfänger der »Zivilisierungsmissionen« wurden nicht nur weite Teile der ›Kolonisierten‹ ausgemacht, sondern auch weite Teile der heimischen Unterschichten. Auch in Europa glaubten verschiedene nach sozialem Prestige strebende Akteure einen verbreiteten Mangel an Charak- ter- und Willensstärke zu erkennen, und brachten dies stellenweise mit ras- sistisch aufgeladenen Begriffen zum Ausdruck.58 Damit stellt sich die Frage

55 Zu postkolonialen Zugängen zur Schweizer Geschichte vgl. Purtschert, P., Postko- loniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien (Bielefeld: transcript, 2012), insbesondere S. 13-64; Zangger, A., Koloniale Schweiz: Ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien (1860-1930) (Bielefeld: transcript Verlag, 2011). 56 Vgl. Purtschert, P., Postkoloniale Schweiz, S. 18. Viele Forschungen zu Hybridität be- rufen sich auf Bhabha, H. K., »Of mimicry and man: The ambivalence of colonial discourse«, in The location of culture, herausgegeben von Bhabha, H. K. (London: Routledge, 1994), S. 121-131. Für Einführungen in diese komplexen Ansätze vgl. Conrad, S. und Randeria, S., »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, in Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, herausgegeben von Conrad, S. und Ran- deria, S. (Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2002), S. 9-49. 57 Da die Gegenüberstellung »Kolonisierte / Kolonisierende« zu einer starken Kom- plexitätsreduktion neigt, sind die Begriffe hier in Anführungszeichen aufgeführt. Für eine übersichtliche Einführung in postkolo niale Zugänge vgl. Conrad, S. und Randeria, S., »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postko- lonialen Welt«, S. 9-49. Der Zusammenhang zwischen internationaler Alkohol- Regulierung und der kolonialen Konstellation wird besonders deutlich in: Pan, L., Alcohol in Colonial Africa, S. 12; Courtwright, D. T., Forces of habit: drugs and the making of the modern world (Cambridge, London: Harvard University Press, 2001). 58 Zum Zusammenhang von Alkoholgenuss und sozialem Prestige vgl. Gusfield, J. R., Symbolic crusade. Der weite Begriff des sozialen Prestiges kann meines Erach- tens mithilfe von Pierre Bourdieus Ausführungen zu den ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalformen präziser gefasst werden, die insbesondere bei den Professionalisierungs- und Institutionalisierungsbestrebungen sowie den Delegati- onsprinzipien der sozialhygienisch geprägten Abstinenzakteure neue Erkenntnisse versprechen (vgl. Bourdieu, P., »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, sozia- les Kapital«, in Soziale Ungleichheiten, herausgegeben von Kreckel, R. (Göttingen: Schwartz, 1983), S. 183-198). 28 Einführung nach Überlagerungen zwischen kolonialen und nationalen Diskursen zur »Sozialen Frage«.59

Eingrenzung II: Auswahl der Akteure

Bereits vor 1870 haben zivilgesellschaftliche Verbände wie etwa die Abo- rigines’ Protection Society (APS) den Schnapshandel mit den indigenen Be- völkerungen Nordamerikas, Ozeaniens und Afrikas kritisiert. Wie in vie- len alkoholgegnerisch aktiven Vereinigungen waren die Mitglieder APS überwiegend protestantisch geprägt und richteten ihre Aufmerksamkeit nicht bloß auf die Bekämpfung von Alkohol. Vielmehr schien die alko- holgegnerische Agitation Teil einer weiterreichenden Reformation indige- ner Lebens stile zu sein. Der deutsche Soziologe Manfred Kappeler betont die zentrale Rolle von christlichen Missionsgesellschaften im Prozess der Diskriminierung von lokalen Traditionen. Obwohl sich diese Missionen vielfach von den Ideen der Aufklärung distanzierten, hätten sie laut Kap- peler den Kolonisierten eine »abendländische«, unablässig durch Genuss- sucht bedrohte Freiheits- und Subjektivitäts konzeption aufge zwungen.60 Im Einklang dazu gehen viele Historikerinnen und Historiker davon aus, dass die globale Konstellation des Kolonialismus von zentraler Bedeutung

59 Zum Begriff der »Sozialen Frage«, der sich im Wesentlichen auf gesellschaftliche Folgen der Industrialisierung bezog, vgl. Degen, B., »Soziale Frage«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D16092.php [Stand: 4. 1. 2012]. Auf Überlappungen zwisch en kolonialen und nationalen Diskursen macht etwa Sebastian Conrad aufmerksam, der auf die diskursiven Parallelen zwischen afrikanischen Eingeborenen und deutschen »Ar- beitsscheuen« in Deutschland um 1900 hinweist (Conrad, S., »Education for Work in Colony and Metropole«, in Empires and Boundaries. Rethinking Race, Class and Gender in Colonial Settings, herausgegeben von Fischer-Tiné, H. und Gehrmann, S. (New York: Routledge, 2008), S. 23-40). Zur gegenseiti gen Abhängigkeit der Inneren und Äußeren Missionen vgl. Thorne, S., »›The Conversion of Englishmen and the Conversion of the World Inseparable‹ – Missionary Imperialism and the Language of Class in Early Industrial Britain«, in Tensions of Empire: Colonial cul- tures in a bourgeois world, herausgegeben von Cooper, F. und Stoler, A. L. (Berkeley: University of California Press, 1997), S. 238-262. 60 Vgl. Kappeler, M., Drogen und Kolonialismus: Zur Ideologiegeschichte des Drogen- konsums, 3. Aufl. (Frankfurt am Main: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1998), insbes. S. 81 & S. 171 f. Der Vorwurf des Kultur-Imperialismus bleibt aktuell, obschon ihn verschiedene Historiker relativiert haben; vgl. Porter, A. N., Religion versus empire? British protestant missionaries and overseas expansion, 1700-1914 (Man- chester: Manchester University Press, 2004), S. 373. Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 29 war für eine noch gegenwärtig verfestigte Wahrnehmung des Rausches als etwas »Fremdes«.61 Um das Spannungsfeld zwischen Internationalismus und Kolonialis- mus zu beleuchten, sollen folglich zwei Kollektive in den Vordergrund ge- rückt werden: Einerseits die evangelische Basler Missionsgesellschaft (Basler Mission), die unter anderem in den Gebieten der heutigen Staaten Ghana und Kamerun aktiv war und eng mit dem religiös geprägten Blauen Kreuz verzahnt war, sowie andererseits eine sozialhygienische Wissensgemein- schaft, die sich auf Abstinenz berief. Diese beiden Akteurskollektive wer- den in Kapitel 1 eingehender vorgestellt. Die Aktivitäten und Wahrneh- mungen der beiden zwischen Kooperation und Konkurrenz oszillierenden Kollektive sind insbesondere vor dem Hintergrund der Frage interessant, inwiefern sich die Deutungshoheit über die sogenan nte »Alkoholfrage« in den vergangenen zwei Jahrhunderten von Sittlichkeitsreform hin zu medi- zinisch-kurativen Wissenschaften verschoben hatte.62 Die Basler Mission stellte für die alkoholgegnerischen Verbände der Schweiz eine wertvolle Informationsquelle zu den Schäden dar, die der Alkohol in den Kolonien Goldküste und Kamerun anzurichten schien. Südghana wurde 1874 durch Groß britan nien als Kronkolonie beansprucht und in den kommenden Jahren durch die Annexion des Ashanti-Reichs

61 Verschiedene Historikerinnen und Historiker haben das »Othering« des Rausches anhand »fremder Rauschmittel« wie Opium, Cannabis und Peyotl aufgezeigt (vgl. u. a. Milligan, B., Pleasures and pains: opium and the Orient in nineteenth-century British culture, Victorian literature and culture series (Charlottesville, London: Uni- versity Press of Virginia, 1995); Renggli, R. und Tanner, J., Das Drogenproblem; Geschichte, Erfahrungen, Therapiekonzepte (Berlin etc.: Springer, 1994); Berridge, V., Demons: Our changing attitudes to alcohol, tobacco, & drugs (Oxford: Oxford University Press, 2013); Barton, P. und Mills, J. H. (Hg.), Drugs and empires: essays in modern imperialism and intoxication 1500-1930 (Basingstoke: Palgrave Macmil- lan, 2007); Mills, J. H., Madness, cannabis and colonialism: the ›native-only‹ lunatic asylums of British India, 1857-1900 (Basingstoke: Macmillan, 2000); Mills, J. H., Cannabis Britannica: empire, trade, and prohibition 1800-1928 (Oxford: Oxford University Press, 2003). 62 Zu dieser These vgl. Spode, H., »Das Paradigma der Trunksucht – Anmerkungen zu Genese und Struktur des Suchtbegriffs in der Moderne«, Drogalkohol 10, no. 3 (1986), S. 178-191; Conrad, P. und Schneider, J. W., Deviance and medicalization, S. 82-88; Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems: Drinking-Driving and the Symbolic Order«, in Morality and Health, herausgegeben von Rozin, P. und Brandt, A. M. (New York: Routledge, 1997), S. 201-230; Berridge, V., »The origins and early years of the Society 1884-1899«, British Journal of Addiction 85 (1990), S. 991-1003 (999); Nicholls, J., The politics of alcohol, S. 162. 30 Einführung sowie der »Northern Territories« erweitert.63 Kamerun war zwischen 1884 und 1916 eine deutsche Kolonie, ab 1919 wurde es als Völkerbunds-Man- dat zu vier Fünfteln von Frankreich und zu einem Fünftel von Großbritan- nien verwaltet.64 Während der langen Zeitspanne zwischen 1886 und 1939 durchlief das Verhältnis zwischen den Kolonialregierungen und ihren Sub- jekten in den heterogenen Gebieten verschiedene Phasen. Dabei scheint die Einstellung von führenden Kolonialbeamten eine wichtige Rolle ge- spielt zu haben. Bei beiden Kolonien wurden erst nach 1900 Gouverneure eingesetzt, die als »reformistisch« galten. Aus alkoholgegnerischer Sicht sind allen voran die Amtszeiten des Staatssekretärs im Reichskolonialamt, Bernhard Dernburg, und des Gouverneurs Deutsch-Kameruns, Theodor Seitz, bemerkens wert. In diesem Zeitraum von 1907-1910 setzte sich beim Thema »Alkohol und Einge borenenpolitik« dem Alkoholhandel gegen- über eine kritische Haltung durch.65 Eine ähnlich reformistische Agenda vertrat Gordon Guggisberg, der zwischen 1919-1927 als Gouverneur der Goldküste tätig war.66 Die transnational angelegte Basler Mission hatte über ihre Missions- geschwister direkten Kontakt zum westafrikanischen »gin belt«. Zudem war sie Teil eines evangelischen Netzwer kes mit engen Beziehungen nach Deutschland, Frankreich (über die Pariser Mission) und Großbritannien

63 Zu den Standardwerken zur Geschichte Ghanas zählen allen voran Kimble, D., A political history of Ghana: the rise of Gold Coast nationalism 1850-1928 (Oxford: Clarendon Press, 1963) und Gocking, R. S., The history of Ghana (Westport, CT.: Greenwood, 2005). Ein auf die Basler Mission verdichteter Überblick findet sich in Miller, J., Missionary zeal and institutional control: organizational contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast, 1828-1917 (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2003). 64 Zur Geschichte Kameruns vgl. Eyongetah, T. und Brain, R., A history of the Ca- meroon (London: Longman, 1974); in Bezug auf den deutschen Kolonialismus empfiehlt sich allen voran Kundrus, B., Moderne Imperialisten: Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien (Köln: Böhlau, 2003); Stoecker, H., Kamerun unter deut- scher Kolonialherrschaft: Studien (Berlin: Rütten und Loening, 1960); sowie Rudin, H. R., Germans in the Cameroons, 1884-1914. A case study in modern imperialism (London: Jonathan Cape, 1938). 65 Vgl. Döpp, D., »Humanitäre Abstinenz oder Priorität des Geschäfts? – Die Diskus- sion um die Legitimität des kolonialen Alkoholhandels in der deutschen Öffent- lichkeit (1885-1914)«, in Geschichte und Humanität, herausgegeben von Gründer, H. (Münster, Hamburg: LIT Verlag, 1994), S. 125-132; Rudin, H. R., Germans in the Cameroons, 1884-1914, S. 136 & 387 f. Dernburg legte 1908 dem Reichstag die Denkschrift Alkohol und Eingeborenenpolitik (Nr. 817) vor, die auch die Basler Mis- sion erreichte (BMA J.77) und in der Internationalen Monatsschrift gelobt wurde (E. B., »Alkohol und Eingeborenenpolitik«, Internationale Monatsschrift 6 [1909], S. 180 ff.). 66 Vgl. Gocking, R. S., The history of Ghana, S. 57-60. Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 31

(über die Church Missionary Society,67 CMS). Aber auch die andere in Afrika tätige Missionsge sellschaft mit Sitz in der Schweiz, die Mission Romande, war spätestens ab 1896 in den internationalen Kampf gegen den Alkohol eingebunden. So betätigte sich der ehemalige Missionar Henri-Alexandre Junod als Vorsitzender des Bureau international pour la défense des indigènes aktiv an der alkoholgegnerischen Kampagne, indem er nicht zuletzt zwei Memoranden an den Völkerbund richtete.68 Eine detaillierte Analyse der zueinander teils in einem Kooperations-, teils in einem Konkurrenz- verhältnis stehenden Missionsgesellschaften bleibt jedoch einem anderen Buch vorbehalten. Überdies wird mit der Rekonstruktion der afrikani- schen Stimmen zur »Alkohol frage« besonders im Hinblick auf Kappelers These einer aufgezwungenen abend ländischen Subjektivitätskonzeption ein bedeutendes Forschungs-Desiderat noch weitge hend unerforscht blei- ben. Ferner ist bemerkenswert, dass der Islam mit seinen expliziten alko- holgegnerischen Normen in den alkoholbezogenen Postulaten der Bas- ler Mission im west afrikanischen Kontext erstaunlich selten thematisiert wurde.69 Untersucht wurden neben gezielt ausgewählten Archivalien die beiden gedruckten Basler Organe Der evangelische Heidenbote sowie die Jahres- berichte der Basler Mission. Davon ausgehend ließen sich zahlreiche wei- tere Spuren verfolgen.70 Bezüglich des alkoholgegnerischen Aktivismus der Basler Mission ist bemerkens wert, dass rund ein Viertel der Basler Missionare dem Blauen Kreuz angehör ten.71 Von diesem ebenfalls deut- lich evangelisch geprägten Verband, der sich ab 1886 in einem losen in-

67 Diese wird auch als Church Mission Society aufgeführt. 68 Für eine Übersicht über die Schweizer reformierten Missionsgesellschaften vgl. Blum, E., Die Mission der reformierten Schweiz (Basel: Basileia Verlag, 1965), S. 18-32; Summermatter, S., »Junod, Henri-Alexandre«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11230.php [Stand: 14. 2. 2008]. 69 Vgl. dazu Matthee, R., »Alcohol in the Islamic Middle East: Ambivalence and Am- biguity«, Past and Present 222, Supplement 9 (2014), S. 100-125. Paul Nugent bringt die Alkohol-Abstinenz im westafrikanischen Kontext etwa mit einer spezifischen »Muslim modernity« in Verbindung; vgl. Nugent, P., »Modernity, Tradition, and Intoxication«, S. 139 f. 70 Neben den alkoholgegnerischen Schriften in BMA J und BMA E 10.15 wurden fol- gende Brüder- und Schwesterfaszikel ausgewertet: Rudolf Fisch, Hermann Christ, Otto Lädrach, Baltasar Groh, Hanna Brugger, Rudolf Bürki, Friedrich August Louis Ramseyer, Wilhelm Erhardt, Elias Schrenk, Philipp Hecklinger, Otto Hä- berlin, Friedrich Spellenberg und Karl Wieber. 71 Vgl. Fisch, R., »Die bedrohte schwarze Rasse«, in Evangelischer Heidenbote (1913), S. 168 f. 32 Einführung ternationalen Bund organisierte, wurden zusätzlich die Zeitschriften Der illustrierte Arbeiterfreund sowie der Arbeiterfreund-Kalender ausgewertet, da sich diese an die Arbeiter schaft gerichteten Zeitschriften »in weiten Bevölkerungskreisen«72 großer Beliebt heit erfreuten und auch in Deutsch- land und in Österreich-Ungarn bezogen werden konn ten.73 Das zweite, für diese Studie zentrale Akteurskollektiv stellt die wis- senschaftlich ausge richtete, sozialhygienisch geprägte Abstinenz-Bewe- gung dar, die maßgeblich von der Schweiz ausging und die kontinental- europäischen Alkoholdebatten prägte.74 Der Ausdruck »Sozialhygiene« nimmt bereits auf zwei wesentliche Charakteristika Bezug: Erstens ver- deutlicht der Begriff »Hygiene« den Einfluss der Mediziner auf den Ge- sundheits-Diskurs. Akademisch ausge bildete Ärzte verbreiteten zusehends anhand von Statistiken und Theorien Optimismus über die Steuerbarkeit der Gesellschaft, indem sie gewisse Eigenschaften wie Lebens erwartung, Ausdauer oder Arbeitskraft als erstrebenswert einstuften und vermaßen. Zweitens verweist der Begriff »sozial« auf eine Tendenz zur Entindividuali- sierung: Inspiriert durch sozialdarwinistische Evolutionstheorien wurde zusehends die Gesund heit eines »Gattungskörpers« zum Untersuchungs- gegenstand, wobei unterschiedliche Ansichten darüber vorlagen, wer zu diesem Kollektiv gezählt werden dürfe und wer nicht. In dieser Strömung spielten der Internationale Alkoholgegner bund (AGB), die Schweizer Lo- gen des Internationalen Guttempler-Ordens sowie nicht zuletzt das Inter- national Bureau against Alcoholism (IBAA) eine bedeutende Rolle. Im un- mittelbaren Umfeld dieser schwer fassbaren Strömung lassen sich weitere Verbände ausmachen, die hier nicht eingehend untersucht werden konn- ten: Zum SBaF hat Regula Zürcher bereits eine Dissertation verfasst, in der sie eine zurückhaltende internationale Vernetzung des Vereins mit der World Woman’s Christian Temperance Union (WWCTU) feststellt.75 Der SAB wurde bereits ausführlich von Rolf Trechsel beleuchtet. Mit dem Ver- ein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes oder der International Ab- staining Teacher Association bleiben interes sante internationale Akteursver- bände noch weitgehend unerforscht, wie auch die eher lokal orientierten

72 »Unter der Blauen Fahne«, Schweizer Abstinent 25 (1928), S. 109. 73 Vgl. Illustrierter Arbeiterfreund 1 (1885), S. 1. Die Jahresberichte sowie die auflagen- stärkste Zeitschrift des Vereins mit dem Titel Das Blaue Kreuz wurde bereits von Rolf Trechsel untersucht, vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 31-45. 74 Spode, H., »›Extrem hoher Alkoholkonsum‹«, S. 190. 75 Vgl. Zürcher, R., Von Apfelsaft bis Zollifilm: Frauen für die Volksgesundheit (Kloten: Schweizerischer Bund abstinenter Frauen, 1996), S. 352-366. Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 33

Mäßigkeitsvereinigungen wie die Ligue Patriotique Suisse contre l’alcoolisme oder der St. Galler Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke.76 Ob- wohl die sozialhygienische Strömung innerhalb der Schweizer Abstinenz- bewegung bloß von einer vergleichsweise dünnen Trägerschaft getragen wurde – Trechsels Berechnungen zufolge gehörten rund ein Fünftel al- ler organisierten Abstinenten jener Strömung an –, schienen diese ab den 1910er-Jahren zusehends eine führende Rolle im Anti-Alkohol-Diskurs zu übernehmen.77 Da der Begriff der Sozialhygiene in verschiedenen räumlichen, gesell- schaftlichen und zeitlichen Kontexten einen unterschiedlichen Sinngehalt annehmen konnte, ist die Zuordnung der unterschiedlichen Verbände zu dieser Strömung schwierig.78 In der Alkoholgegnerschaft der Schweiz fand diese Ansicht in den Veröffentlichungen des AGB den deutlichsten Ausdruck, dessen wichtigstes Organ, die renommierte Internationale Mo- natsschrift zur Bekämpfung des Alkoholismus (nachfolgend als Internatio- nale Monatsschrift bezeichnet)79 im Rahmen dieser Arbeit untersucht wird. Über diese kontinental europäische Alkoholgegnerzeitschrift, die in zahl- reichen Beiträgen Anspruch auf wissenschaftliche Autorität erhob, wurde von Beginn weg eine spezifische sozial hygienische Deutung international verbreitet, die 1896 erstmals als »sozialhygienisch« bezeichnet wurde.80 Die

76 Der St. Galler Verein wurde 1899 durch Augustinus Egger gegründet und zählte 1903 3.177 Mitglieder; während die 1892 gegründete Ligue Patriotique 1904 drei Sektionen aufwies, wovon die Genfer Sektion 243 stellte. Ferner bleiben die dem Blauen Kreuz nahestehenden Ableger Espoir mit 5.277 Mitglieder um 1904 sowie dem Hoffnungsbund mit rund 2.500 Mitgliedern um 1904 weitgehend unerforscht. Zu der Ligue de Femmes Suisses contre l’alcoolisme, die 1904 rund 4.000 Mitglieder mobilisierte und damit den Schweizerischen Bund abstinenter Frauen zahlenmäßig um beinahe das Achtfache überflügelte, fanden sich bis anhin keine weiteren Hin- weise. 77 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 173. Ein Hinweis auf diese Ausrichtung gibt der Umstand, dass die meisten Ortsvereine des Blauen Kreuzes ab 1910 offiziell zum Standpunkt der Abstinenz wechselten; vgl. Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 137 f. 78 Vgl. dazu Kapitel 1. 79 Die Internationale Monatsschrift wechselte ihren Namen mehrfach; heute erscheint sie unter dem Titel »Sucht«. Im Rahmen des Dissertationsprojekts wurden neben jener Monatsschrift auch die Guttempler-Zeitschrift Der Schweizer Abstinent; die Blaukreuz-Zeitschriften Der illustrierte Arbeiterfreund & Der Arbeiterfreund- Kalender; die vom International Bureau against Alcoholism herausgegebenen Inter- nationalen Jahrbücher des Alkoholgegners sowie die Jahresberichte für die Zeitperiode 1885-1939 ausgewertet. 80 Vgl. Forel, A., »Über Ziele und Aufgaben des Vereins abstinenter Ärzte des deut- schen Sprachgebietes«, Inter nationale Monatsschrift 11 (1896), S. 321-325 (321). 34 Einführung

Grenzen dieser spezifisch-abstinenten Wissens gemeinschaft werden in Ka- pitel 1 ausgeleuchtet. Trotz des dabei populärwissenschaft lichen Fokus auf den hygienischen Aspekt zeugen die mehrheitlich von Akademikern ver- fassten Beiträge der Monatsschrift von einem Anspruch auf die objektive Erfassung einer universellen »Wahrheit«. Der lange dem Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes vorsitzende Arzt Arnold Holitscher (1859- 1942) bezeichnete seine abstinenten Kollegen (und vereinzelt auch Kolle- ginnen) stolz als »Fanatiker der Wahrheit«.81 Die Bezeichnung »sozialhygienisch« ist in Bezug auf diese abstinente Strömung insofern problematisch, als dass in der deutschsprachigen Li- teratur zumeist der Arzt Alfred Grotjahn (1869-1931) mit Sozialhygiene in Verbindung gebracht wird, der die Institutionalisierung dieses brei- ten Gegenstandes als wissenschaftliche Disziplin wesentlich geprägt hat- te.82 Zwar teilte Grotjahn mit der in dieser Studie untersuchten Schweizer Lesart der Sozialhygiene eine Nähe zu sozialistischen und rassenhygie- nischen Ideologien und sah die »soziale Hygiene« auch als eine »norma- tive Wissenschaft«, die Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit empfahl. Jedoch distanzierte er sich explizit von jenen »organisierten Enthaltsamkeitsfanatiker[n]«,83 indem er überdies den »mäßigen« – bei

81 Holitscher, A., »Fanatismus«, Internationale Monatsschrift 5 (1911), S. 193 ff. (195). Zur größtenteils populärwissenschaftlichen Wahrnehmung des Fachs »Hygiene« vgl. Sarasin, P., Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765-1914 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001), S. 124 ff. 82 Vgl. Ferdinand, U., »Health like liberty is indivisible. Zur Rolle der Prävention im Konzept der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1861-1931)«, in Das Präventive Selbst, herausgegeben von Lengwiler, M. und Madrasz, J. (Frankfurt am Main: Campus, 2010), S. 115-136; Eckart, W. U., »Sozialhygiene; Sozialmedizin«, in Historisches Wö rterbuch der Philosophie, herausgegeben von Ritter, J., Grunder, K. und Gabriel, G. (Basel: Schwabe, 1996); Heinzelmann, W., Sozialhygiene als Gesundheitswissen- schaft: die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933 – eine Geschichte in sieben Profilen (Bielefeld: transcript, 2009); Kaupen-Haas, H. (Hg.) Naturwissenschaften und Eugenik, Bd. 1, Sozialhygiene und Public Health (Frankfurt am Main: Mabuse- Verlag, 1994); Reulecke, J., »Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik«, in Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, herausgegeben von Kerbs, D. (Wup- pertal: Hammer, 1998), S. 179-210; Thissen, R., Die Entwicklung der Terminologie auf dem Gebiet der Sozialhygiene und Sozialmedizin im deutschen Sprachgebiet bis 1930 (Köln: Westdeutscher Verlag, 1969), insbesondere S. 24 f.; Trüb, C. L. P., Die Terminologie und Definition von Sozialmedizin und Sozialhygiene in den literarischen Sekundärquellen der Jahre 1900 bis 1960 (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1978). 83 Grotjahn, A., »Alkoholismus«, in Handwörterbuch der sozialen Hygiene, heraus- gegeben von Grotjahn, A. und Kaup, I. (Leipzig: F. C. W. Vogel, 1912), S. 12. Vgl. auch Grotjahn, A., Der Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung (Leipzig, 1898), S. 146. Ein Netzwerk im Zeichen von Medikalisierung und Transnationalität 35 betagten Personen gar den »übermäßigen« – Alkoholgenuss guthiess. Aufgrund seines Eintretens für die sogenannte »Mäßigkeit«84 sowie sei- ner Ansicht, Alkoholismus sei eher Symptom als Ursache der »socia- len Verhältnisse«,85 fand er in der sich bereits 1896 als »sozialhygienisch« bezeichnenden Abstinenzströmung kaum namentliche Rezeption.86 Die in Letzterer ver tretenen Normen und Überzeugungen über bestimmte Kausal zusammenhänge sind insbesondere aufgrund des Umstandes in- teressant, dass diese in einem wissenschaft lichen Kleid über ein globales, dichtes Alkoholgegner-Netzwerk diffundierten und dabei den Medikali- sierungsprozess der Theoretisierung des Alkoholismus maßgeblich mitge- stal teten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der mit Rassenhygiene und Eugenik konnotierte Begriff der Sozialhygiene zunehmend durch den Ter- minus der »Sozialmedizin« ver drängt.87 Für die Analyse der sozialhygienischen Strömungen bieten sich Mi- chel Foucaults Ausführungen zur Gouvernementalität und vor allem zur Biopolitik an. Foucault hat in seinen Ausführungen zur Biopolitik auf zwei Pole hingewiesen, die »durch ein Bündel von Zwischenbeziehun- gen« miteinander verbunden sind:88 Einerseits die den Körper als Ma- schine verstehende, auf Fortschritt und Leistungsoptimierung getrimmte Diszipli nierung ; andererseits die Biopolitik, welche die Optimierung eines »Gattungskörpers« über Sexualität zu regulieren versucht.89 Die sozialhy- gienischen Abstinenten des deutschen Sprachgebietes befassten sich ins- besondere mit Theorien zu vererbbaren »Willens schwächen« oder Ge- schlechtskrankheiten. Diese individuellen Pathologien bezogen sie jeweils auf einen mehr oder weniger breit gefassten »Gattungskörper«, dessen Entwick lung »im Namen des Lebens« beeinflusst respektive »gesteuert« werden sollte. Im Gegensatz zum Alkohol-Diskurs in den USA, der laut der Rechtssoziologin Mariana Valverde weniger in einem Zusammenhang mit Biopolitik (in Form von Gesundheits maximierung, Regulierung von

84 »Mäßigkeit« bzw. »mäßig« verweisen in den folgenden Ausführungen auf den Standpunkt, wonach der Konsum schwachalkoholischer Getränke in unterschied- lich definiertem Maß aufgrund von Sittlichkeits- und/oder Gesundheitserwägun- gen gutgeheissen wird. 85 Grotjahn, A., Der Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung, S. 409. 86 Vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 212. 87 Jones, G., Social Hygiene in twentieth-century Britain (London: Croom Helm, 1986), S. 7. Zur Rassenhygiene vgl. Tanner, J., »Eugenik und Rassenhygiene in Wissenschaft und Politik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Ein historischer Überblick«, S. 116. 88 Foucault, M., Sexualität und Wahrheit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977), S. 134 f. 89 Ebd. 36 Einführung

Sexualität und Sicherheit) zu interpretieren sei als im Zusammenhang mit Sittlichkeit, Ordentlichkeit und finanzieller Einträglich keit,90 waren biopolitische Anliegen charakteristisch für die sozialhygienisch geprägte Alkoholgegner schaft in der Schweiz. Diese beinhalteten jedoch auch Werte wie Reinlichkeit oder Häuslichkeit, die der Hirnforscher Auguste Forel kurzerhand als Ausdruck einer vererbbaren »geistigen Regsamkeit« auslegte.91 Die abstinenten Sozialhygieniker wiesen eine starke Tendenz auf, ihre Prohibitionsforderungen aufgrund von physiologischen Experi- menten und anderen Vergleichen zur Produktivität von Nüchternen und Berauschten mit der Disziplinierung zu verknüpfen. Obschon sie auf eine fortwährende Leistungs steigerung des menschli chen Körpers fokussier- ten, verorteten sie ihre Maxime vielfach in einem kapitalismuskritischen Weltbild, das im Streben nach immer größeren Gewinnen eine Gefahr für das langfristige Überleben von ganzen Volkskollektiven vermutete.92 Eine effiziente biologische und kulturelle Optimierung solcher Volkskollektive erkannten die darwinistisch-sozialhygienisch argumentierenden Aktivis- ten und Aktivistinnen in der Eindämmung des scheinbar degenerierenden »Rassenschänders Alkohol«.93 Durch diese ›Kollektivierung‹ wurden scheinbar private Angelegenhei- ten wie der indivi duelle Konsum von Genussmitteln zunehmend als Sache der Öffentlichkeit problematisiert. Die Rekonstruktion dieser Formierung einer »Gouvernementalität«94 soll jedoch nicht bloß Diskurse betrachten, sondern auch deren Verbreitungskanäle.95 Deshalb fokussiert diese Studie auf einige alkoholgegnerische Kollektive, die ihre Argumente und Motive über ein transnationales Netzwerk verbreiteten. Diskursanalytisch gespro-

90 Valverde, M., Diseases of the will: alcohol and the dilemmas of freedom (Cambridge: Cambridge University Press, 1998), S. 12. Mariana Valverde umschreibt den ameri- kanischen alkoholgegnerischen Fokus mit »orderli ness, public morals, business«. 91 Forel, A., »Alkohol und soziales Elend«, Internationale Monatsschrift 7 (1894), S. 204-218 (206). 92 Im Zusammenhang mit dem sozialhygienischen Legitimationsanspruch »Gesund- heit und Arbeitskraft zu er halten« (Kraepelin, E., »Die wissenschaftliche Begrün- dung der Enthaltsamkeit«, Schweizerische Abstinenzblätter 6, no. Beilage [1905]) erstaunen die zahlreichen pädagogischen Anstrengungen der Anti-Alkohol-Akteure kaum. In den Archiven ist eine Fülle von Unterrichtsmaterialien für abstinente Jungvereine vorhanden. Obschon dieser Gegenstand äußerst interessant ist, scheint er zu weit zu gehen, um in der Arbeit ausführlich behandelt werden zu können. 93 Schweizer Abstinent 6 (1938), S. 24. 94 Foucault, M., Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesung am Collège de France, 1977-1978 [und] 1978-1979 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004). 95 Vgl. Keller, R., Wissenssoziologische Diskursanalyse: Grundlegung eines Forschungspro- gramms, 3. Aufl. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011), S. 319. Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus 37 chen ›schrieben‹ sich deren oft wiederholte Vorstellungen – etwa von Nüchternheit als Freiheit – in ein diskursives Ordnungsschema ›ein‹. Die- ses Ordnungsschema ermöglicht einem breiten Publikum, Äußerungen als wertende Aussagen zu deuten.96 Womöglich kommen der Anti-Alkohol- Bewegung damit nicht nur im Hinblick auf ihre ausgebildeten Strukturen globaler Steuerung, sondern auch im Hinblick auf ihre Prägung des Spre- chens über die Berauschung längerfristige Auswirkungen zu: Nicht zuletzt trugen ihre zahlreichen Äußerungen der Konstituierung des modernen permanent-reflexiven Subjekts bei.97 Foucault assoziiert dieses weitge- hend mit einer internalisierten Selbstdisziplinierung, die er als »Einfluss des Selbst auf sich selbst, womit man versucht, sich herauszuarbeiten, sich zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu finden«98 beschrieb. Damit befasst sich die vorliegende Arbeit mit der Herausbil- dung spezifischer Formen gesellschaftli chen Zwangs, die den Subjekten einer modernen Gesellschaft zum Schutze einer fragilen, stets als bedroht wahrgenommenen Freiheit zugemutet werden. Dabei soll nicht vergessen gehen, dass neben den alkoholgegnerischen Organisationen zahlreiche Ak- teure an diesem Prozess beteiligt waren, die zum Teil auch gegenteilige An- sichten einbrachten: So bleiben allem voran das aus alkoholgegnerischer Sicht bekämpfte »Braukapital« oder »Alkoholkapital«, das etwa über das Internationale Weinamt auch international aktiv wurde, wie auch etwaige Wirteverbände noch eingehender zu untersuchen.99

Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus

Die Kapitel 2-4 orientieren sich an den Denkanstössen des französischen Philosophen Jacques Derrida, der in einem Interview den Begriff der Rhe- torik der Droge geprägt hat. Darin betont Derrida die Unmöglichkeit einer objektiven Definition von »Drogen«, da auch wissenschaftliche Ansätze »wesentlich von ethisch-politischen Normen überdeterminiert« seien.100

96 Vgl. ebd. 97 Vgl. ebd., S. 130. 98 Vgl. Martin, L. H. und Foucault, M., Technologien des Selbst (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1993), S. 10. 99 Die Zeitung des Schweizerischen Wirteverbandes ist in der Landesbibliothek Bern zugänglich. 100 Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, in Auslassungspunkte: Gespräche, heraus- gegeben von Engelmann, P. und Derrida, J. (Wien: Passagen Verlag, 1998), S. 231- 266 (242). 38 Einführung

Vielmehr funktioniere der Begriff der Droge im Diskurs als wertende »Rhetorik«. Derrida geht in diesem Gespräch leider nicht weiter auf den Terminus der »Rhetorik« ein, scheint damit aber hauptsächlich auf die dis- kursiven Überzeugungs-Funktionen von einschlägig positiv oder negativ besetzten Ideen abzuzielen. Derartige Bezugnahmen können als Rhetorik interpretiert werden, wenn sie eingesetzt werden, um bei den Adressaten aufgrund der ihr innewohnenden Konnotationen ein spezifisches Ziel zu erreichen.101 In den Diskursen über »Drogen« ortet Derrida zwei dominante Posi- tionen, die einander entgegengestellt sind, sich jedoch nicht ganz aus- schließen: Auf der einen Seite leitet der liberale Naturalismus das Recht eines Individuums auf Selbstbestimmung aus einem Natur recht ab, und stellt die Verwendung gewisser psychoaktiver Substanzen gar als ein aus reaktiven Gewaltstrukturen befreiendes Mittel dar. Auf der anderen Seite propagiert der Konventionalismus im Namen einer kollektiv zu gewährleis- tenden Gesundheit, Produktivität und Sicherheit eine Einschränkung der individuellen Freiheit. Aus dieser Perspektive wird die Beschränkung sol- cher Substanzen befürwortet, welche die »Integri tät und Verantwortung der Subjekte« und damit den Fortbestand der »sozialen Bande« bedro- hen.102 Derrida zufolge könne keine dieser beiden Ansichten absolut ver- urteilt werden, vielmehr fordert er zu einem stetigen Hinterfragen solcher Konventionen aus verschiedensten Perspektiven auf.103 Dabei betont der Philosoph den Umstand, dass das Sprechen über Rauschzustände vor dem Hintergrund eines verfestigten diskursiven Ordnungsschemas leicht eine präskriptive anstelle einer deskriptiven Form anzunehmen droht, da die Sprache stets wertende ›Altlasten‹ reproduziert: »Alle Namen und Begriffe, die man zur Definition dieser [zur Beschrei- bung individueller Erfahrungen notwendigen, F. S.] Kriterien, Qualifi- kationen und Standpunkte verwenden kann, sind von stark einengen- den, diskursiven Sequenzen besetzt. Sie alle entsprechen einem stark verfestigten und äußerst schwer aufzulösenden Programm. Es handelt sich um eine metaphysische Last und um eine Geschichte, die immer wieder hinterfragt werden muss. Dabei geht es um nichts weniger als um das Ich, das Bewusstsein, die Vernunft, die Freiheit, das verantwort-

101 Vgl. Weische, A., »Rhetorik, Redekunst«, in Historisches Wörterbuch der Philoso- phie, herausgegeben von Ritter, J., Bien, G. und Eisler, R. (Basel: Schwabe, 1971), VIII, S. 1014-1025 (1014). 102 Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, S. 243. 103 Ebd., S. 252. Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus 39

liche Subjekt, den eigenen Körper und den Fremdkörper, die sexuelle Differenz, das Unbewusste, die Unterdrückung und Verdrängung, […] die Idealisierung, die Sublimierung, das Reale und das Gesetz, gut, ich höre auf …«104 In diesem Ausschnitt motiviert Derrida nicht nur zu einer historischen und zugleich kontinuierlich hinterfragenden Auseinandersetzung mit Diskur- sen über »Drogen«, er zählt darin auch verschiedenste positiv oder negativ bewertete Gemein plätze auf, die auch in dem zu untersuchenden Anti-Al- kohol-Diskurs eine prominente Rolle gespielt haben. In diesem Diskurs, der in vielerlei Hinsicht auch als ein Diskurs über ›Rauschmit tel‹ oder ›Dro- gen‹ zu lesen ist,105 fallen die zahlreichen Referenzen an einen idealisierten Zustand der Freiheit auf. Diese stehen in Kapitel 2 im Zentrum: Auf welche Lesart redu zier ten die Anti-Alkohol-Akteure den an und für sich kontin- gent deutbaren ›Container‹-Begriff der Freiheit? Und wie versuchten die verschiedenen Akteure, ihre Adressatinnen und Adressaten davon zu über- zeugen, dass die spezifische alkohol gegnerische Deutung des stets positiv ausgelegten Ideals der Freiheit die »wahre« sei? Dazu wurde stets Anspruch auf eine ›naturgemäße‹ und demnach ›wahre‹ Interpretation erhoben, etwa durch die Assoziation »unfreier« oder nur scheinbar freier Zustände mit dem Motiv der Sklaverei oder der Tierhaftigkeit.106 Derartige, negativ be- wertete Formen von »Anders artigkeit« verwiesen vielfach auch auf koloni- ale Vorstellungswelten. Indem dabei eine permanente Selbstkontrolle als »wirkliche Freiheit« gedeutet wurde, konnte der Wider spruch überwunden werden, ›im Namen der Freiheit‹ die Prohibition von Alkohol zu fordern, obschon dies einer gesetzlich verankerten Beschneidung der individuel- len Frei heit zur alkoholinduzierten Trunkenheit gleichkam.107 Mit der geforder ten Restriktion gewisser Genussformen zu Gunsten eines ›Genus-

104 Ebd., S. 255. Auch Aldous Huxley problematisierte diese sprachliche Begrenzung: »We can pool information about experiences, but never the experiences them- selves.« (Huxley, A., The Doors of (London: Chatto & Windus, 1954), S. 8.) 105 So wurde das Schweizer Nationalkomitee zur Bekämpfung der Betäubungsmittel 1931 durch den Guttempler Max Oettli gegründet; während der Guttempler Robert Hercod als europäische Vertretung der 1923 in Los Angeles gegründeten Interna- tional Narcotic Association fungierte. 106 Vgl. Horkheimer, M. und Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, S. 262: »Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterschei- dung vom Tier aus.« 107 Dieses Paradox, mit dem sich u. a. James Nicholls vertieft auseinandergesetzt hat, wird in Kapitel 2 eingehender behandelt. Vgl. Nicholls, J., The politics of alcohol, S. 116-120. 40 Einführung ses der Nächstenliebe‹ entsprach jene alkoholgegnerische Position deutlich dem von Derrida beschriebenen Konventionalis mus – allerdings mit der Eigenheit, dass die aufzuzwingende Nüchternheit nicht als Beschneidung, sondern als Erweiterung der individuellen und kollektiven Selbst bestim- mung ausgelegt wurde. Zur Bestärkung dieser Freiheits-Rhetoriken waren zwei weitere, stets positiv gedeutete Gemeinplätze von zentraler Bedeutung, die eng mit dem Thema der Befreiung verfloch ten waren: Erstens bezogen auffallend viele Argumentationen ihre Legitimation aus dem positiv bewerteten Gemein- platz der Natürlichkeit, der in Kapitel 3 beleuchtet wird. In Abgrenzung zu der ›Künstlichkeit‹ der Industrialisierung, der Großstadt, des aufwendig destillierten Branntweins, respektive des durch derlei ›künstliche‹ Substan- zen erzeugten Rausches wurde der Kultur des Fin de Siècle vielfach die Idee einer ›Ursprünglichkeit‹ oder eines ›Naturzustandes‹ entgegengesetzt. Über diese Bezugnahmen wurde primär die Frage verhandelt, zu welcher Form der Lebensführung der Mensch eigentlich ›prädestiniert‹ sei. Besonders ausgeprägt war diese Orientierung an einem imaginierten Naturzustand in den unterschiedlichen Ausprägungen der Lebensreform-Bewegungen, aber auch außerhalb dieser Strömungen existierten unterschiedliche Über- zeugungen über allfällige, durch die Natur oder durch metaphysische En- titäten vorbestimmte Normen. In diese Kategorie gehört auch die vielfach artikulierte Angst vor der durch Schaffung »künstlicher Bedürfnisse«,108 die der Befürchtung vor einem Verlust einer von Natur her gegebe- nen Selbstgenügsamkeit Ausdruck verlieh. Die von fortschrittsgläubigen Evolutions theorien durchdrungene sozialhygienische Alkoholgegnerschaft vermochte dabei den Graben zwischen Wissenschaft und Lebensreform vielfach über ihre Bezug nahme auf scheinbar »natürliche« Vorgaben zu überbrücken. Im Vordergrund dieser Natürlich keitsreferenzen stand zu- meist eine Auflösung des wahrgenommenen Gegensatzes zwischen ›Kul- tur‹ und ›Natur‹, wonach die Erstere im Hinblick auf eine von der Natur diktierten Sicherstellung des menschlichen Fortbestehens hin angepasst werden sollte. Zweitens wurde der Rausch zusehends als Gegensatz zu einer ubi- quitären, intersubjektiv wahrnehmbaren Wirklichkeit dargestellt.109 Die alkoholgegnerischen Wirklichkeits ansprü che waren eng verbunden mit

108 Forel, A., »Nervenhygiene und Glück«, Internationale Monatsschrift 11 (1892), S. 321-327 (323). 109 Zur »protestantischen Alkoholwirklichkeit« vgl. Nolte, F., »›Sucht‹ – zur Ge- schichte einer Idee«, in Sozialwissenschaftliche Suchtforschung, herausgegeben von Dollinger, B. und Henning, S.-S. (Wiesbaden: 2007), S. 47-58 (50 & 53). Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus 41

Vorstellungen von Wahrheit, Echtheit und Authentizität und operierten vielfach mit den Negativ-Schablonen der Täuschung, der Illusion oder des Scheins. Zwar appellierte die Alkoholgegnerschaft auch an die subjektiven Erfahrungen ihrer Adressaten, doch stützten sich die meisten ihrer Wirk- lichkeitsbezüge auf eine einseitig objektivierende Außenperspektive auf die trunkenen Subjekte, die der beobachtenden Gesellschaft durch präskrip- tive Beschreibungen gleichzeitig eine negative Bewertung jenes Verhaltens suggerierten. In Kapitel 4 werden einerseits die populärsten Strategien der Alkoholgegnerschaft zur Stützung ihrer Wirklichkeitsdeutungen beleuch- tet, andererseits aber auch die populären Motive des Aberglaubens sowie des Eskapis mus, die zur Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Lesarten zum Einsatz kamen. Für die nähere Betrachtung dieser Motive ist die von Derrida beschriebene »Rhetorik des Phantas mas« zentral, über welche den Konsumentinnen und Konsumenten von bewus st seins verändernden Sub- stanzen eine »Lust an einer Erfahrung ohne Wahrheit« zum Vorwurf ge- macht wird.110 Gegen diese Kritik, die auch als Ausdruck einer befürchteten Entfrem- dung von einer sozialen Wirklichkeit interpretiert werden kann, haben verschiedene Intellektuelle Einwände vorgebracht. Bedenkenswert scheint in diesem Kontext nicht zuletzt Theodor Adornos und Max Horkhei- mers Interpretation von Odysseus’ Begegnung mit den Lotophagen in ihrer Dialektik der Aufklärung. Darin begegnen die Autoren dem popu- lären Motiv einer durch Rauschmittel hervorgerufenen Täuschung mit der Überzeugung, dass jedes subjektiv empfundene Glück »Wahrheit in sich« enthalte.111 Damit sprachen sie den von ›außen‹ nicht einseh- baren Bewusstseinszuständen unabhängig vom gesellschaft lichen Recht- fertigungskontext eine Authentizität zu – eine Ansicht, die in aktuellen Debatten zur Authentizitätsproblematik bei »kosmetischer Psychophar- makologie« einen schweren Stand hat.112 Indem sie überdies eine Ablösung des Fests durch die Ferien bilanzierten, warnten sie vor einer der Produkti-

110 Derrida, »Die Rhetorik der Droge«, S. 249. 111 Horkheimer, M. und Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, S. 70. 112 Die Authentizitäts-Debatte ist besonders im Anschluss an Peter Kramers 1993 erschienenen Bestseller Listening to Prozac entbrannt, in dem Kramer das Anti- depressivum Prozac mit dem Wirkstoff Fluctin auch gesunden Menschen zum »psychopharmakologischen Enhancement« empfahl. Aus den zahlreichen Bei- trägen dieser Debatte, an der sich 2003 auch der durch US-Präsident George W. Bush einberufene President’s Council on Bioethics mit dem Bericht Beyond Thera- pie: Biotechnology and the Pursuit of Happiness beteiligte, sei auf die pragmatische Zusammenstellung von Heike Schmidt-Felzmann verwiesen: Schmidt-Felzmann, H., »Prozac und das wahre Selbst: Authentizität bei psychopharmakologischem 42 Einführung vitäts optimierung unterworfenen Rationalität, die nur die »Stillung von Bedürfnis sen«, jedoch keinen Genuss kenne.113 Derlei Rationalisierungs- ängste stellen laut dem ameri kanischen Soziologen Joseph R. Gusfield ein populäres Thema der modernen Lite ratur dar, wobei der Alkoholgenuss oft als Symbol einer romantischen und impulsi ven Oppo sition gegen eine Welt der Berechnung und Verantwortung fungiert.114 Um 1900 fanden derartige Ansichten etwa durch den populären US-amerikanischen Psycho- logen und Philosophen William James Zuspruch. Dieser beschrieb den Al- kohol als bejahenden »Befreier der menschlichen Fähigkeit zur mystischen Erfahrung«,115 wogegen er die Nüchtern heit als engen, verneinenden Zu- stand darstellte. Noch radikaler gegen die Gleichsetzung von Nüchternheit mit Wahr- heit argumentierte der im frühen 19. Jahrhundert als Verfasser der Bekennt- nisse eines englischen Opiumessers bekannt gewordene Thomas de Quincey. Dieser stellte das Motiv des Phantasmas ›vom Kopf auf die Füße‹, indem er nicht den Rausch, sondern die Nüchternheit als maskieren den Zu- stand beschrieb.116 In gewisser Hinsicht nahm de Quincey damit Friedrich Nietzsches Ansicht vorweg, wonach der nüchterne Intellekt primär ein Werkzeug der »Verstellung« sei und populäre Vorstellungen von »Wahr- heit« oder »Wirklichkeit« sich letztendlich als sozialkonstruierte Illusionen erweisen würden.117 Diese wenigen Beispiele illustrieren, dass die Ideolo- geme der Freiheit, der Natürlichkeit sowie der Wirklichkeit auf andere Ar- ten gedeutet werden können, als es die Zeitgenossen der industrialisierten Welt gewohnt sind. Ausgehend von dieser Kontingenz soll die vorliegende Studie aufzeigen, wie die untersuchte Bewegung mit ihren alkoholgegneri-

Enhancement«, in Neuro-Enhancement: Ethik vor neuen Herausforderungen, her- ausgegeben von Schöne-Seifert, B. et al. (Paderborn: Mentis 2009), S. 143-158. 113 Horkheimer, M. und Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, S. 112 f. 114 Gusfield, J. R., »Benevolent Repression: Popular Culture, Social Structure, and the Control of Drinking«, in Drinking: behavior and belief in modern history, herausgegeben von Barrows, S. und Room, R. (Berkeley, Oxford: University of California Press, 1991, S. 399-424 [418]). 115 James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung: Eine Studie über die menschliche Natur. (Olten: Walter-Verlag 1979), S. 365. Dies wird im Kapitel zur Rhetorik der Frei- heit noch weiter ausgeführt. 116 De Quincey, T., Confessions of an English Opium-Eater (London: Taylor and Hes- sey, 1922 [1821]). 117 Nietzsche, F., »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in Fried- rich Nietzsche: Sämtliche Werke, herausgegeben von Colli, G. und Montinari, M. (Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1988), S. 876. Näheres dazu in Kapitel 4. Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus 43 schen Rhetoriken an der Verfestigung heute dominierender Freiheits- und Wirklichkeitskonzeptionen beteiligt war. Die Rhetoriken der Freiheit, der Natürlichkeit und der Wirklich- keit waren zumeist eng ineinander verzahnt: So berief sich ein bestimm- tes Freiheitsideal oft gleichzeitig auf eine spezifische »natürliche Bestim- mung« und auf eine unmittelbare Anbindung an eine intersubjektive »Wirklichkeit«. Über die dadurch erreichte Spezifizität konnten konkur- rierende Postulate als »unnatürlich« oder »trügerisch« zurückgewiesen wer- den. Der Nachvoll ziehbarkeit ist geschuldet, dass die drei Gemeinplätze trotz ihrer Verflochten heit jeweils in eigenständigen Kapiteln behandelt werden. Dabei werden sie weniger aus einem literaturwissenschaftlich angeleite ten Blickwinkel betrachtet, der Stilqualitäten wie Sprachrich- tigkeit, Klarheit, inhaltliche Angemessenheit oder rhetorische Schmuck- formen analysiert,118 sondern im Hinblick auf die Frage, wie bestimmte Leit ideen in historisch-spezifischen Konstellationen zur Überzeu gung der Mitmenschen von den vertretenen Ansichten in Diskurse eingebracht wurden, und welche Kontinuitäten sich bis in die Gegenwart beobachten lassen. Eine plausible Erklärung für diese länger fristigen Aus wirkungen ist die weitgehende Überein stimmung zwischen den in religiösen und wissen- schaftlichen Anti-Alkohol-Diskursen vorgebrachten Denkfiguren, die eine eingehendere Betrach tung der eingesetz ten Rhetoriken trotz der stetigen, gegen seitigen Abgrenzungsversuche offenzulegen vermag. In einem ab- schließenden Ausblick (Kapitel 5) wird gezeigt, dass der alkohol gegnerische Diskurs in der Schweiz trotz der verhältnismäßig seltenen kolonialen Refe- renzen durch koloniale Stereotype eine Verschärfung erfuhr.

Sprachliche Anmerkungen

Im Zusammenhang mit den zuvor diskutierten historischen ›Altlasten‹ sol- len ab schließend einige oft verwendete Bezeichnungen eingehender umris- sen werden. Erstens bezieht sich das Verb »trinken« – sowie die Substan- tivierung zum »Trinker« – im allgemeinen Sprachgebrauch üblicherweise auf den Genuss alkoholischer Getränke. Auch wenn das Verb »Trinken« eigentlich die Auf nahme jeglicher Tranksame beschreibt, steht es in den folgenden Ausführungen aus ästhetischen Gründen für den Genuss alko- holhaltiger Ge tränke. Zweitens sind in den untersuchten Quellen abwertende Zuschreibun- gen wie »Trinker« oder »Trunksüchtiger« fast ausschließlich, wohl der da-

118 Vgl. dazu Weische, A., »Rhetorik, Redekunst«, S. 1019. 44 Einführung maligen Problemwahrnehmung entsprechend, in einem maskulinen Ge- nus gehalten. Entsprechend werden sie in den folgenden Ausführungen wiedergegeben – jedoch im Bewusstsein, dass nach 1900 verstärkt auch die Trinkgewohnheiten von Frauen problematisiert wurden.119 Zudem gilt es zu bedenken, dass Frauen in den meisten alkoholgegnerischen Organi- sationen der Schweiz anzahlmäßig die Mehrheit an Mitgliedern stellten. Trotz dieser Beteiligung und trotz bekannter Persönlichkeiten wie Hedwig Bleuler-Waser (1869-1940) waren Frauen in den untersuchten, internatio- nalen Foren unterrepräsentiert.120 Der in dieser Arbeit dominante Rück- griff auf das exklusiv maskuline Fürwort des »Missionars« ist zwei Um- ständen geschuldet: Einerseits der Leserlichkeit, andererseits waren nur wenige Spuren einer Beteiligung der nach Afrika mitgereisten Schwes- tern und Missionarsfrauen derart ersicht lich wie bei Hanna Brugger, die die Frauensektion des Blaukreuzvereins in Aburi leitete. Angesichts dieser männlichen Dominanz in den Quellen bleibt hier die wichtige Bedeutung der mitgereisten Missionsvertreterinnen zu betonen.121 Ein dritter Klärungsbedarf besteht für die Begriffe um den Themen- komplex von »Alkoholismus«, »Sucht« oder »Abhängigkeit«. Dem durch die psychiatrische Stan dardisierung des International Statistical Classifi- cation of Diseases and Help Related Problems (ICD-10) und dem Diagnostic Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) geprägten Verständnis fol- gend, wird nicht zwischen »chronischem Alkoholismus« und »Alkohol- Abhängig keit« (respektive »Alkohol-Sucht« nach älterer Auslegung) un-

119 Aus sozialhygienischer Sicht ist in diesem Zusammenhang insbesondere Gustav von Bunges Still-Hypo these erwähnenswert (siehe Kapitel 4). In Großbritannien stellten die Trinkgewohnhei ten der Frauen etwa ein viel gewichtigeres Thema dar (vgl. Valverde, M., Diseases of the will, S. 52). 120 Studien zu alkoholgegnerischen Frauenorganisationen machen auf den Umstand aufmerksam, dass die weibliche Beteiligung am alkoholgegnerischen Diskurs leicht unterschätzt wird. Vgl. dazu Zürcher, R., Von Apfelsaft bis Zollifilm; Schal- ler, S., Kampf dem Alkohol; Tyrrell, I. R., Woman’s World / Woman’s Empire: The Woman’s Christian Temperance Union in International Perspective (Chapel Hill, London: University of North Carolina Press, 1991). 121 Zur Bedeutung der Frauen in der Basler Mission vgl. Miller, J., Missionary zeal and institutional control: organizational contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast, 1828-1917 (Grand Rapids, MI.: Eerdmans, 2003), S. 25 & S. 188; Konrad, D., Missionsbräute: Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission (Münster: Waxmann, 2001). Zu der Bedeutung der Frauen in britischen Missio- nen vgl. Cleall, E., Missionary Discourses of Difference: Negotiating Otherness in the British Empire, 1840-1900, Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies Series (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012), S. 29-47. Alkoholgegnerische Rhetoriken im Fokus 45 terschieden, ob schon einige einflussreichen Studien diese Unter scheidung als grundlegend darstellten. Jellinek etwa bevorzugte den »chronischen Alkoholismus«, der aufgrund der auffälligen physiologischen Schäden eines längerfristig starken Alkoholkonsums griffiger zu defi nieren war als die »Alkohol-Abhängigkeit«.122 Da diese Unterscheidung aber nur bei einer Minderheit der Beiträge deutlich identifiziert werden konnte (was insbe- sondere im damals viel bemühten Begriff der »Trunksucht« deutlich wird), wird der Begriff des »Alkoholismus« in dieser Arbeit in einer unspezifi- schen, weiten Auslegung verstanden. Das vorliegende Buch zielt nicht auf ein Urteil darüber ab, ob es sich bei den untersuchten Rhetoriken um positiv bewertete Formen der »Wohl- redenheit« handle oder um eine negativ bewertete »Rednerkunst«, die sich die menschliche Suggestibilität zur Verbreitung der vertretenen An- sicht zu eigen macht.123 Vielmehr eignen sich die ›Container-Begriffe‹ der Freiheit, Natürlichkeit oder der Wirklichkeit, um über die Verfestigung eines spezifischen Rechtfertigungs-Kontexts nachzudenken. Das Bemü- hen des Autors um eine distanzierte Perspektive soll nicht über die persön- liche Überzeugung hinwegtäuschen, dass jedes Lebewesen über eine reale, sinnlich-leiblich erfahrbare Wahrnehmung verfügt, die es als authen- tisch erfährt. Auch wenn die Sprache wertende Altlasten reproduziert, ist es sinnvoll, sich über diese Wahrnehmungen auszutauschen und nach einer möglichst annehmbaren Ethik zu streben. Es steht außer Frage, dass exzessiver Konsum von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen sowohl bei den Konsumenten und Konsumentinnen als auch bei ihrem näheren Umfeld in engster Verbindung mit erfahrenen Qualen stand und steht. Es steht aber auch außer Frage, dass die gesellschaftliche Stigmati- sierung gewisser Praktiken dieses Leid zu beeinflussen vermag – und es

122 Vgl. Bowman, K. M. und Jellinek, E. M., »Alcohol Addiction and its Treatment«, in Alcohol Addiction and Chronic Alcoholism, herausgegeben von Jellinek, E. M. und The Research Council on Problems of Alcohol (New Haven: Yale University Press, 1942), S. 4-10. Jellinek definierte die Alkohol-Abhängigkeit wie folgt: »Al- cohol addiction may be defined as an uncontrollable craving for alcohol. The outstanding criterion is the inability to break with the habit. In primary addic- tion, this craving serves the purpose of artificial social adjustment. In secondary addiction, the purpose is that of counteracting the physical effects of a preceding bout.« (S. 10) Conrad und Schneiders Polemik gegen Jellinek scheint gerade eine Indifferenz gegenüber der Unterscheidung zwischen Alkoholismus und Alkohol- abhängigkeit zugrunde zu liegen, vgl. Conrad, P. und Schneider, J. W., Deviance and medicalization, S. 94. 123 Vgl. dazu Weische, A., »Rhetorik, Redekunst«, 1021. 46 Einführung deshalb sinnvoll ist, über deren Entstehung nachzudenken. Für die unter- suchten Rhetoriken gilt demnach dieselbe Feststellung, die der Soziologe Robin Room dem Kon zept der Sucht zuschreibt: »To argue that a con- cept is culturally constructed and framed is not to argue that it is wrong or useless.«124

124 Room, R., »The Cultural Framing of Addiction«, Janus Head 6, no. 2 (2003), S. 221-234 (232). 1 Eine Verortung der international orientierten Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz im internationalen Kontext

Als eine der ersten zivilgesellschaftlichen Bewegun gen mit globaler Reich- weite hatte die Anti-Alkohol-Bewegung den gesellschaftlichen Umgang mit Trunkenheit und Berau schung mitgeprägt. Durch Einflussnahme auf inter- nationale Regulierungen von Rausch mittel, aber auch durch die Prägung eines spezifischen Sprechens über den Rausch hat sie Spuren hinterlassen, deren Folgen sich noch heute bemerkbar machen. In diesem kontextu ali- sierenden Kapitel werden wichtige Etappen der sich formierenden Anti- Alkohol-Organisa tionen mit Blick auf trans- und internationale Orien- tierungen nachgezeichnet.1 Der erste Teil vermittelt einen Überblick über alkoholgegnerische Verbände im 19. und im 20. Jahrhundert. In den fol- genden beiden Teilen werden zwei aufgrund ihrer internationalen Orien- tierung bedeutsame Akteurskollektive eingehender vorgestellt, deren eigene Verortungen auf dem Spannungs feld zwischen Religion und Wissen schaft einander diametral entgegen gesetzt schienen. Dazu zählt einerseits die Bas- ler Mission, die im zweiten Teil eingeführt wird. Deren Missionare waren unter anderem im westafrikanischen »gin belt«2 stationiert und machten sich als Teil eines transnationalen evangelischen Kollektivs gegen den Al- koholhandel nach Afrika stark. Andererseits wird im dritten Teil die sozial- hygienisch geprägte Abstinenzbewegung umrissen, in der die Schweizer Großloge des internationalen Guttemplerordens eine zentrale Stellung innehatte. 1906 provozierte sie gar eine religiös neutrale Abspaltung vom internationalen Orden, der zahlreiche Großlogen aus Europa, dem Bal-

1 Einzelne Abschnitte dieses Kapitels basieren auf einer früheren und kürzeren Fas- sung: Vgl. Spöring, F., »›Du musst Apostel der Wahrheit werden‹: Auguste Forel und der sozialhygienische Antialkoholdiskurs, 1886-1931«, in Biopolitik und Sitt- lichkeitsreform: Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880-1950, her- ausgegeben von Tschurenev, J., Spöring, F. und Große, J. (Frankfurt, New York: Campus, 2014), S. 111-144. 2 Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 24. Dabei zählen auch die küs- tennahen Gebiete Kameruns zu diesem Gürtel, obwohl Kamerun üblicherweise nicht zu Westafrika gezählt wird. 48 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz kan und Südamerika folgten. Trotz ihrer Verpflichtung zu einer »religiö- sen Neutralität«, grenzte diese Strömung die religiöse Alkoholgegnerschaft nicht komplett aus. Vielmehr zeigen sich konkurrieren de Identitäten einer heterogenen Agitation, die auf internationaler Ebene bemerkenswert ko- operativ war. Anhand einer unscheinbaren, aber aus alkoholgegnerischer Sicht längerfristig bedeutsamen Konferenz lässt sich in einem vierten Teil die trans- und internationale Reichweite der Agita tion gegen den Alkohol aufzeigen. Die 1925 in Genf tagende Veranstaltung zielte auf eine direkte Beeinflussung der internationalen Alkoholpolitik durch den Völkerbund ab.3 Zunächst sollen jedoch größere Entwicklungslinien des alkoholgegne- rischen Aktivismus nachgezeichnet werden.

1. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert

Alkoholgegnerische Voten weisen eine lange Geschichte auf: Vor unmä- ßigem Alkohol konsum warnen verschiedene alte Schriften wie die Bibel oder Tacitus’ Beschreibungen des germanischen Bier- und Metkonsums.4 Auffällig ist, dass in Retrospektiven auf die Regulierung des Alkoholgenus- ses vielfach auf religiös abgestützte Normen verwiesen wurde und wird. Die evangelische Theologin Rosa Gutknecht (1885-1959), die selbst in der Abs tinenzbewegung aktiv war, verortete den Ursprung der christlich be- gründeten Abstinenz in vorchristlichen Zeiten.5 Andere Rückblicke aus der Gegenwart vermuten die »Wurzel des Drogenverbots« in der Refor- mation.6 Zwar fanden sich in den vergangenen zwei Jahrtausenden im- mer wieder alkoholgegnerische Stellungnahmen und Bünde, jedoch waren diese im Vergleich zu der im 19. Jahrhundert hervorgehenden Temperenz- bewegung zumeist lokal beschränkte Phänomene. Dies änderte sich mit

3 Vgl. Bourmaud, P., »Les faux-semblants d’une politique internationale: la Société des Nations et la lutte contre l’alcoolisme dans les mandats (1919-1930)«, Canadian Bulletin of Medical History 30, no. 2 (2013), S. 69-90 (84). 4 Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 364; Spode, H., Die Macht der Trunken- heit, S. 19-23; Stolleis, M., »›Von dem Grewlichen Laster der Trunckenheit‹ – Trink- verbote im 16. und 17. Jahrhundert«, in Rausch und Realität: Drogen im Kulturver- gleich, herausgegeben von Völger, G. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1982), I, S. 98-105. 5 Gutknecht, R., »Treibende Kräfte unserer Bewegung in alter und neuer Zeit«, Inter- nationale Monatsschrift 7 (1918). S. 121-130 (129). 6 Holzer, T., Globalisierte Drogenpolitik: Die protestantische Ethik und die Geschichte des Drogenverbotes (Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, 2002), S. 29. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 49 dem Aufkommen einer »ersten Mäßigkeits-Welle«,7 die sich für den trans- atlantischen Raum grob zwischen 1815 und 1848 einordnen lässt. Als wich- tigsten Grund für diese Thematisierungskonjunktur wird die rasante Aus- breitung des Branntweins angenommen. In England etwa verzehnfachte sich der Konsum des sogenannten »Gin« (was bis zum Gin Act von 1791 eine Sammelbezeich nung für verschiedene billige Branntweine auf Getrei- debasis darstellte) zwischen 1700 und 1750. So soll um 1743 ein erwachsener Londoner im Schnitt jährlich rund 60 Liter Schnaps konsumiert haben.8 Im Kontext der Industrialisierung wurde zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Englands Städten zusehends das Elend betrunkener Arbeiter problemati- siert, die sich an den billigen, haltbaren und stets verfügbaren Branntwei- nen berauschten. 9 Diese öffentlichen Problemati sierungen werden durch verschie de ne historische Entwicklungen erklärt: Viele Autoren beziehen die Zunahme des Branntwein konsums auf technologische, agronomische, politi sche sowie soziale Entwick lungen. 10 Dazu zählen die Verbreitung und Verfeinerung der Dampfdestillier technik, die Verbreitung der Kartoffel und die Umstellung auf neue Anbausysteme, die Erlaubnis zur Produktion von Überschüssen oder der expandierende Weltmarkt. Diese greifbaren Er- klärungen werden oft umrahmt von Verweisen auf sozialen Wandel, wo- bei als Schlüsselnarrativ zumeist eine tiefgreifend gewandelte Vorstellung des Menschen hin zu einem selbstkontrollierten, rationalen Subjekt zum Tragen kommt.11 Dieser Wandel ist keineswegs als scharf umrissene, line- are und homogene Entwicklung zu verstehen und lässt sich nur beschränkt durch Verweise auf die abstrakten Ideologien der Aufklärung oder der pro- testantischen Ethik nachvollziehen. So betonen verschiedene soziologisch

7 Hasso Spode verortet die »erste Welle« im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts; vgl. Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 361-391 (371). 8 Renggli, R. und Tanner, J., Das Drogenproblem, S. 46 f. 9 Vgl. Warner, J., Craze: gin and debauchery in an age of reason (London: Profile, 2003); Coffey, T., »›Beer Street – Gin Lane‹ – Aspekte des Trinkens im 18. Jahrhun- dert«, in Rausch und Realität: Drogen im Kulturvergleich, herausgegeben von Völger, G. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1982), S. 106-111. 10 Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 152 ff.; Mattmüller, M., Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz, S. 16; Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 369 ff.; Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 35. 11 Dieses wird von verschiedenen Autoren betont, vgl. Müller, R. und Tecklenburg, U., »Die Medikalisierung des Alkoholismus«, Drogalkohol 2 (1978), S. 15-27; Har- rison, B., Drink and the Victorians: the temperance question in England, 1815-1872 (London: Faber and Faber, 1971), S. 91; Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenz- bewegung in der Schweiz, S. 25 f.; Spode, H., Die Macht der Trunkenheit; Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 138. 50 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz informierte Zugänge mit dem Hinweis auf die symbolische Bedeutung von Alkohol das Bemühen um soziale Differenzie rung.12 Nicht zuletzt wa- ren die Trägerinnen und Träger der Mäßigkeitsbewegung vom Bestreben gelei tet, sich durch maßvollen Alkoholgenuss sowie durch die persönliche Abstinenz von allen gebrannten Alkoholika als gesellschaftliches Vorbild zu inszenieren.

Die Mäßigkeitsbewegung als transnationales Phänomen

Das Epizentrum der Mäßigkeitsbewegung wird für gewöhnlich in den USA verortet und mit der angelsächsischen Ausprägung der Erweckungsbewe- gung (»Second Great Awakening«) in Verbindung gebracht.13 Im 1811 ge- gründeten American Board of Comissioners for Foreign Missionaries nahmen 14 der 16 späteren Gründungs mitglieder der American Temperance Society (ATS) Einsitz. Die 1826 gegründete ATS wiederum stand in den 1830er-Jah- ren mit den entstehenden Mäßigungsvereinigungen in Großbritannien, Frankreich, Schweden, Deutschland und der Schweiz in Kontakt.14 Wäh- rend in Irland, Schottland und Deutschland ab 1829 organisierte Mäßig- keitsbewegungen aufkamen, folgten England (British and Foreign Tempe- rance Society, 1831) und Kontinental europa mit einigen Jahren Verzögerung. Viele Studien stärken das Narrativ eines amerikanischen Ausgangspunkts jener Bewegung, einerseits mit Hinweis auf die branntweinlastige amerika-

12 Vgl. etwa Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 138; Gusfield, J. R., Symbolic crusade; Harrison, B., Drink and the Victorians: the temperance ques- tion in England, S. 91. 13 Besonders deutlich etwa in Bernard, J., »From Fasting to Abstinence: The Origins of the American Temperance Society«, in Drinking: behavior and belief in modern history, herausgegeben von Barrows, S. und Room, R. (Berkeley, Oxford: Univer- sity of California Press, 1991), S. 337-353 (346 f.). Vgl. auch Lindemann, G., Für Frömmigkeit in Freiheit: Die Geschichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus (1846-1879) (Berlin: Lit Verlag W. Hopf Berlin, 2011), S. 33; Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 243; Przyrembel, A., Verbote und Geheimnisse, S. 135; Trechsel, R., »Abstinenzbewegung«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16445.php [Stand: 5. 6. 2001]. 14 Vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 36 ff.; Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 136; Roberts, J. S., Drink, temperance and the working class in nineteenth century Germany (Boston, London: Allen & Unwin, 1984), S. 19. 13 Jahre vor der American Temperance Society entstand ebenfalls in Boston die Massachusetts Society for the Suppression of Intemperance. Vgl. auch »Die Enthaltsamkeitsbewegung, ihre Entstehung und erste Entwicklungen in Amerika und England«, Internationale Monatsschrift 5 (1892), S. 129-139. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 51 nische Trinkkultur sowie andererseits mit Verweis auf den amerika nischen Pastor Robert Baird, der als Botschafter der American Sunday School Union und der French Evangelical Association unter anderem Frankreich, Däne- mark, Preußen, Schweden und die Schweiz bereiste. Baird wurde während seiner Tournee von Königen, Adligen und prominenten Gelehrten emp- fangen. Seine Histoire des sociétés de tempérance des États Unis d’Amérique erschien unter anderem in russischer, finnischer, niederländischer, deut- scher, schwedischer und ungarischer Sprache.15 Der US-amerikanische Ein- fluss auf Nüchternheits bestrebungen ist besonders gut dokumentiert und bestärkt die These eines US-amerikanischen Diffusionszentrums. Dennoch organisierten sich schon vor der Gründung der ATS lokale alkoholgegne- rische Vereinigungen: So entstanden in Schweden und in Irland bereits 1817 erste Vereine auf Grundlage der totalen Enthaltsamkeit; neun Jahre zuvor soll in Sarratoga (New York) der erste Abstinenzverein gegründet worden sein.16 Diese ›erste Temperenzwelle‹ erreichte weite Teile des transatlanti- schen Raums – mit geringer Verzögerung auch die Schweiz, in der ab den späten 1820er-Jahren eine »Thematisierungs konjunktur« zur sogenann- ten »Branntweinpest« einsetzte.17 Haupt angriffs punkt dieser Problemati- sierungen war der billige »Härdöpfeler«, ein aus Kartoffeln gewonnener Schnaps. Dieser wurde in den sich ausbreitenden Heim brennereien bevor- zugt gebrannt und wurde besonders von der ärmeren Bevölkerung konsu- miert. Die vergleichsweise teuren gegorenen Getränke wie Wein, Bier oder Most standen außerhalb der Kritik – im Gegenteil warben viele Exponen- ten jener Mäßigkeitsvereinigungen, die sich in den frühen 1830er-Jahren auch in der Schweiz etablierten, für den maßvollen Genuss der schwach- alkoholischen Durst löscher.18 Da auch deren berauschende Wirkung be-

15 Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 38 f.; Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 140 ff.; Schlup, M., »Contribution à l’histoire de la lutte contre l’alcoolisme en Suisse«, S. 76; »Die Enthaltsamkeitsbewegung, ihre Entste- hung und erste Entwicklungen in Amerika und England«, S. 134. 16 Vgl. »Die Enthaltsamkeitsbewegung, ihre Entstehung und erste Entwicklungen in Amerika und England«, S. 130; »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 5 (1937), S. 19; »Der Vater der schwedischen Enthaltsamkeits-Bewegung«, Schweizer Absti- nent 21 (1925), S. 89. 17 Vgl. Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 151; Trechsel, R., Die Geschichte der Absti- nenzbewegung in der Schweiz, S. 14. 18 Bekannt ist allen voran die Société vaudoise de Tempérance, vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 25 f.; Tecklenburg, U., Absti- nenzbewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, S. 9 ff. 52 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz kannt war, erstaunt dieser Umstand.19 Die Mäßig keits organisa tionen führ- ten den ansteigenden Branntweinkonsum haupt sächlich auf Ursachen wie »Genusssucht«, »Habsucht« und auf »mangelnden christlichen Glauben« zurück. Der Alkoholgenuss stand damit vielfach stellvertretend für einen genussbetonten, ausgelassenen Lebensstil.20 Doch auch ohne explizite Referen zen auf christliche Normen wurden die hochprozentigen Getränke häufiger mit tragischen Ereignissen in Verbindung gebracht als die verbrei- teten niederprozentigen. Dies verdeutlichen nicht zuletzt die tragischen Erzählungen Jeremias Gotthelfs und Heinrich Zschokkes, die eindringlich an das Prinzip der Leidvermeidung appellierten.21 Durch die auffällige Nähe zu den Erweckungsbewegungen propagier- ten viele dieser Organisationen eine neutestamentliche Ausrichtung des lebenswelt-bezogenen Handelns in Form einer Inneren und einer Äuße- ren Mission.22 Indem die evangelischen Akteure nach dem Vorbild des bi- blischen barmherzigen Samariters den reuigen Sündern ein Erweckungs- erlebnis zu ermöglichen versuchten, versicherten sie sich nach der nicht unumstrittenen Deutung Max Webers ihres eigenen Gnadenstandes vor Gott.23 In diesem von einem Streben nach Erlösung durchsetzten Pro- gramm wurde die sogenannte »Trinkerrettung« auch als Möglichkeit ver- standen, um Rand- und Unterschichten von atheistischen Strömungen abzubringen.24 Dabei entwickelten sich in der Schweiz die beiden Städte

19 Vgl. Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, S. 184. Tecklenburg, U., Abstinenzbe- wegung und Entwicklung des Bahndlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, S. 9; Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 13 & S. 20. Vgl. auch Jeggle, U., »Alkohol und Industrialisierung: Ein spezielles Kapitel der Kulturgeschichte des Rausches«, in Rausch – Ekstase – Mystik, herausgegeben von Cancik, H. (Düsseldorf: Patmos, 1978), S. 78-94 (86). 20 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 18 f. 21 Gotthelf, J., Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen, Son- derdr. (Bern: Eidgenössische Alkoholverwaltung, 2009 [1838]); Zschokke, H., Die Branntweinpest, 4. Aufl. ([Aarau]: Sauerländer, 1842). 22 Während die Innere Mission den christlichen Glauben durch karitatives Engage- ment innerhalb christlicher Gebiete zu stärken beabsichtigtigte, fokussierte die Äussere Mission auf die Bekehrung sog. »Heiden« zum Christentum. Zum Ver- hältnis zwischen diesen beiden Missionsformen vgl. Kapitel 5.1. 23 Vgl. Weber, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, herausge- geben von Kaesler, D., Vollständige Ausg., 2., durchges. Aufl. (München: Verlag C. H. Beck, 2004), S. 25. 24 Johann Hinrich Wichern, Gründer der Inneren Mission, machte sich für die Be- kämpfung des unmäßigen Alkoholgenusses stark. Vgl. Spode, H., »Die Anfänge der Suchthilfe im 19. Jahrhundert: Vom Kreuzzug zur Behandlungskette«, Sucht- therapie 13 (2012), S. 1-7 (2). Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 53

Basel und Genf zu Zentren von transnationaler Ausstrahlung. Der Genfer Réveil beeinflusste neben der französischen Erweckungsbewegung auch die calvinistisch geprägte Westschweiz.25 1831 wurden evangelische Gesellschaf- ten in Genf und Bern gegrün det, die einer rationalis tischen Aufklärungs- theologie entgegentraten. In der Deutsch schweiz stellte Basel ein weiteres Zentrum der Erweckungsbewegung dar, wo sich um 1770 die Deutsche Christentumsgesellschaft formierte. Diese gründete nach dem Vorbild bri- tischer Missionsgesellschaften wie der London Missionary Society oder der CMS im Jahr 1815 die Basler Missionsgesellschaft. Bereits zuvor waren einige gemeinnützige Vereinigungen aus der Erweckungsbewegung hervorgegan- gen, wie etwa die 1802 gegründete Gesellschaft zur Verbreitung erbaulicher Schriften oder die 1804 gegründete Bibelgesellschaft.26 Zusammen mit wei- teren Vereinigungen sozialer und karitativer Art korrespondierten diese mit ähnlichen internationalen Organisationen wie der British and For- eign Bible Society, die mit dem britischen Evangelical Movement verfloch- ten war.27

Hinwendungen zur Abstinenz

Auch wenn die Abstinenz im Sinne der zuvor diskutierten Totalabstinenz bereits seit Jahrhunderten von einzelnen Individuen und Gruppierun- gen praktiziert wurde, war ihre Verbreitung insbesondere im christlich geprägten transatlantischen Raum beschränkt. Im Vergleich dazu lassen sich die in Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommen- den Mäßigkeits-Vereinigungen aufgrund ausdifferenzierter Organisations- strukturen und den hinterlassenen Quellen einfacher als soziale Bewegung erfassen. Von dieser Mäßigkeitsbewegung spaltete sich 1832 in Preston eine Gruppierung ab, die alle alkoholhaltigen Getränke mied und als »teetotaler« bezeichnet wurde. Die »sieben Männer von Preston« schie- nen für die Identität der Abstinenzbewegung zentral zu sein; tauchten sie doch trotz der bereits 1808 in New York sowie 1817 in Schweden und in Irland gegründeten Abstinenzvereine regelmäßig in allen untersuch- ten Abstinenzzeitschriften auf. Zwei wichtige identitätsstiftende Eigen-

25 Lindemann, G., Für Frömmigkeit in Freiheit, S. 29 f. Tecklenburg, U., Abstinenz- bewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, S. 6. 26 Vgl. Gäbler, U., »Erweckungsbewegungen«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11425.php [Stand: 5. 6. 2001]. 27 Lindemann, G., Für Frömmigkeit in Freiheit, S. 27-31. 54 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz schaften der Prestoner waren einerseits deren Herkunft aus weniger be- mittelten Schichten, andererseits scheuten sich diese nicht vor Propaganda in Form von Zeitschriften und landesweiten Vorträgen. Der bekannteste Prestoner »teetotaler«, John Livesey, nahm dabei bereits Argumente wie das der alkoholischen »Nährwertverschleuderung« 28 vorweg, das auch später in den untersuchten Abstinenzorganisationen mit Vorliebe vorge- bracht wurde: Liveseys Berechnung zufolge betrug der Nährwert des Biers nur noch rund fünf Prozent des Nährwertes gegenüber den Ausgangs- stoffen.29 Die offenbar wirkungsmächtige Agitation der »teetotaler« führte in England ab 1835 zu verschiedensten national organisierten Verbänden wie etwa dem International Order of Rechabites, der British Teetotal League oder der British Teetotal Society.30 In den USA wechselte die ATS zwischen 1836 und 1838 zur Totalabstinenz, während gleichzeitig die als Washing- tionians bekannte abstinente Selbsthilfegruppe innert kurzer Zeit viele Mitglieder zur Abstinenz bekehrte. In den frühen 1840er-Jahren formier- ten sich die Sons of Temperance und weitere Abstinenz vereinigungen, von welchen insbesondere der 1851 gegründete Independent Order of Good Templars aufgrund seiner weltweiten Verbreitung hervorsticht.31 Dabei schien der Einfluss jener abstinenten Gruppierungen im angelsächsischen Sprachraum derart groß, dass der zuvor mit Mäßigkeit assoziierte Begriff

28 Siehe dazu Kapitel 3. 29 Vgl. »Die Enthaltsamkeitsbewegung, ihre Entstehung und erste Entwicklungen in Amerika und England«, S. 134-137. Vgl. dazu auch »Wie Josef Livesey abstinent wurde«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1932), S. 30 ff. Einer auch innerhalb der Al- koholgegnerschaft verbreiteten Anekdote zufolge soll der Ausdruck »teetotaler« auf das Stottern eines Vertreters der Abstinenz zurückzuführen sein. Die Nährwertde- batte wird in Kapitel 3 eingehender aufgeworfen. 30 Vgl. »Die Enthaltsamkeitsbewegung, ihre Entstehung und erste Entwicklungen in Amerika und England«, S. 130; »Der Vater der schwedischen Enthaltsamkeits- Bewegung«, Schweizer Abstinent 21 (1925), S. 89. 31 Wichtigster Träger der weltweiten Expansion der organisierten Abstinenz war der 1852 in Utica (New York) gegründete Independent Order of Good Templars. Dieser Orden expandierte 1868 nach England, 1879 nach Schweden, 1889 nach Deutsch- land und 1892 in die Schweiz. Schrad beschreibt den Orden zumindest für die Peri- ode zwischen 1846-1885 als international bestvernetzte Anti-Alkohol-Organisation (vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 47; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 218; Forel, A., Der Guttempler-Orden [Zürich, 1893], S. 1 ff.). Das Gründungsdatum ist umstritten, da sich der Orden aus einem 1851 gegründeten Verein abspaltete (vgl. Fahey, D. M., »How the Good Templars Began: Fraternal Temperance in New York«, The Social History of Alcohol Review 38-39 [1999], S. 17- 27 [18]; Peirce, I. N. und Thompson, S. P., The history of the independent order of Good Templars: Complete up to the year 1868 [Birmingham: The Grand Lodge of England, 1873], S. 1-8). Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 55 der »temperance« zunehmend mit Abstinenz gleichgesetzt wurde – eine Bedeu tungs verschiebung, die im deutschsprachigen Raum weitgehend ausblieb. In deutschsprachigen Gebieten war die Abstinenz zunächst weit we- niger verbreitet. 1877 importierte das Blaue Kreuz, bis 1884 unter dem Namen Société Suisse de Tempérance, die Abstinenz als Mittel zur Trin- kerrettung von England in die Schweiz, um sich ab 1886 über ein Co- mité international sowie über verschiedene Landesvereinigungen weltweit auszu breiten.32 Ausgangspunkt der 1877 erfolgten Gründung war ein in Genf abgehaltener, internationaler Anti-Prostitutions-Kongress der Bri- tish, Continental and General Federation for the Abolition of State Regulation of Prostitution, an welchem Britische Teilnehmerinnen und Teilnehmer am aktivsten waren.33 Da sich an jener Vereinigung in der Anfangsphase hauptsächlich strenggläubige Christen beteiligten, löste sie sich bereits nach der zweiten Versammlung von der ursprünglich vorgesehenen re- ligiösen Neutralität. Folglich sollte die »Trinkerrettung« mit der Bekeh- rung der »Trinker« zu Gott einhergehen, während Gebete, Fürbitten und Bibelstunden die Vereinstreffen prägten.34 Zudem vertrat es offiziell den Mäßigkeitsstandpunkt: Zwar empfahl es allen Mitgliedern eine im priva- ten Rahmen gelebte Abstinenz, verpflichtete aber nur direkte »Retterin- nen« und »Retter« zur Abstinenz, während den restlichen Mitgliedern der maßvolle Bier- und Weingenuss freistand. Die gemäßigten alkoholgeg- nerischen Anliegen des Blauen Kreuzes wurden weitgehend von der Schwei- zerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) unterstützt, mit welcher viele Mäßigkeitsvereinigungen der Schweiz eng kooperierten.35 Insbesondere der mit der SGG in Verbindung stehende Eidgenössischen Fabrikinspek tor

32 Zur Geschichte des Blauen Kreuz vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenz- bewegung in der Schweiz, S. 32-36; Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 35-48. Sowohl Rochat als auch Arnold Bovet hatten die Abstinenz aus England kennen- gelernt, Bovet wurde 1870 von einem Guttempler namens Richardson von der Enthaltsamkeit überzeugt (vgl. »Bovet«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1903), S. 21- 24). Zu Rochats Verhältnis zu Forel vgl. Volz, B., Auguste Forel (1848-1931) et Louis- Lucien Rochat (1849-1917): deux »frères ennemis« dans la lutte antialcoolique en Suisse: correspondances (Lausanne, 2000). 33 Vgl. Limoncelli, S. A., The politics of trafficking: the first international movement to combat the sexual exploitation of women (Stanford, CA: Stanford University Press, 2010), S. 48. Vgl. auch Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 31; Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 30. 34 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 31 f. Trech- sel hebt dabei die Nähe des Blauen Kreuzes zur Erweckungsbewegung hervor. 35 Vgl. ebd., S. 25 f. 56 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Fridolin Schuler, der den Schnaps in einen Zusammenhang mit gesund- heitlichen Problemen brachte, vermochte die Breitenwirkung alkoholgeg- nerischer Ideen zu erweitern. 36 Mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Brannt weinen war die SGG maßgeblich daran beteiligt, dass die Eidgenös- sischen alkohol gegnerischen Vorlagen von 1885 und 1887 von einer Mehr- heit der Stimmbürger angenom men wurden.37 Zu diesem Zeitpunkt wie- sen medizinisch fundierte Theorien zur Schädlichkeit des »unmäßi gen« Alkoholgenusses bereits eine längere Geschichte auf.

Medizinische Problematisierungen des Alkoholgenusses

Der frühe, medizinisch informierte Anti-Alkohol-Diskurs war zunächst vom Mäßigkeits-Paradigma gekennzeichnet und richtete sich allen voran gegen den »unmäßigen« Schnapskonsum. Im späten ausgehenden 18. Jahr- hundert fiel aus einer auf medizinische Alkoholabhandlungen fokussieren- den Sicht insbesondere die Universität von Edinburgh auf. An dieser Stätte lehrte der Quäker und Abolutionist Anthony Benezet,38 der offen alkohol- gegnerische Überzeugung vertrat und als Lehrer der beiden Mediziner Tho- mas Trotter und Benjamin Rush fungierte. Diese Schüler verfassten beide medizinische Arbeiten zu Alkohol, in denen sie den chronischen Brannt- weingenuss als eine Krankheit auslegten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war das Krankheitskonzept des Brownianismus in Schottland populär, das jegliche Abweichungen von einer gesunden, »mittleren Erregung« als Krankheit auslegte. Folglich beschrieb der als Wundarzt ausgebildete Trot- ter den Alkohol als Substanz, welche die neuronale Erregbarkeit des Men- schen verzehre. Übermäßiger Alkoholkonsum drohte damit durch Über- stimulation das menschliche Leben zu verkürzen.39 Die Grundlage eines »neuen Alkohol wissens«40 bestand darin, dass der chronische Alkohol-

36 Vgl. Schumacher, B., Freiwillig verpflichtet: Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800 (Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2010), S. 54; Tanner, J., Fabrikmahlzeit: Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz, 1890-1950 (Zürich: Chronos, 1999), S. 131 f.; Schuler, F., Zur Alkoholfrage. 37 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 143 f. 38 Zu Anthony Benezet vgl. Levine, H. G., »The Discovery of Addiction«, S. 151. 39 Trotter, T., An Essay, Medical, Philosophical, and Chemical on Drunkenness, and its Effects on the Human Body (London: Longman, 1804), S. 10: Trotter verstand Alko- hol als destillierte Fermente (»vinous spirits«); vgl. Wiesemann, C., Die heimliche Krankheit: eine Geschichte des Suchtbegriffs (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann- Holzboog, 2000), S. 145. 40 Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, S. 126. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 57 konsum damit als krankhafte Erscheinung beschrieben wurde. Im Fall einer Alkoholabhängigkeit empfahl Trotter den »kalten Entzug« von allen alkoholhaltigen Getränken. Die Furcht vor einem daraufhin auftretenden – in Trotters Worten noch als »that dangerous degree of debility« beschrieben – sei unbegründet, so der Wundarzt, da sie in keinem Zusam men hang mit dem Entzug stehe.41 Weit mehr akademische Aufmerksamkeit als Trotters Abhandlung zur Trunkenheit erlang te Rushs bekannte Aufklärungsschrift An Enquiry into the Effects of Spirituous Liquors on the Human Body and the Mind. In einem vielfach rezipierten Aufsatz zur »Entdeckung der Sucht« beschrieb der US-amerikanische Historiker Harry G. Levine diese 36-seitige Bro schüre als prägend für den US-amerikanischen Sucht-Diskurs. Bezeichnend da- für war der Umstand, dass der zu den Gründervätern der USA zählende Rush die »Trunksucht« teilweise als Krankheit beschrieb, ohne jedoch »den Trinker« ganz vom Vorwurf einer Charakterschwäche freizusprechen.42 Der Mediziner wandte sich dabei allgemein gegen die hochprozentigen Branntweine und empfahl den maßvollen Schnapstrinkern als Ersatz gego- rene Getränke. Chronischen Branntweinkonsumenten legte er eine totale Alkohol-Abstinenz nahe, empfahl ihnen jedoch unter anderem den Ge- nuss von Opium als Substitution. Der Mediziner sah einen engen Zusam- menhang zwischen dem unmäßigen Genuss von gebrannten Getränken und zahl reichen körper lichen Schäden, wobei er neben Organschäden an Leber und Lunge weitere beobachtbare Phänomene wie Appetitlosigkeit, Auswurf von Schleim und Galle, geschwol lene Füße, gerötete Nasen, stin- kenden Atem und abstoßendes Rülpsen aufführte. Außerdem ging Rush bereits von einer vererbbaren Neigung zum unmäßigen Alkoholgenuss aus und riet den noch Ungebundenen, diesen Aspekt bei der Partnerwahl zu beachten.43 Obwohl der Quäker sein Pamphlet aus der Sicht eines prakti- zierenden Arztes schrieb, liegen sowohl seiner Ätiologie als auch seiner vo- rangehenden Schilderung eines sich anbahnenden Vollrausches eine pro- testantisch geprägte Wertehaltung zugrun de, in der sowohl Arbeit als auch Glaube eine wichtige Rolle spielen.44 Diese Eigenheit stützt Levines These,

41 Trotter, T., An Essay, Medical, Philosophical, and Chemical on Drunkenness, S. 186 f. Vgl. dazu Bowman, K. M. und Jellinek, E. M., »Alcohol Addiction and its Treat- ment«, S. 55. 42 Levine, H. G., »The Discovery of Addiction«, S. 151 ff. 43 Rush, B., An inquiry into the effects of ardent spirits upon the human body and mind: With an account of the means of preventing, and of the remedies for curing them (Boston: James Loring, 1823 [1784]), S. 8 ff. 44 Vgl. ebd. 58 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz wonach sich um 1800 primär nicht die Wissenschaftlichkeit des Alkohol- Diskurses verändert habe, sondern die soziale Legitimität des Trinkens, der öffentlich sichtbaren Trunkenheit.45 Im deutschsprachigen Raum des frühen 19. Jahrhunderts war der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland einer der präsentesten Kritiker des übermä- ßigen Alkoholkonsums. Hufeland, der medizinische Literatur aus dem angelsächsischen Sprachraum rezipierte, beschrieb den »Trinker« als Op- fer einer schädlichen Substanz, die dessen Gehirn an der internen Organi- sa tion hindere.46 Wie schon Trotter zuvor thematisierte Hufeland den eigenartigen Umstand, dass sich die angeschlagene Gesundheit einiger chronischer Branntweinkonsu men ten erst durch den einsetzenden Entzug offenbare. Aus dieser Beobachtung folgerte er, dass das subjektiv wahrge- nommene Gefühl der Stärkung in Wahrheit eine »gewaltsame Überspan- nung« der Kräfte sei, das durch eine Betäubung der Trägheit erreicht wer- de.47 Bereits hier wird das Motiv der täuschenden Narkose offensichtlich, das ausgehend von einer idealisierten, ursprünglichen Homöostase in der späteren Abstinenz-Bewegung zu einem zentralen Baustein im alkohol- gegnerischen Argumentarium werden solle. Obschon die »Trunksucht« in Hufelands Schriften in einem Zusammenhang mit körperlicher Abhän- gigkeit betrachtet wurde, blieb ihre Bedeutung in einem Zwischenraum zwischen Laster und Krankheit verhaftet. Zwar endeten verschiedene Krankheiten wie etwa die »Schwindsucht« mit dem Suffix »Sucht«, jedoch bezog sich dasselbe Suffix auch auf lasterhafte Charaktereigenschaften, wie etwa »Streitsucht« oder »Habsucht«.48 Zu der Kategorie der »narco- tischen Gifte«49 zählte Hufeland zusammen mit Opium und Belladonna den Branntwein – nicht aber schwach alkoholische, fermentierte Getränke. Aus den ähnlich narkotisierenden Eigenschaften von Opium und Brannt- wein leitete er 1929 aus dem bereits bekannten Begriff der »Trunk sucht« denjenigen der »Opiumsucht« ab. Jedoch sieht der Sozialhistoriker Hasso Spode einen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Trunksucht erstmals in Constantin Brühl-Cramers Schriften formuliert. Der in Moskau praktizie- rende Arzt veröffentlichte 1819 eine Arbeit mit dem Titel Ueber die Trunk-

45 Levine, H. G., »The Discovery of Addiction«, S. 165 f.; Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 138. 46 Vgl. Spode, H., »›Extrem hoher Alkoholkonsum‹«, S. 190. 47 Wiesemann, C., Die heimliche Krankheit, S. 148 ff. 48 Ebd., S. 41 f. 49 Hufeland, C. W., Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, S. 4. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 59 sucht und eine rationelle Heilmethode derselben, in der er die »Trunksucht« als übersteigertes körperliches Bedürfnis und damit als Krank heit bezeich- nete, und dieses vom moralisch gefärbten Laster abgrenzte. Bemerkens- wert an diesem Zugang ist der Umstand, dass Brühl-Cramer die bedroh- liche Ursache weniger im Alkohol als im menschlichen Körper vermutete. Als Therapie empfahl er mineralische Säuren in Form von Schwefel- oder Salpetersäure, Brechmittel und Eisenmittel.50 Diese wenigen, medizinisch-informierten Problematisierungen im frü- hen 19. Jahrhundert stellten noch kaum ein dominantes Wissen dar, da die Popularisierung der Krankheits konzeption von Alkoholismus eher einem eklektischen als einem linearen Prozess zu folgen schien.51 So betonte der schwedische Arzt Magnus Huss 1849 in seinem weit rezipierten Klassiker Alcoholismus chronicus im Gegensatz zu Brühl-Cramer die Lasterhaftigkeit des Alkoholikers wieder stärker.52 Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus dominierte in medizinischen Kreisen die Ansicht, dass in modera- ten Mengen genos sene Weine, Biere und bei speziellen Krankheitsbildern gar Spirituosen der Gesundheit zuträg lich seien. Dies korrespondierte mit den arrivierten Ideen der religiös geprägten Temperenz- oder Mäßigkeits- vereinigungen, die ausschließlich den gebrannten Getränken dämonische Eigenschaften zuschrieben. Derartige Ansichten konnten sich etwa auf die Untersuchungen des Berliner Medizinalprofessors Friedrich Kranich- feld (1789-1850) abstützen, der einen essenziellen Unterschied zwischen der chemischen Zusammensetzung der Weine und der Branntweine be- wiesen haben wollte.53 Viele ärztliche Autoritäten des 19. Jahrhunderts gingen weiter und schrieben verschiedenen Spirituosen unterschiedliche Wirkungen zu. Ein besonders bekanntes Beispiel dazu stellte der in Ben- jamin Rushs Enquiry abgedruckte »moral and physical Thermometer« dar,

50 Spode, H., »Das Paradigma der Trunksucht – Anmerkungen zu Genese und Struk- tur des Suchtbegriffs in der Moderne«, Drogalkohol 10, no. 3 (1986), S. 184; Wiese- mann, C., Die heimliche Krankheit, S. 157-162. In der Schweiz kam am ehesten den Westschweizer Ärzten Louis Burnard und Ernest Naville eine vergleichbare Rolle zu (vgl. Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 149), Schlup erwähnte zusätzlich die Doktoren Charland, Bouvier und Conrad (Schlup, H., »Contribution à l’histoire de la lutte contre l’alcoolisme en Suisse«, S. 83). 51 Vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 139; Valverde, M., Diseases of the will, S. 11. 52 Huss, M. und Busch, G. v. d., Chronische Alkoholskrankheit oder Alcoholismus chro- nicus: Ein Beitrag zur Kenntniss der Vergiftungs-Krankheiten, nach eigener und ande- rer Erfahrung (Stockholm, 1852); Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, S. 132. 53 Vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 145 ff. Kranichfelds Theorie war im medizinischen Diskurs jedoch in einer Außenseiter-Rolle. 60 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz der von Dr. John Cloakley Lettsom entworfen wurde.54 Diese Darstellung versah verschiedene Spirituosensorten von »Toddy« über »Grog« bis hin zu »Pepper in Rum« jeweils stichwortartig mit spezifischen Lastern, Krank- heiten und gesellschaftlichen »Bestrafungen«, die sich üblicher weise als Folgen des Konsums eines jeweiligen Getränketypus manifestieren sollten. Im europäischen Diskurs hielt sich die Idee einer je nach Spirituosen-Art unterschied lichen Qualität der Trunkenheit insbesondere in Bezug auf den Sonderfall des Absinths sehr lange, der kurz nach der Jahrhundertwende in Belgien, der Schweiz und in Frankreich verboten wurde.55 Die zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Abstinenzbewegung fand am frühsten in US-amerikanischen Ärztekreisen ihren Niederschlag. Zunächst wurden staatliche »inebriate asylums« auf Grundlage der Abs- tinenz eingeführt, 1870 formierte sich die American Association for the Study and Cure of Inebriety (AACI).56 Ärzte und Psychiater bezo gen ihre Beobachtungen aus Gefängnissen und »Irrenanstalten« zusehends auf den Alkohol konsum der Insassen und stellten Korrelationen zwischen Konsumgewohn heiten und Verhalten her. In England wurde 1871 das Medical Temperance Journal gegrün det, das später als Medical Pioneer er- schien. 1876 folgte mit der Gründung der British Society for the Study of In- ebriety eine weitere gewichtige Trägerschaft der Medikalisierung, aus deren Veröffentlichungen 1903 das einflussreiche British Journal of Inebriety her- vorging.57 Solche medizinischen Organisa tionen postulierten lebenslange Abstinenz als Prinzip der sogenannten »Trinkerrettung« auf der Grundlage zunehmend quantifizierter Erfahrun gen.

54 Vgl. Whitten, D. M., »Protection, Prevention, Reformation: a history of the Phil- anthropic Society, 1788-1848« (London School of Economics and Political Science, 2001), S. 31-38. Lettsom war zudem Pionier in der Beschreibung des delirium tre- mens (vgl. Jellinek, E. M., »Alcoholic Mental Disorders«, in Alcohol Addiction and Chronic Alcoholism, herausgegeben von Jellinek, E. M. und The Research Council on Problems of Alcohol (New Haven: Yale University Press, 1942), S. 97. 55 Valentin Magnan hatte den Begriff des »Absinthismus« in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. In der Schweiz führte Robert Hercod das Initiativkomitee zum Verbot des Absinths an. 56 White, W. und Weiner, B., »The Journal of Inebriety (1876-1914): history, topical analysis, and photographic images«, Addiction, no. 102 (2007), S. 15-23. 1891 for- mierte sich die American Medical Temperance Association, die 1904 mit dem AACI zur American Medical Society for the Study of Alcohol and Other Narcotics fusionierte. Die AACI gab ab 1877 das Quaterly Journal of Inebriety heraus. 57 Vgl. Mellor, J. et al., »›Prayers and Piecework‹: Inebriate Reformatories in England at the End of the Nineteenth Century«, Drogalkohol 10, no. 3 (1986), S. 192-195; sowie Internationale Monatsschrift 7 (1892), S. 208-213. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 61

Ab den späten 1860er-Jahren setzte auch im deutschsprachigen Raum eine zunehmende Quantifizierung in den Studien zur Schädlichkeit des übermäßigen Alkoholkonsums ein. Im Kontext neuer Instrumente, Be- obachtungs- und Messmethoden der Human- und Naturwissenschaften differenzierten sich spezialisierte wissenschaftliche Disziplinen wie etwa die Physiologie, die pathologische Anatomie, die Neurologie oder die Psy- chiatrie aus. Viele ihrer Vertreter beschäftigten sich mit der sogenannten »Alkoholfrage«, die sie als wesentlichen Aspekt der »Sozialen Frage« dar- stellten.58 Kennzeichnend war bei vielen derartigen Problematisierungen die Tendenz, Erkenntnisse durch quantitative Auswertungen zu verall- gemeinern. 1878 untersuchte Abraham Baer (1834-1908) den Zusammen- hang von Alkohol und Arbeitsleistung, und schrieb dem Alkohol konsum später weitere statistisch unterlegte Folgen wie Kriminalität, Geisteskrank- heit oder Suizid zu. Damit perpetuierte er den Denkstil,59 den Alkohol- konsum als primäre Erklärung für die Existenz negativer Phänomene heranzu ziehen. Diese gerichtete Wahrnehmung sollte der Soziologe Joseph Gusfield später durch den Begriff der »malevolence assumption« kritisie- ren.60 Im deutschen Kassel wurde ferner 1883 der für den Standpunkt der »Mäßigkeit« eintretende Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Ge- tränke (DVMG) gegründet. Dieser Verein, an dem sich viele politische und medizinische Autoritäten beteiligten, dominierte gemäß Spode um 1900 den mitteleuropäischen Alkoholdiskurs und gründete analog zum Blauen Kreuz auch eine internationale Dachorganisation.61 Als zentrale Säule der

58 Alfred Grotjahn zählte diese Disziplinen zu den wichtigsten zur Produktion des ›modernen‹ Alkoholwissens (Grotjahn, A. und Kaup, I., Handwörterbuch der so- zialen Hygiene (Leipzig: F. C. W. Vogel, 1912), S. 2.). Heinrich Heine hatte 1840 den Begriff der sozialen Frage aus dem Französischen ins Deutsche übertragen (vgl. Schumacher, B., Freiwillig verpflichtet, S. 47). 59 Fleck, L., Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980), S. 130. 60 Baer, A. A., Der Alcoholismus. Seine Verbreitung und seine Wirkung auf den individu- ellen und socialen Organismus (Berlin, 1878); Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems: Drinking-Driving and the Symbolic Order«, in Morality and Health, herausgegeben von Rozin, P. und Brandt, A. M. (New York: Routledge, 1997), S. 201-230 (218): »The [malevolence] assumption persists that if alcohol is present in any incident of accident, crime, or other ›trouble‹, it is the causal factor responsible for the action.« Zu Baers Bedeutung vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 133. 61 Vgl. Spode, H., »Die Anfänge der Suchthilfe im 19. Jahrhundert: Vom Kreuzzug zur Behandlungskette«, S. 3. Auch Tappe räumt den Aktionen des DVMG weite Verbreitung ein. Jedoch erfolgten mit der internationalen Expansion des Blauen Kreuzes verschiedenste Abspaltungen, etwa zwischen evangelisch-kirchlichen oder 62 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

»Trinkerrettung« hat sich die totale Alkoholabstinenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dennoch in den USA, Großbritannien und Europa weitgehend durchgesetzt.62 Auf einer kontinentaleuropäischen Ebene hatte mit dem Congrès inter- national pour l’étude des questions relatives à l’alcoolisme 1878 bereits der erste internationale Kongress getagt, der sich spezifisch mit wissenschaftlichen Studien zum Thema Alkohol auseinandersetzte. Zu den Teilnehmenden gehörten renommierte Wissenschaftler wie der zur alkoholischen Gärung forschende Louis Pasteur oder der Degenerationstheoretiker Valentin Ma- gnan. Dabei standen Themenkomplexe wie die Aussagekraft von Tier- experimenten und verglei chen den Statistiken, chemische Prozeduren zu Qualitätskontrollen des Schnapses, aber auch gesundheitliche sowie here- ditäre Schädigungen durch den Alkoholgenuss zur Debatte.63 Bemerkens- werterweise fokussierten die meisten Wissenschaftler auf den Branntwein. Dieser Umstand sollte sich in den kommenden Ausgaben der zumeist alle zwei Jahre abgehaltenen Internationalen Kongressen gegen den Alkoho- lismus (nachfolgend als »Internationale Kongresse« bezeichnet) ändern.64

methodistischen Ausprägungen (vgl. Spode, H., »Die Anfänge der Suchthilfe im 19. Jahrhundert«, S. 3). Zu einer Einführung zum Schweizer Landesverein des Blauen Kreuzes vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 32-36. Laut eigenen Angaben betrug der Frauenanteil beim Blauen Kreuz in den 1910er-Jahren rund 50  und stieg später bis beinahe 70  an (vgl. auch Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 203). 62 Baumohl, J. und Room, R., »Inebriety, Doctors, and the State«, insbesondere S. 140; Marthaler, H., Die Trinkerheilanstalten der Schweiz (Zürich: Leemann, 1900), S. 9. 63 Vgl. »Comptes rendus sténographiques«, Congrès international pour l’étude des ques- tions relatives à l’alcoolisme, tenu à Paris du 13 au 16 Août 1878, Paris 1879 (Imprimerie nationale); Malleck, D. M., »Kerr, Norman Shanks (1834-1899)«, in Alcohol and tem- perance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al., Santa Barbara, CA.: Abc-Clio, 2003, S. 350. Bis zu Bunges Alkoholvorle- sungen sollten noch zwei weitere internationale Alkoholkongresse stattfinden, der 1880 in Brüssel tagende Congrès international pour l’étude des questions relatives à l’alcoolisme, sowie das 1885 folgende Meeting International d’Anvers contre l’abus des boissons alcooliques, welches als erste Veranstaltung der alle zwei Jahre stattfindenden Institution der Internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus gilt. Eine Über- sicht zu den Kongressen bis 1911 findet sich in der Internationalen Monatsschrift 11 (1911), S. 401 f. Schrad verweist auf den Umstand, dass bereits ab den 1840er-Jahren Internationale Anti-Alkohol-Kongresse durchgeführt wurden, wobei jedoch bloß an zwei Veranstaltungen Teilnehmende außerhalb des englischsprachigen Raums zugegen waren, vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 44. 64 Die zumeist alle zwei Jahre ausgetragenen Kongresse trugen unterschiedliche Na- men, so hiess der erste von 1885 »Meeting International d’Anvers contre l’abus des Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 63

Besonders die sozialhygienisch geprägten »Abstinenzler«65 drückten die- ser Veranstaltung, die immerin als wichtigstes alkoholgegnerisches Forum Europas galt, zunehmend ihren Stempel auf.66 Wie der letzte Teil dieses Kapitels illustriert, war die »Forel-Schule«67 um den bekannten Schweizer Hirnforscher Auguste Forel maßgeblich an dieser Veränderung beteiligt. Forels alkoholgegnerische Agitation über- schritt die Schweizer Landesgrenzen unüberseh bar, was sich etwa in sei- ner beinahe ruhelosen, europaweiten Vortragstätigkeit, aber auch in sei- nem Einsatz für eine friedenssichernde Weltregierung während des Ersten Weltkrieges niederschlug. Einen besonderen Einfluss hatte der Psychiater auf die medizinisch geleitete Trinkerbehandlung, indem er die Einführung abstinenter »Irren an stalten« nach britischem Vorbild in Kontinentaleu- ropa vorantrieb.68 In der Schweizer Psychiatrie war zudem Eugen Bleuler (1857-1939) mit seinem Lehrbuch für Psychiatrie für eine nachhaltige Re- zeption in der ärztlichen Ausbildung besorgt.69 Die Inklusion der Absti-

boissons alcooliques«. Erst ab 1901 setzte sich die Endung »gegen den Alkoholis- mus« durch. 65 »Abstinenzler« fand zumeist als abschätzige Fremdbezeichnung Verwendung. Zu eingehenderen Ausführungen zu Forels Einfluss auf diese Kongresse vgl. Kapitel 1.4. 66 Vgl. Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 375. Die internationale Bedeutung der Kongresse werden auch hervorgehoben von Tyrrell, I., Reforming the World, S. 20 ff.; Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 49 ff. Die Bedeu- tung jener Veranstaltungsreihe inklusive Rahmenprogramm wurde in zahlreichen Berichten von alkoholgegnerischen Organisationen hervorgehoben (vgl. u. a. IBAA, 6. Jahresbericht 1913, S. 4 f.). 67 Vgl. Walser, H. H., »Über Leben und Werk von August Forel«, in Briefe – Corres- pondance 1864-1927, herausgegeben von Forel, A. und Walser, H. H. (Bern: Huber, 1968), S. 11-44 (31); »Robert Biswanger an Hermann Sahli«, in Forel, Briefe – Cor- respondance 1864-1927, S. 523 ff. Bekannter ist der Begriff der »Zürcher Schule«, vgl. dazu Germann, U., Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferen- zierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz 1850-1950 (Zü- rich: Chronos, 2004), S. 19. 68 Vgl. Delbrück, A., »Forel als Psychiater«, Internationale Monatsschrift 7 (1918), S. 146-153 (149). Forels Einfluss auf die Verwissenschaftlichung wurde sowohl in den Quellen als auch in verschiedenen Studien hervorgehoben. Siehe hierzu: Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 46-72; Spö- ring, F., »Du musst Apostel der Wahrheit werden«, S. 111-144; Kuhn, K., »Wider den Alkoholteufel«, S. 63-68. 69 Bleulers Lehrbuch erschien in 15 Auflagen, wobei seit der 1. Auflage von 1916 zahl- reiche bekannte Psychiater an den Neuauflagen mitwirkten. Zu Bleulers Rolle in der Abstinenzbewegung vgl. Meyer, T., »Bleuler und die Abstinenzbewegung«, in Eugen Bleuler: Polyphrenie und Schizophrenie, herausgegeben von Scharfetter, L. (Zürich: vdf, 2006), S. 196-234. 64 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz nenz in die medizinische Praxis schien derart erfolgreich, dass in der Schwei- zer Weinzeitung 1931 die Klage zu lesen war, der Wein hätte in der Schweiz keinen »Anwalt der Wissenschaft«, der aufgrund seiner ärztlichen Autorität den Rebensaft als »Seelenarznei« empfehlen würde.70 Dieser Klage stand die Wahrnehmung der alkoholgegnerischen Zeitschriften entgegen, die regel- mäßig das Schreckensbild einer vom »Alkoholkapital« gekauften Ärzteschaft herauf beschwörten. Insbeson dere ab 1930, als in Paris das Inter nationale Weinamt aus der Taufe gehoben wurde (und dem die Schweiz sechs Jahre später beitreten sollte), vermeinten die Redaktoren des Schweizer Abstinents zu beobachten, dass sich das »Alkohol kapital« zunehmend wissenschaft lichen Autoritäten bediene, ohne dabei die materiellen Eigeninteressen zu verleug- nen.71 Als 1935 der »Internationale Kongress der weinfreundlichen Ärzte« in Lausanne tagte, riefen 18 Ärzte zum Boykott jener Veranstaltung auf, damit endlich ein »deutlicher Trennstrich […] zwischen Hygiene und Handelsin- teressen« gezogen werde.72 Doch obschon fermentierte Getränke auch in den 1930er-Jahren noch ärztlichen Zuspruch erfuhren, hatte sich die Krankheits- konzeption von »Alkoholismus« und ihrem Standardrezept der permanenten Totalabstinenz derart verfestigt, dass auch schwach alkoholische Getränke ih- ren Ruf als Heilmittel weitgehend eingebüßt hatten. Die noch genauer zu untersuchende »Säkularisierung«73 des Diskur- ses, in dessen Zentrum die Medikalisierung des Suchtbegriffes stand, ko- existierte mit religiös gefärbten Deutungen. So verwendeten auch reli- giös geprägte Aktivisten und Aktivistinnen den Begriff des Alkoholismus, betteten diesen aber in einem Erklärungskontext ein, der weniger auf bio- logische Individuen als auf metaphysische Entitäten abzielte: Demnach er- schien dieses Phänomen als »Hauptmittel des Satans«, das die Ausbreitung des Evangeliums verhindere.74 Die Säkularisierung des Anti-Alkohol-Dis- kurses lässt sich folglich nicht als linearer Prozess begreiffen. Überdies war

70 Zu dieser Klage eines Dr. Georg Kahn vgl. »Die Weinhändler suchen ärztliche Autoritäten«, Schweizer Abstinent 4 (1931), S. 15. 71 »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 13 (1930), S. 53. Vgl. auch: »Die Wein- Internationale«, Schweizer Abstinent 9 (1930), S. 35. 72 »Der Lausanner Kongress der weinfreundlichen Ärzte«, Schweizer Abstinent 19 (1935), S. 80. 73 Es bestehen zahlreiche unterschiedliche Auslegungen des Begriffs der »Säkularisie- rung«. In dieser Arbeit steht Max Webers okzidentaler Rationalismus im Vorder- grund, nach welcher die Säkularisierung vornehmlich als »Ablehnung der sakralen Magie als Heilsweg« gelesen wird. Vgl. Marramao, T. »Säkularisierung«, in Histori- sches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Ritter, J., Bien, G. und Eisler, R., IV (Basel: Schwabe, 1971), S. 1133-1162 (1140). 74 Vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 332. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 65 die Bewegung verschiedenen Zäsuren unterworfen. Eine solche einschnei- den de Zäsur für die gesamte Alkoholgegnerschaft stellten die Weltkriege dar.

Die Weltkriege als Zäsuren

Die Folgen des Ersten Weltkrieges waren für die international orientierten Gruppierungen der Alkoholgegnerschaft früh spürbar. In besonderem Maße betroffen war die Basler Mission, die in Westafrika einen Großteil ihrer weiten Missionsgebiete einbüßte.75 Da der Mission viele Deutsche angehörten – 1914 waren 36 der 51 in der Kolonie Goldküste stationierten Missionsangehörigen deutscher Staats zugehörigkeit – wurden 1916, noch während des 1. Weltkrieges, die Basler Stationen in Westafrika aufgelöst und deren Besitztümer später als Reparationszahlungen enteignet. Nach dem Vertrag von Versailles blieb die Goldküste als Mandats gebiet des Völ- kerbundes unter britischer Verwaltung. Die seit 1884 durch das Deutsche Reich beanspruchte Kolonie Kamerun wurde darauf zu vier Fünfteln von Frankreich und zu einem Fünftel von Großbritannien verwaltet.76 Zwar wurde der Mission Schritt für Schritt wieder eine Entsendung von Missio- naren nach Westafrika erlaubt, der langsame Wiederaufbau wurde jedoch durch die ab 1929 spürbare Weltwirtschaftskrise stark behindert.77 Gleich- zeitig untergrub der Erste Weltkrieg, der die Schattenseiten industriali- sierter Zivilisationen deutlich machte, auch die Zivilisationsrhetorik der Kolonisieren den. So weist der Historiker Michael Adas nach, dass das Mo- tiv der Zivili sie rungs mission nach dem Krieg abge schwächt wurde.78 Den transnationalen Anti-Alkohol-Netzwerken setzten aber zwei Um- stände noch stärker zu: Einerseits mehrten sich besonders in den sozialhy- gienischen Zeitschrif ten nationalistische Voten, die dem proklamierten In- ternationalismus entgegenliefen. Andererseits standen die Kriegstoten und -verletzten für viele Anti-Alkohol-Aktivisten in keinem Ver hält nis zu den dem Alkohol zugeschriebenen Schäden, weshalb sich einige vermehrt der

75 Dies wird ausführlicher im nächsten Abschnitt behandelt. 76 Siehe auch: Eyongetah, T. und Brain, R., A history of the Cameroon (London: Long- man, 1974). 77 Vgl. Gannon, M., »The Basle Mission Trading Company and British Colonial Pol- icy in the Gold Coast, 1918-1928«, The Journal of African History 24, no. 4 (1983), S. 503-515 (504); Jenkins, P., Kurze Geschichte der Basler Mission (Basel: Basler Mis- sion, 1989); Blum, E., Die Mission der reformierten Schweiz, S. 21-24. 78 Adas, M., »Contested Hegemony: The Great War and the Afro-Asian Assault on the Civilizing Mission Ideology«, Journal of World History 15, no. 1 (2004), S. 31-63. 66 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Friedensbewegung zuwandten.79 Trotzdem spielten einige Kriegserfahrun- gen den alko hol ge gnerischen Anliegen auch in die Hände: Vor dem Hin- tergrund von Nahrungsmittelknappheit und einem deutlicher zutage tre- tenden Zusammenhang zwischen Alkohol genuss und Kriegstüchtigkeit begrenzten viele Länder während des Krieges den Verkauf von Alkohol. In Belgien, Island, Neufundland, Norwegen, Estland, Russland, Kanada, Ungarn, der Türkei und den USA wurde gar die Prohibition partiell oder landesweit eingeführt.80 Auch in der Zwischenkriegszeit verbreiteten die Anti-Alkohol-Akteure spezifische Denk muster, welche die länderübergreifenden Dis kus sionen über psychoaktive Substanzen bis in die Gegenwart hinein zu prägen schei- nen. Anfang August 1939, keinen Monat vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, präsentierte der finnische Diplomat Tapio Voionmaa inter- nationale Statistiken zum Verbrauch alkoholischer Getränke auf dem In- ternationalen Kongress in Helsinki.81 Diese Daten hatte Voionmaa im Auftrag des Völkerbundes zusammengestellt; sie waren Resultat der noch zu umreißenden Resolution A.62. Doch konnte auch dies nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass die Abstinenz bewegung mit den aufgeho- benen Prohibitionen in Norwegen, Island und den USA seit den frühen 1930er-Jahren an Elan eingebüßt hatte. Der Zweite Weltkrieg stellte besonders für die Abstinenzbewegung einen weiteren bedeutenden Einschnitt dar. Obwohl das IBAA mit daran beteiligt war, die Problematik des Alkoholismus auf die Agenda der WHO zu bringen, schien sich die wissenschaftliche Hegemonie spätestens nach 1945 von Europa in die USA verschoben zu haben. In den 1960er-Jahren

79 Sch.[A. Schönenberger?], »Internationale Logen«, Schweizer Abstinent 37 /38 (1916), S. 81. Auch die WWCTU beteiligte sich noch während des Ersten Weltkrieges an der International League for Peace and Freedom, vgl. Iriye, A., Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World (Berkeley: University of California Press, 2002), S. 19. 80 Vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 5; Hercod, R., »Das russische Alkoholverbot«, Internationale Monatsschrift 10 (1915), S. 317-331; In der Schweiz wurde, wie Kapitel 4 ausführt, eine alkoholgegnerische Petition gegen die »Nah- rungsmittelvergeudung« gestartet; vgl. Hercod, R., »Zur Vergeudung der Nah- rungsmittel«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1917), S. 13; ders. »Volkspetition gegen die Nahrungsmittelvergeudung«, Schweizer Abstinent 17 /18 (1917), S. 35. 81 Voionmaa, T., »An International Survey of the Production and Consumption of Alcoholic Beverages«, in Proceedings of the Twenty-Second International Congress against Alcoholism (Helsinki: Raittiuskansan Kirjapaino Oy, 1939), S. 222-245. Vgl. dazu Bruun, K. et al., Alcohol control policies in public health perspective, vol. 25, The Finnish Foundation for Alcohol Studies (Helsinki: Akateeminen kirjakauppa, 1975), S. 47. Die Formierung alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert 67 setzte sich das Krankheitsmodell des Alkoholismus über die wirkungs- mächtige Organisation WHO durch.82 Unter dem einflussreichen, mit El- vin Mortin Jellinek in Verbin dung stehenden Yale Center of Alcohol Studies erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ein Umschwung weg von der auf die Reduktion des totalen Alkoholkonsums einer Gesellschaft aus- gelegten Primärprävention, hin zu einer auf Risikogruppen fokussierende Sekundärprävention.83 Seit Mitte der 1970er-Jahre tendiert die global ver- netzte Alkohol forschung, die gemäß Spode hauptsächlich durch Forscher aus angelsächsischen sowie Nordischen Ländern bestimmt wird,84 wieder zurück zu einem bevölkerungsbezogenen Präventionsansatz. Eine wichtige Rolle dabei kam einem internationalen Forschungs projekt zu, das von der Finnish Foundation for Alcohol Studies, dem europäischen Regionalbüro der WHO, sowie der Addiction Research Foundation of Ontario getragen wurde. Angestrebt wurde eine Verfeinerung der internationalen Statistik- erhebung durch das World Alcohol Project sowie der WHO, während zu- gleich Hoffnungen auf eine engere Kooperation mit der Commission on Narcotic Drugs zum Ausdruck gebracht wurde.85 1992 führte das europä- ische Regionalbüro der WHO den »Europäischen Aktionsplan Alkohol« ein, der wiederum auf die primärpräventive Reduktion der »total alcohol consumption« der einzelnen Länder ausgelegt war.86 Die dabei vorgebrach- ten Argumente und Motive konvergieren stark mit den Strategien, die in den drei Kapiteln zu den Rhetoriken der Freiheit, der Natürlichkeit sowie

82 Während sich bereits ab 1947 Bemühungen des IBAA um Anerkennung bei der WHO finden, erfolgte diese erst 1968. Vgl. Cavaillon, A., »Rapport sur l’Alcoolisme, 30. 8. 1947«, [Archiv ICAA, WHO.IC/104]. 83 Vgl. Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 381; Müller, R., »Swiss Alcohol Po- licy – ›Model‹ or ›Sonderfall‹?«, in From science to action?: 100 years later – alcohol policies revisited, herausgegeben von Müller, R. und Klingemann, H. (Dodrecht; London: Kluwer Academic, 2004), 185-192 (189); Jellinek, E. M., »Effects of Alco- hol on the Individual. A critical exposition of present knowledge«, herausgegeben vom Scientific Committee of the Research Council on Problems of Alcohol (New Ha- ven: Yale University Press, 1942). 84 Spode, H., »Trinkkulturen in Europa. Strukturen, Transfers, Verflechtungen«, S. 385. 85 Bruun, K. et al., Alcohol control policies in public health perspective, vol. 25, The Fin- nish Foundation for Alcohol Studies (Helsinki: Akateeminen kirjakauppa, 1975), S. 84 ff. Eine ausführliche Diskussion zum World Alcohol Project findet sich in Sul- kunen, P., Drinking patterns and the level of alcohol consumption: an international overview (New York a. o.: Wiley, 1976). 86 Spode, H., »Der ›Europäische Aktionsplan Alkohol‹ und seine Vorläufer. Wissen- schaft als moralischer Interessenverband«, in Die Revolution am Esstisch: Neue Stu- dien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert, herausgegeben von Teuteberg, H. J. (Stuttgart: Steiner, 2004), S. 295-318; Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 385. 68 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz der Wirklich keit beleuchtet werden. Doch zuvor sollen in den nächsten beiden Teilen zwei in der Schweiz situierte Akteurskollektive vorgestellt werden, die durch ihre unterschiedliche Einbindung in das alkoholgegne- rische Netzwerk im internationalen Diskurs präsent waren.

2. Die Basler Missionsgesellschaft

Wie ihre britischen Vorgänger innen verstand sich die »Basler« Orga- nisation, deren Mitglieder mehrheitlich aus dem Süddeutschen Raum stammten,87 als eine Äußere Mission, die in den erschlossenen Kolonien dem Markus-Evangelium88 folgend das »Licht« des Evangeliums in das mit »Finsternis« konnotierte »Heidentum« zu tragen gedachte. Kennzeichnend für das Umfeld dieser Mission war der »Württemberger Pietismus«.89 Für die Anhänger dieser Glaubensrichtung war das Erleben einer spirituellen Erweckung zentral, die in einem »Herzensbedürfnis« nach der Erfahrung göttlicher Vergebung der eigenen Schuld Ausdruck fand. Das Streben nach einem wiederholten Erleben dieser Erfahrung bestärkte die Vorstellung eines »gottgefälligen Lebens wandels«. Demnach erhöhe ein auf persön- licher Askese und Disziplin beruhender Lebensstil, geprägt durch tägliches Lesen der Bibel sowie durch tägliche Reflexion, die Chance eines erneuten Erfahrens jenes Bewusstseinszustandes. Dieser idealisierte Lebenswandel war aber nicht nur nach ›innen‹ gerichtet, sondern wurde oft mit einem nach ›außen‹ gerichteten Sendungsbewusstsein begleitet. Vieles spricht dafür, diese Äußere Mission als transnationales Projekt zu lesen: Einerseits verweisen manche Beiträge auf Impulse aus dem angel- sächsischen Sprachraum, wo sich auch die ersten Missionsgesellschaften ausbildeten.90 Andererseits hebt etwa der Missions wissen schaftler Andrew F. Walls umgekehrt ein zeitlich früher aufblühendes Sendungsbewusstsein

87 Von den zwischen 1909 und 1913 in Afrika stationierten Missionaren und Handels- brüdern (Angestellte der Handlungsgesellschaft) stammten 20  aus der Schweiz, 39  aus Württemberg, 12.5  aus Baden, 23  aus dem übrigen deutschsprachigen Raum, sowie 5.5  aus anderen Regionen (vgl. Jenkins, P., »Towards a definition of the pietism of Württemberg as a missionary movement«, in Oxford Conference 1978: Whites in Africa – Whites as Missionaries (Oxford, 1978), S. 14). 88 Dabei bezogen sich die Missionsfreunde zumeist auf Markus 16:15. 89 Jenkins, P., »Towards a definition of the pietism of Württemberg as a missionary movement«, S. 4 ff. 90 Vgl. dazu insbesondere Stanley, B., »Christian Missions and the Enlightenment«, S. 2 ff.; Bosch, D. J., Transforming Mission: Paradigm Shifts in Theology of Mission, [6th print.] ed. (Maryknoll, NY: Orbis Books, 1991), S. 344. Die Basler Missionsgesellschaft 69 der kontinen tal europäischen Erweckungs bewegung hervor. Diese hatte den britischen Impetus zur Missionierung ideologisch sowie durch Bereit- stellung von Personal bestärkt.91 Obwohl sich die verschiede nen pro tes- tantischen Denominationen im transatlantischen Raum verschiedentlich voneinander abgrenzten, lassen sich in den zahlreichen Foren des Dialogs weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen ausmachen, die der späteren protestantischen Ökumene vorausgingen. 92 Die Basler Missionsgesellschaft beteiligte sich an der Äußeren Mission, indem sie ausge wählte Personen männlichen Geschlechts im Basler Mis- sionshaus zu Missionaren aus bildete und diese anschließend, teilweise mit weiblicher Begleitung, zum Aufbau christlicher Missionsstationen in die »Heidenwelt« entstandte. Dabei bestand laut Historiker Jon Miller ein er- hebliches Machtgefälle zwischen dem patriarchischen Komitee der Mis- sion, das sich zumeist aus Basler Aristokraten und einigen deutschen Ge- lehrten zusammensetzte, und den zumeist aus der unteren Mittel schicht stammenden Bewer bern. Für Letztere bedeutete die Ordination zum Mis- sionar mitsamt der Ausbildung vielfach einen sozialen Aufstieg.93 Um als »Zögling« ange nom men zu werden, musste ein Bewerber einen ein- wandfreien Leumund vorweisen und das Komitee mit einer glaubhaf- ten Beschreibung ihrer Erweckung überzeugen. Die Mehrheit der erfolg- reichen Bewerbungen berichtete dabei von einer strengen väterlichen Erziehung, die sich an der »Rute der Zucht«94 orientiert hatte. Während der anspruchsvollen Ausbildung wurde von den Zöglingen erwartet, auch die spärliche Freizeit mit nützlicher Tätigkeit wie Gartenarbeit oder Selbst- studium auszufüllen. Kaum ein Drittel der Anwärter beendete die begon-

91 Walls, A. F., »The Eighteenth-Century Protestant Missionary Awakening in Its European Context«, S. 30. Zur Erklärung, weshalb die Pionierrolle in Bezug auf die Äußere Mission oft Großbritannien zugeschrieben wird, verweist Walls auf die sichereren Rahmenbedingungen des Empires. 92 Vgl. dazu Clark, C. und Ledger-Lomas, M., »The Protestant International«, in Religious Internationals in the Modern World: Globalization and Faith Communities since 1750, herausgegeben von Green, A. und Viaene, V. (New York, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2012), S. 23-52. Zur ökumenischen Bewegung vgl. Stanley, B., The World Missionary Conference, Edinburgh 1910 (Grand Rapids, MI: William B. Eerdmans, 2009). 93 Miller, J., Missionary zeal and institutional control, S. 103. Die Bedeutung der Aus- bildung an der Basler Mission kann etwa durch den Fall von Adam Mischlich (BV 1185) illustriert werden, der 1897 während seines Einsatzes in der Kolonie Goldküste zur deutschen Kolonialbehörde ›überlief‹ und später mit Professortitel und der Volney-Medaille des Institut de France ausgezeichnet wurde. 94 Zitiert nach Jenkins, P., »Towards a definition of the pietism of Württemberg as a missionary movement«, S. 19 [Fußnote 25]. 70 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz nene Ausbildung erfolgreich.95 Bei ansprechenden schu li schen und außer- schuli schen Leistungen wurden diese nach rund fünf Jahren als Missionare ordiniert und einer Missionsstation zugeteilt, die auf den Gebieten des heutigen Ghana (mit einem Umweg über Liberia ab 1828), Südindien (ab 1832), Südchina (ab 1846), Kamerun (ab 1886) sowie ab 1922 auf dem heu- tigen Kalimantan verteilt waren. Auch die ordinierten Missionare wurden dazu angehalten, sich gegen seitig zu bewachen, um durch die disziplinari- sche Leitidee »Aus Liebe bestrafen«96 einen Zustand frei von ›weltlichen‹ Ablenkungen zu erreichen.97 Eine Aussendung in diese fernen, noch kaum erforschten Gebiete war mit Pioniergeist und Martyrium konnotiert. Viele der nach Westafrika ausgesandten Missionare erlagen bis ins späte 19. Jahrhundert den beiden Krankheiten Malaria und Gelbfieber.98 In der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts erhöhten sich die mittelfristigen Überlebens chancen der nach Afrika entsandten Missionsvertreter und Missionsvertreterinnen aufgrund neuer medizinischer Erkenntnisse.99 Auch wenn die europäischen Prediger auch nach 1900 noch regelmäßig an fiebrigen Krankheiten verschieden, verzeichneten die westafrika nischen Missionsstationen einen deutlichen Zuwachs. Dies lag mitunter an einem rasanten Zuwachs an »Eingebore- nen Mitarbeitern« zwischen 1870 und 1917. In ihrem Zenit vor dem Ersten Weltkrieg zählte die Basler Mission über 200 Stationen inklusive Außen- stationen auf der Goldküste sowie über 300 Stationen in Kamerun. Auf den Missions stationen hielten sich dabei vergleichsweise wenige Missi- onare auf. In beiden Kolonien waren je rund 60 Missionare stationiert, wovon beinahe die Hälfte in Begleitung ihrer (oft durch das Komitee zu- geteilten) Ehefrauen war.100 Noch unverheiratete Frauen, in den Perso- nenverzeichnissen unter der Rubrik »Jung frauen« aufgelistet, blieben nur sehr wenigen Stationen vorbehalten. Die in Afrika stationierten Personen

95 Nestvogel, R., »Die Erziehung des ›Negers‹ zum deutschen Untertan: Zur Konti- nuität des herrschaftlich-elitären Umgangs mit anderen Völkern«, in Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zivilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde, herausgegeben von Nestvogel, R. und Tetzlaff, R. (Berlin: Dietrich Reimer, 1987), S. 55-82 (60). 96 Miller, J., Missionary zeal and institutional control, S. 114. 97 Ebd., S. 110-116. 98 Vgl. Curtin, P. D., »›The White Man’s Grave‹: Image and Reality, 1780-1850«, Jour- nal of British Studies 1, no. 1 (1961), S. 95. Als »Archetyp« des heroischen Missiona- ren und Forschers fungierte der 1873 verstorbene Engländer David Livingstone. 99 Vgl. Bayly, C. A., The birth of the modern world, 1780-1914. Global connections and comparisons (Malden, MA: Blackwell, 2004), S. 348. 100 Vgl. dazu Konrad, D., Missionsbräute. Die Basler Missionsgesellschaft 71 aus dem Umfeld der Basler Mission erlebten die zwischen 1884 und 1933 vielfach beschworene »Schnapspest« im westafrikanischen »gin belt« aus nächster Nähe und waren über ihr Hauptquartier in Basel mit verschiede- nen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen vernetzt. Im 19. Jahrhundert fanden die missionarischen Erfahrungen, Wahrneh- mungen und Erleb nisse aus den afrikanischen Kolonien in Form von Bil- dern, Reiseberichten, Pamphleten oder ausstellbaren Objekten zusehends Eingang in das Populärwissen der breiteren heimischen Öffentlichkeit. Maßgeblichen Anteil an der Verbreitung hatten verschiedene missions- nahe Zeitschriften und sonstige Drucksachen, die über die Druckpressen des Calwer-Verlags oder des Basler Missionsverlags vervielfältigt und be- sonders in Mittel europa versandt wurden.101 Diese Vermittlungsformen erreichten die heimische Bevölkerung bereits vor der Institutionalisie- rung der Anthropologie im deutsch sprachigen Raum im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und mehrheitlich vor dem Aufkommen der popu- lären »Völkerschauen«.102 Im Jahr 1924 verbreitete die Basler Mission ins- gesamt 111.861 Exemplare ihrer Zeitschriften. Spitzenreiter war der Heiden- freund mit beinahe 71.000 Exemplaren, gefolgt vom Heidenbote mit deren 25.529, den Mitteilungen mit rund 12.600 sowie dem Missionsmagazin mit 2.735 Exemplaren.103 Beinahe zwei Drittel der Zeitschriften wurden in

101 »Heimisch« bezieht sich nicht nur auf die Schweiz, sondern auch auf Deutschland, wo insgesamt deutlich mehr Exemplare der Basler Periodika verteilt wurden (de- taillierte Statistiken dazu finden sich in BMA Q-24.3). Für die Bedeutung der Mis- sionare auf das Populärwissen siehe Bayly, C. A., Die Geburt der modernen Welt: Eine Globalgeschichte 1780-1914 (Frankfurt am Main: Campus, 2006), S. 434 ff.; Bayly, C. A., The birth of the modern world, S. 357 f.; Tyrrell, I., Reforming the World, S. 236; Clark, C. und Ledger-Lomas, M., »The Protestant International«, S. 29 f. 102 Vgl. Zimmerman, A., »Ethnologie im Kaiserreich: Natur, Kultur und ›Rasse‹ in Deutschland und seinen Kolonien«, in Das Kaiserreich transnational: Deutschland in der Welt 1871-1914, herausgegeben von Conrad, S. und Osterhammel, J. (Göt- tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004), S. 191-212 (194). Für einen globaleren Überblick zur Anthropologie vgl. Wolff, L., The anthropology of the Enlighten- ment (Stanford, CA: Stanford University Press, 2007). Zu den Völkerschauen in der Schweiz vgl. Brändle, R., Wildfremd, hautnah: Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835-1964, Erweiterte Neuausg. Zürich: Rotpunktverlag, 2013); Staehelin, B., Völkerschauen im Zoologischen Garten Basel 1879-1935 (Basel: Basler Afrika Bibliographien, 1993). 103 Vgl. »Übersicht über die Verbreitung der Missionszeitschriften 1924«, BMA Q-24.3. Neben den zahlreichen Zeitschriften-Abonnements illustriert die soge- nannte »Halbbatzen kollekte« auf eindrückliche Weise, dass die Basler Mission von einer breiten Bevölkerung getragen wurde. Bei dieser Form von Kollekte wurde von den Spendenden erwartet, während zehn Wochen pro Woche 50 Rappen darzubringen. Dieses Konzept erwies sich als äußerst ertragreich: Im Jahr 72 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Deutschland und Österreich abgesetzt, nur beim Heidenfreund überstieg der Absatz in der Schweiz ein Drittel der Auflage. Damit erreichten diese Druckerzeugnisse, die partiell von den Zeitschriften des Blauen Kreuzes re- zipiert wurden, ein breites Publikum. Besonders ab dem Aufkommen der Abstinenz bewegung in der Schweiz fanden die Basler Missionare regel- mäßig im Illustrierten Arbeiter freund Erwähnung, darunter Baltasar Groh, Rudolf Fisch und Friedrich August Louis Ramseyer.104

Die Basler Mission als Teil eines evangelischen Netzwerks

Die Schilderungen der Basler Missionsvertreterinnen und -vertreter sind al- leine schon aufgrund ihres Potenzials der Prägung kollektiver Denkmuster in der Heimat interessant. Sie erhalten aber eine zusätzliche Bedeutung durch die transnationale Vernetzung der Missionen, die für den transnationalen Austausch von religiösen Motiven, Emotionen und Legitimations strategien von zentraler Bedeutung waren.105 Dies lässt sich nicht nur durch das Netz- werk der Evangelical Alliance illustrieren, noch deutlicher zeigt sich dieser Austausch in den teilweise engen Kooperationen der Missionsgesellschaften untereinan der. So bildete Basel nicht nur die Missionare der Norddeutschen Mission aus, viele Basler Missionare stellten sich im frühen 19. Jahrhundert auch in die Dienste der Church Missionary Society (CMS), beinahe wäre auch eine Zusammenarbeit mit der American Presbyterian Church zustande ge- kommen.106 Ab 1866 trafen sich die evangelischen Missions ge sellschaften Kontinentaleuropas regelmäßig zu Missionskonferenzen, 22 Jahre später traf sich eine bemerkenswerte Anzahl von Missionsvertretern zu der in London

1913 wurde alleine durch diese Kollekte 602.021 Franken eingenommen, womit diese die mit dem einsetzenden Kakao-Boom ab 1890 rapide zunehmenden Ge- winne der Missionshandlung immer noch um über 60.000 Franken übertraf. Vgl. Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, I, S. 335. 104 Vgl. »Der Blaukreuzverein in Aburi«, Illustrierter Arbeiterfreund 7 (1907), S. 26 ff.; »Europäerwein«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1908), S. 36; »Der Blaukreuzverein Kumase auf der Goldküste in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1909), S. 11. 105 Vgl. Przyrembel, A., Verbote und Geheimnisse, 65 f.; Lindemann, G., Für Frömmig- keit in Freiheit, S. 16-33. So wurde auch die Gründung der YMCA 1855 durch die Evangelical Alliance beeinflusst (S. 16). 106 Zur angelsächsischen Mission vgl. Cox, J., The British missionary enterprise since 1700 (New York: Routledge, 2008); Porter, A. N., Religion versus empire? British Protestant missionaries and overseas expansion, 1700-1914 (Manchester: Manchester University Press, 2004); Schwegmann, B., Die protestantische Mission und die Aus- dehnung des Britischen Empires (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990). Die Basler Missionsgesellschaft 73 tagenden Hundertjahrskonferenz für Äußere Mission.107 Auch wenn es un- ter den Missions gesellschaften mit ihren verschiede nen Denominationen des Öfteren Spannungen gab, blieben evangelische Kooperationen auch im frühen 20. Jahrhundert bestehen und erfuhren im Rahmen der Edinburg- her Missionskonferenz von 1910 eine weitere Bestärkung.108 Ausgehend von der durch Mäßigkeitsvereinigungen propagierten Ver- knüpfung von Branntwein und Immoralität überrascht die ablehnende Haltung der Basler Mission gegenüber dem Branntweinkonsum zu Ge- nusszwecken kaum. Im Jahr 1913 gehörte rund ein Viertel der Basler Mis- sionare dem evangelisch geprägten Blauen Kreuz an, das 1877 in Genf gegründet wurde und 1882 unter Mithilfe des Basler Komitee-Mitglieds Hermann Christ (1833-1933) eine Basler Sektion aufbaute.109 Schon seit dem Beginn der Missionierung in Afrika erwähnten die Basler Missionare den Branntwein im Zusammenhang mit Tadel, obschon sich die Klagen darüber erst ab den 1880er-Jahren mehr ten.110 Maßvoller Wein- und Bier- konsum wurde dagegen von Anfang an akzeptiert; in den späten 1850er- Jahren legten einige Basler Missionare gar Weinreben in Akropong an.111 Als sich 1910 der Deutsche Verband zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels formierte, gehörten diesem Kollektiv neben dem Deut- schen Guttemplerorden und dem Blauen Kreuz zehn Missionsgesellschaften an, darunter auch die Basler Mission.112 Ein vergleich barer Verbund war das 1887 gegründete Native Races and the Liquor Traffic United Commit- tee (NRLTUC), dem acht britische Temperenzgesellschaften und elf bri- tische Missionsgesell schaften angehörten. Aber auch im 1900 durch den ehemaligen CMS-Missionsarzt Charles F. Harford (1864-1925) angeregten American Native Races Committee waren Missionare auffällig präsent.113 Es würde den Rahmen dieser Studie sprengen, diesem alkoholgegnerischen Austausch innerhalb und außerhalb verschieden ster Missionen umfassend

107 Vgl. Flachsmeier, H. R., Geschichte der evangelischen Weltmission (Giessen, Basel: Brunnen-Verlag, 1963), S. 306. 108 Vgl. Stanley, B., The World Missionary Conference; Schreiber, A. W., Die Edinbur- ger Welt-Missions-Konferenz: Bilder und Berichte von Vertretern deutscher Missions- Gesellschaften (Basel: Verlag der Basler Missionsbuchhandlung, 1910). 109 Vgl. Fisch, R., Die bedrohte schwarze Rasse, in Evangelischer Heidenbote (1913), S. 168; Spode, H., »Die Anfänge der Suchthilfe im 19. Jahrhundert«, S. 3. 110 Vgl. Joh. Phil. Henkes Kritik in Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 26. 111 Ebd., S. 87. 112 Vgl. dazu Döpp, D., »Humanitäre Abstinenz oder Priorität des Geschäfts?«, S. 131; Fischer, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch, S. 393-396. 113 Tyrrell, I., Reforming the World, S. 132. 74 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz nachzugehen, jedoch legt etwa das International Committee for the Preven- tion of the Demoralisation of the Native Races by the Liquor Traffic114 einen solchen Austausch nahe. Dieses Komitee versammelte Vertreter aus den USA, Kanada, Belgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Holland, Russland, Frankreich und der Schweiz, wobei Letztere durch die noch zu diskutierenden Abstinenten Auguste Forel und Robert Hercod (1875-1953) vertreten wurde, sowie dem Pfarrer François Naef und dem Captain Alfred Bertrand, der der missionarischen Tätigkeit in Afrika nahestand.115 Aus die- sem Komitee formierte sich 1911 die Fédération Internationale pour la Pro- tection des Races Indigènes contre l’Alcoolisme, die als »Zentrum« der inter- nationalen Bewegung gegen den Alkoholhandel in den Kolonien galt.116 Bezeichnender weise gehörten dem dreiköpfigen Führungsgremium, beste- hend aus dem Bremer Missions direktor August Wilhelm Schreiber,117 dem bereits erwähnten Briten Dr. Charles Harford und dem französischen Ba- ron Joseph du Teil, zwei Missionsvertreter an. Gemeinsam mit der Norddeutschen Mission tat sich die Basler Mission durch ihre offiziellen Akte als alkoholgegnerische Gesellschaft hervor. Nicht zuletzt kommt die aktive Rolle der Missionsgesellschaft in Kamerun in der zeitlich weitreichenden Studie der Histori kerin Susan Diduk zur Be- deutung von Alkohol in dieser Region besonders deutlich zur Geltung.118 Als Verkünder einer vermeintlich überlegenen Kultur und Religion sahen

114 Gemäß ebd., S. 133, hatte Wilbur F. Crafts ein International Native Races Commit- tee gegründet, dem anscheinend nur Gruppierungen aus den USA und Großbri- tannien beigetreten sind. Daher ist nicht davon auszugehen, dass dies deckungs- gleich mit dem »International Committee« ist, das auf Deutsch manchmal als »internationales Schutzkomitee« bezeichnet wurde. 115 Vgl. NRLTUC, 8th Annual Report 1895 (London, 1895), S. 4; NRLTUC, 23rd Annual Report 1909, S. 4 & S. 16 ff. Zu Bertrand vgl. Steffen Gerber, T., »Bertrand, Alfred«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss. ch/textes/d/D28779.php [Stand: 11. 9. 2002]. 116 Vgl. Hercod, R., »Die Alkoholfrage in den Afrikanischen Kolonien (Eine ge- schichtliche Übersicht)«, Internationale Monatsschrift 4 /5 (1938), S. 150-158 (151). U.a. machte die Föderation eine Eingabe an die Brüsseler Konferenz von 1912 zur Revision des Spirituosenhandels, die aber am Veto aus Frankreich scheiterte, vgl. Schreiber, A.W., Zum Kampf gegen den afrikanischen Branntweinhandel […] (Bremen: J. Morgenbesser, 1912). 117 August Wilhelm Schreiber (1867-1945) war auch zugleich Direktor des Deutschen Verbandes zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels und Vertreter der deutschsprachigen Länder bei der Fédération Internationale pour la Protection des Races Indigènes contre l’Alcoolisme. 118 Vgl. Diduk, S., »European Alcohol, History, and the State in Cameroon«, African Studies Review 36, 1 (1993), S. 1-42 (8 f.). Auguste Forel als Botschafter 75 sich die Basler Missionsvertreter als berechtigte Kritiker der kolonialen Praxis und interve nier ten einige Male bei der deutschen kolonialen Ad- ministration, während Komitee-Mitglied Hermann Christ, selbst Grün- dungsmitglied der Blaukreuz-Sektion Basel sowie Mitglied der Gesellschaft der Schweizerischen Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus,119 den Alkoholhandel an verschiedenen alkoholgegnerischen Veranstaltungen an- klagte. Als etwa das IBAA 1925 eine vorbereitende Konferenz für das weitere alkoholgegnerische Vor gehen beim Völkerbund abhielt (siehe Kapitel 1.4), wurde es durch den Basler Missionar Rudolf Bürki mit Informationen ver- sorgt.120 Damit zeigte sich hier eine Kollaboration der evangelisch gepräg- ten mit der sozialhygienisch geprägten Alkoholgegnerschaft.

3. Auguste Forel als Botschafter der sozialhygienisch geprägten Abstinenzbewegung

Neben Robert Hercod, der als Leiter des IBAA die internationalen Kampa- gnen gegen den Alkohol orchestrierte, illustriert der Schweizer Psychiater Auguste Forel die internationale Orientierung der Schweizer Abstinenzbe- wegung besonders eindrucksvoll. Durch seinen bemerkenswerten Einsatz, sein ausgeprägtes Be har ren auf seinen Überzeugungen sowie durch seine Erfolge in der populärwissenschaftlichen Wissens vermittlung erreichte er unter den akademischen Fürsprechern der sozial hygienisch argumentieren- den Abstinenten Europas eine herausragende Präsenz.121 Zugleich erscheint Forel, der zwischen 1879-1897 als Direktor der »Irrenheilanstalt« Burghölzli fungierte, als wichtiger Knotenpunkt einer sich international vernetzenden Wissensgemeinschaft. Als »Seele« der Internationalen Kongresse gegen den Alkoho lis mus prägte er diese Veranstaltung,122 die mit wenigen Ausnahmen

119 Vgl. »Dr. Hermann Christ-Socin«, 32. Jahresbericht der Schweizerischen Zentral- stelle zur Bekämpfung des Alkoholismus 1933, S. I. 120 Siehe dazu Kapitel 5. 121 Neben seinen internationalen Vortragstourneen erlangte der Sozialreformer mit seinem 1905 erstmals erschienenen, provokativen Welt-Besteller Die sexuelle Frage internationale Bekanntheit; alleine bis 1928 wurde das Buch in 16 Sprachen über- setzt (vgl. Meier, R., August Forel, 1848-1931: Arzt, Naturforscher, Sozialreformer (Zürich: Berichthaus, Universität Zürich, 1986), S. 88-93). 122 Vgl. die Erklärung von Auguste Forel zur Verbesserung der Kongresse in der Internationale Monatsschrift 10 (1911), S. 380; die 1893 angenommenen Statuten (Internationale Monatsschrift 9 (1893), S. 274.); Max Gruber über Auguste Forel als »treibende Kraft« (Internationale Monatsschrift 10 (1905), S. 291); Hercod, R., »Forel als Alkoholgegner«, Internationale Monatsschrift 7 (1918), S. 158-164. 76 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz alle zwei Jahre durchgeführt wurde, nicht nur als aktiver Teilnehmer, son- dern auch drei Dekaden lang als Mitglied des Organisationskomitees. 123 Anhand der Figur Forels lassen sich sowohl das Netzwerk der sozialhygie- nisch geprägten Anti-Alkohol-Bewegung als auch deren zentrale inhaltli- che Positionen aufzeigen. Doch wie kam Forel überhaupt zur Abstinenz? Den eigenen Memoi- ren zufolge habe sich Forel bereits vor 1887 am auffälligen Alkoholkonsum seiner Patienten und Patientinnen gestört, hätte sich aber nicht vorstellen können, selbst abstinent zu leben. Geweckt worden sei sein Interesse für die Abstinenz erst durch den Schuhmacher Jakob Bosshardt (1853-1911), der im örtlichen Blaukreuz-Verein einige Patienten Forels, die der Psy- chiater für »unheilbar« gehalten hatte, nachhaltig von ihren Trinkgewohn- heiten abbrachte.124 Durch Bosshardt von der Notwendig keit überzeugt, als Arzt ein abstinentes Vorbild abzugeben, habe der Psychiater eine halb- jährige Verpflichtung zur persön lichen Abstinenz unterschrieben. In ver- schiedenen Rück blicken beschrieb Forel, wie er zunächst befürchtet habe, aufgrund des Verzichts auf den bis anhin täglich genossenen Wein Ge- sundheitseinbußen zu erleiden. Dabei ist unwesentlich, ob diese Erinne- rungen Forels der Wahrheit entsprachen oder eher als empathische Geste dienten, um sein Verständnis für diese offenbar verbreitete Ansicht aus- zudrücken: Beide Lesarten implizieren, dass der Wein in weiten Kreisen als »hygienisches« Nahrungs mittel galt.125 Vom festen Stellenwert der al- koholischen Getränke auf den Esstischen der Eidgenossen zeugte nicht zuletzt die in deutlicher Mehrheit angenommene Abstimmung über das »Schnaps monopol« von 1887, das zwar die besonders unter der Arbeiter-

123 Vgl. Proceedings Meeting International d’Anvers contre l’abus des boissons alcooliques 1885. Als erste Veranstaltung dieser Reihe gilt das im September 1885 in Brüssel abgehaltene Meeting International d’Anvers contre l’abus des boissons alcooliques, an der Mäßigkeits vereine wie der DVMG, das Blaue Kreuz, oder der Schweizer Verein gegen den Branntwein stärker vertreten waren als die Abstinenten, von denen nur wenige bekannte Guttempler, einige Vertreter der AACI sowie der British Society for the Study of Inebriety teilnahmen. 124 Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 126 ff. Der deutsche Historiker Hasso Spode geht davon aus, dass Forel die Abstinenz bereits aus angelsächsischen wissen- schaftlichen Publikationen kannte (vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 222). Zu Bosshardt vgl. »† J. Bosshardt«, Schweizer Abstinenzblätter 6 (1911), S. 32. 125 Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 128: »Ich hatte ja anfangs Mühe ge- nug, dem Hohn und dem Staunen meiner Kollegen und des Zürcher Publikums standzuhalten.« Neben den zahlreichen Erzählungen aus dem alkoholgegneri- schen Milieu legen auch die Statistiken diesen Schluss nahe (siehe: Eidgenössische Alkoholverwaltung, »Alkohol in Zahlen 2012«, S. 25). Auguste Forel als Botschafter 77 schaft beliebten Kartoffel- und Getreideschnäpse verteuerte, gleichzeitig aber gegorene Alkoholika begünstigte.126 Gegen diese dominante Unter- scheidung zwischen Gegorenem und Gebranntem wandte sich Forel, in- dem er seine Erfahrungen mit der Abstinenz als »Bekehrungserlebnis«127 beschrieb: Neben einer verstärkten Schaffenskraft schilderte er freimütig vom Ver schwin den diverser Leiden.128 Die dadurch propagierte Kau sa li- tätsbezie hung zwischen geänderter Kon sum gewohn heit und geändertem subjektiven Befinden war keine Novität im alkoholgegnerischen Diskurs. Entschei dend für Forels Stellung im alkoholgegnerischen Diskurs der Schweiz schien vielmehr seine Leistung, sich in diversen Foren Gehör ver- schafft zu haben. Im Mai 1887 erhielt Forel einen Brief des in Basel lehrenden Physio- logen Gustav von Bunge, der das Jahr zuvor mit seiner Antrittsvorlesung über Die Alkoholfrage an der Universität Basel für Furore gesorgt hatte.129 In diesem Schreiben forderte Bunge den Psychiater auf, sich öffentlich für die Abstinenz auszusprechen.130 Forel erklärte sich vorerst bloß bereit, im Herbst 1887 den 2. Internationalen Kongress gegen den Missbrauch geis- tiger Getränke in Zürich zu organisieren. Rückblickend erschien es Forel, als ob diese Veranstaltung ihm die Tragweite der »Alkoholfrage« verdeut- licht hatte:131 »Es wurde mir ein großartiges Feld der sozialen Hygiene offenbar, das bisher von den verschiedenen Glaubensarten allein annektiert worden war. Der Alkoholiker ist nicht der Sünder, den man mit Bekehrung zu Gott retten muss, er ist das Opfer der Blindheit und Unwissenheit sei- ner Mitmenschen und Vorfahren. Alkoholismus, soziale Frage, Psychi-

126 Vgl. Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, »Bundesge- setz betreffend gebrannte Wasser«, Bundesblatt Nr. 54 vom 30. Dezember 1886, S. 1309-1316; Auderset, J. und Moser, P., Rausch & Ordnung, S. 30-39. 127 Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 123. 128 Ebd., S. 127 f. 129 Siehe Kapitel 3.2 sowie Brändle, F. und Ritter H. J., Zum Wohl!, S. 57-73. 130 »Gustav von Bunge an Forel, 31. Mai 1887«, in: Forel, A., Briefe – Correspondance 1864-1927 (Bern: Huber, 1968), S. 197: »Wie ich mir habe sagen lassen, huldigen auch Sie, hochverehrter Herr College, dem Princip der völligen Enthaltung. Warum haben Sie dieses niemals öffentlich in einer Broschüre oder Zeitschrift ausgesprochen?! Sie würden damit doch unberechenbaren Nutzen stiften!« 131 Der Kongress sei aus Forels Sicht trotz Disputen mit dem von US-Brauereien be- zahlten Vertreter Gallus Thomann, der sich in den USA als neutraler Teilnehmer ausgab, gut verlaufen. Zur Gegendarstellung vgl. Thomann, G. (Hg.), The Second International Temperance Congress (Zurich, Switzerland: Cambridge Scholars Pub- lishing 2009 [1889]). 78 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

atrie, Strafrecht und Wissenschaft hängen durch intime Fäden untrenn- bar zusammen.«132

Damit formulierte der Psychiater nicht nur den breiten Anspruch der »so- zialen Hygiene«, zu welchem er sich berufen fühlte; er verband dies auch mit der »Medikalisierung« des »Alkoholikers«. Letzterer sollte nicht länger als »Sünder«, sondern als »Opfer« betrachtet werden. Diese Verschiebung von einem Laster- zu einem Krank heits konzept kulminiert im noch zu er- örternden Feld der »sozialen Hygiene«, womit bereits eine Verlagerung der Deutungs hegemonie angedeutet wird: weg von religiösen Akteuren, hin zu den Wissenschaften.133 Nach dem Kongress von 1887 entfaltete Forel eine bemerkenswerte Ak- tivität für eine sozialhygienische Deutung der Abstinenz, die sich anhand von fünf Stationen illustrieren lässt. Erstens gründete Forel die ärztlich ge- leitete Trinkerheilstätte Ellikon, deren medizinische Leitung auch außer- halb der Schweiz Anerkennung fand.134 Zweitens regte er 1890 zur Grün- dung des Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Alkoholgenusses an, der 1895 mit dem Deutschen Alkoholgegnerbund zum Internationalen Alkohol- gegnerbund fusionierte. Die Basis jenes internationalen Bundes sollte ge- mäß dem deutschen Historiker Heinrich Tappe in der Schweiz bleiben.135 Drittens war Forel Mitgründer der Internationalen Monatsschrift, die 1890 im Anschluss an die Anregung des finnischen Arztes A. A. Grantfelt wäh- rend des dritten Internationalen Kongresses in Christiana realisiert wurde. 1891 erschien die erste Ausgabe, mit Beiträgen in deutscher, französischer und englischer Sprache. Der einleiten de Artikel »Was wir wollen« bekräf- tigte den wissenschaftlichen und zugleich praktischen Anspruch der Zeit- schrift (»wozu ein Übel studieren, wenn man es nicht bekämpfen will«136),

132 Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 144. 133 Spode, H., »Der ›Europäische Aktionsplan Alkohol‹ und seine Vorläufer«, S. 300; Graeter, K., »August Forel zum Gedächtnis«, in Schweizer Abstinent 1931 (16). Zur Definition von Medikalisierung siehe Gusfield, »The Culture of Public Pro- blems«, S. 201-230. Vgl. dazu auch Conrad, P. und Schneider, J. W., Deviance and medicalization. 134 Vgl. Charlotte Gray in Internationale Monatsschrift 4 (1892), S. 99. 135 Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 327. 136 Das Internationale Büreau zur Bekämpfung der Trinksitten (Sörensen, T.; Forel, A.; Grantfelt, A. A.; Thorp, F.; Wagener, C.), »Was wir wollen«, Internationale Monatsschrift 1 (1891), S. 1-4 (3). Zum wissenschaftlichen Anspruch jener Zeit- schrift vgl. auch: Krabbe, W. R., Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform: Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Indus- trialisierungsperiode (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1974), S. 41. Auguste Forel als Botschafter 79 sowie die universelle, von Sprache oder Sitte unab hängige Gültigkeit der vertretenen Überzeugung: Es gehe darum, »die überall gültigen Wahrhei- ten ihres fremdartigen Gewandes zu entkleiden, um sie dem Charakter und den Sitten der in den Kampf noch nicht oder kaum erst eingetretenen Nationen anzu passen«.137 Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges waren fran- zösisch- und englischsprache Beiträge eher selten. Dies änderte sich nach der Wiederauferstehung der Monatsschrift 1922, und obschon auch in den folgenden zwei Jahrzehnten noch mehrheitlich deutschsprachige Beiträge erschie nen, wurden große Artikel stets dreisprachig zusammengefasst. Vor dem 20. Jahrhundert zeigte sich die fünfköpfige Herausgeberschaft dem Standpunkt einer »ernstgemeinte[n] Mäßigkeit« gegenüber offen und ak- zeptierte auch Beiträge von Kirchenvertretern. Unter den aufgeführten Mitwirkenden bestand mit sieben Personen ein gutes Drittel aus Pasto- ren, neben dem dreizehn Jahre als Herausgeber wirkenden Eduard Blocher (1870-1942) auch Arnold Bovet (1843-1903), der eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung des Blauen Kreuzes in der Deutschschweiz spielte. Auch wenn das kämpferische Motto »Wir wollen wissenschaftlich arbeiten«138 anläss- lich der Wiedereinführung der nun konsequent dreisprachigen Monats- schrift 1922 erneuert wurde, enthielt die Monatsschrift bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges regelmäßig von kirchlichen Würdenträgern ver- fasste Beiträge. Im Jahr 1892 gründete Forel viertens die erste dauerhafte Guttempler- loge in der Schweiz und sollte auch später an der Verbreitung des Gut- templerordens nach Ungarn, Italien, Belgien, Jugoslawien sowie nach Bul- garien maßgebend beteiligt sein.139 Für den Inter nationalen Kongress von Christiana 1890 strebte der zuvor ins Organisationskomitee gewählte Forel fünftens die Regelung an, dass religiöse Aussprüche oder Anrufungen aus

137 Das Internationale Büreau zur Bekämpfung der Trinksitten, »Was wir wollen«, S. 2. 138 Hercod, R., »An unsere Leser«, Internationale Monatsschrift 1 (1922), 4-6 (4). Ab 1922 erschien die Monatsschrift nach einer »materiellen Schwierigkeiten« ge- schuldeten Pause von zwei Jahren konsequent dreisprachig. Zu Eduard Blocher vgl. Marti-Weissenbach, K., »Blocher, Eduard«; zu Bovet vgl. Stuber, C., »Bovet, Arnold«, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls- dhs-dss.ch/textes/d/D10550.php [Stand: 7. 6. 2004]. 139 Robert Hercod in Internationale Monatsschrift, 5 (1931), S. 241: »Er [Forel] ist der eigentliche Gründer des Guttemplerordens in Belgien, in Ungarn, in Südslavien, in Bulgarien, in Italien gewesen.« Vgl. dazu Kamenov, N., »Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen. Die Anti-Alkoholbewegung in Bulgarien 1890-1940«, in Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, herausgegeben von Marung, S. und Naumann, K. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), S. 194-220. 80 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Gründen der religiösen Neutralität zu unterlassen seien. Dies stieß bei der Fraktion des Blauen Kreuzes zunächst auf wenig Verständnis.140 Noch fünf Jahre nach Einführung der Regelung hielt der Illustrierte Arbeiterfreund anlässlich eines Vergleichs zwischen den Internationalen Kongressen und der ›hauseigenen‹ internationalen Konferenz des Blauen Kreuzes fest, dass es »auffallend« sei, »wie die Leute, die den gleichen Feind bekämpfen, so verschiedene Waffen wählen können, dass ihr Erscheinen einen eigentli- chen Kontrast bildet.« Gleichzeitig wurde bedauert, dass die Blaukreuz- Vertreter nun ihr »mächtiges Bedürfnis« nach der »Anbetung Gottes« zu unterdrücken hätten.141 Trotz dieser Klagen nahmen die Internationalen Kongresse in den kommenden Austragungen nach der Wahrnehmung Fo- rels zusehends eine säkulare Identität an.142 In diesen Jahren betonte die sich um Bunge und Forel ausbildende »sozial hygienische« Abstinenzbewegung die Verknüpfung von »Trink- sitten«143 und Degenera tions theorien, die in zahlreichen Beiträgen wissen- schaftlich unterfüttert wurden. Die dabei propagierte eugenische Lesart der »Alkoholfrage« wurde besonders in Mittel-, Ost- und Südost europa, den Nordischen Ländern und im Südamerikanischen cono sur rezipiert.144 Die zusehends ›biopolitischen‹ Argumentationsmuster der »modernen Abstinenz bewegung«145 waren keine Erfindungen Forels und Bunges. Den

140 »3. Internationaler Kongress Christiana«, Illustrierter Arbeiterfreund 10 (1890), S. 40. Die dominante Stellung Forels wird auch im Bericht des permanenten Comites der internationalen Congresse gegen den Missbrauch geistiger Getränke über die Periode 1887-1890 [Archiv Sucht Schweiz, C01] deutlich, den Forel als Präsident dieses organisatorischen Gremiums verfasst hat. 141 »Internationale Konferenz des Blauen Kreuz«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1895), S. 36. 142 Vgl. Forel, A., »Die internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus auf dem europäischen Kontinent«, Internationale Monatsschrift 4 (1903), S. 105-113. 143 Auguste Forel verfestigte diesen Begriff mit seiner 1891 publizierten Rede Die Trinksitten, auch wenn etwa Eugen Bleuler 1908 ausführte, dass der Begriff »Trinkgewohnheiten« passender wäre (vgl. »Notizen«, Internationale Monatsschrift 2 (1908), S. 54). 144 Diese Arbeit entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zur globalen Anti- Alkohol-Bewegung, in welchem Sönke Bauck die Anti-Alkohol-Bewegung in Argentinien und Chile untersucht (vgl. Bauck, S., Nüchterne Staatsbürger für junge Nationen), während Nikolay Kamenov einen lokalen Schwerpunkt auf Bulgarien legt (vgl. Kamenov, N., »Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen. Die Anti- Alkohol-Bewegung in Bulgarien 1890-1940«). 145 Vgl. Blocher, E., »Der Kampf gegen den Alkohol in der Schweiz«, Internationale Monatsschrift 2 (1905), S. 33-49 (34); Gordon, E. The Anti-alcohol movement in Europe, S. 11. Auguste Forel als Botschafter 81 beiden Forschern kam aber der Verdienst zu, durch ihre Aktivität und ihr akademisches Renommee bereits bestehenden Denkfiguren zu einem säkula ren Status verholfen zu haben. Forel etwa tat dies, indem er haupt- sächlich abstinente Ärzte und Assistenzärzte wie Anton Delbrück (1862- 1944), Eugen Bleuler, Constantin von Monakow (1853-1930), Ludwig Frank (1863-1935), Wilhelm von Speyr (1852-1939), Carl Gustav Jung (1875- 1961) oder Albert Mahaim (1867-1925) einstellte.146 Zudem verfassten un- ter der Leitung Forels angehende Medizine rinnen und Mediziner wie Frie- derike Oberdieck, Jenny Koller und François Dizard147 Doktorarbeiten zum Themengebiet alkoholbedingter Gesund heitsschäden. Zusammen mit Bunge scharte Forel ver schie dene abstinente Studenten vereinigungen wie die Helvetia und die Libertas um sich.148 Die folglich noch klarer zu umreißende sozialhygienische Abstinenzbe- wegung verfes tigte dabei verschiedene Denkfiguren, die insbeson ders im akademischen deutsch sprachigen Alkohol- und Sucht-Diskurs viele nach- haltige Spuren hinterließen.149 Zwar stießen sozial hygienische Forderun- gen wie die Ablehnung der Verbin dung zwischen Abstinenz und Religion vorerst auf wenig öffentliche Zustimmung. Dennoch fanden ihre mit wis- senschaftlicher Autorität geadelten Anschauungen in einem internatio- nalen alkoholgegnerischen Netzwerk weite Verbreitung und ließen sogar mächti ge Mäßig keits vereinigungen wie das Blaue Kreuz oder den DVMG in den 1910er-Jahren vom Mäßigkeits standpunkt abrücken. In den folgen- den beiden Abschnitten soll diese sozial hygienische Strömung fassbar ge- macht werden.

Die sozialhygienisch geprägte Abstinenzbewegung

Die Historikerin Greta Jones hat aufgezeigt, dass unter dem Etikett von »Sozialhygiene« oder »social hygiene« je nach regionalem und zeitlichem Kontext verschiedene Reformen zur Hebung der »Volksgesundheit« propa-

146 Vgl. Meier, August Forel, 1848-1931: Arzt, Naturforscher, Sozialreformer, S. 74. Mit der Zuwendung Jungs zur Psychoanalyse sollte der Psychiater jedoch von seinen Abstinenzforderungen abweichen. 147 Vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben. S. 147; Dizard, F., Étude sur le morphinisme et son traitement par la suppression totale et définitive des narcotiques et des boissons alcooliques (Genf: W. Kündig, 1893). 148 Vgl. Polivka, H., Wider den Strom. Abstinente Abstinentenverbindungen in der Schweiz; Brändle, F. und Ritter H. J.; Zum Wohl!, S. 65 f. 149 Vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 221-228. Auch die über 500 Seiten um- fassende Bibliographie der gesamten wissenschaftlichen Literatur über den Alkohol und den Alkoholismus, herausgegeben von Emil Abderhalden, bestärkt diesen Eindruck. 82 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz giert wurden. So fungierte der Begriff in den USA um 1900 hauptsäch- lich als Euphemismus für die Regulierung von Sexualität, während in Deutschland und England damit hauptsächlich eugenische Motive vorge- bracht wurden.150 Als gemeinsames Merkmal verbanden diese Ansichten Ver er bungs lehren mit gesell schaft lichen Steuerungstechniken, die aus den Hygiene-Refor men ent wickelt wurden und sich konstant auf die Prämisse eines Zusammen hanges zwischen Gesundheit und ökonomi scher Effizienz beriefen.151 Damit umfasste jene Disziplin eine normative und eine prak- tische Dimension.152 Im deutschsprachigen Raum gilt Alfred Grotjahn als Begründer der Sozial hygiene, jedoch hatten bereits vor 1900 Gelehrte wie etwa Max von Pettenkoffer den Begriff der »sozialen Hygiene« verwendet.153 Aus Sicht der sozialhygienisch geprägten Abstinenzbewegung wurde der 1887 durch Forel organi sierte Internationale Kongress rück blickend zur Geburts-

150 So distanzierte sich etwa der englische Sozialhygieniker Havelock Ellis von den »darwinistischen« Schlüssen Auguste Forels oder Dumeng Bezzolas (vgl. Ellis, H., The Task of Social Hygiene (London, New York: Houghton Mifflin company, 1912), S. 34 [Fußnote 30]. 151 Jones, G., Social Hygiene in twentieth-century Britain, S. 10. Jones’ Ausführungen decken sich mit Allan Hunts Vergleich zwischen den sozialhygienischen Ausprä- gungen in den USA und England. Nach Hunt hätten in den USA die Schwer- punkte auf Geschlechtskrankheiten, »sex education« und »white slave traffic« (»Mädchenhandel«) gelegen, wobei Verbindungen zu feministischen Strömun- gen sowie starke Ressentiments gegen Städte und Immigranten aufgefallen seien. Demgegenüber hoben britische Vertreterinnen und Vertreter der Sozialhygiene die Bedeutung der Behandlungsansätze sowie die Idee einer Degeneration der Rasse stärker hervor (vgl. Hunt, A., Governing Morals: A Social History of Moral Regulation, herausgegeben von Arup, C., Chanock, M. und O’Malley, P., Cam- bridge Studies in Law and Society (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), S. 64 & S. 106-109). 152 Wilfried Heinzelmann definiert die Sozialhygiene als »Wissenschaft und Praxis, […] möglichst alle Antagonismen in der Gesellschaft und umgebender Kultur- welt gegen Gesundheit aus dem Wege zu räumen, letztlich auf Bevölkerungsbasis eine gesunde Gesell schaft zu schaffen und von daher das Recht des Einzelnen auf Gesundheit und öffentlicher Krankheitsverhütung zusammen mit entsprechen- den Wertevorstellungen in der Gesellschaft zu verankern« (Heinzelmann, W., Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft, S. 35). 153 Vgl. Forel, A., »Über Ziele und Aufgaben des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprach gebietes«, 11 (1896), S. 321-323; Eckart, W. U., »Sozialhygiene; Sozialmedizin«; Heinzelmann, W., Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft: die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933 – eine Geschichte in sieben Profilen (Bielefeld: transcript, 2009); Thissen, R., Die Entwicklung der Terminologie auf dem Gebiet der Sozialhygiene und Sozialmedizin im deutschen Sprachgebiet bis 1930 (Köln: Westdeutscher Verlag, 1969). Auguste Forel als Botschafter 83 stunde der »sozial-hygienische[n] Behandlung der Alkoholfrage«154 stili- siert. Tatsächlich häuften sich darauf Postulate, die Vererbungs lehren mit bevölkerungspolitischer Regulierung verbanden. Allerdings tauchte die früheste Selbstbezeichnung mit dem Adjektiv »sozialhygienisch« in der In- ternationalen Monatsschrift erst 1896 auf – und schien sich erst nach 1900 als regelmäßig verwendete Selbst bezeichnung etabliert zu haben.155 Dabei wurde Grotjahns ›moderate‹ Konzeption von Sozialhygiene, welche die Abstinenzbewegung mehrmals in die Nähe des Fanatismus rückte, abge- lehnt.156 Im Zentrum dieser abstinenten Strömung, die mit den »Waffen der Wissenschaft«157 gegen permissive »Trinksitten« zu kämpfen gedachte, stand der durch Auguste Forel angeregte, 1890 unter anderem durch Al- fred Ploetz (1860-1940) und Otto Lang (1863-1936) gegründete Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses. Über dessen Ziel und Perspektive erteilte §1 der Statuten folgen dermaßen Auskunft: »Der Verein bekämpft einzig vom hygienischen, sittlichen und volkswirtschaft lichen Standpunkte aus den Alkoholgenuss als einen Faktor, der die jetzigen und die späteren Generationen in Bezug auf Gesundheit, geistiges und materielles Wohlbefinden aufs Äußerste schädigt.«158 Durch den Miteinbezug von normativen und volkswirtschaftlichen Aspekten stimmte die Stoßrichtung dieser Perspektive mit aktuellen Defi- nitionen von Sozialhygiene159 weit gehend überein – mit der Abweichung, dass sie sich auf den Gegenstand des Alkoholgenusses beschränkte. Die fol- genden Ausführungen verdeutlichen zudem, dass sich der »sittliche« Stand-

154 Blocher, E., »Der Kampf gegen den Alkohol in der Schweiz«, Internationale Mo- natsschrift 2 (1905), S. 33-49 (34); Forel, A., »Die internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus auf dem europäischen Kontinent«, Internationale Monatsschrift 4 (1903), S. 105-113 (106). 155 Vgl. Forel, A., »Über Ziele und Aufgaben des Vereins abstinenter Ärzte des deut- schen Sprachgebietes«, Internationale Monatsschrift 11 (1896), S. 321-325 (321). 156 Vgl. Holitscher, A., »Die Abstinenz als sittliche Forderung«, Internationale Mo- natsschrift 2 (1905), S. 55 ff.; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 212. 157 Asmussen, G., Der Guttempler-Orden I. O. G. T. und sein Wirken in Deutschland (Hamburg: Gebrüder Lüdcking, 1903), S. 64. 158 §1 der Statuten des Vereins zitiert nach Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen: Ein Vortrag von Dr. med August Forel, Direktor der Irrenanstalt Burghölzli, Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich, Ganz umgearbeitete, zweite Auflage (Basel: Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses, L Reinhardt, Universitätsdruckerei, 1895), S. 25. Forel sei von der Gründung am 22. Januar 1890 überrascht worden (vgl. auch Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 146). 159 Vgl. Heinzelmann, W., Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft, S. 35. 84 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz punkt maßgeblich auf biopolitische Argumentationsmuster abstützte. Sitt- lichkeit wurde also insofern funktionalistisch ausgelegt, als dass sie ein der gesell schaftlichen Produktivität und Stabilität dienliches Sexualverhalten befördern sollte.160 Da die Mitglieder aus dem Umkreis des akademisch geprägten Ver- eins zur Bekämpfung des Alkoholgenusses, der 1891 »international« wurde und 1895 mit dem deutschen Alkoholgegnerbund zum Internatio na len Al- koholgegnerbund fusionierte, sich noch nach 1900 regelmäßig als »sozial- hygienisch« beschrieben, werden sie in dieser Arbeit trotz ihrer Distanz zu Grotjahn als »Sozialhygienikerinnen« und »Sozial hygieniker« bezeich- net.161 Am prägnantesten fanden sich ihre Ansichten in der mehrsprachi- gen Internationalen Monatsschrift als Kontinentaleuropas prominenteste Alkohol gegner zeitschrift mit Anspruch auf Wissenschaft lichkeit, vielfach leicht abgeschwächt aber auch in den Berichten über die Inter nationalen Kongresse.162 Viele Inhalte der Monatsschrift wurden überdies durch die Alkoholgegnerbund- Zeitschrift Freiheit und über ihr Pendant in französi- scher Sprache, L’Abstinence, in vereinfachter Form wiedergegeben. Letz- tere redigierte der Linguist Robert Hercod, der ab 1907 als Leiter des IBAA zusehends die Organisation der internationalen Kongresse übernahm und bereits ab 1901 zusammen mit Immanuel Gonser (1865-1941) vom DVMG die eingereichten Vorträge vorselektierte.163 Trotz der vielen Verbindungen des IBAA zum DVMG schien Ersteres dem Guttemplerorden sowie dem 1896 gegründeten Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebiets noch etwas näherzustehen. Im Vorstand des Ärztevereins saßen neben Forel weitere namhafte Ärzte wie Emil Kraepelin (1856-1926), Paul Julius Möbius (1853- 1907) oder Ernst Rüdin (1874-1952), während das Spektrum der Mitglie- der vom Sexualforscher Magnus Hirschfeld bis hin zum Obwaldner Na- tionalrat Peter Ming (1851-1924) reichte, der aufgrund seiner Initiative zur landwirt schaftlichen Verwertung von Jauche als »Güllepumpepeter« be-

160 Zur Biopolitik vgl. Foucault, M., Sexualität und Wahrheit, Bd. I (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977), insbesondere S. 132-140. 161 Auch Rolf Trechsel folgte dieser Selbstbezeichnung, vgl. Trechsel, R., Die Ge- schichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 28. 1905 trennte sich der Deut- sche Fraktion des Alkoholgegnerbunds vom internationalen Alkoholgegnerbund ab (vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 327). 162 Forel, A., »Die internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus auf dem euro- päischen Kontinent«, Internationale Monatsschrift 4 (1903), S. 105-113 (108). 163 Vgl. Wlassak, R., »Vom XIII. internationalen Kongress gegen den Alkoholismus«, Internationale Monatsschrift 12 (1901) S. 378-381 (380). Auguste Forel als Botschafter 85 kannt war.164 Weiter zeugen die untersuchten Quellen von viel schichtigen Verbindungen inhaltlicher und personeller Art zum Schweizerischen Bund abstinenter Lehrer, der ab 1909 auch einer inter natio nalen Union ange- schlossen war,165 zum SBaF sowie mit Abstrichen auch zum Sozialistischen Abstinentenbund (SAB). In diesen Verbänden waren die sozial hygie nischen Ausprägungen nicht immer derart deutlich fassbar wie beim AGB, der Schweizer Großloge des Guttemplerordens, oder den abstinenten Ärz- ten. Trotzdem folgte die Mehrheit ihrer Argumentationen dem natur- wissenschaftlich-funktionalis tischen Weltbild des AGB. Die gegenseiti- gen Verflechtungen werden über verschiedene Doppelmitgliedschaften, gemein same Aktionen sowie gegenseitigen Zuspruch in den Zeitschriften deutlich.166 Diese Vereinigungen teilten die Gemeinsamkeit, sich auf der linken Seite des politischen Spektrums zu verorten und totale Alkohol- Abstinenz für alle – zumeist mit globalem Anspruch – als Akt der Solidari- tät den Mitmenschen gegenüber zu propagieren.167 In martialischer Prosa artikulier ten die Zeitschriften jener Verbände eine Radikalität, die sie zu- gleich mit Modernität und Fortschrittlichkeit verban den.

Zur Charakterisierung der sozialhygienisch geprägten Abstinenzbewegung

Um inhaltliche Eigenheiten dieses sozialhygienischen Kollektivs enger zu fassen, lohnt sich ein Blick auf Peter Haas’ Konzept der epistemic com- munity oder Wissensgemeinschaft. Damit umschreibt der Politikwissen- schaftler ein professionalisiertes, transnationales Experten-Kollektiv, das handlungsrelevante Überzeugungen zur Gültigkeit spezifischer Normen,

164 Vgl. Delbrück, A., »Bericht über die 1. Jahresversammlung«, Internationale Mo- natsschrift 12 (1896), S. 380-384; von Flüe, N., »Ming, Peter«, in Historisches Lexi- kon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D4611. php [Stand: 10. 12. 2007]. 165 Vgl. Javet, M., »Schweizer Verein abstinenter Lehrer und Lehrerinnen«, Internati- onale Monatsschrift 1 (1926), S. 17-22; Internationale Monatsschrift 5 (1925), S. 240 f. Vgl. auch: Spode, Macht der Trunkenheit, S. 224. 166 Vgl. Ibid; Merki, C. M., »Zur neueren Geschichte der psychoaktiven Substanzen«, S. 18 f. 167 Jedoch waren sozialistische Positionen innerhalb der sozialhygienischen Kollek- tive umstritten, was etwa der Konflikt um die sozialistischen Guttemplerlogen illustriert (vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 68.). 86 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Kausalzusammen hängen und Pro blem bewälti gungs strategien verbreitet.168 Auch wenn diese Kriterien das Aufzeigen verschiedener Prozesse nicht er- leichtern – besonders stechen hier die sich zuweilen widersprechenden Zu- schreibungen von Expertise ins Auge – bieten sie doch ein hilfreiches Ras- ter, um die Charakteristika der sozialhygienischen Wissensgemeinschaft genauer zu benennen und deutliche sowie fließende Grenzen zu den nahe- stehenden Kollektiven herauszuarbeiten. Bereits erwähnt wurde erstens das Lösungsverständnis der Abstinenz als »konsequente« Lösung für zahlreiche Aspekte des sozialen Elends. Da jeder »unmäßige Trinker« zuvor einmal ein »mäßiger« Alkoholkon- sument gewesen sei, kritisierten die sozial hygie nischen Abstinen ten die dem »Nerven gift« Alkohol von »mäßiger« Seite entgegen gebrachte Tole- ranz als »Halbheit«.169 Dies untermauerten sie mit einer Prämisse, die für die Krankheits konzeption von Alkoholismus zentral ist: Exzessiv Trin- kende entscheiden sich nicht willentlich zur Unmäßigkeit, sondern glei- ten besonders vor dem Hintergrund permissiver Trinksitten unmerklich in eine Alkoholabhängigkeit ab. Folglich sollten »Trinker« einerseits für ihre Abhängigkeit nicht verantwortlich gemacht werden, andererseits stand aus dieser Perspektive die gesamte Gesellschaft in der Verant wortung, mit- tels Prohibition gegen die Ausbreitung dieser »heimlichen Krank heit«170 vorzugehen. Mit dem primär präventiven Ansatz, die per mis siven Trink- sitten durch abstinente Lebensstile zu verändern, glaubten die Akteure, eine Hauptursache des sozialen Elends effektiv an der Wurzel anzupacken. Mit der normativen Überzeugung, dass das Individuum zum Wohle der Gesellschaft auf Alkohol verzichten müsse, lag ein Unterschied zu prominenten Sozialhygienikern wie Grotjahn oder Havellock Ellis (1859- 1939) vor, die sich beide gegen die Prohibition aussprachen.171 Grotjahn,

168 Vgl. Haas, P. M., »Introduction«, in Haas, P. M. (Hg.), Knowledge, Power and In- ternational Policy Coordination (Massachusetts 1992) S. 3 f. 169 Vgl. etwa Hercod, R., »Préparation du personnel enseignant à la lutte antialcoo- lique dans l’école et hors de l’école: Sociétés de tempérance entre instituteurs«, in VIIe congrès international contre l’abus des boissons alcooliques, herausgegeben von Legrain, P. M. (Paris: A. Coueslant, 1899), S. 177-182; Internationale Monatsschrift 1 (1927), S. 6. 170 Vgl. Wiesemann, C., Die heimliche Krankheit. 171 Bei Ellis’ Konzeption von Sozialhygiene nahm Alkoholismus nur wenig Platz ein, Ellis wandte sich auch zurückhaltend gegen Bezzolas Theorie der »Rauschkinder« (die folgend vorgestellt wird). Ellis hielt die Erklärung, dass der Alkoholrausch eher »defective members of the community« sexuelle Aktivität ermögliche, als dass er deren Keimzelle schädige, für wahrscheinlicher (vgl. Ellis, H., The Task of Social Hygiene, S. 43 & S. 279 f.). Auguste Forel als Botschafter 87 der für den um 1900 bedeutenden Mäßigkeits verein DVMG alkoholgegne- rische Auf klärungs schriften veröf fentlichte,172 hatte als erster Ordinarius des Fachgebiets der »sozialen Hygiene« Bekanntheit erlangt. Ihm zufolge durften die »Ent halt sam keits fanatiker« die Abstinenz erst als »sitt liche For- derung« stellen, wenn die Schädlichkeit kleiner Alkoholmengen bewiesen sei. Indem er den Alkoholismus eher als Folge denn als Ursache sozialer Bedingungen beschrieb und den Genuss »als integrierenden Bestandteil des organischen Seins«173 verstand, wandte er sich gegen ein monokausa- les Erklä rungs modell. Auch legte er ein Maß fest, um zwischen mäßigem und unmäßigem Alkoholgenuss zu unterscheiden: Erwachsenen Männern empfahl er, täglich nicht mehr als einen Liter Bier oder einen halben Liter Wein zu konsumieren. Sozialhygienische Abstinente griffen diese Maßre- gel per Hinweis auf individuell unterschiedlich ausgeprägte Verträglichkeit von Alkohol an und fügten warnend hinzu, dass die trinkende Geselligkeit der »Mehrheit« eine suchtgefährdete »Minderheit« in ihr Verderben füh- re.174 Daher könne nicht trennscharf zwischen maßvollem Gebrauch von Alkohol und unmäßigem Missbrauch unterschieden werden, wie Forel be- reits 1891 ausgeführt hatte: »Les uns croient que l’alcool en lui-même est utile comme boisson et que l’abus seul doit être combattu. Appelons les modérées. Les autres croient que les boissons alcooliques sont inutiles et ne peuvent que nu- ire. Ils croient en outre que l’abus ne peut être séparé de l’usage, que toutes les tentatives de modération n’ont pas obtenu de résultat pratique notable et demandent l’abstinence totale et même la prohibition. Ap- pelons les abstinents.«175 Diese Überzeugung wurde in den sozialhygienischen Foren oft artikuliert, war aber selbst in Abstinenzvereinen nicht vollkommen unbestritten. So wollten einige Guttempler logen zeitweise das schwachalkoholische Dünn- bier tolerieren, was in Deutschland zu einer Abspaltung und im Schweizer

172 Vgl. allen voran Grotjahn, A., Alkohol und Arbeitsstätte (Berlin: Mäßigkeits-Ver- lag, 1903). 173 Grotjahn, A., »Alkoholismus«, in Handwörterbuch der sozialen Hygiene, heraus- gegeben von Grotjahn, A. und Kaup, I. (Leipzig: F. C. W. Vogel, 1912), S. 13. 174 Vgl. dazu etwa das Schwimmer-Beispiel in Forel, A., Abstinenz oder Mäßigkeit? (Wiesbaden: Bergmann, 1910), das im kommenden Kapitel besprochen wird. 175 Forel, A., »Der neutrale Charakter unserer Kongresse«, Internationale Monats- schrift 1 (1891), S. 4-9 (7), Hervorhebungen i. O. 88 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Abstinent besonders im Jahr 1908 zu einer lebhaften Debatte führte.176 Den- noch dominierte in dieser abstinent-sozial hygie nischen Wissens gemein- schaft die Ansicht, dass die Abstinenz der gesamten Bevölkerung die einzige konsequente Prävention gegen die Ausbreitung des Alkoholismus darstelle. Demnach beschränkte die gesellschaftliche Verantwortung eines Individu- ums dessen Recht auf Trunkenheit radikal. Dabei dominierte das Motiv des ständigen Kampfs gegen eine Mehr- heit von medizinischen Autoritäten, die einen maßvollen Alkoholkonsum befürworteten. Rückblickend wurde in der Schweiz eine »Heldenzeit der Abstinenzbewegung« beschworen, die vermut lich von Bunges Antritts- vorlesung Die Alkoholfrage von 1886 bis zum Aufgehen des ursprünglich sozialhygienisch geprägten »Abstinenzsekretariats« in der staatlich subven- tionierten Schweizerischen Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus 1914 währte. Die über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg von Guttemplern geleitete Zentralstelle hatte auch die Mäßigkeitsvereinigun- gen der Schweiz zu vertreten.177 Diese Einbindung fiel zeitlich mit einer Abnahme der besonders zwischen 1902 und 1912 heftigen Feindseligkei- ten zwischen Abstinenten und Mäßigen zusammen. In der Schweiz war folglich eine Annäherung zwischen dem offiziell auf dem Mäßigkeits- standpunkt beharrenden Blauen Kreuz und den Sozialhygienikern und Sozialhygienikerinnen zugunsten der Letzteren zu verzeichnen.178 Jedoch blieb die Kampfmetapher sowohl gegen das »Braukapital« als auch gegen den Genuss als Selbstzweck bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges präsent. Die Zentralstelle, die oft auch nach 1914 noch als »Abstinenz- sekretariat« bezeichnet wurde, galt als »Waffenschmiede«;179 der jährlich abgehaltene Abstinententag als »Heerschau«.180 Die als »Soldaten« bezeich- neten Guttempler wurden darüber belehrt, dass ein »höheres Kampfes ziel« einen »schöneren Kampf«181 bedeute und dass »im Opfer der Gegenwart« der »Sieg der Zukunft« leuchte.182 Die Losung des Kampfes enthielt somit

176 Alleine im Jahr 1908 erschienen im Schweizer Abstinent sieben Beiträge zu dieser Debatte. 177 Sowohl Robert Hercod als auch Max Oettli und J. Odermatt waren Guttempler. 178 Auch der DVMG, der die Enthaltsamkeit besonders während der ersten Jahre nach dem Führungsantritt des deutschen Bakteriologen Carl Fränkel ab 1902 radikal ablehnte, näherte sich nach dem 2. Weltkrieg den Abstinenten an. 179 »Das Schnapsverbot«, Schweizer Abstinent 15 /16 (1917), S. 30. 180 Vgl. »Der 3. Deutsche Abstinenten-Tag Dresden«, Schweizerische Abstinenzblätter 7 (1905), S. 39. 181 Sch., A., »Kämpfer«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1918), S. 13. 182 Martig, S., »Opferbereitschaft«, Schweizer Abstinent 21 (1936), S. 91. Stephan Mar- tig war ein protestantischer Pfarrer. Auguste Forel als Botschafter 89 eine Auf forderung zu gegenseitiger Hilfe und solidarischer Einheit. Da- bei betonten die Akteure, dem Motto »Taten statt Worte« folgend, den praktisch- präventiven Aspekt ihres Handelns. Indem sie ihren Aktivismus an das Ideologem der Natürlichkeit zurückbanden und ihn als »echte Le- bensbejahung« auslegten, rückten sie in die Nähe verschie dens ter Lebens- reform-Bewegungen.183 In Analogie zu den Muskeln verstand etwa Forel das Gehirn als einen Apparat, der ohne konstantes Training zu schrumpfen drohe. Aus dem »allgemeinen Naturgesetz, dass alles Unthätige schrumpft und verkommt, d. h. vom Thätigen überwuchert wird«,184 leitete der Hirn- forscher die Forderung nach steter täglicher und vielseitiger Arbeit ab. Obwohl sich die abstinenten Sozial hygieniker und Sozialhygienikerinnen stets als Gegensatz zu religiösen »Muckern« inszenierten, waren auch bei ihnen Fleiß und Disziplin zentrale Schlüssel wörter ihres Optimismus.185 Die propagierte Überlegenheit der Abstinenz über die Mäßigkeit wurde zweitens durch eine szientistische Auffassung zur Gültigkeit von Aus- sagen und Kausalzusammenhängen untermauert. Die wissenschaft liche Identität der sozial hygie ni schen Bewegung wurde durch den Anspruch betont, Seinsaussagen unabhängig von »metaphy sischen Dog men« der Religionen aufzustellen. Gefordert wurde eine Hinwendung zur durch biomedi zinische Konventionen gedeuteten Empirie, die vor dem Hin- tergrund eines ausgeprägten genetischen Determinis mus gedeutet wurde. Der Fokus auf den leicht vermittelbaren Zusammenhang von Alkohol und Degeneration half den Graben zwischen ›wissenschaftlichen Experten‹ und lebens reformerischen ›Laien‹ zu über brücken. Dazu veröffentlichten die Zeitschriften der abstinenten Wissensgemein schaft um die Jahrhundert- wende zahlreiche Beiträge.186 Bekannt war etwa Dumeng Bezzolas (1868-

183 Die Nähe zur Lebensreform wird im Kapitel 3 weiter ausgeführt. Bisherige Stu- dien zu Sozialhygiene scheinen diesen lebens reformerischen Einschlag aufgrund der Reduktion von Sozialhygiene auf die wissenschaftliche Disziplin zu übersehen (vgl. Heinzelmann, Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft; Thissen, Die Ent- wicklung der Terminologie auf dem Gebiet der Sozialhygiene und Sozialmedizin im deutschen Sprachgebiet bis 1930). 184 Forel, A., »Alkohol und soziales Elend«, Internationale Monatsschrift 7 (1894), S. 204-216 (208). 185 Vgl. Forel, A., »Nervenhygiene und Glück«, Internationale Monatsschrift 11 (1893), S. 321-326 (323). 186 Vgl. Spode, »Der ›Europäische Aktionsplan Alkohol‹ und seine Vorläufer«, S. 297. Zum Graben siehe Huerkamp, C., »Medizinische Lebensreformen im späten 19. Jahrhundert: Die Naturheilbewegung in Deutschland als Protest gegen die naturwissenschaftliche Universitätsmedizin«, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 158-182. 90 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

1936) Studie über sogenannte »Rauschkinder«.187 Darin stellte der Bünd- ner jeweils neun Monate nach Fasnacht und Weinlese einen signifikanten Anstieg an »schwachsinnigen« Neugeborenen fest. Der Kinderarzt Rudolf Demme (1836-1892) untersuchte spezifisch die Nachkommenschaft trin- kender Väter auf deren nicht weiter spezifizierte »Normalität« hin. Von den untersuchten 57 Kindern qualifizierte der Arzt nur deren zwei als »normal«, während bei der ›nüchternen‹ Kontrollgruppe 50 von 61 Nach- kommen seiner Norm entsprachen.188 Hatte Demme 1891 mit seinem Fo- kus auf kinderreiche Familien sozialdarwinistische Ängste transportiert, so stellte Edouard Bertholet 1913 nach aufwendigen Hodenuntersuchungen von Trinkern und Abstinenten die Zeugungs fähigkeit starker Alkoholkon- sumenten infrage.189 Die Gemeinsamkeit dieser Studien war, dass sie sicht- bare körperliche Ausprägungen oder individuel les Verhalten als patholo- gisch klassifizierten und im Hinblick auf eine erwartete Schädigung durch den Alkoholkonsum quantifi zierten. Diese »malevolence assumption«190 wurde überdies von Thesen be- stärkt, die auf biologische Prozesse abzielten. In den späten 1890er-Jahren berichteten alkohol gegnerische Zeitschriften mehrfach über die Seeigel- Experimente von Heinrich Ernst Ziegler und Hermann Fühner. Die For- scher hatten festgestellt, dass Seeigelembryonen bei Zugabe von Alko- hol zum gewohnten Wasser Entwicklungsstörungen erlitten.191 Näher am Mensch war die Untersuchung des Finnen Taav Laitinen, der nach einer vergleichenden Analyse menschlichen Blutes den Abstinenten eine erhöhte Immunität gegen Krankheiten zuschrieb.192 Aufgrund der biologistischen

187 Siehe Forel, A., Alkohol, Vererbung und Sexualleben (Berlin: Dt. Arbeiter-Absti- nenten-Bund, 1905), S. 14. Dumeng Bezzola (1868-1936) war ein im Engadin frei praktizierender Psychotherapeut. 188 Demme, R., Über den Einfluss des Alkohols auf den Organismus des Kindes (Enke, 1891). 189 Bertholet, E., Die Wirkung des chronischen Alkoholismus auf die Organe des Men- schen, insbesondere auf die Geschlechtsdrüsen (Mimir-Verlag für deutsche Kultur und soziale Hygiene, 1913). 190 Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems«, S. 218. 191 Bei einem Alkoholanteil von 1  beobachteten die Forscher eine Verlang samung des Wachstums, bei 2  erste »Monstro sitäten« und bei 4  die voll ständige Hem- mung der Entwicklung. Vgl. Ziegler, H. E., Über die Einwirkung des Alkohols auf die Entwickelung der Seeigel (G. Thieme, 1903); Fühner, H., »Über die Einwirkung verschiedener Alkohole auf die Entwicklung der Seeigel«, Naunyn-Schmiedeberg’s Archives of Pharmacology 52, no. 1-2 (1904). Auf ähnliche Resultate waren auch die Studien von Hodge, Combemelle und Laitinen gekommen. 192 Laitinen, T., »The Influence of alcohol on immunity«, British Journal of Inebriety 7 (1909), S. 61-106. Auguste Forel als Botschafter 91

Tendenz derartiger Forschun gen überrascht die auffallende Eingebunden- heit von Vertretern der Rassen hygiene in diesen abstinenten Foren weni- ger. Wilhelm Schallmayer (1857-1919) oder Alfred Ploetz tauchten in den sozialhygienischen Zeitschriften immer wieder auf, Ernst Rüdin wurde 1899 internationaler Central präsident des AGB. In der angelsächsischen Außenwahrnehmung um 1900 galt Emil Kraepelin als Stellvertreter für die fortschrittliche kontinental europäische Forschung in Bezug auf die Bezie- hungen zwischen Alkohol und dem Nervensystem.193 Die teilweise engen Kontakte zwischen der »Forel-Schule« und den Pionieren der Rassenhygi- ene verwischten die Grenzen zwischen Sozial- und Rassenhygiene. Erstere bemühte sich eher um die Verbesserung des Phänotyps der Bevölkerung, während Letztere auf eine Verbesserung des Genotyps abzielte.194 Mitun- ter aufgrund der ab den 1880er-Jahren sinkenden Überzeugungskraft des im sozialreformerischen Diskurs populären Lamarckismus, bemühten sich viele Rassenhygieniker um eine Trennung dieser Fachgebiete. Jakob Tanner beschreibt wie Forels neo-lamarckistische Theorie der Blastoph- thorie195 als Versuch, beide Richtungen miteinander zu verbinden.196 Den- noch fand Forels Auffassung, die Rassenhygiene als Bestandteil der Sozi- alhygiene zu betrachten, wenig Bestärkung in den untersuchten Medien. Die »rassen«- und sozialhygienische Aufmerksamkeit galt hauptsäch- lich den Bevölkerungs gruppen, die den größten Anteil des Gesellschafts- körpers stellten: Einerseits richteten sich die Reformbestrebungen an die Arbeiterschaft, andererseits an die Frauen, deren Bedeutung in Erziehung und Reproduktion hervorgehoben wurde. Der reformerische Fokus auf die ›arbeitenden Klassen‹ war an und für sich kein neues Phänomen und

193 Vgl. German Sims Woodhead, »Scientific Conclusions already established con- cerning Alcohol«, World’s Temperance Congress 1900, S. 132-140 (138). Woodhead war Professor für Pathologie an der University of Cambridge und Mitwirkender bei der Internationalen Monatsschrift. Zu Kraepelins Anteil an der Anti-Alkohol- Bewegung vgl. Lengwiler, M., »Im Zeichen der Degeneration: Psychiatrie und internationale Abstinenzbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert«, in Biopoli- tik und Sittlichkeitsreform: Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880- 1950, herausgegeben von Tschurenev, J., Spöring, F. und Große, J. (Frankfurt, New York: Campus, 2014), S. 85-110. 194 Vgl. Tanner, J., »Eugenik und Rassenhygiene in Wissenschaft und Politik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert«, S. 114. 195 Zur Blastophthorie vgl. Kapitel 2. 196 Vgl. dazu Tanner, J., »›Keimgifte‹ und ›Rassendegeneration‹: Zum Drogendiskurs und den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Eugenik«, ITINERA, All- gemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz, Fasc. 21 (1999), S. 249-258 (257). 92 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz ließ sich auch bei religiös geprägten Anti-Alkohol-Verbänden feststellen. Während religiöse Vereine letztlich jedoch auf die Rettung von einzel- nen Seelen abzielten, werteten viele sozialhygienische Beiträge die bevöl- kerungsreiche Schicht der Arbeiter zur wichtigsten genetischen Träger- schaft des zukünftigen Gesellschaftskörpers auf. Dadurch unterschieden sich die abstinenten Sozialhygieniker und Sozialhygienikerinnen aus dem deutsch sprachigen Raum von den tragenden sozialhygienischen Akteuren Englands. Letztere lokalisierte Greta Jones hauptsächlich in der gebilde- ten Mittelschicht, die sich um eine scharfe Abgrenzung gegenüber der Ar- beiterschaft sowie um eine Legitimation der bestehenden sozialen Hierar- chien bemüht habe.197 Demgegenüber waren im deutsch sprachigen Raum zwar wichtige Verbände der sozialhygienischen Abstinenzbewegung von Akteuren aus dem Bildungsbürgertum geführt, jedoch tendierten diese zur Kritik an den bestehen den, als dysfunktional oder ungerecht wahrge- nommenen sozialen Hierarchien. Überdies waren Arbeiterklassen in allen sozial hygienischen Abstinenz vereinen der Schweiz vertreten, im Guttemp- lerorden sowie im SAB sogar stark.198 Zudem kam in diesem auf eine gesunde Nachkommenschaft ausgerich- teten Diskurs den Frauen eine überaus tragende Rolle zu. Aus dieser Ver- antwortung leiteten abstinente Sozialhygieniker die Forderung nach der sozialen Gleich stellung der Geschlechter ab. Während die Forderung nach Gleichberechti gung im darwinistisch geprägten, abstinenten Flügel der Sozialhygieniker (und selten auch Sozialhygieniker innen) ähnlich wie im angelsächsischen Sprachraum ein dominantes Charakteristikum schien, berichtet der deutsche Medizinhistoriker Lutz Sauerteig im gemäßig teren Sozialhygiene-Diskurs von einer verbreiteten Zurückhaltung, die insbe- sondere mit einer erhöhten Infektions gefahr durch die Berufstätigkeit be- gründet wurde.199 Zusätzlich verfestigten Alkoholgegner jeglicher Couleur das Rollenbild der vernünftigen, langfristig denkenden Hausfrau, die Op- fer jener Männer wurde, die ihr Einkommen in das kurzfristige Vergnü- gen des Trinkens investierten anstelle in die längerfristige Prosperität und Stabilität der Familie.200 Der sozialhygienische Diskurs der Abstinenten

197 Jones, G., Social Hygiene in twentieth-century Britain, S. 10. 198 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 130. 199 Sauerteig, L., Krankheit, Sexualität, Gesellschaft: Geschlechtskrankheiten und Ge- sundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Stuttgart: Stei- ner, 1999), S. 48. 200 Vgl. Valverde, M., »›When the Mother of the Race Is Free‹: Race, Reproduction, and Sexuality in First-Wave Feminism«, in Gender Conflicts: New Essays in Women’s History herausgegeben von Iacovetta, F. und Valverde, M. (Toronto: University Auguste Forel als Botschafter 93 fokussierte überdies auf den Einfluss der Mütter auf die biologische Ent- wicklung ihres Nachwuchses. Neben möglicher pränataler Risiken, die mit Alkoholkonsum in Verbindung gebracht werden konnten, wurden auch postnatale Einflüsse thematisiert. Stellvertretend dafür war etwa der Zu- sammenhang zwischen den Trinkgewohnheiten einer Frau und ihrer Still- fähigkeit. Kurz nach 1900 veröffentlichte der abstinente Physiologe Gus- tav von Bunge Statistiken zur »Still-Hypothese«, die nahelegten, dass mit zunehmendem Alkoholkonsum einer Frau deren Fähigkeit zum Stillen abnehme. Wie auch bei den Hypothesen zur alkoholbedingten Degenera- tion hatten schon vor Bunge andere Ärzte diesen Zusammen hang vermu- tet. 1886 berief sich etwa der Illustrierte Arbeiterfreund auf die Aussage eines Dr. Ardouin, wonach die Muttermilch von Trinkerinnen weniger und gif- tiger werde.201 Frauen wurden denn auch von allen großen Abstinenzver- einen der Schweiz als Mitglieder akzep tiert, wobei das Blaue Kreuz bis zur Gründung des SBaF 1902 durch Hedwig Bleuler-Waser, die mit dem Forel- Schüler und Psychiater Eugen Bleuler verheiratet war, den höchsten Frau- enanteil aufwies.202 In Anbetracht des in sozialhygieni schen Kreisen viel präsenteren Anliegens nach einer Gleichberechtigung der Geschlech ter203 ist der zumeist tiefe Frauenanteil bemerkenswert. Zusammenfassend waren folgende Charakteristika in dieser sozialhygieni- schen Wissens gemeinschaft zentral: Erstens galt die Abstinenz als konse- quentestes Mittel der Prävention; dieses musste in einem ständigen Kampf verteidigt werden. Zweitens wurde ein wissenschaftlich-positivistisches Selbstbild gepflegt, in welchem sich sozial- und rassenhygienische Ansätze überlagerten. Der Fokus richtete sich dabei hauptsächlich auf Arbeiter- schaft und Frauen. Diese Wissensgemeinschaft organisierte sich nicht nur

of Toronto Press, 1992). Hier zeigt sich zudem ein Zusammenhang zwischen al- koholgegnerischem Engagement und der allgemeinen Durchsetzung des zunächst in bürgerlichen Schichten entwickelten Familienmodells der Hausfrau und des männlichen Alleinverdieners. Vgl. Bock, G. / Duden, B., »Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit: zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus«, in Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, heraus- gegeben von Gruppe Berliner Dozentinnen, S. 118-199. 2. Aufl. Berlin: Courage- Verlag, 1977; Rosenblatt, K. A., »Domesticating Men: State Building and Class Compromise in Popular-Front Chile«, in Hidden histories of gender and the state in Latin America, herausgegeben von Dore, E. und Molyneux, M. (Durham, NC: Duke University Press, 2000), S. 262-290. 201 »Erblichkeit der Trunksucht auf die Kinder«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1886), S. 35. 202 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 130. 203 Dies wird in Kapitel 2.1 weiter ausgeführt. 94 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz in akademischen Verbänden wie dem AGB oder dem Verein abstinenter Ärzte des deutschsprachigen Gebiets. Von größter Bedeutung waren ihre zahl- reichen Verbindungen zum Internationalen Guttemplerorden. Die zentrale Stellung dieses Ordens im transnationalen Anti-Alkohol-Netzwerk wird im folgenden Abschnitt eingehender beleuchtet.

Der Guttemplerorden als Knotenpunkt sozialhygienischer Ansichten

Der Guttemplerorden wurde 1852 als Independent Order of Good Templars in Utica (New York) gegründet.204 1868 fand dieser straff organisierte Or- den über Joseph Malins (1844-1926) Verbreitung nach England, 1879 nach Schweden205 und nach Deutschland, wo 1889 eine Großloge gegründet wurde.206 In der Schweiz entstand im Februar 1883 in Genf die erste Loge, die jedoch bald äußeren und inneren Turbulenzen zum Opfer fiel.207 Im Januar 1892 gründete Forel die erste längerfristig beständige Loge in Zürich, die von der britischen Guttemplerin Miss Charlotte Gray gestiftet wurde. Wer Mitglied bei diesem aus methodistischem Umfeld hervorgegange- nen Orden werden wollte, musste seinen Glauben an einen allmächtigen Gott bezeugen. Forel rechtfertigte diese Voraussetzung mit der Begrün- dung, dass die »Negation Gottes unwissenschaftlich und unphilosophisch« sei.208 Außerdem hatte ein Guttempler das Gelübde abzulegen, »keine geistigen, gebrannten oder gegorenen Getränke zu sich zu nehmen, kein Opium, kein Morphium, keinen Äther, keinen indischen Hanf, kein Ko- kaïn als Genussmittel zu sich zu nehmen, keine solchen zu bereiten, zu kaufen, zu verkaufen oder irgend jemandem zu verabreichen oder verab- reichen zu lassen«.209 Die geforderte Abstinenz ging also über den bloßen Verzicht auf alkoholische Getränke hinaus, während gleichzeitig die »ritu- elle« oder medizinische Verwendung von Alkohol erlaubt blieb. Erst nach

204 Vgl. Forel, A., Der Guttempler-Orden (Zürich, 1893), S. 1. Das Gründungsdatum ist umstritten (vgl. Fahey, D. M., »How the Good Templars Began: Fraternal Temperance in New York«, S. 18; Peirce, I. N. und Thompson, S. P., The history of the independent order of Good Templars: Complete up to the year 1868, English edition / Edited, revised and re-written by Silvanus Phillips Thompson (Birming- ham: The Grand Lodge of England, 1873), S. 1-8); Schrad geht vom Gründungs- jahr 1851 aus (Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 41). 205 Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 42. 206 Vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 218. 207 Forel, A., Der Guttempler-Orden, S. 3. Trechsel spricht von einer Gründung um 1884 (vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 62). 208 Ebd., S. 13. 209 Forel, A., Der Guttempler-Orden, S. 9. Auguste Forel als Botschafter 95 der Initiation in den Orden wurden die Mitglieder in gewisse Geheimnisse eingeführt, wobei es sich dabei allen voran um Passworte und formale Ab- läufe handelte. Forel stellte diese Geheimnisse als erzieherische Institution dar: Die Mitglieder könnten ihr »Pflichtgefühl« und »Solidaritätsgefühl« stärken, indem sie »nicht schwatzen, vergessen oder leichtfertig die heilige Aufgabe verraten sollten, für welche sie sich verpflichtet haben«.210 Über- dies dienten die Passwörter einer monetären Disziplinierung, indem neue Passwörter nur gegen Bezahlung des Mitgliederbeitrags erworben werden konnten. Dabei erinnerten nicht nur die Geheimnisse sowie die Regalien der Guttempler an die Freimaurer, auch war ihr Logensystem ähnlich struk- turiert: Die kleinste Einheit war die Loge, die auf einer nächsten Stufe einige Repräsentanten für die regionale Distrikts-Loge wählen konnte. Einmal im Jahr sollte sich die Groß-Loge als nationale Organisation mit nationaler Gerichtsbarkeit versammeln. Die höchste Loge war die Inter- nationale Loge, die manchmal als »Weltloge« oder als »I. S. L.« bezeichnet und vom Right Worthy Grand Templar (auf Deutsch: »Groß-Templer«) ge- leitet wurde. Jedes Mitglied gehörte automatisch der obersten sowie der untersten Einheit an und hatte an den Ritualen teilzunehmen, die laut Forel hauptsächlich »christlich-moralische Lehren« enthalten würden.211 »Nehmt die Rituale, das Ceremonial, das Geheimnis etc. weg«, drohte Forel, so werde »die Kraft der Organisation gebrochen«.212 Diese gemein- schaftlichen ›sakralen‹ Riten waren in eine hierarchische Ordensstruktur eingebettet, wobei in den Logen Funktionen wie die des Hoch-Templers, Vice-Templers, Sekretärs, Marschalls, Schatzmeisters, Kaplans sowie der Wache besetzt werden mussten.213 Auch wenn Frauen formal zu höheren Rängen berechtigt waren, hat Rolf Trechsel festgestellt, dass die leitenden Positionen in der Regel von gebildeten Männern besetzt wurden.214 Der Guttemplerorden propagierte mit Leitsätzen wie »Unser Feld ist die Welt« ab 1887 einen ausgeprägten Internationalismus, was sich 1902 in einer Namensänderung von Independent auf International niederschlug. Im internationalen Netzwerk der Alkoholgegner schaft nahmen die Gut- templer eine zentrale Stellung ein. Während des Ersten Welt krieges bot der über die einzelnen Landesgrenzen hinweg vernetzte Orden seinen Mitgliedern eine Möglichkeit zur Kommunikation sowie zur Suche nach

210 Ebd., S. 12. 211 Ebd., S. 20. 212 Ebd., S. 21. 213 Ebd., S. 27 ff. 214 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 65. 96 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Vermissten.215 Aufgrund seiner Verflechtung war der Orden im Hinblick auf die Verbreitung der sozialhygienischen Positionen von herausragender Bedeutung.216 Die untersuchten Quel len zeugen von besonders dichten Verbindungen des Ordens zu bestimmten akdemischen Fächern, zur Leh- rerschaft, zu sozialistischen (oder präziser: sozial demokratischen) Organi- sationen sowie zum Blauen Kreuz. Abschließend soll die Ver netzung und die Reichweite der sozialhygienisch geprägten Alkoholgegnerschaft an- hand des Guttemplers Robert Hercod aufgezeigt werden. a) Guttempler in der Akademie Standen bereits zur Zeit der Gründung des Internationalen Vereins zur Be- kämpfung des Alkoholgenusses auffallend viele von dessen Mitgliedern dem Guttemplerorden nahe,217 so schlossen sich in den 1890er-Jahren zahlrei- che Akademiker wie etwa Eugen Bleuler, Emil Kraepelin oder Eugen Blo- cher (1882-1964) den deutschsprachigen Guttemplern an.218 Die sich her- ausbildende sozialhygienische Wissensgemeinschaft versah den Orden mit Argumen ten aus der Wissenschaft. So hielt der Hamburger Großtemp- ler Georg Asmussen (1856-1933) feierlich fest: »Bunge, Forel und andere Männer der Schweiz lieferten uns zur Zeit, als wir im Norden ganz ›kleine Leute‹ waren, die wissenschaftlichen Waffen. Danke dafür. Wir lernten sie schwingen.«219 An den Debatten der Internationalen Monatsschrift beteiligten sich be- merkenswert viele Guttempler. Aus Gründen der Übersicht lichkeit wer- den hier nur die im transnationalen Anti-Alkohol-Diskurs prominen- testen Akademiker herausgegriffen, wie etwa der sozialistisch orientierte Großtempler der österreichischen neutralen Großloge, Arnold Holit- scher, der beinahe zwei Dekaden dem Verein abstinenter Ärzte des deutschen

215 Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 242 & S. 246 f. 216 Vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 47; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 218; Forel, A., Der Guttempler-Orden (Zürich, 1893), S. 1 ff. 217 Der »Baseler Kreis« formierte sich um Gustav von Bunge, Hermann Blocher (1872-1942) sowie Karl Graeter. Die Verflechtung zwischen dem AGB und dem Guttemplerorden beobachtete auch Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 221; so- wie Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 55, S. 66 & S. 69. Trechsel betonte besonders die Verbindungen zwischen dem Guttemp- lerorden und dem AGB. 218 Vgl. Schweizer Abstinent 6 (1905), S. 97-98 & 15 (1939), S. 59. 219 Dies soll Georg Asmussen am 15. Juni 1926 der Redaktion des Schweizer Abstinents geschrieben haben, vgl. Schweizer Abstinent 2 (1934), S. 5. Auguste Forel als Botschafter 97

Sprachgebietes vorsaß.220 Oft kam zudem der österreichische Bakterio- loge Max von Gruber (1853-1927) zu Wort, der sich als Mitbegründer der deutschen Rassenhygiene auch vor normativen Aussagen zum Verhältnis von Wille und Genuss nicht scheute.221 Im sogenannten »Nährwertstreit« gerieten ausnahmsweise die im Diskurs präsenten Österreicher Rudolf Wlassak (1865-1930) und Max Kassowitz (1842-1913) aneinander. Wlas- sak teilte Kassowitz’ Ansicht, dass Alkohol als Nahrungs mittel betrachtet werden könne, nicht.222 Auch der Psychi a ter Victor Adler (1852-1918), der wie Forel bei Theodor Meynert promovierte und als Begründer der Sozi- aldemokratischen Arbeiterpartei von Österreich gilt, beteiligte sich aktiv an den Debatten der Monatsschrift.223 Aus Frankreich schien der Psychiater Paul-Maurice Legrain (1860-1939) der international aufsehenerregendste Guttempler zu sein. Legrain hatte mit seiner Schrift Hérédité et alcoolisme der eugenischen Behandlung der »Alkoholfrage« bereits vor 1890 den Weg bereitet.224

220 Vgl. Vogel, M.: »Dr med. Arnold Holitscher zum 60. Geburtstag am 7. August 1919«, Internationale Monatsschrift 5 /6 (1919), S. 65-71. Holitscher war zwischen 1905 und 1922 äußerst aktiv (vgl. Internationale Monatsschrift 5 (1922), S. 248). 221 Gruber, M., »Die Hygiene des Ich«, in: Philippe Stein (Hg.), Xème Congrès inter- national contre l’alcoolisme, herausgegeben von Stein, P. (Budapest: Fréderic Kilian Successeur, 1905), S. 26-44. Zu Gruber vgl. Planert, U., »Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben«, Geschichte und Gesellschaft 26, no. 4 (2004), S. 539-576 (560). 222 Zu Wlassaks alkoholgegnerischer Agitation vgl. Wlassak, R., Grundriss der Alko- holfrage (Leipzig: Hirzel, 1922). Zu Kassowitz vgl. den Nachruf auf Max Kassowitz in Internationale Monatsschrift (1913), S. 282 f. 223 Adler war überdies auch in sozialistischen Kreisen vernetzt und korrespondiert u. a. mit Friedrich Engels, Otto Lang und Karl Kautsky. Vgl. dazu u. a. Adler, V., Alkoholismus und Gewerkschaft (Wien: Verlag des Arbeiter-Abstinenten-Bundes in Oesterreich, 1907); Adler, V., Adler als Sozialhygieniker (Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, 1924); Adler, V. und Wlassak, R., Viktor Adler’s gesammelte Reden und Schriften zur Alkoholfrage (Wien: Buchh. des Arbeiter-Abstinentenbun- des in Oesterreich, 1922). 224 Vgl. Legrain, Paul M., Hérédité et alcoolisme: étude psychologique et clinique sur les dégénérés buveurs et les familles d’ivrognes …, Paris 1889. Lobend besprochen wurde dieses von Dr. W. Bach in der Internationalen Monatsschrift 4 (1891), S. 71- 79. 1925 lobte Arnold Koller (1874-1959) insbesondere Legrains »leidenschaft- liches Bekenntnis zur Erlösung der Menschheit vom Fluche des Alkohols«, wobei gleichzeitig Legrains wissenschaftliche Methodik bemängelt wurde (vgl. Arnold Koller in Internationale Monatsschrift 6 (1925), S. 259). Vgl. auch Prestwich, P. E., »Paul-Maurice Legrain (1860-1939)«, Addiction 92, no. 10 (1997), S. 1255-1263. 1910 zerstritt er sich mit dem Großtempler Henri Mayhem. 98 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Auch verzeichnete die Internationalen Monatsschrift einen Anstieg an sozialhygienisch geprägten Beiträgen aus den Nordischen Ländern. Ne- ben dem bereits erwähnten Laitinen fiel insbesondere der Osloer Gefäng- nisarzt Johann von Scharffenberg (1869-1965) auf, der zuweilen auch die eigenen Reihen harsch kritisierte, sowie Johan Bergman, der sich auf den Vergleich verschiedener staatlicher Regulations ansätze spezialisiert hat- te.225 Seltener fanden Mediziner aus dem Balkan Eingang in die abstinen- ten Foren. Nach dem Ersten Weltkrieg stach aus Bulgarien Haralampi Neichev hervor, der sich als »Schüler« Forels und Bunges bezeichnete.226 Exponenten der südlichen Hemisphäre erschienen zumeist als Randfigu- ren; so fanden sich zu den Arbeiten des in Argentinien einfluss reichen Guttemplers und Sozialhygienikers Victor Delfino nur einzelne Hinweise. An den Internationalen Kongressen waren auch viele Mitglieder des Guttempler ordens präsent. Da viele Ordens geschwister an der Veran- staltung teilnahmen, versammelte sich die Weltloge regelmäßig im Rah- menprogramm jener Kongresse.227 Trotzdem offenbarten sich im Orden gewisse kulturelle Differenzen, allen voran war die Ideologie der angel- sächsischen Guttempler stärker von Religion gezeichnet als jene in Mit- tel- und Osteuropa sowie in den Nordischen Ländern. Dazu gesellten sich Schwierigkeiten sprachlicher Art: Bereits am dritten Internationalen Kongress 1890 in Christiana hielt ein Beobachter aus dem »mäßigen« La- ger den »teetotalers« aus dem angelsächsischen Sprachraum vor, nicht nur einen eigenen »Kongress im Kongress« abzuhalten, sondern überdies eine fehlende sprachliche Offenheit für europäische Sprachen an den Tag zu le-

225 Vor 1908 war Scharffenberg kein Mitglied des Guttemplerordens und übte insbesondere in seinem Beitrag »Mehr Kritik in der Kritik und mehr Vorur- teilsfreiheit«, Internationale Monatsschrift 6 (1912), 207-216, starke Kritik an der Entartungsthese. Der in der Internationalen Monatsschrift (7 (1907), S. 208 & S. 236) für seine Agitation in Schweden sowie seine Vermittlungen zur kontinen- taleuropäischen Bewegung gerühmte Johan Bergman war Ordensmitglied und der 1. Präsident des IBAA. Bergman veröffentlichte die umfassende Übersicht: Bergman, J. und Kraut, R., Geschichte der Antialkoholbestrebungen: Ein Überblick über die alkoholgegnerischen Bestrebungen aller Kulturländer seit den ältesten Tagen bis auf die Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung des Vereinswesens (Hamburg: Verlag von Deutschlands Großloge II des I. O. G. T., 1907). 226 1906 stieß Philipp Steins Anregung zur Gründung eines internationalen Abs- tinenzsekretariats auf viel Resonanz (vgl. Internationale Monatsschrift 11 (1906), S. 343) und wurde mit der Gründung des IBAA 1907 umgesetzt. Zu Neichev vgl. Schweizer Abstinent 16 (1936), S. 76. 227 Vgl. dazu: Forel, A., »Die internationalen Kongresse gegen den Alkoholismus auf dem europäischen Kontinent«, Internationale Monatsschrift 4 (1903), S. 105-133. Auguste Forel als Botschafter 99 gen.228 Um 1900 stieß die religiös geprägte Ordensideologie der angelsäch- sischen Guttempler in der sozialhygienischen Wissensgemeinschaft zuse- hends auf Ablehnung. Forels Skepsis gegenüber »religiösen Dogmen« war derart ausgeprägt, dass er 1906 eine Abspaltung eines »religiös neutralen« Ordens vom Guttemplerorden bewirkte, die 15 Jahre anhalten sollte – dem Ruf nach religiöser »Neutralität« folgten allen voran die Logen aus den kontinentaleuropäischen Regionen, aber auch aus Argentinien.229 Auch der mit allen großen internationalen Anti-Alkohol-Organisationen in Verbindung stehende Robert Hercod assoziierte die angelsächsischen Or- denslogen mit einem »religiösen Dogmatismus«, der besonders zu Forels Aktivzeiten in einem gewissen Spannungs verhältnis zu den auf Kontinen- taleuropa präsenteren »philosophischen Ideen« gestanden habe: »Unglücklicherweise haben seine [Forels] ungenügenden Kenntnisse der englischen Sprache und noch mehr der scharfe Gegensatz zwischen dem religiösen Dogmatismus der angelsächsischen Führer des Gut- templerordens und den philosophischen Ideen Forels das freundliche Einverständnis unmöglich gemacht, das die Bedingung einer wirksa- men Zusammenarbeit gewesen wäre.«230 Somit führte diese sozialhygienisch begründete Abstinenz zusätzlich zu den Konflikten mit den Mäßigkeitsvereinigungen auch innerhalb des inter- nationalen Guttemplerordens zu Spannungen. Zwar schien diese sozialhy- gienische »Forel-Schule« den alkohol geg nerischen Diskurs in der Schweiz nach der Jahrhundertwende zu dominieren,231 jedoch hielt sich ihr inter- nationaler Einfluss, etwa auf die USA, zunächst in Grenzen. Laut der quan- titativen Studie von William White und Barbara Weiner zum amerikani- schen Journal of Inebriety zwischen 1876 und 1913 wurden Artikel aus dem deutsch sprachigen Raum bedeutend seltener rezipiert als solche aus Frank- reich und England – für die untersuchte Zeitspanne gaben die Forscher gar

228 Vgl. Schmidt, W. »Der neutrale Charakter unserer Kongresse«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1891), S. 4-9 (5). 229 Diese Abspaltung wird in Kapitel 4 aufgegriffen. Sie wurde dadurch begründet, dass die Rituale zu deutlich protestantisch geprägt waren, während die Weltloge jedoch bis 1923 keine »religiös neutralen« Rituale zuließ. 230 Hercod, R., »Forel als Alkoholgegner«, Internationale Monatsschrift 7 (1918), S. 158-164 (162). Das Zitat kann auch als Eigenlob des Linguisten Hercod gelesen werden, der insbesondere in den 1920er-Jahren ein Knotenpunkt des globalen Alkoholgegner-Netzwerks werden sollte. 231 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 29. 100 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz keine Beiträge aus der Schweiz an.232 Umgekehrt kamen Forschungen aus den USA im Gegensatz zu britischen Studien in der Internationalen Monats- schrift bis zum Ende des Ersten Weltkrieges selten zur Sprache.233 Das wis- senschaftliche Selbstbild der Internationalen Monatsschrift wurde überdies mehrfach im Zusammenhang einer Abgrenzung von der religiös geprägten Temperenz bewegung der USA hervorgehoben.234 Die abschätzigen Aussa- gen aus Europa stützen Jakob Tanners Befund, dass der »medikalisierend- kurative Diskurs« in Europa drei bis vier Jahrzehnte vor den USA vermehrt Anhänger fand.235 b) Guttempler und Lehrerschaft Mitglieder des Guttemplerordens gründeten verschiedene berufsspezifi- sche Abstinenz vereine, wovon der 1894 gegründete Verein abstinenter Leh- rer und Lehrerinnen in den untersuchten Medien am sichtbarsten war. Die- ser Verein schloss sich 1909 – wie der Verein abstinenter Eisenbahner zwei Jahre später – einem internationalen Dachverband an. Zu den Vorsitzen- den dieses internationalen Lehrerverbands zählte der Guttempler Hercod,

232 White, W. und Weiner, B., »The Journal of Inebriety (1876-1914)«, S. 18. Von 427 sich mit Ereignissen außerhalb der USA beschäftigenden Beiträgen zwischen 1876- 1913 stammten aus England (153), Frankreich (64), Deutschland (37), Kanada (17), Österreich (12), China (10), Preußen (10), Russland (9) und Schottland (9). 233 So wurde kritisiert, dass die Arbeiten von Dodge und Benedict in Europa nahezu unbekannt seien (vgl. Internationale Monatsschrift 2 (1923), S. 89). Jedoch fanden einige US-Amerikanerinnen und Amerikaner eine positive Würdigung; so etwa Ernest Gordon oder Frances Cora Stoddard von der Scientific Temperance Federa- tion – obschon Ian Tyrrell jener Föderation eine mangelnde Neutralität attestierte (vgl. Tyrrell, I., »Prohibition, American Cultural Expansion, and the New Hege- mony in the 1920s«, S. 422 f.). Ab 1909 wurden die wichtigsten Beiträge des British Journal of Inebriety regelmäßig in der Internationalen Monatsschrift zusammenge- fasst (vgl. Hercod, R., »Aus den alkoholgegnerischen Zeitschriften«, Internatio- nale Monatsschrift 1 (1909), S. 30). 234 Vgl. Schlup, H., »Contribution à l’histoire de la lutte contre l’alcoolisme en Suisse«, S. 339; Internationale Monatsschrift 3 (1911), S. 88: Die Woman’s Christian Temperance Union habe der US-Abstinenzbewegung einen »ausgesprochenen unwissenschaftlichen Stempel« aufgedrückt. Die Mitglieder wollten den Saloon schließen und »waren ungeduldig, wie Frauen und Kinder oft sind, wenn sie etwas wichtiges vorhaben«. Die Kritik an der WCTU brachte auch das US-Committee of Fifty an. Vgl. auch: Hercod, R., »Das Alkohol-Verbot in den Vereinigten Staaten«, Internationale Monatsschrift 9 /12 (1919), S. 105; Hercod, R., »Der amerikanische Forschungsausschuss für die Alkoholfrage«, Internationale Monatsschrift 1 (1939), S. 1-10; Billings, J. S., The liquor problem: a summary of investigations conducted by the Committee of Fifty (Boston: Houghton, 1905). 235 Renggli, R. und Tanner, J., Das Drogenproblem, S. 74. Auguste Forel als Botschafter 101 der bereits an der Gründung des Schweizer Verbands beteiligt war.236 Die Verflechtung von Guttempler und Lehrerschaft auf internationaler Ebene illustriert ferner der Umstand, dass sich die International Federation of Abstinent Teachers237 anlässlich der Weltlogen-Tagung der Guttempler ver- sammelte.238 Dabei scheint zwischen den kontinental europäischen und den angelsächsischen Ländern wie beim Guttemplerorden eine gewisse Distanz bestanden zu haben.239 Obwohl ein Großteil der Schweizer Gut- templer aus der Arbeiterschaft stammte, fanden sich viele aktive Lehrer in den Führungs funktionen. 1933 beklagte sich der Großtempler Fritz He- berlein gar, die Lehrerschaft habe der Abstinenzbewegung in der Schweiz »maßgebend ihren Stempel aufgedrückt« und forderte mehr Engagement für gesetzliche Maßnahmen gegen den Alkoholkonsum, die neben den Be- strebungen zur Einführung eines obligatorischen Nüchtern heitsunterrichts vergessen würden.240 Der Nüchternheitsunterricht wurde auch im transnationalen Diskurs häufig thematisiert, besonders eingehend etwa am 7. Internatio nalen Kongress von 1899.241 Abstinente Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz hatten zudem die Möglichkeit, sich für eine »Wanderaustellung« zu be- werben, um den Schülern über Illustrationen die quantitativ erhobene Schädlichkeit des Alkoholkonsums auf eingängige Art im Klassen zimmer näherzubringen. Diese Sammlung orientierte sich einerseits an der in den USA teilweise eingeführten »scientific temperance instruction«, anderer- seits stammte die praktische Anregung dazu von Dr. H. Eggers Ausstel- lung über Alkoholismus, die ursprünglich 1904 in Charlottenburg einge- richtet wurde und zwischen 1906 und 1907 durch verschiedene Schweizer

236 Zur Geschichte des Schweizer Vereins abstinenter Lehrer und Lehrerinnen vgl. Javet, M., »Schweizer Verein abstinenter Lehrer und Lehrerinnen«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1926), S. 17-22. Vgl. auch: Spode, Macht der Trunkenheit, S. 224. 237 In einigen Quellen wurde diese auch als Union anstatt als Federation bezeichnet. Am 17. Internationalen Kongress wurde die International Teachers’ Federation Against Alcoholism gegründet (vgl. Internationale Monatsschrift 5 (1925), S. 240 f.). 238 Vgl. Lohemann, W., »Versammlung des Internationalen Lehrerverbandes gegen den Alkoholismus«, Internationale Monatsschrift 5 (1933), S. 249 f. 239 So wurde im Beitrag »Versammlung des int. Vereins abstinenter Lehrer während der Weltlogensitzung in Stockholm«, Schweizer Abstinent 17 (1930), S. 83, festge- halten, dass die Vertreter aus den USA sowie aus England »bezeichnenderweise« mit Abwesenheit geglänzt hätten. 240 Heberlein, F., »Das Aschenbrödel der Abstinenzbewegung«, Schweizer Abstinent 3 (1933), S. 123 f. 241 Vgl. Internationale Monatsschrift 3 (1899), S. 91. 102 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz und Süddeutsche Städte tourte.242 Die Wanderausstellung, die hauptsäch- lich quantitative Erhebungen bildlich umsetzte, richtete sich an Schü- ler ab dem zwölften Lebensjahr und an Erwachsene. Diese international gelobte Aktion wurde 1913 nach Frank reich und Finnland exportiert.243 Mary Hunt (1830-1906), die in den USA das Departement für »scien- tific temperance instruction« der Woman’s Christian Temperance Union (WCTU) leitete, präsentierte ihre Ansichten zu einer optimalen Erziehung mehrfach an den Internationalen Kongressen, während umgekehrt eine durch das IBAA einberufene Wissenschaftskommission die American Al- cohol Education Association mit den neusten wissenschaftlichen Erkennt- nissen aus Europa versorgte.244 In Österreich organisierte die Frauen- rechtlerin Julie Schall-Kassowitz den österreichischen Verein abstinenter Frauen. Die Tochter des erwähnten Kinderarztes Max Kassowitz forderte, dass an öffentlichen Schulen nach amerikani schem Vorbild wissenschaft- lich fundierte Nüchternheits-Lektionen erteilt werden sollten.245 Aber auch sie ging auf Distanz zur WCTU, deren »angelsächsischen Charakter« sie in einem Bericht für die Internationale Monatsschrift weitgehend belä- chelte. Jene Gruppierung werde nicht »durch langsam wirkende Vernunft- gründe«, sondern »durch eine unwiderstehlich um sich greifende Massen- suggestion und durch den alten Kreuzzugsruf ›Gott will es!‹« getragen.246 Den am WCTU-Kongress in Boston von 1907 beobachteten »Konfessiona- lismus« bemängelte die Frauenrechtlerin als »eine Schranke jeder wahren

242 Vgl. Eugen Blocher, »Rundschau«, Internationale Monatsschrift (1907), S. 79-85 (81); Eggers, H., »Wanderausstellungen über den Alkoholismus«, Internationale Monatsschrift (1907), S. 232-235. 243 Vgl. IBAA, 7. Jahresbericht 1914-1915, S. 3 f. Insbesondere die fünfbändige Gulick Hygiene Series fand viel Lob. 244 Vgl. auch IBAA: Jahresbericht 1922, S. 8; Engs, R. C., »Scientific Temperance Federation«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyc- lopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA 2003), S. 545 f.; Zimmerman, J., »The Dilemma of Miss Jolly: Scientific Temperance and Teacher Professionalism, 1882-1904«. History of Education Quarterly 34, no. 4 (1994): S. 413-431; Zimmerman, J., »›The Queen of the Lobby‹: Mary Hunt, Scientific Temperance, and the Dilemma of Democratic Education in America, 1879-1906«, History of Education Quarterly 32, no. 1 (1992): S. 1-30. 245 Vgl. Schall-Kassowitz, J., »Vorbemerkungen«, in Der wissenschaftliche Nüchtern- heits-Unterricht. Begründung und Entwicklung, herausgegeben von Scientific Tem- perance Federation (Bielefeld: Zentrale f. Nüchtern heits-Unterricht; Wien: Bund abstinenter Frauen, 1923), S. 5-9. 246 Vgl. Kassowitz, J., »Der Kongress des Frauen-Abstinenz-Weltbundes in Boston«, Internationale Monatsschrift 2 (1907), S. 45-51 (49). Auguste Forel als Botschafter 103

Internationalität«247 und schien nicht unglücklich den Umstand zu erwäh- nen, dass die Schweizer und Österreicher Bünde abstinenter Frauen sich der WWCTU noch nicht angeschlossen haben. c) Guttempler und Sozialismus Alle sozialhygienischen Verbände der Schweiz verorteten sich politisch »links« und gewichteten gesellschaftliche Bedürfnisse generell höher als in- dividuelle.248 Auch wenn sich Forel erst 1916 offiziell zu den Sozialdemo- kraten bekannte, fallen frühere, teilweise enge Kontakte zum sozialistischen Milieu auf. So war sein Freund Otto Lang an der Gründung der Sozialde- mokratischen Partei der Schweiz beteiligt.249 Auch Hermann Blocher, der zeitweise den AGB anführte, als »geistiger Vater« des schweizerischen Sozial- demokratischen Abstinentenbunds (SAB) gilt und auf einer Vortragsreise in Deutschland die Gründung des Deutschen Arbeiter-Abstinentenbunds an- regte, war Sozialdemokrat.250 Die in der Internationalen Monatsschrift ak- tiven Österreicher Rudolf Wlassak und Victor Adler gelten als Gründer des österreichischen Arbeiter-Abstinentenbund (Wlassak), respektive der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Adler).251 Aus Belgien sticht der Sozialist und Guttempler Émile Vandervelde hervor, der mit Fo- rel befreundet war und ab 1923 als Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiter- internationalen bekannt wurde.252 Trotz der auffällig zahlreichen Verbindungen zwischen dem Guttemp- lerorden und sozialistischen Verbänden stieß das marxistische Postulat von Klassenkampf und Revolution innerhalb der Guttemplerlogen auf breiten Widerstand. So konnten sich die sozialistischen Guttemplerlogen, über deren Einführung 1918 in der Schweiz ein Konflikt entbrannte, nur we-

247 Ebd. 248 Hercod, R., »Die Organisation des Kampfes gegen den Alkoholismus in der Schweiz«, Internationales Jahrbuch des Alkoholgegners 1911, S. 78-84 (78 ff.). 249 Forel hingegen stand mehr für eine reformistische Agenda ein. Vgl. dazu Kapitel 2 sowie Forel, Rückblick auf mein Leben, S. 283 f. 250 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 108; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 227. Unter Forels Burghölzli-Leitung assis- tierte weiter der Psychiater und Anarchist Fritz Brupbacher. 251 Roberts, J. S., »Drink and the Labour Movement: the Schnapps Boycott of 1909«, in The German working class 1888-1933: The politics of everyday life, herausgegeben von Evans, R. J. (Totowa, N. J.: Barnes & Noble Books, 1982), S. 80-107 (80 f.). Adler vertrat tendenziell eine reformistische Haltung. 252 Vgl. dazu Roberts, J. S., Drink, temperance and the working class in nineteenth cen- tury Germany (Boston, MA, London: Allen & Unwin, 1984), S. 132; Roberts, J. S., »Drink and the Labour Movement: the Schnapps Boycott of 1909«, S. 80 f. 104 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz nige Monate halten.253 Mehrheitlich bekundeten die unter suchten Zeit- schriftenbeiträge Sympathien für Sozialdemokratie und Reformismus, in- dem etwa viele Beiträge im Schweizer Abstinent die allgemeine Abstinenz als praktikables Mittel zur Milderung der bestehenden sozialen Gegensätze darstellten. Dagegen forderten die Mitglieder des SAB über die Beseitigung des »Alkohol kapitals« hinaus die Beseitigung der kapitalistischen Herr- schaftsverhältnisse allgemein. Der Idealismus der Guttempler schien mit den materialistischen Ansichten vieler SAB-Mitglieder nicht vereinbar.254 Laut Trechsel setzte sich der SAB zu einem Großteil aus einer verhältnismä- ßig gut gestellten »Arbeiterelite« zusammen, wobei sich wiederum haupt- sächlich Lehrer um die Redaktion der Zeitschriften kümmerten.255 Trotz dieser selbst beim SAB latenten Distanz zu einem »Lumpenproletariat« of- fenbarten die untersuchten Beiträge aus dem sozialhygienischen Milieu den arbeitenden Klassen gegenüber mehr Sympathien als der herrschen- den »Bourgeoisie«. d) Guttempler und das Blaue Kreuz Als sich 1887 die »moderne« Abstinenzbewegung in der Schweiz zu formie- ren begann, begrüßte das Blaukreuz-Organ Der illustrierte Arbeiterfreund diese Verstärkung. Besonders freuten sich die Verfasser über Forels Emp- fehlung, Alkoholiker mögen doch einer Temperenz gesellschaft wie etwa dem Blauen Kreuz beitreten.256 Umgekehrt beteiligten sich protestantische Würdenträger von Beginn weg an dieser mit Wissenschaftlichkeit assozi- ierten Bewegung. So wirkte Pfarrer Arnold Bovet, der das Blaue Kreuz in der Deutschschweiz maßgebend prägte, zusammen mit Forel und dem dänischen Lehrer C. Wagener an der Einführung der akademisch gepräg-

253 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 68. 254 Vgl. ebd., S. 112. Die Ablehnung des Materialismus kam insbesondere im »Streit« zwischen dem deutschen Sozialisten Karl Kautsky mit den abstinenten Bunge und Hermann Blocher zum Ausdruck (vgl. dazu Blocher, H., »Ein Wort der Erwiderung an Herrn Kautsky«, Internationale Monatsschrift 2 (1892), S. 46-55; Internationale Monatsschrift 3 (1892), S. 72-77). Forel etwa sympathisierte mit dem Zimmerwalder Manifest, fügte jedoch an, dass er keine Gewalt dulde (vgl. Forel, Rückblick auf mein Leben, S. 283 f.). Vgl. auch Jost, H. U., Linksradikalismus in der Deutschen Schweiz, 1914-1918 (Bern: Verlag Stämpfli & Cie, 1973). 255 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 109 f.; Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 227. 256 Vgl. »Verbreitung des Grundsatzes völliger Enthaltsamkeit«, Illustrierter Arbeiter- freund 1 (1887), S. 3 f. Auguste Forel als Botschafter 105 ten Internationalen Monatsschrift.257 Für zusätzlichen Optimismus sorgte der Umstand, dass der Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses in der Stube eines Blaukreuz-Mitglieds gegründet wurde und auch Bunge jenem Abstinenzverein angehörte.258 Die Beziehung zwischen den religiösen und säkularen alkoholgegnerischen Ausprägungen erfuhr in den Folgejahren jedoch einige Belastungsproben, da allen voran der Guttempler orden den Mitgliedern des Blauen Kreuzes oft zu radikal abstinent und nicht christ- lich genug erschien.259 Obwohl eine Mehrheit der Blaukreuzler abstinent lebte und oft mit der sozial hygienischen Abstinenzbewegung kooperierte, kritisierten Guttempler wiederum den offiziell vom Blauen Kreuz vertre- tenen Mäßigkeitsstandpunkt als Inkonsequenz, die vom »Braukapital« ausgenutzt werde. Aus sozialhygienischer Sicht erlaubte die tolerierte Mä- ßigkeit den Braubetrieben und Winzern, sich durch eine plakative Ableh- nung des unmäßigen Schnapskonsums als sozialverantwortliche Unterneh- mer zu inszenieren, obwohl deren Profite mit gesellschaftlichen Schäden einhergingen.260 Als Gegenstück zum Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebie- tes benannte die Internationale Monatsschrift allen voran die französische Union viticole des Médicins Propriétaires de la Giron de Bordeaux, in wel- cher Mediziner für den Erhalt des Weines als gesundheits förderndes Nah- rungsmittel eintraten. Gegenüber diesen Ärzten wurde der Vorwurf erho- ben, dass primär finanzielle Partikularinteressen und nicht die Sorge um das Gemein wohl im Vordergrund stünden.261 Aber auch im deutschspra- chigen Raum wurde regel mäßig die Sorge geäußert, das »Alkohol-Kapital« würde ältere Professoren bestechen, um mit derer Autorität »Propaganda« zu betreiben.262

257 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 33. Vgl. »Bovet«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1903), S. 21-24. 258 Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, 1877-1927, S. 131. 259 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 42. 260 Diese Befürchtung der Abstinenten beruhte unter anderem auf der Erfahrung, dass etwa am zweiten internationalen Kongress in Zürich ein amerikanischer Ver- treter United States Brewers’ Association lautstark den Standpunkt der Mäßigkeit vertrat – und von Forel harsch angegriffen wurde, der dem Vertreter primär wirt- schaftliche Interessen vorwarf. Vgl. Thomann, G. (Hg.) The Second International Temperance Congress; Forel, Rückblick auf mein Leben, S. 136. 261 Vgl. »Ein Gegenstück zum Verein abstinenter Ärzte«, Internationale Monatsschrift 3 (1897), S. 95. 262 Insbesondere die Zeitschrift Leben wurde diesbezüglich verdächtigt. Vgl. Interna- tionale Monatsschrift 4 (1906), S. 123. 106 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Zwischen den beiden Standpunkten der Mäßigkeit und der Enthaltung entbrannte bereits 1891 im dritten Heft der Monatsschrift die erste große Debatte. Ausgangspunkt war Wilhelm Martius’ (1846-?) Publikation des Handbuchs der Trinker- und Trunksuchtsfrage, in welcher der Pfarrer und zugleich DVMG-Vorstand263 die Abstinenz als »unchristlich« und »unlo- gisch« bezeichnete, da der Abstinente sich nicht in der »gottgewollten« Tugend der Mäßigkeit üben könne und die Möglichkeit des Missbrauchs den Gebrauch von Alkohol nicht aufhebe.264 Damit provozierte Martius zahlreiche Voten, die eine wahrgenommene Unvereinbarkeit von Religion und Wissenschaft zum Ausdruck brachten. Mit Bunges sechsseitigen Es- say Ein Wort an Herrn Oberpfarrer Martius und das Blaue Kreuz schien der Disput vorerst zugunsten der Abstinenten beendet.265 Doch obwohl sich die Redaktion der Monatsschrift im Anschluss auf Bunges Beitrag um eine Einstellung der Debatte bemühte, loderte diese immer wieder auf. Im Gegensatz zur Monatsschrift stellten die untersuchten Blaukreuz- Zeitschriften offiziell nie derart radikale Forderungen an die Gesellschaft, auch vermittelten sie keinen Szientismus. Trotzdem war das Blaue Kreuz wichtig für die Beförderung des Abstinenzgedankens: Bunge etwa bezeich- nete die »Trinkerrettung« als »wichtigste Propaganda«. Zudem stellte die in diesem Feld tätige Schweizer Landesgruppe des Blauen Kreuzes rund zwei Drittel aller Abstinenten in der Schweiz.266 Besonders nach der Jahrhun- dertwende arbeiteten das religiös geprägte Blaue Kreuz und der Guttemp- lerorden bei größeren Initiativen nach dem Motto »getrennt marschieren, vereint zuschlagen«267 regelmäßig zusammen. Ein Grund mochte sein, dass während der Konjunktur der Anti-Alkohol-Bewegung ab 1900 ver- mehrt alkoholpolitisch motivierte Akteure zum philanthro pischen Verein stießen, und sich eine Dekade später ein schleichender Wandel vom Ideal der Mäßigkeit zum Ideal der Abstinenz vollzog.268 Ein Hinweis auf eine derartige Entwicklung liefern die intern im Blauen Kreuz geführten Debat-

263 Vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 228. 264 Vgl. Martius, W., Handbuch der deutschen Trinker- und Trunksuchtsfrage: Ein Bei- trag zur sozialen Reform (Gotha, 1891). 265 Vgl. Internationale Monatsschrift 3-5 (1891), S. 86-135. Dieser Konflikt loderte 1902 am stärksten auf, als Carl Fränkel den Vorsitz beim Deutschen Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke übernahm. 266 Vgl. »Mahnwort von Gustav von Bunge«, Schweizer Abstinent 6 (1938), S. 24; Gus- tav von Bunge in Internationale Monatsschrift 1 /2 (1914), S. 91. 267 »Unter der Blauen Fahne«, Schweizer Abstinent, 25 (1928), S. 109. 268 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 42. Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 139, macht den Wandel des Blauen Kreuzes von einem »Abstinenten-Verein« zu einem »Abstinenz-Verein« im Jahr 1910 fest. Auguste Forel als Botschafter 107 ten, ob der Verein zu einer Organisation von »religiösen Abstinenten« ver- käme, die ausschließlich auf den Alkohol fokussierten, oder eine Vereini- gung abstinenter Christen, die primär die Sünden bekämpfen wollten.269 An der engeren Zusammenarbeit hatte aber auch der in Guttemplerkreisen als »agent de liaison«270 bezeichnete Robert Hercod bedeutenden Anteil. e) Robert Hercod als internationaler ›Knotenpunkt‹ im alkoholgegnerischen Netzwerk Der polyglotte Linguist und Guttempler Hercod war ab 1920 eine zentrale Anlaufstelle verschiedenster international ausgerichteter Anti-Alkohol-Ver- bände. 1895 durch Forel zur Abstinenz bekehrt, verbreitete der Gymnasial- lehrer ab 1897 als Heraus geber der französischsprachigen AGB-Zeitschrift L’Abstinence und ab 1903 als Leiter des Abstinenz sekretariats die sozialhygi- enischen Positionen. Auf dem Internationalen Kongress von Stockholm wurde er 1907 zum Leiter des neu gegründeten IBAA gewählt – eine Posi- tion, die er bis zwei Jahre vor seinem Tod 1953 innehalten sollte. Während das IBAA zu Beginn lediglich eine internationale Sektion der Schweizeri- schen Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus darstellte, sollte es ab 1920 als global ausgerichtete, wissenschaftliche Auskunftsstelle alkoholrele- vante Studien für Regierungen und Forschende bereitstellen. Zusammen mit seinen Ordensgeschwistern Legrain und Forel fand Hercod etwa über die Fédération Internationale pour la Protection des Races Indigènes im Rahmen der Internationalen Kongresse Anschluss an die missionarisch-dominierten Anti-Alkohol-Netzwerke aus aller Welt. Nach dem ersten Weltkrieg traf sich Hercod mit Bischof James Cannon (1864- 1944), der die US-amerikanische Anti-Saloon League vertrat. Als Ergebnis vertrat Hercod fortan die hauptsächlich durch die amerikanische Metho- distenkirchen finanzierte World League against Alcohol (WLAA) in Euro- pa.271 Überdies wuchs das bis 1920 überschaubare Budget des IBAA dank massiver Subventionen von Seiten der WLAA um mehr als das Zehnfa- che an.272 Hercod konnte nun mit Alkoholgegnerinnen und Alkoholgeg-

269 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 40 f.; Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 134. 270 »Unser Jubilar Dr. Hercod«, Schweizer Abstinent 2 (1936), S. 6. 271 Vgl. dazu Tyrrell, I., Reforming the World, S. 209-226; Tyrrell, I. R., »World League against Alcoholism«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA: ABC- CLIO, 2003), II, S. 691 f. 272 Vgl. IBAA, Dixième Rapport pour les anées 1917-1919, S. 7; IBAA, Jahresbericht 1921, S. 14. 108 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz ner aus aller Welt »persönliche Fühlung« aufnehmen, und traf sich einige Male mit prominenten US-Amerikanern wie (1869-1927) oder William Eugene »Pussyfoot« Johnson (1862-1945).273 Ab 1921 war er Vizepräsident der Fédération Internationale pour la Protection des Races in- digènes contre l’Alcoolisme. Mit der wachsenden internationalen Vernet- zung schienen globale Lösungen in Reichweite. Wie im kommenden Ab- schnitt ausgeführt wird, lancierte das IBAA 1925 zusammen mit finnischen, schwedischen und polnischen Regierungsvertretern eine Kampagne beim Völkerbund, um verschiedene internationale Aspekte des Alkoholhandels supranational zu regeln. Parallel zu diesen Vorstößen beim Völkerbund pflegte Hercod Kontakt zu zahlreichen weiteren Vereinigungen, wie der WWCTU oder der International Labour Organization.274 Zudem beteiligte er sich auch als Europa-Korrespondent an Dr. Porters ausführlicher Stan- dard Encyclopedia of the Alcohol Question, als Schriftführer der Internatio- nalen Monatsschrift sowie kurzzeitig auch als Vorsitzender der International Federation of Abstinent Teachers.275 Gerade diese Vernetzung ermöglichte es Hercod, 1925 eine prominent besetzte, internationale Konferenz in Genf zu organisieren.

4. Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf

Zwischen dem 1. und 3. September 1925 versammelten sich einige der weltweit promi nentesten Vertreterin nen und Vertreter der Alkoholgegner- schaft in Genf. Aus den USA reisten etwa der einflussreiche methodisti- sche Bischof James Cannon sowie »Pussyfoot« Johnson an. Letzterer hatte während einer alkoholgeg nerischen Veranstaltung ein Auge verloren und wurde seither als Märtyrer gefeiert. Aus England warteten unter anderem die WWCTU-Anführerin Agnes Slack (1857-1946), der Freidenker Caleb Sa- leeby (1878-1940) sowie A. E. Blackburn auf. Aus den Ländern Kontinen- taleuropas fanden auffällig viele Akademiker den Weg nach Genf; Namen wie Anton Delbrück, Immanuel Gonser, Reinhard Strecker (1876-1951),

273 IBAA, Jahresbericht 1921, S. 8 f. 274 Vgl. Hercod, R., »Le XVIIIe Congrès International contre l’alcoolisme à Dorpat«, Internationale Monatsschrift 4 (1926), S. 198-206 (205). 275 Vgl. Fahey, D. M., »Standard Encyclopaedia of the Alcohol Problem«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, 2003), II, S. 592 f. Hercod war 1928 überdies Mitorganisator des Kongresses der WWCTU in Lausanne. Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 109

Johan Bergmann, Max Oettli (1879-1965) oder Auguste Forel kannte die aktive Alkoholgegnerschaft nicht zuletzt aus den Artikeln der sich als wis- senschaftlich ver stehen den Internationalen Monatsschrift.276 Diese und wei- tere Personen nahmen an der Internationalen Konferenz teil, die das IBAA einberufen hatte, um zu diskutieren, welche internationalen Aspekte der »Alkoholfrage« durch die supranationale Organisation des Völkerbundes angegangen werden könnten. Mit dabei war auch eine überpropor tional vertretene Schweizer Re- präsentation der Anti-Alkohol-Bewegung, die mit zehn Teilnehmern und zwei Teilnehmerinnen anzahlmäßig nur von der Britischen Delegation überboten wurde, die mit 15 Namen aufwartete. Aus den USA, deren Ver- einigungen das IBAA ab 1921 weitgehend finanzierten, waren bloß sechs Personen angereist. Deren Namen waren aber international bekannt, ganz im Gegensatz etwa zu der eidge nössischen Fraktion, die bis auf den Zür- cher Pfarrer Rudolf und den Luzerner Kirchenpräfekt Hermann aus der Umgebung des Lac Léman anreisten und in der deutschsprachigen Alko- holgegnerschaft kaum medial präsent waren.277 Zusätzlich zur erwähnten Delegation nahmen noch die Missionare Henri Rusillon der Mission de Pa- ris, Rudolf Bürki der Basler Mission und Henri-Alexandre Junod der Mis- sion Romande als Vertreter der drei evangelischen Missionsgesellschaften auf Schweizer Boden teil.278 Diese waren eng mit der Anti-Alkohol-Bewe- gung verbunden. Der Neuenburger Junod fungierte 1925 etwa zugleich als Präsident des Internationalen Verbandes des Blauen Kreuzes sowie des Bu- reau international pour la défense des indigènes. Mit den Repräsetanten des Internationalen Roten Kreuzes waren noch weitere Organisationen aus dem humanitären Umfeld vertreten. Die Konferenzbeiträge widmeten sich der Lage in den USA, den afrikanischen Kolonialgebieten sowie verschiedener weiterer Länder Mittel- und Nordeuropas.

276 Vgl. Hercod, R., Proceedings of the International Conference against Alcoholism at Geneva, 1st–3rd September 1925 (Lausanne: International Bureau against Al- coholism, 1925); Hercod, R., »La conférence internationale de Genève contre l’alcoolisme«, Internationale Monatsschrift 5 (1925), S. 257-267. Viele dieser Akade- miker werden im Rahmen ihrer Nähe zur sozialhygienisch geprägten Abstinenz- bewegung in den kommenden Kapiteln noch genauer verortet werden. 277 Zumindest fanden die Genferinnen und Genfer (Pastor Bauler, Mlle Duvillard, Pasteur Martin, A. de Meuron und Mlle Patru) kaum Eingang in den für diese Studie untersuchten deutsch- und englischsprachigen Zeitschriften. Eine Aus- nahme stellt Robert Hercod als Leiter des IBAA dar. 278 Zur Mission Romande vgl. Harries, P., Butterflies & barbarians: Swiss missionaries & systems of knowledge in South-East Africa (Oxford: James Currey, 2007). 110 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Das International Bureau against Alcoholism als global vernetzte NGO

Auch wenn die Schweizer Beiträge während der Genfer Konferenz wenn überhaupt eine Nebenrolle spielten, war es kaum ein Zufall, dass die Veran- staltung in der Schweiz tagte. Abgesehen von der geografischen Nähe zum Völkerbund hatte das von Lausanne aus operierende IBAA, das beinahe ein halbes Jahrhundert lang durch den polyglotten Gut templer Robert Hercod geleitet wurde, einen bedeutenden Anteil am Zustande kommen sowohl der Konferenz als auch der anschließend lancierten Kampa gne gegen den Alkohol. Obwohl das Bureau bis 1919 faktisch bloß als eine Untersektion der Schweizer Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus operierte, ent- wickelte es sich in den folgenden Jahren zu einem zentralen Knotenpunkt des globalen alkoholgegnerischen Transnational Advocacy Network.279 Das Büro war mit den einflussreichsten internationalen Anti-Alkohol-Verbän- den in Fühlung: Dazu gehör ten allen voran das Blaue Kreuz, der Inter- nationale Guttemplerorden, die WWCTU, die WLAA, sowie die World Prohibition Federation.280 Zusätzlich stand es mit zahlreichen kleineren Ver- bänden in Verbindung, die von nationalen sowie internationalen abstinen- ten Lehrer-, Beamten- und Studenten vereinigungen bis zum SBaF reich- ten. Diese massive Vernetzung erklärt sich auch durch die ausgesprochene Nähe des IBAA zu den Internationalen Kongressen. Da das Büro überdies zu verschiedenen, über den Globus verteilten amtlichen Stellen Kontakte knüpfte, übernahm es in den folgenden Jahren je länger je mehr auch die Organisation jener Veranstaltungs serie.281 Auch die mit dieser Genfer Kon- ferenz lancierte Völkerbunds-Kampagne unter Feder führung des IBAA war ein organisatorischer Kraftakt, der sowohl ein weitreichendes Netzwerk als auch einen weitreichenden Konsens voraussetzte. Denn hinter dem Einver- nehmen, dass Alko ho lis mus als ein soziales Problem wahrgenommen und bekämpft werden solle, versam melten sich vielfältige Weltanschauungen und Überzeugungs systeme.

279 Ein Transnational Advocacy Network verstehe ich mit Schrad als ein Netzwerk, dass über die in der Wissen schaftsgemeinde (»epistemic community«) geteilten ko- gnitiven Ansichten hinaus normative Ansichten in Bezug auf die gesellschaftliche Vorstellungen teilt (vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 33). 280 Zur World Prohibition Federation vgl. Fahey, »Temperance internationalism: Guy Hayler and the World Prohibition Federation«, The Social History of Alcohol and Drugs no. 21 (2006): S. 247-275. 281 Vgl. Cherrington, E. H., »Hercod, Robert Lucien«, in Standard encyclopedia of the alcohol problem, ed. Cherrington, E. H. (American issue publishing company, 1926), S. 1216 f. Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 111

Besonders umstritten war die Frage, ob einer Gesell schaft die Absti- nenz in Form einer Alkohol-Prohibition aufgezwungen werden soll. Ge- gen diese Ansicht wandten sich die Anhänger innen und Anhänger des so- genannten »Mäßigkeitsstandpunktes«, indem sie zu Toleranz gegenüber einem »maßvollen« Genuss von schwachalkoholischen Fermenten wie Bier, Wein oder Obstwein aufriefen. Die in diesem andauernden Dis- put zwischen »Abstinenz« und »Mäßigkeit« eingenommenen Positionen korrelierten in Mitteleuropa weitge hend mit dem ideologischen Hinter- grund ihrer Befürworterinnen und Befürworter: Biomedizinische oder sozialhygienische Ansichten tendierten eher zu prohibitiven Forderungen als religiös gefärbte Standpunkte. Jedoch lassen sich religiös und säku- lar argumen tierende Anti-Alkohol-Gruppierungen trotz der immer wie- der artikulierten gegenseitigen Abgrenzung nur unscharf voneinander unterscheiden. Zu viele Misch formen, wie etwa auf christliche Schriften zurückgreifende Sozialhygieniker oder mit »arisch«-rassenhygienischem Vokabular kommunizierende Missionare, verweisen auf die vielfältigen Graustufen zwischen dieser groben Unter scheidung.282 Trotz dieser Un- schärfen stellen die Zuschrei bungen »religiös« und »sozialhygienisch« hilf- reiche Termini zu einer tendenziellen Verortung dar, die in vielen Fällen eine elementare Identifikation der Akteure zum Ausdruck brachten. Für die besagte Genfer Konferenz waren religiöse Anti-Alkohol-Ver- bände nicht nur aufgrund ihrer überproportionalen Mitgliederstärke un- verzichtbar: Da ein international abgestimmter Handlungsbedarf beson- ders gut durch die angeblich desaströse Lage in den westafrikanischen Regi onen aufgezeigt werden konnte, kam den in diesen Regionen aktiven evangelischen Missionsgesellschaften eine große Bedeutung als Zeugen zu. Einerseits konnte das IBAA auf die Agitation des Native Races and the Liquor Traffic United Committee (NRLTUC) zurückgreifen, das acht briti- sche Temperance Societies sowie elf britische Missionsgesellschaften reprä- sentierte. Zu sätzlich betätigten sich einige weitere protestantisch geprägte Vereinigungen aus der Umgebung von Genf an der alkohol gegnerischen Kampagne: Neben dem Bureau international pour la défense des indigènes, bei welchem die in Südafrika aktive Mission Romande stark involviert war, ist von einer Schweizer Perspektive aus die Basler Mission besonders inter- essant. Deren Missionare waren direkt in den Kolonien der Goldküste und Kamerun stationiert und hatten sich dort maßgeblich an der Verbreitung

282 Vgl. dazu die Kapitel 3 und 4. 112 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz des Blauen Kreuzes beteiligt.283 Überdies forderte die Mission als Mitglied des deutschen Verbandes zur Bekämpfung des afrikanischen Branntwein- handels regelmäßig weitere Alkoholhandels bes chränkungen für Afrika. Letzterer Verband wurde durch August Wilhelm Schreiber angeführt, der gleichzeitig als Inspektor der Norddeutschen Mission fungierte. Diese ko- operierte eng mit der Basler Mission.284 Das IBAA, das bei der Genfer Konferenz sowie der folgenden Völ- kerbunds-Kampagne federführend war, operierte jedoch als religiös und politisch neutrale Auskunftsstelle mit wissenschaftlichem und globalem Anspruch. Hauptzweck jenes Bureaus war die Bereitstellung wissenschaft- licher Studien für jegliche interessierten Regierungen und Forschen den. Obwohl Hercod betonte, dass das IBAA weder einen »abstinen ten« noch einen »mäßigen« Stempel trage, sondern nur »wissenschaftliche Tatsa- chen« vermittle, rekru tier ten sich die Mitglieder des Bureaus »vorwie gend aus den abstinenten Kreisen«.285 Viele dieser abstinenten Verbände waren Teil einer sozialhygienischen Wissensgemeinschaft. Der abstinente Her- cod, der von alkohol freund lich eingestellten Eidge nossen gerne als »Abs- tinenz-Herrgott«286 be schim pft wurde, be dien te sich hauptsäch lich quan- tifizierender Studien aus akademischem Umfeld, die in sozial hy gieni schen Kreisen populär waren und die sich durch ihren Anspruch auf univer selle Gültigkeit für eine globale Kampagne im Namen von »Wahr heit« und »Wirklichkeit« eigneten. Die sozial hygienische, abstinenz befür wortende Strömung wurde maßgeblich von den beiden in Zürich und Basel lehren- den Professoren Auguste Forel und Gustav von Bunge geprägt, die sich für eine Ablösung religiöser Lehren durch wissenschaftliche Methodik einsetz- ten. Trotz seiner Mitglied schaft beim evangelisch geprägten Blauen Kreuz

283 1921 war das Blaue Kreuz u. a. in Deutschland, Frankreich und seinen Kolonien, Belgien, Dänemark und Ungarn zu finden. 1906 trat im heutigen Ghana der erste außereuropäische Blaukreuz-Verein dem Internationa len Bund des Blauen Kreu- zes bei (vgl. Schweizerisches und Internationales Jahrbuch des Alkoholgegners 1921, S. 156). 284 Für eine Übersicht der protestantischen Missionsgesellschaften Deutschlands vgl. Gründer, H., »Deutsche Missionsgesellschaften auf dem Wege zur Koloni- almission«, in Imperialismus und Kolonialmission: Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium, herausgegeben von Bade, K. J., Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte (Wiesbaden: Steiner, 1982), S. 86-102. 285 IBAA, 6. Jahresbericht 1913, S. 4 f. Ein Grund für die abstinente Dominanz war der Umstand, dass sich Mäßigkeitsvereinigungen eher der Internationalen Vereinigung gegen den Missbrauch geistiger Getränke anschlos sen. 286 C. R., »Es ist Herrn Prof. Oettli zu verdanken«, Schweizerische Abstinenzblätter 9 (1911), S. 57. Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 113 galt Bunge als »Feind der Kirche«,287 während Forels Skepsis gegenüber christlichen Denominationen derart groß war, dass seine Zerwürf nisse mit gläubigen Mitmenschen nicht nur in seinen Memoiren einen großen Platz einnah men, sondern auch als Grund für die Abspaltung eines »religiös neutralen« Guttempler ordens 1906 ausgemacht wurden. Im Gegensatz zu Forel und zahlreichen weiteren Sozial hygienikern, die den »religiösen Dogmatismus« als Hindernis für eine objektive, natur- wissenschaftlich geleitete Forschung betrachteten,288 fungierten die »Ideen der Aufklärung« in den Periodika der Basler Mission als eine zu bekämp- fende Bedrohung.289 Inwiefern sich dieses Unbehagen auch gegen spezi- fische Wissenschaftsdisziplinen richtete, ist unklar. Der Afrika-Historiker Patrick Harries hat für die in Südafrika aktive Mission Romande aufgezeigt, dass viele Missionsvertreter das naturwissenschaftlich ange leitete Ordnen und Systematisieren der Natur auch als Bewunderung der Schöpfung Got- tes auslegten.290 Bei der Basler Mission fanden sich selten auch Stimmen, welche die von der Aufklärung ausgehende Bedrohung relativierten.291 Weiter propagierte etwa Hermann Christ als Komitee-Mitglied der Bas- ler Mission gar eine Vereinbarkeit der Bibel mit den Ideen Darwins und beteiligte sich wie einige seiner Missionsgeschwister aktiv an der alkohol- gegnerischen Agitation.292 Dennoch zeugten die Zeitschriften der Basler Mission von einem allgemeinen Unbehagen gegenüber der aufklärerischen Tendenz, die Menschen von ihrem Glauben an Gott abzubringen. Nicht zuletzt kritisierten einige Basler Missionare die Guttemplerlogen, die sich während des Fin de Siècle auf der Goldküste formierten, offen in den Jah- resberichten der Mission.293

287 »Prof. Gustav von Bunge«, in Schweizer Abstinent 51 /52 (1920), S. 101. 288 Hercod, R., »Forel als Alkoholgegner«, Internationale Monatsschrift 7(1918), S. 158- 164 (162). Das Zitat kann auch als Eigenlob des Linguisten Hercod gelesen werden, der insbesondere in den 1920er-Jahren ein Knotenpunkt des globalen Alkoholgegner-Netzwerks werden sollte. 289 Ausgehend von den gedruckten Basler Periodika Der evangelische Heidenbote, den Jahresberichten sowie den alkoholgegnerischen Schriften in BMA J und BMA E 10.15 wurden verschiedene Brüder- und Schwesterfaszikel untersucht. 290 Vgl. dazu Harries, P., Butterflies & barbarians. 291 So auch der Mediziner und Missionsarzt Fisch, R., »Rudolf Fisch zu Alkoholismus in den Missions gebieten« [1913], BMA J 78a, S. 6. 292 Hermann Christ, »Kann ein Christ Darwinist sein? Referat für die Erste Christ- liche Studentenkonferenz der deutschen Schweiz«, Aargau, 23./24. März 1879 (Basel: Geering). 293 Diese Kritik wird im Kapitel 4.3 weiter ausgeführt. Verschiedene Missionswissen- schaftler machen bei den protestantischen Missionen trotz der artikulierten Ablehnung der Aufklärung viele aufklärerische Anliegen aus (vgl. Bosch, D. J., 114 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz

Obschon Hercod im Gegensatz zu vielen führenden Sozialhygienikern wie Bunge oder Forel keine radikale Abkehr von einem religiösen Dog- matismus forderte, verbreitete das von ihm geleitete IBAA hauptsächlich sozialhygienische Positionen. In diesen Argumenten, die stets Anspruch auf globale Geltung erhoben, spielte das Leitwort der Modernität eine zen- trale Rolle.294 Damit widerspiegelte das IBAA zugleich den Aufs tieg einer zunehmend durch quantifi zie rende Wissenschaften gedeuteten, pluralen Weltöffentlichkeit zur zentralen politischen Rechtfertigungsinstanz, an der sich auch souve räne Nationalstaaten zu orientieren hatten. Auch wenn die grundlegende Forderung der Sozial hygieniker, die Forderung nach Al- koholprohibition, auf internationaler Ebene kaum Rückhalt fand, hat die Prohibition bei anderen, im alltagsprachlichen Duktus als »harte Drogen« umschrie benen Substanzen im 20. Jahrhundert weltweit den Weg in die Gesetzbücher gefun den.295 Damit nahm die Anzahl und Reichweite staat- licher Eingriffe in das lange Zeit als private Angelegenheit betrachtete Konsumverhalten ihrer Bürgerinnen und Bürger im vergangenen Jahr- hundert signifikant zu. Zu dieser Entwicklung, wie auch zur Etablierung der wissenschaftlichen Disziplin der »Sozialhygiene«, leistete die sozial- hygienisch geprägte Abstinenzbewegung einen fundamentalen Beitrag: Ihre Träger verfestigten die Überzeugung, nach welchen Kriterien »wissen- schaftliche Tatsachen« erhoben und formuliert werden sollen und welche Kausalzusammen hänge als gültig erachtet werden, über die Landesgrenzen hinaus. In der deutschsprachigen Forschung hat die internationale Ori- entierung dieses abstinenten Flügels der Sozialhygiene bisher noch kaum Beachtung gefunden, obschon diese aufgrund ihrer propagandistisch-

Transforming Mission: Paradigm Shifts in Theology of Mission, [6th print.] ed. (Ma- ryknoll, NY: Orbis Books, 1991), S. 344. (Stanley, B., »Christian Missions and the Enlightenment: A Reevaluation«, in Christian Missions and the Enlightenment, herausgegeben von Stanley, B. (Grand Rapids / Cambridge: Curzon, 2001), S. 1-21 (2 f.)). 294 Dies deuten neben den von mir bisher analysierten Quellen auch die mit diesem Teilprojekt assoziierten Projekte zu Anti-Alkohol-Akteuren in Chile und Argenti- nien sowie zum Balkan an. 295 Vgl. Merki, C. M., »Zur neueren Geschichte der psychoaktiven Substanzen« (Bern: Eidgenössische Kommission für Drogenfragen EKDF), 2002). Der Po- litikwissenschaftler Mark Schrad bezeichnete die Alkoholprobition in den USA als »schlechte Idee« (vgl. Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas). Ver- schiedene Bücher, Dokumentar filme (wie Ken Burns’ und Lynn Novicks PBS- Produktion »Prohibition: An American Experience«, 2011) und Fernseh-Serien (wie die HBO-Serie »Boardwalk Empire«, 2010-2014) verstärken dieses Bild. Zur schwachen Stellung des Themas Alkoholismus beim Völkerbund vgl. auch Pernet, C., »Die Grenzen der ›global governance‹«. Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 115 populär wissen schaftlichen Ausrichtung nicht nur beachtliche Teile der Gesellschaft erreichte, sondern auch supranationale Organisationen zur Eindämmung des Konsums berauschender Stoffe anhielt.296

Ergebnisse und Folgen der Konferenz

Die alkoholgegnerische Genfer Konferenz vom Herbst 1925 unterstrich diesen globalen Geltungsanspruch. Unter Beobachtung von je einem Mit- glied der Völkerbunds-Sektion für Mandate297 und der International La- bour Organization (ILO), vier Vertretern des Roten Kreuzes, sowie Reprä- sentanten von 15 Staaten verabschiedeten die 75 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende des Kongresses eine mehrseitige Resolution zu drei Aspekten von internationaler Relevanz: erstens die sogenannte »Kolonial- frage«, zweitens die »Schmuggel frage« sowie drittens zur Problematik, dass zwischen Alkohol exportierenden Staaten und Staaten mit restriktiven Al- koholgesetzen wirtschaftliche Konflikte ausgetragen wurden.298 Unter den zahlreichen Anliegen der Resolution zur »Kolonialfrage«, bei welcher die afrikanischen Kolonien im Mittelpunkt standen, war der zweite Punkt bemerkenswert: In diesem brachten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz die Hoffnung zum Ausdruck, dass alle berauschenden Getränke allen Bewohnern des Kontinents – unabhän- gig von ihrer Hautfarbe – verboten würden. Damit strebten sie in Afrika die generelle Prohibition an. Die begleitenden Anliegen der Resolution zu diesem kolonialen Aspekt legen jedoch nahe, dass die Teilnehmenden nicht mit einer kurzfristigen Erfüllung dieses Wunsches rechneten. Wei- ter wurde beispielsweise eine einheitliche, per Goldstandard definierte Besteuerung alkoholischer Getränke vorgeschlagen; die staatliche För- derung von einwandfreiem Trinkwasser; die Bevorzugung abstinenter Kolonialbeamter bei Beförderungen sowie die »Bestellung« eines die all- fällige Durchführung jener Anliegen überwachenden, internationalen Bü-

296 Ein wichtiger historischer Impuls zum Thema Völkerbund und Alkohol erfolgte durch Corinne Pernet (vgl. Pernet, C., »Die Grenzen der ›global governance‹«). Inwieweit die alkoholgegnerischen Verbände an internationalen Aktionen gegen andere sog. »Narkotika« mitwirkten, bleibt noch weitgehend offen. 297 Die »Mandate Section« war für die Überwachung der ehemaligen Kolonien zu- ständig. Zum System der Mandate vgl. Pan, L., Alcohol in Colonial Africa, S. 50 f. 298 Vgl. Hercod, R., Proceedings of the International Conference against Alcoholism at Geneva, S. 148-155. Zur Bedeutung des Völkerbunds als »Gravitationsfeld« zivilge- sellschaftlicher Organisationen vgl. Herren, M., Internationale Organisationen seit 1865 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009), S. 54. 116 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz ros durch den Völkerbund. Bei diesem letztgenannten Wunsch kam das IBAA ins Spiel, das anschließend dem Völkerbund seine Expertise anbot. Es war kein Geheimnis, dass die Alkohol gegner schaft mit dem bis dahin kaum aktiven Bureau Central International pour le Contrôle du Commerce des Spiritueux en Afrique unzufrieden war. Diese internationale Überwa- chungsstelle war ursprünglich in der Folge der Brüsseler Generalakten von 1890 /91 eingerichtet worden, um die Einhaltung der Bestimmungen zu überwachen. Aus alkoholgegnerischer Sicht kam es dieser Aufgabe jedoch nur ungenügend nach.299 Die in der Resolution formulierte Forderung nach einer Schaffung eines dem Völkerbund unterstehenden Büros fiel zunächst unter den zahl reichen Anliegen nicht besonders auf; erwähnte sie doch weder das Bureau Central Inter national noch das IBAA. Im Zu- sammenhang mit den daraufhin separat dem Völkerbund angebotenen Dienstleistungen des IBAA barg der Punkt jedoch eine erhebliche Spreng- kraft in sich. Eine Annahme dieses Angebots hätte das IBAA als Verwalter von offiziel len, durch den Völkerbund autorisierten Fakten mit zusätz- licher Deutungshoheit ausgestattet. Im zweiten Schwerpunkt der Resolution, der Problematik der »Schmug- gelfrage«, schlug Hercod im Namen der Konferenz ein voraussetzungsrei- ches, auf amtliche Bescheinigungen und Kontrollen ausgerichtetes Ausfuhr- system vor. Dieses System for derte eine Hinterle gung hoher Geldbeträge als Garantien vor der Ausfuhr von Waren gütern, die erst durch Vorweisen einer amtlichen Bescheinigung der Zollbehörde des Einfuhrlandes rückerstattet werden sollten. Der dritte Schwerpunkt der Resolution kann als Reaktion auf die spanische Boykott-Drohung gegen Island interpretiert werden: Das Weinland hatte einige Jahre zuvor der Insel gedroht, im Falle einer Ein- führung der isländischen Alkoholprohibition keine is ländischen Fischpro- dukte mehr abzukaufen. Daraufhin sah sich die isländische Regie rung ge- zwungen, eine Ausnahmeregelung für spanische Weine zuzulassen.300 Die einstimmig beschlossene Resolution forderte, dass jeder souveräne Staat das Recht haben sollte, »im Interesse der Volksgesundheit die ihm notwendigen

299 Vgl. Pan, L., Alcohol in Colonial Africa, S. 36; sowie die Klage der fédération in- ternationale pour la protection des races indigènes contre l’alcoolisme, [Archiv LoN, Document No. 36785, Dossiers No. 17850]. 300 Vgl. »Der isländisch-spanische Weinkrieg«, Schweizer Abstinent 7 (1922), S. 25. Auch Frankreich drohte 1919 Finnland, als dieses die Prohibition einführen wollte (vgl. »Die internationale Studienkonferenz in Paris«, Schweizer Abstinent 17 /18 (1919), S. 35). Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 117

Maßnahmen« zu ergreifen.301 Gleichzeitig empfahl es »im Gefühl der inter- nationalen Zusammengehörigkeit aller Freunde der Volksgesundheit« die globale Förderung alkoholfreier Obst- und Traubenverwertung. In einem abschließenden Appell rief die Resolution den Völkerbun- desrat dazu auf, die »Alkoholfrage« ähnlich anzugehen wie die »Opium- frage«. Der internationale Handel von Opiaten wurde im Februar 1925, nur wenige Monate vor der alkohol gegnerischen Kon ferenz, im Rahmen der zweiten internationalen Opiumkonferenz verhandelt und durch ein beachtliches Vertragswerk geregelt. Die Staaten, die jene Verträge ratifi- zierten, verpflichteten sich zu einer Regulierung und Überwachung des Imports und Exports von Opiaten, aber auch von Kokain oder Cannabis, um deren nicht medizinischen Genuss einzu schränken.302 In der mit dem Nimbus wissenschaftlicher Autorität ausgerüsteten Internationalen Mo- natsschrift lamentierte Hercod darüber, dass trotz der tiefgründigen Analo- gien (»des analogies profondes«) zwischen Alkohol und Opium bisher nur für Letzteres eine Lösung angestrebt worden sei, obgleich Alkohol doch das »größere und verbreitetere« Übel darstelle.303 Jedoch hatte die an der Genfer Konferenz erzielte Resolution in ih- rer 1925 abgedruckten Form trotz der einmütigen Zustimmung von alko- holgegnerischer Seite aus Sicht des Völker bundes noch keinen offiziellen Charakter. Da der Völkerbund nur Resolutionen behandelte, die von ihm angehörenden Regierungen vorgebracht wurden, kam dem IBAA der Auf- trag zu, diese Resolutionen allen alkoholgegnerischen sowie hygienischen Vereinigungen sowie den europäischen und amerikanischen Regierungen zuzustellen.

Die Resolution A.62 vor dem Völkerbund

Nach einigen Verhandlungen erklärte sich 1926 die finnische Regierung be- reit, diese Anliegen unterstützt durch Polen und Schweden vorzubringen, damit diese während der achten Generalversammlung im September 1927 besprochen werden könnten. Zu diesem Zweck organisierte das IBAA im Januar 1927 eine weitere, illuster besetzte Expertenkonferenz. 304 Ein allge-

301 Vgl. Hercod, R., Proceedings of the International Conference against Alcoholism at Geneva, S. 153; IBAA, »Spanien und Island«, Jahresbericht 1921, S. 7 f. 302 Vgl. Mills, J. H., Cannabis Britannica, S. 153-187. 303 Vgl. Hercod, R., »La conférence internationale de Genève contre l’alcoolisme«, Internationale Monatsschrift 5 (1925), S. 257-267 (257 f.). 304 Vgl. Hercod, R., »Report of the Conference of Experts on the alcohol question at the League of Nations«, in The Covenant of the League of Nations and the Ques- 118 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz meiner Vorschlag wurde ausgearbeitet, der unter anderem forderte, dass das IBAA als offizielle Untersuchungsinstitution des Völker bundes aner- kannt werden und systematisch quantifizierende Daten zu verschie denen angenom menen Beziehungen zwischen Alkoholkonsum und Gesundheit erheben sollte. Deutlicher als in der Resolution zwei Jahre zuvor kam in dieser Fassung zum Ausdruck, dass primär eine Alkoholschadensforschung angestrebt wurde. Gefordert wurde eine internationale Instanz, die standar- disierte und systematische Erhebungen zur Wirkung verschiedener natio- naler Gesetze auf die Volksnüchternheit sowie verschiedene soziale Folgen wie Armut, Verbrechen oder Geisteskrankheit durchführte. Dabei war es kaum überraschend, dass diese Forderungen in sozialhygienisch-ausgerich- teten Medien wie der Internationalen Monatsschrift äußerst positiven An- klang fanden.305 Nicht zuletzt hätte eine offizielle Anerkennung des IBAA von Seiten des Völkerbundes auch bedeutet, dass dem Büro damit in zu- nehmendem Maße eine Expertenrolle in der Interpretation der Resultate zugekommen wäre. Das Büro verfügte durch die engen Verbindungen zu den als wissenschaftlich wahrgenommenen Internationalen Kongressen sowie durch die aus medizinischen und naturwissenschaftlichen Bereichen übernommenen termini technici über eine wissen schaftliche Fundierung, zumal Hercod auch dem sozialhygienischen Ruf nach einer Medikalisie- rung der »Alkoholfrage« folgte. In einem Schreiben an die Sektion für Hy- giene des Völkerbunds bezeichnete er Alkoholismus als eine »gesellschaft- liche Krankheit«, die er mit Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose und Malaria verglich.306 Der an dieser Experten konferenz ausge ar beitete Vor- schlag wurde zusätzlich von den Regierungen Belgiens, Dänemarks und der Tschechoslowakei unterstützt. Als die Resolution an der Generalversammlung Mitte September 1927 verhandelt wurde, leistete der französische Delegierte Louis Loucheur ve- hementen Widerstand, der von anderen Delegierten der Länder Portu- gal, Italien, Kanada und Australien Bestärkung fand. Dabei stellten die

tion of Alcoholism (Lausanne: International Bureau against Alcoholism, 1927). Zu den Beteiligten gehörten Jonkheer Ruys de Beerenbrouck, Bergman, Voionmaa, Blackburn, Strecker, Holitscher, Legrain und Hercod. 305 Der Psychiater Arnold Koller (1874-1959), selbst beim IBAA tätig und Präsident der schweizerischen Zentralstelle gegen den Alkoholismus, rezensierte etwa »La question de l’alcool au point de vue international« in der Internationalen Monats- schrift 4 (1928), S. 118. 306 Vgl. »Report of the Conference of Experts, 24. 11. 1926« [Archiv LoN, Doc. No. 52056], S. 2; Hercod, R., »Le Comité d’Hygiène de la Société des Nations et la question de l’alcoolisme«, Internationale Monatsschrift 3 (1931), S. 121-135 (134). Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 119 meisten ihrer Postulate die Resolution als einen ersten Schritt in Richtung weltweite Prohibition dar.307 Angesichts des Widerstandes blieb den an- tragstellenden Delegierten nicht viel anderes übrig, als diese Vorschläge zurückzuziehen und stattdessen vorzuschlagen, dass der Völkerbund ein Experten-Komitee zur »Alkoholfrage« konsti tuieren solle.308 Zu konkre- teren Ergebnissen kam es während dieser Versammlung nicht mehr. Die Verhandlungen dazu wurden aufgrund der fortgeschrittenen Zeit um ein Jahr vertagt. In einem rückblickenden Artikel, der in verschiedenen Zeit- schriften abgedruckt wurde, äußerte Hercod den Verdacht, die Braue- reien sowie die International League against hätten diesen politischen Widerstand auf supranationaler Ebene finanziert und organi- siert.309 Tatsächlich hatte diese Interessensver einigung die Kampagne des IBAA beim Völkerbund mehrfach schriftlich diffamiert.310 Auf Grund- lage des zugänglichen Quellenmaterials lässt sich die Frage, wie ausschlag- gebend eine allfällige finanzielle Unterstützung für das Veto der Delegier- ten war, aber nicht beurteilen. Spode bezeichnet die meisten der in der Abstinenz bewegung gegen Presse und Politik vorge brachten Vorwürfe der Bestechlichkeit als »Verschwörungstheorien«. 311 Der Vorwurf verweist jedoch auf die Möglichkeit von Großkonzernen, aus wirtschaftlichen Partikularinteressen auf politische Gestaltungsprozesse einzuwirken – was besonders in gesundheits relevanten Bereichen noch gegen wärtig kontro- vers diskutiert wird. Nach dem Rückschlag dieser Generalversammlung sammelte das IBAA nach eigenen Angaben rund dreihundert unterstützende Resolutionen von philanthropischen Gesell schaften außerhalb der Anti-Alkohol-Bewe- gung. Diese auf 25 Länder ausgedehnte Sammlung von unterstützenden Voten kann nach Bourdieus Kapitaltheorie als Demonstra tion einer »so-

307 Dabei wurden jedoch auch andere Argumente ins Feld geführt; vgl. dazu Tyrrell, I., »Prohibition, American Cultural Expansion, and the New Hegemony in the 1920s: An Interpretation«, Social History 27 (1994), S. 413-441 (438 f.). 308 Vgl. dazu: »At the Assembly of the League of Nations«, Antrag vom 19. September 1927, [Archiv ICAA]. 309 Hercod, R., »The Alcohol Question before the League of Nations«, The British Journal of Inebriety, S. 145. Derselbe Beitrag wurde abgedruckt in Internationale Monatsschrift 5 (1928), S. 283-292. Vgl. auch IBAA, Jahresbericht 1929, S. 3. 310 Vgl. »Correspondance with the Ligue International des Adversaires des Prohibi- tions«, [Archiv LoN, Dossier No. 5333, Document No. 41818x]. Auch die Interna- tional Wine Office reagierte auf die IBAA-Kampagne [Dossier No. 12524, Docu- ment No. 9949]. 311 Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 231. 120 Anti-Alkohol-Akteure der Schweiz zialen Kreditwürdigkeit« interpretiert werden.312 Angestrebt wurde nun die Bildung eines Expertenkomitees, das systematisch international ver- gleichbare Statistiken zur Alkohol produktion sowie zu Zusammenhängen zwischen Alkoholismus und Sterblich keit, Unfällen, Kriminalität und ge- sundheitlichen Schädigungen wie Leberzirrhose, Tuberkulose, Pneumo- nie, Geisteskrankheit oder Geschlechtskrankheiten hätte sammeln sollen. Nicht zuletzt sollten auch Statistiken zu Auswirkungen des Alkoholkon- sums von Kindern sowie ihrer Eltern auf ihre »physische sowie geistige Entwicklung«313 erstellt werden. Dieser Fragenkatalog pochte noch immer auf eine Validierung der vermuteten, einseitigen Kausalitätszusammen- hänge zwischen dem schwer fassbaren Befund »Alkoholismus« und sei- nen gesundheitsschädigenden Auswirkun gen. So überrascht weniger, dass er an der kommenden General ver sammlung stark reduziert wurde. Dabei war diese Sammlung statistischer Daten de facto auf den Missbrauch in Bezug auf destillierte Getränke sowie die durch mangelnde Qualität her- vorgerufenen Schäden beschränkt und durch die 1923 gegründete Health Organization, der Vorgängerin der späteren WHO, durchgeführt wer- den.314 Die angenommene Resolution schloss Statistiken zu Wein-, Bier- und Ciderkonsum und möglichen Folgeschäden gar explizit aus.315 In der Überzeugung, dass die niedrigprozentigen Getränke einen beträchtlichen Anteil am Phänomen des Alkoholismus hätten, zeigte sich Robert Hercod enttäuscht über das Ergebnis. Denn es kam erschwerend hinzu, dass der Direktor der Health Organization, Ludwick Rajchmann, die Nützlichkeit einer derartigen Statistik bezweifelte. Rajchmanns Einschätzung zufolge würde diese entweder bloß Altbekanntes bestätigen oder ein inkohärentes

312 Vgl. Bourdieu, P., »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in Soziale Ungleichheiten, herausgegeben von Kreckel, R. (Göttingen: Schwartz, 1983), S. 191 f. Diese unterstützen den Resolutionen waren weder im Archiv von Lausanne noch in Magdeburg auffindbar. 313 Vgl. Hercod, R., »Projet d’enquête sur la question de l’alcoolisme«, Internationale Monatsschrift 4 (1929), S. 208-215. 314 »Resolution for the 9th Assembly«, [LoN, A.34, 1. 9. 1928]: »to request the Health Organization of the League of Nations to collect full statistical information re- garding alcoholism«. Vgl. dazu Charnowitz, S., »Two Centuries of Participation: NGOs and International Governance«, Michigan Journal of International Law 18 (1997), S. 183-286 (227). 315 »Resolution for the 9th Assembly«, [LoN, A.34, 1. 9. 1928]: Um dem Schmuggel Einhalt zu gebieten, empfahl die überarbeitete Resolution dem Economic Com- mittee des Völkerbundes eine allfällige Prüfung, welche Formen von Vereinbarun- gen infrage kommen könnten (»might be drawn up«). Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus 1925 in Genf 121

Bild ergeben.316 Dennoch ist der Umstand bemerkens wert, dass die Alli- anz von »Abstinen ten« und »Mäßigen« die Diskussion über supranationale Alkohol-Restrik tio nen auf die offizielle Agenda des Völkerbundes brach- ten.317 Damit verdeutlicht die in diesem Kapitel aufgezeigte Verästelung einiger besonders vernetzter Akteure die Möglichkeiten der alkoholgegne- rischen epistemic community, ihre Positionen in eine transnationale Wis- sensproduktion einzubringen. Durch diese Kooperation erreichte die alko- holgegnerische Bewegung eine bemerkenswerte Verbreitung bestimmter Denkmuster. Die an Foucault angelehnte Diskursanalyse geht von einem Prozess der »Einschreibung« aus, wonach Äußerungen erst als Aussagen deutbar werden, wenn die Äußerungen durch Wiederholungen über eine »diskursive Regelmäßigkeit« miteinander in Bezug gesetzt werden kön- nen.318 Demnach haben diese folglich zu untersuchenden Aussagen das Potenzial, normative Bewertungen des Umgangs mit Alkohol und ande- ren bewusstseins verändernden Substanzen länger fristig zu prägen. In den kommenden Kapiteln zu den Rhetoriken der Freiheit, Natürlichkeit und Wirklichkeit soll genauer ausgeführt werden, mit welchen Denkfiguren und Motiven die global orientierte Alkohol gegner schaft der Schweiz ver- suchte, die Welt von der Schädlichkeit des Alkoholgenusses zu überzeugen.

316 Borowy, I. »League of Nations Health Organisation«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al., S. 363. 317 Zu den längerfristigen Auswirkungen jener Kampagne vgl. Bourmaud, P., »Les faux-semblants d’une politique internationale«, S. 84. 318 Zur »Einschreibung« vgl. Keller, R.: Wissenssoziologische Diskursanalyse, S. 136.

2 Die Rhetorik der Freiheit

»Vom ethischen Standpunkte aus ist der mäßige Alkoholgenuss zu verwerfen, und zwar im Namen der Freiheit und der menschlichen Solidarität. Er beein- trächtigt unsere einzige wirkliche Freiheit, nämlich die feinere adäquate und nuancierte Anpassungsfähigkeit.«1 Auguste Forel, 1910

Im Frühling 1933, kurz nachdem sich in den USA mit dem unterzeichne- ten Cullen-Harrison Act das Ende des »noblen Experiments« abzeichnete, veröffentlichte die Internationale Monatsschrift den denkwürdigen Artikel »Zum Problem der Süchtigkeit« des abstinenten Psychiaters Ernst Gabri- el.2 Die darin skizzierten Ansichten sollte der spätere Redaktor der Monats- schrift drei Jahre später zusammen mit dem österreichischen Philoso phen und Botaniker Ernst Kratzmann3 (1889-1950) zu einer Monografie verar- beiten, die unter dem Titel »Die Süchtigkeit« bis 1978 nachgedruckt wurde und nicht zuletzt auch 1939 am Internationalen Kongress in Helsinki die Runde machte.4 Diese suchtpsychologischen Schriften basierten zu einem großen Teil auf der Annahme, dass der Mensch vor Urzeiten allmählich eine »Urfurcht«5 vor der mit einer Leere assoziierten Außenwelt ausgebil- det haben müsse. Die Autoren gingen gar so weit, den biblischen Sünden- fall als eine Parabel auf die Bewusstwerdung jener Angst zu deuten. Seither seien die Menschen auf die konstante Aufrechterhaltung eines »Ich-Raums« angewiesen und könnten die Barriere zwischen Innen und Außen nur unter besonderen Gegebenheiten überwinden. Damit kamen die Akademiker auf den Zustand des Rausches zu sprechen, den sie in »falsche« und »echte« Räusche unterteilten. Letztere, verstanden als ein selbstbestimmtes Stre-

1 Forel, A., Abstinenz oder Mäßigkeit? (Wiesbaden: Bergmann, 1910), S. 8 (Hervorhe- bung F. S.). 2 Gabriel, E., »Zum Problem der Süchtigkeit«, Internationale Monatsschrift 4 (1933), S. 161-175. 3 Auch Kratzmann nahm am sozialhygienischen Diskurs teil, vgl. Ernst Kratzmann, »Die seelischen Grundlagen des Alkoholismus«, Internationale Monatsschrift 6 (1931), S. 306-327. 4 Gabriel, E., »Das Problem der Süchtigkeit«, in Proceedings of the Twenty-Second International Congress against Alcoholism (Helsinki: Raittiuskansan Kirjapaino Oy, 1939), S. 30-40. 5 Vgl. Gabriel, E. und Kratzmann, E., Die Süchtigkeit, S. 151. 124 Die Rhetorik der Freiheit ben nach »unmittelbarster Berührung mit dem Unendlichen, dem Allum- fassenden, dem absoluten Sein und Ewigen, das man in religiöser Sprache ›Gott‹ nennt«,6 blieben den Autoren zufolge ein Privileg einiger weniger genialer Menschen. Denn dieses Streben setze einen aus dem Innern eines Individuums zu schöpfenden Willen voraus, den die Autoren den zahl- reichen ›gewöhnlichen‹ »Menschen des Nichts« absprachen. Gerade jene große Masse an ›Durchschnitts-Menschen‹ würden stattdessen auf »fal- sche« Rauschzustände ausweichen, die eine fatalistische »Preisgabe des Ich an etwas Äußerliches«7 bedingten. Zu diesen negativ bewerteten Räuschen zählten die Autoren Rauschgift, Tanz und nicht näher beschriebene »Per- versionen«. Wie in diesem Kapitel gezeigt wird, spielten die beiden Autoren mit ihrer Vorstellung des »wahren« Rausches auf ein Freiheitsverständnis an, dessen Verfestigung sich in den Diskursen der Anti-Alkohol-Bewegung zwischen 1886 und 1940 besonders gut beobachten lässt. Das Ideologem der Freiheit war im alkoholgegnerischen Diskurs omni- präsent. Sowohl die sozialhygienisch als auch die religiös geprägten Missi- onen gegen den Alkohol legitimierten ihre Agitation zu weiten Teilen über das Motiv der Befreiung. Besonders unter Abstinenten war die Ansicht verbreitet, sich als »Ritter der Freiheit«8 zu verstehen. In den einschlägigen sozialhygienischen Zeitschriften wurden, wie noch gezeigt wird, verschie- denste Auslegungen von »Freiheit« ausführlich diskutiert und stets mit einer längerfristigen Konkurrenzfähigkeit spezifischer, oft als »Rassen«, »Völker« oder »Nationen« umschriebener Gesellschaftskollektive in Ver- bindung gebracht. Aber auch das religiös geprägte Blaue Kreuz erhob die Befreiung und Seligwerdung der »von der Macht der Finsternis gebunde- nen Trinker« zu seiner Hauptaufgabe.9 Die Freiheits konzeptionen der bei- den Strömungen unterschieden sich jedoch erheblich. So bezog das christ- liche Konzept einer befreienden Spiritualität seine Kraft nicht zuletzt aus dem Versprechen eines himmlischen Paradieses. Mit dieser traditionsrei- chen, sich auf eine metaphysische Entität berufenden Soteriologie konnten sozialhygienisch argumentierende Akteure aufgrund ihres positivistischen

6 Ebd., S. 150. 7 Gabriel, E., »Zum Problem der Süchtigkeit«, S. 172. 8 Förster, F. W., »Freie Schweizer«, Schweizer Abstinenzblätter Beilage 29 (1907), S. 174. 9 »Fünfzig Jahre Blaukreuzarbeit«, Arbeiterfreund-Kalender 1 (1927), S. 1. Im sozialhygi- enischen Diskurs waren diese Diskussionen insbesondere in den Ausgaben der Inter- nationalen Monatsschrift zwischen 1893 und 1894 außerordentlich präsent, sowie 1928 am Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus, an welchem »Das Problem der Freiheit in der Alkoholfrage« während einer ganzen Session abgehandelt wurde. Innen / Außen: Eine prägende Distinktion 125

Credos an eine empirische Nach weisbarkeit nicht mithalten. Dennoch lässt sich aufzeigen, dass ihre alkoholgegnerischen Argumente durchdrun- gen waren von einer christlichen Befreiungsrhetorik, die deutliche Anleh- nungen an evangelische Vorstellungen von Spiritualität offenbart.

Innen / Außen: Eine prägende Distinktion

Am deutlichsten lassen sich diese Überschneidungen im alkoholgegne- rischen Diskurs anhand der auffälligen Gegenüberstellungen von Innen und Außen, von Mensch und Tier sowie von Geist und Leib aufzeigen. Wie folglich weiter ausgeführt wird, verfestigten viele Beiträge in den alkohol- gegnerischen Diskursen eine Bündelung der positiv bewerteten Vorstel- lungen von Innen, Mensch und Geist, die von einem mit Außen, Tier und Leib assoziierten Bündel abgegrenzt wurden. Eine prägende Distinktion dieser beiden Komplexe findet sich bereits in Martin Luthers Traktat Von der Freiheit des Christenmenschen. Darin unterschied der Reformator zwi- schen einem inneren, geistigen Menschen und einem äußeren, fleischlichen Menschen.10 Ausgehend von dieser Distinktion Innen / Außen kann eine Kontinuität bis hin zu aktuellen Identitäts theorien verfolgt werden, die im Anschluss an den cartesianischen Dualismus zwischen Seele und Leib, zwi- schen einem reflexiv-bewussten Ich und einem durch den Körper gegebe- nen Selbst unterscheiden.11 Die Abgrenzung jener beiden Instanzen und vor allem die einseitige Bevorzugung des autonomen Subjekts gegenüber dem ausgelieferten Objekt stellt ein wesentliches Merkmal der dominierenden modernen Subjektivitäts konzeptionen dar, obschon diverse Denker wie Immanuel Kant, Georg Lichtenberg oder Friedrich Wilhelm Joseph Schel- ling nahelegten, die cartesianische Prämisse »Ich denke« als »Es denkt in mir« auszulegen.12 Zusätzliche Kritik wird von psychoanalytisch ausgerich- teten Autoren geäußert: So stellt etwa der deutsche Moralphilosoph Ger- not Böhme der hegemonialen Konzeption des autonomen »Ich« die Idee eines souveränen »Selbst« entgegen, das auch die Folgen einer kurzzeitigen Entäußerung der bewusst-reflexiven Selbstkontrolle zuversichtlich in Kauf

10 Diese Distinktion formulierte Luther explizit in der zweiten These, vgl. Luther, M., »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, in Martin Luther: Glaube und Leben, herausgegeben von Korsch, D. (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2011 [1520]), S. 277-316. 11 Böhme, G., Ich-Selbst: Über die Formation des Subjekts (München: Wilhelm Fink, 2012). 12 Ebd., S. 189 ff. 126 Die Rhetorik der Freiheit nimmt.13 An diesen kurzen Beispielen zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen einem denkenden, autonomen und darum freien »Innen« und einem fühlenden, nicht-souveränen und darum unfreien »Außen« eng mit Vorstellungen von Freiheit verwoben ist. Auch im alkoholgegnerischen Diskurs waren, wie die eingangs vorge- stellten Ausführungen Gabriels und Kratzmanns gezeigt haben, ganze As- soziationsbündel um die Abgrenzungen zwischen »Innen« und »Außen« von zentraler Bedeutung. Nicht zuletzt ermöglichten diese Zuordnungen eine präskriptive Vermittlung von Vorstellungen zur menschlichen Frei- heit und Würde.14 Damit verfestigte die Alkohol gegnerschaft nicht nur »die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte«, die sich nach Theodor Horkheimer und Max Adorno »in der Unterscheidung vom Tier«15 ausdrückt. Sie war auch mitbeteiligt an der Ausprägung eines spe- zifischen Verständnisses der Selbstbestimmung. Dieses Kapitel orientiert sich an der Frage nach der Art und Weise, wie die untersuchten alkohol- gegnerischen Organisationen dem mit »Freiheit« konnotierten Mensch- sein eine umfassendere Qualität des selbstbestimmten Entscheidens und Handelns zuschrieben. Dabei ist von Interesse, welche Qualitäten im »Innern« eines Individuums verortet wurden, und welche Eigenschaften außerhalb der individuellen Entscheidungskompetenz verortet wurden. Da sich menschliche Wahrnehmungen von Freiheit je nach Subjekt und Kontext unter scheiden können, empfiehlt sich, »Freiheit« als kontingente Idee zu verstehen, die eine Offenheit für unterschiedliche Deutungen auf- weist. Ausgehend von diesem Verständnis lässt sich fragen, welche Lesar- ten von Freiheit im alkoholgegnerischen Diskurs dominierten und welche gleichzeitig zurückgedrängt wurden.

13 Vgl. ebd., S. 7: »Versteht der autonome Mensch sich von seiner Selbstbestimmung her und betrachtet alles, was an ihm diese Selbstbestimmung bedroht und infrage stellt, als ihm nicht zugehörig, so ist der souveräne Mensch derjenige, der sich etwas widerfahren lassen kann.« 14 Dass die den Menschen eigene Fähigkeit zur Vermittlung nuancierter Gedanken sich leicht auf eine naturgegebene und damit »natürliche« Anlage verschiedener »Rassen« beziehen ließ, wird in Kapitel 3 problematisiert. 15 Horkheimer, M. und Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, S. 262. Die Denker betonten dabei hauptsächlich die menschliche Fähigkeit zur sprachlichen Artiku- lation von Ideen und Gedanken. Innen / Außen: Eine prägende Distinktion 127

Süchtigkeit und Selbstkontrolle

Die eingangs vorgestellten Ausführungen Gabriels und Kratzmanns stell- ten insofern eine extreme Freiheitskonzeption dar, als dass diese Autoren nicht nur den Rauschmittel konsum, sondern auch Aktivitäten wie das Tanzen als eine mit Unfreiheit assoziierte »Entäußerung« darstellten. Mit der Begründung, dass in derartigen Momenten die als höchstes Gut ver- standene Selbstbeherrschung entäußert werde, beschrieben sie gerade auch willentlich herbeigeführte Zustände der Ausgelassenheit als »impulsives Irresein« des »Triebmenschen«.16 Demnach wider sprach also nicht nur die »Süchtigkeit« nach außerhalb einer Person existierenden psychoaktiven Substanzen einem Ideal einer Unabhängigkeit, sondern auch das Verlan- gen nach Praktiken, die eine Person von sich heraus anwenden konnte, ohne dabei notwendiger weise auf Außenstehendes angewiesen zu sein. Wie in Sucht-Debatten allgemein spielte dabei das gedeutete Verhältnis von Freiheit zu Notwendigkeit eine tragende Rolle. Deutungen des Not- wendigen bezogen sich dabei vielfach auf ein spezifisches Verständnis von Natürlichkeit. So auch bei Gabriel und Kratzmann, die der Ansicht, der Mensch solle seiner Selbstkontrolle hin und wieder eine erholsame Pause gönnen, mit dem Vergleich mit einem im Kriegsfall seine Wache verschla- fenden Soldaten begegneten. Um den fortdauernden, scheinbar naturge- gebenen Überlebenskampf längerfristig zu bestehen, sei es also notwendig, dass sich die Menschen von ihrem Bedürfnis nach einer kurzen, entspan- nenden Lockerung der Selbstkontrolle lösen. Die Autoren vermeinten in diesem Sich-gehen-Lassen gar eine »Lust am Bösen« sowie einen »Wille[n] zum Untergang« zu erkennen.17 Wie folgende Passage zeigt, vermochten die Mediziner bereits in alltäglichen Praktiken derartige Entäußerungen festzu stellen: »Man findet an Vergnügungsstätten in den sogenannten amerikani- schen Schaukeln, bei den Rutschbahnen u. dgl. ebenfalls vorwiegend Frauen und Mädchen. Sie können die Schaukel gar nicht hoch genug emportreiben, fast bis zum Überkippen. Wenn sie dann in rasendem Schwung abwärts stürzen, stoßen sie wilde, girrende Schreie der Wol- lust aus, die Gesichter sind oft mänadenhaft verzerrt. Sie empfinden denn auch tatsächlich ganz die nämliche Art von Lust wie im – Ge- schlechtsverkehr, das nämliche Gefühl des Stürzens ins Bodenlose, die

16 Gabriel, E., »Zum Problem der Süchtigkeit«, S. 172. 17 Gabriel, E. und Kratzmann, E., Die Süchtigkeit, S. 152. 128 Die Rhetorik der Freiheit

Wollust des Sich-fallen-lassens, der Entäußerung aller Macht über das Ich – die Preisgabe, Hingabe an das Fremde, die Außenwelt.«18

Zusammen mit Kratzmann verstand Gabriel die Freiheit des Menschen gerade in dessen Entscheidungsmöglichkeit darüber, ob dieser seine durch »vorgeformte Instinkte« geprägten »Triebforderungen« mit den nicht wei- ter spezifizierten »Forderungen der Umwelt« in Einklang bringen wolle oder nicht.19 Süchtigkeit läge dann vor, wenn eine Person durch ihre leib- lichen »Trieb forderungen« bestimmt wird und nicht durch reflexiv-bewusst getroffene Entscheidungen. Der im Zitat auf Frauen gerichtete Fokus il- lustriert auch Gabriels Faszination für Korrelationen zwischen körper- licher Ausprägung und geistiger ›Qualität‹. Der Psychiater kategorisierte seine »Fälle« nach Ernst Kretschmers Konstitutionstypenlehre und be- schrieb zahlreiche Ausprägungen von »Süchtigkeit«, die stets dem Motiv einer entäußerten Selbstkontrolle folgten. Zudem fokussierten sich seine zahlreichen Anamnesen jeweils stark auf den Alkoholkonsum der Patien- ten. Der Psychiater schrieb gerade diesem Narkotikum die Erosion der re- lativen menschlichen Selbstbestimmung über seine »Triebforderungen« zu. Sowohl mit dem befürchteten Kontroll verlust als auch mit dem ständigen Rückgriff auf die Opposition zwischen Mensch und Tier reihte sich der Psychiater in eine lange Tradition im Anti-Alkohol-Diskurs ein. Bemer- kenswert sind die Ausführungen Gabriels und Kratzmanns auch aufgrund ihrer ausgeprägten Tendenz, die Menschen einerseits auf das durch eine be- wusste Selbstbestimmung kontrollierbare Handeln eines »Ichs« zu reduzie- ren, und andererseits deren der Vernunft unzugängliche Subjektivität (des »Selbst«) hauptsächlich als Bedrohung sowie als Knechtschaft wahrzuneh- men. Zu dieser Sichtweise gab es jedoch auch Gegenpositionen.

Das autonome Subjekt und das Unbewusste

Gabriels Ausführungen stehen damit paradigmatisch für Freiheitskonzepti- onen, die von den Individuen einforderten, den spezifischen »Forderungen der Umwelt« durch reflektierte Vernunftsentscheidungen und dementspre- chend kontrolliertes Verhalten zu begegnen. Diesem plausiblen ›Primat des Bewussten‹ hält Gernot Böhme entgegen, dass auch eine konstante Furcht vor dem Kontrollverlust als unfreier Zustand ausgelegt werden kann. Man- che Autoren gehen noch weiter und interpretieren psychoaktive Substan-

18 Ebd., S. 154. Hervorhebungen im Original gesperrt. 19 Ebd., S. 18. Innen / Außen: Eine prägende Distinktion 129 zen – unter ihnen Alkohol – als »Türöffner« zu neuen Bewusstseinszustän- den, ohne den dadurch erreichten Rauschzustand wie Gabriel als »falsch« zu verstehen. Eine der einflussreichsten Erklärungen zur Stützung solcher Positionen stammt vom britisch-amerikanischen Schriftsteller Aldous Hux- ley (1894-1963), der über einen im mensch lichen Gehirn angelegten »Re- duktionsfilter« (»reducing valve«) mutmaßte. Dieser Filter schränke das menschliche Bewusstsein zur Erhöhung der Überlebenschancen beträcht- lich ein, könne aber durch gewisse psychoaktive Substanzen erweitert wer- den.20 Nach dieser Erklärung stellen bewusstseinsverändernde Substan- zen eine Möglichkeit dar, sich der einengenden Struk turen des Alltags zu entziehen – was in einem positiv bewerteten Sinne als (geistige) Selbster- fahrung, in einem negativ bewerteten als Flucht ausgelegt werden kann und letztendlich die leibliche Existenz eines Individuums einem Risiko außetzt.21 Die positive Auslegung entspricht dabei der von Jacques Derrida skiz- zierten Position des liberalen Naturalismus, während die negative Inter- pretation die Position des Konventionalis mus wiedergibt. Zur Erinne- rung: Erstere pocht unter Berufung auf einen imaginierten Naturzustand auf die Freiheit zur Selbstbestimmung (wozu auch das Recht auf riskante »Trips« zählt), während ein freier Zustand eines Individuums aus Sicht der Gegenposition auf bestimmte Einschränkungen zur Erhaltung der gesell- schaftlichen Sicherheit und Stabilität angewiesen ist. Diese sich teilweise gegenüberstehenden Auslegun gen verweisen auf eine prinzipielle Viel- falt von individuellen Freiheits-Erfahrungen, die sich auch in Bezug auf die »Alkoholfrage« offenbarten: Gerade aufgrund der existierenden Viel- falt von Freiheitsverständnissen war es vielen Alkoholgegnerinnen und -gegnern ein zentrales Anliegen, andere Mitmenschen von der Richtig- keit ihrer konventionalis tischen Ansicht zu überzeugen. Denn diejenigen Menschen, die nur ungern auf die angenehmen Erfahrungen unter Al- koholeinfluss verzichteten, waren den alkoholgeg nerischen, ›im Namen der Freiheit‹ vorgebrachten Verbotsforderungen nicht nur freund lich ge- sinnt, was etwa die per Abstimmung verworfenen Vorlagen zu einer mo- deraten Erweiterung der Eidgenössischen Alkoholgesetzgebung von 1923

20 Vgl. Huxley, A., The Doors of Perception, S. 16. Vgl. auch Tanner, J., »›Doors of per- ception‹ versus ›Mind control‹. Experimente mit Drogen zwischen kaltem Krieg und 1968«, in Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, heraus- gegeben von Griesecke, B., et al. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009), S. 340-372 (363 f.). 21 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den Motiven des Aberglaubens sowie des Eskapis- mus im Kapitel zur Rhetorik der Wirklichkeit. 130 Die Rhetorik der Freiheit und 1929 verdeut lichen.22 Die von alkoholgegnerischer Seite beförderte Perpetu ierung eines konventionalistischen Freiheitsverständnisses soll also folglich genauer betrachtet werden. Welche geäußerten Beschreibungen wiesen aufgrund welcher Referenzen einen pejorativen Gehalt auf ? Wel- che Praktiken wurden aus welchen Perspektiven und mit welchen Meta- phern als selbstbestimmt betrachtet – und welche Perspektiven wurden dabei ausgeblendet? Dabei steht allen voran die Frage nach den propagier- ten Trennungen zwischen Innen zu Außen im Zentrum. Eine Analyse, die auch die vorge nommenen Unterscheidungen zwischen erwünschten Emo- tionen und zu vermeidenden Affekthandlungen in den Blick nimmt, er- laubt eine Annäherung an die Welt- und Menschenbilder der unterschied- lichen Akteurskollektive. Die im alkoholgegnerischen Diskurs auffällig perpetuierte Distinktion zwischen dem rationalen Willen und den irrati- onalen Gefühlen scheint noch gegenwärtig ein konstitutives Element der dominanten Freiheits-Konzeption darzustellen.23 Die folgenden Ausführungen sind in zwei übergeordnete Teile geglie- dert, die grob mit ›äußerer‹ und ›innerer‹ Freiheit assoziiert sind. Diese Gliederung soll jedoch nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass pos- tulierte Assoziationen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit im alkoholgeg- nerischen Diskurs vielfach zu stark ineinander verzahnt waren, um klare Grenzen ziehen zu können. Trotz dieser Unschärfe fokussiert der folgende Teil zunächst auf die Thematik der ›äußeren Freiheit‹ und damit auf die Frage, wie die alkoholgegnerische Agitation im Kontext einer erweiterten gesellschaft lichen Mitbestimmung verortet wurde. Im anschließenden Teil zur ›inneren Freiheit‹ wird die Frage aufgeworfen, was einerseits die religiös geprägte und andererseits die sozialhygienisch geprägte Alkoholgegner- schaft als höchste Freiheit eines autonomen Menschen konzipierten. Dabei gerät zusätzlich zur Metapher der Sklaverei die Denkfigur der Täuschung in den Fokus. In den abschließenden Abschnitten sollen einerseits die Zu-

22 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 171. 23 Die Trennbarkeit von Denken, Fühlen und Wollen wurde prominent durch Fried- rich Nietzsche kritisiert, Nietzsche, F., Jenseits von Gut und Böse, Neuausg., 7. Aufl. (München: Deutscher Taschenbuchverlag, 2002 [1886]), Abschnitt 16. Weitere Intellektuelle wie Donald Davidson stehen in dieser Tradition des »Holismus des Mentalen« (vgl. Tanner, J., »Das Rauschen der Gefühle. Vom Darwinschen Uni- versalismus zur Davidsonschen Triangulation«, Nach Feierabend, Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 2 (2006), S. 129-152 (141 f.)). Auch Gernot Böhme kritisiert diese einseitige Konzeption des souveränen Menschen: »Es geht heute nicht mehr an […], Rationalität allein durch die Strukturen eines Rechtfertigungsdiskurses zu bestimmen und diesen Diskurs noch schlicht als Diskurs der Wahrheit zu verste- hen.« (Böhme, G., Ich-Selbst, S. 58). Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 131 sammenhänge zwischen ›Außen‹ und ›Innen‹ herausgearbeitet werden, so- wie anderer seits auch die bemerkenswerte Ähnlichkeit der durch die re- ligiös und sozialhygienisch geprägten Strömungen vorgebrachten Ideale und Normen. Im Hinblick auf diese Parallelen wird zunächst betrachtet, wie sich die Basler Mission in Westafrika für mehr Freiheit einsetzte.

1. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung

Im Frühling 1885 adressierte das Komitee der Basler Mission eine Eingabe an den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck, in der um eine »mög- lichste Beschränkung der Branntweineinfuhr in Westafrika« gebeten wur- de.24 Darin identifizierte das Komitee den billig produzierten Schnaps als »Hauptausfuhrmittel« der deutschen Handelshäuser, das die »unzivilisier- ten Völker« demoralisieren sowie jegliche »sittliche Kultur« und »Tathkraft« erodieren würde. Schrieben die Missionare dem Alkoholgenuss bereits in ihrer Heimat demoralisierende Tendenzen zu, so schienen diese in Afrika aufgrund einer vermuteten Andersartigkeit der dort angestammten Bevöl- kerung umso verheerender. So war in der Eingabe, die auch im Evangeli- schen Heidenboten abgedruckt wurde, zu lesen: »Der Neger ist schwach; er trinkt so lange er etwas hat, und wenn er nichts hat, so macht er Schulden, um trinken zu können, und wird da- durch den dort überall herrschenden uralten Gewohnheiten zufolge Pfandsklave seines Gläubigers […]. Die Anbietung von Branntwein an die Neger ist sittlich um nichts weniger gefährlich und verwerflich, als wenn man bei uns Kinder zum Branntweingenuss verleitet […]«25 Die Passage berührt zwei Aspekte, die in Debatten über »Freiheit« immer wieder zum Tragen kamen. Einerseits bedient sie sich des wirkmächtigen Negativ-Bildes der Sklaverei: Innerhalb der lokalen Sitten Afrikas ließ sich der durch die Konsequenzen des Alkoholkonsums drohende Verlust eines gesellschaftlichen Anrechts auf individuelle Selbst bestimmung noch be- drohlicher darstellen als in Europa. Andererseits verweist der Vergleich von Afrikanern mit Kindern auf das in Europa dominante Überthema einer mit Reife assoziierten charakterfesten Persönlichkeit, von der das Treffen selbstständiger Entscheidungen im längerfristigen Interesse sowohl des

24 »Eine Eingabe«, Evangelischer Heidenbote 5 (1885), S. 34. 25 Ebd., S. 34. 132 Die Rhetorik der Freiheit eigenen Selbst als auch des umgebenden sozialen Umfelds erwartet wurde. Die Vorstellung, dass »Schwarze« wie »große Kinder«26 zu behandeln seien, da diese – wie an anderer Stelle eingeworfen wurde – »ohne an morgen zu denken«27 nur im Moment leben würden, hielt sich bis weit in die 1930er Jahre hinein hartnäckig in den verschiedensten Strömungen der Alkohol- gegner schaft.28 Diese paternalistischen Äußerungen trugen vielfach eine an das europäische Publikum gerichtete Aufforderung in sich: Sowohl in Afrika als auch in Europa solle dieses durch öffentlich vorgelebte Abstinenz seine Vorbildrolle wahrnehmen. Wie die Eingabe der Basler Mission im Kontext Westafrikas und zahlreiche Initiativen in Europa verdeutlichten, sollte die Ausnüchterung der Gesellschaft wenn nötig durch wohlwollend- bevormundende Gesetze beschleunigt werden. Die Basler Missionsvertreter konzentrierten sich in ihren politischen Forderungen jedoch primär auf den entfernten afrikanischen Kontext. In ihrer Eingabe hielten sie fest, dass jeder erfahrene Missionar die »unleug- bare und bekannte Thatsache« bestätigen würde, »dass die Verleitung der Neger zum Branntweingenuss den moralischen und ökonomischen, wei- terhin auch den physischen Ruin derselben zur Folge hat […].«29 Mit die- sem Vorwurf einer Verleitung anderer zu einer längerfristig schädlichen Handlung brachten sie zugleich das Motiv der Verführung in ihre Argu- mentation mit ein. Dieses Verführungs-Motiv kam auch in europäischen Anti-Alkohol-Kampagnen zum Tragen: Kurz nach der Eingabe der Basler Mission formulierte der als »Vater« der »modernen Abstinenzbewegung« bekannte Dorpater Physiologe Gustav von Bunge sein Credo »Die Verfüh- rer sind die Mäßigen«.30 Im Unterschied zur Mehrheit der Basler Missions-

26 Illustrierter Arbeiterfreund 7 (1931), S. 28. 27 Rudolf, F., »Die Prohibition in Amerika«, Internationale Monatsschrift 4 (1911), S. 121-132 (123). 28 Vgl. Adas, M., »Contested Hegemony: The Great War and the Afro-Asian Assault on the Civilizing Mission Ideology«, Journal of World History 15, no. 1 (2004), S. 31- 63 (32 f.). Die Historikerin Birthe Kundrus hat aufgezeigt, dass im deutschen Kolo- nialdiskurs trotz der stereotypisierten Kulturlosigkeit der »Schwarzen« keine stabile Vorstellung des »Deutschtums« auszumachen war, vgl. Kundrus, B., Moderne Im- perialisten: Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien (Köln: Böhlau, 2003), S. 175 f. 29 »Eine Eingabe«, Evangelischer Heidenbote 5 (1885), S. 34. 30 Bunge, G. v., Ein Wort an das »Blaue Kreuz« und Herrn Oberpfarrer Dr. Wilhelm Martius in Dommitzsch bei Torgau (Basel: Verein zur Bekämpfung des Alkohol- genusses, 1893). Bunge zitierte bereits 1885 das Motto eines Britischen Abstinenz- vereins, wonach das »erste Glas der Mäßigkeit […] der Anfang der Trunksucht« sei (Bunge, G. v., Der Vegetarianismus: Ein Vortrag (Berlin: A. Hirschwald, 1885), S. 29 f.). Zu Bunges Würdigung als Pionier der »modernen Abstinenzbewegung« vgl. insbesondere Gordon, E., The Anti-alcohol movement in Europe, Reprint ([S. l.]: Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 133 vertreter richtete sich Bunge damit nicht bloß gegen den Schnaps, der von Anhängern des »Mäßigkeitsstandpunktes« bekämpft wurde, sondern auch gegen den Genuss von scheinbar harmlosen, schwachalkoholischen Getränken wie Bier oder Wein. Gleichwohl basierte auch die Bunge’sche Rhetorik der Verführung auf dem Vorwurf der Verleitung anderer zu einer längerfristigen Beschränkung der Selbstbestimmung. Allen alkoholgegnerischen »Zivilisierungsmissionen« war gemein, dass die angestrebte Verbesserung der ›äußeren‹ gesellschaftlichen Bedingun- gen zur individuellen Selbstbestimmung Hand in Hand ging mit einem Bemühen nach einer ›inneren‹ geistigen »Hebung«. Diese beiden Tenden- zen – sowohl nach ›innen‹ als auch nach ›außen‹ – waren jeweils eng in- einander verwoben und wurden teilweise mit denselben Metaphern um- schrieben. Als wirkungsmächtigstes Thema dieser Freiheitsdiskurse sticht die »Sklaverei« hervor. Auch hierzu empfiehlt sich ein Blick auf die Basler Mission, die sowohl direkten Kontakt zu der Westafrikanischen »Sklaven- küste« als auch zum evangelisch durchdrungenen Abolitions-Netzwerk hatte.31 In diesem Zusammenhang ist jedoch erwäh nens wert, dass die In- stitution der Sklaverei von den Basler Missions vertretern nicht einhellig verurteilt wurde. In den 1860er-Jahren setzten sich verschiedene in Afrika stationierte Missionare dafür ein, dass den Christen in den Missionsdör- fern das Halten von Sklaven erlaubt würde. Das Komitee lehnte diese Be- gehren jedoch strikt ab.32 Neben der Verbreitung des Evangeliums kris- tallisierte sich die Abschaffung der Sklaverei durch die Beförderung von langfristigen Erwerbsmöglichkeiten als ein zentrales Anliegen der Basler Prediger heraus. Deshalb werden vorerst die propagierten Verbesserungs-

Kessinger, 2007), S. 11; Mattmüller, M., Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz, S. 30. 31 Vgl. David, T. und Schaufelbühl, J. M., »Swiss Conservatives and the Struggle for the Abolition of Slavery at the End of the Nineteenth Century«, Itinerario XXXIV, no. 2 (2010), S. 87-103. Obschon Anti-Sklaverei- und Anti-Alkohol-Netzwerke zahlreiche Überlappungen aufwiesen, stellt Colm Kerrigan bei einigen wichtigen Akteuren eine deutliche Priorisierung des alkoholgegnerischen Kampfs heraus (Kerrigan, C., »Irish Temperance and US Anti-Slavery: Father Mathew and the Abolitionists«, History Workshop Journal 31, no. 1 (1991), S. 105-119). 32 Vgl. Haenger, P., Sklaverei und Sklavenemanzipation an der Goldküste: Ein Beitrag zum Verständnis von sozialen Abhängigkeitsbeziehungen in Westafrika (Basel etc.: Helbing & Lichtenhahn, 1997), S. 119 ff.; Haenger, P., »Reindorf and the Basel Mis- sion in the 1860s. A young man stands up to Mission pressure«, in The Recovery of the West African Past: African Pastors and African History in the Nineteenth Cenury, herausgegeben von Jenkins, P. (Basel: Basler Afrika Bibliographien, 1998), S. 19-29; Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 80 ff. 134 Die Rhetorik der Freiheit vorschläge der Missionare zur ökonomischen und politischen »Hebung« beleuchtet, bevor der Bogen zu sozialhygienischen Einwürfen aus Mittel- europa geschlagen wird.

Der »legitime Handel« als Ermächtigungsstrategie

Die Verlautbarungen der Basler Mission zogen eine klare Trennung zwi- schen als »illegitim« bezeichneten Formen des Handels und den »legitimen« Alternativen dazu. Die missionsnahen Medien betonten regelmäßig, dass die 1859 gegründete Basler Missionshandlungsgesellschaft später als Basler Handels gesellschaft (BHG) ausdrücklich auf den Handel mit Schnaps und Waffen verzichtete. Diese selbstauferlegte Handelsbeschränkung wurde als Son der stellungmerkmal der BHG ausge legt, dem das Basler Komitee 1884 noch eine Eindämmung des Branntwein exports an die Goldküste zutrau- te.33 Dabei war der reklamierte Verzicht auf »illegitime« Handels formen Ausdruck von Verantwortungs bewusstsein und moralischer Überlegen- heit. Die auf einzelne Handelsformen gerichtete Kritik bestärkte zugleich die Vorstellung eines der kolonialen Zivilisierungsmission dienlichen, le- gitimen Handels und unterstrich dabei den Wert der BHG oder des mit der Nord deutschen Mission liierten Handelshauses Vietor. Oft verglichen Freunde der Äußeren Mission in ihren Klagen den Export »des weißen Mannes Feuerwasser«34 nach Afrika mit dem Opiumhandel nach China und erhoben damit den Vorwurf, die moralische und kulturelle »Erhe- bung« der ›Kolonisier ten‹ habe gegen über den ökonomischen Gewinnen des ertrag reichen Handels mit Rauschmitteln das Nachsehen.35 Implizit be- stärkte dieses Motiv der befreienden Erhebung trotz einer auf spezifische »illegitime« Praktiken beschränkten Kritik die Idee und die Notwendigkeit einer kolonialen Zivilisierungs mission.36 Wurde der »illegitimate trade« vornehmlich im Handel mit Sklaven, Waffen sowie mit Schnaps wahrgenommen, sollte der geforderte »legi- time« Handel allen voran bei der Förderung von lokalen Agrarproduk-

33 Wanner, G. A., Die Basler Handels-Gesellschaft A. G., 1859-1959 (Basel: Basler Han- dels-Gesellschaft A. G., 1959), S. 111; Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 192. 34 »König Khama«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1900), S. 17 f. 35 Vgl. dazu allen voran Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel: Seine ver- derblichen Wirkungen und Vorschläge zur Beschränkung derselben«, Allgemeine Missionszeitschrift 13, 1 (1886), S. 9-39 (19). 36 Vgl. dazu Willis, J., »Indigenous Peoples and the Liquor Traffic Controversy«, S. 311 f. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 135 ten sowie Handwerksarbeiten ansetzen. Diesem Zweck diente die BHG, welche die Missionierungsbestreben der Basler Mission durch als insti- tutionalisierte Verbindung von Commerce and Christianity substanziell mitfinan zierte.37 Der Historiker Gustav Wanner führte deren Gründung primär auf den Bedarf der Missionare nach preis günstigen europäischen Gütern zurück.38 Gleichzeitig stellte das aus dem missionsnahen Umfeld rekrutierte Personal der BHG Faktoreien und Know-How zur Verfügung, um daraufhin die hergestellten Güter anzukaufen.39 Durch diese neuen Absatzmöglichkeiten sollte gleichzeitig die »heidnische Arbeitsscheu« 40 sowie die Sklaverei bekämpft werden. Die Handlungsgesellschaft ging da- von aus, dass der Preis der immer produktiver werdenden Sklaven so lange ansteige, bis der Sklavenhandel ab einem gewissen Preisniveau allmählich unrentabel würde.41 Auch wenn der Erfolg derartiger Abolitions-Strategien von einigen His- torikern angezweifelt wird,42 zeichnen ältere Historiografien zur Basler

37 Vgl. Stanley, B., »›Commerce and Christianity‹: Providence Theory, the Missionary Movement, and the Imperialism of Free Trade«, The Historical Journal 26, no. 1 (1983), S. 71-94; Porter, A., »›Commerce and Christianity‹: The Rise and Fall of a Nineteenth-Century Missionary Slogan«, The Historical Journal 28, no. 3 (1985), S. 597-621. Zu den steigenden Beiträgen der BHG an die Basler Mission vgl. Schlat- ter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission, Bd. I, S. 335. Vgl. auch Knoll, A. J., »Die Norddeutsche Missionsgesellschaft in Togo 1890-1914«, in Imperialismus und Kolonialmission: Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium, herausge- geben von Bade, K. J., Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte (Wiesbaden: Steiner, 1982), S. 165-188 (166). 38 Wanner, G. A., »Basel und die Goldküste, das heutige Ghana«, in Sonderabdruck aus dem Basler Stadtbuch (Basel: Basler Handels-Gesellschaft A. G., 1960), S. 97- 113 (111). Vgl. auch Osafo, E. A., Der Beitrag der Basler Mission zur wirtschaftlichen Entwicklung Ghanas von 1828 bis zum Ersten Weltkrieg (Köln: Hansen, 1972). 39 Gesucht wurden »entschieden gläubige« Kaufleute (vgl. Öhler, »Aufruf«, Evange- lischer Heidenbote 6 (1896), S. 41), wobei der Christliche Verein Junger Männer eine wichtige Vermittlungsfunktion innehatte (vgl. Jenkins, P., »Towards a definition of the pietism of Württemberg as a missionary movement«, S. 3). 40 Wanner, G. A., Die Basler Handels-Gesellschaft, S. 105. 41 1. Jahresbericht BHG 1860 [Archiv WWZ], S. 2. 42 Allen voran sei hier verwiesen auf: Lovejoy, P. E. und Richardson, D., »The initial ›crisis of adaptation‹: the impact of British abolition on the Atlantic slave trade in West Africa, 1808-1820«, in From slave trade to »legitimate« commerce: the commercial transition in nineteenth-century West Africa papers from a conference of the Centre of Commonwealth Studies, University of Stirling, herausgegeben von Law, R. (Cam- bridge etc.: Cambridge University Press, 1995), S. 32-56. Der Afrika-Historiker Reid hebt in diesem Kontext den Umstand hervor, dass ›legitime‹ und ›nicht-legitime‹ Handelsformen koexistierten und sich nicht, wie allgemein angenommen, ge- genseitig ausschlossen. Überdies habe die Formel des legitimate trade vielfach als 136 Die Rhetorik der Freiheit

Mission, wie etwa die um 1916 veröffentlichte, fünfbändige Geschichte der Basler Mission des Pfarrers Wilhelm Schlatter, ein positiveres Bild. Durch die Verbreitung des Christentums, der Arbeits-Ehrung, der Industrie so- wie des christlichen, sparsamen Familienlebens auf ihrem Missionsgebiet habe die Mission das Neffen-Erbrecht, die Polygamie und die Sklaverei bekämpft.43 Besonders die Sicherstellung des persönlichen Besitzes sowie die Aufwertung des Ansehens der Arbeit, die zuvor hauptsächlich als Sache der Sklaven und »Weiber« betrachtet wurde, waren wesentliche Grund- steine für die missionarischen »Hebungsbestrebungen«. 44 Vergleichbare Hebungsrhetoriken, die auf Etablierung, spezifischer Eigentums-Konzep- tionen basierten, stellten in den Verlautbarungen kolonialer Akteure einen Gemeinplatz dar.45

Alkohol und Sklaverei

Der Branntwein stand seit jeher in enger Beziehung zum westafrikanischen Sklavenhandel, da sich das Getränk im Rahmen des »Trust-Systems« zu einem allgemein akzeptierten Zahlungsmittel etabliert hatte.46 Diese Wäh- rungsform, die im Gegensatz zu Geld jederzeit konsumiert werden konnte, erschien für die Beförderung einer längerfristigen Prosperität als Hindernis. Damit richtete sich das im »liquor trade«-Diskurs prominente Ziel, Kolo- nisierte vom Branntwein zu befreien, gegen gesellschaftliche Fesseln, die in einen engen Zusammenhang mit der Sklaverei gebracht wurden. Dies verdeutlichen die engen Verbindungen zwischen der Aborigines Protection Society (APS) und dem sichtbarsten britischen Verband zur Bekämpfung des Brannt wein handels, dem 1887 gegründeten Native Races and the Li-

Rhetorik gedient, da die afrikanische Wirtschaft durch den bloßen Export von Rohmaterialien kaum angewachsen sei (vgl. Reid, R. J., A History of Modern Africa 1800 to the Present, 2nd ed., II, Concise History of the Modern World (New York etc.: Wiley-Blackwell, 2012), S. 31-35). 43 Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission, Bd. III, S. 83 f. & S. 190. 44 Ebd. 45 Vgl. dazu Porter, A., »Commerce and Christianity«, S. 598. Osterhammel, J., »›The Great Work of Uplifting Mankind‹. Zivilisierungsmission und Moderne«, in Zivi- lisierungsmissionen, herausgegeben von Barth, B. und Osterhammel, J. (Konstanz: UVK, 2005), S. 363-426. 46 Vgl. Möhle, H. (Hg.), Branntwein, Bibeln und Bananen: Der deutsche Kolonialis- mus in Afrika – eine Spurensuche (Hamburg: Verlag Libertäre Assoziationen, 1999), S. 22. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 137 quor Traffic United Committee.47 Die englischsprachigen Organisa tionen, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, waren vielfach pro- testantisch geprägt und wiesen zahlreiche Verbindungen zu der deutsch- sprachigen Äußeren Mission auf.48 Dabei verbreitete das evangelische Netzwerk eine Vorstellung der Sklaverei als eine institutionalisierte Form ›äußeren‹ Zwangs, die es auch als Metapher zur Umschreibung von ›inne- ren‹ Zwängen verwendete. Nicht nur die britischen Interessenverbände verbreiteten mit ihren Berichten über sogenannte »uncivilized« oder »se- micivilized races«49 die Vorstellung, dass weite Teile der afrikani schen Be- völkerung besonders mord lustig und unmäßig seien. Wie Kinder, so auch der in deutschsprachigen Missionsgesellschaften vorherrschende Tenor, würden die Afrikaner ihren kurzfristigen affektiven Reizen folgen, ohne an die längerfristigen Konsequenzen ihres Handelns zu denken.50 Dadurch wurde in diesem kolonialen Kontext ein ausgeprägter Zusammen hang zwi- schen einer mit individueller sowie sozialer Verantwortungs losigkeit assozi- ierten Kindlichkeit und der in der Form einer ›Fremdbestimmung‹ durch die Instinkte verstandenen Sklaverei hergestellt. Auch die Basler Missions- vertreter bemühten die Metapher der vermutlich auf den biblischen Vers Johannes 8:34 bezogenen »Sklaverei der Sünde« (»Wer Sünde thut, der ist ihr Knecht«). Damit kritisierten sie ein vorschnelles Nachgeben gegenüber den tendenziell egoistischen Versuchungen der in Westafrika vermeintlich besonders stark ausgeprägten »Sinnlichkeit«. Dieses metaphorische Ver- ständ nis von »Sklaverei« ließ sich auch auf konkretere Genuss formen be- ziehen, wenn etwa die in Westafrika stationierten Basler Missionare von einer »Sklaverei des Schnapstrinkens« berichteten.51 Damit deuten sich bereits die unscharfen Übergänge von einer durch die Institution der Sklaverei »äußerlich« eingeschränkten Selbstbestim- mung zu einer entsprechenden »inner lichen« Einschränkung an, die in

47 Vgl. Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 11. 48 Diese Überschneidung von Temperenz- und Anti-Sklaverei-Bestrebungen werden in Willis, J., »Indigenous Peoples and the Liquor Traffic Controversy«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, 2003), S. 311 f. besonders deut- lich. 49 Vgl. Charles F. Harford, »The drinking habits of uncivilized and semi-civilized races«, British Journal of Inebriety, 3 (1904), 92-103. 50 Vgl. Adas, M., »Contested Hegemony: The Great War and the Afro-Asian Assault on the Civilizing Mission Ideology«, Journal of World History 15, no. 1 (2004), S. 31- 63 (32 f.). 51 Jahresbericht 1898 [BMA Y.2], S. 52: Missionar Obrecht berichtete von einer »Skla- verei des Schnapstrinkens«. 138 Die Rhetorik der Freiheit

ähnlicher Form auch von Gabriel und Kratzmann beschrieben wurde. Diese Interdependenzen zwischen materieller und mentaler Selbstbeherr- schung werden im zweiten Teil dieses Kapitels ausführlich beleuchtet.

Die Rolle der Basler Mission in der Debatte zum »überseeischen Branntweinhandel«

Die lange zurückhaltende Kritik am überseeischen Branntweinhandel schlug erst ab 1885 in aktivere Interventionen um. Enttäuscht über den Ausgang der Berliner Kongo-Konfe renz, an welcher unter anderem der mit Schnaps handelnde Hamburger Reeder Adolph Woermann als Ver- treter des Deutschen Reichs teilnahm,52 richtete die Missionsgesellschaft zusammen mit der BHG im April eine Petition an den deutschen Reichs- kanzler Otto von Bismarck, worin sie staatliche Maßnahmen gegen den Schnapshandel nach Afrika forderten.53 Wenige Monate später, im Okto- ber, folgte die Norddeutsche Missionsgesellschaft und andere Vereinigungen mit ähnlichen Bittschriften, während der kontinentalen Konferenz der Missions-Gesellschaften in Bremen vom 27.-29. Oktober 1885 einigten sich die Teilnehmenden auf einen Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit.54 Alle beteiligten Missionsgesellschaften verurteilten gemeinsam mit dem Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke den deutschen Schnapsexport nach Afrika.55 Am stärksten exponierte sich dabei der Norddeutsche Missions-

52 Vgl. Harding, L., »Die Berliner Westafrikakonferenz von 1884 /85 und der Ham- burger Schnapshandel in Westafrika«, in Afrika und der deutsche Kolonialismus. Zi- vilisierung zwischen Schnapshandel und Bibelstunde, herausgegeben von Nestvogel, R. und Tetzlaff, R. (Berlin: Dietrich Reimer, 1987), S. 10-40. 53 Jahresbericht 1884, BMA Y.2, S. 7; Wanner, G. A., Die Basler Handels-Gesellschaft A. G., S. 178. Die Petition war im Archiv nur als Nachdruck im Evangeli- schen Heidenboten auffindbar (»Eine Eingabe«, Evangelischer Heidenbote 5 (1885), S. 33 f.). 54 Der Aufruf ist abgedruckt als »Erklärung der Konferenz der dt. evangelischen Missions-Gesellschaften in Sachen des Branntweinhandels mit den Kolonien«, Evangelischer Heidenbote 12 (1885), S. 91 f. Vgl. auch »Von der Bremer Missions- konferenz«, Evangelischer Heidenbote 12 (1885), S. 90 f. An der Konferenz waren Vertreter der Basler, Norddeutschen, Rheinischen, Leipziger, Gossnerschen, Her- mansburger, Schleswig-Holsteinischen, Köngisberger Mission sowie der Brüder- gemeinde. Die ausführlichen Verhandlungen finden sich im Evangelischen Missionsmagazin [BMA Y.6]: »Die allgemeine deutsche Missionskonferenz in Bremen«, November 1885, S. 481-495 (481-486). 55 An dieser Konferenz hielt Franz Michael Zahn seine bekannte Rede »Der über- seeische Branntweinhandel« (Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel: Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 139 inspektor Franz Michael Zahn (1833-1900), dem der Umstand missfiel, dass die Schiffe der »Kulturvölker« zusammen mit den christlichen Missionaren auch Branntwein nach Afrika einführten. Mit der für den Ruf des Chris- tentums wenig vorteilhaften Kopplung von Christentum und Rauschgift- handel erinnerte der Missionsinspektor an analoge Image-Probleme, die den christlichen Missionen im Kontext des Opiumhandels mit China be- gegneten. Über eine zusätzliche patriotische Anbindung artikulierte Zahn seine Sorge als eine doppelte Bedrohung: Sowohl das Christentum als auch Deutschland solle vor der Schmach bewahrt werden, »als Verderber heid- nischer Völker« zu gelten.56 Diese Argumente scheinen bei der Konferenz auf breiten Zuspruch ge- stoßen zu sein. Die Beteiligten einigten sich auf die Veröffentlichung einer an die deutsche Öffentlichkeit gerichteten Erklärung, die im Wesentlichen die durch Zahn geäußerten Sorgen zum Ausdruck brachten.57 Doch blieb das missionarische Vorgehen nicht lange unwider sprochen. Die folgen- den Monate waren von einem offenen Schlagabtausch zwischen Zahn und dem Branntwein-Exporteur Adolf Woermann (1847-1911) geprägt. Als Reichstagsabgeordneter bewarb Woermann den Schnaps als »kulturelles Reizmittel« für Afrika, wobei die gesamte deutsche Volkswirtschaft vom Schnapshandel profitieren würde. Im Kampf für seine offensichtlichen Partikularinteressen scheute der Handelsmann auch nicht vor Rückgriffen auf das nationalistische Motiv der Volkssolidarität zurück. Demnach soll- ten, so Woermann, die Deutschen sich näherstehen als die »geringe Zahl der Neger, die etwa durch den Branntwein zu Grunde gehen könnte«.58

Seine verderblichen Wirkungen und Vorschläge zur Beschränkung derselben«, Allgemeine Missionszeitschrift 13, no. 1 (1886), S. 9-39). Vgl. auch »Von der Bremer Missionskonferenz«, Evangelischer Heidenbote 12 (1885), S. 90 f.; Fischer, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch und die Anfänge medizinischer Arbeit der Basler Mission an der Goldküste (Ghana) (Herzogenrath: Murken-Altrogge, 1991), S. 390-396. 56 Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel, S. 30; Debus, B., »›Geist‹ der Zivilisation oder ›Hamburger Schnapsinteressen‹«, S. 70. 57 Der Aufruf ist abgedruckt als »Erklärung der Konferenz der dt. evangelischen Missions-Gesellschaften in Sachen des Branntweinhandels mit den Kolonien«, Evangelischer Heidenbote 12 (1885), S. 91 f. 58 Vgl. Fischer, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch, S. 391 ff.; Harding, L., »Die Berliner Westafrikakonferenz von 1884 /85 und der Hamburger Schnapshandel in Westafrika«, S. 33 f.; Knoll, A. J., »Die Norddeutsche Missionsgesellschaft in Togo 1890-1914«, in Imperialismus und Kolonialmission: Kaiserliches Deutschland und koloniales Imperium, herausgegeben von Bade, K. J., Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte (Wiesbaden: Steiner, 1982), S. 171 ff.; Schröder, N., »Hamburgs Schnapsfabrikanten und der deutsche Kolonialismus in Westafrika«; Debus, B., 140 Die Rhetorik der Freiheit

Woermann wurde damit für die Alkoholgegner zum Sinnbild für den von einer verantwortungslosen Profitgier getriebenen überseeischen Schnapshandel und ließ Zahns Befürchtungen einer Rufschädigung Deutschlands teilweise Realität werden: Aus britischer Sicht wurde der Branntweinhandel als ein vornehmlich deutsches Phänomen wahrge- nommen und kritisiert, wobei die Kritik auch vor dem Hintergrund eines befürch teten Hintertreffen Großbritanniens gegenüber dem aufstreben- den Deutschland zu interpretieren ist.59 Allem voran in Hamburg hatte sich eine Brennindustrie darauf spezialisiert, aus dem ost elbischen Gebiet Melasse zu importieren und per großindustrieller Kolonnendestillation billigen Handelsschnaps (»trade spirits«) für den Export herzustellen.60 Der deutsche Historiker Norbert Schröder wies für Hamburgs Schnaps- Export nach West afrika zwi schen 1874 und 1884 mehr als eine Vervier- fachung aus.61 Auch anderenorts spezialisier ten sich Brennereien auf die- sen ›Exportschlager‹, etwa in Liverpool oder im hollän dischen Schiedam, jedoch stammte der Bärenanteil aus Deutschland.62 Um 1900 habe laut Historiker A. Olorunfemi keine Großmacht mehr mit dem auf »trade spi- rits« spezialisierten deutschen Schnapshandel konkurrieren können.63 Parallel dazu mehrten sich in den Periodika der Basler Mission die Kla- gen über einen zunehmenden Schnapsimport und -konsum in Westafrika. Die Zunahme des überseeischen Spirituosenhandels fiel in eine Zeit des Ausbaus sowohl der industriellen Schnapsproduktion als auch des Aus- baus von Handelslinien. Spirituosen waren überdies ein beliebtes Export- gut, da sie in konzentrierter Form (viele Volumenprozente Alkohol auf wenig Raum) verschifft werden konnten, in tropischen Klimazonen nicht verdarben und deshalb vielerorts als Währung (»gin currency«) akzeptiert wurden.64 Während der signifikante Anstieg des Schnapshandels nach

»›Geist‹ der Zivilisation oder ›Hamburger Schnapsinteressen‹«, S. 70. Besonders hohe Wellen warf dabei die Reichstagsdebatte vom 19. 1. 1886, Sitzung 28. 59 Vgl. Olorunfemi, A., »The Liquor Traffic Dilemma in British West Africa«, S. 232 f. 60 Vgl. dazu Stoecker, H., Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft, Bd. I, S. 20. 61 Schröder, N., »Hamburgs Schnapsfabrikanten und der deutsche Kolonialismus in Westafrika«, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 76 (1990), S. 91 f. 62 Vgl. Diduk, S., »European Alcohol, History, and the State in Cameroon«, S. 2 f.; Rudin, H. R., Germans in the Cameroons, I, S. 72. 63 Vgl. Olorunfemi, A., »The Liquor Traffic Dilemma in British West Africa: The Southern Nigerian Example, 1895-1918«, The International Journal of African Histo- rical Studies 17, no. 2 (1984), S. 229-241 (234). 64 Vgl. dazu Heap, S., »›A Bottle of Gin is Dangled before the Nose of the Natives‹«, S. 77 f.; Courtwright, D. T., Forces of habit, S. 13; Diduk, S., »European Alcohol, History, and the State in Cameroon«, S. 3. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 141

Westafrika eine Erklärung für den in verschiedensten europäischen Ge- bieten aufkommenden Diskurs zum soge nann ten »illegitimen Handel«65 bietet, verweisen einige Historiker auf die Möglichkeit, dass die durch Missionare beschriebenen Schäden des Schnapskonsums in einigen Fäl- len übertrieben dargestellt wurden.66 Besonders deutlich artikulierte etwa Raymond Dumett den Vorwurf, die Missionare hätten die anhand der Industrialisierungserfahrungen in Europa sowie durch die Kolonialisie- rungserfahrungen Nordamerikas und Ozeaniens falsche Analogieschlüsse gezogen und dabei die in verschiedenen Westafrikanischen Kultu ren ein- gebauten Schutzmechanismen gegen Alkoholexzesse übersehen.67 Dieser Ver dacht einer Übertreibung wird teilweise durch den Befund der McKen- zie-Chalmer’s-Commission von 1909 gestützt, der für Südnigeria viele ge- gen den Schnapshandel gerichtete Befürchtungen ausräumte.68 Dieser Sichtweise steht jedoch Dietrich Döpps Einschätzung entgegen, wonach die Schäden der »Schnapspest« in Afrika ohne alkohol geg nerische Einmi- schung fataler gewesen wären.69 Auch in den gedruckten Jahresberich ten fanden sich zwischen 1890 und 1917 regelmäßig Klagen über den nun auch medial stärker beachteten Schnapskonsum in den Kolonien. Immer wie- der stellten die Missionare die Schnaps zunahme in einen Zusammenhang mit dem als »Kakaomanie« bezeichneten Kakao-Boom, der neben zuneh-

65 Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 91. 66 Willis, J., »Indigenous Peoples and the Liquor Traffic Controversy«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blo- cker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, 2003), S. 311 f.; Bersselaar, D., The King of Drinks, S. 11; Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana (Gold Coast and Asante), 1875-1910«, The Journal of Interdisciplinary History 5, no. 1 (1974), S. 71-74; Laisisi, R. O., »Liquor traffic in Africa under the League of Nations 1919-1945: French Togo as an example«, Nordic Journal of African Studies 5, no. 1 (1996), S. 11-22 (15). 67 Vgl. Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 72 ff. Auch anthropologische Zugänge stützen diesen Verdacht; vgl. Douglas, M., »A distinctive anthropological perspective«, in Mary Douglas: Collected Works, herausgegeben von Douglas, M. (London, New York: Routledge, 2010), S. 1-15; Heath, D. B., »A decade of development in the anthropological study of alcohol use, 1970-1980«, in Mary Douglas: Collected Works, herausgegeben von Douglas, M. (London, New York: Routledge, 2010), S. 16-70. 68 Vgl. Olorunfemi, A., »The Liquor Traffic Dilemma in British West Africa«, S. 240; Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 88; Ambler, C., »The spec- ter of degeneration: alcohol and race in West Africa in early Twentieth Century«, in Global Anti-Vice Activism, 1890-1950: Fighting Drinks, Drugs, and ›Immorality‹, herausgegeben von Pliley, J., Kramm, R. und Fischer-Tiné, H. (New York: Cam- bridge University Press, 2016), S. 103-123. 69 Döpp, D., »Humanitäre Abstinenz oder Priorität des Geschäfts?«, S. 132. 142 Die Rhetorik der Freiheit mendem Wohlstand auch »Geldgier und Genusssucht« geweckt habe.70 Aber auch andere Akteure thematisierten die ansteigenden Quantitäten der »trade spirits«, die insbesondere in den Jahren 1895-1896 medial kriti- siert wurden.71 Der Branntweinhandel nach Afrika wurde im Frühjahr 1895 nicht nur in Englands renommierter Zeitung The Times mehrfach angegriffen; auch richtete das NRLTUC ein Memorandum an den deutschen Kaiser Wilhelm II.72 In Basel referierte Hermann Christ vom Komitee der Basler Mission anlässlich des Internationalen Kongresses gegen den Alkoholismus über diesen Handel, womit ein Anschluss der Basler Mission an diese interna- tional ausgerichtete Veranstaltung dokumentiert ist. In den Austragungen zuvor hatte Reverend J. Grant-Mills als Vertreter des NRLTUC mit seinen Vorträgen von 1887, 1893 und auch 1895 auf die Problematik des Afrika- nischen Spirituosenhandels aufmerksam gemacht. Dadurch konnte er das Permanente Organisationskomitee des Kongresses ab der Zürcher Ausgabe von 1887 zu einer »hearty co-operation […] chiefly through the energy of Professor Forel«73 veranlassen.74 Es ist unklar, ob sich Grant-Mills und Christ bereits vor 1895 kannten. Einerseits sind im Basler Missionsarchiv keine vor 1895 datierten Pamphlete des NRLTUC erhalten, andererseits präsentierte Christ 1895 teilweise dieselben Zitate, die Grant-Mills bereits an der Ausgabe desselben Kongres ses acht Jahre zuvor eingebracht hatte.75

70 Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 193 & S. 119 f. 71 Vgl. Olorunfemi, A., »The Liquor Traffic Dilemma in British West Africa«, S. 233. 72 »The Direct Veto Campaign«, The Times, 8. März, S. 13: 18. Mai, S. 6: ›The Colonies‹. Das Memorandum forderte eine Steuererhöhung auf den Import von Alkohol und machte auf den angeblichen Umstand aufmerksam, dass innerhalb der im Rahmen der Brüsseler Generalakte beschlossenen Prohibitionszone Spiritu- osen gebrannt und importiert worden seien. Diese Denkschrift ist abgedruckt in: NRLTUC, 8th Annual Report 1895, S. 20 f. 73 Grant-Mills, J., »Die moralische Entartung der Naturvölker durch den Spirituo- senhandel«, in Compte-rendu du 4me Congrès international contre l’abus des boisssons alcooliques (La Haye, 1893), S. 101-104 (101). 74 Vgl. »Schnapshandel in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1888), S. 24. 75 Grant-Mills, J., »The Demoralization of Native Races by the Liquor Traffic«, in Be- richt des 3. Internationalen Congresses gegen den Missbrauch geistiger Getränke (Chris- tiana, 1890), S. 167-171; Grant-Mills, J., »Die moralische Entartung der Naturvölker durch den Spirituosenhandel«, S. 101-104; Grant-Mills, J., »Revision of the Brus- sels General Act of 1890-1891«, in Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke (Basel, 1895), S. 146-156; Christ, H., »Die Wirkungen des Alkohols in den Gebieten der evangelischen Mission«, in Be- richt über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 143

Derartige inhaltliche Überschneidun gen legen eine transnationale Wis- senszirkulation nahe. Auch 1896 war ein Jahr mit außergewöhnlich vielen alkoholgeg- nerischen Maßnahmen der evangelischen Missionsgesellschaften. Franz Michael Zahn als Direktor der Norddeutschen Mission rief zur Grün- dung eines Vereins auf, der später als Deutscher Verband zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels auftrat. Das Bremer Handelshaus Vietor reichte bei der deutschen Regierung eine weitere, unter anderem durch die BHG unter zeichnete Eingabe gegen den Schnapshandel ein.76 Der evange lische Afrika-Verein veröffentlichte einen Sonderabdruck von Pastor Gustav Müllers Der Branntwein in Kamerun und Togo, während die evangelischen Missionare weiteres Beweis material zum überseeischen Schnapshandel sammeln sollten.77 Zumindest konnte das Basler Komitee den Erfolg verbuchen, die Berliner Kolonialbehörde auf die »illegitime« Praxis von Seiten der Kameruner Kolonialregierung aufmerksam gemacht zu haben, die ihre Ange stellten teilweise in Form von Branntwein ausbe- zahlt hatte. Das erreichte Verbot jener Praxis interpretierte die Mission als moralische Unterstützung von Seiten der Regierung im Kampf gegen den sogenannten »Negerschnaps«.78

Getränke (Basel, 1895), S. 156-161. Die NRLTUC-Pamphlete finden sich in BMA J 79. 76 Die Eingabe von Vietor findet sich in BMA Q 6-3. 77 Müller, G., »Der Branntwein in Kamerun und Togo«, in Separatabdruck aus der Afrika (Neuhaldens leben: Eyraud, 1896); Debus, B., »›Geist‹ der Zivilisation oder ›Hamburger Schnapsinteressen‹«, in Weiß auf schwarz: 100 Jahre Einmischung in Afrika: Deutscher Kolonialismus und afrikanischer Widerstand, herausgegeben von Hinz, M. O., Patemann, H. und Meier, A. (Berlin: Elefanten Press, 1984), S. 68. Wahrscheinlich wurden diese Berichte 1897 in der vom evangelischen Afrika-Ver- ein herausgegebenen Monatsschrift Afrika unter dem Titel »Berichte der deutschen evangelischen Missionare über den Branntwein in Afrika« veröffentlicht, auf wel- che etwa der Schleusinger Pastor und Superintendent Gustav Müller sich immer wieder bezog (vgl. Müller, G., »Der Verderbliche Einfluss des Spirituosenhandels auf die Eingeborenen in Afrika«, in Xème Congrès international contre l’alcoolisme (Budapest, 1905), S. 128-135). Ob sich die Basler Mission dabei beteiligte, ist auf- grund fehlender Hinweise aus dem Archiv nicht klar. 78 »Neue Nachrichten«, Evangelischer Heidenbote 3 (1896), S. 17; Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 242; Döpp, D., »Huma- nitäre Abstinenz oder Priorität des Geschäfts?«, S. 132. Dieses erfolgreiche Vorge- hen fand unter anderem auch Anerkennung in der Internationalen Monatsschrift, vgl. Bl., »Afrika«, Internationale Monatsschrift 2 (1896), S. 120 f. Die Information schien über Missionar Albert Graf zur Monatsschrift gelangt zu sein. 144 Die Rhetorik der Freiheit

Debatten über den überseeischen Branntweinhandel blieben aber auch nach den beiden von einer intensiven Debatte gezeichneten Jahren aktu- ell. So ersuchte der Basler Missionar Adam Mischlich 1897 den Deutschen Kaiser um ein Verbot des Schnaps handels im Volta-Gebiet – wobei er diese Bitte im Namen verschiedener lokaler Autoritäten äußerte. 79 Mischlichs Lebenslauf illustriert dabei die sich über den Eintritt in die Basler Mission eröffnenden Chancen eines sozialen Aufstiegs: Noch im selben Jahr der Bittschrift sollte der Missionar die Mission verlassen und auf Anfrage der deutschen Koloni al regierung als Kolonialbeamter Karriere machen. An- schließend erlangte der aus einer einfachen Familie stammende Mischlich neben einem Professortitel auch die angesehene Volney-Medaille des In- stitut de France.80 Abgesehen von dieser politischen Intervention, auf die noch weitere folgten, sind auch die Haltungen der auf Westafrika statio- nierten Basler Missionare aufschlussreich. Eine besonders auffällige Rolle nahm der Missionsarzt Rudolf Fisch ein, der ab 1907 eine missionsnahe Blaukreuz-Bewegung in Ghana maßgeblich initiierte (siehe Kapitel 4.2). Aber auch die Basler Missionare sowohl bei der Tschi- als auch bei der Ga- Synode verabschiedeten 1909 weitere Maßnahmen gegen den Branntwein- konsum, obwohl das Gebot der Mäßigkeit bezüglich Alkohol konsum be- reits explizit in der Missionsordnung der Basler Mission ver an kert war.81 Die Ga-Synode beschloss ein Verbot des Aus schanks von Branntwein in Christenhäusern, das insbesondere während Totenfeierlichkeiten einge- halten werden sollte.82 Die Tschi-Synode ging weiter und auferlegte den Gemeindemit gliedern beim ersten Vorfall von Trunkenheit eine Buße von 5 Schillingen, die sich beim zweiten Vorfall auf 10 Schillinge verdop- peln sollte, während für ein erneutes Vergehen zusätzlich zu der Buße eine strenge »Kirchenzucht« vorgesehen war, etwa einen Ausschluss vom Abendmahl oder einen Ausschluss aus der Gemeinde. Zudem wurde be- schlossen, die britische Kolonialregierung um eine weitere starke Erhö-

79 Vgl. »Nachrichten«, in Evangelischer Heidenbote 2 (1898), S. 14: »Missionar Misch- lich wurde von einer Anzahl angesehener Häuptlinge ersucht, in ihrem Namen an den deutschen Kaiser zu schreiben, damit er den Händlern von Ak[y]em den Verkauf von Branntwein in ihrem Gebiete untersage; sie hätten nicht die Macht und nicht das Recht, diese gottlosen Leute fortzujagen. Br. M. schließt: ›Wie viel ist doch schon von der weißen Rasse an dem Geschlechte Ham’s gesündigt worden! Es ist himmelschreiend, nur um des schnöden kalten Mammons willen, solchen Fluch auf sich selbst und auf die unschuldigen Bewohner des dunkeln Erdteils zu laden.‹« Vgl. auch Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 71. 80 Zu Adam Mischlisch vgl. BMA BV 1185. 81 Die Begründungen dazu werden im nächsten Kapitel untersucht. 82 Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 175 f. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 145 hung der Einfuhrzölle auf starke gebrannte Geträn ke zu ersuchen. In die- sem Gesuch beklagten sich die Verfasser überdies über die Praktik vieler »chieftains«, ihre »licence fees« (die von der Regierung erhobene Bewilli- gunsgebühr für den Verkauf von Spirituosen) durch eine pauschale Steuer auf ihre Untertanen abzuwälzen.83 Dadurch wurden auch abstinent le- bende Bewohnerinnen und Bewohner zur Kasse gebeten. Für zusätzliche politische Unruhe sorgte die verbreitete Hoffnung jener Betroffenen, sich durch Anschluss an lokale Logen des Guttemplerordens der Autorität und damit auch der Steuergewalt ihrer Oberhäupter zu entziehen.84 Während diese Klage implizit den Guttemplerorden als politischen Unruhestifter erscheinen ließ, wurden die politischen Vorstöße der Basler Mission von transnationalen missionsfreundlichen Kreisen wie dem britischen NRLTUC registriert und gelobt.85 Die Aktionen bestärkten die allgemeine Vorstel- lung, dass aus dem bewussten Verzicht auf Alkohol ein Anspruch auf gesell- schaftliche Mitbestimmung abgeleitet werden könne. Damit stützte sich die erweiterte Mitbestimmung auf eine erweiterte Selbstbestimmung ab. Bevor diese ›innere‹ Befähigung beleuchtet wird, lohnt sich ein Blick auf die sozialhygienischen Bestrebungen, die gesellschaftliche Mitbestimmung einzelner Gesellschaftsmitglieder zu befördern. Diese wurden trotz vieler Ähnlichkeiten zum religiösen Anti-Alkohol-Diskurs expliziter benannt.

Gesellschaftliche Mitbestimmung aus sozialhygienischer Perspektive

Wie die Basler Missionsvertreter verbanden auch die sozialhygienisch ge- prägten Abstinenten die alkoholfreie Nüchternheit mit einer Ermächtigung der Einzelnen in der Gesellschaft. Konzentrierten sich die missionsnahen Diskurse hauptsächlich auf die Schnapsexporteure, beinhaltete das im so- zialhygienischen Abstinenz-Diskurs zentrale Reizwort des »Alkoholkapi- tals« auch das als »Braukapital« denunzierte Brauerei- und Winzergewerbe.

83 Ebd. Ob diese regionalen Unterschiede zwischen den beiden Synoden eher auf per- sönliche Ansichten und Aktivitäten der Missionare zurückzuführen sind – so waren die durch Rudolf Fisch angeregten Blaukreuz-Vereine insbesondere im Tschi- Gebiet aktiv – oder auf lokal unterschiedliche Konsumgewohnheiten in Bezug auf Art und Quantität der Alkoholika, kann auf Grundlage der vorhandenen Quellen nicht beurteilt werden. 84 Vgl. dazu Sarpei, J. A., »A Note on Coastal Elite contact with rural discontent be- fore the First World War«, S. 105-112; Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 75-79; Bersselaar, D. v. d., »The local politics of temperance in the Gold Coast«. Die dadurch aufkommenden Spannungen werden im Kapitel 4 bespro- chen. 85 Vgl. etwa NRLTUC, 23rd Annual Report 1909, S. 44. 146 Die Rhetorik der Freiheit

Analog zum überseeischen Schnapshandel kritisierte diese Strömung auch den heimischen Handel mit Alkohol als »illegitim«, da auch die heimi- schen Alkoholproduzenten und Wirtschaften in letzter Konsequenz an der physischen, psychischen sowie ökonomischen Zerrüttung ganzer Familien verdienten. Darüber hinaus würden diese allgemein akzeptierten Institu- tionen die »Alkoholisten« in neue finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse hineinmanövrieren. Aufgrund des sozialistischen Einschlags dieser Strö- mung trugen viele Beiträge ihrer Zeitschriften deutliche antikapitalistische Züge, wobei die durch finanzielle Abhängigkeit »tief gehaltenen Arbeiter« vielfach der »Dividendenjauche« von »großkapitalistischen« Brennereien und Brauereien gegenüber gestellt wurden.86 Damit orientierte sich auch die überwältigende Mehrheit der sozialhygienischen Beiträge zum Anti- Alkohol-Diskurs an der Maxime der Gewährleistung einer gewissen öko- nomischen Prosperität. Im Unterschied zum missionsnahen Diskurs wurden diesem »illegi- timen« Handel aller dings keine einheitlichen Beispiele möglicher »legi- timen« Alternativen entgegengesetzt, obschon sich auch diese meist aus dem Bildungsbürgertum stammenden Agitatoren als Fürsprecher der we- niger privilegierten Bevölkerungsgruppen verstanden. Ähnlich wie die für »legitimen Handel« werbenden Missionsfreunde forderte etwa der anti- klerikale Sozialreformer Auguste Forel gerechtere Gesellschaftsstrukturen, die alle Individuen zu Fleiß und Leistung anregen sollten. Die in Forels Augen »künstlich« zu Geselligkeit und Tand verleitende Verbreitung von Alkoholika setze sowohl den Antrieb der Konsumenten zur Arbeit als auch deren Gesundheit herab. Beides assoziierte der Sozialreformer mit gesell- schaftlicher Ächtung.87 Sein abstinenter Kollege Gustav von Bunge erwei- terte dabei das Motiv der Sklaverei noch um eine eugenische Kompenente. Der »moder nen Aktienbrauerei« warf er Sklaventum und Mord vor: Man hat in früheren Jahrhunderten die Menschen zu Sklaven gemacht, aber die Sklaven blieben gesund. Jetzt macht man die Menschen zu

86 Vgl. etwa »Die Brauer sind schuld«, Schweizerische Abstinenzblätter 2 (1911), S. 9. Diese zahlreichen Beschwerden über die hohen Dividenden des »Alkoholkapitals« kamen auch in kolonialen Kontexten zum Tragen (vgl. Forkert, »Der Triumph des Alkoholkapitals in den Kolonien«, Schweizer Abstinent 12 (1921), S. 45 f.; so- wie Schweizer Abstinent 15 (1921), S. 57). Zum großkapitalistischen Charakter der Alkoholproduktionszentren vgl. Kapitel 4. 87 Vgl. Forel, A., »Nervenhygiene und Glück«, Internationale Monatsschrift 11 (1893), S. 321-326 (326). Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 147

Sklaven und mordet sie zugleich. Man mordet sie mit degenerierten Kindern und Kindeskindern.88

Diese Verbindung von Sklaverei und Gesundheit war jedoch keine Ei- genheit des sozial hygienischen Diskurses. Während des Fin de Siècle ver- breitete auch das britische NRLTUC Pamphlete, in welchen im »gin belt« stationierte Missionare die Institution der Sklaverei als kleineres Übel dar- stellten als die »Geissel der Trunksucht«.89 Einen bemerkenswert ähnlichen Vergleich wie Bunge und die britischen Missionsfreunde hatte 1914 auch der zuvor in Aburi stationierte Basler Missionsarzt Rudolf Fisch angestellt, indem er die befürchtete Degeneration explizit thematisierte: »Der Skla- venhandel hat ja wohl Hundert tausenden das Leben gekostet, die Fami- lien zerrissen und sie ihrer Freiheit beraubt, aber ihre Kinder degenerierten doch nicht.«90 Derartige Aussagen verfestigten damit die Wertordnung eines genetischen Determinismus, in der eine gesellschaftliche Mitbestim- mung bestimmten genetischen Voraussetzungen unterlag, und tendierten zur Vernachlässigung sozialer Einflüsse. Diese Priorisierung wurde jedoch im Sinne einer Ermöglichung von gesellschaftlicher Partizipation verstan- den: Die befürchteten länger fristigen Schäden an Gesundheit und Intellekt durch den Handel mit Alkoholika drohten nach Ansicht vieler Alkoholgeg- ner und Alkoholgegnerinnen gerade die mit Selbstbestimmung assoziierte Legitimität demokratischer Staatsformen zu untergraben. Insbesondere in der Guttemplerzeitschrift Der Schweizer Abstinent brachten viele Voten die Abstinenz mit der Forderung nach Demokra- tie, in vielen Fällen gar nach Sozialdemokratie in Verbindung. Besonders deutlich kam diese Verbindung auch in Forels Pamphlet »Die Reform der Gesellschaft« zum Ausdruck, in welchem er einen Reisebericht von Emile Cauderlier (1846-?) der Ligue patriotique belge contre l’alcoolisme zitierte. Der Belgier hatte begeistert von einem Besuch berichtet, den er einem abs- tinenten Arbeiterverein in Liverpool abgestattet hatte. Anstelle des geselli- gen Trinkens bot dieser Verein seinen Mitgliedern die Möglichkeit, sich in

88 Gustav von Bunge zitiert nach Oettli, M., »Dürfen wir nicht mehr von alkoholi- scher Keimschädigung sprechen?«, Schweizer Abstinent 4 (1939), S. 15 f. (16). 89 J. Grant Mills, »Revision of the Brussels General Act, 1890-1891«, Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke zu Basel, 1895, S. 146-151 (148). 90 Fisch, R., »Wirkungen des Schnapshandels in Westafrika«, Internationale Monats- schrift 5 (1914), S. 145-155 (154, kursiv im Original). Im Unterschied zu Bunge jedoch bezichtigte Fisch nicht explizit ein Alkoholkapital der Gier, sondern die »führenden Völker Europas« allgemein. 148 Die Rhetorik der Freiheit der Vereinsbibliothek weiterzubilden. Cauderlier schwärmte: »Hier ist der Arbeiter Mensch, Bürger und Wähler; niemand denkt mehr daran, ihm das Recht zu bestreiten, mitzureden in den Angelegenheiten des Staates.«91 Damit postulierte er einen direkten Zusammenhang zwischen bildungser- möglichender Abstinenz und legitimer politischer Mitbestimmung. Diese Verbindung hatte schon Hermann Blocher als Gründer des SAB betont, als er 1895 forderte, die Errichtung von Lesesälen durch den eidgenössischen Alkoholzehntel zu finanzieren.92 Zwar wurde die Formel »Bildung statt Al- kohol« auch in der religiös geprägten Alkoholgegnerschaft oft verbreitet, doch richteten sich viele sozialhygienische Postulate damit direkt am Be- streben nach einer legitimen Staatsform aus. Zusätzlich betonte insbesondere das sozialhygienische Umfeld den ge- sellschaftlichen Stellenwert abstinenter Arbeiter über das Ausweisen einer erhöhten Produktivität und Zuverlässigkeit. Zentral war die Diskussion über eine tiefere Fehlerquote bei Abstinenten sowie über tatsächlich einge- haltene Arbeitsstunden.93 In dieser Hinsicht ist wenig erstaunlich, dass von Seiten der Arbeiterschaft der Verdacht geäußert wurde, die bürgerlichen Alkohol gegner zielten hauptsächlich auf eine Aufrechterhaltung der bour- geoisen Gesellschaftsordnung ab und seien deshalb darum bemüht, die Ar- beiter bedürfnisloser zu machen. Diesem Vorwurf begegneten abstinente Sozialdemokraten mit dem Argument, dass die Arbeiter gerade durch die Abstinenz ihre Arbeitsleistung besser einzuschätzen lernten und damit überzeugender eine bessere Honorierung derselben einfordern könnten.94 Neben der Ähnlichkeit zur Hoffnung der Basler Mission, durch ›legiti- men Handel‹ die Sklaverei abzuschaffen, sticht hier zusätzlich die Selbster- kenntnis als Mittel der Selbstermächtigung ins Auge.

91 Zitiert nach Forel, A., Die Reform der Gesellschaft durch die völlige Enthaltung von alkoholischen Getränken, 2. Aufl. (Leipzig: Tienken, 1901), S. 6. 92 Vgl. Blocher, H., »Die Bekämpfung des Alkoholismus durch die Errichtung von Lesesälen«, Internationale Monatsschrift 10 (1895), S. 302 ff. Vgl. auch: Blocher, H., »Die Aufgabe der Presse im Kampf gegen den Alkoholismus«, in Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke (Basel, 1895), Sitzungsbericht 50. Zum Alkoholzehntel vgl. Kurt, V., »Der Alkoholzehntel«, in Die Alkoholfrage in der Schweiz, herausgegeben von Abelin, J. und Zurukzoglu, S. Basel: B. Schwabe, 1935. 93 Vgl. dazu den Unterabschnitt Produktion und Produktivität in Kapitel 4.1. 94 Vgl. dazu: Römer, J. F., »Sozialdemokrat und Bourgeois als Antialkoholisten«, Schweizerische Abstinenzblätter B2 (1905), S. 11. Auch Gustav von Bunge vertrat bereits 1893 diese Position anlässlich eines Vortrags vor dem sozialdemokratischen Vereins Zeitgeist (vgl. »Der Kampf gegen die Trinksitten und seine Bedeutung für den Arbeiterstand«, Internationale Monatsschrift 3 /4 (1893), S. 265-272). Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 149

Abstinenz und Demokratie

Das Thema, besonders den unterprivilegierten Bevölkerungs schichten eine erhöhte politische Partizipation zu ermöglichen, fand sich in zahlreichen Variationen im alkoholgegnerischen Diskurs. Während einige Mitglieder des schweizerischen SAB Klassen kampf und Revolution als mögliche Parti- zipationsformen thematisierten, stießen diese Ideen innerhalb der Schwei- zer Gut temp ler logen auf breiten Widerstand. Allen voran lehnte der Phy- siologe Bunge eine zur »Herrschaft des Proletariats« führende politische Revolution rigoros ab und erkannte die »Lösung der sozialen Frage« viel- mehr in der »Beseitigung der Armut«.95 Die Redakteure des Schweizer Abs- tinents forderten für ihre Zeitschrift zwar eine politische Neutralität ein, offenbarten aber in vielen Beiträgen Sympathien für reformistische und so- zialdemokratische Agenden.96 Dabei schien ein allgemeiner Konsens über die Notwen dig keit einer demokratischen Staatsform zu herrschen. Die Verbindung zwischen Abstinenz und Demokratie wurde ab den späten 1920er Jahren durch die zunehmende Popularität faschistischer Diktaturen herausgefordert, wie etwa die Machtergreifung Mussolinis 1927 illustriert. Der »Duce« stand einerseits für eine nationalistische und autoritäre Ideologie, brachte andererseits aber auch offenkundige Sympa- thien für eine alkohol gegnerische Agenda zum Ausdruck. Folglich kom- mentierte der Schweizer Abstinent die faschistische Machtergreifung in Italien nur knapp: »Wir lehnen Faschismus ab, anerkennen aber, dass Mussolini Wein verschmäht.«97 Noch im selben Jahr sollte Robert Her- cod als Guttempler und Leiter des IBAA den Duce gar persönlich treffen, um sich über mögliche alkoholgegnerische Maßnahmen zu unterhalten. Gleichwohl war die Mehrheit der im Schweizer Abstinent abgedruckten Beiträge aber bemüht, regelmäßig die demokratische Gesinnung ihres Ordens sowie ihre »demokratische Organisation« hervorzuheben. 98 Dies geschah nicht nur in Abgrenzung gegen den mit »Verseuchung« konno-

95 Bunge, G. v., Zur Lösung der sozialen Frage (Basel: Reinhardt, 1919, S. 14). 96 Vgl. Forel, A., »Zur Abstinenz- und Sozialpolitik«, Schweizer Abstinent 3 /4 (1918), S. 5; Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 68. Das Guttempler-Ideal der »Bruderliebe« schien mit dem Postulat des Klassenkampfs unvereinbar, während sich die materialistisch argumentierenden Klassenkämpfe- rinnen und -kämpfer am Idealismus der Guttempler stören konnten (vgl. ebd., S. 112). 97 »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 2 (1927), S. 119. 98 Vgl. dazu insbesondere die auf der Frontseite hervorgehobene Aussage »Mussolini wird sterben; die Demokratie ihn überleben« im Schweizer Abstinent 3 (1929), S. 11; »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 12 (1928), S. 51. 150 Die Rhetorik der Freiheit tierten Faschismus,99 sondern auch in Abgrenzung zu der den Guttemp- lern inhaltlich näherstehenden Heilsarmee, deren militärisch hierarchische Organisationsstruktur trotz der Anerkennung aus alkoholgegnerischer Sicht offen kritisiert wurde.100 Auch als Adolf Hitler und die National- sozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) an den Reichstagswahlen 1930 einen politischen Erfolg verbuchen konnte, wurde dessen Bekennt- nis zur Abstinenz sowie der »Idealismus« seiner Gefolgschaft zwar positiv hervorgehoben, gleichzeitig aber auch auf eine Distanz zu seiner Weltan- schauung hingewiesen: »Wir sind just nicht Bewunderer dieses Mannes. Aber wenn er den vie- len jungen Leuten, die aus einem möglicherweise falschen, aber deshalb nicht minder reinen Idealismus heraus ihm Heerfolge leisten, ein solch gutes Beispiel gibt, so wollen wir ihm so manches Verzeihen, was wir weniger gut verstehen.«101 Im Vergleich zu diesen nationalistisch geprägten Regimes fanden internati- onale Organisationen wie der 1919 gegründete Völkerbund unter den Gut- templern mehr Anerkennung; der Völkerbund wurde zunächst aufgrund seiner internationalen Orientierung gar mit dem Orden verglichen.102 Tat- sächlich thematisierte die untersuchte Guttemplerzeitschrift die internatio- nale Dimension der Alkoholfrage ausgiebig, auch wenn sich bereits einige Jahre später eine gewisse Ernüchterung über den beschränkten Handlungs- spielraum der erhofften Weltregierung breitmachte.103 Der zwischen 1906 und 1919 als Welttempler des neutralen Ordens amtierende Forel, nach wel- chem »die Grenzen der Länder, der Sprachen und der Nationen«104 letzt-

99 Vgl. dazu die wie eine Anzeige hervorgehobene Aussage: »Echt republikanisch ist unsere Initiative. Wer allerdings faschistisch verseucht ist, wird sie bekämpfen« im Schweizer Abstinent 9 (1929), S. 37. 100 Vgl. »Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 4 (1929), S. 15. Trotzdem wurde der Gut- templerorden in Deutschland unter Vorsitz von Theo Gläß dem Nazi-System angegliedert und musste aus dem Internationalen Orden austreten. Vgl. dazu Heckmann, W., »Es ist dunkel im Dunkeln – Alkohol und Alkohologie unter der Nazi-Diktatur«, in Der Geist der Deutschen Mäßigkeitsbewegung: Debatten um Al- kohol und Trinken in Vergangheit und Gegenwart, herausgegeben von Wassenberg, K. (Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2010), S. 79-98 (80). 101 »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 20 (1930), S. 83 (H. i. O.). 102 Vgl. »Völkerbund«, Schweizer Abstinent 21 /22 (1920), S. 41. 103 Vgl. Forel, A., »Friede auf Erden«, Schweizer Abstinent 1 /2 (1916), S. 1; sowie »Völ- kerbund«, Schweizer Abstinent 21 /20 (1920), S. 41. 104 Forel, A., »Einiges vom neutralen Guttemplerorden«, Schweizerische Abstinenz- blätter B3 (1910), S. 17. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 151 endlich sowohl beim Guttemplerorden als auch beim Völkerbund wegzu- fallen hätten, tat den 1919 zustande gekommenen Kompromiss etwa als »lächerliche Maus« ab.105 Jedoch fand die Forderung nach Internationali- tät innerhalb des abstinenten akademischen Zirkels keinen ungeteilten Zu- spruch. Auffällig waren besonders die großdeutschen Visionen bekannter Akademiker wie Otto Juliusburger und Emil Kraepelin bis hin zu gestan- denen Eugenikern wie Ernst Rüdin oder dem Bunge-Schüler Emil Abder- halden (1877-1950). In Deutschland spaltete sich eine »arische« Fraktion vom Internationalen Guttempler-Orden ab.106 Das von Forel vorgebrachte Anliegen, die Internationalen Kongresse zukünftig in Esperanto abzuhal- ten, scheiterte sowohl an sozialistischen Ängsten einer Privilegierung der des Esperanto Mächtigen als auch an internen Grabenkämpfen mit an- deren Plansprachen wie etwa Ido.107 Hinzu kam, dass selbst Forel an eine patriotische Verbundenheit der »Eidgenossen« mit ihrem Vaterland appel- lierte, wenn die Umstände eine derartige Rhetorik erforderten. Als 1906 die neutrale Abspaltung der Guttempler bekannt gemacht wurde, ließ die von Forel angeführte Großloge in ihrem Manifest verlauten: »Zuerst sind wir Schweizer und erst nachher Internationale!«108 Obwohl sich derartige nationalistische Ausreißer stellenweise auch in den Guttemplerzeitschriften offenbarten, galten die Sympathien der im Schweizer Abstinent erschiene- nen Beiträge überwiegend den demokratisch verhandelten, globalen Regu- lierungsversuchen, deren Endziel nicht zuletzt in Forels utopischem Ent- wurf der Vereinigten Staaten der Erde skizziert wurde.109

Gleichberechtigung und Nüchternheit

Da eine gerechte politische Partizipation ein wesentlicher Bestandteil die- ser demokratischen Programmatik darstellte und die Erfahrungen aus den USA die Bedeutung der Frauen im Kampf gegen den Alkohol aufzeigten, drängten sich Debatten über die politische und gesellschaftliche Gleichbe- rechtigung der Geschlechter geradezu auf. Besonders deutlich nahm sich

105 Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 280. 106 Vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 325. 107 Vgl. Gustav Schwengelers Aussage in Schweizerische Abstinenzblätter 1 (1911), S. 3. 108 »Manifest der Schweizer Großloge I. O. G. T.«, Schweizerische Abstinenzblätter 17 (1906), S. 101 f. (102, unterstrichen i. O.). Die Berichte legen nahe, Forel als Hauptverantwortlichen dieses Manifests zu betrachten. 109 Vgl. Forel, A., Die Vereinigten Staaten der Erde: Ein Kulturprogramm (Lausanne: Ruedi, 1914). 152 Die Rhetorik der Freiheit der Guttempler-Orden dieser Thematik an, der bereits seit seiner Grün- dung auch weiblichen Interessierten offenstand. Während sich in den un- tersuchten Periodika der Basler Mission trotz der verbreiteten Klagen über die Stellung der Frauen in westafrikanischen Kulturen keine expliziten Forderungen nach einer politischen Gleichberechtigung der Geschlech- ter fanden, wurde das Stimmrecht für Frauen in sozialhygienisch gepräg- ten Organen lebhaft diskutiert. Ab 1917 erschien im Schweizer Abstinent die Rubrik »Frauenecke«, die sich geschlechts relevanten Themen rund um den Alkohol widmete. Da die Beiträge zumeist nur mit Initialen versehen wurden, lässt sich über das Geschlecht der Beitragenden bloß spekulieren. Inhaltlich trugen viele Beiträge dieser Rubrik die Botschaft der Befreiung der Frau von der als »Dogma von Inferiorität und Schwäche des Weibes« bezeichneten »Rippenfabel«110 in sich, wie dies eine Stellungnahme von 1917 prägnant umschrieb. Dabei wurde vorwiegend auf weib liche Vorbilder aus dem angelsächsischen Sprachraum verwiesen, mit besonderer Vorliebe auf Großbritanniens erstes weibliches Parlaments mitglied Lady Nancy As- tor (1879-1964),111 die sich für das Frauenstimmrecht und gegen den Alko- hol stark machte. Lokale Heldinnen wie Susanne Orelli (1845-1939), Else Züblin-Spiller (1881-1948) oder Hedwig Bleuler-Waser blieben neben den Mitstreiterinnen aus dem englischsprachigen Raum eher Randfiguren.112 Die politische Selbstbestimmung in Form des Frauenstimmrechts wurde dabei einerseits von dem normativen Standpunkt der Gleichberechtigung aus gefordert, andererseits aber auch von der pragmatischen Hoffnung, durch jenes Stimmrecht das politische Ziel der Prohibition eher zu errei- chen – wie dies 1921 in Norwegen eintreten sollte, als mit der Einführung des Frauenstimmrechts die Abstimmung über die Prohibition im dritten Anlauf angenommen wurden.113 Diese Erwartung wurde vielfach durch den Glauben bestärkt, dass Frauen ihr Recht auf politische Mitbe stimmung

110 H. F., »Die Frau im Kampfe gegen den Alkohol«, Schweizerische Abstinenzblätter 2 (1909), S. 7. 111 Lady Astor war die erste weibliche Parlamentarierin des britischen House of Com- mons, die ihr Mandat ausübte. 112 Bleuler-Waser, H., »Den Kindern zulieb«, Schweizerische Abstinenzblätter 22 (1912), S. 133; Züblin-Spiller, E., »Arbeiterstuben – Gemeindestuben«, Schweizer Abstinent 21 /22 (1919), S. 42. Auch Sabine Schaller hat in ihrer Untersuchung zum weiblichen Anti-Alkohol-Aktivismus in Deutschland eine auffällige Präsenz von Aktivistinnen aus dem Ausland festgestellt, vgl. Schaller, S., Kampf dem Alkohol, S. 156-180. 113 Graeter, K., »Zur Frage des Frauenstimmrechts«, Schweizer Abstinent 3 /4 (1917), S. 5 f. Graeter war Mitglied der abstinenten Lehrer und Lehrerinnen der Schweiz. Außen: ›Äußere‹ Selbstbestimmung als gesellschaftliche Mitbestimmung 153 dazu nutzen würden, um sich vor häuslicher Gewalt, Verarmung der Fami- lie, sowie vor »minderwertigem« Nachwuchs zu schützen.114 Während dieser Optimismus die sozialhygienischen Foren dominierte, fanden sich jedoch auch skeptische Einzelstimmen. So warf ein Lesebrief- schreiber ein, dass wenn ein alkohol gegnerisches Gesetz nur aufgrund des Frauenstimmrechts eine Mehrheit findet, dieses von vielen Männern kaum akzeptiert würde.115 Umgekehrt wurde befürchtet, das »Alkoholkapi- tal« würde das Frauenstimmrecht mit Erfolg als eine »Erfindung der Tem- perenzler und Abstinenten« darzustellen wissen und dadurch suggerieren, dass der berechtigte Ruf nach Partizipation bloß von einer Minderheit getragen werde.116 Weitere Zweifel wurden gegen die rassenhygienische Hoffnung geäußert, wonach sich die durch das Frauenstimmrecht erwei- terte Selbstbestimmung auch auf die Aspekte der Reproduk tion auswirken würde. Eine in der »Frauenecke« abgedruckte Zuschrift tat diese Hoffnung in einem Satz als Utopie ab, indem sie prognostizierte: »Ein gewandter Le- bemann hat bei Arbeiterinnen, Verkäuferinnen usw. ein leichteres Spiel als ein ehrlicher, trockener Geselle.«117 Der hierbei artikulierte Eindruck schien zu sein, dass viele aus unteren Schichten stammende Frauen noch nicht reif seien für die geistigen Ansprüche einer modernen, vernünftigen Gesellschaft und sich allzu leicht von verführerischen Äußerlichkeiten täu- schen ließen. Weitere neue Fragen wurden aufgeworfen, als sich im Laufe der Prohi- bitions-Regimes in verschiedenen Ländern Frauengruppierungen formier- ten, die öffentlich für die Abschaf fung des Alkoholverbots eintraten. Im Fall einer finnischen Petition zum Abbruch des »noblen Experiments« von 1931, die mehrheitlich von Frauen unter zeichnet wurde, führte die Redak- tion des Schweizer Abstinents diese Aktion auf eine drastische Fehlinfor- mation zurück. Demnach seien viele unterzeichnende Frauen der Ansicht gewesen, mit ihrer Petition die Prohibition zu unterstützen.118 Die Erklä- rung bediente sich wiederum des Motivs der Täuschung, das im Zusam-

114 Zum Zusammenhang von Alkohol und häuslicher Gewalt vgl. Renggli, R. und Tanner, J., Das Drogenproblem, S. 68. 115 Graeter, K., »Abstinenz und Frauenstimmrecht«, Schweizer Abstinent 5 /6 (1917), S. 9 f. Der Illustrierte Arbeiterfreund erklärte den Erfolg in Norwegen hauptsäch- lich durch das Frauenstimmrecht, vgl. »Der Sieg der Norwegerinnen über den Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1921), S. 12. 116 Vgl. »Am Gängelband des Alkoholkapitals«, Schweizer Abstinent 11 (1927), S. 160. 117 K. L. in »Frauenecke« des Schweizer Abstinent, 13 /14 (1917), S. 27. 118 Vgl. »Die Frauenpetition gegen das finnische Verbot«, Schweizer Abstinent 14 (1931), S. 59. 154 Die Rhetorik der Freiheit menhang mit Ansprüchen auf »wirkliche« Freiheits konzeptionen in ver- schiedenen Spielarten eingesetzt wurde.119 Im Vergleich zu den Guttemplern vermittelte das Blaukreuz-Organ Der illustrierte Arbeiter freund ein Frauenbild, das stärker in Traditionen verhaf- tet war. In den beiden Jahrzehnten vor dem Jahrhundertwechsel wurden Frauen hauptsächlich adressiert, um ihr Pflichtbewusstsein als gewissen- hafte Hausfrauen zu schärfen. So könne der Gatte durch ein säuberlich gereinigtes Zuhause und köstlich-nahrhaften Speisen vom Gasthaus fern gehalten werden.120 Zwar wurde 1918 in Bezug auf den in den USA einge- führten Volstead-Act bemerkt, dass das Frauenstimmrecht politische Maß- nahmen gegen den Alkoholismus begünstigen kön ne,121 jedoch leiteten die Beiträge aus den Reihen des Blauen Kreuzes daraus keine politischen Forderungen für die Situation in der Schweiz ab. Vielmehr schienen die an die Frauen gerichteten Beiträge primär zu Genügsamkeit und Dank- barkeit über die bereits erhaltenen »Segnungen« aufzurufen. Besonders deutlich kam diese Haltung im zweiseitigen Beitrag »Frauenrecht« zum Ausdruck: »Betende Hände zum Himmel zu heben, auf dass reicher Se- gen niedergehen möge auf ein geliebtes Haupt, das ist schönstes, heiligs- tes Frauenrecht.«122 Wie zahlreiche andere Beiträge im Illustrierten Arbei- terfreund sah die Autorin dieses Beitrags, Anna Hinckeldey, »die Rolle der Frau« nicht nur im passiven Beten, sondern auch im aktiven Lindern von Leid, im Beglücken ihrer Ehemänner sowie im Erziehen ihrer Kinder.123 Dies lässt sich als Aufruf zu demütiger Akzeptanz der zu diesem Zeitpunkt gegebenen gesellschaftlichen Möglich keiten, vor allem aber auch ihrer Be- schränkungen lesen. Noch in der 1927 erschienen Festschrift zum 50-jäh- rigen Jubiläum des Blauen Kreuzes wurde zwar Position für die Gleichstel- lung der Geschlechter bezogen, die jedoch mit dem Kommentar relativiert

119 Das Motiv der Täuschung war u. a. im Diskurs zur »white slavery« (»Mädchen- handel«) besonders auffällig (vgl. Bristow, E. J., Prostitution and prejudice: the Jewish fight against white slavery 1870-1939 (Oxford: Clarendon, 1982); Donovan, B., White slave crusades: race, gender, and anti-vice activism, 1887-1917 (Urbana, IL: University of Illinois Press, 2006); Fischer-Tine, H., Low and licentious Europeans: race, class and ›White subalternity‹ in colonial India (New Delhi: Orient Black- Swan, 2009), Kapitel 4). 120 Vgl. dazu etwa Illustrierter Arbeiterfreund 1 (1890), S. 2; Illustrierter Arbeiterfreund 4 (1891), S. 16. 121 Vgl. Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1918), S. 8. 122 Hinckeldey, A., »Frauenrecht«, Illustrierter Arbeiterfreund 4 (1907), S. 16. 123 Besonders deutlich werden jene ›Privilegien‹ der Frauen im Beitrag »Ein wertvolles Geheimnis für – Frauen« (Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1930), S. 12) hervorgeho- ben. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 155 wurde, dass die Frauen »gar nicht nach Herrschaft« trachten würden.124 Dabei ist der Unterschied zu der in sozialhygienischen Kreisen dominan- ten Forderung augenfällig, auch den Frauen eine aktive Teilnahme an poli- tischen Prozessen zu ermöglichen. Derartige Forderungen nach ›äußerer‹ Mitbestimmung setzten bei den Adressaten eine spezifische, ›innere‹ Selbst be stimmung voraus. In den folgenden Abschnitten werden zuerst die Charakterisierungen jener im Innern einer Person verorteten Kontrollinstanz bei den Basler Missions- vertretern und nachfolgend bei den sozialhygienischen Abstinen ten ein- ge hender ausge leuchtet.

2. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit

Im Bestreben der Basler Missionsvertreter, ihre Mitmenschen zu befreien und zu erlösen, war der Topos der Sklaverei zentral. Als ›verinnerlichte‹ Form der Sklaverei galt das mit Unproduktivität, Faulheit, Müßiggang und Sinnlichkeit assoziierte »Heidentum«, das in den westafrikanischen Missi- onsgebieten als besonders »sinnlich« dargestellt wurde. Diese Neigung zur »Sinnlichkeit« schien den Berichten der Missionsvertreter zufolge bei den afrikanischen »Missionsobjekten« besonders ausgeprägt zu sein. Die Predi- ger berichteten regelmäßig von Faulheit, Unsittlichkeit sowie Unmäßigkeit, die sie nicht nur im Alkoholgenuss, sondern auch im Tanzen, Trommeln und Musizieren beobachteten. So war im Jahresbericht von 1900 zu lesen: »Schwer ist innerhalb der Gemeinden der Kampf gegen die Sinnlichkeit der Neger. In manchen Gegenden wird die Sinnlichkeit und das unge- bundene Wesen mächtig gefördert durch Musikbanden, die mit euro- päischen Instrumenten spielen. Auch viele Christen, zumal jüngere Leute, vermögen der Verführungsmacht dieser europäischen Musik nicht zu widerstehen und werden in wilder Erregung der Sinnenlust mit fortgerissen.«125 In diesem Fall wurde wie beim als »abendländisches« Kulturprodukt ver- standenen Branntwein befürchtet, dass die afrikanische Bevölkerung mit den kulturellen Errungenschaften Europas nicht umzugehen wüssten. Diese Befürchtung reihte sich in die zahlreichen, vor einer allgemeinen

124 Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 86. 125 Jahresbericht 1900, BMA Y.2, S. 27 (H. i. O.). 156 Die Rhetorik der Freiheit

»Genusssucht«126 warnenden Berichten ein. In diesen wurde eine Viel- zahl von Genussformen verdächtigt, zu einer »Verflachung des Geistes« 127 zu führen. Dabei umschrieben die untersuchten Berichte weniger eine Zielvor stellung des zu erreichenden spirituellen Bewusstseins, vielmehr setzten sie die kritisier ten Verhaltensformen mit einer ›inneren‹ Unord- nung gleich. Diese Sinnlichkeit beschrieben die Prediger nicht nur als Bedrohung einer materiellen Prosperität, sondern auch als Bedrohung einer geisti- gen, ›inneren‹ Freiheit. Um diese Freiheit bewusst zu erfahren, musste ein Mensch durch die Übernahme protestantischer Tugenden128 wie Fleiß, Sparsamkeit, Pünktlichkeit, Mäßigkeit und vor allem stetige Berufsarbeit »ein neues Selbst«129 herausbilden, das stets um eine ›innere‹ Ordnung be- müht war. Abgesehen von der angestrebten postmortalen Erlösung sollte dadurch bereits während des irdischen Lebens eine Gemeinschaft mit Gott erfahren werden, deren lebensbejahende und entlastende Qualität eine Vergewisserung jener versprochenen Befreiung darzustellen schien. Die anzustrebende Geistigkeit, hier verstanden als spirituelle Hinwen- dung zu Transzen dentem, zielte auf eine bewusste Distanzierung vom eigenen Leib ab: Angestrebt wurde eine Unabhängigkeit von »rohen« Affekten und damit eine Aufweichung der egoistischen Ich-Bezogen- heit.130 Folglich untersagte die Basler Mission ihren Mitgliedern sowohl das »gewohn heitsmäßige« Saufen als auch den Handel mit Branntwein. Bei Zuwiderhandlun gen, etwa im Falle öffentlicher Trunkenheit, droh- ten über die »Kirchenzucht« Bestrafungen, die je nach Schwere und Wiederholungen von einem Ausschluss vom Abendmahl bis hin zum Aus- schluss aus der Christengemeinde reichen konnten. Die 1902 gedruckte Gemeindeordnung der Basler Mission für die Stationen auf der Goldküste taxierte unter § 131 »Völlerei, Trunkenheit, woraus allerlei unordentliches und schändliches Wesen folgt« als verabscheuungswürdig, wie auch den »Genuss von Branntwein und anderen für Leib und Geist verderblichen

126 Wanner, G. A., Die Basler Handels-Gesellschaft, S. 119. 127 Fisch, R., »An das Komitee der evangelischen Missionsgesellschaft zu Basel« [1913], BMA J 78 a) S. 2; Lädrach, O., »Ein Beitrag zum Verständnis der Kulturfä- higkeit der Schwarzen Rasse«, Evangelischer Heidenbote 5 (1910), S. 33. 128 Der Soziologe Max Weber (1864-1920) beschrieb diese als »nützliche Tugenden«, vgl. Weber, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 25. 129 Martin, L. H. und Foucault, M., Technologien des Selbst (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1993), S. 62. 130 Zu mindest implizieren die alkoholrelevanten Passagen der vom Komitee der Basler Mission aufgesetzten Gemeindeordnung für die Missionsstationen eine derartige Lesart. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 157

Genussmitteln«.131 Diese Ächtung wurde mit Verweisen auf zwei biblische Passagen begründet: Während Sprüche 23:20.21 pragmatisch auf den ›äu- ßeren‹ ökonomischen Umstand hinwies, dass »Säufer und Schlemmer ver- armen« würden, forderte Epheser 5:18: »Und saufet euch nicht voll Wein, daraus ein unordentlich Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes.«132 Geistigkeit wurde demnach mit einer fragilen inneren Ordnung assozi- iert, die durch alkoholische Getränke gestört werden konnte. Die alko- holinduzierte Unordnung schien mit der Metapher des ungerich teten, unbeherrschbaren Fleisches zu korrespondieren, in der das mit tierischer Selbstliebe assoziierte Begehren eine zentrale Stellung einnahm. Folglich enthielt diese Lesart bereits das für die Idee der Sucht zentrale Kriterium des Kontroll verlusts. Die im westafrikanischen Kontext durch Basler Missionare beklagte »Sklaverei des Schnapstrinkens«133 schien sich aber weniger auf das Phäno- men einer individuellen Alkohol abhängigkeit zu beziehen als auf einen in Westafrika beson ders ausgeprägten gesellschaftlichen Zwang zum Brannt- weinkonsum. Als Ursache dieses Zustandes wurde eine durch die »zahl- losen Fetische« aufgezwungene »Sklaverei des Geistes«134 ausge macht, die Missionar Werner bereits 1878 folgendermaßen beschrieben hatte: »Das arme Volk ist gebunden und gekettet, darf nicht wagen, sich frei zu be- wegen, selbständig zu denken, frei sich zu entschließen.«135 Dabei bleibt die Art der beschränkenden »Ketten« unklar. Naheliegend ist eine Kom- bination von gesellschaftlichem Druck, divergierenden Bewertungen ver- schiedener Genuss- und Bewusstseinsformen sowie einem Gefangensein in einer mit animalischer Selbstliebe assoziierten »Genusssucht«. Bezeich- nend war, dass »die Fetische« in den Augen der Basler Missionsverteter so- wohl mit Branntwein als auch mit geistiger Unfreiheit in Verbindung ge- bracht wurden.

131 Evangelische Missionsgesellschaft (Basel), Ordnung für die evangelischen Gemein- den der Basler Mission auf der Goldküste (Basel: [s. n.], 1902), § 131, S. 36 f.: »Völ- lerei, Trunkenheit, woraus allerlei unordentliches und schändliches Wesen folgt, wird von uns verabscheut, desgleichen der Genuss von Branntwein und anderen für Leib und Geist verderblichen Genussmitteln.« 132 Die Bibelzitate lauten nach der Luther-Bibel von 1912: »Und saufet euch nicht voll Wein, daraus ein unordentlich Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes« (Eph. 5:18); »Sei nicht unter den Säufern und Schlemmern; denn die Säufer und Schlemmer verarmen […]« (Sprüche 23:20-21). 133 Missionar Obrecht (Abetisi) zitiert im Jahresbericht 1898 [BMA Y.2], S. 52. 134 Missionar Werner 1878 zitiert nach Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission, III, S. 117. 135 Ebd. 158 Die Rhetorik der Freiheit

Auch der Illustrierte Arbeiterfreund als Zeitschrift des evangelisch ge- prägten Blauen Kreuzes bezog sich vielfach auf die Trennung von Fleisch und Geist und hob 1928 gar folgende Passage aus dem paulinischen Brief metaphorisch hervor: »Wer auf sein Fleisch säet, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten. Wer auf den Geist säet, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten.«136 Die zahlreichen in dieser Zeitschrift abgedruck- ten Erzählungen geretteter Trinker legt die Interpretation nahe, wonach eine geistige Freiheit im Sinne eines zur Erlösung führenden, sowohl ver- antwortungsbewussten als auch mitfühlenden Bewusstseins erst durch die Anerkennung eines himmlischen Herrn und Willen zu erreichen sei. Das mit Kontrollverlust und Rohheit konnotierte »fleischliche« Begeh- ren erschien auch in den Geschichten des Illustrierten Arbeiterfreunds als »Sklaven ketten«, die den Menschen von seiner längerfristig angestrebten Nähe zu Gott abhalten. In anderen evangelisch geprägten Anti-Alkohol-Kreisen wurde ein der- artiges Freiheitsverständnis noch stärker zugespitzt, wie etwa der 1928 beim Internationalen Kongress von Antwerpen zum »Problem der Freiheit in der Alkoholfrage« referierende nieder ländische Pastor van Krevelen il- lustriert. Der Niederländer verwies in seinem Referat auf Luthers Freiheit eines Christenmenschen sowie auf mehrere biblische Passagen.137 In Anleh- nung an Johannes 8:32-36 solle die anzustrebende Befreiung gerade durch die bejahende Annahme einer spezifischen »Wahrheit« erreicht werden,138 wobei die Frei willig keit einer Handlung dem Pfarrer zufolge gerade daran zu erkennen sei, dass die Handlung durch das Motiv der Liebe veranlasst wurde: »Wer aus Liebe handelt, handelt freiwillig.«139 Im Gegensatz zur mit Freiheit konnotierten Liebe bezeichnete er den Alkohol genuss hinge- gen als »Symbol des Sklavendienstes« und erinnerte dabei – wie zuvor auch schon das Blaue Kreuz – an die bekannte Passage aus Johannes 8:34: »Wer Sünde thut, der ist ihr Knecht.«140 Dem Pfarrer zufolge verstieß bereits das Aufrechterhalten der hiesigen Trinksitten gegen das »Gebot der Liebe«, da nicht nur die »Sklaven des Trunks«, sondern auch die mäßig Trinkenden

136 Galater Kapitel 6:7-8., zitiert aus »Die traurigen Folgen der Trunkenheit (Traktat aus dem Jahre 1835)«, in Illustrierter Arbeiterfreund 12 (1928), S. 48. 137 Besonders hob der Pastor die Kapitel 14 der Römerbriefe sowie Kapitel 8-10 von den 1. Korinther briefen hervor. 138 Vgl. Pastor van Krevelen, Programm zum 19. Internationalen Kongress in Antwerpen 1928, S. 15 f.: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« 139 Vgl. ebd., S. 15. 140 Johannes 8:34 zitiert nach ebd., S. 15. Dieser Satz nach Johannes fand sich auch im Illustrierten Arbeiterfreund 12 (1891), S. 45. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 159 eher dazu verleitet würden, sich den Lastern der »Genusssucht«, der »Men- schenfurcht« oder des »Vorurteils« zu unterwerfen. 141 Auch hier ist auffäl- lig, dass »Liebe« nicht als egoistische Selbstliebe, sondern als ein altruisti- scher Antrieb verstanden wurde. Im Gegensatz zu diesem an die europäische Bevölkerung gerichteten Aufruf beschränk ten sich die meisten Postulate der Basler Missionsvertre- ter auf die Bekämpfung des Branntweins in Westafrika. Gerade in der ge- nussfreundlichen Permissivität der dortigen, als »heidnisch« bezeichneten Sitten orteten sie eine zentrale Erklärung für ihre bescheidene Ausbeute an konvertierten Christen. Erschien die »Genusssucht« in der Schweiz in den Beiträgen des Blauen Kreuzes von Beginn weg als zentrales Problem, so schien dieses Phänomen auf der Goldküste umso bedrohlicher. Der auf Aburi stationierte Basler Missionar Balthasar Groh bemerkte etwa, dass das Christentum für viele Afrikaner nicht besonders verlockend sei, da »man im Heidentum viel ungenierter dem Genussleben und seinen Lüsten fröh- nen« könne.142 Hierbei drängt sich eine Parallele zur oben genannten Be- fürchtung aus sozialhygienischen Kreisen auf, wonach die meisten Frauen eher den »gewandten Lebemännern« als den braven, trockenen Gesellen zu- geneigt seien. Die beiden Spielarten des Verführungs-Motivs weisen bereits auf die Unter scheidung zwischen einem längerfristig ausgerichteten ›inne- ren‹ Willen und einem impulsiv-animalischen ›äußeren‹ Begehren hin. Die Basler Missionsvertreter richteten große Teile ihrer Anstrengun- gen auf das Auf brechen der als »heidnisch« wahrgenommen, gesellschaft- lichen Konventionen. Ihr Ansinnen ähnelte damit demjenigen der sozial- hygienisch geprägten Agitatoren, die ihre Reformen insbesondere an den Trinksitten ansetzen wollten – obschon erhebliche Unterschiede zwischen den geografischen Zielgebieten, der sprachlichen Begrifflichkeit sowie der Bedeutung der schwachalkoholischen Getränke bestanden. Ähnlich wie bei der säkular orientierten Alkoholgegnerschaft setzten die Prediger ihre Hoffnungen vielfach auf die ›formbare‹ Jugend. So äußerte sich die Ord- nung für die Missions stationen der Goldküste von 1902 folgendermaßen zur Erziehung der Kinder: »Die Kinder selbst müssen zu ihrem eigenen Wohle frühe lernen, ihre Kräfte tüchtig anzustrengen, die Zeit wohl aus- zukaufen und sich mit Gottes Hilfe himmlische und irdische Weisheit anzueignen.«143 An derartige Maximen schlossen sich zahlreiche Appelle

141 Vgl. ebd., S. 16. 142 Baltasar Groh zitiert nach Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission, III, S. 144. 143 Evangelische Missionsgesellschaft (Basel), Ordnung für die evangelischen Gemein- den der Basler Mission auf der Goldküste, § 117, S. 34. 160 Die Rhetorik der Freiheit an, dass Eltern ihre Kinder aus Liebe bestrafen sollten. In einer größten- teils identischen Form fanden sich auch in den untersuchten Organen des Blauen Kreuzes regel mäßig Plädoyers für eine strenge Disziplinierung aus Liebe.144 Diese Erziehungs rat schläge zielten jeweils sowohl auf die ›in- nere‹ als auch auf die ›äußere‹ Freiheits ermäch tigung ab. Einerseits schien die individuelle Arbeit an sich selbst, wie das Auswendig lernen von Bibel- sprüchen sowie die stetige kritische Selbstreflexion, als Voraussetzungen für das in diesem religiösen Rahmen angestrebten Seelenheil zu dienen: Immer wieder verwiesen die Beiträge im Illustrierten Arbeiterfreund auf die Todesfurcht, die über einen gottgefälligen Lebenswandel zumindest gelin- dert werden könne.145 Andererseits diente das rational geplante »Auskaufen der Zeit« neben dem persönlichen Wohlergehen gerade auch einer gesell- schaftlichen Stabilität. Laut Jenkins’ Studie zum Württemberger Pietis mus war die puritanische Lebensführung mit einem Streben nach besserer Le- bensqualität verbunden, das über vertrauenserhaltende Verhaltensweisen die Gemeinschaft langfristig stabilisieren sollte.146 Hochgehaltene Werte wie »Regelmäßigkeit, Ausdauer und ehrbare Arbeit« sollten ein befürchte- tes »Schmarot zertum« bannen.147 Aus diesem konventiona listischen, pas- toralen Blickwinkel war fleißige Arbeit – sowohl das Herstellen und Bear- beiten von Gütern als auch die Arbeit an sich selbst – nicht nur auf das individuelle Seelenheil, sondern auch auf das soziale Wohl der Gesellschaft ausgerichtet. Sowohl der Müßiggang als auch die allgemeine »Lasterhaftig- keit« stellten aus dieser Perspektive starke ökonomische Bedrohungen für eine Gesellschaft dar, wobei der Schnapskonsum gleich mit beiden Unsit- ten assoziiert wurde. Dieser würde die Bevölkerung Westafrikas auf lange Sicht hin derart demoralisieren, »dass selbst der Ackerbau und der Han- del, selbst der Schnapshandel zu Grunde gerichtet« werde, wie der Nord- deutsche Inspektor Franz Michael Zahn ausführte.148 Die Bedrohung einer letzt endlich zum Aussterben führenden gesellschaftlichen Unordnung ließ

144 Vgl. etwa »Gegen die Neigung«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1888), S. 35; »Kinder- zucht«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1894), S. 31. 145 Vgl. etwa »Voltaire’s Tod«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1891), S. 22; Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1894), S. 9. 146 Vgl. dazu Jenkins, P., »Towards a definition of the pietism of Württemberg as a missionary movement«, S. 4 ff. 147 Duisberg, W., Industrie und Handel im Dienst der Basler Mission (Basel: Verlag der Missionsbuchhandlung, 1902), S. 24. Dazu wurde nicht zuletzt auf die biblische Passage Sprüche 18:9 verwiesen: »Wer lässig ist in seiner Arbeit, der ist ein Bruder des, der das Seine umbringt.« 148 Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel«, S. 24 (H. i. O.). Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 161 sich für den entfernten afrikanischen Kontext wesentlich leichter herauf- beschwören als für Europa.

Sozialhygienische Geistigkeit

Die aus dem evangelischen Umfeld artikulierten Forderungen nach Fleiß und Leistung deckten sich weitgehend mit dem Arbeitsideal, das in sozial- hygienisch geprägten Abstinenz-Blättern vermittelt wurde. In diesen nahm der antiklerikale Naturforscher Forel eine herausragende Rolle ein, der sich etwa vehement gegen die als »asozial« beschriebenen Glücksspiele einsetzte, da diese »dem sozialistischen Gedanken der Arbeits ehrung widersprechen« würden.149 Sein Ideal von der anzustrebenden »sozialen Arbeit« hatte der dekorierte Ameisenforscher in der »Natur« sowohl des Menschen als auch der Ameise beobachtet. Dabei kam der Hirnforscher zum Schluss, dass bei beiden Spezies die »Arbeit und Sorge um den Nachwuchs«150 als wichtigs- ter Instinkt dominiere. Das zu massiver Ungleichheit führende Glücksspiel störe gerade diese zentralen Antriebe und bedrohe damit neben der Arbeits- lust der Eltern auch die existenziellen Grundlagen ihrer Familie. Neben Forels zahlreichen Beiträgen, die vielfach sein exlibris »labor omnia vincit« (Arbeit besiegt alles) zum Ausdruck brachten, fanden sich im Schweizer Ab- stinent viele kämpferische Apelle an die Arbeitslust der Leserschaft. Sätze wie »Arbeit ist Leben, Ruhe ist Tod«151 galten einerseits als Aufforderung zur Sicherstellung des Überlebens eines Kollektivs, andererseits als Auffor- derung an die Individuen zur konstanten Arbeit an einem eigenen Willen. Diese Appelle wurden vielfach von einer Fortschritts gläubigkeit getragen, in der Leben vornehmlich als Kampf erschien. Mit Losungen wie »Ohne Kampf kein Leben, ohne Kampf keinen Fortschritt«152 trieb der sozialhy- gienische Diskurs über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die Maxime einer konstanten Selbst optimierung voran. Dabei blieb unklar, welche konkrete Instanz dieses Selbst zur Optimie- rung anleiten sollte. Viele Beiträge forderten eine Vorherrschaft des Ge- wissens sowie der Liebe – Forel sprach etwa von »höheren Hemmungs- vorrichtungen«,153 die er im menschlichen Groß hirn vermutete. Derartige Instanzen bedurften auch nach dem sozialhygienischen Tenor einer nahezu

149 Auguste Forel, Schweizer Abstinent 2 (1928), S. 7. 150 »Unserm Bruder Forel zum 80. Geburtstag«, Schweizer Abstinent 18 (1928), S. 79. 151 Sch., A., »Zum Jahreswechsel«, Schweizer Abstinent 51 /52 (1916), S. 109. 152 Forel, E., »Zur Frauenfrage«, Schweizerische Abstinenzblätter 12 (1905), S. 72. 153 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen: Ein Vortrag von Dr. med. August Forel, Di- rektor der Irrenanstalt Burghölzli, Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich, 162 Die Rhetorik der Freiheit unablässigen Übung. Der Schweizer Abstinent veröffentlichte verschiedene Anleitungen zur Verbesserung der eigenen Willensstärke. Besonders präg- nant war diesbezüglich das Referat »Willens- und Gedächtnisbildung« des deutschen Schriftstellers Reinhold Gerling (1863-1930). Die Quintessenz seines Vortrags findet sich in den beiden Sätzen: »Für jeden Menschen ist es von größter Wichtigkeit, dass er Herr seines Willens, eines starken Wil- lens ist […]. Jeder hat die Aufgabe, an sich selbst zu arbeiten.«154 Damit im- plizierte der Hypnotiseur Gerling wiederum einen Unterschied zwischen dem Willen und der ihn beherrschenden Kontrollinstanz. Offensichtlich existierte demnach ›innerhalb‹ des Willens eine Entscheidungsinstanz, die es zu stärken galt. Diese Schulung der eigenen Freiheit wurde als perma- nente Aufgabe aufgefasst, was besonders in der Aufforderung zum Aus- druck kam, dass der Wert der Zeit geschätzt und »unnütze« Vergnügen unterlassen werden sollten. Auch andere Beiträge stellten ein konstantes Arbeiten an sich selbst als notwendige Vorbedingung der Selbsterkenntnis dar. Damit erinnerten sie sowohl an die Anleitungen der Basler Mission als auch an Max Webers Lesart der asketisch-protestantischen Ethik.155 Aufgrund der starken Präsenz von Psychiatern in dieser Gruppierung überrascht nicht, dass zahlreiche Texte aus dem Guttempler-Milieu ein- gehend ausführten, was sie unter dem »menschlichen Geist« verstanden. Im Unterschied zu den explizit evangelisch aufgeladenen Umschreibungen der Missionsfreunde stellte eine ›objektiv‹ prüfende Wissenschaft für füh- rende Sozialhygieniker wie Forel die einzig legitime Grundlage geistiger Befreiung dar. Eine derartig ›säkulare‹ Geistigkeit machte der Hirnforscher hauptsächlich in einer Schärfung und Nuancierung des »plastische[n] Denken[s]« aus. Dies betrachtete er als einzige Freiheit, die der Kontrolle des menschlichen Bewusstseins unterliege.156 Auch andere abstinente Kol- legen thematisierten die Frage der menschlichen Willensfreiheit. So etwa der deutsche Philosoph und Moralpädagoge Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966), der sich intensiv mit der Thematik des Freien Willens aus-

Ganz umgearbeitete, zweite Auflage (Basel: Verein zur Bekämpfung des Alkohol- genusses, L. Reinhardt, Universitätsdruckerei, 1895), S. 6. 154 Gerling, R., »Willens- und Gedächtnisbildung« in Schweizer Abstinent 7 /8 (1920), S. 14. Gerling betätigte sich u. a. als Hypnotiseur und hatte verschiedene Vereine für Körperpflege gegründet. 155 Vgl. dazu Weber, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 88 & S. 148 f.; F. G.: »Erkenne dich selbst«, in Schweizer Abstinent 7 /8 (1920), S. 15. 156 Vgl. Forel, A., Die Reform der Gesellschaft durch die völlige Enthaltung von alkoho- lischen Getränken, 2. Aufl. (Leipzig: Tienken, 1901), S. 4; Forel, A., »Aufruf an die Abstinenten der Gegenwart und Zukunft«, Schweizer Abstinent 24 (1925), S. 103. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 163 einandersetzte und bis 1912 an der Universität sowie am Polytechnikum Zürich lehrte. 1906 druckten die Schweizerischen Abstinenzblätter einen Vortrag Foersters ab, in welchem dieser zum Einstieg die sichtbaren Aus- prägungen des durch Alkohol bewirkten Kontrollverlusts umschrieb: »Dass die Beine des Trinkers taumeln und dem Geist nicht mehr ge- horchen – das ist wohl das Auffälligste, aber noch lange nicht das Schlimmste bei der Wirkung des Alkohols – es ist sozusagen nur das äußere Signal, dass der König Geist nur gefesselt und betäubt ist, und dass die Knechte jetzt tun, was sie wollen.«157 Als »Knechte« verstand der Philosoph alle Empfindungen einer Person, die von ihrer »geistigen« Entscheidungsinstanz zwar wahrgenommen, jedoch nicht bewusst gewählt würden. Auch wenn diese Empfindun- gen innerhalb eines Körpers produziert wurden, grenzte der Autor diese vom »Geist« ab, dessen »Innerstes« seiner Ansicht nach das Gewissen dar- stellte. Zu diesen scheinbar unbewussten Sinneseindrücken zählten unter- schiedliche Ausprägungen, wie der daraufhin vorgeschlagene ›Übungska- talog‹ verdeutlicht: »Darum schlage ich Euch vor, benutzt Eure Jugendkraft, um täglich einmal Eurem Körper zu zeigen, wer Herr im Hause ist – nehmt ihm öfters mal eine süße Speise vor der Nase weg, wenn ihm schon das Wasser im Munde zusammenläuft, verbeisst nicht nur einen heftigen Schmerz, sondern auch ein Geheimnis, das Euch anvertraut ist oder ein loses Wort, das Euch über die Lippen will und endlich: Versucht es, den Zornkoller zu beherrschen und probiert es einmal, ein unwider- stehliches Lachen zu verkneifen. Wer die Freude und den Stolz solcher Selbstüberwindung einmal kennengelernt hat, der ist zum unverwund- baren Ritter geworden im Kampf gegen den Alkohol, diesen Zerstörer der Herrschaft über sich selbst.«158 Damit richtete er sein Freiheitsverständnis an der Vorherrschaft eines re- flexiv-bewussten Geistes über körperliche Empfindungen aus. Jedoch fällt auf, dass er einige Ausnahmen zuließ: So schrieb er etwa Emotionen wie

157 Foerster, F. W., »Freie Schweizer«, in Schweizerische Abstinenzblätter B29 (1906), S. 174. Foerster hatte 1898 zu »Willensfreiheit und sittlicher Verantwortlichkeit« habilitiert und unterrichtete u. a. auch Forels Kinder in Ethik (vgl. Forel, A., Rück- blick auf mein Leben, S. 205 f.). 158 Förster, F. W., »Freie Schweizer«, in Schweizerische Abstinenzblätter B29 (1906), S. 174. 164 Die Rhetorik der Freiheit

Stolz und Freude als Resultat eines bewussten Strebens dem Bereich des bewusst Geistigen und damit dem »Innern« zu. In anderen Artikeln wurde Forel den Leserinnen und Lesern der Gut- templer-Zeitschrift als Vorbild für die geistige Schulung präsentiert. Der als »Meister«159 gehuldigte Hirn forscher, der das »Gehirn als das Organ der sogenannten Freiheit des Menschen, d. h. der relativen, auf Grund höherer Überlegung vorhandenen plastischen Bestimmungs fähig keit«160 bezeich- nete, hatte im Mai 1912, im Alter von 64 Jahren, eine einseitige Lähmung durch einen Hirnschlag erlitten. Dieses »Opfer« schrieben die Guttemp- ler seiner beinahe rastlosen alkoholgegnerischen Aktivität zu und erho- ben den eifrigen Agitator in den religiös angehauchten Rang eines selbst- losen »Martyrers«.161 Anlässlich einer Reportage zu Forels 70. Geburtstag wurde etwa die körperliche Leistung des halbseitig Gelähmten hervorge- hoben, »[…] mit seinem Geist seinen Körper« dazu zu zwingen, über 200 mit Steinen beladene Körbe einen steilen Hügel hinaufzutragen.162 Durch die Gegenüber stellung mit dem vergänglichen Leib verbildlichte diese Re- portage die länger fristige Bedeutung eines geschulten Willens. Allerdings ging diese Bevorzugung des Bewusst-Reflexiven potenziell auf Kosten der Selbstverständlichkeit, mit der Menschen als Körper existieren.

Wille, Suggestibilität & Spiritualität

Im Kontext einer zu optimierenden Willensstärke ist Forels Faszination für die Hypnose bemerkenswert. Insbesondere in der sozialhygienisch ge- prägten Alkoholgegnerschaft ermöglichte die unter anderem durch Forel popularisierte »Suggestion« eine anschauliche Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Die unterschiedlichen men sch lichen Nei- gungen, andere unbewusst nachzuahmen, fanden ihren Niederschlag in Schlagwörtern wie »Massen-Suggestion«163 oder »Nachahmungssucht«.164 Mit derartigen, auf Verhaltensmuster ganzer Gesellschaften bezogenen

159 Vgl. Schweizer Abstinent 35 /36 (1918), S. 69. 160 Forel, A., »Fridtjof Nansen und die Abstinenz«, Internationale Monatsschrift 2 (1910), S. 52 f. (53). 161 Vgl. dazu etwa die Ausführungen in »Die Churertage«, Schweizerische Abstinenz- blätter 13 (1912), S. 75. 162 »Dr. Forel ist 70 Jahre alt«, Schweizer Abstinent 33 /34 (1918), S. 65 f. 163 Etwa in Korolanyi, H., »Zur Psychologie des Alkoholismus«, Internationale Mo- natsschrift 6 (1931), S. 289-298 (290); Kassowitz, J., »Der Kongress des Frauen- Abstinenz-Bundes in Boston«, Internationale Monatsschrift 2 (1907), S. 45-51 (49). 164 Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 28. Vgl. auch Bugmann, M., Hypnosepolitik, insbesondere S. 77 f. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 165

Begriffen wurde die Eigen ständig keit der sich als autonom verstehenden Subjekte infrage gestellt. Dabei galt die »Suggestibilität« – de facto mit Willensschwäche gleichgesetzt – als Mangelerscheinung einer noch nicht abgeschlossenen evolutionären Entwicklung. Bemerkenswerterweise stellten viele sozialhygienisch-geprägte Beiträge die an und für sich säkulare Evolutionstheorie als sinnstiftende, spirituelle Quelle dar. Darin wurde die ›innere‹ Freiheit nicht bloß als eine äußer- lich sichtbare sowie innerlich fühlbare Selbstbeherrschung eines Indivi- duums dargestellt, sondern sie um fasste vielfach auch die Aufforderung, im eigenen Leben nach dem bewussten Erfahren von Sinnhaftigkeit zu streben. Auf diese sinnstiftende Komponente spielte unter anderem der Psychiater Otto Juliusburger an, als er die Leserschaft des Schweizer Absti- nents dazu aufforderte, sich »als bewusste Elemente der Entwicklung«165 zu fühlen. Dabei zielte er mit dem Begriff »Entwicklung« auf eine eugenische Interpretation der »Abstammungslehre« ab. Im sich daran anschließenden Plädoyer für die Abstinenz betonte der Psychiater insbesondere die Wich- tigkeit der innerlichen Erlebensdimension als Ergän zung zur vernunftsba- sierten Theorie: »Wir müssen die große Tatsache, dass wir mit der ganzen Natur unzer- trennlich verknüpft sind, tief innerlich erleben. Das hehre Gesetz der Entwicklung muss tiefe Furchen in unser ganzes Gemüt eingraben, es muss unseren Willen packen und ergreifen […].«166 Diese von Juliusburger als »sozialen Monismus« bezeichnete Weltanschau- ung berief sich auf die bewusste Verinnerlichung einer von eugenischen Tendenzen gezeichneten, naturge gebenen Entwicklung. Dabei wurde diese sinnliche Erfahrung aber gerade nicht einer bewussten Rationalität entge- gengesetzt, sondern an einem rationalisierten Verständnis von Naturge- setzen ausgerichtet. Wie viele andere sozialhygienisch orientierte Beiträge erkannte der Guttempler die Bedeutung eines Subjekts gerade in dessen Bereitschaft, sich selbstlos für das Bestehen eines wichtigeren Kollektivs aufzuopfern.

165 Juliusburger, O., »Weltanschauung und Abstinenz«, Schweizerische Abstinenzblät- ter B4 (1905), S. 23. Juliusburgers Ansichten sowie auch seine Verbundenheit zu Sozialreformern und Pazifisten entsprechen dem im vorherigen Kapitel skizzier- ten Verständnis von Sozialhygiene (vgl. Krebs, A., »Juliusburger, Otto«, in Neue Deutsche Biographie, herausgegeben von Wagner, F., et al. (Berlin: Duncker & Humbolt, 1974). 166 Juliusburger, O., »Weltanschauung und Abstinenz«, Schweizerische Abstinenzblät- ter B4 (1905), S. 20. 166 Die Rhetorik der Freiheit

Dieser Beitrag erschien noch vor Juliusburgers Wechsel zur Psychoana- lyse, nach wel chem der Psychiater sich – den Alkoholismus nun als »lar- vierte Homosexualität«167 betrach tend – von der Abstinenz abwandte. Die aufkommende psychoanalytische Strömung wurde ab 1912 in mehreren Beiträgen der Internationalen Monatsschrift scharf kritisiert, denn sie be- drohte die akademische Abstinenzbewegung gleich in doppelter Hinsicht: Einerseits rückte sie ihren Blick weg von Vererbungstheorien hin zu Ver- drängungs theorien. Andererseits ließ sich damit, um der Auslegung des ungarischen Nervenarzts Sándor Ferenczi (1873-1933) zu folgen, die Absti- nenz als eine tendenziell neurotische Flucht vor dem Alkohol auslegen.168 Trotz der dominierenden Ablehnung gegenüber der Psychoanalyse färbte sich deren Aufkommen teilweise auf die Argumente der Guttempler ab. Im Schweizer Abstinent wurde 1925, also zwei Jahre nach der Veröffentli- chung von Sigmund Freuds gewichtiger zweiten Topik Das Ich und das Es,169 der Beitrag »Alkohol und Persönlichkeit« von Friedrich Niebergall (1866-1932) abgedruckt. Der Vortrag fiel damit in eine Zeit, zu welcher der Begriff der »Persönlichkeit« langsam denjenigen des »Charakters« ablöste. Diese Begriffe verwiesen laut Marietta Meier auch in psychiatrischen Dis- kursen vielfach auf eine »nicht näher definierte, […] in der Regel nur sehr lose mit kognitiven Merkmalen zusammenhängende Entität«.170 Im be- sagten Vortrag schrieb der deutsche evangelische Theologe Niebergall dem »Ich« einer »ichstarken« Persönlichkeit die Hemmung gegen Triebe – vor allem sexueller Art, aber auch gegen Eitelkeit, Gewalt, Zorn oder »dumme Vertraulichkeit« – zu, während er letztere ›naturnahen Triebinstanzen‹ als »Es« bezeichnete. Für den Theologen stellte der Alkoholrausch gerade auf-

167 Vgl. Holitscher, A., »Die Lehre Freud’s und die Abstinenzbewegung«, Internatio- nale Monatsschrift 12 (1912), S. 497-499 (480). Gemäß Jellinek war diese Theorie einer verdrängten Homosexualität innerhalb der Psychoanalyse die verbreitetste Erklärung für Sucht, die auch außerhalb der Psychoanalyse Zuspruch fand (Bow- man, K. M. und Jellinek, E. M., »Alcohol Addiction and its Treatment«, S. 31). 168 Vgl. Bleuler, E. »Alkohol und Neurosen«, Internationale Monatsschrift 5 (1912), S. 176-183 (181). Da die Psychoanalyse das Phänomen der Sucht aufgrund von psy- chologischen Wurzeln erklärte, führte ihr Aufkommen zu vermehrten Austritten aus dem AGB (vgl. Holitscher, A., »Die Lehre Freud’s und die Abstinenzbewe- gung«, Internationale Monatsschrift 12 (1912), S. 497-499). 169 Darin assoziierte Freud das Ich mit Rationalität und das Es mit den Leidenschaf- ten, vgl. Freud, S., Das Ich und das Es (Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1923), S. 27. 170 Meier, M., »Stufen des Selbst: Persönlichkeitskonzepte in der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts«, Historische Anthropologie 19, no. 3 (2011), S. 391-410 (397). Erst ab den 1940er-Jahren setzte sich die Ablösung des »Charakters« durch die »Persön- lichkeit« durch (S. 394). Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 167 grund seiner Fähigkeit, die Illusion eines starken Ichs zu erz eugen, einen gefährlichen Zustand dar, da in Wirklichkeit das »Es« Überhand nehme. Hingegen biete der persönliche Widerstand gegen den Alkoholgenuss je- dem Menschen die Möglichkeit, mit diesem Einsatz für »das Gute« die eigene persönliche Stärke zu entdecken.171 Niebergall verzichtete in diesem Beitrag auf die Termini des Vorbewussten, des Unbewussten oder des von Freud als Substitution der »Vatersehnsucht«172 ausgelegten »Über-Ichs«. Stattdessen skizzierte er ein Ideal, das universell, das heißt unabhängig von den individuellen, auf Libido-Theorien beruhenden Entstehungserklärun- gen Freuds dem Leben Sinn zu stiften versprach. Auch in diesem Rezept spielte die konstante Arbeit – sowohl am eigenen Selbst als auch am Ge- meinwohl – eine zentrale Rolle. Damit stimmte der Theologe weitgehend mit den Ansichten Forels überein: Forel verwarf Alkohol und andere »Nar- kotika« unter anderem auch, weil diese zu einer »Steigerung egoistischer, tierischer Triebe« führen würden. Dieser Zustand, der selbst vom Hirnfor- scher als »Genusssucht«173 umschrieben wurde, entsprach in Niebergalls Begrifflichkeit einem weitgehend dominierenden »Es«. Auf Grundlage von derartigen Unterscheidungen zwischen einem »Ich« und einem »Es« ließen sich auch unterschiedliche Formen des Genusses bewerten, wobei dazu oft eine vertikal ausgerichtete Differenzierung zwi- schen »höheren« und »niederen« Genuss formen zum Tragen kam. Beson- ders deutlich kam diese Korrelation in einem 1924 im Internationalen Jahr- buch des Alkoholgegners abgedruckten Aufsatz des Osloer Gefängnisarztes Johan Scharffenberg zum Ausdruck. Darin schrieb der Arzt über die Be- deutung des Genusses im Leben des Menschen. Für den Mediziner stellte der Begriff der »Persönlichkeit« ein Äquivalent zum zuvor vorgestellten »Ich« des Theologen Niebergall dar. Zunächst erhob Scharffenberg eine mit Freude assoziierte Entfaltung jener Identität zum »höchsten Lebens- zweck« eines jeden Menschen: »Weder das Leiden noch die Freude sind Selbstzweck, sondern Mittel zur Entwicklung der Persönlichkeit. Seine Persönlichkeit auszuwirken,

171 Vgl. Niebergall, F., »Alkohol und Persönlichkeit«, Schweizerische Abstinenzblätter B1 (1925), S. 5. 172 Vgl. Freud, S., Das Ich und das Es (Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1923), S. 44. 173 Forel, A., »Alkohol und soziales Elend«, Internationale Monatsschrift 7 (1894), S. 204-216 (208). 168 Die Rhetorik der Freiheit

sie so vollständig als möglich zu entfalten, das ist der Lebenszweck für den einzelnen.«174

Alsbald verdeutlichte Scharffenberg jedoch, dass dieser lustvollen Entfal- tung aber enge, durch das allgemeine Wohl einer Gesellschaft diktierte Grenzen gesetzt sind. Dabei folgte der Sozialhygieniker dem Kant’schen Postulat, dass der Mensch nicht wie das Tier automatisch seine Bestim- mung erreiche, sondern diese erst in der vernünftigen Selbstbestimmung fände.175 Diese Selbstbestimmung hatte sich primär an gesellschaft lichen Bedürfnissen auszurichten, wobei Scharffenberg etwa die Emotion der »Freude« als bloßes Mittel zum – volkswirtschaftlich bezifferbaren – Zweck einer zu gewährleistenden kollektiven Produktivität verstand. Wie Fo- rel und Bunge zuvor wandte sich der Gefängnis arzt gar explizit gegen die Ansicht, das Vergnügen als Selbstzweck auszulegen. Im Kontext einer auf konstanter Aufopferung der Individuen beharrenden Weltanschauung müsse die Genussfähigkeit eines Individuums, das sich den Genuss zum obersten Lebenszweck erhoben hat, abnehmen und letztendlich »im Ekel vor dem Leben« enden. In seinen Ausführungen fokussierte Scharffenberg hauptsächlich auf »niedere« Genussformen, deren negative Bewertung er durch den Umstand charakteri sierte, dass diese auch mit einem »narkoti- sierten« Großhirn genossen werden könnten. Während der Genuss einer Symphonie nur nüchternen Menschen zugänglich sei und zudem ein Mindestmaß an bewusster Auseinandersetzung mit dem eigenen Geistes- leben voraussetze, beschrieb er etwa Glücksspiel oder Pornografie als nied- rige Genussformen, die aus seiner Sicht hauptsächlich kurzfristige rohe Reize bedienten. Dabei vermittelte diese Bewertung weder den Eindruck einer bewussten Reflexion über kultur- sowie klassenspezifische Voraus- setzungen, noch ging Scharffenberg auf die Problematik ein, dass Auslas- sungen über »Rohheit« auch zur Aufwertung des eigenen Status eingesetzt werden können. Seine Ausführungen suggerierten vielmehr eine Univer- salität der Regel, dass längerfristige Genussfähigkeit nur durch konstante Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit zu erreichen sei und nicht durch die unkontrollierbaren, trieb geleiteten Genüsse. Scharffenbergs Konzeption einer Persönlichkeit wies damit deutliche Parallelen zu denjenigen Missionsvertretern auf, die den Alkohol mit einer

174 Scharffenberg, J., »Zur Bedeutung des Genusses im Leben des Menschen«, in In- ternationales Jahrbuch des Alkoholgegners 1923-24 (Lausanne 1924), S. 27-69 (Her- vorhebung i. O.). 175 Vgl. Santos, R. d., Moralität und Erziehung bei Immanuel Kant (Kassel: Kassel University Press, 2007), S. 137. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 169

»geistigen Verflachung«176 sowie mit »rohem Aberglauben«177 assoziierten und mit einer »Höhe der neutestament lichen Ethik«178 kontrastierten. Im Gegensatz zum evangelischen Konzept von Geistigkeit wurde diese in so- zialhygienischen Kreisen jedoch deutlicher auf die Leitidee einer teleolo- gisch gerichteten Evolution bezogen. Dabei wies die Zielvorgabe weg vom instin k tiven Tier, hin zur freien Persönlichkeit, die sich durch die rationale Reflexion eines »ausgebildeten Großhirns« einem »kosmischen Wollen«179 unterwirft. So hatte der deutsche Bakteriologe Max Gruber am Interna- tionalen Kongress gegen den Alkoholis mus von 1905, also rund zwei Jahr- zehnte vor dem zuvor diskutierten Aufsatz Scharffenbergs, proklamiert, das »wahre Ausleben« bestehe in der größtmöglichen Ausnutzung der Großhirnanlage. Erst dadurch erhebe sich der Mensch über das Tier, dem der Arzt ein »kümmerliches Großhirn« attestierte. Noch deutlicher als bei Scharffenbergs Ausführungen verband Gruber das von ihm abgelehnte Ausleben mit Rückständigkeit und Instinktgebundenheit: »Jenes ›Ausleben‹, das man heute preist, das blinde Nachgeben gegen- über dem nächstbesten sinnlichen Impulse, gegenüber den Launen des Augenblicks – je schrankenloser desto besser! – ist nicht Entwicklung, sondern Verkümmerung, Zurückbleiben des Ich auf kindlicher, auf tie- rischer Stufe.«180 Auffällig ist dabei, dass der Bakteriologe einerseits jenes geistige »Ich« auf die materielle »Großhirnanlage« bezog und andererseits den Menschen wieder explizit als Antithese zum Tier dachte. Nicht immer wurden men- tale Vorgänge im sozialhygienischen Diskurs derart explizit in einer mit permanenter Selbstkontrolle assoziierten »Großhirnanlage« verortet wie in diesem Fall, aber durch die durchgehende Präsenz von Experten wie dem Hirnforscher Forel dominierten monistische Ansichten, wonach die Selbstkontrolle im Großhirn vermutet wurde. Ähnlich wie sein Doktor- vater Theodor Meynert unterschied Forel dabei ein primitives, »primäres

176 Fisch, R., »An das Komitee der evangelischen Missionsgesellschaft zu Basel« [1913], BMA J 78 a, S. 2. 177 Lädrach, O., »Ein Beitrag zum Verständnis der Kulturfähigkeit der Schwarzen Rasse«, Evangelischer Heidenbote (5) 1910, S. 33. 178 Friedrich Spellenberg in »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914, BMA E 10,15, S. 16. 179 Dies forderte der deutsche Großtempler und Professor Reinhard Strecker (vgl. Programm zum 19. Internationalen Kongress in Antwerpen 1928, S. 17). 180 Gruber, M., »Die Hygiene des Ich«, in Xème Congrès international contre l’alcoolisme, herausgegeben von Stein, P. (Budapest: Fréderic Kilian Successeur, 1905), S. 25-37. 170 Die Rhetorik der Freiheit

Ich« von einem in Bezug auf die Umwelt verantwortungs bewussten »se- kundären Ich«, das er in der komplexen Verschränkung corticaler »Assozi- ationsfasern« vermutete.181

Populäre Gegenpositionen: William James

Außerhalb des abstinenten Zirkels kursierten verschiedenste weitere Be- wusstseins-Ideale, wobei insbesondere die bekannte Vorlesung The variety of religious experience des britischen Psychologen und Philosophen William James (1842-1910) eine breite Rezeption erfuhr.182 In der deutschsprachi- gen Öffentlichkeit schienen seine Ausführungen derart wohlwollend auf- genommen zu werden, dass sich sozialhygienisch geprägte Akteure dazu genö tigt fühlten, in ablehnender Weise zu James’ holistischer Konzeption des Mentalen Stellung zu beziehen. Der Kern dieser alkoholgegnerischen Kritik fokussierte auf eine Passage, in welcher James den Alkohol als mys- tisches Medium bewarb, und das »trunkene Bewusstsein« gar als Teil eines größeren, »mystischen Bewusstseins« aus legte.183 Im Gegensatz zu den al- koholgegnerischen Diskursen, in welchen das mit Kontroll verlust assozi- ierte Bewusstsein tendenziell aus dem Subjekt ausgegrenzt und Trunkenheit mit Selbstverfremdung gleichgesetzt wurde, schrieb der britische Philosoph gerade den trunkenen Bewusstseinszuständen eine spirituelle Qualität zu, indem er die dadurch vergrößerte Erfahrung einer kollektiven Eingebun- denheit der Individuen be tonte. James bemühte sich darum, dass die sinn- lichen Erfahrungen (oder vielleicht genauer: das Bewusstsein leiblicher Selbstgegebenheit) eines Individuums allgemein stärker als Bestandteil jenes »Selbsts« akzeptiert werden sollten.184 Dabei stellte er die kühle, be-

181 Vgl. dazu Hagner, M., »Forschung als Politik? Zur historischen Kontamination der wissenschaftlichen Praxis«, in Auguste Forel – Eugenik und Erinnerungskultur, herausgegeben von Leist, A. (Zürich: vdf Hochschulverlag, 2006), S. 68 f. 182 James, W., The varieties of religious experience: a study in human nature ([S. l.]: Longmans, 1902). Eine Fallstudie zur Rezeption jenes Buchs in der Schweizer Öffentlichkeit steht noch aus; zu James’ Rezeption in Spanien, Frankreich und Bulgarien vgl. Franzese, S. und Kraemer, F., Fringes of religious experience: cross- perspectives on William James’s The varieties of religious experience (Frankfurt: On- tos; Lancaster: Gazelle Books, 2007). Zu James’ Bedeutung in der englischspra- chigen Debatte vgl. Valverde, M., Diseases of the will, S. 35-39. 183 Vgl. James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung: Eine Studie über die menschliche Natur. (Olten: Walter-Verlag 1979 [1902]), S. 365. 184 Womöglich kann diese Akzeptanz nach dem französischen Philosophen Jean- Paul Sartre als »Aufrichtigkeit« (sérénité) bezeichnet werden – wobei Sartre jener Authentizität im Gegensatz zu James’ positiver Deutung auch eine Verdorbenheit Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 171 rechnende Rationalität als Gegenpol zu einem positiv bewerteten, spiritu- ellen Bewusst sein dar: »Die Macht des Alkohols über die Menschheit ist ohne Frage in seiner Kraft begründet, die mystischen Fähigkeiten der menschlichen Natur zu stimulieren, die gewöhnlich von den kalten Fakten und dem trocke- nen Kritizismus der nüchternen Stunden zu Boden getreten werden. Nüchternheit verkleinert, unterscheidet und sagt Nein; Trunkenheit erweitert, schafft Einheit und sagt Ja.«185 Damit schien James’ Auslegung von Lebensbejahung dem sozialhygieni- schen Verständ nis gegenüber diametral entgegengesetzt. Während etwa Bunge gerade die Nüchternheit als Vorbedingung einer »wahren«, das heißt im Sinne einer nicht durch einverleibte ›äußerliche‹ Substanzen verfälsch- ten Freude beschrieb,186 legte der britische Psychologe die Trunkenheit als einen in der »menschlichen Natur« angelegten Bewusstseins zustand aus, der überdies den Menschen »für den Moment eins mit der Wahrheit« ma- che.187 In diesem frappanten Gegensatz kommt deutlich zum Ausdruck, dass sich diese scheinbar entgegengesetzten Interpretationen beide auf die Gemeinplätze von »Natürlichkeit« sowie von »Wirklichkeit« respektive »Wahrheit« bezogen, um den eingenommenen Standpunkt mit Überzeu- gungspotenzial auszurüsten. James bot auch einen Kontrapunkt zu Wertungen in Bezug auf hö- here und niedere Genussformen, wie sie etwa der zuvor diskutierte Johan Scharffenberg propagierte. Der britische Philosoph beschrieb insbeson- dere die frühen Phasen des trunkenen Zustands als legitime Substitution von Symphoniekonzerten und Literatur: Jenes Früh-Stadium der Trun- kenheit gewähre den Armen und Ungebildeten eine unmittelbare Ahnung einer ihnen sonst kaum zugänglichen Erhabenheit. Trotz seiner permissi- ven Einstellung vertrat James implizit auch den Mäßigkeits-Standpunkt, indem er den Rausch »in seiner Gänze« als eine äußerst »erniedrigende Vergiftung« beschrieb.188 Dennoch postulierte er in seinen Ausführungen eine Aufweichung der Dichotomie zwischen geistiger Rationalität als In- nerlichkeit und körperlicher Emotionalität als Äußerlichkeit. Dabei fällt

zuschreibt. Vgl. Sartre, J.-P., König, T. und Schöneberg, H., Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Deutsche Erstausg. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991), S. 102 & S. 159. 185 James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 365. 186 Vgl. dazu die Ausführungen zu Bunges Alkoholfrage in Kapitel 3.2. 187 James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 365. 188 Ebd., S. 365. 172 Die Rhetorik der Freiheit auf, dass James vornehmlich auf der unmittelbaren Erfahrungsebene eines Individiums argumentierte, während sich sozialhygienische Postulate ten- denziell an längerfristigen kollektiven Entwicklungen orientierten.

Freiheit und Liebe

Auch die sozialhygienischen Agitatoren der Abstinenzbewegung räumten gewissen »affektiven« Bewusstseinszuständen eine Berechtigung ein. Allen voran fokussierten sie dabei auf die als Gegenstück zum Egoismus ausge- legte Liebe, die trotz ihrer sinnlichen Qualität stets als vorwärts-gerichtete und manchmal gar als bewusste Emotion dem ›inneren Ich‹ zugeschrieben wurde. Für Forel zum Beispiel bewährte sich diese Empfindung vor allem auch aufgrund ihrer Fähigkeit, menschliche Glücksempfindungen länger- fristig zu erhalten.189 Damit korrespondierten Forels Ausführungen nicht nur mit denj enigen Scharffenbergs, sondern mit zahlreichen weiteren Gut- templer-Beiträgen wie etwa des (zuvor diskutierten) Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster. Auch dieser hatte die Liebe mit Freiheit gleichgesetzt und gleichzeitig betont, dass diese »Freiheit« nur durch individuelle Selbst- kontrolle gewährleistet werden könne: »Das erste Hilfsmittel der Liebe aber ist die Selbstbeherrschung, dass wir immer unserem besten, tiefsten Selbst treu zu bleiben vermögen. Das können wir nur, wenn das Selbst gelernt hat, zu dienen und zu ge- horchen, und wenn die rohen Triebe niemals durch den Alkohol ent- fesselt werden.«190 Foersters Würdigung der Liebe bezog sich demnach sowohl auf ein indivi- duelles als auch auf ein kollektives Wohl: Einerseits klang in der Forderung nach Selbsttreue die Thematik der Erhaltung einer konstanten Identität an, andererseits dominierte in Foersters Ausführung auch das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Sicherheit, das nur über eine permanente Nüchternheit gewährleistet werden könne. Dass die kurzfristigen individuellen Bedürf- nisse in einem solchen, auf Selbstkontrolle zentrierten Freiheitsverständnis weitgehend zurückgesteckt werden müssten, machten auch die Ausführun- gen des deutschen Großtemplers Reinhard Strecker deutlich, der wie van Krevelen auf dem Internationalen Kongress von 1928 in der Session zum

189 Vgl. Forel, A., »Nervenhygiene und Glück«, Internationale Monatsschrift 11 (1893), S. 321-326 (326): »Egoismus macht unglücklich, die Liebe dagegen glücklich.« 190 Förster, F. W., »Freie Schweizer«, Schweizer Abstinenzblätter Beilage 29 (1907), S. 174. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 173

Problem der Freiheit in der Alkoholfrage vortrug. Ausgehend von einem als »göttlich« empfundenen »großen Zusammen hang alles Daseins« oder »Kosmos« schrieb er dem menschlichen Handeln – wieder mit explizitem Rückgriff auf Immanuel Kant – eine Zweckbestimmtheit zu. Dieses Han- deln werde aber das Individuum nur mit Genugtuung erfüllen, wenn es in Einklang mit einem Gewissen stehe, das sich zur Einordnung in ein »Welt- ganzes« verpflichtet hat. Als absolute Freiheit verstand der Großtempler die Selbstaufopferung, durch welche der zuvor empfundene Gegensatz zwi- schen Eigenwille und »göttlichem Wille« aufgelöst werden könne. Konträr dazu erschien die durch Alkoholkonsum induzierte Trunkenheit in diesen Ausführungen wiederum als Beeinträchti gung der »Freiheit unseres Han- delns« sowie »unseres Denkens«.191 Überdies griff Strecker auf das bekannte Argument des Utilitaristen und Prohibitionsgegners John Stuart Mill zu- rück, das britische Prohibitionsbefürworter anlässlich einer Debatte zur Le- gitimität eines prohibitiven Staatseingriffes bereits vor über einem halben Jahrhundert gegen den Philosophen vorgebracht hatten: Dem deutschen Großtempler war »keine sittliche Begründung denkbar, die den Menschen die Freiheit einräumen würde, sich freiwillig ihrer sittlichen Freiheit zu berauben«.192 Noch pointierter als in den zuvor diskutierten Thesen ver- stand Strecker das über den Eigenwillen (oder: ›Es‹) triumphierende Ge- wissen als »sittliche Freiheit«, sich einem »kosmischen Wollen« unterzu- ordnen.193 Nicht nur in Bezug auf die unterschwellige Transzendenz (in Form eines Übersteigens der ›fleisch lichen‹, mit Endlichkeit assoziierten Erfahrungswelt) lassen sich zwischen dem »kosmischen« Wollen Streckers und dem »göttlichen« Willen der religiös geprägten Alkohol gegner schaft deutliche Parallelen ausmachen. Auch die Forderung nach stetiger Selbst- optimierung durchzog beide Strömungen, wobei diese nicht zuletzt auch auf eine Stärkung einer »geistigen« Instanz zur Abwehr einer »Genuss- sucht« abzielte.

191 Prof. Dr. Reinhard Strecker, Programm zum 19. Internationalen Kongress in Antwer- pen 1928, S. 17. 192 Ebd., S. 17. Mit dieser britischen Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts hat sich James Nicholls ausführlich befasst (vgl. Nicholls, J., The politics of alcohol, S. 116-120). 193 Prof. Dr. Reinhard Strecker, Programm zum 19. Internationalen Kongress in Antwer- pen 1928, S. 17. 174 Die Rhetorik der Freiheit

Sucht als medikalisierte ›Sklaverei des Geistes‹

Auf einer allgemeinen Ebene ähnelten die sozialhygienisch gefärbten War- nungen vor einer sinnlichen Ausgelassenheit der missionarischen Kritik an der in Westafrika scheinbar vorherrschenden Sinnlichkeit. Jedoch wiesen Erstere vielfach ausführlichere Begründungen auf, die aufgrund von psy- chologischen Fachbegriffen einen spezifischeren Eindruck vermittelten. Während sich die Berichte der Missionsvertreter zumeist auf die entfern- ten Kolonien beschränkten, beschworen die säkularer argumentierenden Alkohol gegner die Vorstellung einer teilweisen geistigen Zurückgeblieben- heit verschiedenster »Eingebore ner« Europas und der Schweiz. Viele ihrer Beiträge drängten auf die Medikalisierung der Sucht, die bis anhin auf ver- schiedene Weisen, darunter auch als »Sklaverei des Geistes« umschrieben wurde. In diesem Diskurs verdrängte eine als biologisch bedingte »Krank- heit des Willens« ausgelegte Suchtkonzeption das moralisch beladene Kon- zept eines lasterhaften Willens zunehmend.194 Forel etwa erklärte die »Al- koholsucht« in seinem populär wissenschaft lichen Pamphlet Alkohol und Geistesstörungen wie folgt: »Bei weniger empfindlichen Menschen ist dieses Verhalten gering und gi[e]bt sich nur durch ein sehr geringes Unbehagen, durch das Gefühl, dass ein gewohnter, angenehmer Genuss fehlt, kund. Bei mehr Prädis- ponierten oder bei bereits stärker Alkoholisierten dagegen wird es zu einer immer wiederkehrenden und stärkeren Gier nach alkoholischen Getränken. Bei stark Beanlagten wird es zu einem unstillbaren Alko- holdurst, der immer größere und häufigere Dosen verlangt und alle übrigen Vorstellungskreise so stark beeinflusst, dass unbewusst Erklä- rungen, Begründungen, Rechtfertigungen eines immer bedeutenderen Alkoholgenusses durch die Alkoholsucht dem Bewusstsein und dem Willen aufgedrängt werden.«195 In diesem kurzen Ausschnitt kommt nicht nur der von Forel vertretene bio- logische Determinismus zum Ausdruck, der Psychiater unterschied darin

194 Vgl. Loder, O., »Vom Wesen der Trunksucht«, Schweizer Abstinent 6 (1938), S. 25: »Es ist auch falsch, auf den Willen des Süchtigen setzen zu wollen, denn dieser Wille ist krank.« Zum angelsächsischen Diskurs über medikale Konzepte von Sucht vgl. insbesondere Valverde, M., Diseases of the will. 195 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen: Ein Vortrag von Dr. med. August Forel, Direktor der Irrenanstalt Burghölzli, Professor der Psychiatrie an der Universität Zü- rich, Ganz umgearbeitete, zweite Auflage herausgegeben von (Basel: Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses, L. Reinhardt, Universitätsdruckerei, 1895), S. 8. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 175 auch den ›eigentlichen‹ Willen einer Person von ihrem Verlangen. Für das Vorbringen von Prohibitionsforderun gen war die Denkfigur essenziell, wonach »Sucht« als eine »Krankheit des Gehirns« ausgelegt wurde, in der ein ›fleischlicher‹ Eigenwille über die ›eigentliche‹ Entscheidungsinstanz eines Menschen dominierte.196 Nach dieser verbreiteten Ansicht erscheint der Konsum von Rauschmitteln nicht als bewusste und daher als unfreie Entscheidung. Die Konzeption des oder der Süchtigen als ein durch die eigenen Affekte fremdbestimmtes Wesen rechtfertigte paternalistische For- derungen nach erzieherischen Maß nahmen. Diese Eingriffe, die zumeist auf eine Restriktion des Zugangs zu problematischen Substanzen hinauslie- fen, wurden gerade im Namen der Freiheit nicht nur für »Trunkenbolde«, sondern im Namen einer frei gewählten Nächstenliebe für die ganze Ge- sellschaft gefordert. Forel verglich in einem Gleichnis eine trinkfreudige Person auf der Suche nach Zechkumpanen mit einem soliden Schwimmer, der für eine geplante Flussüberquerung nach Begleitung sucht – obschon der Schwimmer ahnt, dass jede zehnte Begleitung die Sicherheit des ande- ren Ufers nicht erreichen würde.197 Damit steht das Gleichnis paradigmatisch für das Anliegen, Alkohol- Abhängigkeit in den Zusammenhang einer gesellschaftlichen Verantwor- tung zu rücken. Zusammen mit der Idee einer vererbbaren Prädisposition zu süchtigem Verhalten, die nach Bowman und Jellinek vor dem Zweiten Weltkrieg wohl von einer Mehrheit der Ärzteschaft betont wurde, verla- gerte sich die Perspektive von einer auf »Problemtrinker« fokussierenden Sekundärprävention hin zu einer Primärprävention.198 Auch wenn das »noble Experiment« der Prohibition alkoholischer Getränke als radikalste

196 Die Denkfigur einer »Krankheit des Gehirns« ist auch in gegenwärtigen Debatten noch populär; vgl. dazu Leshner, A. I., »Addiction is a Brain disease, and It Mat- ters«, Science 278, no. 45 (1997), S. 45 ff. Erstaunlicherweise kommt der dreiseitige Beitrag ohne Definition von »addictive substances« aus und reduziert psycholo- gische Aspekte auf klassische Konditionierung. Für eine ausführliche Kritik dazu vgl. Hickman, T. A., »Target America: Visual Culture, Neuroimaging, and the ›Hijacked Brain‹ Theory of Addiction«, Past and Present 222, Supplement 9 (2014), S. 207-226 (219). Eine moderate Gegenposition dazu nimmt etwa Jim Orford ein (vgl. Orford, J., »Addiction as Excessive Appetite«, Addiction 96 (2001), S. 15-31), während John Booth Davies eine radikale Kritik am »Mythos« der Sucht formu- liert (vgl. Davies, J. B., The Myth of Addiction (Amsterdam: Overseas Publishers Association, 1992)). 197 Forel, A., Abstinenz oder Mäßigkeit? (Wiesbaden: Bergmann, 1910), S. 13. 198 Bowman, K. M. und Jellinek, E. M., »Alcohol Addiction and its Treatment«, S. 18 f. Eine erwähnenswerte Ausnahme dazu bildeten die Psychoanalytiker. Vgl. dazu auch Spode, H., »Trinkkulturen in Europa«, S. 381. 176 Die Rhetorik der Freiheit

Form der Primärprävention in keinem deutschsprachigen Land konse- quent umgesetzt wurde, fand sie in der Abstinenz bewe gung prominenten Zuspruch. Bunge folgerte aus dem Recht des Staates zur disziplinarischen Ahndung von Verbrechen ein Recht desselben zur Verhütung von Verbre- chen – und pries nachfolgend die Prohibition als effektives Instrument an.199 Solche im alkoholgegnerischen Diskurs häufig artikulierten Ansich- ten verfestigten die konventionalistische Ansicht, dass durch die gesetzlich vorgeschriebene Nüchternheit die Sicherheit einer Gesellschaft und damit das Freiheits erlebnis ihrer Mitglieder gesteigert werde. Abgesehen vom physischen, ökonomischen sowie sozialen Schadenspo- zenzial, das mit dem Alkoholismus in Verbindung gebracht wurde, ließ sich die Trunksucht überdies als Verlust einer ›natürlichen‹ Selbstgenüg- samkeit beschreiben: Bei Trunksüchtigen schien die ursprünglich für das Überleben nicht notwendige regelmäßige Alkohol zufuhr zu einem unver- zichtbaren Bedürfnis geworden zu sein. Es wäre jedoch irreführend, daraus abzuleiten, dass die Sozialhygieniker auf eine Bedürfnislosigkeit abzielten. Vielmehr war für sie die Interpretation ausschlaggebend, ob die spezifi- schen Bedürfnisse, die ein Mensch während seines Lebens ausbildet, einer »natürlichen« – also einer aus den wahrgenommenen »Naturgesetzen« ab- geleiteten – Notwendigkeit entsprächen oder nicht. Forel etwa wehrte sich explizit gegen das Ideal einer zu großen Bedürfnislosigkeit, das seiner An- sicht nach »[…] zur Faulheit des Körpers und des Geistes, zum sozialen Rückschritt, zur Entartung, wenigstens in geistiger Beziehung«200 führe. Wie zuvor ausgeführt wurde, stützten sich die Prohibitionsforderun- gen stark auf die Vorstellung, dass die Mehrheit der zu mäßigem Alkohol- konsum Befähigten gerade deshalb Rücksicht auf die trunksüchtige Min- derheit nehmen sollte, weil Letztere nur sehr bedingt für ihr Abrutschen in die Trunksucht verantwortlich schien: Vielmehr beschrie ben die Absti- nenten jene auffälligen Konsumenten als Opfer der Trinksitten sowie als Opfer einer in ihren »Nerven« angelegten Prädisposition, die ihr devian- tes Konsumverhalten bestimmte. Gerade aufgrund der Vorstellung dieser biologi schen Gegebenheit schien sich der Drang zum Trinken bei gewis- sen Menschen ihrer bewussten Willenskontrolle zu entziehen. Diese per- sönliche »Machtlosigkeit« über das eigene Verhalten, die noch gegenwärtig bei Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern betont wird, ver- lieh der Krankheitskonzeption von Alkoholismus eine nachvollziehbare

199 Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 17 & S. 36. 200 Forel, A., »Alkohol und soziales Elend«, Internationale Monatsschrift 7 (1894), S. 204-216 (204). Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 177

Plausibili tät.201 Schon früh fand sich diese Vorstellung auch in religiösen Zeitschriften wie dem Illustrierten Arbeiterfreund, in dem etwa 1886 sugge- riert wurde, dass manche Menschen bereits nach einem Schluck Alkohol der Trunksucht verfielen.202 Doch bezweifelten manche einflussreiche Persönlichkeiten derartige auf eine Krankheits konzeption abzielende Vorstellungen von Sucht. Ob die Trunksucht nun als Laster oder als Krankheit zu betrachten sei, war noch bis nach der Jahrhundertwende eine der am eingehendsten disku- tierten Fragen in der Internationalen Monatsschrift.203 Zu den populärsten Gegenspielern aus dem englischsprachigen Raum zählte wiederum Wil- liam James, der den regelmäßigen Alkoholkonsum als eine Gewohnheit (»habit«) auslegte. Wie sein Kollege John Dewey (1859-1952) schien James darum bemüht, die für das Sucht-Verständnis zentrale Dichotomie zwi- schen Wille und Körper aufzuweichen. Der Philosoph deutete die Ge- wohnheit als eine konservative Handlung, deren Ausübung jedoch im Gegensatz zu den unkontrollierbaren Reflexen nicht vollständig der Ent- scheidung eines Subjekts entzogen sei.204 Damit schlug er einerseits eine Brücke zurück zu dem im frühen 19. Jahrhundert noch domi nan ten Las- ter-Konzept von Trunksucht, das von der Vorstellung ausging, dass die mit Genuss assoziierte Gewohnheit stets durch eine bewusste Entscheidung in- itiiert wird. Andererseits lässt sich James’ propagierte Auf weichung der Di- stinktion zwischen ›Fleisch‹ und ›Geist‹ auch als Bemühen lesen, der einsei- tig negativen Vorstellung eines Nachgebens gegenüber dem ›fleischlichen‹ Verlan gen die positivere Auslegung eines Nachkommens gegenüberzustel- len. Doch während James hauptsächlich auf die subjektiven Erfahrungen der Menschen innerhalb ihres Lebens fokussierte, kam in der sozialhygie- nischen Befreiungs-Rhetorik zumeist eine längerfristigere Perspektive zum Tragen, die über die Lebensspanne eines Individuums hinausging.

Langfristigkeit & Weitsicht

Es fällt auf, dass sich die alkoholgegnerischen Verortungen von Innen und Außen fast immer auf die Dichotomie zwischen einer langfristigen und einer kurzfristigen Perspektive abstützte. Der alkoholgegnerische Diskurs um 1900 war von einem Streben nach Ewigkeit durchsetzt, das vielfach

201 Vgl. Valverde, M., Diseases of the will, S. 120-141. 202 Vgl. »Geselliges Trinken«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1886), S. 30-32. 203 Vgl. dazu Kapitel 4. 204 Für eine ausführlichere Skizze zu James und Dewey vgl. Valverde, M., Diseases of the will, S. 35-39. 178 Die Rhetorik der Freiheit

über die Lebensspanne eines einzelnen Menschen hinausreichte. Um ihr Publikum von der Richtigkeit ihrer Ansichten zu überzeugen, berichteten beide alkoholgegnerischen Strömungen von einer individuell ehrfahrbaren Zeitlosigkeit. Im Evangelischen Heidenboten wurden verschiedene Artikel abgedruckt, in welchen das Ziel einer »ewigen Seeligkeit« nicht nur durch »wahre Frömmigkeit«, sondern auch durch ein Streben nach einer mit Wahrheit und Ewigkeit assoziierten Erkenntnis erreicht werden könne.205 Dabei wurde jenes ›geistige Ewige‹ einer ›fleischlichen Vergänglichkeit‹ der Leidenschaften gegenübergestellt, die im Gegen satz zum langfristigen Wir- ken einer geistigeren Liebe nur auf einzelne Individuen bezogen waren. Ein ähnliches Bild vermittelte etwa Auguste Forel 1907 am Inter- nationalen Kongress von Stockholm. In seinem an die aufsehenerre- gende Publikation der Sexuellen Frage anschließenden Vortrag unterschied der Sexualreformer zwischen Liebe und einem »bestialischen, gemeinen Sexualtrieb«,206 den er bereits 1891 den sogenannten »niederen Tieren« zugeschrieben hatte, welche dem Ameisenforscher Forel zufolge »keine Liebe«, sondern bloß »rein egoistische Sinnlichkeit« kennen würden.207 Wie der Hirnforscher 1895 in dem Pamphlet Alkohol und Geistesstörungen in leicht verständlicher Sprache ausführte, habe der Mensch aufgrund sei- nes entwickelten Gehirns im Gegensatz zu den Tieren die Möglichkeit, »höhere« Bewusstseinszustände zu erreichen: »In geistiger Beziehung, was für uns die Hauptsache ist, lähmt der Alko- hol in erster Linie und am stärksten das Höchste, Komplizierteste und Feinste, d. h. die sogenannten ethischen und ästhetischen Vorstellun- gen, das Gewissen und die Vernunft, der Überlegungen, d. h. Vorstel- lungskombinationen die Triebfedern des höchsten und relativ freiesten, weil den Verhältnissen am adäquatesten angepassten, Willens sind.«208

205 Thumm, S., »Die Frage nach dem Heilsweg, als Preisfrage von einem Hindu gestellt und beantwortet von einem Christen und einem Heiden in Guledgudd«, Evangelischer Heidenbote (3) 1970: S. 27-32 (29 f.). Obschon dieser Beitrag aus dem indischen Guledgudda und damit aus einem im Vergleich zu Westafrika sehr verschiedenen kolonialen Kontext stammte, ist er aufgrund seiner expliziten Referenzen an Wahrheit, Ewigkeit und Leidenschaften besonders aussagekräftig. 206 Forel, A., »Der Alkohol und die sexuellen Fragen«, in Bericht über den XI. Interna- tionalen Kongress gegen den Alkoholismus (Stockholm, 1907), S. 170-188 (180). 207 Forel, A., Die Trinksitten, ihre hygienische und soziale Bedeutung: ihre Beziehungen zur akademischen Jugend, Neue, umgearb. Aufl. (Basel: Schriftstelle des Alkohol- gegnerbundes, 1908), S. 28. 208 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen, S. 5. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 179

Über das Motiv der Lähmung legte Forel den sorglosen Zustand der Trun- kenheit somit als eine ›in Wirklichkeit‹ eingeschränkte Freiheit aus.209 Fo- rels Wahrnehmung von Fortschritt und Freiheit war wesentlich von der unterschwellig wertenden Distinktion zwischen Feinheit und Grobheit geprägt, wobei sein mit Freiheit konnotiertes Ideal von Geistigkeit »die Normalität und Integrität […] des menschlichen Willens«210 garantiere. Während sich die Langzeitperspektive in den Ausführungen der Basler Missionsvertreter stärker auf ein zu erlösendes Individuum als auf ein Kol- lektiv richtete, stand bei Forel die Weiterentwicklung eines nuanciert re- flektierenden »Menschengeschlechts«211 im Zen trum. In diesem Großpro- jekt käme den Individuen der »Genuss der Aufopferung für das Wohl der anderen«212 zu. Wie in etlichen zuvor diskutierten Postulaten schrieb der Sozial reformer dieser altruistischen Aufopferung eine höhere, da sinnstif- tendere Qualität zu als der ›bloßen‹ Stillung egoistischer Bedürfnisse. An eine derartige sinnstiftende Komponente appellierte auch Forels Kollege Gustav von Bunge, indem er das Moment der »Befreiung« prägnant durch die Metapher der »Sklavenketten« zum Ausdruck brachte: »Der erste, der Vorderste in diesem Kampfe gewesen zu sein, wird Ih- nen den Abend des Lebens zu einem freudenreichen gestalten. Sie wer- den den Tag noch schauen, wo Ihr schönes Vaterland für immer befreit sein wird von den unwürdigsten Sklavenketten, die je die Menschheit getragen.«213 Als »Sklavenketten« hatte der Physiologe, der in dieser Passage zudem den emotional aufgeladenen Begriff des »Vaterlandes« strapazierte, bereits 1886 in seiner »Alkoholfrage« die künstliche Lähmung der unangenehmen Ge- fühle identifiziert, die doch im Hinblick auf die individuelle sowie gesell- schaftliche Entwicklung notwendig seien. So beschrieb Bunge das Gefühl der »Langeweile« als »natürlichen« Antrieb zu sinnvollen Tätigkeiten. Ge- rade die durch den Alkohol bewirkte »Lähmung« der Langeweile sowie des für den Körperhaushalt wichtigen »Müdigkeitsgefühls« habe zum ver-

209 Das Lähmungsmotiv wird im zweiten Abschnitt des folgenden Kapitels ausführ- licher behandelt. 210 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen, S. 5. Jene »Normalität« des Willens erach- tete der Hirnforscher aus verschiedenen Gründen für notwendig für ein länger- fristiges Bestehen der kollektiven Menschheit. Dies wird im folgenden Kapitel zur Rhetorik der Natürlichkeit noch eingehender besprochen. 211 Forel, A., Die Trinksitten, S. 28. 212 Ebd., S. 28. 213 Gustav von Bunge in: Schweizer Abstinent 1 (1912), S. 1. 180 Die Rhetorik der Freiheit breiteten Irrtum geführt, dass Ethanol als stimulierendes Agens verstanden werde.214 Während etwa William James in der Trunkenheit die positiv be- wertete Erweiterung eines mystischen Bewusstseins betonte, charakterisier- ten die Alkoholgegner jenen Zustand über den Begriff der Lähmung viel- mehr durch eine eingeschränkte Funktionstüchtigkeit spezifischer Organe. Auch Forel bemühte das von Bunge prominent thematisierte Läh- mungsmotiv, indem er den Alkoholrausch als eine »Lähmung der höheren Hemmungsapparate unseres Gehirns«215 beschrieb. Gerade diese in den »corticalen Associationsfasern« vermuteten Hemmungsapparate würden »die notwendigen Sicherheitsventile der Besonnenheit und Überlegung ge- genüber der wilden Glut ungeordneter Gedanken und Impulse« bilden.216 Diese Fasern stellten somit das materielle Korrelat der zuvor diskutierten ›inneren‹ Kontrollinstanz eines Individuums dar. Deren »Lähmung« durch den Alkohol setzte der Hirnforscher mit einer Lähmung der als Freiheit verstandenen, permanenten Selbstkontrolle gleich: »Vom ethischen Standpunkte aus ist der mäßige Alkoholgenuss zu ver- werfen, und zwar im Namen der Freiheit und der menschlichen Solidari- tät. Er beeinträchtigt unsere einzige wirkliche Freiheit, nämlich die fei- nere adäquate und nuancierte Anpassungsfähigkeit.«217 Dabei ist die Verbindung von »Freiheit« und »menschlicher Solidarität« be- sonders bemerkenswert, erschien Letztere in Forels Weltbild doch als ein notwendiger und naturgegebener Bestandteil der menschlichen Freiheit. Der Schweizer Guttemplerorden teilte diese Auffassung und bezeichnete die Idee der »menschlichen Solidarität« in einer Propaganda-Sonderaus- gabe zum Guttempler-Orden als Leitidee jenes Ordens.218 Eine oft wieder- holte Erklärung war, dass die durch »Narkotika« induzierte Behaglichkeit ein fortschrittshemmendes, in Stumpfheit und Grobheit resultierendes »Genügen an der Gegenwart«219 begünstige. Damit wurde wieder auf eine generationsübergreifende Langzeitperspektive verwiesen. Wie Forel an- hand seiner Theorie der »Blastophthorie« ausführte, hätten die kommen- den Generationen in mehrerer Hinsicht an der Trägheit ihrer Vorfahren

214 Vgl. Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 8. 215 Forel, A., »Die Alkoholfrage in ihrem Verhältnis zur Jugend und zur Schule«, In- ternationale Monatsschrift 1 (1895), S. 23. 216 Ebd., S. 23. 217 Forel, A., Abstinenz oder Mäßigkeit?, S. 8 (Hervorhebung F. S.). 218 Vgl. »Der Guttemplerorden«, Schweizer Abstinent B8 (1924), S. 31. 219 Rexer, »Unsere Weltanschauung«, Schweizer Abstinenzblätter 9 (1907): »Der Alko- hol schafft das stille, unfruchtbare Genügen an der Gegenwart.« Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 181 zu leiden: Nach dieser Theorie würden oft wiederholte Handlungen als positive oder negative Schwingungen auf die Keimzellen eines Menschen übertragen, was sich sowohl auf die Physis als auch auf den Charakter der potenziellen Nachkommenschaft auswirke. Dem permanent rational han- delnden Subjekt kam in diesem Weltbild somit nicht nur die Freiheit der im eugenischen Sinne »besonnenen« Partnerwahl zu,220 sondern auch die Möglichkeit, positiv bewertete Eigenschaften wie »Fleiß« und »Güte« wei- terzugeben – anstelle der allzeit drohenden »Dummheit«, »Bosheit« oder »Faulheit«. 221 Diese mit Geistigkeit assoziierte, langfristige Perspektive hielt sich auch noch in den 1930er Jahren in der Abstinenzbewegung, wie der ein- gangs dieses Kapitels vorgestellte Ansatz Ernst Gabriels verdeutlicht. Ga- briel prägte die Umorientierung der Abstinenzbewegung in Richtung »moderne Psychologie« maßgebend mit, indem er im Konsum alkoholi- scher Getränke eine Unterwerfung unter die eigenen Minderwertigkeits- gefühle sah, deren Aufkommen er durch nicht überwindbare äußere und innere Schwierigkeiten erklärte.222 Im Unterschied zu den sozialdarwinis- tisch-rassenhygienisch argumentierenden Sozial hygienikerinnen und So- zialhygieniker zeigt sich bei Gabriel eine deutlichere Annähe rung an das durch die Basler Missionsvertreter proklamierte Denken in langen Zeit- horizonten: Der Psychiater, der in seiner Kasuistik zahlreiche psychiatri- sche Fachbe griffe mit den philosophischen Ansichten Jaspers oder Hei- deggers verband, zielte auf ein individuelles Erfahren von Ewigkeit ab. Nach Gabriels Lesart bestand die Erfahrung des Ewigen maßgeblich in der Überwindung von Furcht – ein Motiv, das implizit auch in den Ar- gumenten der religiös geprägten Alkoholgegnerinnen und Alkohol gegner mit schwang. Bemerkenswerterweise waren Gabriels Ausführungen von al- len deutsch sprachigen Akademikern aus dem sozialhygienischen Umfeld der Internationalen Monats schrift in Jellineks prägender Studie von 1942 am präsentesten. Das Forscherteam aus Yale hatte die religiös geprägten Anti-Alkohol-Vereinigungen gerade aufgrund der propagierten religiösen Konversion als besonders effektive »Trinkerretter« beschrieben. Als Er- folgsrezept identifizierte Jellinek die mit der Konversion einhergehende

220 Forel warnte vor »unbesonnene[n] sexuellen Verbindungen«, die er als »schmut- zigste und unzweckmäßigste« bezeichnete (vgl. Forel, A., Alkohol, Vererbung und Sexualleben (Berlin: Dt. Arbeiter-Abstinenten-Bund, 1905), S. 6.). 221 Vgl. Auguste Forels Warnung in Internationale Monatsschrift 11 (1892), S. 325. 222 Vgl. Gabriel, E., »Psychische Hygiene und Alkoholfrage«, Internationale Monats- schrift 5 (1931), S. 265-271. 182 Die Rhetorik der Freiheit

»emotionale Wiedergeburt« (»emotional rebirth«) – die in anderen Worten leicht auch als »Erweckung« beschrieben werden könnte.223

Zwischenfazit

Zunächst drängt sich die Frage auf, wie »protestantisch« die Distinktio- nen zwischen ›innerer‹ Geistigkeit und ›äußerer‹ Fleischlichkeit war: Ähn- liche Ermächtigungs rhetoriken finden sich in Weltregionen, in denen ganz andere Glaubenssysteme vorherrschten. Mahatma Gandhi, um ein direkt mit alkoholgegnerischer Agitation zusammen hängendes Beispiel herauszu- greifen, verfasste 1909 auf seiner Reise von Indien nach Südafrika das Buch Hind Swaraj, in welcher er Konzepte der »selfrule« und »home rule« auf- einander bezog: »Slaves ourselves, it would be a mere pretension to think of freeing others.«224 Bezeichnenderweise spielte die Alkoholfreiheit auch in Gandhis Vision eine zentrale Rolle zur Erreichung einer inneren sowie einer äußeren Freiheit.225 Dieses Beispiel wirft die Frage auf, ob sich die geo- grafisch ausbreitenden Religionen ab dem späten 19. Jahrhundert struktu- rell vereinheitlichten, wie der Globalhistoriker Christopher Bayly meint.226 Womöglich lassen sich aber im Hintergrund dieser beobachtbaren Vernet- zung gar neue Formen der Abgrenzung ausmachen.227

223 Bowman, K. M. und Jellinek, E. M., »Alcohol Addiction and its Treatment«, S. 62. 224 Vgl. Gandhi, M., Hind Swaraj, or Indian Home Rule (Ahmedabad: Navajivan Ka- ryalaya, 1938 [1922]), S. 47. Die ursprüngliche Fassung in Gujarati wurde von der britischen Regierung verboten. 225 Gandhi, M. und Kabadi, W. P., India’s case for swaraj: being select speeches, writings, interviews, etcetera of Mahatma Gandhi in England in 1931 (Bombay: W. P. Kabadi, 1931), S. 403; Fahey, D. M. und Manian, P., »Poverty and Purification: The politics of Gandhi’s campaign for prohibition«, Historian 67 (3) (2005), 489-506; Colvard, R. E., »›Drunkards Beware!‹ Temperance and Nationalist Politics in the 1930s«, in A History of Alcohol and Drugs in Modern South Asia. Intoxicating Affairs, heraus- gegeben von Fischer-Tiné, H. und Tschurenev, J. (Abingdon: Routledge, 2013), S. 173-200. 226 Vgl. Bayly, C. A., The birth of the modern world, S. 333-336. 227 Der deutsche Globalhistoriker Jürgen Osterhammel argumentiert, dass die Wis- senschaft noch vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Weltdeutungsmacht wurde. Den dabei aufkommenden »Standards des Argumentierens« mussten auch Chris- ten Zugeständnisse machen, jedoch kreierten sie ihre eigenen Formen der Sä- kularisierung (vgl. Osterhammel, J., Die Verwandlung der Welt, S. 1107). Diese partikuläre Form der Säkularisierung hat Dominic Erdozain insbesondere für die evangelische Anti-Alkohol-Agitation hervorgehoben, vgl. Erdozain, D., »The Secularisation of Sin in the Nineteenth Century«, Journal of Ecclesiastical History 62, no. 1 (2011), S. 59-88. Innen: Innere Selbstbestimmung – Sittlichkeit und Süchtigkeit 183

Es lässt sich festhalten, dass sich im Anti-Alkohol-Diskurs trotz der Vielfalt an Weltan schauungen und den dahinter verborgenen, subjekti- ven Erfahrungen gewisse Grund muster ausmachen lassen, die über den Graben zwischen religiöser und szientistischer Anschauungen hinweg zu beobachten sind. Allen voran hervorzuheben ist die Perpetuierung einer Trennung zwischen einem animalischen Außen und einem geistigen In- nen, wobei die überwältigende Mehrheit der untersuchten Postulate eine konstante Schulung jener inneren Kontrollinstanz forderte. Die dazu ein- gesetzten Legitimations strategien beriefen sich jeweils sowohl auf eine langfristig gesteigerte ›äußere‹ Freiheit in Form einer verbesserten gesell- schaftlichen Mitbestimmung als auch auf eine langfristig gesteigerte ›in- nere‹ Freiheit in Form einer bewussteren Selbstbestimmung. Interessanter- weise wurden als »roh« oder »tierisch« verstandene Empfindungen aus diesem Inneren ausge grenzt. Wie in den folgenden Kapiteln weiter aus- geführt wird, ermöglichten aus dem afrikanischen Kontext vermittelte Bilder und Motive, insbesondere verfestigt in dem Begriff der Sklaverei, eine pointiertere Zuspitzung jenes Exklusionsprozesses. Zusätzlich hat sich gezeigt, dass das einhellig bevorzugte, zur Selbstaufopferung bereite In- nen von beiden Strömungen mit einem Wunsch nach Ewigkeit assoziiert wurde. Nicht nur die Ausführungen Gabriels und Kratzmanns, sondern zahlreiche weitere Beiträge aus dem sozialhygienischen Umfeld verdeutli- chen trotz der geforderten Distanz zu metaphy sischen Dogmen, dass sich die Trennung zwischen »religiös« und »säkular« bei genauerer Betrachtung als poröser erweist als angenommen. Beide Strömungen wandten sich ge- gen eine Gleichsetzung von Wille und Begehren,228 indem sie diese beiden Entitäten an die Unterscheidung zwischen lang- und kurzfristigen Inter- essen koppelten. Das Motiv der mit Abstinenz in Verbindung gebrach- ten Langfristigkeit ist noch gegenwärtig aktuell: 1990 wurde der Begriff der »Alkohol-Kurzsichtigkeit« geschöpft, wonach betrunkene Menschen ihre Aufmerksamkeit weniger auf die längerfristigen Konsequenzen ihres Handelns richten würden.229 Der Argumentation zufolge scheint deren Bewusstsein aufgrund einer »beeinträchtigten« Denkfähigkeit in einem Leben im hic et nunc ›gefangen‹. Damit bestärkt sie das im Kapitel zur

228 Diese Gleichsetzung wurde bereits zur Mitte des 18. Jahrhundert etwa vom ein- flussreichen amerikanischen Theologen und Philosophen Jonathan Edwards pro- pagiert. Vgl. dazu Edwards, J., Freedom of the will, repr. ed. (Morgan, PA: Soli Deo Gloria Publications, 1996 [1754]); Levine, H. G., »The Discovery of Addiction«, S. 149. 229 Steele, C. M. und Josephs, R. A., »Alcohol Myopia: Its Prized and Dangerous Ef- fects«, American Psychologist 45, no. 8 (1990), S. 921-933. 184 Die Rhetorik der Freiheit

Rhetorik der Wirklichkeit behandelten Motiv des Eskapismus, wonach der Alkoholgenuss eine Flucht vor einem tatsächlichen Konflikt darstellt, den es alleine durch rationales Handeln zu lösen gäbe. Zu dieser Ansicht gilt es aber zu bedenken, dass das durch ruhelose Selbstoptimierung nach rationalen Kriterien auszugrenzende, ›fleischliche‹ Andere »als Furcht dem rationalen Wesen einheimisch« bleiben kann.230 Obschon auf eine beein- trächtigte Denkfähigkeit ausgerichtete Argumen ta tionsmuster durchaus ihre Berechtigung haben, liegt ihnen vielfach eine Tendenz zu einer ein- seitig negativen Bewertung des Rausches und damit eine starke Beschrän- kung eines kontingenten Freiheitsverständnis inne. Wenn der Rausch als Zustand erscheint, den der Mensch qua Norm nicht wollen darf, drängt sich ein Hinterfragen der Entstehungsgeschichte jener Norm auf. Dies soll im folgenden Kapitel ansatzweise geleistet wer- den, indem unterschiedliche Anti-Alkohol-Referenzen auf das Ideologem der Natürlichkeit untersucht werden.

230 Böhme, G., Ich-Selbst, S. 13. 3 Die Rhetorik der Natürlichkeit

»Und ich wüsste nicht, was uns mehr Freude bereiten könnte im Leben, als mitzu kämpfen und zu ringen zur Erreichung des hohen Zieles, auf das die Natur uns hinweist.«1 Gustav von Bunge, 1911 Gustav von Bunges Aussage verdeutlicht die doppelte Bedeutung, die der Idee von »Natürlichkeit« im alkoholgegnerischen »Kampf« zukam: Die positiv bewerteten »Gesetze der Natur« legitimierten einerseits spezifi- sche Forderungen und vermochten andererseits individuelle Erfahrungs- kontexte mit Sinn auszustatten. Aus unterschiedlichen Auslegungen einer »Ursprünglichkeit«, eines »Naturzustandes«, einer natur- oder gottgewoll- ten »Vorsehung« ließen sich weitreichende normative Forderungen in Be- zug auf die tägliche Lebensführung der Einzelnen ableiten. So berief sich etwa der Pfarrer Wilhelm Martius im Kontext der anhaltenden alkohol- gegnerischen Fehde zwischen Befürwortern des Mäßigkeits- und des Ent- haltsamkeitsstandpunktes implizit auch auf eine spezifische Auslegung von Natürlichkeit, als er postulierte: »Nicht das Verzichten auf jeden Genuss in selbstgemachter Askese, sondern das Maßhalten in den geistigen und leiblichen Genüssen aller Art, auch im Trinken alkoholischer Getränke ist das Gottgewollte, also das Normale.«2 Obschon dieses Votum keine expli- ziten Referenzen an eine »Natürlichkeit« machte, berief sich Martius mit der Instanz des »Gottgewollten« auf eine präskriptive Vorstellung, die vor- gab, wozu der ›normale‹ Mensch seit jeher geschaffen sei und wozu nicht. Wie Bunge in seinem Eingangszitat berief sich demnach auch Martius auf eine ›natürliche Ordnung‹, als deren urhebende Entität er jedoch nicht »die Natur«, sondern »Gott« ausmachte. Die beiden Beispiele können insofern als Rhetoriken der Natürlichkeit gedeutet werden, als dass sie sich auf die Vorstellung einer präexistenten Norm abstützen. Dieser Gegebenheit galt es Folge zu leisten, um leidvolle Konsequenzen, allen voran ein vorzeiti- ges Ableben zu verhindern. Obschon derartige Vulnerabilitäten auch mit

1 Bunge, G. v., »Die Quellen der Degeneration«, Schweizer Abstinent 11 (1910), S. 66 (Hervorhebung F. S.). Dabei handelt es sich um einen Vorabdruck des Pamphletes: Bunge, G. v., Die Quellen der Degeneration (Basel: Reinhardt, 1911). 2 Martius, W., Handbuch der deutschen Trinker- und Trunksuchtsfrage, S. 133. 186 Die Rhetorik der Natürlichkeit dem weiten Begriff der »Natur« in Verbin dung gebracht werden könnten, wurden diese im alkoholgegnerischen Diskurs stets als Konsequenzen einer »unnatürlichen« Gegebenheit dargestellt. Die »Natürlich keit« blieb damit ein weitgehend positiv bewertetes Ideologem, da im Falle eines Folgeleis- tens den jeweilig gedeuteten präexistenten Normen gegenüber stets ein er- fülltes Leben in Aussicht gestellt wurde.3 Dabei trugen die alkoholgegnerischen Deutungen dieser ›natürlichen‹ Gegebenheiten durch die stetigen Wiederholungen in ihren Informati- onskanälen zur Normalisierung bestimmter Verhaltensformen bei. Die Verhandlungen über die Normalität des Alkohol konsums sind dabei nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Jürgen Links These eines Ablösungs- prozesses des Protonormalismus durch den normalisierenden Flexibilitäts- normalismus interessant. Nach Link berief sich die protonormalistische Strategie gerade auf »vornormalistische Ideologeme« wie »Natur«, »Ge- sundheit« oder »Charakter«. Flexibel-normalistische Strategien hingegen normalisieren auf Grundlage quantifizierender Statisti ken und beruhen weitgehend auf selbstreferenziellen Ideologemen wie etwa der Autopoie- sis.4 Der deutsche Literaturwissenschaftler zeichnet nach, wie sich proto- normalisierende Strategien im 19. Jahr hundert in Spezialdiskursen und In- terdiskursen etablierten und besonders über die Medizin, die Physiologie und die Hygiene im alltäglichen Elementardiskurs verfestigten.5 Nach die- sem Modell produzieren die auf einen spezialisierten Zirkel beschränkten Spezialdiskurse ein spezifisches Wissen, das von einigen Annahmen des Elementardiskurses abweicht. Diese Abweichungen gelangen über Inter- diskurse, die mithilfe von Sprachbildern die Grenzen des Spezialdiskurses überwinden, in den Elementardiskurs.6 Der Elemen tar diskurs stellt eine Kombination von anthropologischen Konstanten mit »dominanten inter- diskursiven Komplexen« dar.7 So schien Martius’ Auslegung von »Norma- lität« einem Elementardiskurs zu folgen, während der sozial hygienische

3 Die Frage, wie diese negativen Assoziationen von Natürlichkeit von den verschie- denen Akteuren in den Diskurs eingebracht wurden, wird im folgenden Kapitel zur Rhetorik der Wirklichkeit eingehend diskutiert. Dieses Kapitel beschränkt sich zunächst auf das Motiv von aussterbenden, ›fremden‹ Völkern. 4 Link, J., Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997), S. 58. Der Begriff der Autopoiesis wurde durch den Sozialogen Niklas Luhmann auf soziale Systeme übertragen (vgl. Luhmann, N., Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984)). 5 Link, J., Versuch über den Normalismus, S. 202. 6 Ebd., S. 19 & S. 42 f. 7 Ebd., S. 43. Die Rhetorik der Natürlichkeit 187

Spezialdiskurs eine prinzi pielle Pathogenität des Alkohols reklamierte.8 Über populärwissenschaftliche Darstellungen, die in diesem Kapitel be- leuchtet werden, versuchten die sozialhygieni schen Akteure die damalig weitgehend als »normal« wahrgenommenen »Trinksitten« als unnatür lich darzustellen. Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern im alkoholgegneri- schen Diskurs bereits flexible Natürlichkeitsverständnisse adaptiert, res- pektive mit protonormalistischen Vorstellungen vermengt wurden. Ideologeme wie »Natur« oder »Gesundheit« sind besonders interes- sant, da sie einen beträchtlichen Interpretationsspielraum offenlassen. Derrida etwa legt nahe, dass es in der Natur weder einen natürlichen oder ursprünglichen Körper noch eine Droge gebe, vielmehr seien derartige Vorstellungen als wandelbare Ergebnisse von komplexen Aus hand lungs- prozessen zu verstehen.9 »Natürlichkeit« kann somit als historisch-spezi- fische Konstruktion gedeutet werden, die sich aufgrund normalisieren- der Naturali sie rungs prozesse wandelt.10 Analog zu anderen psychoaktiven Substanzen lässt sich das Verhält nis des Stoffs Alkohol zu einer postulier- ten »Natürlichkeit« auf verschiedene Arten auslegen: Eine Lesart versteht diese Substanz als ›Mittler‹ zu einem ›ursprünglicheren‹ Zustand, als ›Be- freier‹ aus einer ›künstlichen‹ Kultur. Eine andere Lesart deutet insbeson- dere die destillierten Getränke als »künstliche Zivilisationsgifte«, auf deren Einverleibung der menschliche Körper nicht eingerichtet ist. Gemein ist den Sichtweisen, dass beide ein Entsprechen einer präexistenten Norm ge- genüber fordern. Im ersten Teil dieses Kapitels soll aufgezeigt werden, dass alkoholgegne- rische Referen zen an eine »Natürlichkeit« ab den 1880er-Jahren aufgrund verschiedener gesellschaft licher Entwicklungen an Bedeutung gewannen. Anhand Gustav von Bunges einflussreicher Rede Die Alkoholfrage sollen im zweiten Teil einige grundlegende Motive der sozialhygienischen Natür- lichkeitsrhetorik aufgefächert werden, die nicht zuletzt den Aspekt einer »menschengerechten« Ernährung tangieren. Der dritte Teil beleuchtet das Verhältnis zwischen auf den Alkoholkonsum bezogene Natürlichkeitsvor- stellungen und kolonialen Erfahrungen. Hierbei stehen insbesondere die Motive des Aussterbens sowie der Nachahmung im Vordergrund.

8 Vgl. »Der Alkoholkongress in Haag«, Internationale Monatsschrift 9 (1893), S. 273- 277 (275). 9 Vgl. Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, S. 257. 10 Vgl. dazu Möhring, M., Marmorleiber: Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930) (Köln: Böhlau, 2004), S. 13 ff. 188 Die Rhetorik der Natürlichkeit

1. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität«

Diskrepanzen zwischen einer vorgestellten »Natur« und einer wahrgenom- menen »Zivilisa tion« oder »Kultur« kursierten schon lange vor dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts in öffentlichen Debatten.11 In Bezug auf den Alkohol spitzte sich diese Spannung insbesondere ab den 1880er-Jahren zu. Der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel versteht diese Dekade als »Scharnier« zur von »Hochimperialismus« und »Hochindustrialisierung« begleiteten »Hochmoderne«.12 Die gesellschaftlichen Begleiter scheinungen dieses Industrialisierungsschubs, zu welchen tiefgreifende Phänomene wie Urbanisierung, Fabrikarbeit, Umstellung der Landwirtschaft, Massenelend sowie eine signifikante Beschleunigung des Alltags zählten, provozierten bei vielen Betroffenen Entfremdungserfahrungen. Für den deutschen His- toriker Joachim Radkau setzte ab 1880 das »Zeitalter der Nervosität« ein. Ausschlaggebend für seine Periodisierung ist die ab 1880 einsetzende The- matisierungskonjunktur der »Neurasthenie«, an der der abstinente Arzt Paul Dubois (1848-1918) großen Anteil hatte.13 Überfüllte psychiatrische und andere »erzieherische« Anstalten befeuerten Befürchtungen einer von sozialen Spannungen gekennzeichneten »Moderne«. In zahlreichen Kul- turkritiken fungierte der Brannt wein als symbolischer Stellvertreter für die kritisierten sozialen Veränderungen. Mit Rekurs auf Friedrich Engels erschütternde Beschreibungen wurde der Schnapskonsum zu einem Sym- bol des Massenelends der in Schichtbetrieb schindenden Arbeiter stili- siert. Der Branntwein galt als ein billiges Nahrungsmittel und zugleich als

11 So setzte der Naturrechtsphilosoph Samuel S. Pufendorf bereits 1686 die »Kultur« als Gegenbegriff zum Naturzustand, vgl. Perpeet, W., »Kultur, Kulturphilosophie«, in Historisches Wörterbuch der Philosophie herausgegeben von Ritter, J., Bien, G. und Eisler, R. (Basel: Schwabe, 1971), IV, S. 1309-1323 (1309 f.). Zum Verhältnis von »Kultur« zu »Zivilisation« vgl. ebd., S. 1318 f. 12 Osterhammel, J., Die Verwandlung der Welt, S. 109 f. Auch Stefan Breuer stellt eine Verschärfung gegen Ende des 19. Jahrhunderts fest (vgl. Breuer, S., Die Gesellschaft des Verschwindens: Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation (Hamburg: Rotbuch Verlag, 1995), S. 48. 13 Vgl. Radkau, J., Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler (München: Hanser, 1998). Paul Dubois: »Alcohol als sogenanntes Heil- mittel«, Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte XXV (1895), S. 785-789 (787). Vgl. dazu auch Osterhammel, J., Die Verwandlung der Welt, S. 109-130 & S. 355-374. Auch Jakob Tanner plädiert dafür, dass die »wichtigste Durchbruchsphase der In- dustrialisierung« in der Schweiz der 1880er-Jahre noch bevorstand (vgl. Tanner, J., Fabrikmahlzeit, S. 35 f.). Eine wichtige Quelle zur durch Branntwein ersetzten Er- nährung in der Schweizer arbeitenden Bevölkerung stellt Fabrikinspektor Fridolin Schulers 1884er-Enquête dar, vgl. Schuler, F., Zur Alkoholfrage, S. 29. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 189

Fluchtvehikel, das den Arbeitern eine vorübergehende Distanzierung von der ›unmenschlichen‹ und damit auch ›unnatürlichen‹ Realität der Fabrik ermöglichte.14 Gleichzeitig mehrten sich Berichte von Gefängnisärzten und Psychiatern, welche die wachsende Anzahl geisteskranker Patientinnen und Patienten auf einen auffällig hohen Alkoholkonsum bezogen. Im deutsch- sprachigen Raum war in diesem Kontext die 1878 durch den Gefängnis- arzt Abraham Baer veröffentlichte Studie »Der Alcoholismus« besonders prägend.15 In diesem über 600 Seiten starken Beitrag, auf den sich später auch Bunge in seinem populären Vortrag »Die Alkoholfrage« maßgeblich stützte, spielten durch quantitative Erhebungen hergestellte Korrelatio- nen zwischen chronischem Alkoholkonsum einerseits und Phänomenen wie Kriminalität, Selbstmord oder »Wahnsinn« andererseits eine wichtige Rolle. Baers statistische Untermauerungen bestätigten die bereits verbreite- ten Vermu tun gen zu den dem Branntwein zugeschriebenen Schäden und legten eine scheinbar praktikable »Lösung« der sich im Kontext jener so- zialen Veränderungen verstärkt aufdrängen »Sozialen Frage« nahe. Damit dienten solche frühen Statistiken eher dem Aufzeigen einer konstanten, von gewissen Substanzen ausgehen den präexistenten Gefährlichkeit denn dem Feststellen flexibler Normen. Im Kontext der »Hochindustrialisierung« stand jedoch zunächst der Schnaps im Vordergrund. Die zentralisierende Tendenz der Industrialisie- rung machte sich auch bei der Schnapsproduktion bemerkbar. Zuvor hatte sich in Europa im frühen 19. Jahr hundert die Heimbrennerei markant ausgebreitet, durch welche die vielfach leicht verderblichen Agrarprodukte in Form von Alkohol konserviert werden konnten. In der Folge nahm der Branntweinkonsum zu. In der ländlichen Schweiz machte allen voran der billige, als »Härdöpfeler« bekannte Kartoffelschnaps von sich reden. Diese Spirituose war bis zur Einführung des eidgenössischen »Schnaps- monopols« von 1887 als billiges »Nahrungsmittel« beliebt, um aufkom-

14 Vgl. Engels, F., Die Lage der Arbeitenden Klasse in England nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, 4. Aufl. (Berlin: Dietz, 1971 [1845]); Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 152 ff. Zur Relativierung des Eskapismus-Motivs vgl. Roberts, J. S., »Der Alkoholkonsum deutscher Arbeiter im 19. Jahrhundert«, Geschichte und Gesellschaft 6, no. 2 (1980), S. 220-242 (220 f.). 15 Vgl. Baer, A. A., Der Alcoholismus. Der als Redakteur der Internationalen Monats- schrift bekannte Hermann Blocher hatte dreißig Jahre nach Erscheinen von Baers »Klassiker« jenen Beitrag als für lange Zeit einziges wissenschaftliches Werk in deutscher Sprache bezeichnet – warf dem Gefängnisarzt jedoch gleichzeitig vor, die Gefährlichkeit schwachalkoholischer Getränke übersehen zu haben (vgl. Blocher, H., »Geh. Medizinalrat Dr. Baer«, Internationale Monatsschrift 4 (1908), S. 120). Vgl. auch Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 133. 190 Die Rhetorik der Natürlichkeit mende Hungergefühle zumindest für kurze Zeit zu betäuben. In einer bemerkenswerten Zuspitzung beschrieb der Historiker Jakob Tanner den billigen Branntwein als »junk food«: Als ein billiges, lang haltbares und schnell konsumierbares Nahrungsmittel, das viele einfache Zuckerketten, jedoch kaum Mikro nähr stoffe bietet.16 Seit geraumer Zeit werden diverse im Rahmen von chronischem Alkoholkonsum auftau chende Krankheits- bilder mit Vitamin-B1-Mangelerscheinungen in Ver bin dung gebracht.17 Mit der Einführung des eidgenössischen Monopols wurden diese Brände zur Verringerung störender Begleitstoffe des Ethanols zentral rektifiziert und gleichzeitig signifikant besteuert.18 Abgesehen von diesem Monopol begünstigten weitere technologische Entwicklungen wie die Kolonnen- destillation eine Zentralisierung von industriell gefertigtem Alkohol in Europa. Diese Technik war in Deutschland bereits seit den 1830er-Jahren bekannt, fand aber allen voran im »Schwellenjahrzehnt«19 zu seiner Blüte. Die dadurch erhöhte Verfügbarkeit von preisgünstig hergestelltem, hoch- prozentigen Alkohol wurde in den folgenden Jahren unter anderem durch die Ein führung der »Denaturierung« (Vergällung) kompensiert. Durch die Hinzufügung künstlicher Denaturierstoffe sollte Ethanol für Trinkzwecke ungenießbar gemacht werden.20 Jedoch wurden nicht alle in großem Maß- stab produzierten Schnäpse vergällt. Ausnahmen waren etwa die billigen »trade spirits«, die besonders in Westafrika hohen Absatz fanden und dem-

16 Vgl. Renggli, R. und Tanner, J., Das Drogenproblem, S. 52. 17 Vgl. Joliffe, N., »Vitamin Deficiencies in Chronic Alcoholism«, in Alcohol Addic- tion and Chronic Alcoholism, herausgegeben von Jellinek, E. M. und The Research Council on Problems of Alcohol (New Haven: Yale University Press, 1942), S. 173-40 (173). Zu den prominentesten Krankheitsbildern gehören die Polyneuropathie, Beriberi, die Wernicke-Enzephalopathie oder das Marchiafava-Bignami-Syndrom. Die vorangehenden Thematisierungen des Schnapskonsums als ungesunde, da den Notwendigkeiten einer von der Natur her vorgegebenen Nahrungsaufnahme wi- dersprechende Ernährung sind Gegenstand des zweiten Abschnitts dieses Kapitels. 18 Vgl. Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 158; Trechsel, R., Die Geschichte der Absti- nenzbewegung in der Schweiz, S. 142 ff. Als Rektifikation ist in diesem Kontext das wiederholte Destillieren zu verstehen. 19 Osterhammel, J., Die Verwandlung der Welt, S. 109. 20 Vgl. Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 50 ff.; Heggen, A., Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert: Eine Studie zur deutschen Sozial- geschichte (Berlin: Colloquium-Verlag, 1988), S. 120 f.; Baumgartner, J., »Antial- koholbewegung«, in Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, heraus- gegeben von Kerbs, D. (Wuppertal: Hammer, 1998), S. 141-154 (143). Der Begriff »Schwellenjahrzehnt« für die 1880er-Jahre stammt von Osterhammel (Osterham- mel, J., Die Verwandlung der Welt, S. 109). Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 191 entsprechend für die international orientierte Alkoholgegnerschaft einen prominenten Angriffspunkt darstellten.

Unreine »trade spirits« als internationaler Angriffspunkt

Sowohl im europäischen als auch im außereuropäischen Kontext wurde der Branntwein oft mit Unreinheit assoziiert, wobei nicht nur dessen che- mische Zusammensetzung im Fokus stand: Während etwa der »Alkohol- giftgegner« und Arzt Dr. Kranichfeld den Branntwein als »satani sch« cha- rakterisierte, zirkulierten im 19. Jahrhundert verschiedene Erzählungen, welche die Verbreitung des Branntweins auf der Erde als einen Plan des Teufels darstellten.21 Demnach erschien der Branntwein als Störung einer ›ursprünglichen‹ Vorher sehung – allerdings mit verschiedenen Abstufun- gen: So verfestigten auch die im transnationalen Diskurs involvierten Mis- sionare die Unterscheidung zwischen den billigen »trade spirits« und dem teureren Schnaps der Europäer.22 Während die Unreinheit der europä- ischen Heimbrennereien und die damit verbundene Angst vor giftigen »Fu- selstoffen« im Schnaps oft thematisiert wurde, schienen die für den Export produzierten »trade spirits« noch verheerender. Diese verhältnisweise billi- gen Erzeugnisse aus günstig importierten zuckerhaltigen Ausgangsstoffen, die zumeist per maschi neller Kolonnendestillation oder Dampfbrennerei zu Spirituosen verarbeitet wurden, gelangten zu großen Teilen nach Afrika. In den missionsnahen Thematisierun gen zum »westafrika nischen Brannt- weinhandel« wurden diese Spirituosen zumeist als »Rum« oder »Gin« be- nannt – wobei unklar ist, ob die Unterscheidung zwischen Rum und Gin dem heutigen Verständnis entsprach oder ob beide Bezeich nun gen als un- spezifische Synonyme für Branntwein verwendet wurden.23 Ab Mitte der 1880er-Jahre schrieben die Missionare häufiger über Gin, Schnaps oder

21 Zu Kranichfeld und den »Alkoholgiftgegner« vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur, S. 147; Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, S. 130. Das Narrativ des teuflischen Schnaps wurde etwa durch Leo Tolstoi popularisiert (vgl. »Der erste Branntweinbrenner«, Illustrierter Arbeiterfreund 11 (1900), S. 41 f.), aber auch durch die 1868 entworfenen Illustrationen von Matthew S. Morgan (vgl. »Auch ein Totentanz«, Illustrierter Arbeiterfreund 7-9 (1928), S. 26-35). 22 Vgl. Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur Alkoholproduktion, S. 145; Przyrembel, A., Verbote und Geheimnisse, S. 243. 23 Die jeweilige Bezeichnung orientierte sich an den beim Brennen verwendeten Aus- gangsprodukten, wobei Rum üblicherweise aus fermentierter Zuckerrohr-Melasse und Gin üblicherweise aus Getreide gewonnen wird (vgl. Hoffmann, L. F., »Spi- rits«, in Katz, S. H. und Weaver, W. W., III, Encyclopedia of food and culture (New York, London: Scribner, 2003), S. 326-331 (330 f.)). 192 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Branntwein als über Rum, der ab 1884 weniger oft Erwähnung fand. Einige Äußerungen von missionarischer Seite legen nahe, dass etwa »Gin« als allge- meine Bezeichnung für Branntwein zu lesen ist: So verstand der auf Aburi stationierte Basler Missionsarzt Rudolf Fisch unter dem Etikett »Gin« aus- drücklich jegliche Form von in Flaschen abgefülltem Branntwein.24 Der niedrige Verkaufspreis und der geschmackliche Unterschied zu her- kömmlichen Schnäpsen verhalf diesen Bränden zum zweifelhaften Ruf, zu weiten Teilen aus giftigen Substanzen wie Terpentinöl und Vitriol zu be- stehen. Die Vorstellung von ›verun reinigten‹, da zum Export nach Afrika bestimmten Spirituosen verbreitete der Norddeutsche Missionsinspektor Franz Michael Zahn im deutschsprachigen Raum beson ders wirkungs- voll. In seiner bekannten Rede zum überseeischen Branntwein handel hatte Zahn unter anderem auch eine Klage des Basler Missionaren Kopp zitiert: »In West-Afrika wird ein so erbärmlicher Fusel verkauft und getrun- ken, dass man sollte einen Totenkopf auf die Flaschen kleben mit der Aufschrift: Gift! Ein solcher Schnaps muss die Gesundheit derer, die ihn trinken, ruinieren. Oft genug treten auch bei den Eingeborenen Er- scheinungen auf nach dem Schnapsgenuss, die den Eindruck von Ver- giftung machen. Es gi[e]bt Giftmischer unter ihnen, aber ich glaube, in vielen Fällen ist es eben der giftige Fusel, der die Leute krank macht und oft tötet.«25 Derartige Vorwürfe fanden sich auch im englischsprachigen Diskurs. In England bezeichnete etwa der das NRLTUC präsidierende Thomas Henry William Pelham jenes Exportgut als »vile liquors which no European would touch«.26 Diese Ablehnung der Engländer gegenüber den sogenannten »trade spirits« schreibt der Historiker Dmitri van den Bersselaar in seiner Untersuchung zur Bedeutung des Schnapses in westafrikanischen Koloni-

24 Fisch, R., »Der Alkoholismus in den Missionsgebieten«, 1913, BMA J 78a), S. 3. 25 [Johannes] Kopp zitiert nach Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel«, S. 14. 26 Pelham, T. H. W., »The present position of the native races question«, in The World’s Temperance Congress of 1900, herausgegeben von Turner, J. (London: Ideal Publishing Union, 1900), S. 98-102 (102). Pelhams Vater präsidierte die CMS. Vgl. Zahn, »Der überseeische Branntweinhandel: Seine verderblichen Wirkungen und Vorschläge zur Beschränkung derselben«, S. 13. Vgl. dazu auch: Debus, B., »›Geist‹ der Zivilisation oder ›Hamburger Schnapsinteressen‹«, S. 67; Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 28 ff.; Schröder, N., »Hamburgs Schnapsfabrikan- ten und der deutsche Kolonialismus in Westafrika«, S. 87 f.; White, O., »Drunken States: Temperance and French Rule in Côte d’Ivoire, 1908-1916«, Journal of social history societies & cultures 40, no. 3 (2007), S. 663-684 (674). Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 193 algebieten vornehmlich dem dünnen Geschmack jener Spirituosen zu.27 Als Reaktion auf diese verbreiteten Bezichtigungen einer chemischen Ver- unreinigung ordnete die britische Kolonialregierung verschiedene Unter- suchungen an. Diese fanden in den transportfreund lichen »squared bottles« jedoch weder die von Zahn beschriebenen Gifte, noch sonstige, von den in Europa verbreiteten Bränden signifikant abweichende Verunreinigungen.28 In gewisser Hinsicht wurden damit die Bewohner Westafrikas bestätigt, die den Schnaps aufgrund seiner besonderen Reinheit für verschiedenste rites de passage verwendeten.29 Allerdings kann die Interessen ungebundenheit solcher Untersuchungskommissionen angesichts der durch die Handels- schnäpse generierten Steuereinnahmen der Kolonialregierungen auch mit guten Gründen hinterfragt werden.30 Dabei blieb die Definition von »trade spirits«, deren Verbreitung be- reits die Verträge von Saint-Germain-en-Laye eindämmen sollte, bis nach 1930 problematisch und umstritten. Auf der einen Seite versandte das Bu- reau international pour la Défense des Indigènes 1931 ein zweites Memoran- dum an alle am Völker bund partizpierenden Regierungen, in welchem es vorschlug, den Handelsalkohol über seinen Verkaufspreis zu definieren.31

27 Vgl. Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 55 ff. Das NRLTUC berich- tete in ihren Jahresberichten von einer »inferior quality« dieser Export-Spirituosen (vgl. NRLTUC, Annual Report 1895, 11 ff.). 28 Vgl. Olorunfemi, A., »The Liquor Traffic Dilemma in British West Africa«, S. 240. Auch Hercod räumte 1932 ein, die Bedeutung von Fuselölen sei oft übertrieben worden (Hercod, R., »Alcohol in the African colonies« (Sonderdruck, Lausanne: Imprimerie du Léman) [Archiv ICAA, Karton 13, ca. 1932]). 29 Vgl. Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 44; Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 5 & S. 46. 30 Vgl. Olorunfemi, A., »The Liquor Traffic Dilemma in British West Africa«, S. 236- 241; Diduk, S., »European Alcohol, History, and the State in Cameroon«, S. 4; Heap, S., »›A Bottle of Gin is Dangled before the Nose of the Natives‹«, S. 82. Der Historiker Owen White berichtet in seiner Untersuchung zur Côte d’Ivoire gar von chemisch bestätigten Verunreinigungen, vgl. White, O., »Drunken States«, S. 670. 31 Junod, H. A., Hefti, F. O., Junod, E. J. und Rolli, L., »Comment résoudre le pro- blème de l’Alcoolisme en Afrique? Second Mémoire présenté par le Bureau Inter- national pour la Défense des Indigènes aux Gouvernements qui ont ratifié la Con- vention de Saint-Germain-e-Laye, sur le régime des spiriteux en Afrique«, Bureau International pour la Défense des Indigènes, 1931, S. 11: »[W]hen we speak of ›trade alcohol‹ we do not mean beverages containing any given percentage of alcohol or prepared in any particular way, but cheap alcohol used for trading with the Nati- ves, imported for their use.« Das erste Memorandum wurde in der Internationalen Monatsschrift veröffentlicht: »L’alcoolisme en Afrique et la Convention de Saint- Germain-en-Laye«, in Internationale Monatsschrift 5 (1930), S. 208-216. Vgl. dazu auch Pan, L. Alcohol in Colonial Africa, S. 44. 194 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Damit sollte die Verfügbarkeit von billig erhältlichem Alkohol reduziert werden. Die Denkschrift schien dabei der Vorstellung zu folgen, dass die Produktion »reiner« Destillate unter einem gewissen Preisniveau nicht zu gewährleisten sei. Demgegenüber forderte Robert Hercod im Namen des IBAA, dass die »trade spirits« aufgrund ihrer chemischen Zusammenset- zung bestimmt werden sollten.32 Diese aufwendigere Strategie zielte auf die naturwissenschaftliche Feststellung eines qualitativen Unterschieds ab, der durch fixe Grenzwerte definiert werden sollte. Bemerkenswerterweise wurde die Diskussion über den Zusammen- hang von Reinheit und industrialisierter Massenproduktion von Schnaps in der Schweiz im selben Zeitraum unter umgekehrten Vorzeichen ge- führt: Als 1887 über die Einführung des landesweiten »Schnapsmono- pols« abgestimmt wurde, war das Argument der durch die staatliche Über- wachung gesicherten ›Reinheit‹ einer der meistzitierten Punkte auf Seiten der Befür worter jenes Monopols.33 Im Unterschied zu den »trade spirits« wurde diese Aufsicht aber von der Leitidee der Gewinnmaximierung ent- koppelt. Eine ähnliche Entkoppelung wurde später auch im Kontext der sogenannten C-Mandate des Völkerbundes34 diskutiert, wo ein Monopol zur Gewährleistung von »sauberem« Bier angestrebt wurde. Nach dem an die »Mandates Section« des Völkerbundes gerichteten Vor schlag des pro- minenten Sektionsmitglieds Frederick Lugard (1858-1945) sollte dieses »hy- gienische Bier« nicht mehr als sechs Volumenprozent Alkohol enthalten. Um die Branntweine und die lokal hergestellten, angeblich pharmakolo- gisch viel »potenteren« Biere und Weine zu verdrängen, sollte das Bier die Afrikaner allen voran durch seine Bitterkeit ansprechen. Die zu beseiti- genden, »auf schmutzigste Weise« zubereiteten Alkoholika machte Lugard aufgrund ihrer »Unreinheit« für die Ausbreitung von Syphilis und anderen Krankheiten verant wortlich.35 Dieses Beispiel verdeutlicht, wie »Sauber-

32 Vgl. Hercod, R., »Alcohol in the African colonies« (Sonderdruck, Lausanne: Impri- merie du Léman) [Archiv ICAA, Karton 13, ca. 1932]. 33 Vgl. Schweizerischer Bundesrat, »Botschaft des Bundesrates betr. die Alkoholfrage, 18. Juni 1884« (Bundesblatt 1884 (Separatdruck), 1884), S. 85. Vgl. auch Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 154; Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 143. 34 Für eine konzise Übersicht zum Mandats-System des Völkerbundes vgl. Pan, L. Alcohol in Colonial Africa, S. 50 f. 35 Frederick Lugard, »Report on the Liquor Traffic« [Archiv LoN, Document No. 28011X, Dossier No. 27995]: »The bitter taste is attractive to the African and it is possible that it might supersede not only the demand for distilled spirits, but also to a large extent the use of native fermented beverages much more potent in their Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 195 keit« auch in »hygieni schen« Perspektiven als ein durch ›die Natur‹ vorge- gebener Imperativ zum Erhalt eines gesunden Körpers fungierte. Wie beim Branntwein ließen sich im Fin de Siècle auch bei der Bierpro- duktion Zentralisierungstendenzen ausmachen. War zunächst das obergä- rige Bier mit einem verhältnisweise niedrigeren Alkoholgehalt und einem höheren Risiko auf Verunreinigung durch Pilze während des Gärungs- prozesses verbreitet, kamen im 19. Jahrhundert haltbarere unter gärige Biere auf. Diese erforderten jedoch kühle Gärungs bedingungen, was den Bau von Eiskellern und Eishöhlen nötig machte und eine Tendenz zur Großproduktion ab 1885 stark beschleunigte: In der Schweiz hatten 1885 nach einem alkohol gegnerischen Schaubild 428 Fabriken insgesamt rund 996.000 Hektoliter Bier prodziert; 25 Jahre später produzierten 146 Pro- duktionsstätten rund zweieinhalb so viel gegorenen Gerstensaft.36 Verfei- nerte Techniken ermöglichten zudem einen höheren Alkoholanteil des Gerstensafts, was den durchschnittlichen Bierkonsum in der Schweiz an- steigen ließ.37 Mit der zunehmenden Technologisierung der Alkoholher- stellung gewann das Argument an Popularität, dass der Alkohol aufgrund der zur Gewinnung benötigten »Methode« ein »unnatürliches« Produkt darstelle.38 Unter Alkoholgegnern war das bayerische Bier besonders be- rüchtigt, das durchaus einen Alkoholgehalt von acht Volumenprozent er- reichen konnte: Der Leipziger Professor für innere Medizin, Adolf von Strümpell (1853-1925), beschrieb in diesem Kontext das Phänomen der »Bayerischen Bierniere«.39 Durch die Zusammenführung dieses Biers mit dem Bild eines krankenden Organs wurde ein besonders hohes, vom baye- rischen Bier ausgehendes Schadenspotenzial auf die Funktionstüchtigkeit

effects. It would substitute a clean and healthy beverage for potations prepared in the filthiest way, possibly in some cases disseminating syphilis and other diseases.« 36 Vgl. das Schaubild »Zahl und Produktion der Schweizer Brauereien 1840-1933«, aus Neumann, A., Der Alkohol als Wirtschaftsmacht (Schweizerischer Alkoholgeg- nerbund: Lausanne, 1934), S. 7. Auch der Illustrierte Arbeiterfreund verortet den Übergang der Brauerei von einem Gewerbe zu einer Industrie ab den 1880er-Jahren (vgl. »Etwas über die Brauerei-Industrie«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1926), S. 20). 37 Auderset, J. und Moser, P., Rausch & Ordnung, S. 221 [Korrigendum]; Müller, R., Trinksitten im Wandel, S. 8. 38 Dieses Argument wurde etwa vom am Zürcher Polytechnikum lehrenden Pharma- kologen Carl Hartwich vorgebracht (vgl. Hartwich, C., Die menschlichen Genuss- mittel: ihre Herkunft, Verbreitung, Geschichte, Anwendung, Bestandteile und Wirkung (Leipzig: Tauchnitz, 1911), S. 543). 39 Vgl. Alfred von Strümpell in Internationale Monatsschrift 11 (1893), S. 340. Siehe auch: Tappe, H., Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur Alkoholproduktion, S. 145 & S. 73 f.; zur einsetzenden fabrikmäßigen Bier- und Branntweinproduktion vgl. auch Heggen, A., Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 120 f. 196 Die Rhetorik der Natürlichkeit des menschlichen Körpers vermittelt. Die Eigenheit dieses Getränks, der verhältnismäßig hohe Alkoholgehalt, bestärkte dabei zusätzlich das Denk- muster, eine erhöhte Alkoholmenge auf ein erhöhtes physisches Schadens- risiko zu beziehen. Das Beispiel zeigt auch, wie eine am menschlichen Körper sichtbare Gesundheit zur Untermauerung der alkoholgegnerischen Natürlichkeits- referenzen eingesetzt wurde. Der Alkohol galt besonders in der sozialhygie- nischen Strömung als die am effektivsten zu bekämpfende Quelle des sozi- alen Elends. Daneben wurden im alkoholgegnerischen Diskurs zahlreiche weitere soziale Phänomene als »unnatürlich« kritisiert. Forel etwa führte die während des Fin de Siècle breit thematisierte »Nervosität der moder- nen Generation« nicht nur auf den verbreiteten Alkoholkonsum zurück, sondern auf Armut, schlechte Ernährung, »gedankenloses Heiraten« sowie auf »die Überbevölkerung der Städte«.40 Viele Anti-Alkohol-Aktivistinnen und -Aktivisten beschrieben die expandie renden Städte als Orte der Un- reinheit und verwoben die Themenkomplexe der Überbe völkerung und der Prostitution mit der »Alkoholfrage«.

Unreine Städte: Überbevölkerung, Schmutz und Prostitution

Das gegen Städte gerichtete Unbehagen, wonach diese die Sittlichkeit ihrer Einwohner besonders bedrohen würden, wurde nicht erst mit der Indus- trialisierung artikuliert.41 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in weiten Teilen Europas von einem markanten Urbanisierungsprozess ge- zeichnet war, häuften sich jedoch derartige gegen das Städteleben gerich- tete Klagen.42 Pauperismus in der Stadt und überfüllte psychia trische An-

40 Vgl. Forel, A., »Nervenhygiene und Glück«, Internationale Monatsschrift 11 (1893), S. 321-326 (322). Zur Nervosität vgl. Radkau, J., Das Zeitalter der Nervosität. 41 So können bereits die biblischen Referenzen an Babylon durch Johannes als Aus- druck jenes Missfallens gelesen werden. 42 Vgl. Osterhammel, J., Die Verwandlung der Welt, S. 353-586; Krabbe, W. R., Gesell- schaftsveränderung durch Lebensreform: Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1974), S. 28; Sauerteig, L., Krankheit, Sexualität, Gesellschaft, S. 49 f.; Tanner, J., Fabrikmahlzeit, S. 36. Als wichtigster Vertreter identifiziert Hans-Jürgen Teuteberg den deutschen Theologen Eduard Baltzer, der in seinem vierbändigen Werk Die natürliche Lebensweise auch Themen wie die Großtadt, die Luftver- schmutzung, das Fabrikleben sowie die Ernährung kritisierte, die angeblich zu Ge- nusssucht, Egoismus oder Prostitution führten. Vgl. Teuteberg, H. J., »Zur Sozial- geschichte des Vegetarismus«, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 33-65. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 197 stalten in der Umgebung erhöhten die Sichtbarkeit der »Sozialen Frage«. Diese bereits ab 1840 vermehrt problematisierten Aspekte wurden ab den 1880er-Jahren verstärkt mit der »Alkoholfrage« in Verbindung gebracht. Als eine mögliche Erklärung wurde zur Jahrhundertwende am in London tagenden World’s Temperance Congress das »Axiom« postuliert, dass enger werdende Wohn räume zu erhöhter Trunkenheit führten.43 Diese Erklärung fand sich in der religiös geprägten Alkoholgegner schaft der Schweiz we- niger explizit, auch wenn städtische Überbe völkerung etwa für die Basler Mission vielfach als Explanans für ökonomischen Mangel sowie für sitt- liche Verwahrlosung diente.44 In den Beiträgen des Blauen Kreuzes domi- nierte vielmehr das Wirtshaus als Verstärker des Sittlichkeitszerfalls.45 Im Illustrierten Arbeiterfreund war gar bis kurz nach der Jahrhundert wende die Erklärung ver breitet, dass nicht die dicht besiedelte Stadt, sondern die un- genügend putzende und kochende Frau ihren Mann in die Taverne treibe.46 Expliziter wurde das mit der Urbanisierung in Verbindung stehende Unbehagen in den Foren der sozialhygienisch geprägten Alkoholgegner- schaft thematisiert. Zentral waren dabei »unhygienische« Lebensbedin- gungen wie Lärm, Gestank oder enge, dunkle und staubige Wohnräume, die deutlicher als bei den religiös geprägten Anti-Alkohol-Kollektiven als ›naturfern‹ beschrieben wurden. Da Menschen qua Veranlagung für eine solche Umwelt nicht geschaffenen schienen, würden alkoholhaltige Ge- tränke ein attraktives Fluchtvehikel darstellen.47 Viele Beiträge im Schwei- zer Abstinent verliehen der Hoffnung Ausdruck, dass eine Gartenstadt mit hellen Wohnungen, üppigen Grünflächen und der damit verbundenen frischen Luft den Bewohnern das Bedürfnis nach dem Alkohol genuss ver-

43 Vgl. Horsley, J. A., »Temperance Reform in Relation to other Social Questions«, in The World’s Temperance Congress of 1900, herausgegeben von Turner, J. (London: Ideal Publishing Union, 1900), S. 125-131 (130). 44 Vgl. Jenkins, P., »Towards a definition of the pietism of Württemberg as a mis- sionary movement«, S. 4 ff. Als bevorzugtes Wirtschaftsmodell galt für diese Aus- prägung des Pietismus die als »Ökonomie« bezeichnete Kombination von traditio- nellem Handwerk und Landwirtschaft durch erweiterte Familien, zu welchen auch Knechte und Mägde gehörten. Vorgelebt wurde dieser Lebensstil insbesondere in den beiden Idealdörfern Korntal und Wilhelmsdorf. 45 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 39. 46 Vgl. dazu etwa »Ein Rath an die Frauen«, Illustrierter Arbeiterfreund 1 (1890), S. 2; »Sie kann nicht kochen«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1903), S. 29 f. 47 Das Motiv des Eskapismus wird im folgenden Kapitel zur Rhetorik der Wirklich- keit eingehender untersucht. Zur Situation in deutschen Großtädten vgl. Krabbe, W. R., Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 16-26. 198 Die Rhetorik der Natürlichkeit treibe.48 Dabei korrelierte die vielen dieser Postulate immanente Tendenz zu einer »Stadtflucht« und zu einer Ablehnung des kapitalistischen Profit- strebens mit der Losung der Lebensreform, die auch mehr Licht, Luft und Bewegung forderte.49 Die verbreitete Vorstellung, dass »naturferne« Le- bensdingungen wie der städtische Alltag naturferne Genüsse befördere, implizierte im Umkehrschluss, dass ›naturnahes‹ Leben ›natürliche‹ Ge- nüsse befördere. Dieses Denkmuster diente zugleich, wie Kapitel 4 zeigt, der Identifikation von ›wahren‹ Genüssen und damit der Abstützung von Wirklichkeits-Rhetoriken. Während ein sozialhygienischer Konsens über die mit Naturnähe und -ferne assoziierten Verstärkungseffekte zu bestehen schien, wurden der Anteil einzelner Faktoren je nach zu erklärendem Phänomen unter- schiedlich gewichtet. So erklärte der deutsche Psychologe Willy Hellpach (1877-1955) die wahr genommene »Nervosität« vieler Stadtbewohner innen und -bewohner mit der verschärften Wohn situation sowie den beschleu- nigten, »modernen« Arbeitsbedingungen als Folge des Kapi ta lis mus. Da- gegen führte etwa der deutsche Psychiater und Neurologe Paul Julius Mö- bius (1853-1907) die vermeintlich zunehmende »Nervosität« hauptsächlich auf eine durch den Alkohol bewirkte »Entartung« zurück, wobei die durch Gas- und Kohle emissionen belastete Stadt den Menschen zusätzlich zu- grunde richten würde.50 Derlei Kontro versen erklären, weshalb der öster- reichische Sozialist und Arzt Rudolf Wlassak vor einer allgemeinen Ver- bindung von Abstinenz- und Wohnreform-Forderung warnte, da diese Verknüpfung die Abstinenzbewegung spalten würde.51 Da eine erfolgreiche Realisation solcher Wohnreform-Projekte mittel- fristig nicht in Aus sicht stand, rieten viele Exponenten der Abstinenzbewe- gung zu einer kurzfristigen Flucht vor dem städtischen Leben hin zum »ungetrübten Naturgenuss«52 – etwa durch das Wandern. Eng mit der Abstinenzbewegung war die Wandervogel-Bewegung verbunden, die sich

48 Vgl. »Wohnverhältnisse«, Schweizerische Abstinenzblätter 8 (1910), S. 45. Dasselbe forderte auch der Berner Staatsschreiber und spätere Vorsitzende des Berner Erzie- hungsdepartementes Alfred Rudolf mehrmals in der Internationalen Monatsschrift (vgl. etwa »Vom Wohnen und vom Trinken«, Internationale Monatsschrift 1 (1925), S. 9-24; vgl. auch Rudolf in Internationale Monatsschrift 3 (1924), S. 140). 49 Vgl. Krabbe, W. R., Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 27 & 36. Diese Gemeinsamkeiten sind besonders beim Vegetarier Baltzer deutlich, vgl. Teuteberg, H. J., »Zur Sozialgeschichte des Vegetaris mus«, S. 58 f. 50 Vgl. Paul Julius Möbius’ Entgegnung an Hellpach in Internationale Monatsschrift 4 (1903), S. 128 f. 51 Vgl. Rudolf Wlassak in Internationale Monatsschrift 3 (1928), S. 183) 52 Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 23 f. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 199 primär gegen die »Unkultur der Großstadt« richtete und in den »Trinksit- ten« ein Symbol dieser Unkultur ausmachte.53 Der deutsche Großtempler Theo Gläß (1896-1982) führte in der Internationalen Monatsschrift aus, der Wandervogel sei nicht durch die »furchtbare Alkoholnot«, sondern durch ihr Gefühl von »Schönheit und Reinheit« zu der Enthaltsamkeit gestoßen. Als »Reinheit« verstand der Guttempler Gläß den Anspruch, die »Fülle des Lebens ohne künstliche Reizmittel« genießen zu wollen.54 Diese Ansicht wurde im Schweizer Abstinent vielfach bestärkt: Neben Forel sprach sich etwa auch der deutsche Hypnotiseur und Schriftsteller Reinhold Gerling für das Wandern aus. Als Weg zur Selbsterkenntnis empfahl dieser regel- mäßige Wanderungen, am besten in der Einsamkeit der Berge, während welcher sich der Mensch nicht aufgrund von gesellschaftlichen Konventio- nen zu verstellen brauche. Dem Hypnotiseur erschienen dichte Menschen- ansammlungen, wie sie in Städten regelmäßig anzutreffen waren, als un- vereinbar mit den zugleich wahrhaftigen und »natürlichen« Bedürfnissen des Menschen.55 Auch wenn eine einzelne Leser-Zuschrift in den regelmä- ßigen Bergwanderungen ein Streben nach einer »Höhennarkose« zu erken- nen glaubte und diese als künstliche Substitution der »Alko hol narkose«56 auslegte, fanden Gerlings Vorschläge im Umfeld der Guttempler viel Zu- spruch. Insgesamt wurde die schon 1886 in Bunges Alkoholfrage (siehe Ka- pitel 3.2) idealisierte »Leichtigkeit im Überwinden körperlicher Anstren- gung, die Lust am Marschieren, am Rudern, am Berg steigen« mehrheitlich als eine Forderung nach »ungetrübte[m] Naturgenuss« verstanden. 57 So er- folgte die Gründung des Schweizer Wandervogelbundes etwa während des XV. Zentralfestes der abstinenten Studentenverbindung Helvetia.58 Bunges Idee eines »unge trübte[n] Naturgenusses« asso zi ierte eine von Menschen- hand weitgehend unberührte Landschaft explizit mit »Rein heit«, was um- gekehrt eine ›Unreinheit‹ der städtischen Umgebung suggerier te. Aller- dings ist bemerkenswert, dass sich die gelobten Aktivitäten alle durch eine relativ geringe Abhängigkeit von komplexen Hilfsmitteln auszeichneten.

53 Gläß, T., »Die gegenwärtige Stellung der deutschen Jugend zur Alkoholfrage«, In- ternationale Monats schrift 1 (1929), S. 24-40 (25). 54 Ebd., S. 26. 55 Vgl. »Der neue Schweizer Hauskalender«, Schweizer Abstinent 18 (1932), S. 77; Ger- ling, R., »Willens- und Gedächtnisbildung«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1920), S. 14. 56 Vgl. M. F., »Zum Kapitel Wandervogel«, Schweizer Abstinenzblätter 22 (1908), S. 129. 57 Vgl. Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 23 f. 58 Vgl. »Der Wandervogel«, Schweizerische Abstinenzblätter 8 (1905), S. 43. 200 Die Rhetorik der Natürlichkeit

In gewisser Hinsicht beförderten derartige Voten folglich das Ideal einer relativen Autarkie. Eine weitere Erscheinung, die in der Stadt an Sichtbarkeit gewann und über verschiedene Auslegungen von »Natürlichkeit« verhandelt wurde, war die mit »Unreinheit« konnotierte Praxis der Prostitution. Die bereits zuvor postulierten Zusammenhänge zwischen alkohol induzierter Berauschung und Sexualität häuften sich im späten 19. Jahrhundert im öffentlichen Diskurs.59 So ist bemerkenswert, dass der Grundstein des Blauen Kreu- zes 1877 anlässlich eines der Bekämpfung der Prostitution verschriebenen Sittlichkeitskongresses in Genf gelegt wurde. Nicht nur Pastoren erblick- ten eine auffällige ›Komorbidität‹ zwischen den beiden Lastern, auch der Psychiater Forel schrieb dem Ethanol eine »künstliche Reizung des Sexu- altriebes, der Begierde« zu und identifizierte den Alkohol als »Träger des Schandgewerbes der Prostitution«.60 In psychiatrischen Kliniken, insbe- sondere unter Forels Ägide im »Burghölzli«, wurden seither Studien zu den vermuteten Zusammenhängen zwischen Alkoholkonsum und »sexuellen Perversionen« durchgeführt. Zu Letzteren zählten mitunter auch Homo- sexualität sowie ›exzessive‹ Onanie.61 Der zwischen »Liebe« und einem »bestialischen, gemeinen Sexual- trieb«62 unterschei dende Forel hatte Letzteren bereits 1891 als »rein egoisti- sche Sinnlichkeit«63 beschrie ben. Folglich verabscheute er sowohl Freier als auch Prostituierte und lancierte 1904 mit dem zürcherischen Verein zur He- bung der öffentlichen Sittlichkeit eine Volksinitiative zum Verbot der Pros-

59 Vgl. Martin, A. L., Alcohol, violence, and disorder in traditional Europe (Kirksville, MO: Truman State University Press, 2009). Vgl. dazu auch die erheblichen Über- schneidungen zwischen Anti-Vice-, Temperenz- und Sozialhygiene-Bewegungen (Wagner, D., The new temperance: The American obsession with sin and vice (Boul- der, CO etc.: Westview Press, 1997), S. 14). 60 Forel, A., »Der Alkohol und die sexuellen Fragen«, in Bericht über den XI. Interna- tionalen Kongress gegen den Alkoholismus (Stockholm, 1907), S. 170-188 (178). 61 Laut Philipp Sarasin wurden derartige Verhaltensweisen als »künstlich« angeregte Reizungen gedeutet, die im Verdacht einer ›Übernutzung‹ standen (Sarasin, P., Reizbare Maschinen, S. 230-233). Zu den Thematisierungen jener Praktiken im alkoholgegnerischen Diskurs vgl. Forel, A., Die Rolle des Alkohols bei sexuellen Perversionen, Epilepsie und anderen psychischen Abnormitäten (Leipzig: Thieme, 1894); Oberdieck, F., Beitrag zur Kenntniss des Alkoholismus und seiner rationellen Behandlung auf Grund der Statistik der in der Irrenheilanstalt Burghölzli (1879-1894) behandelten Fälle nebst einem Auszug aus den ersten sechs Jahresberichten der Trinker- heilstätte Ellikon (Berlin: Gedruckt bei L. Schumacher, 1897). 62 Forel, A., »Der Alkohol und die sexuellen Fragen«, S. 180; sowie Kapitel 2. 63 Forel, A., Die Trinksitten, S. 28. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 201 titution.64 Seinen Ekel vor diesem Gewerbe begründete er mit drei Beden- ken: Erstens stelle die reine Triebbefriedigung keine produktive Arbeit dar und widerspreche somit dem Ideal der »Arbeitsehrung«. Zweitens werde dadurch im Gegenteil gerade der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten Vorschub geleistet. Und drittens äußerte er das biopolitische Bedenken, dass der Nachwuchs der Prostituierten die »Degeneration«, verstanden als erblich prädeterminierte Qualität eines Gesellschaftkörpers, beschleunige. Promiskuitive Frauen waren dem für die Gleichberechtigung von Mann und Frau eintretenden Sozial reformer ein besonderer Dorn im Auge. Da seiner Meinung nach »ein auf sexuelle Abwege geratenes Weib« kaum mehr »auf den besseren Weg« zurückzubringen sei, führte Forel Zwangssterilisa- tionen durch.65 In seiner Sexuellen Frage recht fertigte Forel seine radikalen Eingriffe in die reproduktive Autonomie von Mitmen schen, unter denen vornehmlich Frauen waren, anhand eines konkreten Beispiels: Opfer war ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich bereits in ihrem zarten Alter »aus Vergnügen jedem Jungen auf der Straße« hinge geben habe. Forel zeigte sich überzeugt, mit der Sterilisation dieses Mädchens »unglückliche Nach- kommen« verhindert zu haben. Dies bekräftigte er mit dem Hinweis, dass die Mutter und die Großmutter des Mädchens bereits »Kupplerinnen und Dirnen« gewesen seien.66 Während derartige negativ-eugenische Maßnah- men in sozialhygienisch geprägten Alko hol gegnerzeitschriften kontrovers diskutiert wurden, herrschte weitgehende Einigkeit über die Forderung, dass Frauen durch Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach sozialer Anerken- nung streben sollten. Entgegen der sonst präferierten Naturnähe wurde das von körperlichen Reizen ausgehende Begehrtwerden als »Weib chen« als »Er niedrigung« beschrieben.67 Doch fanden sich insbesondere außerhalb des alkoholgegnerischen Umfeldes auch Personen, die das Ideal einer monogamen sowie haupt- sächlich auf geistige Eigenschaften fokussierenden Liebe als »unnatürlich« kritisierten. Zu diesen zählten allen voran die Betreiber von sogenannten

64 Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 152. 1904 erschien ein erster Entwurf des Berichts des Kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sitt- lichkeit. 65 Forel, A., Die sexuelle Frage, S. 84. Vgl. dazu Tanner, J., »›Keimgifte‹ und ›Rassen- degeneration‹«, S. 254; Huonker, T. Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Ehe- verbote, Sterilisationen, Kastrationen: Fürsorge, Zwangsmassnahmen, »Eugenik« und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Zürich: Sozialdepartement der Stadt Zürich, 2002, S. 63-100. 66 Forel, A., Die sexuelle Frage, S. 381 f. 67 Vgl. »Über das Sexualleben«, Schweizerische Abstinenzblätter 9 (1908), S. 51. 202 Die Rhetorik der Natürlichkeit

»Winkelwirtschaften« des Zürcher Niederdörfli, die sich in einem offenen Brief gegen ihre als »Sündeliprediger und sittenstrenge Waschweiber« ba- gatellisierten Kontrahentinnen und Kontrahenten wandten. Bemerkens- werterweise stützten sich auch die Wirte bei ihren Ausführungen auf die »Gesetze der Natur«, was im folgenden Satz besonders deutlich zum Aus- druck kommt: »Die Verordnungen und Gesetze der Natur lassen sich nicht durch Polizei- und Strafgesetze der Menschen niederdrücken.«68 Damit stellten die Wirte ihre lukrativen Einrichtungen als Bestandteil einer ›natürlichen‹ und deshalb unhinterfragbaren Gegebenheit dar, der durch ›künstliche‹ Zwangsmaßnahmen bedroht würde. Mehr noch insze- nierten sie sich gar als Beschützer der Prostituierten, welchen durch ein Prostitutions verbot die Kriminali sie rung drohen würde. Durch derlei Ak- tionen beteiligten sich auch die Wirte am Aushandlungsprozess über die Frage, welche Formen der Sexualität als »natürlich« oder »normal« und welche als »deviant« gelten sollten. Im Gegensatz zu den Sittlichkeits- reformerinnen und -reformern waren ihre materiellen Interessen in diesem Fall jedoch offensichtlich. Später wurde der Aushandlungsprozess zur Legitimität der Prostitution auch auf über staatlicher Ebene ausgefochten. So richtete das IBAA meh- rere Schreiben an den Völkerbund, die sich auf negativ bewertete Bezie- hungen zwischen Alkohol und Sexualität beriefen. Hercod gelang es, die Aufmerksamkeit von Rachel Crowdy (1884-1964), der Vorsteherin der Opium and Social Questions Section, für die »Alkoholfrage« zu gewinnen. Dieser Sektion waren mit dem Child Welfare Committee und dem Commit- tee for the Protection of Women zwei Komitees angegliedert, die sich mit po- tenziellen Opfern des »unmäßigen« Alkohol konsums beschäf tigten. 1925 warnte Hercod die Funktionärin in einem mit »Alcohol and the Traffic in Women« betitelten Schreiben vor dem aufkommenden Phänomen der »Animier kneipe«.69 Diese Lokale stellten weibliches Personal bereit, das die männliche Kundschaft zum Trinken verführen sollte, um damit den niedrigen Lohn mit einer Kommission aufzubesseren. In diesem Schreiben nahm Hercod zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen Alkohol und Prostitution Stellung: »We sometimes read in prohibitionist literature that in most cases it is alcohol which is responsible for a woman’s first fall. This is probably an exaggeration, but it is nevertheless true that women sometimes fall

68 Der offene Brief der Wirte gegen Pfarrer Bosshards Vorwurf zitiert in: »Die Wirte gegen Pfr. Bosshard«, Schweizerische Abstinenzblätter 5 (1909), S. 25 f. 69 Vgl. dazu: Sauerteig, L., Krankheit, Sexualität, Gesellschaft, S. 47 f. Alkohol im »Zeitalter der Nervosität« 203

when their powers of resistance have been weakened by alcohol, and that traffickers have made use of alcohol to induce young girls to listen to their proposals.«70

Dabei griff Hercod auf das Motiv der Verführung zurück, das der Alko- holgegnerschaft nicht nur durch Bunges Diktum »Die Verführer sind die Mäßigen« bekannt war, sondern auch durch diverse Berichte von »gieri- gen« Kapitalisten, die mit Rückgriff auf Alkohol Arbeitskräfte zu sklaverei- ähnlichen Bedingungen rekrutierten.71 Das aus dem biblischen Sündenfall bekannte Motiv der Verführung fungierte auch in diesem sexualisierten Kontext als Gegenstück zur Selbstführung. In seinen weiteren Ausführun- gen, die in einer einfachen Sprache ohne medizinische Fachbegriffe oder Theorien gehalten waren, berichtete Hercod gar von der Möglichkeit einer beidseitigen Kausalität: Demnach könne der Alkoholismus selbst eine re- gelmäßig beobachtete Folge von sexuellen Ausschweifun gen darstellen.72 Obschon nicht explizit im Text erwähnt, perpetuierte Hercod damit das in religiösen Anti-Alkohol-Kreisen besonders populäre Leitmotiv einer auf verschieden ste ›fleischliche‹ Vergnügen abzielenden »Genusssucht«.73 Während Hercod in diesem Fall die Möglichkeit einer wechselseitigen Kausalität einräumte, diskutierte die Alkoholgegnerschaft jeweils unter- schiedliche Formen devianten Verhaltens, die als ›Komorbiditäten‹ der ›Grunderkrankung‹ des Alkoholismus ausgelegt wurden: Unordentlich- keit, Gewalttätigkeit, Kriminalität, Selbstmord oder Wahnsinn stellten zen- trale Gemeinplätze dar in der Diskussion über die Folgen des regelmäßi- gen Alkohol genusses. Damit beanspruchten die Alkoholgegnerinnen und -gegner, im Alkoholkonsum eine der wichtigsten und gleichzeitig vermeid- baren Ursachen des sozialen Elends identifiziert zu haben. Diese Überzeu- gung fand auch bei vielen Angehörigen der besitzenden Klassen Anklang, da sich damit ungleiche Besitzver hältnisse durch die unklugen Konsum-

70 Hercod, R., »Alcohol and the Traffic in Women«, Schreiben an Rachel Crowdy vom 24. November 1925 [Archiv LoN, Doc No. 43343], S. 1-3 (1). 71 Als Beispiel dazu dient etwa der Bericht des Basler Forschungsreisenden Prof. Felix Speiser zur Praxis in Melanesien, wonach Plantagenbesitzer die lokale Bevölkerung zuerst mit viel Alkohol gefügig gemacht und danach an Bord geschleppt hätten (vgl. »Wie Naturvölker zu Grunde gehen«, Schweizer Abstinent 4 (1925), S. 15 f.) 72 Hercod, R., »Note on the Question of Alcohol in Connection with the Traffic in Women«. Schreiben an Rachel Crowdy vom 24. November 1925 [Archiv LoN Doc Nr. 43343]. Diese Aussage bekräftigte Hercod in einer beigelegten vierzehnseitigen »Advisory Conclusion«, in der er fünf Fragen zu Kinder- und Jugendschutz vor Alkohol beantwortete. 73 Vgl. dazu die Ausführungen im vorangegangenen Kapitel. 204 Die Rhetorik der Natürlichkeit gewohnheiten der sozioökonomisch benach teiligten Schich ten be gründen ließen.74 Umgekehrt versprach diese Ansicht eine einfache Lösung der »Sozialen Frage«: Durch die Verbreitung der Nüchternheit würden Phä- nomene wie Armut und Kriminalität zurückgedrängt, und damit zugleich das Risiko eines Aufstandes durch die classes dangereuses gesenkt. Besonders sozialhygienische Zeitschriften propagierten dabei »hygienische« Alltagsge- wohnheiten wie die körperliche Ertüchtigung in der Natur, die bewusst- natürliche Ernährung sowie die bewusste Kontrolle der eigenen Sexualität. Letztere wurde ab dem Fin de Siècle zusehends in die sozialdarwinistische Konzeption eines permanenten Kampfes um das Überleben eingebettet. Die »Alkoholfrage« verschärfte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhun- derts also aufgrund mehrerer Entwicklungen: Ein zentraler Grund ist das durch eine zunehmend industrialisierte Alkoholproduktion erweiterte An- gebot an erschwinglichen alkoholhaltigen Getränken sowohl in Europa als auch in Übersee. Besonders in den dicht besiedelten Gebieten gewannen mit Alkohol zusammenhängende Probleme an Sichtbar keit. Gemein sam mit dem steigenden Alkoholkonsum thematisierten viele Anti-Alkohol- Aktivisten eine Entfremdung von ›der Natur‹, der sie diese problemati- schen Phänomene zuschrieben, die sich auch in überfüllten psychiatri- schen Anstalten niederschlugen. Durch die zahlreichen Bezüge auf eine ursprüngliche ›Vorhersehung‹ war die Alkoholdebatte eng mit protonor- malistischen Natürlichkeitsvorstellungen verwoben. Dies zeigt sich auch am Thema der Unreinheit, das nicht nur mit medizinisch-hygienischen, sondern auch mit »sittlichen« Erscheinungen in Verbindung gebracht wurde. In diese normalisierenden Debatten schalteten sich jedoch zuse- hends auch Mediziner, Psychiater und Physiologen ein. Ein besonders wichtiges Zeichen für die wissenschaftlich begrün dete Abstinenz setzte der Physiologe Gustav von Bunge 1886 mit seiner Alkohol frage.

2. Bunges »Alkoholfrage«

Gustav von Bunges 1886 gehaltene Antrittsvorlesung an der Universität Basel wurde bis zu Bunges Tod (1920) in 15 Sprachen übersetzt – und von einigen Historikern als Initial zündung der modernen, wissenschaftlich ge- prägten Abstinenzbewegung gedeutet.75 Bis 1905 hatte die Basler Schriftstelle

74 Vgl. dazu Heggen, A., Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 122. 75 Gemäß Oettli, M., Die Abstinenzbewegung in der Schweiz (Sonderabdruck aus »Die Alkoholfrage in der Schweiz« [ca. 1935]), S. 22, habe dieser Vortrag »die wis- Bunges »Alkoholfrage« 205 des AGB alleine im deutschsprachigen Raum 11.817 Exemp lare jenes Vor- trages abgesetzt. Damit überflügelte diese Schrift die anderen alkoholgeg- nerischen Pamphlete der Schriftstelle bei Weitem76 und wurde zu ihrem 25-jährigen Jubiläum auch von der Internationalen Monats schrift als welt- weit »verbreitetste Werbeschrift der Abstinenzbewegung« gerühmt.77 In- haltlich dominierten darin die zwei ineinander verwobenen Rhetoriken der Natürlichkeit und der Wirklichkeit, die in den alkoholgegnerischen Argu- menten eine bedeutende Rolle ein nahmen. Unter anderem stellte Bunge den Alkoholgenuss als ›unnatürliche‹ Gewohnheit dar, indem er den Alko- hol mit dem ›ursprünglichen‹ Durststiller der Natur, dem Wasser, kontras- tierte. Mit diesem Vergleich betrat er eigentlich keinen neuen Boden; be- reits in den 1860er-Jahren schloss eine im Guttempler-Ritual eingebundene Predigt von der Beobachtung, dass sich in der Natur an sich keine »strong drinks« finden würden, auf die Überzeugung, dass Gott für den Menschen einzig das Wasser als Getränk vorgesehen habe.78 Bunge aber trat als Phy- siologe auf, der sich vielmehr mit den Funktionen des menschlichen Stoff- wechsels befasste als mit einem göttlichen Willen. Laut Bunge würde der Alkohol genuss den Appetit ausschließlich auf Fleischspeisen lenken. Diese »Perversion« der Essensvorlieben ginge auf Kosten der süßen Speisen, die der Physiologe aufgrund ihres hohen Zuckergehalts als wichtigste Energie- lieferanten der Muskeln beschrieb.79 Mit der Frage nach einer aus physio- logischer Sicht ›normalen‹ Ernährung80 bezog er sich auf einen Aspekt,

senschaftlich begründete und rassenhygienisch eingestellte Abstinenzbewegung eingeleitet«. Jakob Tanner würdigt diesen Vortrag als »erste integrale wissenschaftli- che Begründung der Enthaltsamkeitsbewegung« (Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 157). Vgl. dazu auch Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 131; Mattmüller, M., Der Kampf gegen den Alkoholismus in der Schweiz, S. 30; Graeter, E. Gustav von Bunge: Naturforscher und Menschenfreund (Basel [ca. 1950]), S. 18. 76 Vgl. Blocher, E., »Rundschau«, Internationale Monatsschrift 3 (1907), S. 79-85 (83); Gordon, E. The Anti-alcohol movement in Europe. Reprint [S. l.]: Kessinger, 2007, S. 11; Tanner, J., »Die ›Alkoholfrage‹«, S. 147-168; Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 46. Im Schweizer Abstinent wurde Bunge als »Vater der modernen Abstinenzbewegung« bezeichnet (»Gustav von Bunge«, Schweizer Abstinent 45 /46 (1920), S. 89. 77 [Blocher, E.,], »Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum von Bunges Alkoholfrage«, Internationale Monatsschrift 11 (1911), S. 401 ff. 78 Vgl. International Order of Good Templars, »Ritual of the Independent Order of Good Templars for Subordinate Lodges« (Chicago: Right Worthy Grand Lodge, 1864), S. 23. 79 Bunge, G. v. Die Alkoholfrage, S. 13. Knapp zwei Dekaden später richtete sich Bunge jedoch gegen den raffinierten Zucker. 80 Vgl. dazu Tanner, J., Fabrikmahlzeit, insbes. S. 60-75. 206 Die Rhetorik der Natürlichkeit der im alkoholgegnerischen Kon text immer wieder unter Berufung auf verschiedene Natürlichkeitspostulate vorgebracht wurde. Gerade indem er seine physio logische Expertise bei diesem Vortrag in den Vordergrund rückte, bestärkte er die Vorstellung einer gegebenen Naturnorm, die durch systematische Methodik erruiert und verallgemeinert werden könne.81 Bevor diese ernährungsphysiologischen Debatten im kommenden Ab- schnitt behandelt werden, steht zunächst das in Bunges Alkoholfrage be- sonders präsente Motiv der Täuschung im Zentrum. Gerade über seine Berufung auf eine naturwissenschaftlich festge stellte und damit ›wahre‹ Natürlichkeit bestärkte der Physiologe den von Derrida prägnant auf die »Lust an einer Erfahrung ohne Wahrheit«82 zugespitzten Vorwurf. Zu- nächst umriss Bunge die wahrhaftigen, »edlen Freuden«, die in seiner Ar- gumentation den Status von anthropologischen Konstanten einzunehmen schienen. Diese ›wahren‹ Freuden vermutete er in der »Leichtigkeit im Überwinden körperlicher Anstrengung«, wobei Bunge der bewegungs- aktiven »Freude an der schönen Natur« eine hervor ge hobene Bedeutung beimaß.83 Während diesbezüglich der Naturbezug ohne negatives Gegen- beispiel eine präskriptive Norm suggerierte, berief sich seine Bewertung von ›guter‹ sozialer Interaktion auf eine einfache Gegenüberstellung: Un- terhaltungen, die unter dem Einfluss berauschender Getränke geführt wer- den, hätten per se weniger Tiefgang als in nüchternem Zustand geführte Interaktion. Als Folge würden sich abstinente Menschen »in natürlicher Weise« nach gemeinsam geteilten Idealen gruppieren, während »Bierge- sellschaften« bloß aufgrund des »künstlich« durch den Alkohol angeregten »Geselligkeitstrieb[s]« zusam men fänden. Zur Betonung des täuschenden Charakters dieser Unterhaltungen erzählte Bunge von der ernüchternden Feststellung, dass sich die meisten seiner unter Alkohol einfluss geführten Diskussionen am nächsten Morgen als Banalitäten entpuppt hätten.84 Mit seinen persönlichen Erlebnisberichten appellierte der ehemalige Korps- student Bunge an den Erfahrungshintergrund seiner Zuhörerschaft. Das Motiv der Täuschung durchzog Bunges gesamte Alkoholfrage. So verwies der Physiologe etwa auf die alkoholinduzierte Illusion der Wärme, die im Kontrast zur messbaren Körpertemperatur der Berauschten in Wirklichkeit doch abnehme. Überdies beschrieb er die Trunkenheit als

81 Vgl. dazu Möhring, M., Marmorleiber, S. 28 f. 82 Derrida, »Die Rhetorik der Droge«, S. 249. Zu den Zusammenhängen von Wahr- heit, Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit vgl. Kapitel 4. 83 Bunge, G. v. Die Alkoholfrage, S. 23. 84 Ebd., S. 22 ff. Auch Forel brachte dieses Argument in Forel, A., Abstinenz oder Mä- ßigkeit? (Wiesbaden: Bergmann, 1910), S. 6. Bunges »Alkoholfrage« 207

»künstliche« Lähmung der unangenehmen, aber zweckgerichteten Ge- fühlszustände wie etwa der »Langeweile«.85 Dieses Befinden, so Bunge, sei im Menschen angelegt, um diese auf einen real existierenden Hand- lungsbedarf hinzuweisen. Alkohol vermindere dieses wichtige Gefühl je- doch kurzfristig. Irrtümlicher weise werde die Lähmung oder »Narkose« dieses sinnvollen, aber unangenehmen Gefühls vielfach als Erregung in- terpretiert. Zwar war das Motiv des »täuschenden Weines« bereits vor Bunges Alkohol frage in Guttempler-Ritualen verankert, jedoch stützten sich die dabei postulierten »Wahrheiten« weitgehend auf »göttliche Offen- barungen«.86 Bunge hingegen verdeutlichte seinen Anspruch auf eine ob- jektive Erfas sung der Wirklichkeit anhand einer in seiner Rede stetig im- plizierten, aber nie belegten Messbarkeit körperlicher Zustände durch physiologische Parameter. Für Furore sorgte der aus Dorpat stammende Bunge in erster Linie mit seiner Forderung, der gesamten Bevölkerung die Abstinenz als gesellschaft- liche Pflicht aufzuerlegen: Die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung entbinde »[…] niemand[en] von der Pflicht, durch die Macht des Beispiels auf die- jenigen zu wirken, welche nur durch völlige Enthaltung zu retten sind«.87 Damit übernahm er die im angelsächsischen Sprachraum bereits verbrei- tete Annahme, dass gewisse Individuen nur über totale Enthaltsamkeit »ge- rettet« werden könnten und kombinierte dies mit der radikalen Schuldzu- weisung »Die Verführer sind die Mäßigen«88 an die trinkende Gesellschaft. Obwohl dieses Argument von einigen Zeitgenossen als Kernelement der Bunge’schen Argumentation ausgemacht wurde,89 war dieselbe Anklage bereits ein halbes Jahrhundert zuvor etwa durch die British and Foreign Temperance Society artikuliert worden.90 Mit dieser Überzeugung verschob sich der Fokus weg vom einzelnen ›Problemtrinker‹ hin zum Total-Al-

85 Zu diesen gedachten Selbstschutzmechanismen vgl. Tanner, J., Fabrikmahlzeit, S. 54 f. 86 Vgl. auch International Order of Good Templars, »Ritual of the Independent Or- der of Good Templars for Subordinate Lodges«, S. 21 f. Vgl. dazu den in Kapitel 1.3 diskutierte Verweis der Basler Mission auf Epheser 5:18 (Evangelische Missionsge- sellschaft (Basel), Ordnung für die evangelischen Gemeinden der Basler Mission auf der Goldküste, § 131, S. 36 f.). 87 Bunge, G. v. Die Alkoholfrage, S. 18. 88 Bunge, G. v., Ein Wort an das »Blaue Kreuz«. 89 Vgl. etwa Oettli, M., Die Abstinenzbewegung in der Schweiz (o. O.), S. 12. 90 British and Foreign Temperance Society, »A brief view of the operations and prin- ciples of temperance societies« (Pamphlet, 1834), S. 2: »temperate drinkers are the chief promoters of drunkenness«. Vgl. dazu auch Levine, H. G., »The Discovery of Addiction«, S. 159. 208 Die Rhetorik der Natürlichkeit koholkonsum gesamter Gesell schaften. Zusätzlichen Nachdruck verlieh Bunge dieser auf einen »Volkskörper« abstra hierenden Perspektive durch die »rassenhygienische« Färbung der Alkoholfrage. Er ging von einem »na- türlichen« Selektionsprozess des »Kampf[e]s ums Dasein« aus, in dem nur die klügsten Menschen bestehen würden.91 Diese 1886 noch eher beiläufig formulierte darwinistische Grundhaltung verstärkte sich zur Jahrhundert- wende, während der sich Warnungen vor einer drohenden »Entartung« be- sonders auch aus Bunges Umfeld häuften.92 Derartige Klagen bestärkte der Physiologe mitunter mit seiner »Still-Hypothese«. Bunges Warnung vor einer durch chronischen Alkoholkonsum einge schränk ten Stillfähigkeit kulminierte in den Worten »Ein Säugetier, das nicht säugen kann, ist ein entartetes Geschöpf«.93 Mit der Fähigkeit zum Stillen setzte er eine Natur- norm voraus, der eine Mutter – trotz denkbarer Alternativen – zu entspre- chen habe. Diesem Beispiel folgend zielte der Anti-Alkohol-Diskurs auf die Verfestigung fixer Konstanten ab. Dies ist bemerkenswert, da der Flexi- bilitätsnormalismus in der darwinistischen Vermutung einer permanenten Evolution, wie sie durch die Sozial hygienikerinnen und Sozialhygieniker der Schweiz stark vertreten wurde, bereits angelegt wäre.94

»Unsere Gewebe sind gar nicht darauf eingerichtet, mit jedem Material gespeist zu werden«95

Neue Verfahrenstechniken zur Konservierung von Lebensmitteln oder zur Sichtbar machung von Bazillen veränderten die Konsumgewohnhei- ten vieler Europäerinnen und Europäer nachhaltig.96 Die damit einher- gehenden rasanten Veränderungen des Schwel len jahr zehnts verschärften auch die Frage nach der Identifikation einer »natürlichen« Ernährung, der als menschlichem Grundbedürfnis eine zentrale Bedeutung zukam. Diese

91 Bunge, G. v. Die Alkoholfrage, S. 17. 92 So urteilte auch Bunge zur Jahrhundertwende: »Der schwerste Verbrecher ist der, der die Keimzelle vergiftet.« (Bunge, G. v., Internationale Monatsschrift 5 (1902), S. 137) 93 Bunge, G. v. »Die Quellen der Degeneration«. Die Still-Hypothese war bereits 1909 umstritten: Vgl. Agnes Bluhms Kritik im Schweizer Abstinent 3 (1909) sowie Scharffenbergs Kritik in der Internationalen Monatsschrift 6 (1912), S. 214 ff. 94 Dies wird im dritten Teil dieses Kapitels ausgeführt. 95 Bunge, G. v. Die Alkoholfrage, S. 1. 96 Zu den Veränderungen bezüglich der Ernährung in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts vgl. Baumgartner, J., »Ernährungsreform«, in Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, heraus gegeben von Kerbs, D. (Wuppertal: Hammer, 1998), S. 115-126 (117). Bunges »Alkoholfrage« 209

Frage wurde besonders intensiv in den sozialhygienisch geprägten Foren der Abstinenzbewegung diskutiert, wobei sich in diesen Debatten ›kon- servative‹ mit ›progres siven‹ Tendenzen überlagerten: Die ›konservative‹ Gleichsetzung von »Natürlich keit« mit »Ursprünglichkeit« war nicht nur im ernährungsreformerischen Flügel der Lebensreformer beliebt, sondern auch in weiten Teilen der Alkoholgegner schaft. Die alkohol gegnerischen Ziele und Weltanschauungen überschnitten sich mit vielen Anliegen der Lebensreform, wobei Wolfgang Krabbe die Ersteren jedoch aufgrund einer weniger ausgeprägten gnostischen Erlösungsideologie eher als Sozialreform denn als Lebensreform bezeichnet.97 Überdies fehlten Forderungen nach Kleidungsreform oder Freikörperkultur in den untersuchten Zeitschriften der Alkoholgegnerschaft, die auch aus bürgerlichen Kreisen Zulauf hatten. Stattdessen bezogen sich viele Beiträge auf die vermeintlich bessere Leis- tungsfähigkeit der vorherigen Generationen, die sie den ›natürlicheren‹ Konsum gewohnheiten zuschrieben.98 Gleich zeitig verwiesen andere Bei- träge auf den Aufstieg von naturwissenschaftlich geleiteten Beobachtungen von kleinsten Stoffen und Organismen, die im deutsch sprachigen Raum in Bezug auf die Ernährungs physiologie stark durch Justus von Liebig ge- prägt wurden. Diese ›progressi ven‹ Ansichten trauten den Wissenschaften zu, die als »natürlich« vorausgesetzten Bedürfnisse des Menschen zu iden- tifizieren und die Nahrungs mittel daraufhin zu optimieren. Umgekehrt forderten sie vielfach eine »Reinigung« der Nahrungsmittel von unnöti- gen, möglicher weise schädlichen Inhalts stoffen. In den sich mit Wissen- schaft und Modernität identifizierenden sozialhygienischen Kreisen schien eine Mischform dieser beiden Tendenzen zu dominieren, die trotz der an- gestrebten Optimierung des Menschen in Bezug auf die Ernährung aus- geprägte konservative, sich auf altbewährte Erfahrungen stützende Züge aufwies. Dies illustrieren etwa die Empfehlungen Gustav von Bunges, der seinen Mitmenschen empfahl, frisches Obst und Gemüse beim Bauern an- stelle beim »Fabrikanten« zu beziehen.99 In der Ansicht, dass der mensch- liche Organismus aufgrund seiner evolutionären Entwicklung bestens an die einfach zu erntenden Früchte der Natur gewöhnt sei, machte sich Bunge – wie viele seiner abstinenten Mitstreiter – gegen »raffinierte« Pro- dukte wie Weißzucker oder Weißmehl stark. Für viele der Lebens reform-

97 Vgl. Krabbe, W. R., »Lebensreform / Selbstreform«, in Handbuch der deutschen Re- formbewegungen 1880-1933, herausgegeben von Kerbs, D. (Wuppertal: Hammer, 1998), S. 73 ff. 98 Vgl. »Kinder! Der Branntwein ist ein böses Getränk«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1895), S. 32. 99 Vgl. »10 Jahre ohne Bunge«, Schweizer Abstinent 23 (1930), S. 99. 210 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Bewegung nahestehenden Alkoholgegner, zu denen auch der von Forel zur Abstinenz überzeugte Pionier der Vollwertkost, Maximilian Oskar Bircher- Benner (1867-1939) gehörte,100 schien das industri elle »Raffine ment« von Lebensmitteln mit einer zweifachen Angst verbunden: Einerseits wurde befürchtet, dass infolge der Raffination wichtige Nähr stoffe, nach Bunge vor allem Eisen- und Kalkverbindungen (oder aus Bircher-Benners Sicht: gespeicherte Sonnenenergie oder »Lichtquanten«) verloren gingen. Dabei überschnit ten sich Bircher-Benners Empfehlungen weitgehend mit denje- nigen Bunges, der auch eine vitaminreiche und durch den Appetit angelei- tete Ernährung bei gleich zeitiger Ablehnung von »Reizmitteln« empfahl, jedoch die eiweißarme vegetarische Ernährung ablehnte und sich gegen den hygienischen Vegetarismus aussprach.101 Letzterer postulierte, dass der Mensch aufgrund seines dem »Menschenaffen« ähnelnden Gebisses und Verdauungssystems zum Verspeisen von Obst und Gemüse bestimmt sei.102 Als weitere ›konservative‹ Komponente suggerierten einige alkoholgegne- rische Warnungen latente Ängste vor »Verweichlichung«, Autarkie verlust und »Degeneration« als Folge der Gewöhnung an die scheinbar unnatürli- che »Zivilisationskost«.103 Forel etwa verbreitete Befürchtungen vor einem »künstlichen Bedürfnis […] nach weichen Kanapees, Sophas, Schlafrö- cken, feinen Speisen und dergleichen mehr, die den Menschen immer un-

100 Zu Bircher-Benner vgl. Lienert, M., »Bircher-Benner im System der Ernährungs- reform«, in Lebendige Kraft: Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im histori- schen Kontext, herausgegeben von Wolff, E. (Baden: Hier + Jetzt, 2010), S. 52-77; Barlösius, E., Naturgemäße Lebensführung: zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende (Frankfurt am Main etc.: Campus Verlag, 1997); Baum- gartner, J., »Ernährungsreform«, S. 115-126 (120 f.); Sollmann, W., Lebensreform und sozialistische Kultur: Vortrag, gehalten an der 29. Abgeordnetenversammlung des sozialdemokratischen Abstinentenbundes der Schweiz (S. A. B.) am 30. August 1931, in der Hochschule Bern (Bern: Verlag Sozialdemokratischer Abstinentenbund der Schweiz (S. A. B.), 1931). 101 Mit diesem Unterschied zwischen Eiweiß- und Kalorientheorien war Bircher- Benner in wissenschaft lichen Diskursen jedoch ein Außenseiter (vgl. Tanner, J., Fabrikmahlzeit, S. 82 f.). 102 Marina Lienert legt nahe, dass die verschiedenen Aspekte aus Bircher-Benners Reformkatalog bereits zuvor verbreitet waren. Vgl. Lienert, M., »Bircher-Benner im System der Ernährungsreform«, S. 55. Dazu auch: Krabbe, W. R., Gesellschafts- veränderung durch Lebensreform, S. 58 ff. 103 Vgl. Bunge, G. v., »Der wachsende Zuckerkonsum und seine Gefahren«, In- ternationale Monatsschrift 1 (1901), S. 1-3; »Nochmals die Zuckerfrage«, Interna- tionale Monatsschrift 3 (1901), S. 67-70. Fl., A., »Rassenhygiene und Ernährung«, Schweizer Abstinent B3 (1930), S. 15: »Unser Volk hat sich am Weißmehl blutarm gegessen.« Zu Max Bircher-Benners Beziehung zu Auguste Forel vgl. »Unser Welt- spiegel«, Schweizer Abstinent 17 (1937), S. 71. Bunges »Alkoholfrage« 211 fähiger machen, sich im Kampfe ums Dasein zu behaupten«.104 Im Kontext dieser Angst vor kollektiver Verweichlichung riet Bunge zum vollständi- gen Verspeisen von Obst, um die mit bloß weicher Kost unterforderten Verdauungsorgane an die Verwertung von härteren Kerngehäusen zu ge- wöhnen.105 Der sozialhygienische Diskurs war vom allgemeinen Angstbild des ›Muskelschwundes‹ durch drungen: Jegliche Formen einer auf Passivi- tät beruhenden Annehmlichkeit, sei es ein unterforderter Muskel, ein un- terfordertes Verdauungsorgan oder ein unterfordertes Hirn, drohten den Menschen aus sozialhygienischer Sicht zu verweichlichen. Das Unbehagen vor einer Verweichlichung schien sich dabei weitgehend auf die Angst vor dem Verlust einer ›ursprünglichen‹ Selbstgenügsamkeit zu beziehen. Im Zentrum stand demnach die Furcht vor einer Abhängigkeit gegenüber den angenehmen Technologien der ›Moderne‹. Weiter rieten die beiden Aushängeschilder der Abstinenzbewegung den »gesunden« Menschen, sich beim Kauf von als gesundheitsfördernd be- worbenen Spezialpräparaten zurückzuhalten, solange die Wissenschaft de- ren Schädlichkeit noch nicht zweifelsfrei ausgeschlossen habe. Stattdessen sollte man auf Altbewährtes setzen und sich in der Auswahl vom eigenen Appetit und – so Bunge – insbesondere dem bei Kindern beobacht baren, noch von keinen schädlichen Gewohnheiten »verfälschten« Appetit leiten lassen. So betrachtete der Physiologe weder den Bier- noch den Schnapsge- nuss als einem »ursprünglichen« Bedürfnis entsprungen, vielmehr seien die verbreiteten Trinksitten das Resultat einer »gewaltsamen« Angewöhnung unter Gruppendruck. Den bitter schmecken den alkoholischen Getränken hielt der Professor die süßen und energiereichen Frucht- und Beerensäfte entgegen, die dem Menschen ›von Natur aus‹ behagen würden und sich darüber hinaus durch Einkochen mit Zucker einfach konservieren ließen. Neben diesen einfachen Haltbarkeitsverfahren für Naturprodukte fan- den in den alkoholgegnerischen Zeitschriften auch aufwendigere Pro- zeduren, wie etwa der »Loderer-Apparat« zur Sterilisation alkoholfreier Obstsäfte, viel Zuspruch.106 Obschon sich mancher orts eine gewisse Skep- sis gegen derartige Technologien andeutete, schien der Verfall von Nah- rungsmittel für die Mehrheit der Alkoholgegnerschaft das größere Übel

104 Forel, A., »Alkohol und soziales Elend«, Internationale Monatsschrift 7 (1894), S. 204-216 (208). 105 Bunge, G. v., »Was sollen wir trinken?«, Internationale Monatsschrift 9 (1893), S. 257-263 (257 f.). 106 Vgl. Schweizer Abstinent 16 (1927), S. 183; 17 (1925), S. 73. Otto Loderer war in Bern als Trinker-Fürsorger tätig (vgl. Loderer, O., »Vom Wesen der Trunksucht«, Schweizer Abstinent 6 (1938), S. 23). 212 Die Rhetorik der Natürlichkeit zu sein. Die 1925 abgedruckte Abbildung 1 illustriert die Botschaft der Alkoholgegner schaft sehr kondensiert: Darin wurde der durch einen »Ko- bold« personifizierte Hefepilz verant wort lich gemacht für die verschwen- derische Transformation von kalorienreicher »Volks nahrung« zu einem kaum nahrhaften »Nervenreizmittel«. Die dem Gärungsprozess zuge- schriebene Verschwendung wurde mit der Gegenüberstellung der beiden Unterschrif ten »Nervenreizmittel« vs. »Volksnahrung« hervorgehoben. Zudem wurde das dabei entstehende Nebenprodukt, die Kohlensäure, als Kobold-Schweiß dargestellt, der letztendlich ungenutzt aus dem ers- ten Getränkebehälter entweicht. Auf dem gegenüberliegend abgebildeten Süßmostfass wird dieser Kobold durch die Sterilisierung manuell entfernt. Obwohl der Hefepilz als Organismus ohne menschliches Zutun in der Natur existiert, wurde er im alkoholgegnerischen Diskurs mit negativen Assoziationen versehen. Laut Bunge hatte dieser Pilz zu großem Anteil die »Fäulnis« von Lungen- und Zahngewebe zu verantworten. Auf eigene Sta- tistiken zurückgreifend postulierte Bunge gar eine natürliche Schutzlosig- keit der Menschen gegenüber dem Hefepilz: »Gegen solche Angriffe sind wir von der Natur nicht gewappnet.«107 Ausgehend von dieser Überzeu- gung wurde der »Kultur« die Aufgabe auferlegt, die bewusste Kultivierung jenes Pilzes als Bedrohung eines vorausgesetzten menschlichen Strebens nach kollektivem Überleben zu vermitteln. Die gärungsfreie Verwertung von Obst wurde ab der Mitte der 1920er-Jahre vermehrt beworben und eines der zentralsten Themen der Abstinenz-Propaganda in der Schweiz.108 Auch in internationalen Anti-Alkohol-Kampagnen stellte die mit Fäul- nis und Verschwendung konnotierte Gärung zur Jahrhundertwende ein beliebtes Thema dar. Eine bemerkens werte Reichweite erreichte die Bible Temperance Association, die alle englisch sprachigen Missionare mit einem Informationspaket zur »two wine theory« versorgte. Nach dieser Theorie, die den in der Bibel erwähnten »Wein« je nach Kontext als unvergore- nen Traubensaft (wenn der »Wein« gelobt wurde) oder als alkoholhaltigen Wein (wenn dieser kritisiert wurde) auslegte, erschien die Bibel damit als

107 Bunge, G. v., »Verfaulen bei lebendigem Leibe«, Internationale Monatsschrift 7 (1904), S. 213-215 (214). Eine ähnliche Erklärung verwendeten vegetarische Ex- ponenten, die davon ausgingen, dass sich unreine tierische Stoffe in den Verdau- ungsorganen ablagern und damit eine Fäulnis hervorrufen würden (vgl. Krabbe, W. R., Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 60; Teuteberg, H. J., »Zur Sozialgeschichte des Vegetarismus«, S. 58). 108 Vgl. dazu etwa: IBAA, Jahresbericht 1932, S. 3 ff.; Auderset, J. und Moser, P., Rausch & Ordnung, S. 110-117. Bunges »Alkoholfrage« 213

Abbildung 1: Die Gärung als Zerstörer von »Volksnahrung«. Illustration aus »Was bedeuten diese Bilder«, Schweizer Abstinent 16 (1927), S. 179. ein »Total Abstinence Book« und Jesus als ein »Total Abstainer«.109 Über- dies verlas ein Vertreter dieser Gesellschaft am World’s Temperance Con- gress von 1900 in London ein Gedicht, das die Gärung – analog zur Ab- bildung 1 – als eine Perversion und Verschwendung von Nahrungsmitteln darstellte: »God makes the clustering vine, but sinful man, perverse / Transforms the boon to poisonous wine, the blessing to a curse. The grain for food designed he takes, while thousands pine unfed. / And thence the poisonous liquor makes, instead of wholesome bread.«110

109 Rev. Pyper, J., »The Biblical Aspect of the Temperance Question«, in The World’s Temperance Congress of 1900, herausgegeben von Turner, J. (London: Ideal Pub- lishing Union, 1900), 119-125 (121). 110 Zitiert nach ebd., 121. Auch im deutschsprachigen Raum wurde die Gärung in calvinistischen Predigten bereits im 17. Jahrhundert verteufelt (vgl. Nolte, F., »›Sucht‹«, S. 51). 214 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Während diese Verse auch materialistische Aspekte wie die der Verschwen- dung oder der Giftigkeit kritisierten, zielte die normativ aufgeladene Botschaft allen voran auf die Vorsehung einer explizit angesprochenen göttlichen Autorität ab. Da demnach bereits der Konsum fermentierter Getränke im Widerspruch zu einer vorgesehenen mensch lichen Lebens- führung erschien, benötigte die weit aufwendigere Destillation keiner aus- führlichen Kritik mehr. Eine große Debatte in den alkoholgegnerischen Kreisen betraf die Frage, ob alkoholische Getränke überhaupt als »Nahrungsmittel« be- zeichnet werden dürften. Diese Frage wurde zumeist von Verfechtern der Isodynamie bejaht, zu denen sich etwa die Mediziner Max von Gruber oder Rudolf Wlassak zählten. Die Isodynamie folgte dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts dominanten, thermodynamisch geleiteten Sprechen über Stoffwechsel und propagierte eine Abstraktion der durch den Körper um- setzbaren Grundnährstoffe wie Zucker, Eiweiß und Fett unter die Kate- gorie »Kalorien«.111 Gegen diese Reduktion auf Brennwerte wehrte sich al- len voran Max Kassowitz, der dem Alkohol jeglichen Nährwert absprach. Inwiefern alkoholische Getränke als Nahrungsmittel gelten können wurde über Jahre hinweg im Rahmen des »Nährwert-Streits« debattiert, der erst ab 1912 an Intensität verlor. Am wenigsten Widerspruch schien Forels Fest- stellung zu provozieren, wonach Alkohol zwar tatsächlich Wärme produ- ziere und somit dem Körper einen geringen Energieanteil zuführen könne. Letztendlich sei er aber doch ein Gift und es mache keinen Sinn, ein »Gift« als Nahrungsmittel zu betrachten.112 Damit wurde die Substanz Alkohol nach protonormalistischer Strategie, d.h. unabhängig von der Dosis als Gift verdammt, gegen welches der menschliche Körper »von Natur her« nie eingerichtet sein würde. Noch gegenwärtig beanstanden Historiker wie Hasso Spode, dass sich die medizinische Alkoholforschung weitgehend auf eine »Alkoholscha- densforschung« beschränke.113 Die untersuchte Anti-Alkohol-Bewegung war an der Verfestigung einer derartigen »Alkohol schadensforschung« maßgeblich beteiligt, indem sie insbesondere aus medizinisch-hygienischer

111 Vgl. Kassowitz, M., »Tatsachen und Theorien«, in Internationale Monatsschrift 10 (1911), S. 345-359; Tanner, J., Fabrikmahlzeit, S. 71-75. Zur diskursiven Ordnungs- struktur vgl. Sarasin, P., Reizbare Maschinen, S. 242 f. 112 Vgl. Wlassak, R., »Tatsachen und Definitionen in der Frage nach dem Nährwert des Alkohols«, Internationale Monatsschrift 10 (1911) S. 445-458; Forel, A., »Alkohol als Nährstoff und kein Ende«, Internationale Monatsschrift 10 (1911), S. 361 f. 113 Besonders deutlich ist dieser Vorwurf formuliert in Spode, H., »Der ›Europäische Aktionsplan Alkohol‹ und seine Vorläufer«, S. 295-318. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 215

Perspektive an der naturalisierenden Normalisierung des menschlichen Körpers teilhatte. Dieser Prozess stand in einem engen Zusammenhang zum Sozial darwinis mus, dessen Rezeption wiederum durch die globale Konstellation des Koloni alis mus und den thematisierten Unterschieden verschiedener »Rassen« erheblich beein flusst wurde. Der denkbare Einfluss dieser kolonialen Konstellation auf die Naturalisie rung von vermuteten Körper-Alkohol-Interaktionen wird im folgenden Abschnitt diskutiert.

3. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte

Die eugenische bis sozialdarwinistische Rezeption der durch Charles Dar- win popularisierten Evolutionstheorie prägte die Abstinenzbewegung in der Schweiz maßgeblich. Die Akteure aus dem sozialhygienischen Um- feld beriefen sich regelmäßig auf Herbert Spencers Losung des als »Kampf ums Dasein« übersetzten »struggle for life«.114 Nicht nur gemäß Forels Prognose sollte jener Kampf zukünftig hauptsächlich »mit dem Gehirn durchgekämpft« werden,115 auch Bunge hatte in seiner Alkoholfrage pro- phezeit: »Man lasse doch die Menschen ungestört den Kampf ums Dasein kämpfen: Die Dummen werden untergehen, die Schlauen werden siegen; das ist der einzig mögliche, der einzig denkbare Fortschritt.«116 Unter den zahlreichen Warnungen vor alkoholbedingten Organschäden rückte damit im späten 19. Jahrhundert zusehends das Gehirn als Träger der geistigen Gesundheit in den Brennpunkt. Aufbauend auf die sozial darwinistischen Theorien Bénédict Augustin Morels (1809-1873) und Valentin Magnans (1835-1916) erschien der chronische Konsum des »Nervengifts« Alkohol zunehmend als eine ›künstliche‹ Bedrohung des kollektiven Überlebens – oder nach Bunges Zuspitzung als eine »Quelle der Degeneration«.117

114 So etwa in Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 17. Der englische Ausdruck wurde zuerst von Herbert Spencer artikuliert (Spencer, H., The principles of Biology (Williams and Norgate, 1864), I, S. 444) und fünf Jahre später auch von Charles Darwin aufgenommen. 115 Vgl. etwa Forel, A., Der Mensch und die Narkose (Basel, 1904), S. 9; Bleuler, E., Unbewusste Gemeinheiten, 2. Auflage (München: E. Reinhardt, 1906), S. 33. 116 Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 17. 117 Diese Losung popularisierte Gustav von Bunge zwar erst nach 1900, der Leitge- danke war aber bereits in seinen frühsten alkoholgegnerischen Schriften präsent. Vgl. Bunge, G. v., Die Quellen der Degeneration; Bunge, G. v., Die Alkoholfrage. Zur Wirkung Magnans vgl. Eadie, M. J., », epileptic seizures and Valentin Magnan«, Journal Royal College of Physicians of Edinburgh 39 (2009), S. 74. Laut 216 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Dem Alkoholkonsum wurde im Kontext der im Fin de Siècle verstärkt artikulierten »Entartungs«-Ängste eine zentrale Rolle zugeschrieben. Sinn- bildlich für die wachsende Popularität von Degenerationstheorien im deutschsprachigen Raum steht Max Nordaus erfolgreicher Wälzer Ent- artung, dessen Kernbotschaft eines befürchteten Niedergangs abendlän- discher Kulturen auch in den umgebenden Ländern durch verschiedene Best seller verbreitet wurde.118 Mitten in dieser Strömung stand Forel, der unter anderem Freundschaften mit dem italienischen Kriminalanthropo- logen Cesare Lombroso (1835-1909) oder mit dem deutschen Arzt Alfred Ploetz pflegte.119 Letztere vertraten einen biologischen Determinismus, der etwa in der 1905 durch den abstinenten Ploetz gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene eine Institutionalisierung erfuhr. Obschon Ploetz das Fach der Rassenhygiene als eigene Disziplin verstand, betrachteten viele abs- tinente Autoren jenes Gebiet als zentralen Bestandteil der Sozial hygiene. Selbst der um eine Abgrenzung zu der »darwinistischen« Abstinenz-Strö- mung bemühte Alfred Grotjahn pochte auf diese Zusammengehörigkeit.120

Spode wurde im sozialhygienisch geprägten, deutschsprachigen Anti-Alkohol-Dis- kurs weniger Charles Darwin rezipiert als Arthur de Gobineau, Valentin Magnan oder Bénédict Augustin Morel (vgl. Spode, H., Die Macht der Trunkenheit, S. 136). 118 Vgl. Nordau, M., Entartung, 2. Aufl. (Berlin: Duncker, 1893). Zu seiner Bedeu- tung und dem deutschsprachigen Diskurs vgl. Weingart, P., Kroll, J. und Bayertz, K., Rasse, Blut und Gene: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988). In England war neben dem Sherlock- Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle sowie Henry Maudsley auch Edwin Ray Lankester an der Popularisierung des Degenerations-Begriffs beteiligt (vgl. Pick, D., Faces of Degeneration: A European Disorder, c.1848–c.1918 (Cambridge etc.: Cambridge University Press, 1989), S. 155-221; Lankester, E. R., Degeneration: A Chapter in Darwinism and Parthenogenesis (New York: The Humboldt Publ. Co., 1892 [1880]). In französischen Sprachgebieten popularisierte der französische Schriftsteller Émile Zola mit seinem Roman L’Assomoir [Der Totschläger] die Idee der Entartung, wobei der Alkohol eine zentrale Rolle spielte (vgl. Pick, D., Faces of Degeneration, S. 74-96). Zu den Degenerationstheorien in den USA vgl. Valverde, M., »Degeneration Theories«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclopedia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, 2003); Valverde, M., »›Racial poison‹: Drink, male vice, and de- generation in first-wave feminism«, in Women’s Suffrage in the British Empire: Ci- tizenship, Nation and Race, herausgegeben von Fletcher, I. C., Levine, P. und Nym Mayhall, L. E. (New York: Routledge, 2000). Vgl. dazu auch die Ausführungen im Kapitel 1. 119 Vgl. Forel, A., Briefe – Correspondance 1864-1927 (Bern: Huber, 1968), S. 181, S. 305 & S. 375. Vgl. dazu auch Hans Walsers Anmerkung dazu auf S. 500. 120 Vgl. Grotjahn, A., »Entartung«, in: Grotjahn, A. und Kaup, I. (Hg.), Handwör- terbuch der sozialen Hygiene (Leipzig: F. C. W. Vogel, 1912), S. 264-273 (266). In Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 217

In der sozialhygienischen epistemic community, an der sich zahlreiche Hirn- und Nervenärzte beteiligten, dominierte zusehends die monistische An- schauung, wonach mentale Bewusstseinszustände in den Nervenfasern ein materielles Korrelat aufweisen. Besonders deutlich hatte etwa Forel das Ge- hirn als materielle ›Substanz‹ des Geistesleben propagiert.121 Ab den 1880er-Jahren wurde der eigenartige Umstand, dass längst nicht alle Alkohol konsumentinnen und -konsumenten einer chronischen »Trunksucht« verfielen, zunehmend mit unterschiedlichen Veranlagun- gen erklärt, wobei wiederum die Nerven fasern des Gehirns in den Vor- dergrund rückten. Dadurch ließ sich das Phänomen des »Alkoholismus« plausibel als eine Krankheit auslegen, deren angestrebte ›Heilung‹ in den Tätigkeitsbereich medizinischer Autoritäten fiel. Das in der Sozial hygiene dominante Postulat, wonach gewisse individuelle Bedürfnisse hinter das längerfristige Wohl eines Volkskollektivs zurückzustellen seien, konnte dabei in Bezug auf den Umgang mit ›Problemtrinkern‹ äußerst restriktive Züge annehmen. Dazu zählten nicht zuletzt die Forderungen der Eugenik, die von einem freiwilligen Verzicht auf das »Keimgift« Alkohol über den Verzicht auf Nachkommenschaft bis hin zu Zwangs sterilisierungen rei- chen konnten.122 Derartige Forderungen wurden im Namen einer »Ver- antwortung für das Leben«123 erhoben, wobei im sozialhygienischen Um- feld auffallend viele Postulate weniger auf den Lebenserhalt der gesamten Menschheit abzielten, sondern bestimmte Gruppen bevorzugten: Der deutschsprachige Diskurs war durchsetzt von Kategorien wie die einer »Germanischen Rasse«,124 eines »Europäische[n] Rassengemisch[es]«125 oder

Abgrenzung zu Ploetz und Wilhelm Schallmeyer forderte Grotjahn eine breitere empirische (v. a. eine anthropometrische) Grundlage zur Bestimmung einer »so- matischen Qualität«. 121 Vgl. etwa Forel, A., Hygiene der Nerven und des Geistes im gesunden und kranken Zustande für gebildete Laien und für Studierende, 7., durchges. und erweit. Aufl. (Stuttgart: Moritz Mittelbach, 1922); Meier, R., August Forel, S. 134. 122 Vgl. dazu den von Anton Leist herausgegebenen Sammelband Auguste Forel – Eugenik und Erinnerungskultur. Die Nähe vieler Sozialhygieniker zur Rassenhygi- ene wurde in Kapitel 1.4 erläutert. 123 Vgl. Foucault, M., Sexualität und Wahrheit, S. 138. 124 Jene Kollektivbezeichnung wurde hauptsächlich von Autoren aus Deutschland verwendet. Besonders präsent ist sie in der populären Erzählung Harringa. Vgl. Popert, H. M., Helmut Harringa: eine Geschichte aus unsrer Zeit (Dresden: Köhler, 1911), S. 286. Zur Popularität jenes Buches vgl. »Der Autor des ›Harringa‹ gestor- ben«, Schweizer Abstinent 4 (1934), S. 13 f. 125 Forel, Alkohol, Vererbung und Sexualleben, S. 22. Forels Kollege Alfred Ploetz schrieb von einer »bestbeanlagten« »weißen Rasse«: »Ziele und Aufgaben der Ras- senhygiene«, Schweizer Abstinent 22 (1911), S. 132. 218 Die Rhetorik der Natürlichkeit einer »weißen Rasse«.126 In diesen Kategorien schien die Vorstellung einer ›von der Natur‹ gegebenen, biologischen Zusammengehörigkeit als iden- titätsstiftendes Merkmal zu dominieren, dessen weitere Entwicklung viele Sozialhygienikerinnen und Sozialhygieniker durch bewusstes Handeln zu beeinflussen versuchten. Im auf genotypische ›Verbesserungen‹ abzielenden Programm der Ras- senhygiene stan den sich die eugenischen und malthusianischen Ansätze gegenüber. Während der Malthusianismus die Natur als eine selbstregu- lierende Entität verstand und dementsprechend einen laissez-faire-Ansatz postulierte, setzten die meisten Sozialhygieniker um die Jahrhundertwende auf die Eugenik, die sich für ein bewusstes Eingreifen in den Entwick- lungsprozess eines »Volkskörpers« aussprach. Besonders drastisch illus- trierte der Rassenhygieniker Ernst Rüdin diese Abwendung vom Laissez- faire-Ansatz. Dieser hielt 1903 fest, dass der Alkoholismus bereits an dem Punkt angelangt sei, »[…] wo der Schade[n], den er unseren Gesunden zufügt, schon lange bedeutend den Nutzen überwiegt, den er uns dadurch bringt, dass er Henkersdienste für eine gewisse Kategorie von Minderwer- tigen verrich tet«.127 In diesem Sinne äußerten sich auch Forel und Ploetz – sowie ein Leser brief schreiber aus dem Schweizer Abstinent, der mit den Worten »Ich habe stets Fühlung mit der Natur, die die Absichten Gottes so deutlich dolmetscht« eine Vereinbarkeit von »Rassenverbesserung« mit der biblischen Voll kommen heitsforderung propagierte.128 Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits aufgezeigt, wie auch Sozial- hygieniker auf einer ›phänotypischen‹ Ebene Charaktereigenschaften wie Fleiß, Ausdauer, Sparsamkeit sowie ein gefördertes »plastisches Denken« als einen Vorteil im Wettkampf ver schiedens ter Lebewesen darstellten.129 Diese »nützliche[n] Tugenden«130 wurden auch in asketisch-protestanti- schen Glaubenskontexten propagiert, jedoch erfuhren sie durch die abs-

126 Ploetz, A., »Ziele und Aufgaben der Rassenhygiene«, Schweizerische Abstinenzblät- ter 22 (1910), S. 132. 127 Rüdin, E., »Der Alkohol im Lebensprozess der Rasse«, Internationale Monats- schrift 12 (1903), S. 378-386 (386). 128 H. B., »Verträglichkeit«, Schweizerische Abstinenzblätter B1 (1911), S. 5. Vgl. Ploetz, A., »Der Alkohol im Lebensprozess der Rasse«, mit einer Einleitung über den Be- griff der »Rasse«, Internationale Monatsschrift 9 (1903), S. 276-289 (287); Forel, A., Malthusianismus oder Eugenik? Vortrag gehalten im neomalthusianischen Kongress zu Haag (Holland) am 29. Juli 1910 (München: Reinhardt, 1911). 129 Vgl. Forel, A., Über die Zurechnungsfähigket des normalen Menschen: Ein Vortrag gehalten in der Schweizerischen Gesellschaft für ethische Kultur in Zürich von Dr. August Forel, Zweite Auflage (München: Ernst Reinhardt, 1901). S. 9-13. 130 Vgl. Weber, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 25. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 219 tinenten Sozialhygieniker eine darwinistische Neuinterpretation: Einer- seits spekulierte Forel mit seiner neo-lamarkistischen Vererbungslehre der Blastophthorie131 über eine direkte Beein flussung des Genotyps durch den Phänotyp. Andererseits versprachen jene Tugenden Schutz vor solchen Instinkten, die in einem imaginierten Naturzustand als sinnvoll erach- tet wurden, jedoch nicht in der ›Moderne‹, in der raffinierte Genussmit- tel permanent verfügbar waren. Um mit Derrida zu sprechen, verspra- chen diese auf persön licher Enthaltung oder zumindest Zurückhaltung beruhenden Forderungen den »Schutz einer ›natürlichen‹ Normalität des Körpers«.132 Zur Verfestigung einer biologisch prädeterminierten Anpassungsfähig- keit an die Bedingungen der »Moderne« spielten koloniale Begegnungen mit sogenannten »Naturvölkern« eine zentrale Rolle.133 Aus der Sicht vie- ler Sozial hygieniker erschienen zahlreiche ›Kolonisierte‹ als derart »rück- ständig«, dass ihnen länger fristig das Aussterben drohte.134 Wie noch aus- geführt wird, wurde der exzessive Alkoholkonsum verschiedener Kulturen nicht nur zur Untermauerung des »death of the native«-Narrativs einge- setzt, sondern auch zur Perpetuierung von rassischer Differenz. Diese Per- petuierung fand sich im alkoholgegnerischen Diskurs nicht zuletzt auch in den postulierten ›Opfer‹- und ›Retter‹-Rollen, deren Grenzverlauf vielfach der sichtbaren Differenz zwischen schwarzer und weißer Hautfarbe folgte und dabei an die Vorstellung einer biologisch prädeterminierten Fähigkeit zur Selbstkontrolle anspielte.

131 Vgl. dazu Forel, A., Alkohol, Vererbung und Sexualleben, S. 5-11. 132 Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, S. 256. 133 Vgl. dazu Levine, P., »Anthropology, Colonialism, and Eugenics«, in The Oxford Handbook of the History of Eugenics, herausgegeben von Bashford, A. und Levine, P. (2010), S. 43-61. 134 Zum Motiv der vom Aussterben bedrohten »eingeborenen Rassen« vgl. Brantlin- ger, P., Dark Vanishings: Discourse on the Extinction of Primitive Races, 1800-1930 (Ithaca, NY: Cornell University Press, 2003); Levine, P., »Anthropology, Colonia- lism, and Eugenics«, S. 43-61 (insbesondere 47-51); McGregor, R., Imagined desti- nies: Aboriginal Australians and the doomed race theory, 1880-1939 (Carlton South, Victoria: Melbourne University Press, 1997). Im Gegensatz dazu reproduziert Kathryn Abbott für die Ureinwohner Nordamerikas das Narrativ, dass Alkohol deren Mortalität erhöht habe, ohne jedoch auf das Motiv des Aussterbens einzu- gehen (vgl. Abbott, K. A., »Native Americans: Drinking Patterns and Temperance Reform«, in Alcohol and temperance in modern history: An international encyclope- dia, herausgegeben von Blocker, J. S. et al. (Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, 2003), S. 446-449). 220 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Koloniale Bilder zum Alkoholgenuss

Bereits vor dem afrikanischen Branntweinhandel zirkulierten nordameri- kanische Erfahrungsberichte über den angeblich unkontrollierten Umgang indigener Bevölkerungen mit dem »Feuerwasser«.135 Die Ansicht, dass ge- wisse Völker zu keinem kontrollierten Alkoholgenuss fähig seien, wurde überdies durch die verheerenden Berich te der APS zur indigenen Bevöl- kerung Ozeaniens bestärkt.136 Folglich schrieb etwa der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn, dass der Branntwein sowohl bei »Indianern« als auch bei »übrigen Naturvölkern« zu einer »ungewöhnlichen Gier« führen würde, »der sie sich, so oft sie nur können, bis zur vollständigen Berauschung hingeben«.137 Im später erschienenen Handwörterbuch der Sozialhygiene verallgemeinerte der Sozialhygieniker diese Beobach tung auf alle »Unzi- vilisierten oder Halbzivilisierten«, welchen er jegliche Fähig keit zu einem selbstbe herrschten Umgang mit dem »ungewohnten Genussmittel« ab- sprach.138 Während der Sozialhygieniker sich damit auf verschiedene, über den ganzen Globus verteilte Völker bezog, waren dunkelhäutige »Stämme« aus dem subsaharischen Afrika in den Schilderungen des eng mit der APS verbundenen NRLTC besonders präsent.139 Nicht nur der norddeutsche Missionsinspektor Franz Zahn klagte 1885 über die den Spirituosen gegen- über »wehrlos« ausgesetzten »Eingeborenen«; elf Jahre später berichtete der deutsche Pastor Gustav Müller in einem verbreiteten Separatdruck aus der evangelischen Monatsschrift Afrika, der Branntwein habe »eine geradezu unheimliche Macht« über die Bewohner Westafrikas erlangt.140 Vergleich-

135 Vgl. dazu Abbott, K. A., »Native Americans: Drinking Patterns and Temperance Reform«. 136 Willis, J., »Indigenous Peoples«, S. 311-12; Bersselaar, The King of Drinks: Schnapps, S. 11; Simon Heap, »›We Think Prohibition is a Farce‹«, S. 23 f.; Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 71-74. 137 Grotjahn, A., Der Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung (Leipzig 1898), S. 171. 138 Grotjahn, A., »Alkoholismus«, in Grotjahn, A. und Kaup, I., Handwörterbuch der sozialen Hygiene (Leipzig: F. C. W. Vogel, 1912), S. 8. 139 Vgl. Pelham, T. H. W., »The present position of the native races question«, in The World’s Temperance Congress of 1900, herausgegeben von Turner, J. (London: Ideal Publishing Union, 1900), S. 98-102 (98); Willis, J., »Indigenous Peoples and the Liquor Traffic Controversy«, S. 311 f.; Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 11; Heap, S., »›We Think Prohibition is a Farce‹«, S. 23 f.; Akyeam- pong, E., Drink, Power, and Cultural Change; Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 71-74. 140 Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel«, S. 9-39 Müller, G., »Der Branntwein in Kamerun und Togo«, S. 7. Die Afrika war eine »Monatsschrift Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 221 bare Klagen über eine mysteriöse Macht- und Wehrlosigkeit der Völker Afrikas zum Umgang mit Alkohol wurden also von einem transnationalen Kollektiv verbreitet. Dabei kursierten im Anti-Alkohol-Diskurs verschiedene Einteilungen in »Völker«, »Stämme« oder »Rassen«, die vielfach mit gewissen verallge- meinerten Charaktereigenschaften assoziiert wurden. Obschon sich pro- filierte Rassenhygieniker um eine Differenzierung solcher Einteilungen bemühten,141 vermittelten zahlreiche Beiträge den Eindruck einer belie- bigen Austauschbarkeit jener Kategorien. Die populäreren Anti-Alkohol- Zeitschriften zielten in ihren Beiträgen zu Afrika vielfach auf die Differen- zierung zwischen »schwarzer« und »weißer« Hautfarbe als vorherrschende Unterscheidung ab. Eine vergleichbare Grenzziehung hat die Histori- kerin Birthe Kundrus auch im deutschen Kolonialdiskurs festgestellt.142 Im Gegensatz dazu vermittelten viele Berichte der Basler Missionare, die engeren Kontakt zu ihren »Missionsobjekten« suchten, vielfach feinere Unterscheidungen. Auch kam bei den Exponenten der Basler Mission der in England um 1900 präsente »death of the native«-Diskurs deutlicher zum tragen als bei der säkulareren Alkohol gegner schaft.143 In vielen Beiträgen kam eine Angst vor dem Aussterben sowie ein Bestreben nach dem Erhalt jener »dunklen Rassen« zum Ausdruck, wobei dieses Vor haben eher durch »brüderliche Nächstenliebe« als durch das anthropologisches Interesse, biologische Di- versität zu konservieren, begründet wurde. Unabhängig von der Motiva- tion rückte der Kampf gegen den Alkoholkonsum dieser Völker zusehends in den Vordergrund. Auch nach dem Ersten Weltkrieg, im Zuge dessen die Basler Mission ihre afrikanischen Missionsgebiete einbüßte, blieb das Mo- tiv des drohenden Aussterbens der »Urvölker« Afrikas in der Anti-Alkohol- Bewegung präsent.144 Im Kontext der zu untersuchenden Natürlichkeitsrhetoriken drängt sich die Frage auf, inwiefern die zum unterschiedlichen Trinkverhalten

für die sittliche und soziale Entwicklung der deutschen Schutzgebiete«, die vom Evangelischen Afrika-Verein herausgegeben wurde. 141 So beschrieb etwa Alfred Ploetz den Begriff der »Rasse« als noch ungenügend zur Einteilung der Menschen geeignete »Entwicklungs- und Erhaltungseinheit des Lebens«. Vgl. Ploetz, A., »Der Alkohol im Lebensprozess der Rasse, mit einer Einleitung über den Begriff der Rasse«, in Internationale Monatsschrift 11 (1903), S. 343-348 (244 f.) sowie 12 (1903), S. 378-386. 142 Kundrus, B., Moderne Imperialisten, S. 288 f. 143 Bayly, C. A., The birth of the modern world, S. 447 f. 144 Vgl. »Neger und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 12 (1925), S. 48. 222 Die Rhetorik der Natürlichkeit postulierten Erklärungs strategien eine Naturalisierung verfestigten. Der französische Philosoph Étienne Balibar hat in den späten 1980er-Jahren für die Epoche der Entkolonialisierung konstatiert, dass der auf der Idee der biologischen Vererbung begründete Rassismus sich zu einer neuen Form verändert hat, die auf die »Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen«145 abziele. Nach diesem Verständnis kann die Kultur durch den Rückgriff auf eine unberührbare »Ursprungsgeschichte« 146 die Rolle der Natur über- nehmen. Mit Blick auf den Anti-Alkohol-Diskurs zu den Zeiten des Ko- lonialismus stellt sich die Frage, inwiefern die verschiedenen alkohol- gegnerischen Erklärungsstrategien bereits Anteile eines solchen kulturellen Rassis mus enthielten. Dabei wird das Augenmerk zunächst auf die Basler Mission gerichtet, deren Missionare »im Feld« verschiedene Regionen des westafrikanischen »bible belts« aus eigener Erfahrung kannten. Die mis- sionarischen Erfahrungen wurden in Schweizer Zeitschriften des Blauen Kreuzes verbreitet, aber auch – mit größeren inhaltlichen Unterschieden – in den Foren der sozialhygienisch geprägten Alkoholgegnerschaft, die als zweites Akteurskollektiv beleuchtet wird. In einem weiteren Schritt lässt sich fragen, welche Botschaften jene Berichte über die Lage in den Kolo- nien an die europäische Bevölkerung transportierten.

Missionarische Verhaltenserklärungen zwischen Kultur, Klima und biologischer Prädetermination

Die Basler Missionsvertreter147 erklärten die in Westafrika scheinbar prä- valente Unfähig keit des ›Maßhaltens‹ weitgehend mit vier Faktoren: Be- reits im vorherigen Kapitel ausgeführt wurden erstens kulturelle Verhält- nisse, wie die Institution der Sklaverei, sowie zweitens die Vorstellung einer

145 Balibar, É. und Wallenstein, I., Rasse Klasse Nation: Ambivalente Identitäten (Hamburg, Berlin: Argument-Verlag, 1992), S. 28. Diese Form des kulturellen Rassismus im deutschen Kolonialdiskurs hat Birthe Kundrus besonders deutlich herausgearbeitet und aufgezeigt, dass der Begriff der deutschen Kultur letztend- lich eine unbestimmte »Worthülse« blieb, vgl. Kundrus, B., Moderne Imperialisten, S. 176 & S. 289. 146 Balibar, É. und Wallenstein, I., Rasse Klasse Nation, S. 30. 147 Obwohl weibliche Vertreterinnen der Mission auf den Missionsstationen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten (vgl. Konrad, D., Missionsbräute), fanden sich im Hinblick auf die alkoholgegnerische Agitation kaum Spuren. Dies steht nicht zuletzt mit dem Umstand in einem Zusammenhang, dass die männlichen Missionsvertreter in den untersuchten Periodika im Zentrum standen. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 223 vom »Aberglauben« ausgehenden »Sklaverei des Geistes«.148 Diese beiden Erklärungsansätze implizierten einen pädagogischen Optimismus, dass eine noch nicht ausgebildete Selbstbestimmung durch entsprechende Ein- griffe in die Gesellschaftstrukturen noch erreicht werden könne. Drittens erklärten einige Prediger den scheinbar erhöhten Alkohol-Konsum mit dem Klima, das mit erhöhter Trägheit und Durst in Verbindung gebracht wurde. Nur in Einzel fällen folgten die Missionsvertreter der in deutsch- sprachigen Debatten vertretenen Ansicht, dem Klima über anthropolo- gische Ansätze einen »rassisch niederziehenden« Einfluss zuzuordnen.149 Viertens bezogen einige Missionare das im Vergleich zu den Europäern scheinbar stark abweichende Verhalten ihrer »Missionsobjekte« auf unter- schied liche körperliche Ausprägungen. Mitunter durch die Perpetuierung des Klischees einer besonders ausgeprägten »Sinnlichkeit der Neger«150 zeichnete sich zusehends eine Tendenz ab, das Verhalten verschiedener Völker auf ethnische Zugehörigkeit zurückzuführen. Im Fall der Basler Missionare wurde die als exzessiv wahrgenommene Beraus chung der afrika- nischen Bevöl kerungs gruppen jedoch selten explizit auf biologische Unter- schiede zugeschrieben. Der seine Erfahrung als »langjährige[r] Negerarzt«151 betonen de Rudolf Fisch stellte mit seiner offenkundigen Verwunderung über die Funktionsweise des »Negerhirn[s]« dies bezüglich eher einen Aus- nahmefall dar.152 Vielmehr wurde das scheinbar von einer fixen Norm ab- weichende Verhalten der Afrikaner dem Klima sowie den in der Kultur eta-

148 Missionar Werner zitiert nach Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, 117. 149 Vgl. dazu Kundrus, B., Moderne Imperialisten, S. 162-173 (167). 150 Jahresbericht 1900 [BMA Y.2], S. 27. 151 Fisch, R., »Warum müssen wir in unseren Missionsgebieten den Alkoholismus be- kämpfen«, Vortrag gehalten am Blaukreuzhaus zu Basel (Juli 1913), BMA J 78a, S. 3. 152 Vgl. Fisch, R., »Wirkungen des Schnapshandels in Westafrika«, Internationale Mo- natsschrift 5 (1914), S. 145-155 (155). Vgl. auch Rudolf Fisch im Jahresbericht 1905 (D- 1-84b-19): »Negergedanken sind eben doch oft recht verschieden von den unsrigen.« Auch in britischen Missionsdiskursen war die Vorstellung von »different types of mind« verbreitet (Cleall, E., Missionary Discourses of Difference: Negotiating Other- ness in the British Empire, 1840-1900, Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies Series (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012), S. 166). Catherine Hall und Esme Cleall haben ab den 1860er-Jahren eine zunehmende Biologisierung der Unter- schiede durch britische Missionare festgestellt (vgl. Hall, C., Civilising Subjects: Met- ropole and Colony in the English Imagination 1830-67 (Chicago: University of Chicago Press, 2002), S. 338-379; Cleall, E., Missionary Discourses of Difference, S. 63). Karl Hammer macht den Wandel von einer »phi lantropischen« zu einer »rassistischen Mission« in den 1880er-Jahren aus (Hammer, K., Weltmission und Kolonialismus: Sendungsideen des 19. Jahrhunderts im Konflikt (München: Kösel, 1978), S. 199). 224 Die Rhetorik der Natürlichkeit blierten Institutionen der Sklaverei sowie des Aber glaubens zugeschrieben. Dennoch wiesen einige Erklärungen auch explizit biologistische Züge auf. Derartige auf eine biologische Prädetermination verweisende Verhaltens- erklärungen sind besonders interessant, da sie für die Perpetuierung des europäischen Suchtdiskurses ein starkes Potenzial bargen: Sie bestärkten nicht zuletzt die deterministische Denkfigur, menschliches Verhalten we- sentlich auf materielle Erbanlagen zurückzuführen. Während die ersten beiden Erklärungen über den Untersuchungszeit- raum hinweg häufiger artikuliert wurden, schwand ab 1900 der missionari- sche Optimismus, dass die kulturelle sowie sittlich-religiöse »Hebung« durch den legitimen Handel erreicht werden könne. Stattdessen mehrten sich die Klagen über eine mangelnde »Sonntagsheiligung« vieler Afrikaner, die an den Sonntagen lieber die Arbeit auf der Kakaoplantage bestellten, als die Sonn- tagsmesse zu besuchen. Die sich mehrenden Ausschlüsse von sogenannten »Negerchristen« aus den Gemeinden wurden mehrheitlich als Folgen des Ka- kaobooms dargestellt, wobei sich einige Missionare um den kolonialen Ge- meinplatz einer geistigen Inferiorität der Afrikaner bemühten. Aussagen wie »Die schwache, sinnliche Natur der Neger hielt den Versuchungen der neuen Lage nicht stand […]«153 trugen eine ideo logische Geisteshaltung mit teil- weise rassistischem Unterton in sich, die von Differenzen des Erscheinungs- bildes auf ererbte, negativ bewertete Verhaltens muster schloss. Besonders aufschlussreich in diesem Hinblick ist eine missionsinterne Umfrage zum Ausmaß des Alkoholkonsums in den westafrikanischen Mis- sionsgebieten, die im Dezember 1913 von Basel an die verschiedenen Mis- sionsstationen versandt wurde. Darin wurde um Angaben zum Alkohol- konsum und dessen Auswirkungen auf die allgemeine Bevölkerung sowie auf die Christengemeinden gebeten. Ein eigenständiger Punkt des Fragen- katalogs war die offen gehaltene Frage nach ersten Anzeichen einer allfäl- ligen »Degeneration«. Überdies wurde gefragt, ob eine über die Genera- tionen hinweg abnehmende Wider stands kraft gegenüber der Verlockung des Trinkens zu beobachten sei. Der Umfrage war eine Korrespondenz zwischen Fisch und dem für Afrika zuständigen Missionsin spektor Oettli vorangegangen, in welcher der Missionsarzt warnte: »Die geschwächte Wi- derstandskraft gegen Schädigun gen der Trinker pflanzt sich mit unheim- licher Sicherheit auf die Kinder derselben fort.«154 Ein Zusammenhang

153 Zitiert nach Franc, A., Wie die Schweiz zur Schokolade kam: der Kakaohandel der Basler Handelsgesellschaft mit der Kolonie Goldküste (1893-1960) (Basel: Schwabe, 2008), S. 84 f. 154 Fisch, R., »Alkoholismus in den Missionsgebieten«, 1913, BMA J 78a), S. 5. In Kapitel 4 wird ausgeführt, wie Letzterer von Aburi ausgehend eine Blaukreuzbe- Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 225 zwischen der Korrespondenz und der Umfrage ist zudem aufgrund der ab- schließenden Frage im Katalog denkbar: Mit dieser erkundigte sich Oettli, ob die dem Anschein nach mittlerweile »eingeschlafenen« Blaukreuz- vereine wieder ins Leben gerufen werden könnten und sollten. Die auf diese Erhebung eingegangenen Antworten der Missionare sind besonders interessant, da sie einen Querschnitt von verschiedenen Haltungen – zu- mindest für die Situation in Kamerun – ermöglichen. Da überdies die Frage nach einer allfälligen »Degeneration« zu beantworten war, vermit- teln die Auskünfte auch Meinungen über den Zusammenhang von Trink- verhalten und biologischen Differenzen.155 Als Oettli 1914 die eingegangen Antworten dem Missionsarzt zusandte, antwortete dieser in einem Dankesbrief eher ernüchtert: »Ich habe sie durchgesehen und mich über weniges gefreut, über manches gewundert und über noch mehr tief betrübt.«156 Fischs Enttäuschung galt neben den immer noch dem Schnapsgenuss frönenden Afrikanern besonders seinen ehemaligen »Brüdern«, deren zwölf erhaltene Antworten die Abstinenz- forderungen mehrheitlich ablehnten. Selbst der von Fisch das Jahr zuvor noch zurückhaltend gelobte »Bruder« Baltasar Groh157 hielt die Blaukreuz- arbeit in Afrika für verfehlt und befürwortete den Konsum von Palm- wein. Während sich alle außer einem Missionar in Bezug auf die Gefahr des Schnapses und die Notwendigkeit eines durch die Regierung zu ver- anlassenden Verbots für die Einfuhr von Branntwein einig waren, ging

wegung initiierte und auch nach seiner letzten Rückkehr in die Schweiz im Mai 1911 der alkoholgegnerischen Agitation verpflichtet blieb. An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass über die längerfristige Entwicklung jener Bewegung vieles ungewiss bleibt, jedoch finden sich zumindest Hinweise auf das Fortbestehen der Vereine in Aburi und Mampong im Jahr 1931 (vgl. Monninger, J. F., »Von der Goldküste«, Evangelischer Heidenbote 5 (1931), S. 71-74). Der aus alkoholgegneri- scher Sicht aktivste oder zumindest auffälligste auf Westafrika stationierte Basler Missionsvertreter selbst hatte bereits seit 1909 keine Berichte mehr zur Blaukreuz- bewegung verfasst, da er während seiner letzten beiden Jahre in Westafrika das nördliche Togo bereiste. Es ist wahrscheinlich, dass die durch ihn angeregten Blaukreuz-Vereine zwischen 1909 und 1913 noch mehr Mitglieder verloren als im Jahr zuvor. Vgl. Fisch, R., Begleitschreiben zum »II. Jahresbericht über die Vereine des blauen Kreuzes auf der Goldküste. Über das Jahr 1908«, BMA D–1, 90-21-8; vgl. dazu auch Fisch, R., »Unsere Blaukreuzvereine auf der Goldküste«, Evangeli- scher Heidenbote (1909), S. 34. 155 Es waren nur zwölf Antworten der in Kamerun stationierten Missionare im Ar- chiv auffindbar, jedoch nicht die Antworten der Missionare der Goldküste (vgl. »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914, BMA E 10,15). 156 Rudolf Fisch an Oettli, 30. J [wahrscheinlich August] 1914, BMA BV 985. 157 Fisch, R., »1. Jahresbericht 1907«, BMA D-1-88-22-7, S. 19. 226 Die Rhetorik der Natürlichkeit deren Meinung über die vom Palmwein oder Maisbier ausgehende Ge- fahr auseinander. Rund die Hälfte der Antworten beschrieb nur den un- mäßigen Palmweinkonsum als ernsthafte Gefahr, verwiesen aber gleich- zeitig auf die Seltenheit jenes Phänomens. Während drei Missionare von einer besorgniserregenden Zunahme jenes fermentierten Getränkes be- richteten, sprachen sich zwei für die Akzeptanz des Palmweins aus. Davon fiel insbesondere Friedrich Spellenbergs 19-seitiger »Appell an die Liebe zum Neger« durch einen radikalen und rassistischen Grundton auf. Der in der Wir-Form verfasste Appell, der von Gottfried Ammann mitunter- zeichnet wurde, bemühte sich zunächst um das klassische Argument des Mäßigkeitsstandpunktes: »Wir möchten aber mit warmer Teilnahme dafür eintreten, dass man dem Neger seinen Palmwein belasse, ja sich freuen darüber, dass er ihn trinkt. Eine Gefahr, dass er am Alkohol zugrunde gehen könnte, be- steht erst dann für ihn, wenn er einmal keinen Palmwein mehr trinkt. Denn dann hat er meist schon Bekanntschaft mit dem verächtlichen[?] Schnaps.«158 Im Gegensatz zur »Sklaverei des Schnapses«, welcher Spellenberg Fol- gen wie »Degene ra tion«, »Blödigkeit« sowie »Dekadenz« zuschrieb, sei er dank dem Palmwein den Heiden im ungezwungenen, heiteren Rahmen »menschlich« näher gekommen als »durch die doktrinärste Predigt«.159 Da- bei pries der Prediger jenes Getränk als einen Friedens stifter, der seines Er- achtens wohl auch von Jesus konsumiert worden wäre. Noch bemerkens- werter sind seine Ausführungen zu den Grenzen des Evangeliums bei den Afrikanern, die Spellenberg, sich selbst als »Kenner der Negerpsyche«160 verstehend (man beachte die Stereotypisierung), als eine in der Bibel ver- ankerte rassische Inferiorität beschrieb: »Dem stillen, schweren Ernst des ›An-sich-selbst-arbeitens‹ ohne äu- ßere Schaustellung und Gepräge sucht man beim Neger vergeblich. Und ich für meine unmaßgebliche Person fürchte, dass diese Durchbil- dung auch nie soweit gedeihen werde. Gewiss, der Neger wird selig wer- den wie wir aus Gnaden und um Jesu willen; aber die Höhe der Neu- testamentlichen Ethik und, setzen wir hinzu, der germanischen Rasse wird er nie erreichen, nicht einmal der Erkenntnis nach, geschweige

158 Friedrich Spellenberg in »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914, BMA E 10,15, S. 1. 159 Ebd., S. 4. 160 Ebd., S. 15. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 227

denn im Umsetzen in die Tat. Die Urtypen der Völkerfamilien, wie sie uns in Ham und Japheth gezeichnet sind, waren nun einmal grund- verschieden voneinander, waren ›Die ungleichen Brüder‹. Und dieser Grundcharakter ist beiden geblieben und wird es bleiben, sonst könnte ja die Schrift nicht Recht behalten.«161

Bereits Spellenbergs Glaube an die Höhe der »germanischen Rasse«, wel- cher er gegenüber einer »romanischen Rasse« eine Überlegenheit in Bezug auf eine »Tiefe der Religiosität« zuschrieb,162 ist bemerkenswert. Mehr noch erstaunt aber seine durch die Bibel begründete, fatalistische Überzeugung, dass die Bewohner Kameruns zwar selig werden könnten, jedoch zu einer autonomen Form der Vervollkommnung im Sinne der »neutestamentlichen Ethik«163 nicht geeignet seien. Eine Folge dieser rassisch prädeter minierten Vorstellung der »Negerpsyche« war, dass der Missionar auch Blaukreuz- vereine ablehnte. Zwar räumte er ein, dass diese Vereine bei den »unglei- chen Brüdern« auf kurze Sicht durchaus Zuspruch erreichen könnten, al- lerdings würden diese hauptsächlich von den ritualhaften Zeremonien mit Fahnen, Symbolen sowie theatralischen Worten und Gebärden angelockt, in welchen der Missionar eine »Rückerinnerung auf’s Heiden tum«164 zu erkennen glaubte. Spellenbergs Äußerungen waren kaum repräsentativ für die Basler Mis- sionare. Im Gegenteil: Seine Beziehung zu seinen »Brüdern« gestaltete sich bereits drei Jahre vor der Umfrage derart problematisch, dass er kurzfris- tig aus der Basler Mission ausgeschlossen wurde. Ihm wurde vorgewor- fen, dass er es nicht verstehen würde, mit den Eingeborenen umzugehen, da er selbst »innerlich noch ungebrochen« sei und stattdessen einem von der Selbstliebe dominierten ›Eigenwillen‹ gehorche.165 Trotzdem fand sich die durch Spellenberg radikal formulierte Ansicht, dass den »Negern das Rückgrat«166 zur Absti nenz fehle, ansatzweise bei etlichen Missionaren.167 Zwar fielen die wenigen Antworten zur Frage, ob bereits Spuren einer De-

161 Ebd., S. 16 f. 162 Ebd., S. 17. 163 Ebd., S. 16. 164 Ebd., S. 15. 165 Briefe von Friedrich Spellenberg an das Komitee, 31. 12. 1910; 12. 10. 1910 [BMA BV 1501]. 166 Friedrich Spellenberg in »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914, BMA E 10,15, S. 14. 167 Rudolf Fisch schrieb etwa von einer fehlenden »moralischen Kraft«, vgl. »Der Blaukreuzverein in Aburi«, BMA D-1-88-22g-3, S. 1. 228 Die Rhetorik der Natürlichkeit generation beobachtbar seien, sehr zurückhaltend aus; zumeist wurde auf die Notwendigkeit eines längeren Beobachtungszeitraumes hingewiesen. Jedoch wurden in den Jahresberichten der Basler Mission Aussagen abge- druckt, die vor einer biologischen Degeneration warnten und befürchte- ten, »dass weite Kreise des Volkes durch den Alkohol in ihrer physischen und geistigen Leistungs fähigkeit geschwächt« würden.168 Indem die Mis- sionare in ihren Antworten auf die Umfrage die Bewohner des »gin belts« jedoch generell als durch den europäischen Schnaps besonders bedroht be- schrieben, hielten sie den diskursiven Raum offen, auf welchem die sozi- aldarwinistisch geprägten, kolonialen Stereotype – nach Spellenbergs Wor- ten etwa des »sanguinistischen Negers«169 – Verbreitung fanden. Aufgrund der unvollständigen Quellenlage bleibt vorerst unklar, inwiefern sich die Wahrnehmungen der an der britisch regierten Goldküste stationierten Missionare von den erhaltenen Berichten ihrer in Kamerun stationierten Brüder unterschieden. Unter den in Kamerun stationierten Basler Missio- naren stellte Spellenbergs Antwort in Bezug auf die Deutlichkeit des for- mulierten rassischen Determinismus sowie seines Bezugs zu Hams Fluch eine Ausnahme dar,170 auch wenn die meisten anderen Antworten über ihre Kritik am »Heidentum« einen Anspruch auf Überlegenheit in Bezug auf ihre christlich geschulte Persönlichkeit vermittelten. Damit kritisierten sie nicht nur die als »Aberglaube« wahrgenommenen Glaubenssysteme, son- dern allgemein eine dem pietistischen Lebenswandel widersprechende Le- bensweise, der hauptsächlich das widerstandslose Nachgeben den eigenen Affekten und Trieben gegenüber zum Vorwurf gemacht wurde. Thorsten Altena argumentiert in einem Beitrag zum »Rassenbegriff« evangelischer Missions gesellschaften, dass es wohl einzelne Missionsver- treter mit klar rassistischen Verständ nissen gegeben haben mag, aber dass diese eher eine Ausnahmeerscheinung darstellten. Die Mehrzahl der Missionare sei zwar von einer Überlegenheit der christlich geprägten westlichen Kultur ausgegangen, jedoch hätten die wenigsten diese wahr- genommene kulturelle ›Rückständigkeit‹ in den Missionsgebieten über sozial darwinistisch ausge machte Defizite aufgrund von Rassenzuschrei-

168 Jahresbericht 1914 [BMA Y.2], S. 94. 169 Friedrich Spellenberg in »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914, BMA E 10,15, S. 15. 170 Friedrich Spellenberg in »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914, BMA E 10,15, S. 16. Zur Verbreitung jenes sich auf von Hams Fluch beziehenden Narrativs vgl. Whitford, D. M., The curse of Ham in the early modern era: The Bible and the justifications for slavery (Farnham: Ashgate, 2009). Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 229 bungen begründet.171 Paradigmatisch für eine derartige Ansicht können Otto Lädrachs Ausführungen zur »Kulturfähigkeit der schwarzen Rasse« angeführt werden. Darin berichtete der Missionar von der Kunst fertigkeit und der schnellen Lernfähigkeit der Afrikaner und folgerte: »Der dreifache Druck der Sklaverei, des Aberglaubens und des Klimas hat die Tatkraft und die intellektuelle Entwicklung des Negers gelähmt und gehemmt, aber die Kulturgrundlage ist sicherlich vorhanden; es ist nicht recht zu sagen, der Neger hätte nur Nachahmungstalent.«172 Auch wenn einige Missionare mit ihren Aussagen den Gemeinplatz des den Europäer »nachäffenden« Afrikaners bestärkten, dessen Imitationen den europäischen Bedeu tungs zuschreibungen teilweise zuwiderliefen,173 so schien Lädrachs Glaube an die Kultur fähigkeit der afrikanischen Bevöl- kerung der vorherrschenden Überzeugung seiner Brüder zu entsprechen. Selbst der von einem spezifischen »Negerhirn« schreibende Missions arzt Fisch benutzte diesen mit Rückschrittlichkeit aufgeladenen Begriff haupt- sächlich im Kontext einer (Kultur-)Kritik an den vermeintlich »klugen, geschäfts gewandten Europäer[n]«.174 In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass das Brannt wein verbot auf den Basler Missionsstati- onen sowohl für Afrikaner als auch für Europäer galt. Überdies äußerten auch radikale Vertreter wie Spellenberg keine Zweifel in Bezug auf die uni- verselle Erlösungsfähigkeit als höchste Form von Gleichheit. Trotz dieser egalitären Aspekte trauten viele der im Rahmen der Alkoholumfrage von 1913 /14 eingegangenen Antworten der lokalen Bevölkerung einen selbst- bestimmten Umgang mit Branntwein nur sehr beschränkt zu. Damit ver-

171 Altena, T., »Etwas für das Wohl der schwarzen Neger beitragen – Überlegungen zum ›Rassenbegriff‹ der evangelischen Missionsgesellschaften«, in Rassenmisch- ehen – Mischlinge – Rassentrennung zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, herausgegeben von Becker, F. (Stuttgart: Steiner, 2004), S. 56. 172 Lädrach, O., »Ein Beitrag zum Verständnis der Kulturfähigkeit der Schwarzen Rasse«, Evangelischer Heidenbote 5 (1910), S. 34. 173 Mit Homi Bhabha lassen sich Imitationen als Formen der Mimikry verstehen, die zwischen reformerischer Anpassung an koloniale Herrschaft und ironischem Widerstand dazu oszilliert; vgl. Bhabha, H. K., »Of mimicry and man: The ambi- valence of colonial discourse«, S. 121-131. Vgl. auch Nancy Rose Hunts Ausführun- gen zu der Approbation von westlichen Gütern in Zaire: Hunt, N. R., »Bicycles, birth certificates, and clysters: colonial objects as reproductive debris in Mobutu’s Zaire«, in Wim M. (Hg.): Commodification. Things, Agency and Identities (Müns- ter: LIT, 2005), S. 123-141. 174 Fisch, R., »Wirkungen des Schnapshandels in Westafrika«, Internationale Monats- schrift 5 (1914), S. 145-155 (155). 230 Die Rhetorik der Natürlichkeit breiteten die Missionare im Allgemeinen zwar nicht ein explizit sozialdar- winistisches, biologistisches Bild der Afrikaner, implizit ließen sich ihre Äußerungen aber in ähnlicher Weise auslegen.

Koloniale Verhaltenserklärungen in den Medien des Blauen Kreuzes

In einer deutlicheren Art und Weise fand sich das Klischee des intellektu- ell zurückgebliebenen und deshalb zu einem moderaten Alkoholkonsum kaum befähigten Afrikaners in den Zeitschriften des Blauen Kreuzes. Be- merkenswerterweise griff der Illustrierte Arbeiterfreund bei einer Mehrheit der Darstellungen zur Lage in Afrika auf missionarische Quellen zurück, allen voran auf das Calwer Missionsblatt und den Evangelischen Heidenbo- ten der Basler Mission. Nur selten berief sich die Zeitschrift auch auf an- thropologisch-orientierte Berichte von Forschungsreisenden. So legte ein 1886 erschienener Beitrag die Vermutung nahe, dass die Bewohner Afrikas »am wenigsten widerstandsfähig gegen den verhängnisvollen Zauber des gebrannten Wassers«175 seien. Die Vermutung wurde durch den Umstand belegt, dass auf Madagaskar die »nichtafrikanischen Hovas« im Gegen- satz zu den afrikanischen »Stämmen« dem Branntwein nicht erlegen seien. Diese Begründung verweist deutlich auf eine biologische Erklärungsstra- tegie, in der das noch in den späten 1920er-Jahren präsente Motiv des dro- henden Aussterbens mitschwang.176 Stellenweise, wie folgendes Beispiel aus dem Jahr 1928 verdeutlicht, berief sich der Arbeiterfreund auch auf Selbst- einschätzungen von ›Kolonisierten‹, die ihre angeblich fehlende Fähigkeit zu einem maßvollen Alkoholgenuss mit ihrer Hautfarbe in Verbindung brachten. So wurde ein dunkelhäutiges Mitglied des Blauen Kreuzes fol- gendermaßen zitiert: »Wir sind nicht Weiße, wir sind Schwarze. Die Weißen haben auf dem Tisch eine Flasche und ein Glas, und damit ist es genug. Bei uns, den Schwarzen, müsste die ganze Flasche im Glas Platz haben.«177 Obwohl dieser Beitrag eine nicht-biologistische Verhaltenserklärung nicht ausschließt und aus dem kolonialen Kontext Neu-Kaledoniens stammt, trug er zur Verfestigung eines grundlegenden Unterschiedes zwischen ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ bei. Eine weitere Perpetuierung jener Distinktion illustriert die Reaktion der Blaukreuz-Zeitschrift auf eine 1929 durch den

175 »Der Branntwein in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1886), S. 10. 176 Vgl. »Neger und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 12 (1925), S. 28. 177 »Das Blaue Kreuz in Neu-Kaledonien«, Illustrierter Arbeiterfreund 10 (1927), S. 39. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 231

Christenrat der Goldküste an die Untersuchungskommission der Gold- küste gerichteten Denkschrift, die mit dem Ziel, ein Verbot durchzusetzen, zunächst eine Beschränkung des Schnapshandels verlangte.178 Waren diese Forderungen in der Denkschrift als Schutzmaß nahmen für die »morali- schen und sozialen Grundlagen der Afrikanischen Rasse«179 formuliert wor- den, vereinfachte die Blaukreuz-Zeitschrift jenes Anliegen zur Vermittlung an die Schweizer Leserschaft eher großzügig: Da »Schwarze« weitgehend als »große Kinder« zu betrachten seien, sollten diese – wie auch die Kin- der in der Schweiz – keine Spirituosen verabreicht bekommen.180 Auch der hier bei explizit vertretene Paternalismus musste nicht zwingend auf eine biologisch determinierte Verhaltens-Differenz abzielen, implizierte doch gerade die Metapher der Kindheit die Möglichkeit einer ›Reifung‹ durch wohlwollende Schulung. Mit Sicherheit wurde dabei aber die Norm eines permanent reflektierenden Subjekts verfestigt.

Sozialhygienische Erklärungen der Verhaltensunterschiede

Im Vergleich zu den Basler Missionsvertretern wurden biologistische Erklä- rungen zum angeblich exzessiveren Trinkverhalten der afrikanischen Bevöl- kerung in der sozialhygienisch geprägten Abstinenzbewegung ausgeprägter und öfter artikuliert. Besonders deutlich exponierte sich dabei Auguste Fo- rel, der zwischen sogenannten »Kulturrassen« und »minderwertigen Ras- sen« unterschied. Erstere erschienen ihm am geeignetsten, um die intellek- tuellen Herausforderungen der Zukunft zu meistern, während er Letztere als »unrettbar dem Untergang geweiht« betrachtete.181 Auf verschiedenen Austragungen der Internationalen Kongresse vertrat er die Ansicht, dass die fehlende Selbstkontrolle auf ein »inferiores Gehirn« zurückzuführen sei. Am Kongress von 1901 ließ er etwa verlauten:

178 Diese Denkschrift ist abgedruckt und kommentiert in »Eine Kundgebung der Goldküstechristen gegen den Schnaps«, Evangelischer Heidenbote 1 (1931), S. 10-12 (11). 179 »Eine Kundgebung der Goldküstechristen gegen den Schnaps«, Evangelischer Hei- denbote 1 (1931), S. 10-12. 180 Vgl. »Afrika und der Schnaps«, Illustrierter Arbeiterfreund 7 (1931), S. 28: »Dass Kindern keine geistigen Getränke gehören, darüber ist man sich heute mehr und mehr einig. Nun sind aber die schwarzen Bewohner Afrikas, wie man weiß, sozu- sagen als große Kinder zu betrachten und demgemäß die alkoholischen Getränke für sie besonders gefährlich, wie auch die tatsächliche Erfahrung hundertfach bewiesen hat.« Dieser Kommentar erfolgte auf eine im Evangelischen Heidenboten 1 (1931) abgedruckte Denkschrift der Basler Mission. 181 Forel, A., Alkohol, Vererbung und Sexualleben, S. 22. 232 Die Rhetorik der Natürlichkeit

»Der abstinente Wilde erträgt ungeheure Quantitäten des schlechtesten Schnapses viel besser als der Europäer. Wenn er trotzdem am Alkoho- lismus zugrunde geht, so kommt das erstens daher, dass seine schwache Intelligenz und seine zügellosen Triebe ihn die Gefahr nicht erkennen und das maßlose Trinken nicht durch einen höheren Willen einschrän- ken lassen. […] Kurz, sein inferiores Gehirn ist unserer hohen Kultur nicht angepasst.«182

Die hierbei von Forel auf die afrikanischen »Wilden« qua ›natürlicher‹ Veranlagung verallgemeinerte Trinkfestigkeit war keinesfalls unbestrit- ten, sondern rieb sich mit den Berichten angesehener Kolonialbeamter wie etwa Frederick Lugard.183 Die Ansicht, dass über ethnische Zugehö- rigkeit definierte Gruppen gegenüber bestimmten psychoaktiven Sub- stanzen entweder eine besonders hohe Empfindlichkeit oder eine beson- ders hohe Toleranz aufweisen würden, dominiert nach Alastair Roy noch gegenwärtige Debatten.184 Bemerkenswert ist an diesem Zitat allen voran der Umstand, dass der Hirnforscher die angeblich fehlende Selbstkontrolle durch einen »höheren Willen« direkt auf die materielle ›Substanz‹ des Ge- hirns bezog. Derartige Ansichten wurden durch die Internationale Monats- schrift weiter verbreitet. Forels Referenz an den »schlechtesten« Schnaps und seine anschließenden Ausführungen legen nahe, dass er insbeson- dere die dunkelhäutigen Bewohner des subsaharischen Afrikas zu den mit intellektueller Zurückgebliebenheit umschriebenen »Wilden« zählte. Je- doch nahm der Zürcher Psychiatrieprofessor nicht nur die Situation in Afrika als problematisch wahr, sondern auch in anderen Weltregionen. So stellte für ihn die starke Präsenz der Afroamerikaner in den Südstaaten der USA eine Bedrohung der »weißen Rasse« und »Kultur« dar.185 In sei- nem Rechtfertigungsprogramm griff der Hirnforscher unter anderem auf das Motiv der Nachahmung zurück und unterstellte der dunkelhäutigen

182 Forel, A., »Die Alkoholfrage als Kultur- und Rassenproblem«, Internationale Mo- natsschrift 6 (1901), S. 161-168 (167). Abdruck des Vortrages aus dem Bericht über den VIII. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus, Wien, 8.-14. April 1901, S. 29-34. 183 Vgl. Lugard, F., The Dual Mandate in British Tropical Africa (Edinburgh, London: W. Blackwood & Sons, 1922), S. 603 f. Im deutschsprachigen medizinischen Dis- kurs schien die Trinkfestigkeit noch weniger auf rassische Unterschiede bezogen worden zu sein. 184 Vgl. dazu Roy, A., »Avoiding the Involvement Overdose: Drugs, Race, Ethnicity and Participatory Research Practice«, Critical Social Policy 32, no. 4 (2012), S. 646- 654. 185 Vgl. Forel, A., Malthusianismus oder Eugenik?, S. 15. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 233

Bevölkerung, durch Imitation über ihr eigentlich ›geringes‹ Hirngewicht hinwegzutäuschen: »Weil der Neger sich der Kultur gern anschmiegt, hat man oft seinen wirklichen Wert weit überschätzt. […] Solche Rassen jedoch, die eine hohe, geniale Kultur errungen haben, besaßen – das darf man sicher annehmen – ein durch eine lange vorhergehende phylogenetische Ent- wicklung dazu veranlagtes Gehirn. Ihr Hirngewicht beweist es.«186 Als Erklärung für die scheinbar fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten der Europäer diente dem Hirnforscher einerseits – wie auch in Lädrachs Er- klärung – das »günstigere« Klima Europas, andererseits habe der in Europa präsentere »Rassenkampf« die Entwicklung vorangetrieben.187 Unterstützt wurde Forel in den sozialhygienischen Foren unter anderem durch Alfred Ploetz, der am Internationalen Kongress von Basel 1895 das rassenhygie- nische Programm und seine Beziehungen zum Alkohol umriss. Das von Ploetz formulierte Ziel einer »weitere[n] Ausbreitung und Sicherstellung der weißen Rasse, die wir heute als die bestbeanlagte ansehen müssen, aber nur ein Viertel der Erdbevölkerung ausmacht«,188 wurde auch in der Guttemplerzeitschrift Der Schweizer Abstinent abgedruckt. Damit schien das Guttempler-Ideal der Brüderlichkeit in diesem Fall auch in Europa – wenn auch viel weniger deutlich als in den USA – an rassistische Grenzen zu stoßen.189 Allerdings fanden sich auch im sozialhygienischen Diskurs der 1930er- Jahre vereinzelt Stimmen wie die des Wiener Psychiaters Thomas Koro-

186 Forel, A., Alkohol, Vererbung und Sexualleben, S. 22. Das Pamphlet basiert auf einem am Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus 1905 in Budapest gehaltenen Vortrag (vgl. Forel, A., »Alkohol und Geschlechtsleben«, S. 87-96). Gleichzeitig wurde ein Ausschnitt, der den zitierten Auszug enthielt, in den Schweizerischen Abstinenzblättern 16 (1906), S. 95 abgedruckt. Den Topos des imi- tierenden Afrikaners führte Forel bereits an seinem Vortrag am Internationalen Kongress von 1897 aus (vgl. VI. Congrès International contre l’abus des boissons alcooliques, Bruxelles, 1897, S. 68). Zu Forels angenommener Korrelation zwischen Hirngewicht und »Mehrwertigkeit« vgl. Bugmann, M., Hypnosepolitik, S. 251. 187 Vgl. »Auguste Forel beantwortet kritische Fragen«, Internationale Monatsschrift 10 (1901), S. 307-313. 188 Ploetz, A. »Ziele und Aufgaben der Rassenhygiene«, Schweizerische Abstinenzblät- ter 22 (1910), S. 132. Vgl. dazu Ploetz, A. »Alkohol und Rassenhygiene«. 189 In den Südstaaten der USA provozierten die rassistischen Praktiken, Menschen dunkler Hautfarbe nicht in den Guttemplerorden aufzunehmen, bereits im letz- ten Drittel des 19. Jahrhunderts eine langjährige Abspaltung vom Orden (vgl. Fahey, D. M., Temperance and racism: John Bull, Johnny Reb, and the Good Templars (Lexington, KY: University Press of Kentucky, 1996)), S. 153. 234 Die Rhetorik der Natürlichkeit lanyi, die den bei den »primitiven Völkern«190 verbreiteten Alkoholis- mus als Folge eines »primitiven religiösen Bewusstseins« 191 interpretierten. Diese auf psychologische Erklärungen ausgerichteten Stimmen drangen aber erst ab 1933, also ab der Krise des bekanntesten Prohibitionsregimes vereinzelt in die Internationale Monatsschrift.192 Auch wenn Forel im sozi- alhygienischen Diskurs auf überdurchschnittliche Beachtung zu stoßen schien, können seine Stand punkte nur bedingt verallgemeinert werden. Insgesamt zeigt sich innerhalb der evangelisch geprägten als auch der sozi- alhygienisch geprägten Akteurskollektive ein breites Meinungs-Spektrum. Dabei scheint die Annahme plausibel, dass eine derartige interne Hetero- genität auf einer internationalen Ebene den Austausch zwischen den ver- schiedenen Standpunkten erleichterte.

Alkohol in Afrika an den Internationalen Kongressen gegen den Alkoholismus

In den untersuchten Anti-Alkohol-Zeitschriften zeigte sich eine Tendenz, den Topos des »willensschwachen Afrikaners« zu verfestigen. Daraus lassen sich jedoch keine aussagekräftigen Rückschlüsse auf die Vorstellungen der Leserschaft ableiten. Zu klären bliebe noch, inwieweit derartige Stereotype in der Schweizer Alkoholgegnerschaft akzeptiert wurden und inwiefern die einzelnen Akteure die offensichtlich weit verbreitete Annahme einer Diffe- renz auf kulturelle oder biologische Bedingungen zurückführten. Denkbar wäre nicht zuletzt ein sich gegenseitig verstärkendes Ineinandergreifen der Komplexe der »Rasse« und der »Kultur«. Zumindest wurde diese Denk- figur auch durch internationale Foren wie der Internationalen Monats- schrift oder den Internationalen Kongressen verbreitet. Bereits vor Forel und Ploetz spekulierten einige Teilnehmer dieser Veranstal tungs reihe über verschiedene Wirkungen von alkoholischen Getränken bei verschiedenen Bevölkerungs gruppen. Der überseeische Branntweinhandel wurde schon in der zweiten, von Forel organisierten Ausgabe in Zürich 1887 thematisiert, an der J. Grant Mills das NRLTUC vorstellte und zur Gründung weiterer Landesvereine anregte. Auf dem vierten Kongress 1893 beschrieb George Liengme, der als Missionsarzt der Mission Romande im Hinterland der

190 Korolanyi, H., »Alkohol und Religion«, Internationale Monatsschrift 2 (1933), S. 74-85 (75); 4 (1933), S. 194-202. 191 Ebd., S. 74-85 (77). 192 Vgl. dazu den programmatischen Aufruf von Jalmar Furuskog: Furuskog, J., »Der Alkoholgenuss und die moderne Psychologie«, Internationale Monatsschrift 4 (1933), S. 205 f. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 235

Delagoa Bay tätig war, die unheimlich schnelle Gewöhnung des »wilden Afrikaners« (»Africain sauvage«) an den Branntwein, infolge derer dessen anfängliche Abneigung sehr schnell in Gier umschlage.193 Der Missionsarzt erläuterte in seinem Vortrag nicht, worauf diese Tendenz zurückzuführen sei. Ebenso fehlten vertiefte Ausführungen zur Unterscheidung zwischen ›wilden‹ und ›kultivierten‹ Afrikanern. Die Annahme scheint plausibel, dass gerade diese Offenheit anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit bot, ihre Vorstellung einer »rassisch« variierenden, in die Körper eingeschriebenen Prädisposition im Hinblick auf die Empfänglich- keit für Alkohol zu verfestigen. Im Hinblick auf rassische Zuschreibungen war der Kongress von 1895 in Basel besonders bemerkenswert: Auf diesem berichtete unter anderem der Jurist Hermann Christ als Komitee-Mitglied der Basler Mission über den überseeischen Spirituosen handel. Nach Beendigung seines Referates forderte Christ die Anwesenden auf, im Namen des Kongresses eine Er- kundigung beim Deutschen Reichstag einzureichen, bis wann die 1889 beschlossene Untersuchung zur Beschränkung des überseeischen Spiritu- osenhandels zu einem Abschluss kommen solle.194 Da derartige Vorstöße zu »materiellen Fragen« gemäß § 10 der Statuten des Kongresses untersagt waren, beantragte Forel die Streichung jenes Verbotsparagrafen aus den Statuten. In einer lebhaften Diskussion fielen zwei Voten gegen diese vor- geschlagene Änderung auf: Zuerst empfahl Edmund Milliet, langjähriger Direktor der 1888 geschaffenen Eidgenössischen Alkoholverwaltung, 195 den Regierungen der Großmächte statt der vorgeschlagenen »Erkundi- gung« lediglich die Protokolle der Vorträge zukommen zu lassen. Darauf

193 Liengme, G., »L’alcool dans les Provinces de Lourenço Marques et de Gass«, in Compte-rendu du 4me congrès international contre l’abus des boissons alcooliques (La Haye, 1893), S. 104: »L’Africain sauvage, en effet, doit être enseigné à boire l’eau de vie. Il éprouve au premier moment pour cette boisson une certaine aversion, qui malhereusement ne tarde pas à disparaître, une fois qu’il s’est décidé à y toucher.« Georges Liengme war wie Forel abstinent und spezialisierte sich auf die Hypnose. Er stand in engem Kontakt mit Henri-Alexandre Junod, der später beim Bureau international pour la défense des indigènes eine wichtige Rolle spielen sollte. Eine Kurzbeschreibung von Georges Liengmes Karriere findet sich in: Harries, P., But- terflies & barbarians, S. 28 f. 194 Vgl. Christ, H., »Die Wirkungen des Alkohols in den Gebieten der evangelischen Mission«, in Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Miss- brauchs geistiger Getränke (Basel, 1895), S. 156-161. 195 Zu Milliet vgl. Scherrer, S. B., »Milliet, Edmund Wilhelm«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D31848.php [Stand: 6. 3. 2008]. 236 Die Rhetorik der Natürlichkeit folgte ein Votum von Hermann Blocher, der als langjähriger Herausgeber der Internationalen Monatsschrift, Gründer des SAB und gleichzeitiger Mar- xist besonders aktiv in der sozialhygienischen Abstinenzbewegung war. Blocher begründete seinen Einwand einerseits fatalistisch mit einer ver- muteten Aussichtslosigkeit einer derartigen Resolution, andererseits pro- pagierte er eine biologistische sowie rassistische Differenzierung zwi schen verschiedenen Völkern: »Zum zweiten liegt gar kein Grund vor, gerade zu Gunsten der inferio- ren Rassen eine solche Ausnahme zu machen. Die Durchseuchung der viel höher stehenden europäischen Völker mit Branntwein – ich denke vor allem an Irland, Belgien und den slavischen Osten – ist mindestens ebenso schrecklich und muss uns doch viel näher liegen als die Zustände in Afrika.«196 Blocher verwies damit auf den Gemeinplatz einer rassischen Unterlegenheit der Afrikaner, der in der von ihm herausgegebenen Monatsschrift besonders ab 1895 oft thematisiert wurde – auch durch den als »Menschenfreund« ge- würdigten Forel, der in späteren Publikationen einen unabwendbaren Un- tergang sogenannter »minderwertige[r] Rassen« beschwören sollte.197 Ob- wohl auch erstaunlich viele Texte der Basler Missionare die Denkfigur des »willensschwachen Afrikaners« vermittelten, blieb Blochers Ansicht, wo- nach der Alkoholhandel in Afrika zu unwichtig für eine »Kundgebung« sei, auf dem Kongress eine Minderheitsmeinung. Forels Antrag auf Streichung des besagten Verbots wurde von einer deutlichen Mehrheit angenommen. In den zwei Dekaden zwischen 1905 und 1925 widmete sich mindestens ein Vortrag pro Kongress dem Spirituosen handel in Afrika, während sich Forel und Hercod im Rahmenprogramm der Kongresse regelmäßig mit ihren evangelisch geprägten Mitstreiterinnen und Mitstreitern trafen, um die weiteren Schritte des Internationalen Komitees zu organisieren. Aus dem internationalen Komitee ging 1911 die Fédération internationale pour la pro- tection des races indigènes hervor, in der Hercod ab den späten 1920er-Jahren

196 Hermann Blocher in der Diskussion zu Christs Vortrag, in Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke (Basel, 1895), S. 161-164 (163). 197 Forel, A., Alkohol, Vererbung und Sexualleben, S. 22. Vgl. auch Fiebig, [J.], »Der Alkohol in den Tropen«, Internationale Monatsschrift 3 (1901), S. 78-86 & 6 (1901), S. 149-156); Forel, A., »Welche Bedenken kann man noch gegen den Abstinenz- standpunkt vorbringen?«, Internationale Monatsschrift 10 (1901), S. 307-313 (309). Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 237 einen besonderen Aktivismus entfaltete.198 Die in derartigen internatio- nalen Foren regelmäßig verhandelten Diskussionen über afrikanische »Na- turvölker« und ihren Umgang mit Alkohol spielten insbesondere die un- terschiedlichen Hautfarben als Marker einer vermuteten Rassendifferenz eine wichtige Rolle. Obschon die Tendenz zu einer Biologisierung der als unterschiedlich wahrgenommenen Verhaltensmuster deutlicher der sozial- hygienischen Seite zugeordnet werden kann, lassen sich auch aus dem re- ligiös geprägten Umfeld zahlreiche Beschreibungen finden, die die Lesart einer genetischen Prädisposition zumindest nicht ausschlossen. Die Biolo- gisierung der den Afrikanern zugeschriebenen eingeschränkten Selbstkon- trolle tritt noch deutlicher zutage, wenn die mit einer Tierhaftigkeit asso- ziierten Motive der »Nachahmung« oder der »Dressur« beleuchtet werden.

Nachahmung und Tierhaftigkeit

Das Klischee des »imitative negro«199 war in allen untersuchten alkohol- gegnerischen Verbänden – auch bei den Basler Missionaren oder dem NRLTUC – besonders bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs präsent. Obschon die Sozialhygieniker eine allgemeine »Nachahmungssucht des Menschen«200 vehementer auf die Schweiz und Europa bezogen und für die dortige Ausbreitung des Alkoholismus verantwortlich machten, versahen sie ihre Beschreibungen des allgemeinen Verhaltens der Afrikaner gleich- zeitig mit auffälligeren tierischen Konnotationen. Diese Verweise auf eine Tierhaftigkeit treten besonders deutlich in Forels Äußerungen zutage, der zur Betonung der Asymmetrien in Bezug auf eine vermutete »Kulturfähig- keit« zuweilen auch den Begriff der Dressur bemühte: »Man darf erstens die Dressierbarkeit mit der selbständigen Kulturfä- higkeit nicht verwechseln. Ein Wedda und selbst ein Neger ist gut dres- sierbar, erlernt vortrefflich unsere Kultur, kann sie aber unmöglich al- lein schaffen und nicht einmal erhalten (siehe Haïti und Liberia). Eine Rothaut, ein Zigeuner oder ein Beduine ist dagegen schwer dressierbar, obwohl an und für sich viel eher selbständig kulturfähig.«201

198 Vgl. NRLTUC, 26th Annual Report 1912-13, S. 4; NRLTUC, 23rd Annual Report 1909, S. 16 ff. 199 NRLTUC, 23rd Annual Report 1909, S. 7. 200 Bunge, G. v., Die Alkoholfrage, S. 28. 201 Vgl. Forel, A., »Welche Bedenken kann man noch gegen den Abstinenzstand- punkt vorbringen?«, S. 309. 238 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Mit dem dabei zum Ausdruck gebrachten Verständnis von »Kulturfä- higkeit« spielte Forel wieder auf das zur Ausübung der »menschlichen Freiheit« so wichtige »plastische Denken« an, das er als Basis der Selbst- bestimmung betrachtete. Die scheinbar variierende Selbstständigkeit ver- schiedener »Rassen« verbildlichte der Ameisenforscher daraufhin durch den Vergleich zwischen einer leicht dressierbaren Katze und einem »geistig höher stehenden« Fuchs. Denselben, zwischen den Kategorien der »Rasse« und der »Tierart« oszillierenden Referenzrahmen fand sich im alkoholgeg- nerischen Diskurs auch in zahlreichen anderen Beiträgen. Neben dem ver- breiteten Rückgriff auf das Motiv der Dressur, das eine bewusste, durch den Menschen bewirkte Manipulation von tierischem Verhalten implizierte, fällt das Motiv der Nachahmung auf. Dieses brachte die Idee einer Diffe- renz zwischen »überlegenen«, erfinderischen Wesen und den »inferioren« ›Anderen‹ zum Ausdruck, wobei Letztere die kulturellen Schöpfungen der Ersteren bloß einer ›äußerlichen‹ Form nach anzueignen in der Lage schie- nen. Damit wurde den Nachahmenden vielfach ein mangelndes ›inneres‹ Verständnis des Sinnes, Zweckes oder der Konsequenzen der übernomme- nen Kulturprodukte vorgeworfen. In diesem Sinne erschien das nachah- mende Verhalten als nahezu unbewusster Akt, eher Produkt narzisstischer Instinkte (wie etwa die »Geltungssucht«) denn als Produkt der bewussten Überlegung. Dieser Auslegung kann in Anlehnung an Homi Bhabhas Kon- zept der Mimikry entgegengehalten werden, dass die Imitation einzelner Praktiken der Herrschenden durch die Beherrschten zwar die Machtasym- metrie stabilisieren kann, zugleich aber auch den Handlungspielraum der Letzteren zu erweitern vermag.202 Zur Illustration der Nachahmung war der Verweis auf die dem Men- schen ähnlichen Affen besonders populär. Dieser schlug sich insbesondere im Begriff der Nachäffung nieder. Bekannt war etwa Friedrich Nietzsches Beschreibung von durch Narkotika herbeigeführten Räuschen als »Nach- äffung hoher Seelenflut«, womit die im vorigen Kapitel diskutierte Ab- wertung sogenannt ›niederer‹ Genussformen weiter bestärkt wurde.203 Interessanter weise operierten auch die religiös geprägten Anti-Alkohol- Zeitschriften, die sich aufgrund ihrer zumeist protestantischen Konfession mit der Abstammungslehre oft schwertaten, häufig mit Vergleichen, die bei ihren verwandten Artgenossen gewisse menschliche Verhaltensweisen verorteten (vgl. Abbildung 2). Einhellig mit den sozialhygienisch gepräg-

202 Vgl. Bhabha, H. K., »Of mimicry and man«, S. 9-49. 203 Nietzsche, F., Werke in drei Bänden (München: Hanser, 1954), II (Die Fröhliche Wissenschaft), S. 95 f. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 239

Abbildung 2: »Affentum«, Arbeiterfreund-Kalender 1905, S. 51.

ten Akteuren und Akteurinnen wurde die längerfristig schädliche »Ruhm- sucht«, also das Streben nach sozialer Achtung durch den demonstrativ über mäßigen Konsum von Genussmitteln, kritisiert, sowie mit Abstrichen auch die unreflektierte Übernahme tradierter Trinksitten.204 Besonders deutlich kritisierte der Illustrierte Arbeiterfreund in diesem Kontext das un- vorteilhafte Vorbild, das trinkende Erwachsene den Kindern abgaben. So zeigte etwa Abbildung 2 ein Affenkind, das bereits die Sitten der Absinth trinkenden und rauchenden Erwachsenen nachahmt. Dabei überlagerte sich die Warn ung vor der »kindlichen« Nachahmung im Illustrierten Arbeiterfreund vielfach mit dem Hinweis auf eine bei Kin- dern besonders ausgeprägte, beinahe »tierische« Neugierde. Vor diesen un- bewussten Verleitungen waren auch erwachsene Personen nicht gefeit: So lässt sich die Geschichte eines Affen, der nach längerem Spielen mit einer als ungefährlich eingeschätzten Flasche einen Unfall hat, mühelos als Me- tapher für die schleichend einsetzende »Trunksucht« übersetzen (vgl. Ab-

204 Vgl. Forel, A., Die Trinksitten, S. 2. 240 Die Rhetorik der Natürlichkeit bildung 3).205 Die Botschaft der Bildabfolge wird zudem durch den Begleit- text verdeutlicht: Demnach ist der neugierige Protagonist jener Episode nicht in der Lage, die von der auf einem Tisch gestellten Flasche ausgehende Gefahr abzuschätzen. Auf eine Phase der Beobachtung von der Ferne aus folgt eine Phase des harmlosen, haptischen Spielens mit dem mysteriösen Objekt. Erst nach einer Weile des freudigen Spiels mit der Flasche wird ein Mechanismus der Flasche aktiviert, woraufhin dem überraschten Affen die Sinne schwinden und dieser vom Tisch stürzt. In einer naheliegenden Deu- tung lässt sich das Schwinden des Verstandes als »Säuferwahnsinn« und der Fall vom Tisch als »sozialer Abstieg« entziffern. Nicht zuletzt wird dabei die affektive Neugier als Ursache jener unglücklichen Entwicklung durch das tierhafte Wesen des Protagonisten hervorgehoben. In einem vier Jahre früher abgedruckten Gedicht wurde die Neugier, die den Vorwurf der Gier bereits in sich enthält, als »kleinlich, niedrig und gefährlich« charakterisiert und einer »edlen Wissbegierde« gegenüberge- stellt. Demnach fand die Begierde zum Erwerb eines spezifischen Wissens positiven Anklang, obschon der Begriff des Begehrens noch immer auf ein leidenschaftliches Verlangen anspielte. Als Anleitung zur Unterscheidung wurde »Gottes Wort« empfohlen, das festhielt, welche Bewusstseinszu- stände und Tätigkeiten des Menschen als »gottgewollt« zu verstehen seien und welche einer längerfristigen menschlichen Bestimmung zuwiderlaufen würden.206 Dabei lässt sich von der Gier – verstanden als eine Dominanz der Affekte über das ›selbstbestimmte‹ plastische Denken – leicht ein Bo- gen zu der Idee der Sucht schlagen. Die Vorstellung, »Sucht« primär als de- viantes, da dem eigenen gelingenden Lebensentwurf schädigendes Verhal- ten trotz ›besseren Wissens‹ zu verstehen, basiert vielfach auf der Prämisse einer im Süchtigen angelegten Prädisposition, die dessen Anpassungs- fähigkeit an die naturalisierten Normen einer Gesellschaft einschränkt.207 Zusammen mit Bunge war wiederum Forel einer der sichtbarsten Autoren der Internationalen Monatsschrift, die den Themenkomplex der Sucht als einen durch den Konsum von Narkotika provozierten, »künst- lichen Trieb«208 beschrieben. Dabei verfestigte der Psychiater eine Grund- annahme über die gegenwärtig beobachtbare Ausweitung des Suchtbegrif- fes, indem er festhielt, dass jegliche mit Unproduktivität in Verbindung stehende Genussformen auf Dauer immer neue, »künstliche Bedürfnisse«

205 Vgl. »Es ist nicht immer ratsam, nachzusehen«, Arbeiterfreund-Kalender (1898), S. 76. 206 Vgl. »Folgen der Neugierde«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1894), S. 19. 207 Vgl. dazu Leshner, A. I., »Addiction is a Brain disease, and It Matters«, Science 278, No. 45 (1997), S. 45 ff. 208 Forel, A., Der Mensch und die Narkose, S. 12. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 241

Abbildung 3: »Es ist nicht immer ratsam, nachzusehen«, Arbeiter freund-Kalender 1898, S. 76. 242 Die Rhetorik der Natürlichkeit erzeugen würden.209 Bei diesem naturgesetzähnlichen Postulat stützte er sich weitgehend auf seine persönliche Erfahrung und zog keine einschlä- gigen Studien zur Stützung seiner Ansichten heran. Der Sozialreformer schien sich darauf zu verlassen, dass das Motiv der Genusssucht – verstan- den als Unbehagen einer produktivitätsverhindernden »Lust auf Lust«210 gegenüber – auf allgemeine Akzeptanz stieß. Auch wenn jeder Mensch potenziell von der »Schaffung künstlicher Bedürfnisse« bedroht war, tendierte die sozialhygienische epistemic com- munity dazu, gewissen Individuen aufgrund einer »hereditären« Prädis- position ein erhöhtes Risiko zuzuschreiben.211 Diese weitgehend auf Ver- erbungsmechanismen ausgerichtete Ansicht interpretierte »unmäßigen« Genuss weniger als Laster denn als Krankheit, da die Süchtigen aufgrund eines ›mangelhaft ausgebildeten‹ Willens nicht in der Lage schienen, ihr Verhalten durch bewusste Selbstkontrolle zu steuern. Der eigentliche Vor- wurf wurde dadurch weniger auf die Trinkenden als auf deren trinkende Eltern gerichtet, die durch ihr hedonistisches Verhalten die Nachkommen- schaft einer erhöhten, als vererbungsbedingt wahrgenom menen Sucht- gefährdung aussetzten. Dieses verantwortungslose Verhalten von Seiten der Eltern hat Eugen Bleuler, selbst Guttempler und Forels Nachfolger in der psychiatrischen Anstalt Burghölzli, als Unbewusste Gemeinheiten umschrieben.212 Indem deren Nachwuchs eine biologisch-determinierte Einschränkung ihrer Selbstbestimmung in Bezug auf den kontrollierten Umgang mit berauschenden Getränken unterstellt wurde, schien nur die lebenslange Abstinenz einen konsequenten Schutz vor einem Rückfall zu bieten. Anhand der dunkelhäutigen Völker Afrikas ließ sich diese Vor- stellung einer durch die Herkunft prädeterminierten Fähigkeit zur Selbst- be herrschung illustrativ trans portieren – besonders, wenn Hirnforscher wie Forel von kleineren Gehirnen und geringeren mentalen Kapazitäten berichteten.213 Die sozialdarwinistisch gefärbte Konzeption, die unter- schiedliche »Menschen-Rassen« in die Nähe der Tierwelt rückte, wurde im

209 Vgl. Forel, A., »Nervenhygiene und Glück«, Internationale Monatsschrift 11 (1893), S. 321-326 (323). 210 Sarasin, P., Reizbare Maschinen, S. 219 f. 211 Dies wird besonders in Bowmans und Jellineks 1942 zusammengestelltem Über- blick deutlich, vgl. Bowman, K. M. und Jellinek, E. M., »Alcohol Addiction and its Treatment«, S. 18 f. 212 Bleuler, E., Unbewusste Gemeinheiten. 213 Vgl. Forel, A., »Die Alkoholfrage als Kultur- und Rassenproblem«, Internationale Monatsschrift 6 (1901), S. 161-168 (167). Abdruck des Vortrages aus dem Bericht über den VIII. Internationalen Kongress gegen den Alkoholismus, Wien, 8.-14. April 1901, S. 29-34. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 243 sozialhygienischen Sucht-Diskurs durch zahlreiche Unterscheidungen zwi- schen menschlichem und animalischem Verhalten potenziell bestärkt. Zu- sätzlich zu den populären Affen-Analogien griffen radikalere Abstinente wie Bunge auf das Raubtier zurück. Wenn ehemalige Trinker schwach- alkoholische »Tempe renz getränke« trinken würden, hätte das einen ähn- lichen Effekt, »wie wenn man einem gezähmten Raubtiere wieder Blut zu riechen gibt«.214 Im Unterschied zum spielerischen Affen suggerierte diese Analogie einen lebensbedrohlichen Kontrollverlust, zielte aber auch auf den Kerngedanken eines »höheren Willens« ab, der von ›naturge gebenen‹ Instinkten dominiert wird.

»Mordlust und Unmäßigkeit« als koloniale Denkfigur für gefährliche Instinkte

Die von Bunge zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, wonach gewisse Individuen aufgrund ihrer »Erbanlagen« den eigenen Instinkten weitge- hend ausgeliefert seien, war in den kolonialen Bildern aus dem subsahari- schen Kontext besonders präsent. Zwar beriefen sich auch die zahlreichen Warnungen aus dem alkoholgegnerischen Umfeld auf einen durch Alko- hol verstärkten Zustand des impulsiven Kontrollverlusts, der eine popu- läre Erklärung für zahlreiche hiesige Gewaltverbrechen darstellte. Folg- lich ließ sich der Rausch als temporärer Zustand der »Selbstverfremdung« sonst unbescholtener Subjekte auslegen. Jedoch suggerierten die aus den westafrikanischen Missionsstationen nach Europa gelangenden Berichte drängendere Bedenken, da bei den im »zivilisierten« Umgang noch un- gefestigten »Missionsobjekte[n]« schnell ein ›Rückfall‹ in die exzessiven Verhaltensmuster vergangener Tage befürchtet wurde. So berichtete Ru- dolf Fisch der Missionsleitung von einem an der Goldküste verbreiteten Muster, wonach während der Trinkexzesse »[…] sonst harmlose Neger im Rausch Händel und Streit miteinander bekommen und der eine von ihnen im trunkenen Wahn davonstürzt, sein Gewehr oder sein Buschmesser holt und seinen Gegner niederschiesst«.215 Damit folgte der Missionsarzt dem Narrativ der dem Alkoholexzess zugeschriebenen Neigung zur Gewalttä- tigkeit. Diese Assoziation war im europäischen Diskurs zwar bereits ver-

214 Bunge, G. v., »Was sollen wir trinken?«, Internationale Monatsschrift 9 (1893), S. 257-263 (263). 215 Fisch, R., »An das Komitee der evangelischen Missionsgesellschaft zu Basel« [1913], BMA J 78 a), S. 4. 244 Die Rhetorik der Natürlichkeit

Abbildung 4: Illustration aus »Teuer bezahlt«, Arbeiterfreund-Kalender 1932, S. 43. breitet – besonders im Zusammenhang mit dem Absinth,216 jedoch wurde den sogenannten »Naturvölkern« aufgrund einer angeblich ungefestigten ›Kultiviertheit‹ ein erhöhtes Rückfallrisiko in eingesessene Verhaltensmus- ter zugeschrieben.217 In Bezug auf die afrikanische Bevöl kerung hatte der ehemalige Gouverneur Nigerias, Frederick Lugard, dieses Narrativ nach- haltig verbreitet.218 Wie Abbildung 4 zeigt, verbreiteten auch Schweizer Anti-Alkohol- Zeitschriften Bilder solcher »Rückfälle« in angeblich traditionelle Verhal- tensmuster. Die 1932 im Arbeiterfreund-Kalender abgedruckte Illustration zeigt vier schwarze Männer, die vor dem Hintergrund brennender Hütten bewaffnet aufeinander losgehen. Zwei mit Flaschen bewaff nete Kämpfer lassen erahnen, dass Alkohol im Spiel war, wobei die Gewaltexzesse – zwei

216 So war ein mit dem Absinth-Konsum erklärter Familienmord Ausgangspunkt des Absinth-Verbots in der Schweiz (vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 229; Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 148 f.). 217 Vgl. dazu Bennett, T., »Habit, Instinct, Survivals: Repetition, History, Biopo- wer«, in The Pecularities of Liberal Modernity in Imperial Britain, herausgegeben von Gunn, S. und Vernon, J. (California: University of California Press, 2007), S. 102-118. 218 Vgl. Lugard, F., The Dual Mandate in British Tropical Africa, S. 603 f.; vgl. dazu auch Heap, S., »›We Think Prohibition is a Farce‹«, S. 26. Sozialdarwinistische Perspektiven und koloniale Kontexte 245

Körper liegen bereits blutend am Boden – auf einen exzessiven Konsum hinwei sen. Einen ruhigen Gegenpol zu dem Gemenge bilden die am lin- ken Rand abgebildeten Frauen, die das Geschehen in nachdenklichen Po- sen beobachten. Das Bild illustriert die Erzählung »Teuer bezahlt«. Diese unspezifisch im »afrikanischen Urwald« verortete Episode gebe dabei, so die Einführung, ein idealtypisches Narrativ wieder, das in unzähligen Spielarten stattgefunden habe. Die Erzählung setzt bei einem Tauschhan- del ein, bei welchem »Weiße Händler« ihre billigen Spirituosen gegen teu- res Elfenbein eintauschen. Der anschließende, ausgelassene Trunk und Tanz wird durch einen Fetisch-Priester zusätzlich angeheizt, und geht als- bald in eine »erbitterte Raserei« über, die ihren dramatischen Höhepunkt in einem unbeabsichtigten Brudermord findet.219 Im Gegensatz zu vielen Berichten des NRLTUC, in denen westafrikanische Frauen allen voran als misshandelte Opfer der alkohol-lastigen Heirats- und Beerdigungszeremo- nien Erwähnung fanden,220 erscheinen die Frauen dieser Erzählung nur als indirekte Opfer der entfesselten Zerstörung, da ihnen – wie in vielen Kulturen Westafrikas221 – der Alkohol konsum untersagt war. Dabei ver- mittelte die illustrierte Erzählung die ›konventionalis tische‹ Botschaft einer durch den Alkohol bedrohten gesellschaftlichen Stabilität, die nicht zuletzt die kollektiven Überlebenschancen stark vermindert. Mit dem Verweis auf das Motiv des Aussterbens ließ sich diese Bedrohung im kolonialen Kon- text Afrikas wesentlich drastischer zuspitzen. Derartige Erzählungen hall- ten lange nach: Noch in den späten 1950er-Jahren berief sich der Histo- riker Wanner auf den kolonialen Topos einer innerhalb der afrikanischen Bevölkerung besonders ausgeprägten »Mordlust und Un mäßigkeit«. 222

Zwischenfazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Anti-Alkohol-Diskurs wesentlich von protonormalisierenden Strategien geprägt war, die aus spezifischen Auslegungen einer gegebenen »Natürlichkeit« fixe Normen

219 »Teuer bezahlt«, Arbeiterfreund-Kalender (1932), S. 39-43 (39). 220 Vgl. etwa NRLTUC, 26th Annual report 1912-13, S. 44: »[…] women victimized […] during funeral and marriage ceremonies«. 221 Vgl. dazu Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. XVI–XXI. 222 Wanner, G. A., Die Basler Handels-Gesellschaft A. G., S. 111: »Einzig der Handel in Schnaps sowie in Feuerwaffen und Pulver blieb trotz verlockender Gewinnmög- lichkeiten ausgeschlossen, da die Gesell schaft im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der afrikanischen Bevölkerung deren ›Mordlust und Unmäßigkeit‹ nicht ihrerseits fördern wollte.« 246 Die Rhetorik der Natürlichkeit ableiteten. Dabei interpretierten insbesondere die sozialhygienischen Kreise zusehends die Anpassungsfähigkeit von Individuen und Kollektiven als es- senzielle Forderung der »Natur«, womit trotz der Vorherrschaft des Pro- tonormalismus ein prinzipieller Möglichkeitsraum für flexiblere Modelle von »Normalität« eröffnet wurde. Bemerkenswerterweise wurde dieser Möglichkeitsraum in den untersuchten Quellen kaum erkundet. Vielmehr schienen sich die alkoholgegneri schen Natürlichkeits referenzen im Kontext eines rapiden sozialen Wandels und einer verschärften Zivilisationskritik an bestehenden Idealen zu orientieren: Dazu zählten Assoziationen wie Reinheit, Ursprünglichkeit oder Vorbestimmtheit. Letztere erfuhr durch sozial darwinistische Theorien eine einschneidende Umdeutung, indem sie zuneh mend als im Körper veranlagte, ›biopsychische‹ Prädetermination, gedeutet wurde. Dies beförderte nicht nur die Etablierung der Krankheits- konzeption von »Alkoholismus«, es fällt zudem eine Parallele zu den mit Alkohol in Verbindung stehenden Diskursen zu kolonialen Kontexten auf. Zwar lässt sich die Etablierung eines auf einem sozialdarwinistisch gedeu- teten Willensdefizit basierenden Suchtverständnisses in Europa auch ohne Blick auf die Kolonien erklären. Dadurch wird aber übersehen, dass die aus den Kolonien vermittelten Bilder – und insbesondere auch diejenigen aus dem sogenannten »Schwarzafrika« – die Vorstellung von konstitutio- nell benachteiligten Großhirnen verbreitet haben. Diese Verbildlichungen könnten ätio logische Sucht-Erklärungen bestärkt haben. Damit böte sich eine Untersuchung der Reichweite dieser kolonialen Bilder im Sucht-Dis- kurs als ein interessantes Forschungs desiderat für zukünftige Studien an. Besonders die Ausführungen des Physiologen Bunge verdeutlichen den Umstand, dass die Naturalisierung biopsychischer Erklärungen in einem engen Zusammenhang mit einem zunehmenden Deutungshoheitsanspruch medizinischer Leitdisziplinen steht. Es stellt sich also die Frage, wie die- ser Anspruch auf eine »wahre« Lesart von »Natur gesetzen« gestützt wurde. Dazu ist ein Leitgedanke interessant, den der Historiker Philipp Sarasin in seiner Habilitationsschrift mit der Hygiene assoziiert hat: Das Bemühen, möglichst allen Lebewesen die Möglichkeit eines »natürlichen« Todes, ver- standen als ein Erlöschen der Lebenskraft von selbst, sicherzustellen.223 Diese Leitidee wird im folgenden Kapitel eingehender beleuchtet.

223 Vgl. Sarasin, P., Reizbare Maschinen, S. 74. 4 Die Rhetorik der Wirklichkeit

»[Die Menschen, F. S.] trinken, um sich blind zu machen gegen die Bedin- gungen der Wirklichkeit, um sich zu täuschen, was den Unterliegenden er- wartet, um zu vergessen, dass man zu kämpfen hat.«1 »Zürcher Aufruf«, 1890

In Jacques Derridas »Rhetorik der Droge« nimmt nicht zuletzt die »Rhe- torik des Phantasmas« einen wichtigen Platz ein. Diese Rhetorik zeige sich gemäß Derrida gegenüber den Eigenheiten verschiedenster Drogen weitge- hend indifferent und stütze sich stark auf den Vorwurf, dass den Drogen- konsumenten der »Sinn für die wahre Realität« abhanden komme.2 Ver- bote bestimmter Genussmittel würden demnach gerade im Namen einer intersubjektiven Wirklichkeit gefordert, deren »wahrhafter«3 Charak ter vorausgesetzt wird. In den beiden vorangegangenen Kapiteln war zu beob- achten, dass die verschiedenen Freiheits- und Natürlichkeitspostulate viel- fach an einen Anspruch gekoppelt wurden, eine ›wahre‹ Wirklichkeit zu be- schreiben. In den Worten der Historiker Philipp Sarasin und Jakob Tanner kommt gerade den Diskursen die Funktion zu, »eine ganz bestimmte Rede- weise als die ›wahre‹ zu etablieren und konkurrenzierende auszuschließen«.4 Die in diesem Kapitel analysierten Wirklich keitsbezüge waren vielfach eng mit Wahrheitsansprüchen verwoben. Doch liegt ein Entflechten der beiden Ideologeme »Wahrheit« und »Wirklichkeit« außerhalb der Am bi tio nen die- ser Arbeit. Vielmehr sind die beiden Ideologeme als integrale Bestandteile der Wirklichkeits-Rhetoriken zu lesen. Beide setzen eine intersubjektive Realität voraus, die nur auf eine bestimmte Art und Weise gedeutet werden

1 Vgl. »Aufruf« des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke [AGB], unterschrie- ben von mehr als 100 bekannten Persönlichkeiten [1890, Zürich], S. 5. 2 Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, S. 248 f. 3 Dabei sind Begriffe wie »Wahrhaftigkeit«, »Aufrichtigkeit« oder »Authentizität« schwierig voneinander zu unterscheiden, vgl. Turnheer, U., Wahrhaftigkeit, Histo- risches Wörterbuch der Philosophie herausgegeben von Ritter, J., Bien, G. und Eisler, R., vol. 12 (Basel: Schwabe, 1971), S. 44-48 (44). 4 Sarasin, P. und Tanner, J., »Einleitung«, in Physiologie und industrielle Gesellschaft: Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, herausge- geben von Sarasin, P. und Tanner, J. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998), S. 35. 248 Die Rhetorik der Wirklichkeit darf. Bei der alkoholgegnerischen Bewegung fällt auf, dass sie bestimmte Botschaften immer wiederholte, wodurch bei Sendern und Empfängern eine konforme Wahr nehmung bestärkt wurde. In diesem Prozess wurde zusehends einer in medizinischer Fachsprache gehaltenen, quantitativ ab- strahierenden Form des Argumentierens zugetraut, die leiblich-sinnlichen Erfahrungen von Einzelpersonen objektiv zu vermitteln. Nicht erst poststrukturalistische Zugänge legen nahe, die unterschied- lichen verschriftlichten Deutungen einer mit »Wahrheit« konnotierten Wirklichkeit als Produkt einer durch die Geschichte »metaphysisch« auf- geladenen Sprache zu interpretieren.5 Die Vorstellung einer stabilen, sin- gulären »Wahrheit« hatte bereits der deutsche Philosoph Friedrich Nietz- sche hinterfragt, indem er die »Hauptkräfte« des menschlichen Intellekts vielmehr in der »Verstellung« als im Streben nach Wahrheit verortete.6 Nietzsche beschrieb die in spezifisch-historischen Kontexten etablierten Vorstellungen von »Wahrheit« als Illusionen. Wahrheit sei, so Nietzsche, »[…] eine Summe von mensch lichen Relationen, die poetisch und rheto- risch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden, und die einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken«.7 Dieser Warnung vor einem naiv-positivistischen Wahrheitskonzept folgend zielen die folgenden Aus- führungen weniger auf die Bewertung eines tatsächlichen Wahrheitsgehal- tes von Aussagen ab, sondern auf die verschiedenen eingesetzten Strate gien, durch die Überzeugungen als »echt«, »wahr« oder als »authentisch« ver- mittelt und einer intersubjektiven Wirklichkeit zugeordnet wurden. Über welche Strategien versuchten die verschiedenen am Diskurs beteiligten Ak- teure, ihre jeweiligen Vorstellungen von »Wirklichkeit« mit Autorität aus- zustatten und auf welches implizite Vorwissen griffen ihre Argumente zu- rück? Welche Bilder, Denkmuster und Motive wurden wie miteinander verwoben, um die Leserschaft von der propagierten Lesart zu überzeugen? Und welche konkurrierenden Auslegungen wurden dabei in den Hinter- grund gedrängt? Der Alkoholdiskurs ist ein besonders interessanter Unter- suchungsgegenstand, da dessen Deutungen der Wirklichkeit noch gegen- wärtig eine hegemoniale Stellung innehaben.

5 Vgl. Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, S. 255. Angemerkt sei, dass bei schriftli- chen Quellen zahlreiche Ausdrucks-Modalitäten wie Mimik, Gestik, Tonalität, etc. wegfallen. 6 Nietzsche, F., »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, herausgegeben von Colli, G. und Montinari, M. (Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1988), S. 876. 7 Ebd., S. 876. Die Rhetorik der Wirklichkeit 249

Damit eine bestimmte Sprechweise dominant werden konnte, musste sie in der Lage sein, bei ihren Adressaten einen Konsens über die Dring- lichkeit verschiedenster »weltlicher« Probleme herzustellen. Als zentraler Referenzpunkt kristallisierte sich insbesondere im sozialhygienischen Dis- kurs, mit Abstrichen aber auch in den Beiträgen aus eher religiösen Tem- perenz-Kreisen, das Leitthema des Lebens heraus. Die meisten Beiträge vermittelten das zentrale Bestreben, einerseits Menschenleben zu retten und zu erhalten, ande rer seits Leid zu lindern, respektive spezifische Er- fahrungen von Glück zu ermöglichen. Indem sie sich sowohl einer indi- viduellen als auch einer kollektiven Gesundheit verpflichteten, lassen sich etliche Stränge zwischen den beiden Polen der Disziplinierung sowie der Biopolitik aufzeigen.8 Dies zeigt sich etwa anhand des vielfach vorgebrach- ten Bestrebens zur Vermeidung eines vorzeitigen Todes, wie dies etwa im 1905 in den Schweizer Abstinenzblättern abgedruckten Vortrag »Ethik und Alkohol« themati siert wurde. Darin entlarvte der Referent Dr. Masaryth die Ansicht, dass ein glückliches Leben Illusionen benötige, aufgrund ihrer Konse quenzen in der sozialen Wirklichkeit zugleich als »Ethik des Alko- holismus« und als »Ethik des Todes«. Seine Ausführungen schienen allen voran von der Leitidee getragen zu werden, dass nur ein lebendiges In- dividuum Glückszustände zu erleben vermag.9 Von dem Anliegen eines »biolo gischen« Überlebens ging eine leicht nachvollziehbare Dringlichkeit aus, wobei das Leben als Vorbedingung einer Wirklichkeitserfahrung er- schien und im unnötig vor zeitigen Tod seinen Kontrast fand. An das In- dividuum gerichtet schien die Bedrohung der eigenen Vergänglichkeit als aussichtsreiche Strategie, um den propagierten Ansichten Gehör zu verschaffen. Masaryths propagierte Ethik war aber auch implizit auf ein unklar begrenztes Kollektiv ausgerichtet, das durch individuelle Ableh- nung der »Ethik des Todes« vor der drohenden Vergänglichkeit beschützt werden soll. Stand im vorangegangenen Kapitel das Motiv aussterbender »Stämme« oder »Rassen« im Zeichen einer vermuteten Natürlichkeit oder Vorbestimmtheit, sollen im Folgenden zunächst die auf die Maxime des Überlebens basierenden Wirklichkeitsbezüge erörtert werden. Letztere sind besonders über Ideen einer genetischen Determination, die in sozial- hygienischen Kreisen verbreitet waren, untrennbar mit Natürlichkeits- referenzen verflochten. Jedoch standen etwa im um 1890 veröffentlichten »Zürcher Aufruf« die »Bedingungen der Wirklichkeit« zweifellos an vor- derster Stelle: Nicht nur wurde der Alkoholgenuss als Fluchtversuch vor

8 Foucault, M., Sexualität und Wahrheit, S. 134 f. 9 Masaryth, »Ethik und Alkohol«, Schweizerische Abstinenzblätter, B10 (1905). 250 Die Rhetorik der Wirklichkeit einer fordernden Realität dargestellt, darüber hinaus bürgten einhundert bekannte Persönlich keiten für diese Lesart.10

Wissenschaftlichkeit und »Autoritätenkalamität«

Der Umstand, dass die Mehrheit der Unterzeichnenden des »Zürcher Aufrufs« Akademiker waren, bestärkte die anhaltende wissenschaftliche Identität der Bewegung. Als der abstinente Mathematiker und Physi- ker Karl Matter (1874-1957) 1933 im Schweizer Abstinent die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz ski zzierte, beschrieb er gerade die Wissenschaftlich keit ihrer Argumente als Erfolgsrezept: »Die Bewegung gegen den Alkoholismus konnte sich derart fruchtbar entfalten, weil die Männer der Wissenschaft vorangegangen waren und mit den Methoden wissenschaftlicher Forschung neue, jedem Einwand stand haltende Waffen zum Kampfe geliefert hatten.«11 Als stetige Minderheit hatten die Abstinenten gegen zahlreiche kon- kurrierende Ansichten zu kämpfen, die sich auch auf Wissenschaftlich- keit beriefen. Einerseits organisierten sich besonders in Deutschland und Frankreich dezidierte alkoholbefürwortende Vereinigungen wie der Schutzverband gegen die Übergriffe der Abstinenten der Abwehrbund gegen die Ausschreitungen der Abstinenzbewegung oder die Union viticole des Mé- dicins Propriétaires de la Giron de Bordeaux.12 Andererseits richteten sich auch die Mäßigkeitsvereinigungen gegen die Abstinenzbewegung: So hatte sich in Deutschland 1883 der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke formiert, in dem sich viele einflussreiche Ärzte unter dem Ban- ner des Mäßigkeitsstandpunktes versammelten. Auch wenn während der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts rund jedes dritte Mitglied des Vereins abstinent war, grenzte sich dieser Verein um die Jahrhundertwende scharf von der Abstinenzbewegung ab. Die Angriffe gegen die des Fanatismus

10 Vgl. »Aufruf« des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke [AGB], S. 5. 11 Matter, K., »Aus der Geschichte der Abstinenzbewegung«, Schweizer Abstinent 4 (1933), S. 129. Zu Karl Matter vgl. Grunder, H.-U., »Matter, Karl«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D28156.php [Stand: 8. 12. 2009]. 12 Die Union viticole des Médicins Propriétaires de la Giron de Bordeaux wurde in den späten 1890er-Jahren gegründet, der Schutzverband gegen die Übergriffe der Absti- nenten (manchmal auch Schutzverband gegen die Übergriffe der Abstinenzbewegung) 1908 in Breslau, sowie der Abwehrbund gegen die Ausschreitungen der Abstinenzbe- wegung 1911 (vgl. »Ein Gegenstück zum Verein abstinenter Ärzte«, Internationale Monatsschrift 3 (1897), S. 95; E. B., »Rundschau«, Internationale Monatsschrift 4 (1911), S. 140). Die Rhetorik der Wirklichkeit 251 bezichtigten Abstinenten erreichte 1903 unter Vorsitz des deutschen Medi- ziners Carl Fraenkel (1861-1915) einen Höhepunkt, der bis 1911 für erheb- liche Spannung innerhalb der Anti-Alkohol-Bewegung sorgte. In diesem Jahr kam es während des Internationalen Kongresses in Bremen zu Aus- schreitungen zwischen Abstinenten und Mäßigen. Fast gleichzeitig hatte Fraenkel eine gegen die Abstinenz gerichtete Streitschrift veröffentlicht, die aus Sicht der abstinenten Ärzte als Kernbot schaft suggerierte, dass die wichtigsten deutschen Ärzte den Standpunkt der Mäßigkeit vertreten wür- den. Unter dem Stichwort »Autoritätenkalamität« forderte der abstinente Psychiater Eugen Bleuler eine Gegenpublikation nach demselben Mus- ter: Ärztliche Experten sollten den Standpunkt der Abstinenz unterstüt- zen und damit als wissenschaft liche Autoritäten einer Öffentlichkeit be- kräftigen, welche Fakten zum Schadens potenzial bereits etabliert seien.13 Dieser Aufruf propagierte mit der Verfestigung von wissen schaftlichen- autoritativen Beschreibungen von »Wirklichkeit« eine Vorgehens weise, die schon Jahrzehnte zuvor in der alkoholgegnerischen Agitation einge- setzt wurde; zuletzt etwa in einem internationalen ärztlichen Manifest gegen den Alkohol, das die British Temperance Association unter Mithilfe des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes 1902 lanciert hat- te.14 Bereits drei Jahre zuvor hatten die sozialhygienisch geprägten Abs- tinenten zudem einen gegen den als »inkonsequent« kritisierten Mäßig- keits standpunkt gerichteten Aufruf veröffentlicht, der ursprünglich von neun bekannten Professoren unterschrieben wurde – darunter fanden sich neben Bunge und Forel etwa Max von Pettenkofer (1818-1901), Paul Ju- lius Möbius, Anton Delbrück, Adolf Fick (1829-1901) oder Wilhelm von Speyr. Bis 1907 schlossen sich diesem Aufruf 137 Hochschuldozenten an, die namentlich in der Internationalen Monatsschrift aufgeführt wurden und zusätzlich durch prominente Intellektuelle wie Georg Simmel oder Ernst Mach Zuspruch erhielten. 15 Derartige Aktionen zielten auf eine Zurschau- stellung von wissen schaftlichen ›Autori täten‹ aus den eigenen Reihen ab, ohne auf epistemologische Fragen Bezug zu nehmen. Sie bestärkten viel- mehr die wissenschaftliche Identität der Bewegung.

13 Fraenkel, Carl, Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit? Eine Antwort der deutschen medizi- nischen Wissenschaft auf diese Frage im Auftrage des deutschen Vereins gegen den Miß- brauch geistiger Getränke veröffentlicht (Berlin: Mäßigkeits verlag, 1903); Bleuer, E., »Autoritätenkalamität in der Alkoholfrage«, Internationale Monatsschrift 10 (1905), S. 296-300. 14 Vgl. Internationale Monatsschrift 1 (1902), S. 1 f. 15 Vgl. Blocher, H., »Das siegreiche Vordringen der Abstinenz«, Internationale Mo- natsschrift 5 (1907), S. 143-146. 252 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Eine besonders deutliche Identifikation mit »der Wissenschaft« legten die Zeitschriften der Schweizer Guttempler an den Tag. Einige Beiträge trauten eine einwandfreie Beschreibung des vom Alkohol ausgehenden Schadens potenzials alleine den Experimenten akademisch geschulter Ex- perten zu.16 »Wissenschaftlichkeit« wurde demnach als objektive Beschrei- bung einer intersubjektiv zugänglichen Wirklichkeit verstanden, wobei eine deutliche Zurückweisung von religiösen und politi schen Motiven auffällig war. So hielten die Satzungen des AGB (als einer der leitenden sozial hygienischen Abstinenz-Verbände) im ersten Artikel fest, dass sich der Verband »von politischen, kirchlichen und allen anderen Nebenbe- strebungen« fernhalte.17 Wenn auch einzelne Mitglieder einwandten, dass Ärzte aufgrund einer engen Verflochtenheit von Medizin und Volkswohl- fahrt von vornherein aktive Politiker sein müssten, geschah das im Selbst- verständnis, dass sich die politische Agitation einem objektiv erfassten Sachverhalt unterordnen würde.18 Umgekehrt versah die abstinente Ärzte- schaft Studien, die dem Alkoholkonsum positive Aspekte abgewannen, re- gelmäßig mit dem Vorwurf der »Unwissenschaftlichkeit«. Oft wurde den Autoren alkohol freundliche Studien vorgeworfen, vom »Alkoholkapital« gekauft oder allgemein voreingenommen zu sein. In anderen Fällen wurde mit Verweis auf eine übersehene »praktische Bedeutung« vielfach der Gel- tungsanspruch unliebsamer Studienergebnisse massiv eingeschränkt. Aber auch Studien aus den eigenen Reihen wurden nach der Jahrhun- dertwende zusehends kritisch besprochen. Die Arbeiten Hoppes, Bunges, Demmes, Bezzolas, oder Laitinens wurden in der Internationalen Monats- schrift im Hinblick auf ihre vielfach monokausalen Verallgemeinerungen relativiert. Diese Relativierungen begegneten damit dem vielfach an die Abstinenten gerichteten Vorwurf der Übertreibung durch interne Kritik.19

16 Vgl. Stabsarzt Ph. Kuhn: »Die Wissenschaft und der Guttemplerorden«, Interna- tionale Monatsschrift 9 (1909), S. 331-334. 17 »Satzungen des AGB«, Internationale Monatsschrift 7 (1892), S. 223. 18 Bornstein, K., »Der Arzt als aktiver Politiker der Volkswohlfahrt«, Internationale Monatsschrift 5 /6 (1919), S. 87-93. 19 Bei den Statistiken der drei letztgenannten Studien, die alle einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Entartung postulierten, verwies etwa der abstinente Gefängnisarzt Johann von Scharffenberg auf den Umstand, dass noch kein Beweis vorliege, dass der Alkoholkonsum die alleinige Ursache der verschiedenen diagnos- tizierten »Entartungen« sei. Demnach sollten diese nicht repräsentativen Statisti- ken aus der Agitation für die Abstinenz verschwinden, um nicht dem Vorwurf der Übertreibung Aufwind zu geben. Vgl. Scharffenberg, J., »Mehr Kritik in der Kritik und mehr Vorurteilsfreiheit«, Internationale Monatsschrift 6 (1912), S. 214-216; Die Rhetorik der Wirklichkeit 253

Im Prozess jener präventiven ›Selbstzensur‹ fielen regelmäßig abschätzige Bemerkungen zur US-ameri kanischen Abstinenzbewegung, die als unwis- senschaftlich und als dogmatisch charakteri siert wurde. Der protestan- tische Pfarrer Fritz Rudolf berichtete in einem mehrteiligen Beitrag der Internationalen Monatsschrift ausführlich von der Situation in den USA, die er bereist hatte. Die dort beobachteten »fanatischen« Ausprägungen schrieb der Pfarrer hauptsächlich der Agitation der WCTU zu. Die Mitglieder die- ser Union seien halt »ungeduldig« gewesen, »[…] wie Frauen und Kinder oft sind, wenn sie etwas wichtiges vorhaben«.20 Auch wenn derartige chau- vinistische Charakterisierungen durchaus Kritik hervorriefen, wurde Ru- dolfs Verdikt einer besonders unwissenschaftlichen Temperenz-Grundlage der alkoholgegnerischen Agitation in den USA durch zahlreiche weitere Di- stanzierungen in der Internationalen Monatsschrift bestärkt. Viele Beiträge betonten jeweils den eigenständigen Charakter der heimischen alkohol- gegnerischen Agitation, die keinesfalls für ein »fremdes« Importprodukt aus Amerika gehalten werden dürfe. Neben dem dadurch bestärkten pa- triotischen Kolorit diente diese Abgrenzung allem voran der Selbstverge- wisserung, dass die Bewegung auf dem Fundament einer neutralen und objektiven Wissenschaftlichkeit stehe. Die Berufung auf den wissenschaft- lichen Hinter grund stellte eine zentrale Strategie zur Propagierung der so- zialhygienischen Wirklich keits deutung dar. Im ersten Teil dieses Kapitels stehen die in sozialhygienischen Orga- nen populären Strategien zur Vermittlung jenes Wissens im Zentrum. Der zweite und dritte Teil steht im Zeichen der Basler Mission, wobei zu- nächst die Wirklichkeits-Referenzen des Missionsarzts Rudolf Fisch im westafrikanischen Kontext beleuchtet werden. Daraufhin steht die Frage im Fokus, wie Basler Missionsvertreter sich mittels Verweis auf unter- schiedlichen Umgang mit Alkohol gegenüber konkurrierenden religiösen Gruppierun gen abzuheben versuchten. Im abschließenden Teil des Kapi- tels sollen zwei Motive betrachtet werden, die im Anti-Alkohol-Diskurs durchgehend präsent waren: Sowohl der Vor wurf des »Aberglaubens« als auch derjenige des »Eskapismus« waren beson ders eng an die Vorstellung einer singulären Realität gekoppelt. Im Gegensatz zu den in den ersten beiden Teilen diskutierten Strategien, die ›im Namen des Lebens‹ konkret auf eine ›soziale Wirklichkeit‹ abzielten, schienen diese beiden Motive be-

Hercod, R., »Unsere Kritik an Hoppes ›Tatsachen‹ und Hoppes Abwehr«, Interna- tionale Monatsschrift 1 (1913), S. 1-23. 20 Rudolf, F., »Die Prohibition in Amerika. Ihre Erfolge und Grenzen«, Internationale Monatsschrift 3 (1911), S. 81-88 (88). 254 Die Rhetorik der Wirklichkeit reits derart etabliert zu sein, dass sie auch ohne konkretere Rückbindungen Wirklichkeits ansprüche zu transportieren vermochten.

1. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit

Der alkoholgegnerisch-hygienische Diskurs richtete das Thema der »Le- bensbejahung« zusammen mit einem weiten Anforderungskatalog an die Gesellschaft. Dieser Katalog bezog sich auf individuelle Befähigungen, wie etwa die Sicherstellung eines regelmäßigen Einkommens oder der Er- halt eines gesellschaftlichen Ansehens und Vertrauens, zunehmend auf die Funktionstüchtigkeit eines mehr oder weniger klar abgegrenzten Kollek- tivs. Aus dieser als notwendig erachteten Funktionalität wurden Ängste und Kritiken abgeleitet, die vielfach nicht den Genuss per se ablehnten, aber zahlreichen Genussformen »egoistische« und damit »asoziale« Tendenzen zuschrieben. Folglich brachten viele alkoholgegnerische Aussagen die la- tente Angst zum Ausdruck, dass die Individuen bei bestimmten Genuss- formen einem »exzessiven Appetit«21 verfallen und dadurch sowohl ihre authentische Lebensweise als auch ihren Zugang zur sozialen Wirklichkeit verlören. Beides wurde mit einer erhöhten Leid-Anfälligkeit der exzessiv Genießenden und ihrem Umfeld in Verbindung gebracht. Im Zusammenhang dieses befürchteten Rückzugs der Einzelnen aus der sozialen Wirklich keit ist erwähnenswert, dass Constantin von Brühl-Cra- mer die Diagnose der »Trunksucht« 1819 von der »Lesesucht« ableitete.22 Das Beispiel der gegenwärtig kaum mehr beachteten »Lesesucht« illustriert die Volatilität der sozialen Legitimität verschiedener Genussformen, sie sich über längere Zeiträume hinweg vielfach beobachten lässt.23 Gleich- zeitig steht die durch einen Mediziner thematisierte Lesesucht für die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfestigende Tendenz, zuvor in der mo- ralisierenden Begrifflichkeit des Lasters umschriebene Normverstöße zu- sehends aus gesundheitlicher Perspektive zu betrachten. Im Fahrtwasser von Bénédict Augustin Morels religiös-anthropologischem Theorem der

21 Vgl. dazu Orford, J., »Addiction as Excessive Appetite«, S. 15-31; Sarasin, P., Reiz- bare Maschinen, S. 219 f. 22 Spode, H., »Transubstantiations of the Mystery: Two Remarks on the Shifts in the Knowledge about Addiction«, The Social History of Alcohol and Drugs 20 (2005), S. 125-128 (126). 23 Diese Wandelbarkeit hat Wolfgang Schivelbusch besonders illustrativ herausgear- beitet, vgl. Schivelbusch, W., Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft: eine Ge- schichte der Genussmittel (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2005). Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 255 dégénérescence diagnostizierten im späten 19. Jahrhundert auffallend viele Mediziner die Gesundheit ganzer Gesellschaften. 24 Selbst Alfred Grotjahns ›mäßige‹ Konzeption von Sozialhygiene richtete sich auf ein kollektives Wohlergehen aus. Grotjahn verstand Sozialhygiene sowohl als deskriptive als auch als normative Wissen schaft, deren Erkenntnisse direkt in Form von praktischen Maßnahmen in die intersubjektive Lebenswelt einfließen sollten.25 Ausgehend von diesem Selbstverständnis versah die sozialhygie- nisch geprägte Abstinenzbewegung theoretische Zugänge regelmäßig mit dem Vorwurf eines Kontaktverlusts zur sozialen Wirklichkeit. »Mäßige« Theoretiker, so die Kritik, hätten kein Verständnis für menschliches Leid sowie für die sozialen Mechanismen im Alltag. Für Gelehrte dieses Schla- ges, die den »praktischen« Wert der »Alkoholfrage« nicht ›wahrhaben‹ wollten, schöpfte die Guttempler zeitschrift Der Schweizer Abstinent den Begriff des »Alkohologen«.26 Gleichzeitig beriefen sich die Abstinenten aber sehr wohl auf eine wissenschaftliche, das heißt theoretisch-abstrahierende Fundierung ihrer Wirklichkeitspostulate zur »Alkoholfrage« und leiteten daraus mitunter auch globale Geltungsansprüche ab. So legte das IBAA dem Völkerbund einen Kompromissvorschlag vor, wonach unter anderem ein offizielles Ex- pertenkomitee berufen werden sollte, um zu sechs alkoholrelevanten The- men standardisierte Statistiken zu erstellen. Diese offiziellen Daten sollten nicht nur internationale Vergleiche erleichtern, sondern auch die globale Problematik des vom Alkohol ausgehenden Schadenspotenzials untermau- ern. Der erste Punkt bezog sich auf eine länderspezifische Sammlung von Angaben zu Produktion und Konsum von Alkoholika, weiter wurden die Themen »Sterblichkeit«; »Unfälle«; »physische und intellektuelle Entwick- lung der Kinder«; »Kriminalität«; und schließlich der dehnbare Begriff der »Gesundheit« genannt. Von diesen sechs vorge schlagenen Themen war nur das erste frei von explizit formulierten Schadenshypothesen. Die übri- gen fünf Punkte gingen verschiedenen vermuteten Zusammenhängen zwi- schen Alkoholkonsum und negativ bewerteten Phänomenen nach. Zum letztgenannten Aspekt, der Gesundheit, benannte das IBAA Erscheinun- gen wie Tuberkulose, Pneumonie (Lungenentzündung), Geisteskrankheit,

24 Daniel Pick verortet die Tendenz in Richtung Biopolitik in Europa zwischen 1880 und 1914, vgl. Pick, D., Faces of Degeneration, S. 6-14. 25 Vgl. Grotjahn:»Was ist und wozu treiben wir soziale Hygiene?«, Hygienische Rund- schau 14 (1904), S. 1017-1032 (1026). 26 O. [Max Oettli?]: »Unsere Antwort an einen Alkohologen«, Schweizer Abstinent 5 (1934), S. 19 f. 256 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Geschlechtskrankheiten sowie durch Leberzirrhose bedingte Todes fälle.27 Besonders bezüglich »Gesundheit«, »Sterblichkeit« und »Unfälle« wiesen diese sechs Kategorien erhebliche Überschneidungen auf. Sie zielten auf eine Quantifizierung erfahrenen Leids ab, das dem persönlichen Erfah- rungshorizont sehr vieler Menschen zugänglich war. Gleichzeitig schienen diese dazu bestimmt, globale Geltung für den alkoholgegnerischen Wirk- lichkeitsanspruch einzufordern. Diese sechs Aspekte deckten nicht das gesamte Spektrum alkoholgeg- nerischer Wirklichkeitsbezüge ab. Allen voran fehlten die im alkoholgeg- nerischen Diskurs popu lären Bezeugungen von einer durch die Abstinenz persönlich erfahrenen Steigerung von Lebensqualität sowie die zahlrei- chen Experimente zum negativen Einfluss des Alkohols auf die Produk- tivität und Leistungsfähigkeit von Kollektiven. Folglich sollen zunächst die vier populärsten Themengebiete ausführlicher beleuchtet werden, die insbesondere der sozialhygienisch geprägten Alkoholgegnerschaft zur Un- termauerung ihrer Wirklich keits ansprüche dienten.28 Diese sind in fol- gende vier Unterabschnitte gegliedert: (1) Produktion und Produktivität; (2) Sterblichkeit und Unfälle; (3) Kriminalität und kindliche Entwicklung sowie (4) Gesundheit und Medikalisierung. Außer der zuletzt zu disku- tierenden Medikalisierung orientieren sich alle diese Themen am an den Völker bund gerichteten Vorschlag des IBAA, weshalb auch sie sich in dieser Anordnung teilweise überschneiden.

Produktion und Produktivität

Wie bereits im letzten Kapitel ausgeführt wurde, zog die Produktion al- koholischer Getränke über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg Vorwürfe der »Vergeu dung«, der »Verschwendung« oder der »Nährwertver- schleuderung« auf sich und wurde in alkoholgegnerischen Kreisen als ein »volkswirtschaftliches Problem«29 beschrieben. Dazu waren nicht zuletzt

27 Hercod, R., »Projet d’enquête sur la question de l’alcoolisme«, Internationale Mo- natsschrift 4 (1929), S. 208-215. 28 Besonders deutlich kommen diese Schwerpunkte – neben dem an den Völkerbund gerichteten Forderungskatalog – in Rudolf Wlassaks Grundriss der Alkoholfrage von 1922 / 1929 (Leipzig: Hirzel) zum Tragen. 29 Vgl. Max Oettli: »Alkoholproduktion und Alkoholkonsum als volkswirtschaftli- ches Problem«, Schweizerische Zeitschrift für Gesundheitspflege VII, 3 (1927), S. 17 (besprochen in Internationale Monatsschrift 6 (1927), S. 246). Zum Landesstreik vgl. Gautschi, W., Der Landesstreik 1918, 3., durchges. Aufl. (Zürich: Chronos, 1988); Kreis, G., Insel der unsicheren Geborgenheit: Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914- 1918 (Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2014), S. 213-224. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 257

Abbildung 5: »Einige jährliche Ausgaben des Schweizervolkes« (Skizze einer Postkarte der Jungmannschaftsloge »Vortrupp« Luzern), Schweizer Abstinent 47 /48 (1918), S. 95.

Verbildlichungen von jährlichen Durchschnitts-Ausgaben für ausgewählte Güter äußerst beliebt. Abbildung 5 aus dem Jahr 1918 folgt diesem Muster, indem es die verhältnismäßig hohen Ausgaben der alkoholischen Genuss- mittel mit den kleineren Ausgaben für andere Güter wie Brot, Milch oder Bildung vergleicht. Die nachdenkliche Pose des in zerknitterter Kleidung sitzenden Protagonisten betont dabei die implizite Botschaft der Darstel- lung, dass Güter zur langfristigen Stillung von Grund bedürfnissen viel hö- her gewertet werden sollten als die nicht notwendigen Alkoholika, deren Umfang den Rahmen der Darstellung sprengt. Die Abbildung machte zu- gleich ein Sparpotenzial sichtbar, das sich in monetärer Form beschreiben und vergleichen ließ. Der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, im letzten Kriegsjahr des Ersten Weltkrieges, kurz nach dem Schweizer Landesgene- ralstreik, war geschickt gewählt: Vor dem Hintergrund der zunehmend verarmenden und aufgrund rationierter Grundnahrungsmittel hungern- den Schweizer Arbeiterschaft musste der bildliche Vergleich umso mehr irritieren. Die Schweizerische Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus nutzte diesen Kontext, um politische Forderungen zur Beschränkung der 258 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Produktion alkoholischer Getränke zuguns ten von Grundnahrungsmitteln an den Staat zu richten.30 Zusätzlich verstärkt wurden diese Forderungen nach einer »zweckge- richteten« Grundver sorgung der Bevölkerung durch das regelmäßig vor- gebrachte Argument, Abstinente seien produktiver und leistungsfähiger als Alkoholkonsumenten. Frühe Grundlagen zur Stützung dieser Behaup- tung lieferten Emil Kraepelins arbeitsphysiologische Experimente, die laut Spode den Taylorismus vorwegnahmen.31 Der deutsche Psychia ter, der auch mit Forel korrespondierte, hatte besonders während seiner Dor- pater Zeit (1886-1891) Beobachtungen zum Einfluss verschiedener psy- choaktiver Substanzen auf körperliche Leistungen festgehalten.32 In den Medien der Abstinenz-Bewegung kamen zum Fin de Siècle zusehends Statistiken zu Marschleistungen auf, die die Abstinenz als Mittel zur Er- höhung der eigenen Leistungsfähigkeit empfahlen.33 Viele der dazu ver- wendeten Daten stammten von der Britischen Armee, womit sich bereits die Verstrickung von Abstinenz und Wehrtüchtigkeit andeutet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch zunehmend Resultate von sport- lichen Wettbewerben auf die Trinkgewohnheiten ihrer Teilnehmer hin aufgeschlüsselt.34 Im Kontext des an die Produktivitätsdiskurse gekoppelten Themas der Erholung sorgte 1895 eine Studie des Physiologen Hermann Frey zur Er- müdung von Fingermuskeln für Furore. Freys Experimente legten nahe, dass kleine Dosen Alkohol die Regeneration ermüdeter Fingermuskeln befördern könnten – eine Hypothese, die besonders scharf durch den abs- tinenten Physiologen Adolf Eugen Fick kritisiert wurde.35 Dieser leistete

30 Vgl. Hercod, R., »Zur Vergeudung der Nahrungsmittel«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1917), S. 13; ders.; »Volkspetition gegen die Nahrungsmittelvergeudung«, Schweizer Abstinent 17 /18 (1917), S. 35. 31 Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 209. 32 Vgl. »Emil Kraepelin an Auguste Forel, 3. 12. 1891«, in Forel, A., Briefe – Correspon- dance 1864-1927, S. 266; Lengwiler, M., »Im Zeichen der Degeneration«, S. 94. 33 Vgl. etwa »Der Alkohol in der britischen Armee«, Internationale Monatsschrift 1 (1895), S. 19 ff.; Blocher, H., »Die Enthaltsamkeitsbewegung in der britisch-indi- schen Armee«, Internationale Monatsschrift 1 (1898), S. 129-136. 34 Vgl. etwa die Illustration »Alkoholgenuss und Marschtüchtigkeit« der Wanderaus- stellung [Archiv Sucht-Schweiz, MU 18]. 35 Fick, A., »Über den Einfluss des Alkohols auf die Muskelermüdung«, Internationale Monatsschrift 12 (1896), S. 365-367. Zum Aufruf vgl. Blocher, H., »Die neuste Eh- renrettung des ›mäßigen‹ Alkoholgenusses«, Internationale Monatsschrift 6 (1896), S. 161 f. Zu Adolf Ficks Kritik vgl. Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte XXVI (1896), S. 445. Ein Jahr später kritisierte Forel die Experimente Freys ausführlich in Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 259 einem Aufruf an die Leserschaft der Internationalen Monatsschrift zur »Be- richtigung« der Zeitungsberichte über Freys Thesen Folge und warf seinem Kollegen im Correspondez-Blatt der Schweizer Ärzte vor, sein Forschungs- design habe die Möglichkeit einer »suggestiven« Illusion des Hirnes nicht ausgeschlossen. Damit sei nicht erwiesen, dass der Alkohol als ein kraft- erzeugendes Brennmaterial verwendet werden könne. Zum Eklat kam es im Oktober 1896, als Frey seine Ergebnisse am Oltener Ärztetag vor- stellte. Dabei gerieten die abstinenten Adolf Frick, Wilhelm von Speyr, Paul Dubois und Forel auf der einen Seite und die »mäßigen« Ärzte Frey, Hermann Sahli als Direktor des Berner Inselspitals sowie Alfred Jaquet als Pharmakologe und Redaktor des Correspondenz-Blattes für Schweizer Ärzte auf der anderen Seite aneinander. Die Beteiligten sollten ihre Meinungs- verschiedenheiten daraufhin über Monate hinweg sowohl über Zeitschrif- ten als auch über private Korrespondenz austragen.36 Während in der Internationalen Monatsschrift weiterhin vereinzelt über physiologische Experimente zum Thema Alkohol und körperliche Leistung berichtet wurde, begnügte sich der volksnähere Schweizer Abstinent vielfach mit griffigeren Kommentaren zu Sportresultaten. In den späten 1920er-Jah- ren häuften sich in der Zeitschrift Reportagen über erfolgreiche Industrie- Magnaten wie etwa Henry Ford oder Thomas Bata, die sich beide auch aus Gründen der Produktivität für die Abstinenz aussprachen. So wurde etwa Fords Aussage zitiert, dass dieser die Prohibition in den USA gerade aufgrund seines Glaubens an die »individuelle Freiheit« befürworte.37 Der durch seine rationalisierte, industrielle Massenproduktion bekannte Mag- nat berief sich auf seine Expertise als erfahrener und erfolgreicher Großun-

der Internationale Monatsschrift (vgl. Forel, A., »Alkohol und Muskelarbeit«, Inter- nationale Monatsschrift 10 (1897), S. 307-320). 36 Vgl. den Bericht zum Oltener Ärztetag 1896 in »Rundschau«, Internationale Mo- natsschrift 2 (1897), S. 59-63. Elias Haffter, Redaktor des Correspondenz-Blatts für Schweizer Ärzte, versuchte in einem privaten Brief die Wogen zu glätten (vgl. »Elias Haffter an Auguste Forel«, Forel, A., Briefe – Correspondance 1864-1927, S. 327 f.; »Hermann Sahli an Auguste Forel, 7. 11. 1896«, ebd., S. 319 ff. Die private Korrespondenz findet sich im Archiv des Medizinhistorischen Archivs Zürich [PN 31. 1. 86-94]. Vgl. weiter Frey, H., Alkohol und Muskelermüdung: eine kritische Studie (Leipzig, 1903); Frey, H., Über den Einfluss des Alkohols auf die Muskelermü- dung (Basel: Sallmann, 1896); Fick, A., »Alkohol und Muskelkraft«, Internationale Monatsschrift 5 (1898), S. 161-164. Die meisten Beteiligten hatten die Wirkungen des Alkohols bereits am Oltener Ärztetag das Jahr zuvor (1895) anscheinend ohne großen Streit thematisiert (vgl. dazu Jaquets Zusammenfassung unter »Vereins- bericht«, Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte, XXV, S. 784-793). 37 »Henry Ford und das Alkoholproblem«, Schweizer Abstinent 24 (1929), S. 101. 260 Die Rhetorik der Wirklichkeit ternehmer und ließ verlauten, dass der Alkohol die effektiven Arbeitstage auf zwei bis drei pro Woche reduzieren würde.38 Ferner drohte Ford gar, bei einer Aufhebung der Prohibition seine Betriebe in den USA zu schlie- ßen. Der Artikel wurde 1927 und damit zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu welchem bereits alkoholgegnerische Artikel zur Prohibition in den USA durchblicken ließen, dass das »noble Experiment« zumindest in einigen Städten nicht mehr durchführbar sei. Die zusätzlichen, lobenden Verweise auf den Tschechen Tomas Bata legen nahe, dass das Modell des »Fordismus« weniger mit anti-amerikanischen Ressentiments behaftet war. Im Gegenteil schienen viele sozialhygienisch geprägte Abstinente Antonio Gramscis Op- timismus zu diesem Produktionsmodell zu folgen, das als ein effizient rati- onalisiertes und damit fortschrittliches System begrüßt wurde.39 Auf einer individuellen Ebene akzentuierten alle alkoholgegnerischen Zeitschriften zugleich die Versprechungen des durch Abstinenz realisier- baren sozialen Aufstiegs. Dabei fällt auf, dass sozialhygienische Medien stärker auf materielle Indikatoren für gesellschaftliche Anerkennung fo- kussierten als die religiös geprägten Abstinenzblätter, welche stärker auf emotionale Erfahrungsberichte abzielten. In den Zeitschriften des Blauen Kreuzes dominierten Geschichten vom »Fall« und der anschließenden »Rettung« ehemaliger Trinker, die über ihre zweifache Bekehrung zu Gott und zur Abstinenz ungeahnte Lebensfreuden neu entdeckten. Diese Er- zählungen fokussierten jeweils auf die subjektive Erfahrungsebene der Protagonisten sowie ihrer Familien, wobei sie insbesondere Emotionen des Mitleids sowie der Hoffnung vermittelten. Über den gesamten Un- tersuchungszeitraum hinweg stellten derartige Geschichten einen wesent- lichen Bestandteil der Zeitschriftenausgaben dar. Prominente Erzählungen stammten etwa von Ernst Traugott40 mit seinen Mostauern oder von Jakob Bosshart mit seinen Schwarzmattleuten, in welchen sie aus der Perspektive von aufmerksamen Jugendlichen erschütternde Familiendramen aus ima- ginären Schweizer Ortschaften beschrieben.41 Eine Vielzahl dieser alkohol-

38 Ebd., S. 101. 39 Vgl. »Nachrichten aus Trockenland«, Schweizer Abstinent 5 (1927), S. 134; »Der tschechische Ford«, Schweizer Abstinent 21 (1929), S. 87; Tyrrell, I., »Prohibition, American Cultural Expansion, and the New Hegemony in the 1920s«, S. 440 f. Ian Tyrrell verweist jedoch auch auf den Hinweis von Seiten der Anti-Prohibitionisten, dass Ford auch in nicht-abstinente europäische Betriebe investierte. 40 Vermutlich handelt es sich hierbei um ein Pseudonym. 41 Vgl. Traugott, E., Die Mostauer (Bern: Schweizerische Agentur des Blauen Kreu- zes, 1924); Bosshart, J., Die Schwarzmattleute, Jungbrunnenheft XVIII (Lausanne, Bern: Schweiz. Verein abstinenter Lehrer und Lehrerinnen, 1924). Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 261 gegnerischen Erzählungen thematisierten die Schwierigkeit, Trinkende aus ihren Gewohnheiten zu »befreien«, indem sie auf gesellschaftliche Trink- zwänge hinwiesen, die sie vielfach auf die »Trinksitten« sowie die angeb- lich gewissenlosen Wirte projizierten. Eine Überwindung dieser Zwänge wurde in auffällig vielen Geschichten durch weinende Frauen oder Kinder aus dem nächsten Umfeld der Trinker ausgelöst. Damit wurde der Tief- und Wendepunkt der »geretteten« Protagonisten weniger mit ihrem Be- wusstwerden über die den Nächsten zugefügten ökonomischen Benachtei- ligungen in Verbindung gebracht als mit der Realisation der Trinker, durch ihr Verhalten das sinnlich-vitale Empfinden der Nächsten stark getrübt zu haben. Die Träne fungierte darin als ein authentisches Symbol für die Liebe sowie das Leiden der Betroffenen und ließ die Trinker die tatsächli- chen Auswirkungen ihrer Gewohnheit auf die Erfahrungswelt ihres Um- felds erkennen.42 Gleichzeitig stellte ein an diese Realisation anschließen- des Bekenntnis zur Abstinenz einen Akt der Nächstenliebe dar. Vor diesem Bekehrungsmoment brachten die religiös aufgeladenen Geschichten das Ideal der Produktivität von Gesellschaften, das in sozi- alhygienischen Diskursen oft durch quantifizierende Vergleiche darge- stellt wurde, in Form von subtilen Symbolen für ökonomische Sicherheit von Familien zum Ausdruck: Schuldenfreiheit und Qualität von Mobi- liar, Kleidung und Ernährung fungierten in diesen Erzählungen nicht bloß als soziale ›Marker‹, sondern akzentuierten auch das Ideal der eigen- ständigen Familien, die möglichst nicht der Fürsorge einer Dorfgemein- schaft zur Last fallen sollte. Umgekehrt symbolisierten sie auch den mit ansteigendem Selbstver sorgungs grad einer Familie einhergehenden sozi- alen Respekt. Im Illustrierten Arbeiterfreund wurden derartige Deutungen von sozialem Status selten auch bildlich illustriert, wie etwa in der Erzäh- lung »Am Samstag Abend«, in der die Familie Keusch in Abbildung 6 den bis zur Ohnmacht betrunkenen Robert Grell auffindet.43 Die dem Al- koholkonsum zugeschriebene »soziale Degradierung« der Trinker wurde in dieser Illustration durch unterschiedliche vertikale Bildebenen umge- setzt, worauf nicht zuletzt die nach unten gerichteten Blicke der vorüber- schreitenden Familie aufmerksam machen. Der Gegensatz zwischen dem ›ordentlichen‹ Kollektiv der Familie und dem ›unordentlichen‹, einsamen Individuum wird durch Kleidung und weitere Attribute zusätzlich ver- schärft. So verweist die neben Herrn Grell platzierte Pfeife auf dessen all-

42 Die Bedeutung der Träne als Beweis der Liebe hatte allen voran Arnold Bovet her- vorgehoben (vgl. Illustrierter Arbeiterfreund 4 (1906), S. 25 f.). 43 »Am Samstag Abend«, Illustrierter Arbeiterfreund 11 (1887), S. 41 f. 262 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Abbildung 6: »Herr Grell sozial degradiert«, Illustrierter Arbeiterfreund 1888, Nr. 11, S. 41.

gemeine Disposition zur »Genusssucht«, während der mit »Butter, Eiern und Obst« gefüllte Korb in der Hand des oberen Familienvaters diesen als verantwortungsbewussten Ernährer seiner Familie zu erkennen gibt. Ob- schon die Illustration primär auf das Merkmal der Ordentlichkeit fokus- siert, verweist die dazu abgedruckte Erzählung indirekt auf die Stabilität einer interdependenten Gesellschaft, in der deviante, also nicht selbstge- nügsame Subjekte wie Herr Grell allen Beteiligten zur Last fallen. In der Internationalen Monatsschrift waren diese subjektiv gefärbten Beschreibungen eines sozialen Aufstiegs aufgrund der Alkoholabstinenz weit seltener. Soziale Status-›Marker‹ wie Kleidung waren nicht vollkom- men abwesend, wurden aber deutlicher mit der Produktivität ihrer Träger in Verbindung gebracht. Eine Ausnahme stellte ein Artikel dar, der zur Steigerung seines Authentizitätsanspruchs auf Fotografien zurückgriff. Der mit Abbildung 7 versehene Beitrag zum sozialen Aufstieg »geheil- ter« Trinker betonte dabei immer wieder, dass diese Bilder eine ›wahre‹ Entwicklung wiedergäben, die nicht nur ›objektiv‹ anhand der Kleidung eingesehen werden könne, sondern auch der persön lichen Erfahrung des Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 263

Abbildung 7: »Der soziale Aufstieg des Herrn K.«, Illustration aus: Dr. Julius Metzl: »Die Entwicklung der Arbeitsmethode der Trinkerfürsorgestelle Brigittenau«, Internationale Monatsschrift 2 (1927), S. 77.

abgebildeten »Sackträger K.« entspreche. Eine Kontextualisierung der un- terschiedlichen Inszenierungen dieser Fotos strebte der Autor des Berichts, Pol.-San.-Rat Dr. Julius Metzl, nicht an. Stattdessen begnügte er sich mit der Anmerkung, dass der »Sackträger K.« auf die Veröffentlichung die- ses bildlichen Vergleichs bestanden habe, da darauf dessen Erfahrung der »Abstinenz als Erwachen aus einem bösen Traum« sichtbar zum Ausdruck komme.44 Der Bericht bezog K.s gesteigertes Wohlbefinden wesentlich auf den Umstand, dass dieser nicht mehr durch die Gemeinschaft unter- stützt werden müsse, sondern aufgrund seiner ordentlichen und geregelten Arbeit nun eine Stütze der Gemeinschaft darstelle.45 Somit transportierte

44 Metzl, J., »Die Entwicklung der Arbeitsmethode der Trinkerfürsorgestelle Brigitte- nau«, Internationale Monatsschrift 2 (1927), S. 65 -79 (77). 45 Ebd., S. 73-77. 264 Die Rhetorik der Wirklichkeit auch dieser Artikel die Idee, dass Arbeit zu einer erfüllenden Teilhabe an einer intersubjektiven Wirklichkeit verhilft.

Sterblichkeit und Unfälle

Bereits vor dem Aufkommen der sozialhygienischen Strömung um Forel und Bunge war die Ansicht verbreitet, dass chronische Alkoholkonsumen- tinnen und -ko nsumenten im Vergleich zu Abstinenten oder »Mäßigen« durchschnittlich früher sterben würden. Beson ders ausführlich befasste sich etwa der deutsche Gefängnisarzt Abraham Baer in seinem 1878 ver- öffentlichten Werk Der Alcoholismus mit diesem vermuteten Zusam men- hang.46 Seiner mit Statistiken untermauerten Ansicht nach waren Trunk- süchtige aufgrund ihrer angeschlagenen Konstitution nicht nur einem erhöhten Erkrankungsrisiko ausgesetzt, sondern erlagen den eingefange- nen Erkrankungen auch signifikant häufiger. 47 Der Arzt unterschied da- bei »direkte« von »indirekten Todesursachen«. Zu den »direkten« Ursachen zählte er Todesfälle, die auf eine massive akute Alkoholintoxikation oder auf ein Delirium Tremens zurückgeführt wurden. Bereits dieses Wissen zur Wahr schein lichkeit eines tödlichen Alkoholdelirs wies eine starke kolo niale Prägung auf: Die Statistiken dazu stammten zu weiten Teilen aus den bri- tischen Kolonien East Indias.48 Als »indirekte«, auf den Alkoholismus zu- rückgeführte Todes ursachen diskutierte Baer hauptsächlich die unter Alko- holeinfluss ereigneten Unfälle und Suizide. Dabei erklärte er die vermutete Beziehung zwischen Alkohol und Selbstmord einerseits mit einem »Schleier der Vergessenheit«,49 der während der akuten Trunkenheit den Schritt in den Tod erleichtern würde, andererseits deutete er jenen Akt als Ausdruck der Verzweiflung, als letzten Ausweg der Trinkenden aus den Konsequen- zen ihrer fehlenden Selbst kontrolle. Die in Baers Kompilation von Statistiken systematisierten Annahmen zum Thema Alkohol und Sterblichkeit hielten sich konstant in den ver- schiedenen alkoholgegneri schen Kreisen. Beliebt waren dabei Verweise

46 Baer, A. A., Der Alcoholismus. Seine Verbreitung und seine Wirkung auf den indivi- duellen und socialen Organismus (Berlin, 1878), S. 278-316. Zur Bedeutung dieses Werks vgl. Spode, Die Macht der Trunkenheit, S. 133, sowie Kapitel 1 & 3. 47 Baer, A. A., Der Alcoholismus, S. 281: »Bei Alkoholisten tritt jede Krankheit mit einer größeren Intensität und mit einem perniciöseren Verlaufe auf, als bei mäßi- gen oder nüchternen Personen, und ganz besonders deutlich ist das bei fieberhaften Krankheiten der Fall.« 48 Ebd., S. 287. 49 Ebd., S. 299. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 265 auf die Statistiken von Lebensversicherungs-Gesellschaften, die den Abs- tinenten eine durchschnittlich längere Lebens spanne zuschrieben.50 Diese wurden im Kalender des Arbeiterfreunds bereits ab 1896 in grafische Dar- stellungen übersetzt,51 während in der Internationalen Monatsschrift haupt- säch lich methodische Fragen zur Aussagekraft derartiger Korrelationen sowie nach plausiblen Erklärungsansätzen im Zentrum standen.52 Beson- dere Aufmerksamkeit kam bei Letzterem der These des abstinenten For- schers Taav Laitinen zu, der auf Grundlage untersuchter Blutkörperchen bei Alkoholkonsumenten eine geschwächte Immunität nachgewiesen zu haben glaubte.53 Trotz der zahlreichen, auch durch abstinente Ärzte vor- gebrachten Hinweise auf Störvariablen wurden vergleichende Statistiken zu Sterblich keit und Produktivität als wertvolles Propaganda-Material be- trachtet, das die alltägliche Wahrnehmung vieler Abstinenter zu bestätigen schien. Unter der Ärzteschaft außerhalb jenes abstinenten Kreises fanden sich aber auch Stimmen wie die des Basler Arztes Alfred Jaquet, der diesen Statistiken jeglichen wissenschaftlichen Wert absprach.54 Der andere große Referenzpunkt zur Kategorie der indirekten Todes- fälle war die Unfallhäufigkeit. Diese Thematik wurde bereits von Baer und anschließend in frühen Zeitschrift-Beiträgen der Alkoholgegnerschaft auf-

50 Oscar H. Rogers der New York Life Insurance Company schloss etwa 1923 aus seinen Statistiken, dass Abstinente im Vergleich mit Nicht-Abstinenten durchschnittlich signifikant länger (123  zu 100 ) leben würden. Vgl. Kneale, J. und French, S., »The Relations of Inebriety to Insurance: Geographies of Medicine, Insurance and Alcohol in Britain«, in Intoxication and Society: Problematic Pleasures of Drugs and Alcohol, herausgegeben von Herring, J., et al. (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2013), S. 87-109; Rogers, O. H., »The Effects of Alcohol upon Longevity«, In- ternationale Monatsschrift 5 (1923), S. 221-233; Westergaard, H., »Eine bevorste- hende Sterblichkeitsuntersuchung«, Internationale Monatsschrift 4 /5 (1927), S. 274- 282; »Abstinenten-Lebensversicherungen«, Schweizer Abstinent 21 /22 (1920), S. 45; Stump, J., Willenegger, R. und Blocher, H., Graphische Tabellen mit Begleittext zur Alkoholfrage (Zürich: R. Willenegger, 1907), S. 115-138. 51 »Alkohol und Sterblichkeit«, Kalender des Arbeiterfreunds (1896), S. 82 f. 52 Vgl. u. a. »Die ärztliche Sterbestatistik der Schweiz«, Internationale Monatsschrift 4 (1892), S. 116-120; »Die Trunksucht als Todesursache in der Schweiz«, Internationale Monatsschrift 5 (1892), S. 152 ff.; »Schweizerische Trinkerstatistik und einiges mehr«, Internationale Monatsschrift 1 (1894), S. 21-21. 53 Laitinen, T., »The Influence of alcohol on immunity«, S. 61-106. Laitinen ging davon aus, dass selbst ein tägliches Glas Bier schädigende Auswirkungen haben könne (vgl. Laitinen, T., »Der Einfluss des Alkohols auf die Nachkommenschaft des Menschen«, Internationale Monatsschrift 6 (1910), S. 193-198). 54 Eine Zusammenfassung seines 1895 vor dem Schweizer ärztlichen Centralverein gehaltenen Vortrages »Die Wirkung des Alcohols auf den Organismus« veröffent- lichte Alfred Jaquet im Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte XXV (1895), S. 784. 266 Die Rhetorik der Wirklichkeit gegriffen, wobei Letztere mit Vorliebe die auffällig erhöhte Unfallhäufig- keit in Brauberufen zitierte.55 Neben diesem Fokus auf Brauberufe blieben Statistiken zum Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Unfall- häufigkeit an verschiedensten Arbeitsplätzen beliebte Mittel zur Illustra- tion der Gefährlichkeit des Alkohols. Im Kontext von Tod, Invalidität so- wie von einer verringerten Produktivität schwang das dabei erfahrene Leid der Betroffenen zumeist bloß im Subtext mit. Um 1905 rückte das Sprem- berger Zugunglück zusätzlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Zu- sammenhang zwischen Alkohol und Verkehrssicherheit. Am 19. August waren im deutschen Spremberg zwei Züge frontal miteinander kollidiert, was 40 zum Teil schwer Verletzte sowie 17 bis 19 Todesfälle nach sich zog. Die anschließenden Untersuchungen ließen vermuten, dass der in Sprem- berg stationierte Fahrdienstleiter zum Zeitpunkt des Unfalls unter Alko- holeinfluss gestanden hat. Dieser Verdacht leistete der Ansicht Vorschub, dass diese Katastrophe bei nüchternem Personal wohl kaum eingetroffen wäre. Das Zugunglück mit seinen eindrücklichen Konsequenzen stellte ein besonderes Beispiel für die Fremdgefährdung dar, die von einigen we- nigen Alkoholisierten ausgehen konnte. Die Kollision verdeutlichte aber nicht nur das vom Alkohol ausgehende Schadenspotenzial in Bezug auf Leben und Gesundheit. Mit der geschätzten Schadenssumme von zwei Millionen Goldmark ließ sich das Ausmaß des Unfalls auch in empö- rend hohen Zahlen ausdrücken, was die abstinenten Eisenbahner prompt als enormes Sparpotenzial durch Nüchternheit bewarben.56 In beinahe al- len Thematisierungen von alkoholbedingten Unfällen war damit die Bot- schaft der durch Alkohol gesteigerten Fremdgefährdung präsent. Die al- koholgegnerischen Statistiken waren derart überzeugend, dass sich in den 1920er-Jahren die ILO der Problematik des Alkoholausschanks an Arbeits- stätten annahm.57 Ab den 1920er-Jahren erfuhr insbesondere der motorisierte Individual- verkehr eine erhöhte Aufmerksamkeit durch die Alkoholgegnerschaft. Da-

55 Vgl. dazu auch Blocher, H., »Die Sterblichkeit in den Alkoholgewerben nach den Erfahrungen der Gothaer Lebensversicherungsbank von 1852-1902«, Internationale Monatsschrift 7 (1905), S. 193-200. Vgl. auch die Illustration der Wanderausstellung »Die Anzahl der Unfälle im Brauereigewerbe« [Archiv Sucht-Schweiz, MU 18]. 56 Vgl. Fürer, C., »Wer trägt die Schuld am Spremberger Zugunglück«, Internationale Monatsschrift 1 (1906), S. 42 ff.; Miethke, W., »Alkohol und Unfallhäufigkeit«, In- ternationale Monatsschrift 3 (1906), S. 77-82. 57 Vgl. Tapio Voionmaa, »The influence of alcoholism upon accident occurence«, In- ternationale Monatsschrift 1 (1972), S. 8-22. Zur Kontextualisierung vgl. Pernet, C., »Die Grenzen der ›global governance‹«. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 267 bei mokierten sich Angehörige des Guttemplerordens etwa über Aussagen des Chefs des Eidgenössischen Motorwagendienstes. Dieser hatte verlau- ten lassen, in angetrunkenem Zustand »aus einem Gefühl hoher Verant- wortlichkeit heraus« jeweils doppelt vorsichtig zu fahren.58 Die dabei zum Ausdruck gebrachte Empörung stützte sich im Wesentlichen auf die heut- zutage etablierte Ansicht, dass die Verantwortlichkeit einer alkoholisier- ten Person auch bei besten Absichten derselben eingeschränkt sei.59 Gegen Ende der 1920er-Jahre forderten die sozialhygienisch geprägten Zeitschrif- ten mit Verweisen auf Debatten aus den Nordischen Ländern zunehmend strikte Alkoholverbote für Automobilisten. Gefordert wurden Ahndungen von Verstößen durch Bußen, Führerschein-Entzüge bis hin zu Gefäng- nisstrafen.60 Dazu wurde in der Internationalen Monatsschrift über ange- messene Methoden zur Messung des Grades der alkoholischen Intoxika- tion debattiert, wobei Forderungen nach einer Einführung der Blutprobe erst ab den 1930er-Jahren an Nachdruck gewannen. Zunächst erschienen einigen Autoren die in den meisten Staaten geltenden Rechte zum Schutz der Persönlichkeit als Haupthindernis jener aufwendigen Messmethode, die sich jedoch allmählich – auch aufgrund positiver Erfahrungsberichte aus Norwegen – etablierte.61 In der Schweiz wurde die Anordnung von Blutproben im Straßenverkehrsgesetz (SVG) vom 19. Dezember 1958 ge- setzlich festgelegt.62

Kriminalität und kindliche Entwicklung

Als der Gefängnisarzt Abraham Baer 1878 einen engen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Verbrechen beschrieb, untermauerte er da- mit ein altbekanntes Thema.63 Auch seine Erklärungen bezogen sich auf

58 »Auch ein Standpunkt«, Schweizer Abstinent 23 (1928), S. 218. 59 Vgl. dazu allen voran Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems: Drinking- Driving and the Symbolic Order«, S. 201-230. 60 Vgl. »Schutz für die Fußgänger«, Schweizer Abstinent 25 (1929), S. 105. 61 Klausen, H., »Über das Verhältnis zwischen der Alkoholkonzentration im Blute und dem Grad der Alkoholbeeinflussung«, Internationale Monatsschrift 1 (1938), S. 1-7; Widmark, E.; Hansen, K., »Alkohol und Verkehrsunfälle«, Internationale Monatsschrift 3 (1938), S. 121-135; Gabriel, E., »Verkehrsunfall«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1933), S. 55. 62 Siehe SVG vom 19. 12. 1958, Art. 55, online unter: http://www.admin.ch/opc/de/ classified-compilation/19580266/index.html [Stand: 27. 2. 2014]. 63 So bekräftigte in England etwa bereits 1834 eine parlamentarische Kommission den Zusammenhang zwischen Alkohol und Kriminalität, aber auch Robert Baird wies in seiner verbreiteten Schrift auf die hohe Anzahl von trunksüchtigen Verbrechern 268 Die Rhetorik der Wirklichkeit vertraute Erklärungen der Sittlich keits reform: Der Gefängnisarzt bemühte im Fall einer akuten Trunkenheit die Erklärung einer bei den Alkoholisier- ten herabgesetzten Selbstkontrolle über deren »Neigungen und Triebe«.64 Die chronische Trunksucht führe zu einer Prävalenz »lüsterne[r] Gedan- ken«, betäube das Gewissen und böte zudem die Möglichkeit, »böse Hand- lungen« mit Hinweis auf Trunkenheit zu entschuldigen.65 Außerdem be- fördere die kostspielige Substanz beschaffung zur Stillung der Trunksucht auch kriminelle Akte. In der Folge diskutierte Baer eine Vielzahl von Un- tersuchungen und Gefängnisstatistiken aus europäischen Ländern. Dabei tauchten auch einige Fälle auf, in welchen eine Zunahme der Trunksucht bei gleichzeitiger Abnahme der Verurteilungen beobachtet wurde. Diese Unregel mäßigkeiten erklärte Baer mit dem Wirkungsverlust von nicht nä- her beschriebenen weiteren »Constanten«, die zuvor das Verbrechen be- günstigt hätten. Unbeeindruckt davon artikulierte der Mediziner seine »[…] Überzeugung, dass die Trunksucht wie kein anderes Moment das Verbrechen bedingt und befördert.«66 Die sozialhygienisch geprägte Abstinenzbewegung spitzte die Erklärun- gen zum Zusam menhang zwischen Alkohol und Verbrechen weiter zu, in- dem die Wirkung des Äthyls in medizinischen Fachbegriffen beschrieben und auf fassbare Organe bezogen wurde. So erklärte Forel, der Alkohol bewirke im Großhirn eine »Abstumpfung der höheren, allen voran aber der ethischen und ästhetischen Seeleneigenschaften.«67 Aus dieser Vorstel- lung folgerte er, dass jeder Alkohol-Rausch im Grunde »krankhaft« sei.68 Die Verbindung zwischen Alkohol und Kriminalität war bereits vor dem Aufstieg der »Zürcher Schule«69 verbreitet, erfuhr jedoch eine zusätzliche Erweiterung durch Forels biologistischen Vererbungstheorie.70 In Ein-

hin (Baird, R., Histoire des sociétés de tempérance des États-Unis d’Amérique avec quel- ques détails sur celles de l’Angleterre, de la Suède et autres contrées (Paris: Hachette, 1836), S. 82. 64 Baer, A. A., Der Alcoholismus, S. 338. 65 Ebd., S. 358. 66 Ebd., S. 358. 67 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen, S. 6. 68 Ebd., S. 7. 69 Ritter, H. J., Psychiatrie und Eugenik: Zur Ausprägung eugenischer Denk- und Hand- lungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie, 1850-1950 (Zürich: Chronos, 2009), S. 27. 70 Jedoch legte Forel 1922 Wert darauf, dass die Blastophthorie nicht gleichbedeutend sei wie Vererbung, vgl. Forel, A., »Hérédité et Blastophtorie«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1922), S. 22-25. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 269 klang mit Cesare Lombrosos Theorie des »geborenen Verbrechers«71 legten Forel und verschiedene Degenerations-Theoretiker die Vermutung nahe, dass sogenannte »Rauschkinder« aufgrund angeborener »Defekte« nur be- schränkt zu ethischem Handeln befähigt seien und dementsprechend zu kriminellem Verhalten neigten.72 Eines der wichtigsten Argumente gegen den moderaten Alkoholkon- sum war die von diversen Rassenhygienikern gestützte Annahme, dass auch der gesellschaftlich akzeptierte »moderate« Alkoholkonsum die Erb- anlagen der Konsumenten (»Keim plasma«) direkt schädige.73 Hatte bereits Benjamin Rush gegen Ende des 18. Jahr hunderts über vererbbare Alkohol- schäden spekuliert, formulierten Sozialhygieniker diese Annahmen mit einer Bestimmtheit, die kaum Raum für Zweifel ließ. Gustav von Bunge koppelte den individuellen Alkoholkonsum an die Reproduktion gan- zer »Volkskollektive«, indem er diesen Konsum mit markigen Worten als potenzielles Kapital verbrechen beschrieb: »Das Zeugen kranker, entarte- ter Kinder ist das schwerste Ver brechen, das Menschen überhaupt bege- hen können.«74 Das dabei bemühte Schlagwort der »Entartung« erwies sich als äußerst dehnbar. Im Kern umfasste es somatische Ausprägungen wie Tuberkulose, Psychosen oder schwächliche und somit nicht funkti- onstüchtige Körper, jedoch verwendeten auffallend viele auf spezifisch ausgewählten »Trinkerfamilien« basierende Degenerations-Diagnosen mo- ralisch gefärb te Begriffe wie »begabt«, »ordentlich« oder »sittlich verkom- men« (vgl. dazu Abbildung 8).

71 Forel war mit Lombroso befreundet und beschrieb diesen als »genialen italieni- schen Juden«, kritisierte aber dessen »Irrtümer«, z.B. einen spezifischen Typ des geborenen Verbrechers anzunehmen (vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 160). 72 Vgl. Ritter, H. J., Psychiatrie und Eugenik, S. 21; Forel, A., Alkohol und Geistes- störungen, S. 12. Dabei wurden aber vielfach auch soziale Einflüsse, etwa unter dem Stichwort der familiären »Milieuschädigung«, berücksichtigt (vgl. Pohlisch, »Alkohol und Nachkommenschaft«, Internationale Monatsschrift 6 (1929), S. 332- 343 (337)). 73 Vgl. Forel, A., »Der verderbliche Einfluss des Alkohols auf die Völker durch die Vererbung des von ihnen erzeugten Schadens«, Internationale Monatsschrift 9 (1899), S. 260-264; Ploetz, A., »Der Alkohol im Lebensprozess der Rasse, mit einer Einleitung über den Begriff der Rasse«, Internationale Monatsschrift 8 (1903), 24-256 (255): »[…] bereits der mittelmäßige Genuss kann zur Degeneration der Kinder führen.« Vgl. dazu auch: Laitinen, T., »Der Einfluss des Alkohols auf die Nach- kommenschaft des Menschen«, Internationale Monatsschrift 6 (1910), S. 193-198; Sauerteig, L., Krankheit, Sexualität, Gesellschaft, S. 46. 74 Gustav von Bunge zitiert in »Gedichtmäßig«, Schweizer Abstinent 19 /20 (1920), S. 6 (im Original fett). 270 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Abbildung 8: Schaubild aus dem internationalen Jahrbuch des Alkoholgegners 1923 /24, S. 161.

Während derartige negative Bewertungen des Nachwuchses in den Bei- trägen der Blaukreuz-Zeitschriften vielfach einem nachteiligen familiären Milieu zugeschrieben wurden, stand in den in sozialhygienisch geprägten Periodika die Idee einer biologisch prädeterminierten »Begabung« stär- ker im Vordergrund. Das auf eine biologisch determi nierte »Tüchtigkeit« der Kinder abzielende Motto »Vorbeugen ist auch in diesem Fall besser als heilen« hallte über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg durch die sozialhygienisch geprägten Medien.75 Zur Verdeutlichung des dem Alko- holgenuss der Eltern zugeschriebenen ›Leistungs-Defizits‹ nutzte die durch zahlreiche abstinente Lehrper sonen mitgetragene Bewegung den durch Schulhäuser vorhandenen Beobach tungs raum extensiv. Die in den alkohol- gegnerischen Zeitschriften abgedruckten Statis tiken zum Zusammenhang von Schulnoten und elterlichem Trinkverhalten verdeutlichten eine starke Korrelation zwischen Abstinenz und »Unterrichtserfolg«.76 Indem etwa

75 D. P. V., »Geistig abnorme Kinder«, Schweizer Abstinent 5 /6 (1929), S. 9. Vgl. dazu etwa: Blocher, H., »Der Einfluss des Alkohols durch die Vererbung«, Internationale Monatsschrift 3 (1900), S. 122-128; Blocher, H., »Alkoholismus und Degeneration«, Internationale Monatsschrift 1 (1904), S. 33-37; Forel, A., »Hérédité et Blastophtho- rie«, Internationale Monatsschrift 1 (1922), S. 22-25. 76 Vgl. dazu u. a. Aschaffenburg, G., »Der derzeitige Standpunkt unserer Kenntnisse von den Wirkungen des Alkohols auf geistige und körperliche Arbeit«, Internatio- Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 271 das familiäre Umfeld der Abstinenten als stille und lernfreundliche Um- gebung dargestellt wurde wurden soziale Erklärungen in den Vordergrund gerückt.77 Die einfache Kompilation und Vergleichbarkeit von Schul- noten ermöglichte verallgemei nern de Aussagen zu einem Thema, von dem weite Teile der Bevölkerung direkt betroffen waren. Indem die alkohol- gegnerischen Statistiken zu Schulleistungen eine Komplexitätsreduktion auf das elterliche Trinkverhalten nahelegten, vermittelten sie ein einfaches Rezept zur Erzielung einer positiven Wirkung auf die soziale Wirklichkeit. Trotz der Anerkennung von sozialen und psychologischen Einflüssen auf das Trinkver hal ten waren auf biologistische Vererbungstheorien abzie- lende Erklärungs an sätze aus dem alkoholgegnerischen Medikalisierungs- diskurs jedoch nicht wegzudenken. In der deutschsprachigen Ärzteschaft wurde kaum darüber gestritten, ob der unmäßige Alkoholgenuss von El- tern und Kindern die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit des Nachwuchses herabsetzten könne. Zum Streitpunkt wurde vielmehr die von abstinen ten Sozialhygienikerinnen und Sozialhygienikern vertretene Annahme, dass bereits der mäßige Alkohol genuss der Eltern die Kinder ge- fährde. Dabei wurde der trinkfreundlichen Mehrheit der Ärzteschaft von abstinenter Seite her vielfach vorgehalten, dass diese sich auf keine Defini- tion von »Mäßigkeit« einigen konnte. Der zuvor erwähnte Pharmakologe Jaquet etwa setzte die Obergrenze des noch zulässigen täglichen Alkohol- konsums bei 60 Gramm Alkohol an. Der abstinente Paul Dubois rechnete daraufhin vor, dass diese tägliche Grenze etwa »vier Gläschen Cognac, etwa 1,5-2 Liter[n] Bier oder einer guten Flasche Wein« entspräche und kri- tisierte diese Obergrenze als zu hoch.78 Trotzdem beweg ten sich die meis- ten Definitionen bis in die 1970er-Jahre zwischen 35-120 Gramm absolu- tem Alkohol, und auch zu Beginn des 3. Milleniums wurden Grenzwerte von 50 Gramm bei Frauen und 80 Gramm bei Männern genannt.79 Über-

nale Monatsschrift 1 (1898), S. 1-4; Stump, J., Willenegger, R. und Blocher, H., Gra- phische Tabellen mit Begleittext zur Alkoholfrage (Tabelle B9, »Alkohol und geistige Arbeit«). 77 Vgl. etwa die Illustration der Wanderausstellung »Alkoholgenuss und Unterrichts- erfolg« [Archiv Sucht-Schweiz, MU 18]. 78 Dubois, P., »Alcohol als sogenanntes Heilmittel«, Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte XXV (1895), S. 785-789 (789). Vgl. auch A. Jaquets Zusammenfassung seines Vortrags »Die Wirkung des Alcohols auf den Organismus« im Correspondenz-Blatt für Schweizer Ärzte XXV (1895), S. 784. 79 Vgl. Bruun, K. et al., Alcohol control policies in public health perspective (Helsinki: Akateeminen kirjakauppa, 1975), S. 27; Tanner, J., »Alkoholismus«, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), online unter: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D16558.php [Stand: 4. 6. 2002]. 272 Die Rhetorik der Wirklichkeit dies warfen abstinente Ärzte wie Dubois das Argument ein, dass ein der- artiger Standard angesichts der individuell verschiedenen Reaktionen auf Alkohol gefährlich sei, da sich spezifisch veranlagte Personen dadurch in einer falschen Sicherheit wiegen würden. Diesem Argument wurde in me- dizinischen Kreisen selten direkt widersprochen, jedoch liefen die meisten Entgegnungen auf den Hinweis hinaus, dass nur eine kleinste Minderheit derart gefähr det sei und es dementsprechend unverhältnismäßig wäre, aus Rücksicht auf diese Einzel fälle die gesamte Gesellschaft zur Abstinenz zu bewegen.80 Damit stellte diese Argumentati onslinie eine große Mehrheit einer marginalisierten Minderheit gegenüber und stellte die Frage in den Raum, zu wie viel Rücksicht – verstanden als Verzicht auf persönli chen Genuss – die Mitglieder einer Gesellschaft verpflichtet seien. Im Kontext von stets wandelbaren kollektiven Wahrnehmungen, wer einer »Minder- heit« angehöre und welche Formen von »Genuss« sozial legitim seien, ist diese Frage kaum abschließend zu beantworten. Stattdessen empfiehlt sich ein genauerer Blick auf die Art und Weise, wie die Abstinenten ihren An- spruch stützten, dass ihre Lesart der sozialen Wirklichkeit am gerechtesten würde. Die an die Öffentlichkeit vermittelten Rezepte zur Verminderung von Kriminalität sowie von benachteiligtem Nachwuchs bestachen durch eine Einfachheit, die gerade durch eine Vereinfachung der jeweils vielfäl- tigen sozialen Einflüsse zustande kam. Grundlegend waren dabei die An- nahmen einer durch alkoholische Berau schung herabgesetzten Fähigkeit zu ethischem Verhalten sowie einer biologischen Schädi gung des Nach- wuchses durch den Alkoholkonsum der Mutter, die unter dem Begriff der »Alkohol-Embryopa thie«81 auch in aktuel len Debatten noch immer auf weite Anerkennung stoßen. In Medienberichten zu kriminellen Ak- ten scheint der zum Zeitpunkt der Tat alkoholisierte Zustand einer Person vielfach als hinreichende Erklärung für das Verhalten jener Person zu fun- gieren.82 Ob berechtigt oder nicht, tendieren derartige Erklärungen doch dazu, über komplexere Vor geschichten der Betroffenen hinwegzusehen.

80 Für eine ausführlichere Besprechung jener Debatten vgl. Kapitel 2. 81 Vgl. dazu ICD-10 (Version 2010), Kapitel XVII, Q86.0; online unter: http://apps.who.int/classifications/icd10/browse/2010/en [Stand: 27. 2. 2014]. 82 Vgl. dazu die Ausführungen zur Vorstellung eines durch den Alkohol verfremdeten Selbst im letzten Abschnitt dieses Kapitels. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 273

Gesundheit und Medikalisierung

Im alkoholgegnerischen Diskurs waren Lemmata von »Gesundheit« om- nipräsent. Vielfach bezogen sich die alkoholgegnerischen Akteure auf ein weites Verständnis des Begriffs, das zugleich die subjektive Befindlichkeit eines Individuums als auch die existierenden gesellschaftlichen Strukturen zu berücksichtigen hatte. Als grundlegende Vorbedingung eines als »ge- sund« verstandenen Zustandes galt das Überleben an sich, jedoch wurden je nach Standpunkt eine Vielzahl von qualitativen weiteren Forderungen an das Verständnis von »Gesundheit« gekoppelt. Zahlreiche Schilderungen von Schmerzen illustrierten die dem Alkohol zugeschriebene beeinträchtigte Funktionstüchtigkeit des Körpers eindrücklich. Fotografien geschädigter Organe versahen die auf Alkohol schäden fokussierte Sicht mit zusätzlicher Überzeugungskraft. In den Hauptrollen fungierten dabei idealtypische Pa- thologien wie das »Bierherz«, die »Schrumpfniere«, oder die von Leberzir- rhose verunstaltete »Schrumpfleber«.83 Zur Steigerung des Abschreckungs- effekts wurden derartig beeinträchtigte Organe den entsprechenden, als »gesund« normalisierten Idealtypen gegenübergestellt. Dabei schilderten Begleittexte vielfach beängstigende Eindrücke der Qualen sowie des verfrüh- ten Ablebens der betroffenen »Alkoholisten«. Mit Vorzug stammten letztere Beschreibungen von Ärzten, die von unange nehmen Begleiterscheinungen wie Pneumonie, Tuberkulose, Halluzinationen sowie von den Tremores des Delirium Tremens berichteten. Zusammen mit den Bildern geschädigter Organe vermittelten derartige Schilderungen leidvolle Zustände, die dem subjektiven Erfahrungshintergrund einer breiten Öffentlichkeit zugänglich waren – sofern der dabei postulierten Kausalität Glauben geschenkt wurde. Diese Kausalität war in allen sozialhygienischen Kreisen bei chronisch übermäßigen Alkoholkonsum unbestritten. Über die Maxime des für Mäßig keit einstehenden Sozialhygienikers Grotjahn, den unmäßigen Al- koholgenuss durch »möglichst viele unschäd liche Lust empfindungen«84 zu ersetzen, schien ebenso Einigkeit zu herrschen. Die Differenzen bestanden allen voran in den konkreten Vorstellungen, welches Maß »zu viel« respek- tive welche Lustempfindung tatsächlich »unschädlich« sei. Diese Grenzzie- hungen hingen von der Reichweite der jeweiligen Gesundheitskonzeption ab. So verstand die Erbforscherin Agnes Bluhm (1862-1943) unter dem Be- griff der Gesundheit weit mehr als das schmerzfreie Funktionieren eines

83 Vgl. Vogel, M.; Neubert R., Grundzüge der Alkoholfrage, Leben und Gesundheit, XII [ca. 1926], S. 49: »Abb. 10: Alkohol, Krankheit und Tod«. 84 Ebd., S. 17. 274 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Körpers. In den Vordergrund rückte sie die allgemeine Erhaltung einer »körperlichen« als auch einer »sittlichen Tüchtigkeit«.85 Im Einklang mit vielen Abstinenten weitete sie damit ihr Gesundheitsverständnis auf eine normativ-ethische Dimension aus. Als »sittliche Tüchtigkeit« legte die Erbforscherin die Fähigkeit eines Individuums zu einem willentlich-ge- wissenhaften Verhalten im Dienste einer Gesellschaft aus. Diese Fähigkeit zur Soziabilität sollte sowohl auf der Ebene des Genotyps als auch auf der Ebene des Phänotyps geschützt werden. Gleichzeitig forderte diese Sicht- weise einer pathologisier ten Kriminalität eine psychiatrisch-medizinische Deutungshoheit ein. In diesem Prozess der Medikalisierung können nach dem amerikani- schen Soziologen Joseph R. Gusfield zwei Dimensionen voneinander un- terschieden werden. Eine kulturelle umfasst die Umdeutung in der öf- fentlichen Wahrnehmung eines vormaligen Lasters zu einer Krankheit. Die institutionelle Dimension fragt nach den Institutionen, die sich als legitime Orte des Sprechens etablieren.86 In Bezug auf die kulturelle Di- mension ist die Entwicklung des Alkoholismus-Konzepts bemerkenswert. Der mit der »Lesesucht« verstrickte Entstehungs kontext der »Trunksucht« deutet bereits an, dass frühe Sucht-Debatten von moralischen Bewertun- gen aus nicht-medizinischen Bereichen geprägt wurden.87 Indem die So- zialhygieniker das Zusammenfallen von gesteigerter Leistung und Phasen längerer Abstinenz als »Heilung« beschrieben, bestärkten sie die Krank- heitskonzeption von Alkoholismus. Dies ging mit einer Pathologisierung spezi fischer Verhaltensweisen einher. Zahlreiche Beiträge der Internationalen Monatsschrift befassten sich einerseits mit der Frage, ob »Trunksucht« nun ein Laster oder eine Krank- heit darstelle, andererseits auch mit der institutionellen Frage zur Rolle der ›Laien‹ in der Trinkerrettung. Eine erste größere Debatte in der Mo- natsschrift wurde durch den deutschen Pfarrer Hirsch angestoßen, der als langjähriger Leiter der Heilanstalt Lintorf (bei Ratingen) auf ein gewisses akademisches Interesse hoffen durfte. Der Huss’schen Ansicht folgend vo- tierte der Pastor dafür, die Trunksucht sowohl als Laster als auch als Krank- heit zu verstehen. Jedoch leitete er von der Abwesenheit einer erfolgrei-

85 Bluhm, A., »Diskussionsbemerkungen zu vorstehenden Referaten«, Internationale Monatsschrift 6 (1929), S. 343-349. 86 Vgl. Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems: Drinking-Driving and the Symbolic Order«, S. 204. 87 Spode, H., »Transubstantiations of the Mystery«, S. 126. Sozialhygienische Schauplätze der Wirklichkeit 275 chen, standardisierten Behandlung ein Überwiegen des Lasters ab.88 Diese Ansicht provozierte eine scharfe Reaktion Forels, der dem Pastor eine Ver- leugnung der Vererbungsgesetze vorwarf. Überdies erklärte der Psychiater die angestoßene Diskussion zur Frage, ob jene Abhängigkeit als Laster oder als Krankheit zu verstehen sei für müßig, da sie letztendlich auf »meta- physische Begriffsstreitigkeiten« hinauslaufe.89 Mit dieser offensicht lichen Ablehnung von metaphy sischen Konzepten betonte der Psychiater seinen positivistischen Zugang. Forel ging von einer ererbten »Prädisposition« zu süchtigem Verhalten aus und folgerte daraus, dass die Süchtigen deshalb nicht für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden dürften.90 Mit der geforderten Entstigmatisierung vertrat er ein noch gegenwärtig aktuelles Anliegen aus dem Fachdiskurs zu Sucht und Abhängigkeit. Die institutionelle Frage der Bedeutung einer rein ärztlichen Trinker- behandlung wurde in sozialhygienischen Kreisen bis zur Jahrhundert- wende regelmäßig thematisiert. Dabei erfuhr insbesondere die von Forel angeregte Heilstätte Ellikon als erste ärztlich geleitete Behandlungs-Insti- tution Kontinentaleuropas unter dem Prinzip der Totalabstinenz viel Auf- merksamkeit. Im Alltag dieser »Heilstätte« oblag die eigentliche Leitung einem nicht mit medizinischen Meriten ausgewiesenen »Hausvater«. Die ärztliche Überwachung sollte dadurch gewährleistet werden, dass dem Di- rektionskomitee neben dem jeweils durch einen Arzt ausgeübten Präsi- dium jeweils mehrere abstinente Mediziner angehörten. Diese untersuch- ten alle neu aufgenommenen Patienten vor deren Eintritt in die Klinik und traten bei schwierigen Fällen gegebenenfalls in Kontakt mit staatlichen Anstalten.91 Dieser Medikalisierungsprozess einer medizinisch geleiteten Trinker behand lung wurde von vielen lobenden Kommentaren als wün- schenswerter Fortschritt ausge legt.92 Die Beständigkeit dieser Klinik, in

88 Hirsch, »Ist die Trunksucht ein Laster oder eine Krankheit?«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1892), S. 4-9. 89 Forel, A., »Ist die Trunksucht ein Laster oder eine Krankheit?«, Internationale Mo- natsschrift 1 (1892), S. 10-12. 90 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen, S. 12. 91 Vgl. Maier, H., »Zum 50jährigen Bestehen der Trinkerheilstätte in Ellikon an der Thur«, Internationale Monatsschrift 3 (1938), S. 112-118; Bugmann, M., Hypnosepo- litik, S. 50 f.; Tecklenburg, U., Abstinenzbewegung und Entwicklung eines Behand- lungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, S. 50 f. 92 Dies wird etwa besonders deutlich in Charlotte Grays Beitrag »Total Abstinence on the Continent of Europe«, Internationale Monatsschrift 4 (1892), S. 97-101. Die Bri- tin Gray hatte 1891 die durch Forel gegründete Guttemplerloge in Zürich gestiftet und war zusammen mit Forel beinahe drei Dekaden im Organisationskomitee der internationalen Kongresse. 276 Die Rhetorik der Wirklichkeit der heute unter dem Namen »Forel-Klinik« Suchtkranke in einem profes- sionellen Umfeld behandelt werden, illustriert die anhaltende Präsenz die- ses Medikalisierungsprozesses. Vor dem Hintergrund dieser Institution in Ellikon wurde in der Mo- natsschrift weiterhin über die Zulässigkeit von nicht ärztlich geleiteten Trinker heilanstalten diskutiert. Während etwa der Arzt Julius Ernst Colla ausschließlich auf medizinische Betreuung pochte, fand der bekannte Phy- siologe und Guttempler Alfred Smith auch für »erfolgreiche Nichtärzte« lo- bende Worte.93 Zum Zeitpunkt dieser 1899 kulminierenden Debatte stellten die sogenannten »Nichtärzte« in der »Trinkerheilung« eine deutliche Mehr- heit dar: Die älteste Heilanstalt Deutschlands, Lintorf, wurde wie auch die älteste vergleichbare Schweizer Institution, St. Chrischona bei Basel, von re- ligiösen Würdenträgern geleitet, auch weitere Schweizer Anstalten wie »Tre- lex« in Waadt oder »Nüchtern« in Bern unterstanden keiner explizit medi- zinischen Aufsicht.94 In der Folge unterstützten verschiedene Reaktionen die Positionen Collas und Smiths. Während sich der Heidelberger Psych- iater Dr. C. Führer für Collas Stand punkt aussprach und eine deutliche Trennung der »Trinkerheilung« von den »Konfessionen« forderte, empörte sich der deutsche Pastor G. Haacke über die dabei anklingende Abwertung der altruistisch handelnden Laien.95 Vorübergehend beendete Dr. Clemenz diese Debatte, indem er einerseits diplomatisch Smiths Position stützte und den Laien in der »Trinkerheilung« eine Berechtigung zusprach, andererseits diese aber deutlich unterhalb der Autorität einer Arztes ansiedelte: »Glücklich der für die Enthaltsamkeits-Idee und Trinkerheilung begeis- terte Menschenfreund, […] wenn er einen demselben Ziele zustreben- den Arzt findet, unter dessen größerer Autorität er vertrauensvoll seine segensreiche Wirksamkeit entfalten kann.«96 Dieses Spannungsverhältnis zwischen freiwilligen Selbsthilfegruppen und institutionali sierter Expertise scheint bis heute nicht aufgelöst. Ueli Teck-

93 Vgl. Smith, A., »Die Mitarbeit von Laien in der Trinkerheilung«, Internationale Monatsschrift 2 (1899), S. 45-49. Smith war zwischen 1903-1910 Großkanzler des deutschen Guttemplerordens. 94 Vgl. Gray, C., »Total Abstinence on the Continent of Europe«, S. 99. Für eine Übersicht über »Trinkerheilanstalten« in der Schweiz um 1900 vgl. Marthaler, H., Die Trinkerheilanstalten der Schweiz (Zürich: Lehmann, 1900). 95 Vgl. Führer, C., »Erwiderung auf Vorstehendes«, Internationale Monatsschrift 8 (1902), S. 283-285; Haacke, G., »Auf Herrn Dr. Führers Erwiderung«, Internationale Monatsschrift 10 (1902), S. 316 f. 96 Clemenz, »Arzt und Nichtarzt in ihrem gegenseitigen Verhältnis bei der Behand- lung Alkoholkranker«, Internationale Monatsschrift 12 (1903), S. 369-374 (374). Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 277 lenburg und Irmgard Eisenbach-Stangl beschreiben eine ab 1900 einset- zende Professionalisierung, im Zuge derer in der Schweiz die aus Privatin- itiativen hervorgegangenen Behandlungsstrukturen zu weiten Teilen dem Wohlfahrtsstaat angegliedert wurde.97 Die in den vorangegangenen vier Unterkapiteln diskutierten Strategien trugen zusammen mit der energischen Agitation von Ärzten wie Forel zur Konsolidierung der Vormachtstellung einer medizinisch angeleiteten Wirklichkeitsdeutung bei. Neben einer ärztlichen Deutungshoheit über die dem Alkohol zugeschriebenen Schäden verfestigte sich damit auch die Krankheitskonzeption des Alkoholismus. Doch in welchem Verhält- nis standen diese vorwiegend in sozialhygienischen Kreisen dominanten Strategien zu den explizit religiös motivierten Alkohol-Kritiken der Bas- ler Missionsvertreter, die besonders deutlich Bezug auf koloniale Kontexte nahmen? In den folgenden Abschnitten sollen die Aktivitäten und Wirk- lichkeitsreferenzen des Basler Missionsarzts Rudolf Fisch zum Vergleich beleuchtet werden.

2. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana

Auf Anregung einiger Basler Missionare wurden zwischen 1907 und 1908 in den Basler Missionsgebieten Westafrikas insgesamt dreizehn Blaukreuz-Ver- eine gegründet. Die aktive Beförderung der organisierten Temperenzbewe- gung erscheint aus drei Gründen besonders bemerkenswert: Erstens verließen sich die Missionsvertreter und Missions vertreterin nen damit nicht mehr nur auf staatliche oder gar suprastaatliche Handelsbeschrän kungsforderungen, sondern setzten direkt bei den Konsumenten an.98 Zweitens handelte es sich bei der Gründung jener westafrikanischen Abstinenzvereinen um keine durch das Komitee initiierte und koordinierte »top-down«-Bewegung, son- dern um eine weitgehend eigenständige Aktion einiger Missionare »im Feld«. Als bedeutends ter Akteur dieser Bewegung stach der auf Aburi stationierte Missionsarzt Rudolf Fisch hervor, der im Jahresbericht der Basler Mission als »Seele der Antialkohol bewegung«99 in den Basler Gemeinden präsentiert wurde. Fisch hatte 1907 den ersten »Anidaho-Verein« (Nüch tern heits verein)

97 Vgl. Tecklenburg, U., Abstinenzbewegung und Entwicklung des Behandlungssystems für Alkoholabhängige in der Schweiz, S. 38-61; Eisenbach-Stangl, I., »From tempe- rance movement to state actions«, S. 59-70. 98 Dabei wurden im afrikanischen Kontext ausschließlich männliche Konsumenten problematisiert, vgl. Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, XXI. 99 Jahresbericht 1910, BMA Y.2, S. 60. 278 Die Rhetorik der Wirklichkeit auf dem Basler Missionsgebiet in Aburi ins Leben gerufen und übte eine spannende Doppelfunktion als Missionar einerseits und als Arzt anderer seits aus. Damit hatte er neben dem missionsinternen Ausbildungsweg auch den ›schul medizinischen‹ beschritten. Als 19-Jähriger wandte sich der gelernte Sattler aus Aarau 1875 an die Basler Mission, um sich zum Missionar ausbil- den zu lassen. Während der Ausbildung nutzte er aber die Gelegenheit einer zusätzlichen medizinischen Ausbildung an der Universität Zürich. Und ob- wohl der Missionsarzt in seiner Korrespondenz mit dem Komitee fortwäh- rend betonte, sich in erster Linie als Evangelist und bloß in zweiter Linie als Arzt zu verstehen, führte seine medizinische Prägung zu einigen Spannungen mit seinen Missionsgeschwistern.100 So ärgerte sich der Missionsarzt über die fehlende Bereitschaft zur Einnahme der als Malariaprophylaxe vorgesehenen Chinin-Gaben oder über die kaum vorbildlich vorgelebte Alkohol-Abstinenz durch seine europäischen Geschwister. 101 Fisch griff bei seinem Aktivismus unter anderem auf den sozial- hygienischen Begriffskatalog seines »hochverehrten Lehrer[s]« Gustav von Bunge zurück und thematisierte verschiedenste Interdependenzen zwi- schen Alkohol, Geschlechtskrank heiten und »Dege ne ra tion« explizit.102 Diese sozial hygienische Anbin dung ist für die missionsnahe Blaukreuz- bewegung, deren Vereine nicht die ersten abstinenten Organisationen nach »westlichem« Vorbild auf Westafrika waren, bemerkenswert. Den ersten Nüchternheitsverein auf der Goldküste hatte der die Winnebah an- führende Ghartey IV bereits nach seiner Rückkehr aus England 1862 ge- gründet.103 1877 führte die Wesleyan Methodist Church in Cape Coast einige Guttempler-Logen ein. Diese spalteten sich daraufhin in eine kleinere amerikanische und eine größere britische Sektion und wurden vor 1900 durch verschiedene Basler Missionare als Ärgernis beschrieben.104 Um die

100 Vgl. dazu Rudolf Fisch an Komitee der Basler Mission, 1. 2. 1905, BMA D-1-84b-5: »Die Gefahr, dass der Missionsarzt nur noch Arzt, aber nicht mehr Evangelist wird.« 101 Fisch, R., »Eine Reise von A[buri] nach Win[n]eba[h]«, BMA D-1-86-6. 102 Zur Würdigung Gustav von Bunges vgl. Fisch, R., »Wirkungen des Schnapshan- dels in Westafrika«, Internationale Monatsschrift 5 (1914), S. 145-155 (150). Fischs Klagen über Chinin, Alkohol und Geschlechtskrankheiten sind im Bericht »Eine Reise von Aburi nach Win[n]eba[h]«, BMA D-1-86-6 besonders deutlich; vgl. dazu auch Fischer, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch und die Anfänge medizini- scher Arbeit der Basler Mission an der Goldküste (Ghana) (Herzogenrath: Murken- Altrogge, 1991), S. 191. 103 Vgl. Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 73. 104 Vgl. ebd., S. 77; Bersselaar, D. v. d., »The local politics of temperance in the Gold Coast« (Paper presented at ENIUGH, 3rd Congres on Global History at London Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 279

Jahrhundertwende waren alleine auf der Goldküste 21 Logen des Guttemp- lerordens aktiv, jedoch verlor der Orden auf diesem Gebiet bereits ab 1920 stark an Bedeutung.105 Die Gründung des Ghanaischen Landesvereins des Blauen Kreuzes ist auf 1906 datiert, also ein Jahr vor der durch Rudolf Fisch initiierten Blaukreuz bewegung, die folglich ausge leuchtet werden soll. Wie die Geschichte des Guttemplerordens in Westafrika ist auch die dortige Blaukreuz bewegung nur sehr lückenhaft aufgearbeitet. In seiner sozialhistorischen, auf Machtaspekte in Ghana fokussierenden Studie hielt der Ghanaische Historiker Emmanuel Akyeampong fest, dass die Wesleyan Missionary Society und die Basler Mission von den auf der Goldküste täti- gen Missionsgesellschaften am aktivsten gegen den Alkohol vorgin gen.106 Dabei wies er auf den wichtigen Unterschied hin, dass eine Mehrheit der Basler Missionsvertreter im Gegensatz zu den mehrheitlich abstinenten Wesleyaner den Mäßigkeits standpunkt vertreten hatten. Tatsächlich emp- fahl die Missionsleitung ihren Missionaren die Abstinenz bloß als »evange- lischen Rat«, nicht jedoch als Verpflichtung.107 Weiter ging Akyeampong davon aus, dass die Basler im Gegensatz zu der britischen Missionsgesell- schaft keine alkoholgegnerischen Organisationen gegründet hätten.108 Der folgende Abriss zur Geschichte jener Blaukreuzvereine auf dem Missions- gebiet der Basler Mission soll einerseits diese Annahme berichtigen, an- dererseits aber gleichzeitig auf postulierte Wirklichkeits-Bezüge eingehen. Der auf Basel beschränkte Quellenkorpus vermag dabei die Forschung zur Anti-Alkohol-Bewegung auf Westafrika um einige aufschlussreiche Details zu bereichern. Interessanterweise hatte Fisch die Thematik der Schnapspest während seiner ersten drei Einsätze in Afrika kaum erwähnt. Erst nachdem der Arzt am 10. März 1905 zum vierten und letzten Mal nach Westafrika ausreiste,

School of Economics, 2011), S. 3 ff.; Sarpei, J. A., »A Note on Coastal Elite con- tact with rural discontent before the First World War: the ›Good Templars‹ in Abuakwa«, in Akyem Abuakwa and the Politics of the Inter-war Period in Ghana, herausgegeben von Historical Society of Ghana (Basel: Afrika-Verlag der Kreis, 1975), S. 105-113 (106 f.). Zu den Kritiken von Seiten der Basler Missionare siehe Kapitel 2. 105 Casely-Hayford, A. und Rathbone, R., »Politics, Families and Freemasonry in the Colonial Gold Coast«, in People and empires in African history: essays in memory of Michael Crowder, herausgegeben von Ade Ajayi, J. F. und Peel, J.D.Y. (London: Longman, 1992), S. 143-160 (148 ff). 106 Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 86. 107 Oettli an Rudolf Fisch, 24. 1. 1918, BMA BV 985, S. 2. 108 Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 86. 280 Die Rhetorik der Wirklichkeit berichtete er von einer »erschreckenden« Zunahme der Trunksucht.109 Diese schrieb er hauptsächlich dem Kakaoboom und den sich daraus er- gebenden finanziellen Möglichkeiten zur Erstehung von Alkoholika zu. Dass ab 1907 eine missionsnahe Blaukreuz-Bewegung im Basler Missions- gebiet aufkam, beschrieb der Missionsarzt als unverhoffte Wendung, habe er doch der Bevölkerung Aburis zuvor nicht genügend »moralische Kraft« zugetraut, um einem Abstinenzgelübde treu zu bleiben.110 In der Befürch- tung, ein Abstinenzverein würde bei voreiliger Gründung nur Spott ern- ten, hatte er sich vorerst auf das Verfassen und Verteilen eines Flugblattes beschränkt, das später beleuchtet wird.111 Am 13. Januar 1907 hielt Fisch anstelle des üblichen Nachmittagsgottes- dienstes eine Ansprache über die Schädlichkeit des Schnapses und berich- tete gegen Ende seiner Ausführungen von den in Europa aufkommenden Blaukreuzvereinen. Der Prediger schloss seine Rede mit dem Aufruf, einen derartigen Abstinenzverein zu gründen und gleichzeitig mit dem Angebot, sich an der Gründung eines solchen Vereins zu beteiligen. Zwei Tage nach dieser Rede sollen sich 28 »Jünglinge und Männer« bei ihm versammelt haben, um ein vorerst auf vier Monate beschränktes Abstinenz-Gelübde abzulegen, das der Missionsarzt verfasst hatte.112 Jenem Ritual maß Fisch eine symbolische Bedeutung bei. Bereits die Reihenfolge der Abstinenz- Gelobenden widerspiegelte eine soziale Hierarchie: Als Erster legte Fisch als ordinierter, europäischer Missionar das Gelübde ab, gefolgt von Pfarrer Korang, Katechist Ofei und dem Ältesten Obeng. Bemerkenswerterweise erwähnte Fisch in seinem der Mission zugesandten Bericht keine weite- ren europäischen Missionare, die in Aburi diese Verpflichtung auf sich ge-

109 Vgl. Fisch, R., »Der Blaukreuzverein in Aburi«, BMA D-1-88-22g-3, S. 1. 110 Fisch, R., »Der Blaukreuzverein in Aburi«, BMA D-1-88-22g-3, S. 1. 111 Vgl. Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1, 88-22k-7, S. 1. Das Flugblatt »Der Schnaps und seine Wirkungen« findet sich in deutscher Übersetzung unter BMA D-1-88-22c, das Original in Twi unter D-1-88-22b. 112 Gemäß einem Bericht Fischs an das Komitee trug dieses folgenden Wortlaut: »Ich verspreche vor diesen meinen Brüdern, dass ich von heute an vier Monate lang kein berauschendes Getränk trinken werde. Gott helfe mir dazu. Ich werde gegen das Trinken berauschender Getränke unter meinen Freunden und Brüdern kämpfen. Der Wein beim Abendmahlsgenuss ist ausgenommen. Wenn ich mein Gelübde breche und wieder berauschendes Getränk trinke, so werde ich meine Verpflichtungskarte und allfällige Vereinsabzeichen an den Vorstand dieses Ver- eins zurücksenden.« (Fisch, R., »Zum Kampf gegen die Trunksucht«, BMA J 78c, S. 4.). Eine in Tschi verfasste Musterurkunde findet sich unter BMA D-1-88-22e. Vgl. auch: Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Gold- küste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 3. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 281 nommen hätten. Erst ein späterer Bericht erwähnte zumindest zwei wei- tere europäische Mitglieder des Vereins, allerdings nicht namentlich. Den frisch aufgenommenen Mitgliedern des Nüchtern heitsvereins empfahl der Missionsarzt, stets das Wirken des »Barmherzigen Samari ters«113 vor Augen zu haben. Über ihr öffentliches Bekenntnis zur Nüchternheit sollten sie die restlichen Bewohner der Umgebung auf die vom Alkohol ausgehende Bedrohung aufmerksam machen und ihnen zugleich einen rettenden Aus- weg aufzeigen. Den dem Komitee zugesandten Berichten zufolge waren die Sitzun- gen des Temperenz vereins beinahe liturgisch konzipiert. Jeden Mittwoch- oder Donnerstagabend (die Reglemente widersprechen sich in Bezug auf den Wochentag) sollten die versammelten Vereinsmitglieder nach einem zweiten »Glockenzeichen« die Sitzung mit einem Lied und einem Ge- bet eröffnen. Fisch hatte zu diesem Anlass die Mühe auf sich genommen, 32 »Anidaholieder« (Nüchternheitslieder) zu komponieren.114 Nach der darauf folgenden, rund zehnminütigen »Schriftverlesung« eines biblischen Inhalts durch ein Mitglied sowie der Feststellung der anwesenden Mit- glieder konnte über die Protokolle der vergangenen Sitzungen sowie über neue, durch den Vorstand bestimmte Traktanden diskutiert werden. Be- reits während der dritten Sitzung stand die Frage zur Diskussion, wie mit dem Palmwein umzugehen sei. Was sollte ein Mitglied tun, wenn es durs- tig sei und ihm keine anderen alkoholfreien Alternativen zum Palmwein zur Verfügung stehen würden? In einer ersten Abstimmung sprachen sich die Beteiligten dafür aus, den Genuss des noch frischen, nur schwach ver- gorenen Palmweins in solchen Fällen zu akzeptieren. Jedoch kam diese Regelung an der folgenden Sitzung erneut zur Abstimmung, wobei nun die strikte Ablehnung des Palmweinkonsums eine Mehrheit fand. Dieser Mei nungs umschwung hin zu einem radikalen Verbot, kann einerseits an- hand der vorherrschenden Unsicherheit über den tatsächlichen Alkohol- gehalt des fermentierten Getränks erklärt werden. Fischs Ausführungen legen nahe, dass sich einige Mitglieder die Beschrän kung auf schwachalko- holische Getränke gegenseitig nicht zutrauten. Anderer seits erinnerte ein Wortführer während besagter Diskussion an die konsequent abstinenten

113 Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 7. Beim »Barmherzigen Samariter« handelt es sich um eine biblische Erzählung aus Lukas 10:25-37. 114 Diese wurden durch den in Kamerun tätigen Missionar Johann Friedrich Mon- ninger (BV 1651) 1911 auf Twi übersetzt (vgl. Monninger, J. F., »Von der Gold- küste«, Evangelischer Heidenbote 5 (1931), S. 71-74). 282 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Guttempler, vor welchen sich dieser nicht schämen wollte.115 Damit legt diese Aussage nicht nur ein Konkurrenzverhältnis offen, sondern verweist auch auf die zentrale Bedeutung des mit der Mitgliedschaft erhofften so- zialen Prestigegewinns. Nur wenige Wochen später wurden Geldbußen für unentschuldigtes Fernbleiben von den wöchentlichen Treffen eingeführt, wobei eine unent- schuldigte Absenz mit zehn Pennies gesühnt werden sollte. Zusätzlich zu den Strafgeldern wurden monatlich frei willige und diskrete Spenden ge- sammelt, deren jeweilige Höhe den anderen Mitgliedern unbekannt bleiben sollte. Trotz dieser für die Mitglieder stetig zunehmenden finanziellen Be- lastungen meldeten sich im ersten Jahr immer mehr afrikanische Interessen- ten, die diesem neuartigen Verein beitreten wollten. Vermehrt fanden sich darunter auch junge Frauen. Bereits zwei Monate nach der Gründung zeigte sich Fisch über eine allfällige geschlechtliche Durch mischung besorgt, von der er nicht näher umschriebene »Unzuträglichkeiten« erwartete. 116 Schließ- lich überzeugte der Missionar den Vorstand des Vereins zur Gründung eines getrennten Nüchternheitsvereins für Mädchen und Frauen, der von dem europäischen »Fräulein« Hanna Brugger angeführt wurde.117 Der Missionsarzt schien sich nicht mit dem einen Verein in Aburi be- gnügen zu wollen, sondern organisierte noch im Frühling 1907 weitere Ani- daho-Ausflüge nach Apasare, Dodowa, Asantema, Mampong, Akropong, Krobo, Bama, Odumase und Akuse. Bei diesen Exkursionen zogen die Mit- glieder des Vereins jeweils »mit kräftigem Gesang« und »in guter Ordnung« in die Dörfer ein, um dann während einer Predigt zur Gründung weiterer Nüchternheitsvereine aufzurufen.118 Besondere Aufmerksamkeit maß der Missionsarzt bei diesen Gastauftritten der seit Ostern 1907 zur Verfügung stehenden Aburi-Vereinsfahne mit dem Aufdruck »Gin ne mmorosa di

115 Vgl. Fisch, R., »Der Blaukreuzverein in Aburi«, BMA D-1-88-22g, S. 6 ff. 116 Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 5: »Es entstand die Frage, ob wir gemischte Vereine hier haben sollen & können. Wer unsere Neger kennt, muss diese Frage als eine gar nicht leichte erkennen. Ich war in Sorge. Die Frauen abzuweisen erschien mir nicht klug, denn nicht nur haben, wie in der Heimat so auch hier, die Frauen durch die ihnen überall eigene stille Gewalt eine beträchtliche Wirkung auf die Einzelnen & das Volk, sondern es gibt auch unter unsrem Volk eine ziemlich große Zahl Trin- kerinnen, denen die Frauen am ehesten beikommen können.« Vgl. auch Fisch, R., »Der Blaukreuzverein in Aburi«, BMA D-1-88-22g, S. 9. 117 In Hanna Bruggers Faszikel (BMA SV 32) fanden sich keine Hinweise auf ihre alkoholgegnerische Tätigkeit. 118 Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 6. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 283 owu dwuma« (»Gin und Rhum stehen im Sold des Todes«) bei.119 In seinen Berichten an das Basler Komitee erwähnte Fisch ausführlich seine Mah- nungen an die Vereinsmitglieder, die Fahne nicht als Last oder als Spiel- zeug, sondern als Repräsentation der Ehre des Vereins zu verstehen. Dabei war die Fahne nicht das einzige mit sozialem Prestige versehene Objekt. Ähnlich begehrt schien das ansteckbare Symbol eines blauen Kreuzes, mit welchem Mitglieder ausgezeichnet wurden, die acht Monate lang ihr Ge- lübde gehalten hatten. Dieses von Fisch als »Ehrenzeichen« beschriebene Ornament sollte gut sichtbar getragen werden. Als Belohnung für regelkon- formes Verhalten eines Mitglieds symboli sierte es dessen Durchhaltewillen und dessen ideologische Zugehörigkeit zur Bewegung. 120 Auf kurze Sicht war der Missionsarzt mit der Popularität seiner Agita- tion unerwartet erfolgreich. Im ersten Jahresbericht berichtete er von drei- zehn Vereinen mit insgesamt rund 960 Mitgliedern, schrieb diesen Erfolg aber nüchtern hauptsächlich »dem Reiz der Neuheit« zu und äußerte die Befürchtung, dass viele Gründungen womöglich allzu rasch erfolgt sei- en.121 Seine Vorahnung sollte sich innerhalb kurzer Zeit bewahrheiten. Im zweiten Jahresbericht war anstelle der 960 gezählten Mitglieder des Vor- jahres nur noch von rund 550 die Rede.122 Fisch gab sich über diese »ent- sprechend der wenig ausdauernden Art unseres Volkes«123 vorhersehbaren Entwicklung nicht überrascht, fügte jedoch noch weitere Erklärungs- ansätze für den signifikanten Mitgliederschwund an. Einerseits habe die Pest-Epidemie, die in gewissen Teilen der Kolonie ausgebrochen war, dem Schnaps trinken in die Hände gespielt, indem englische Ärzte einem ver- breiteten Gerücht zufolge den Schnaps als wirksames Schutzmittel gegen die Pest empfohlen hätten. Aus der Sicht Fischs sei dieses »offensichtlich unwahre« Gerede vielen Mitgliedern als »willkommene Ausrede« zum Schnapstrinken entgegengekommen. Verschlimmernd kam hinzu, dass der Missionsarzt notfallmäßig von der britischen Regierung für die Pest-

119 Ebd., S. 6; Fisch, R., »Begleitschreiben zu Flugblatt Nr. 2 [31.7.1907]«, BMA D-1- 88-22-I, S. 12. 120 Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 6; Fisch, R., D-1-88-22-I, S. 12. 121 Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 18 f. 122 Vgl. Fisch, R., Begleitschreiben zum »II. Jahresbericht über die Vereine des blauen Kreuzes auf der Goldküste. Über das Jahr 1908«, BMA D-1, 90-21-8; vgl. dazu auch Fisch, R., »Unsere Blaukreuzvereine auf der Goldküste«, Evangelischer Heidenbote (1909), S. 34. 123 Fisch, R., »II. Jahresbericht über die Vereine des blauen Kreuzes auf der Gold- küste. Über das Jahr 1908«, BMA D-1, 90-21-8, S. 1. 284 Die Rhetorik der Wirklichkeit bekämpfung aufgeboten wurde. Statt seine Nüchternheitsbewegung pfle- gen zu können, musste er den ihm nicht immer nachvoll ziehbaren Befeh- len eines britischen Medical Officers Folge leisten.124 Einen dritten Grund für den Rückgang verortete der Missionsarzt in der im zweiten Jahr ein- geführten Bestimmung, die den aus den christlichen Gemeinden ausge- schlossenen »Heiden« das Tragen des blauen Kreuzes als Auszeichnung für das achtmonatige Aufrechterhalten des Abstinenzgelübdes untersagte. Aufgrund dieser Ungleich behandlung, die der Prediger offenkundig be- dauerte, habe die Bewegung viele »einsichtige« und aktive Mitglieder verloren.125 Der Missionsarzt hatte sich von den Anidaho-Vereinen ursprünglich eine Vermittlerfunktion zum Christentum erhofft.126 Bereits an der Missi- onarskonferenz 1907 hatte Fisch in seinen »Thesen zur Besprechung über die Blaukreuzbewegung« betont, »dass Zugehörigkeit zum Blaukreuzver- ein nicht Zugehörigkeit zur christlichen Kirche« bedeute, und dass er bei den Vereinsaktivitäten regelmäßig auf diesen Umstand aufmerksam ma- chen werde.127 Einen Anreiz zur Konversion sollte etwa die Regel darstel- len, dass nur Christen Ämter bekleiden durften, während alle Mitglieder zu einem sittlich reinen Lebenswandel verpflichtet waren. Aus den un- tersuchten Quellen gehen keine direkten Hinweise auf die Urheberschaft dieser Privilegierung von Christen hervor – jedoch lassen Fischs Äuße- rungen auf keine Sympathien seinerseits gegenüber dieser Regelung schlie- ßen.128 Die stetige Betonung des evangelischen Charakters jener Blau- kreuzvereine von Seiten Fischs ließe sich daher auch als Referenz an einen wahrge nommenen Rechtfertigungskontext auslegen. Einige Quellen legen nahe, dass Fisch von Seiten der Mission her nicht auf den Rückhalt zäh- len konnte, den er sich erhofft hatte. Nachdem Fisch 1911 in die Schweiz

124 Vgl. ebd., S. 1. 125 Vgl. ebd., S. 2. Womöglich handelte es sich dabei gar um eine Forderung des in- ternationalen Bundes des Blauen Kreuzes, denn in seinem Jahresbericht bedankte sich der Missionsarzt auch für die Aufnahme der durch ihn angeregten Blau- kreuzvereine in den internationalen Bund, »[…] obschon ja gerade die Frage der Aufnahme von Heiden und Ausgeschlossenen in unsere Vereine für mit unsern Verhältnissen nicht persönlich Bekannte recht schwer zu verstehen ist«. Vgl. Fi- scher, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch, S. 413 f.; sowie Fischs Stenografien vom Frühling 1908 (22.03./22.04./23.04./29.04./10.05.) (BMA D-10, 24). 126 Vgl. Fisch, R., »II. Jahresbericht über die Vereine des blauen Kreuzes auf der Gold- küste. Über das Jahr 1908«, BMA D-1, 90-21-8, S. 2 f. 127 Fisch, R., »Thesen zur Besprechung über die Blaukreuzbewegeng«, BMA D-1-88- 20. 128 Fisch, R., »1. Jahresbericht 1907«, BMA D-1-88-22-k7. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 285 zurückgerufen wurde, hielt sich der Branntwein zwar als beschriebene »Landplage« in den Jahres berichten der Mission, zu einer anti-alkoholi- schen Agitation von Seiten der Basler Missionare sind aber keine Berichte mehr vorhanden. Fisch wandte sich im Sommer 1913 gar in einem vertrau- lichen Votum an das Basler Komitee, um sich über die mangelnde alko- holgegnerische Aktivität seiner Brüder zu beklagen und gleichzeitig mehr Aufklärung von Seiten des Komitees über die Gefahren des Alkoholismus zu fordern, die der Missionsarzt als bedrohlichste »Gegen mission« brand- markte.129 Hatte Fisch in seinem 1. Jahresbericht von 1907 noch viele lo- bende Worte für die Basler Unter stützung gefunden (»Wie das Komitee, so haben auch die Baslermissionare alle ohne Ausnahme die Arbeit wo sie konnten begünstigt und viele haben aktiv Teil daran genommen«),130 blieb in diesem vertraulichen Schreiben nicht mehr viel Lob übrig. Sich in die Perspektive der Afrikaner versetzend, klagte Fisch: »Dass die Missionare im Großen und Ganzen der Blaukreuzbewegung ablehnend gegenüberstanden ging für die Neger unzweifelhaft daraus hervor, dass sie nur in verschwindend geringer Zahl und keiner dauernd das Gelübde auf sich nahmen, außer Br. Lädrach, der sich aber nicht lange aktiv bei der Arbeit beteiligte. Nur Br. Martin und Groh haben warmherzig wenigstens eine Weile mitgeholfen.«131 Trotz dieser rückblickenden Enttäuschung Fischs legen die vorangegan- genen Ausfüh run gen nahe, dass die Basler Mission durchaus an einem transnationalen Aktivismus gegen Alkohol beteiligt war. Auch die durch Fisch initiierte Bewegung ebbte nicht vollkommen ab, neben den erwähn- ten Missionsgeschwister Otto Lädrach, Baltasar Groh und Hanna Brugger waren weitere Basler Missionsvertreter alkoholgegnerisch aktiv, darunter allen voran Hermann Christ, Rudolf Bürki, Friedrich August Louis Ram- seyer, Wilhelm Erhardt, Elias Schenk, Philipp Hecklinger, Otto Häberlin und Karl Wieber. Außerdem finden sich 1931 im Evangelischen Heidenboten Hinweise auf das Fortbestehen der Vereine in Aburi und Mampong.132 Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden Fischs Bezugnahmen auf dessen Wirklichkeitskonzeption hin beleuchtet werden.

129 Fisch, R., »Vertrauliches Votum an das Komitee betr. Alkohol auf der Goldküste«, [Sommer 1913], BMA J 78b). 130 Fisch, R., »1. Jahresbericht 1907«, BMA D-1-88-22-k7, S. 19. 131 Fisch, R., »Vertrauliches Votum an das Komitee betr. Alkohol auf der Goldküste«, [Sommer 1913] BMA J 78b), S. 7. 132 Vgl. Monninger, J. F., »Von der Goldküste«, Evangelischer Heidenbote 5 (1931), S. 71-74. 286 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Rudolf Fischs Wirklichkeitsreferenzen

Auch wenn das Zusammentreffen medizinischer und evangelischer Sicht- weisen ein gewisses Spannungspotenzial in sich barg, präsentierten die Basler Missionsvertreter ihre Beteiligung am evangelischen »Conquest by Healing«133 als eine Erfolgsgeschichte. Einerseits wiesen ihre nach Afrika entsandten Missionare ab dem späten 19. Jahrhundert eine wesentlich län- gere Überlebensdauer auf. Andererseits setzten viele Missionsgeschwister auf die fortschreitenden Erkenntnisse der Medizin, um die Macht der »Fetischpriester« zu brechen und gleichzei tig »[…] den Weg zu den sonst so verschlossenen, aber im Leiden offenen Herzen [der Heidenwelt] zu gewinnen«.134 Diesem Optimismus verliehen die Konsultations-Bilanzen aus Fischs Arztpraxis in Aburi zusätzlichen Auftrieb. Innerhalb des Jahr- zehnts zwischen 1891 und 1901 hatten sich die durchschnittlichen monat- lichen Konsultationen von 190 auf über 4.000 um mehr als das Fünfzig- fache erhöht.135 Damit leistete der Missionsarzt einen gewichtigen Beitrag zur Verbreitung der ›westlichen Schulmedizin‹ in Ghana.136 Allerdings wirft die Historikerin Birthe Kundrus ein, dass die Erfolge der Tropen- medizin auch der Rechtfertigung des kolonialen Imperialismus dienten.137 Bei Fisch, dessen Reise-Ratgeber Tropische Krankheiten mehrere Auflagen erfuhr,138 sowie bei seinen untersuchten Missionsgeschwistern fanden sich zwar kaum Äußerungen, in welchen dieses medizinische Wissen expli-

133 »Conquest by Healing« war zugleich Motto und Name der Zeitschrift der Medical Mission Association, die den Missionsarzt Rudolf Fisch in ihrer März-Ausgabe 1947 als einen medizinischen »Pionier auf der Goldküste« würdigte (vgl. Huppenbauer, K., »A Pioneer on the Gold Coast«, Conquest by Healing, Vol. XXIV, Nr. 1 (1947), S. 2-4). Für den theologischen Hintergrund der ärztlichen Missionen vgl. Grund- mann, C., »Healing and Medical Missions«, in Müller, K. et al.: Dictionary of Mission: Theology, History, Perspectives, herausgegeben von Müller, K., et al. (New York: Orbis, 1998), S. 184 ff. Vgl. auch Hardiman, D., Healing bodies, saving souls: Medical missions in Asia and Africa (Amsterdam: Rodopi, 2006), S. 5. Zur Karriere der Tropenmediziner in Deutschland vgl. Eckart, W. U., Medizin und Kolonialim- perialismus Deutschland 1884-1945 (Paderborn etc.: Schöningh, 1997). 134 O. Schott im Jahresbericht 1880 [BMA Y.2], S. 19. Vgl. auch Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, I, S. 376. 135 »Ärztliche Missionsarbeit von Dr. Fisch auf der Goldküste«, BMA BV 985 2b; vgl. dazu auch Fischer, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch, S. 163 ff. 136 Vgl. Fischer, F. H., Der Missionsarzt Rudolf Fisch, S. 390-420. 137 Kundrus, B., Moderne Imperialisten, S. 168. 138 Fisch, R., Tropische Krankheiten: Anleitung zu ihrer Verhütung und Behandlung speziell für die Westküste von Afrika: Für Missionare, Kaufleute und Beamte (Basel, 1893). Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 287 zit als Rechtfertigung für koloniale Herrschaft fungierte. Dennoch legen die folgenden Beispiele ein Selbstverständnis einer überlegenen Wirklich- keitsdeutung nahe, für deren Verbreitung zuweilen auch Dankbarkeit ge- genüber Missionen und Kolonialregierungen erwartet wurde. In den fol- genden beiden Abschnitten werden zunächst Fischs Flugblätter diskutiert, in welchen eine für Missionsangehörige untypische Art von vermittelten Wirklichkeitsbezügen auffällt.

Das erste Flugblatt

Das erste Flugblatt mit dem Titel »Der Schnaps und seine Wirkungen« hatte Fisch noch vor der Gründung des ersten Anidaho-Vereins um 1907 verfasst. Davon ließ er 5.000 in Tschi übersetzte Exemplare drucken und verteilte diese in der Umgebung seiner Missionsstation.139 Das Pamphlet erzählt die Geschichte eines unauffällig, aber regelmäßig dem Schnaps frönenden Mannes, der sich zunehmend elend fühlt. In einfacher Spra- che wird nachgezeichnet, wie der Schnaps die »wunderbaren Organe« des Protagonisten, insbesondere Magen, Leber, Blutgefäße und Hirn, langsam zerstöre und an welchen Symptomen dies zu erkennen sei. Zunächst skiz- zierte Fisch die »gottgewollten« Funktionen verschiedener Organe in einer bildreichen Sprache, um dann die Konsequenzen der durch den Schnaps bewirkten Funktionsstörungen nachvollziehbar zu umschreiben. Die Ein- fachheit und Bildlichkeit seiner Sprache kommt in der Passage zu den Blut- gefäßen deutlich zum Tragen: »Aus der Leber strömt mit dem Blut der Schnaps durch die Blutge- fäße. Auch sie werden krankhaft verändert, sie verlieren ihre Elastici- tät & werden hart & brüchig. Darum kommt es oft vor, dass Leute die Schnaps trinken Schlaganfälle bekommen & halbseitig gelähmt wer- den. Nicht selten springt ein solches brüchiges Blutgefäß im Magen, & der Mensch verblutet sich [sic!] in Folge davon.«140 Den sozialhygienischen Postulaten folgend fokussierte der Missionsarzt weitgehend auf die Funktionalität der Verdauungsorgane, die durch den

139 Vgl. Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1, 88-22k-7, S. 1. Das Flugblatt »Der Schnaps und seine Wirkungen« findet sich in deutscher Übersetzung unter BMA D-1-88-22c, das Original in Twi unter D-1-88-22b. Das Erscheinungsdatum ist nicht ganz klar, Fischer geht davon aus, dass Rudolf Fisch den Auftrag 1895 erhalten hat (vgl. Fischer, F. H., Der Mis- sionsarzt Rudolf Fisch), S. 401. 140 Fisch, R., »Der Schnaps und seine Wirkung«, BMA D-1-88-22c. 288 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Schnapsgenuss gestört würde. Auch rekurrierte Fisch auf die in sozialhygi- enischen Kreisen populäre Wirklichkeits rhetorik, die sich an der individu- ellen Fähigkeit zu produktivem Arbeiten ausrichtete. Im selben Flugblatt schrieb er dem Schnapstrinken die Folge zu, dass der Körper des Trinkers das aufgenommene Eiweiß nicht mehr in »rotes Muskelfleisch«, sondern nur noch in »kraftloses« Fett umwandeln könne.141 Mit dieser Gegenüber- stellung von Muskel und Fett verband er das physiologische Unbehagen vor einem gestörten Stoffwechsel mit dem Thema des Muskelschwunds. Damit bezog sich der Missionsarzt auch auf das in sozialhygienischen Diskursen prävalente Ideal einer permanent zu erhalten den Leistungsbereitschaft. Auf späteren Vorträgen sollte der Mediziner außerdem von einer signifikanten Zunahme an Tuberkulosefällen und Geschlechtskrankheiten berichten, die er in einen engen Zusammenhang mit dem rasant angestiegenen Schnaps- konsum stellte und 1914 noch durch die Bunge’sche Theorie von Zahn- karies und Stillunfähigkeit ergänzte.142 Neben den Themen der gestörten Nahrungsaufnahme und des gestör- ten Muskelaufbaus nahm Fisch im Flugblatt auch auf eine Schädigung des Gehirns Bezug. Sowohl der Alkoholkater als auch die im Rausch verrichte- ten »Übeltaten« seien als Warnsignale vor dieser drohenden Schädigung zu interpretieren. Ohne den Beizug von Statistiken oder psychiatrischen Fach- begriffen führte Fisch aus: »Leute die sonst sanftmütig sind werden gleich wütend & streitsüchtig, oft verletzen ja töten sie ihre Nebenmenschen oder begehen sonst eine Menge Übeltaten.«143 Dabei wandte sich der Missions- arzt besonders dem Reizwort »Kriminalität« zu und ließ die Möglichkeit sexueller Ausschweifungen unausgesprochen. Den sozialhygienischen De- batten folgend erklärte der Missionsarzt das kriminelle Verhalten weitge- hend mit dem Motiv des durch Alkohol vergifteten Gehirns. Gleichzeitig umschrieb er das nüchterne und den ethischen Normen ent sprechende Verhalten als eine »Kraft der Seele«, die sich aus einem »Leben aus Gott« speise. Damit wies er einerseits die besonders von Forel propagierte mo-

141 Ebd. 142 Über die steigenden Tuberkulosefälle sowie Geschlechtskrankheiten referierte Fisch etwa 1939 (vgl. Rudolf Fisch, »Warum müssen wir in unseren Missionsgebie- ten den Alkoholismus bekämpften«, Vortrag gehalten am Blaukreuzhaus zu Basel (Juli 1913), BMA J 78a, S. 3); zu den als »Zeichen der Degeneration« gedeuteten Leiden wie Tuberkulose, Stillunfähigkeit, Karies oder juvenile Paralyse (ange- borene Syphilis) vgl. Fisch, R., »Wirkungen des Schnapshandels in Westafrika«, S. 149 ff. 143 Fisch, R., »Der Schnaps und seine Wirkung«, BMA D-1-88-22c. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 289 nistische Reduktion der Seele auf das menschliche Gehirn zurück.144 An- dererseits warnte der Missions arzt davor, dass bereits der Palmweingenuss zu einer »geistigen Verflachung«145 führen könne. Damit befürchtete Fisch eine Entwicklung, die Forels Beschreibung einer »Abstumpfung der hö- heren, allen voran der ethischen und ästhetischen Seeleneigenschaften« 146 ausgesprochen nahekam. Überdies schloss der evangelische Verfasser sein Flugblatt mit expliziten Referenzen an die potenziellen hereditären Schä- den des Schnapskonsums: Was aber das Schnapstrinken ganz besonders schrecklich macht ist[,] dass die Kinder von Trinkern sehr oft ganz schwer krank werden. Viele von ihnen leiden an Fallsucht, viele an Blödsinn, viele werden geistes- krank. […] Darum, wer seine Kraft & seine Gesundheit bewahren, wer gesunde, kräftige, geistig normale Kinder haben, wer sich Gottes freuen & Teil haben will an Gottes Reich & seiner Herrlichkeit[,] der meide den Schnaps; entschlägt er sich auch des Palmweintrinkens, desto besser.147 Die hier zurückhaltend formulierte Warnung vor dem Palmwein hatte der Missionsarzt bereits zu Beginn des Flugblattes angekündigt, indem er den »Stoff […] Alcohol«148 als Ursache der zahlreichen Leiden identifizierte. Zwar beschrieb Fisch den im Gin enthaltenen Alkohol als schädlicher als den im Rum enthaltenen, fokussierte aber mehr auf die Regelmäßigkeit des Konsums sowie auf die Menge an Reinalkohol als auf »reine« oder »unreine« Herstellungsprozesse. Damit wich er von den in missionsnahen Diskursen vielfach geäußerten Ansichten ab, die den für den Export nach Afrika bestimmten Schnaps aufgrund seines billigen Preises sowie seines dünnen Geschmackes als besonders giftig darstellten.149 Indem er sich bei der daraufhin erfolgten Blaukreuz-Gründung zusätzlich für die totale Al- koholabstinenz aussprach, stellte er sich gegen den durch die Basler Mis- sionsvertreter vertretenen Standpunkt der Mäßigkeit. Eine Mehrheit der Basler Missionare offenbarte keine Abneigung gegenüber fermentierten Getränken wie Palm wein, Wein und Bier.150 Zudem war der Messwein

144 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen, S. 3 ff. 145 Fisch, R., »Der Schnaps und seine Wirkung«, BMA D-1-88-22c. 146 Forel, A., Alkohol und Geistesstörungen, S. 6. 147 Fisch, R., »Der Schnaps und seine Wirkung«, BMA D-1-88-22c. 148 Ebd., Hervorhebung i. O. 149 Vgl. Bersselaar, D. v. d., The King of Drinks: Schnapps, S. 55 ff.; NRLTUC, Annual Report 1895, S. 11 ff., sowie Kapitel 3. 150 Siehe dazu »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun« (1914), BMA E 10,15. 290 Die Rhetorik der Wirklichkeit beim Abendmahl kaum wegzu denken, wie die energischen Aussagen des Bremer Missionsin spektors Zahn an der Konferenz deutscher evangelischer Missionsge sellschaften von 1885 zeigt: Zahn distanzierte sich explizit von der aus England und Amerika bekannten Idee der »Total Abstinence« und räumte damit die Befürchtung aus dem Raum, dass durch seine Bestrebun- gen der beim heiligen Abendmahl ausgeschenkte Messwein durch unge- gorenen Wein oder Zuckerwasser ersetzt werden könnte.151 Demgegenüber vermittelte Fisch im westafrikanischen »Feld« eine Posi- tion, die mit Ausnahme des Messweins sowie der medizinischen Verwen- dung von Alkohol-Präpara ten gerade eine Substitution durch zuckrige Getränke propagierte. Als Fisch am 13. Januar 1907 seine alkoholgegneri- sche Rede hielt, die zur Gründung des ersten missionsnahen Blaukreuz- Vereins in Aburi führte, hatte ein Zuhörer während der anschließenden Diskussion einen interessanten Einwand vorgebracht: Der Redner setzte den Palmwein einem Nahrungsmittel gleich und führte aus, dass ihm eine Kürbisschale dieses Getränkes Energie für einen achtstündigen Marsch liefern würde. Damit brachte dieser ein Argument vor, das in leicht mo- difizierter Form auch in Europa unter den Befürwortenden des Alkohol- konsums beliebt war. Diesem Einwand soll Fisch entgegnet haben, dass ein Glas Zitronensaft mit Zucker mindestens so nahrhaft sei und man erst noch einen klaren Kopf behalte. Dabei schien der Schweizer sich auf seine Autorität als europäischer Missionsarzt zu verlassen, ohne den Wahr- heitsgehalt seiner Aussage weiter beweisen zu müssen. Indem er zucker- haltige alkoholfreie Fruchtsäfte im Vergleich zu alkoholhaltigen Geträn- ken als effektivere Stärkungssmittel beschrieb, orientierte er sich an der in abstinent-sozialhygienischen Kreisen populären Position im sogenannten »Nährwertstreit«.152 Fischs Bezugnahme auf eine erhöhte Marschtüchtig- keit verwies zugleich auf die Maxime einer erhöhten Leistungsbereitschaft. Auch wenn der Missionsarzt sich zumeist einer einfacheren Sprache be- diente als die Akademiker Europas, berief er sich damit auf denselben physiologischen oder medizinischen Rechtfertigungskontext, der in der Internationalen Monatsschrift vorherrschte. Jedoch ist auffällig, dass der Missionsarzt sich zur Untermauerung seiner Überzeugung eines ursprüng- lich perfekten menschlichen Körpers, der von »künstlichen« Reizmit- teln wie etwa Alkohol bedroht erschien, auf die metaphysische Idee eines göttlichen ›intelligent design‹ stützte. Die menschlichen Organe, schrieb der Missionsarzt in seinem Flugblatt, seien bereits »von Gott wunderbar

151 Zahn, F. M., »Der überseeische Branntweinhandel«, S. 28. 152 Siehe dazu den Abschnitt zum »Nährwertstreit« in Kapitel 3. Rudolf Fisch und die Blaukreuz-Bewegung in Ghana 291 eingerichtet«.153 Damit berief er sich auf die Vorstellung eines von der Na- tur her gegebenen, ursprünglich idealen menschlichen Organismus, der konstant von schädigenden Umwelteinflüssen beschützt werden muss.

Das zweite Flugblatt

Zusätzlich zu diesem ersten Flugblatt schrieb Fisch am 31. Juli 1907 einem in Kamerun stationierten Missionarskollegen, um ihn zur Gründung von weiteren Blaukreuzvereinen auf der deutschen Kolonie zu bitten. Es gehe nicht bloß um die Rettung eines Volkes vor seinem Ruin, so der Missions- arzt, sondern auch um die Bewahrung der konvertierten Christen »vor dem Zerfall des geistigen Lebens«.154 Seinen ausführlichen Angaben zu den Ver- einssatzungen und -strukturen legte er zusätzlich ein zweites, in der deut- schen Fassung achtseitiges Flugblatt bei, das die dem Alkohol zugeschrie- benen Schäden noch drastischer schilderte als das erste. Dem Missionsarzt war diese präventive Aufklärungs aktion derart wichtig, dass er dem Emp- fänger anbot, zur Not die Druckkosten des Flugblattes aus der Kasse der ärztlichen Mission zu begleichen. Im Flugblatt »Das Trinken, dein und deines Volkes Ruin« erzählt Fisch aus der Perspektive eines Afrikaners, wie dessen bestens veranlagter Bru- der langsam dem Trinken verfällt.155 Zunächst verbildlicht die Geschichte die wesentlichen Themen des sozialen Abstiegs: Während das kluge, fri- sche Gesicht des Bruders »stumpf und schlapp« wird, schlägt der vielfach appetitlose und gereizte Trinker seine Frau des Öfteren und ist nicht mehr in der Lage, diese mit Schmuck und eleganter Kleidung zu beschenken. Der zuvor in allen Tätigkeiten erfolgreiche und deshalb gut verdienende Protagonist verhält sich zunehmend ungeschickt; auf einer Jagd hält er gar einen Freund für ein zu erlegendes Tier und verletzt diesen mit einem Streifschuss.156 Seine unvorteilhafte Entwicklung realisierend besucht der Protagonist einen »Negerdoktor«. Erst nachdem die zahlreichen Behand- lungen keine nachhaltige Wirkung zeigen, wendet er sich an einen euro- päischen Arzt. Dessen Diagnose fällt ernüchternd aus: Anhand der gelben Augen, des Mundgeruchs, der schlappen Muskeln sowie der spröden Blut- gefäße erklärt ihn der Mediziner für unheilbar krank, bloß strikte Absti- nenz könne sein Leben wenigstens noch für einige Jahre erhalten.

153 Fisch, R., »Der Schnaps und seine Wirkung«, BMA D-1-88-22c. 154 Vgl. Fisch, R., »Begleitschreiben zu Flugblatt Nr. 2 [31. 7. 1907]«, BMA D-1-88-22i, S. 1. 155 Vgl. Fisch, R., »Das Trinken, dein und deines Volkes Ruin«, BMA D-1-88-22h. 156 Vgl. ebd., S. 3. 292 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Dem erzählenden Bruder vertraut der europäische Arzt daraufhin noch weit schlimmere Folgen an, die er dem Patienten aus Rücksicht vorenthal- ten hatte: Einerseits erklärt er die sich beim Trinker abzeichnenden aso- zialen Verhaltensveränderungen mit dem Bild eines »kranken« Gehirns, andererseits thematisiert er auch die dem Alkohol zugeschriebene Degene- ration, um sogleich durch die Erfahrung des Erzählers bestätigt zu werden: »Da kam mir in den Sinn, dass ein Kind meines armen Bruders fall- süchtig ist, seine älteste Tochter ist schwindsüchtig und wer weiß, was wir noch an seinen andern noch kleinen Kindern erleben. […] Das ist doch das Allerschrecklichste am Trinken, dass es nicht nur den Trinker selbst krank & elend macht, sondern dass es seine Kinder körperlich & geistig schwächt & krank macht, so kann wo[h]l ein ganzes Volk durch das Schnapstrinken & seine furchtbaren Folgen zu Grunde gehen.«157 In dieser Passage kommt der in der ganzen Geschichte latente Appell, man möge dieses allgemeine Postulat doch mit der eigenen subjektiven Erfah- rung vergleichen, besonders deutlich zum Ausdruck. In der Geschichte hält sich der Bruder des Erzählers jedoch nicht an die Weisungen des Schul- mediziners und stirbt auf eine derart schauerliche Weise, dass die Familie vermutet, jemand habe ihn vergiftet. Aufgrund der bei der Regierung er- statteten Anzeige wird die daraufhin angeordnete Autopsie zufälligerweise durch denselben europäischen Arzt durchgeführt, der den nun Verstor- benen zuvor noch untersucht hatte. Dem der Obduktion beiwohnenden Erzähler kündigt der Arzt bereits vor dem ersten Schnitt an, dass es sich hierbei tatsächlich um eine Vergiftung, aber um eine langfristige Vergif- tung durch den Alkohol handle. Die anschließende Leichenöffnung stellt den Kulminationspunkt der Erzählung dar: Dabei werden die zerstörten Organe des Verstorbenen, insbesondere Magen und Leber, ausführlich be- schrieben und die Mutationen im Vergleich zum ›normalen‹ Soll-Zustand plastisch aufgezeigt. Abschließend wendet sich der Erzähler direkt an die Leserinnen und Leser und ruft diese zur Gründung von Nüchternheitsver- einen auf, um diese zweifache Bedrohung sowohl der Einzelpersonen als auch des ganzen Volkes zu bekämpfen. Im Vergleich zum vorangegangenen Flugblatt behandelte dieses zweite den Themenkomplex zu Sterblichkeit und Unfälle prominenter, zudem fielen auch Fischs Warnungen vor Palmwein und Degeneration expliziter aus. Der Umstand, dass die Geschichte jenes zweiten Flugblattes im Tod des Trinkers endete, hatte Prinzip: Auch in den alkoholgegnerischen Bei-

157 Vgl. Fisch, R., »Das Trinken, dein und deines Volkes Ruin«, BMA D-1-88-22h, S. 5 f. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 293 trägen aus dem missionsnahen Umfeld war die Verbindung zwischen Al- kohol und Tod ein regelmäßig wiederkehrendes Leitmotiv, dem nicht zu- letzt auch die Fahne des Blaukreuz-Vereins von Aburi mit dem Aufdruck »Gin ne mmorosa di owu dwuma« (»Gin und Rhum stehen im Sold des Todes«) Rechnung trug.158 Wie im hygienischen Kontext schien auch im missionsnahen Umfeld eine überzeugende Dringlichkeit von einem dro- henden verfrühten Ableben auszugehen. Allerdings finden sich in Fischs Appellen bestimmte sozialhygienische Gemeinplätze, wie die in der Idee der direkten Keimschädigung enthaltene »malevolence assumption«, be- sonders deutlich. Fischs dominanter Stellenwert in den alkoholgegneri- schen Quellen der Basler Mission erschwert eine Beurteilung, inwiefern seine Missionsgeschwister, von denen viele bereits den Standpunkt der Abstinenz ablehnten, ähnliche Annahmen zu gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums verbreiteten. In ihrer radikalen Bezogenheit auf den Kör- per stellten die Argumente des Missionsarzts eine Ausnahme dar. Während Fisch mit seiner Abstinenz forderung in seinem Umfeld wenig Rückhalt zu finden schien, zeigte sich dieses für eine alkoholgegnerische Verbin- dung empfänglicher: Die Stigmatisierung von »heidnischen« und schäd- lichen Religionen aufgrund ihrer scheinbar evidenten Befürwortung des Schnapskonsums.

3. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen

Glaubenskonzeptionen sind eng mit Wirklichkeitsdeutungen verflochten. Eine Person, die einen spezifischen Glauben für wahr hält, legt oft ein kon- sequentes Folgeleisten jener spezifischen Vorsehung gegenüber als wahre Freiheit aus. In diesem Zusammenhang kann die alkoholische Berauschung ein probates Motiv sein, um andere Glaubensrichtungen als inkonsequent und dementsprechend als unwahr darzustellen. Diese Logik war auch bei der Basler Mission verbreitet. 1933 veröffentlichte Hans Anstein (1863- 1940), der sowohl als Redaktor des Evangelischen Heidenboten als auch als Mitglied des Komitees der Basler Mission tätig war, einen Reisebericht über seine Erfahrungen in Afrika. In diesem Büchlein, das auch von der Inter- nationalen Monatsschrift beworben wurde, beschrieb der Evangelist jegliche

158 Fisch, R., »Erster Jahresbericht über die Blaukreuzvereine der Goldküste«, BMA D-1-88-22k-7, S. 6; Fisch, R., »Begleitschreiben zu Flugblatt Nr. [31.7.1907], BMA D-1-88-22-i, S. 12. 294 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Formen von Alkoholika als ernsthafte Bedrohung einer mit »Wahrheit« as- soziierten christlichen Spiritualität: »Die alkoholischen Getränke sind ein schlimmerer Feind der Ausbrei- tung des Evangeliums als Heidentum und Islam zusammen, denn sie vernichten die seelische und geistige Aufnahmefähigkeit für Wahrheit und schließlich sogar Gesundheit und Leben derjenigen, die man will zu Christus führen.«159 Anstein war aufgrund seiner Funktionen zwar ein besonders einflussreicher Vertreter der Basler Mission, trotzdem lassen die in den Periodika der Mis- sionsgesellschaft dominanten Themen kaum darauf schließen, dass seine hierarchische Abstufung der Bedrohungswahrnehmung von einer Mehr- heit von Missionsfreunden geteilt worden wäre. Zwar fanden seine War- nungen vor dem Branntwein weitgehende Unterstützung, doch nahmen Berichte zur Entwicklung rivalisierender religiöser Gruppierungen in den Jahresberichten zu Afrika einen höheren Stellenwert ein. Alkohol, oder al- len voran Schnaps, wurde besonders oft in diesem Kontext thematisiert: Viele im missionsnahen Diskurs zum Branntweinkonsum in Westafrika ar- tikulierte Klagen zielten auf eine Abwertung von »heidnischen« Religionen ab.160 Das wechselseitige Verhältnis von Schnaps und »Heidentum« thema- tisierte auch Hermann Christ, selbst Mitglied des Basler Komitees. Am In- ternationalen Kongress gegen den Alkoholismus von 1895 bemerkte dieser, dass »das Heidentum […] durch den Schnaps noch heidnischer geworden« sei.161 Dabei richteten sich viele missionarische Klagen gegen sogenannte »Fetischpriester«, die für die in den Missionsgebieten angeblich prävalente »Branntweinseuche«162 sowie die »geistige Finsternis« allgemein verant- wortlich gemacht wurden. Der »Fetischdienst« blieb in den Berichten zu den Missionsgebieten in Westafrika bis in die 1930er-Jahre hinein ein zen- trales Thema, das mit Ungerechtigkeit, Faulheit, Polygamie, Mord, Skla- verei, unsittlichen Tänzen und exzessivem Schnapskonsum in Verbindung gebracht wurde. Bei diesen Berichten bemühten die Missionsvertreter zu-

159 Anstein, H., Afrika, wie ich es erlebte (Stuttgart: Evang. Missionsverlag, 1933), S. 19; auch zitiert in Flaig, J., »Zum Kapitel: Der Alkohol in Afrika«, Internatio- nale Monatsschrift 4 (1934), S. 181-184 (182). 160 Vgl. dazu insbesondere: »Das Heidentum und der Branntwein auf der Gold- küste«, Evangelischer Heidenbote 12 (1885), S. 92-94. 161 Christ, H., »Die Wirkungen des Alkohols in den Gebieten der evangelischen Mission«, in Bericht über den V. Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Miss- brauchs geistiger Getränke (Basel, 1895), S. 156-161. 162 Jahresbericht 1890 [BMA Y.2], S. 89. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 295 meist das Motiv der Täuschung, indem sie den »heidnischen« Praktiken auf längerfristige Sicht hin schädliche Konsequenzen für ganze Gesellschaften zuschrieben.163 Dem Missionsarzt Rudolf Fisch waren die »pfuschenden Fe- tischpriester« überdies ein Dorn im Auge, da diese ihren Patientinnen und Patienten mit den verschriebenen, hauptsächlich aus Schnaps bestehen den Therapeutika regelrechte Alkoholschäden aufgezwungen hätten.164 Viele Berichte über den »Fetischdienst« setzten beim hohen Stellenwert an, der den Spirituosen bei zahlreichen Ritualen zukam. Insbesondere die »heidnischen Totenfeier lich keiten« waren in den Reihen der sich an ein europäisches Publikum wendenden Predigern ein beliebtes Thema, um einerseits die ›Rückständigkeit‹ jener tradierten Brauchtümer sowie ande- rerseits die ›Fortschrittlichkeit‹ des Evangeliums hervorzuheben. Der His- toriker Raymond Dumett hat sich in einer Studie zu den sozialen Auswir- kungen des europäischen Branntweinhandels auf die Akan ausgiebig mit diesen dreitägigen Zeremonien befasst.165 Die dabei beschriebenen Ele- mente des Tanzens, Trommelns, Wehklagens, Schießens sowie des Trin- kens decken sich weitgehend mit den untersuchten missionarischen Be- richten aus den unterschiedlichen westafrikanischen Gebie ten, wenn auch die Deutungen der Missionare wenig Verständnis für die Riten aufbrach- ten.166 Der von Dumett beschriebene, idealtypische Anlass wurde von einer Zeit des Fastens begleitet, bei der die den Trauernden reichlich dar-

163 Siehe dazu Kapitel 2. 164 Fisch, R., »An das Komitee der evangelischen Missionsgesellschaft zu Basel«, 1913, BMA J 78 a) S. 4. Fisch hatte bereits im Jahresbericht 1887 [BMA Y.2, S. 80] die »schwarzen Doktoren« angegriffen und zeigte sich im zweiten Quartalsbericht von 1905 für Aburi [BMA D-1-84b-19] noch deutlicher verärgert über »Neger- Quacksalber«, die in dreckigsten Hütten operieren würden. 165 Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 81 f. Zu den ghanaischen »Akan« zählen allen voran die Fanti, die Aschanti sowie die Akwapim (vgl. dazu Gocking, R. S., The history of Ghana, S. 9 ff.). 166 So hielt 1913 eine Presbyterkonferenz fest: »Es ist in hohem Grade auffallend, dass die Christen nicht nur im Gebiet von Nsaba, sondern auch in älteren Gemein- den gerade bei Totenfeierlichkeiten mit großer Zähigkeit an der von den Vätern überlieferten Sitte festhalten. Sie sind z. B. nur selten dazu zu bewegen, so lange der Tote noch im Haus liegt, Essen zu sich zu nehmen; umso mehr wird dafür getrunken. Heiden pflegen in Nsaba, wenn sie zum kondolieren kommen, eine Flasche Schnaps mitzubringen und bekommen dafür von der Trauerfamilie einen kräftigen Trunk. Die Christen durften bisher statt Schnaps Wein oder Bier stif- ten; da aber die Versuchung zum Schnapstrinken für sie auch so groß ist, soll nun einmal ein Versuch mit Tee gemacht werden.« (Jahresbericht von 1913 [BMA Y.2], S. 104). 296 Die Rhetorik der Wirklichkeit gebotenen Alkoholika als wichtige Nahrungsmittel fungierten. Das kollek- tive Trinken sowie die verschiedenen Trunkopfer richteten sich dabei nach komplexen Regeln, weshalb vor allem die frühen Phasen der Feier von einem formalen und disziplinierten Charakter geprägt waren. Gegen Ende der Zeremonie habe die Intensität des Tanzens und Trommelns zugenom- men, was als Ausdruck der Freude oder Befreiung interpretiert werden könne.167 Im Unterschied zu dieser Deutung geht Emmanuel Akyeam- pong stärker auf spirituelle Aspekte ein, indem er das Trinken des zumeist durchsichtigen Branntweins als eine Transformation der Beziehungen zum Verstorbenen interpretiert, während der das Getränk (nsa) als Medium zu den Verstorbenen fungiere.168 Sowohl Dumett und Akyeampong stellen diese Feierlichkeiten als Bestandteil eines relativ stabilen religiös-kulturel- len Systems dar. Im Gegensatz zu diesem Standpunkt brachten die Basler Missionsvertreter diese als orgiastische Massenbe säufnisse beschriebenen Ereignisse mit zahlreichen gesellschaftlichen Bedrohungen in Verbindung. Ein zentraler Kritikpunkt betraf die längerfristigen ökonomischen Fol- gen jener Riten. Die Missionare störten sich am zwanghaften Charak- ter der Sitte, dass die Trauerfamilie das verstorbene Familienmitglied nur durch ein großzügiges Branntweingelage ehrenvoll bestatten könne. Auch Hermann Christ kritisierte diesen Umstand während seines Vortrags am Internationalen Kongress: »Ein Armer hat bei einer solchen ›Totenkostüme‹ auf der Goldküste etwa dreissig Mark, ein Wohlhabender hundert Mark und mehr für Branntwein aufzuwenden, will er nicht der Verachtung des Stammes und dem Zorn des Toten und des Fetisch anheimfallen. Wer kein Geld hat, muss oft genug dem Gläubiger, der ihm borgt, ein Kind zum Pfande, d. h. als Sklaven, bis zur Abzahlung der Schuld ausliefern. Viele seufzen unter dieser Unsitte, aber niemand will der erste sein, der sie aufgibt.«169 Diese Bündelung der Themen Branntwein, Fetisch und Sklaverei war auch bei Missionsfreunden anderer Länder eine beliebte Strategie zur Abwer- tung der in Westafrika vorherrschenden sittlich-religiösen Praktiken. So bediente sich das britische NRLTUC des Narrativs, wonach sich in West- afrika bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert die Tradition etabliert habe,

167 Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 81 f. 168 Vgl. Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 37 ff. 169 Christ, H., »Die Wirkungen des Alkohols in den Gebieten der evangelischen Mis- sion«, S. 158. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 297 dass Väter ihre Kinder als Sklaven gegen Spirituosen eintauschen würden – und umgekehrt: »They [West African people] forget the laws of nature: the father will sell the children and if they can seize their parents the children will do the same.«170 Indem diese Kritiken einen Zustand des permanenten Misstrauens schilderten, bewarben sie das von ihnen propagierte Modell der christlichen Kernfamilie als Hort des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Verantwortung, das den Menschen mehr Geborgenheit zu bieten schien. An diesem Ideal richteten sich auch die Basler Missionare aus, die sich über den Umstand empörten, dass gewisse Eltern ihre Kinder nicht an die Missionsschule schicken würden, um das Geld stattdessen für den Genuss von Branntwein zu verprassen.171 Damit wurde der Vorwurf eines doppelten Missbrauchs elterlicher Verantwortung zugunsten des ego- istischen Vergnügens erhoben: Erstens dass die Kinder im Hinblick auf ihren künftigen sozialen Habitus benachteiligt würden und zweitens dass diese neben ihrem formalen Verlust an Selbstbestimmung auch an einem »verflachten Geistesleben« zu leiden hätten. Somit vermittelten diese Kla- gen einer heimischen Leserschaft die Botschaft, dass die christlichen Ideale gegenüber den als grausam und irrational dargestellten Bräuchen des »Hei- dentums« zu bevorzugen seien. Die evangelische Ethik schien nicht zuletzt als annehmlichere Variante, da diese ein erhöhtes Maß an Vertrauen, Sta- bilität und Geborgenheit versprach. Damit richteten sich diese Berichte auch an die europäische Leserschaft, deren Aufmerksamkeit damit auf die Vorteile ihrer erfahrenen sozialen Wirklichkeit gelenkt wurde. Zusätzlich zu den sozio-ökonomischen Risiken wurden die Leichenfei- erlichkeiten auch mit gesundheitlichen Risiken in Verbindung gebracht. So wurde im Jahresbericht von 1906 über diese Festlichkeiten auf der Goldküste berichtet: »Was gelegentlich an Totenfeierlichkeiten konsumiert wird, grenzt ans Unglaubliche. Geht es so weiter, so ist zu befürchten, dass weite Kreise des Volkes durch den Alkohol in ihrer physischen und geistigen Leis- tungsfähigkeit geschwächt werden.«172

170 NRLTUC, Native Races and the Liquor Traffic United Committee (pamphlet, Lon- don, 1909), S. 3. Dieses Pamphlet erreichte auch die Basler Mission, wo es unter BMA J 79 archiviert ist. 171 Jahresbericht 1917 [BMA Y.2], S. 77: Aus Bergoro wurde gemeldet: »Es gibt Eltern, die kein Geld für die Bücher ihrer Kinder zahlen wollen, weil sie alles an den Al- kohol wenden!« 172 Jahresbericht 1914 [BMA Y.2], S. 94. 298 Die Rhetorik der Wirklichkeit

In seltenen Fällen wurden gar Todesfälle mit den Alkoholexzessen während der Leichenfeierlich keiten in einen Zusammenhang gebracht. Besonders eindrücklich beschrieb Rudolf Fisch 1913 diese Tragödien als »akute Wir- kungen des Schnaps genusses«, denen sowohl Erwachsene als auch Kinder regelmäßig erliegen würden. Zudem seien gewalttätige Vorfälle mit töd- lichem Ausgang während solcher Trinkgelage im Zunehmen begriffen.173 Mit derartigen Ausführungen wurde wieder die Gefahr der elterlichen Verantwortungslosigkeit anhand des daraus resultierenden verfrühten Ab- lebens beschworen. Diese Hinweise auf die gesundheitlichen und sozio-ökonomischen Ge- fahren jener Rituale ergänzten die Missionsvertreter mit der Bemerkung, dass die begleitende »Schnaps trinkerei« eine junge Erscheinung sei, die sich erst zur Mitte des 19. Jahr hunderts etabliert habe.174 Damit sprachen sie sich gegen eine kulturrelativistische Verteidigung dieser Praktiken aus, oder versuchten zumindest, diese Strategie als unhaltbaren Essenzialismus abzutun. Die Infragestellung des Traditions-Status jener Bräuche bestärkte Fisch durch den Verdacht, dass diese potenziell degenerierenden Riten mit dem längerfristigen Überleben ihrer Ausübenden unvereinbar seien.175 Überdies beschrieben die Basler Missionsvertreter die christliche Praktik des Abschiednehmens als würdevollere Angelegenheit. Dabei bestärkten sie ihren Anspruch auf eine überlegene Kultur unter anderem über die Aussagen des indigenen Pastors Carl Christian Reindorf, der durch die Basler Mission getauft und ausgebildet wurde. Wie im Jahresbericht von 1884 abgedruckt wurde, zeigte sich dieser zuversichtlich, dass die Würde eines nüchternen und stillen christlichen Beerdigungsrituals auch die Be- wohner Westafrikas beeindrucken würde: »Nie macht die Schönheit und Kraft des Christentums einen tieferen Eindruck auf die Heiden als bei solchen Gelegenheiten, wenn die Ge- meindeglieder ordentlich nüchtern und still bei den sterblichen Resten eines Christen gewacht haben, bis dieselben der Erde übergeben sind.«176

173 Fisch, R., »An das Komitee der evangelischen Missionsgesellschaft zu Basel« [1913], BMA J 78 a) S. 4. Vermutlich orientierte sich das Beispiel des verstorbenen Kindes an der 1902 von Philipp Hecklinger berichteten tragischen Geschichte: vgl. Jahresbericht 1902 [BMA Y.2], S. 76. 174 Vgl. BMA D-1-88-22g, S. 5. 175 Dabei erwähnte Fisch den Umstand nicht, dass unter den Akan der Einsatz von Palmwein an verschiedenen »rites de passage« bereits im 18. Jahrhundert verbreitet war (vgl. Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 81). 176 Pastor Reinsdorf in Jahresbericht 1884 [BMA Y.2], S. 70. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 299

Im Gegensatz zu diesen stillen Riten des Abschieds wurden die »heidni- schen« Pendants als wilde »Branntweingelage« beschrieben, bei welchen Betrunkene auch schon auf und neben den Särgen gelegen hätten, wäh- rend die Frauen »aus einer Hand in die andere« gegangen seien.177 Zudem berichteten die Missionare im Rahmen der Leichenfeierlich keiten regel- mäßig von »unzüchtigen« Tänzen.178 Das Tanzen wurde dabei nicht nur mit dem Vorwurf der Unsittlichkeit konfrontiert, sondern gar als eine der Wirklichkeit enthobene Täuschung beschrieben. So zielte etwa der Basler Missionar Johannes Kopp auf eine Abwertung jener Aktivität ab, indem er die täuschende Eigenschaft des Branntweins mit einem intendierten Täu- schungseffekt durch den Tanz kombinierte: »Gerade jene wilden Tänze, die den Eindruck großer Kraft machen und wohl auch machen sollen, – denn der Neger verbirgt seine Gebrechen und will kräftig erscheinen – sind im Verein mit dem leidigen Brannt- wein in so vielen Fällen die direkte Ursache von Krankheiten und Ge- brechen, dass sie nimmermehr als Kraftmesser, wohl aber als Quelle vie- len Elends anzusehen sind.«179 In dieser Deutung wurden diese Tänze unterschwellig als Rauschzustände beschrieben, die sowohl Tanzende als auch Beobachtende über den eigent- lichen Zustand der Gebrechlichkeit hinwegtäuschen würden. Die tatsäch- liche Konstitution der ausgelassen Tanzenden – so Kopp weiter – würde sich im »Katzenjammer« am ›Morgen danach‹ zeigen.180 Damit spielte auch er auf das Motiv der dem Rausch folgenden Ernüchterung an, das schon Bunge als Realisierung der Realität umschrieben hatte. Derridas Rhetorik des Phantasmas vorwegnehmend stellte der Missionar diese Form des Tan- zens als »Erfahrung ohne Wahrheit« dar.181

177 Otto Lädrach in Jahresbericht 1906 [BMA Y.2], S. 25. 178 Vgl. Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 126 f.; W. Rottmann (Akropong) im Jahresbericht 1899 [BMA Y.2], S. 64. Vgl. dazu auch Jahresbericht 1916 [BMA Y.2], S. 80. 179 Johannes Kopp (Odumase) zitiert nach Jahresbericht 1892 [BMA Y.2], S. 43. 180 Jahresbericht 1887 [BMA Y.2], S. 77: Aus Odumase wurde berichtet: »Wenn man sie bei ihren wilden Tänzen sieht, oder wenn sie schreiend und brüllend ihre Pro- zessionen durchs Dorf machen, meint man freilich, sie hätten eine unverwüstliche Kraft, aber wenn Rausch und Aufregung vorbei sind, dann sieht man erst, wie sehr sie von solchen wüsten Festlichkeiten an Leben und Gesundheit geschädigt werden.« 181 Bunge, G. v. Die Alkoholfrage, S. 22 ff.; Derrida, »Die Rhetorik der Droge«, S. 249. Vgl. dazu auch die Ausführungen zu Bunges Alkoholfrage in Kapitel 3.2. 300 Die Rhetorik der Wirklichkeit

Abrahamitische Konkurrenz

Ausgehend von den Zeitschriftbeiträgen zu den Missionsgebieten in West- afrika bereitete »der Fetisch« den Basler Missionsvertretern mehr Sorgen als die Verbreitung des Islam: Diese hauptsächlich in den nördlichen Ge- bieten der Westküste verbreitete abrahami tische Religion war in Bezug auf Alkohol vor allem auch deshalb eine interessante Konkurrenz, da sich im Koran explizitere, gegen Alkohol gerichtete Passagen fanden als in der Bi- bel. Obwohl diese dem Wortlaut nach strikteren Normen eigentlich den alkoholgegnerischen Zielen der Basler Mission zuspielten, fanden sich in den untersuchten Basler Periodika kaum lobende Kommentare dazu. Die Missionsvertreter schienen sich eher der Meinung des Bureau international pour la Défense des Indigènes anzuschließen, wonach das durch den Koran verbreitete Alkoholverbot als »Tabu«, das heißt als Folge einer abergläubi- schen Angst wahrgenommen wurde.182 Ähnlich wie der »Fetisch« wurde der Islam als »Ruhekissen des Gewissens für Fleisches lust und Habsucht«183 auch moralisch abgewertet, wobei der Vorwurf der Habsucht oft durch das Klischee des muslimischen Sklavenhändlers verbildlicht wurde.184 Aber auch ohne den Konnex zum Sklavenhandel wurde den »Mohammedanern« Heuchelei vorge worfen: Missionar Otto Lädrach beschrieb die Muslime als heuchlerische »Pharisäer«, da diese nach dem scheinbar frommen Ge- bet sogleich die Afrikaner mit dem Verkauf von Talismanen über den Tisch ziehen würden.185 Durch derartige dem Islam zugeschrie bene ›charakterli- che Schwächen‹ transportierten die Basler Prediger ihre Überzeugung, dass nur das Christentum den Menschen zur »wahren« ›Herr-Werdung‹ über das eigene ›Fleisch‹ befähige. Besonders explizit brachte das britische NRL- TUC diese Überzeugung einer exklusiv dem Christentum zugeschriebenen Befähigung zur Selbstkontrolle zum Ausdruck: »Only in the Christian religion can the power be found that enables a man to stand firm where temptations abound.«186

182 Junod, H. A., Hefti, F. O., Junod, E. J. und Rolli, L., »Comment résoudre le pro- blème de l’Alcoolisme en Afrique?«, S. 4. Zum Begriff des Tabu siehe Przyrembel, A., Verbote und Geheimnisse. 183 Jahresbericht 1911 [BMA Y.2], S. 67. 184 Diese Verbindung von Sklavenhandel und »Araber« hatte allen voran die CMS in Bezug auf Ostafrika propagiert (vgl. Schwegmann, B., Die protestantische Mission und die Ausdehnung des Britischen Empires, S. 213-236). 185 Otto Lädrach in: »Ein Beitrag zum Verständnis der Kulturfähigkeit der Schwar- zen Rasse«, Evangelischer Heidenbote 5 (1910), S. 35. 186 NRLTUC, Native Races and the Liquor Traffic United Committee, S. 5. Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 301

Ausgesprochen sensibel reagierten die Basler Missionsvertreter auf die in Afrika aufkommenden Glaubensgemeinschaften, die sich einen europä- ischen Anstrich gaben. Ein extremes Beispiel dazu stellte die als »Nachäf- fung der christlichen Kirche« charak terisierte »Almela-Kirche« dar. Deren Theologie wurde im Jahresbericht von 1899 wie folgt dargestellt: »Wer eintreten wollte musste vorher ›Bewerber‹ sein und verübte Schandtaten nachweisen. Dann empfing er eine ›Taufe‹ durch Unter- tauchen, und sobald er aus dem Wasser stieg, ein Glas Schnaps, der fortan sein Gott sein sollte, und nunmehr war er zum Schnapssaufen und zu allerlei Schlechtigkeiten verpflichtet. In Sonntagsversammlun- gen sprach der Anführer, ein Buch in der Hand haltend, über das Trin- ken und andere Laster. Die Sache wurde durch die Lüge empfohlen, sie stamme aus Europa als eine der dortigen Kirchengemeinschaften.«187 An dieser Stelle ist die Vermengung von christlichen Elementen, wie die »Taufe durch Untertauchen« oder die buchgestützte sonntägliche Predigt, mit den negativen »heidnischen« Merkmalen wie »Schandtaten«, »Schnaps- saufen« und »Schlechtigkeiten« be mer kens wert. Für Empörung sorgte ge- rade der Umstand, dass diese angeblich europäische Religionsform der Beschreibung zufolge gerade eine Umkehrung der evangelischen Ethik transportierte. Das Motiv eines Bündnisses zwischen »Schlechtigkeit« und Schnaps wurde in den Missionsberichten in verschiedenen weiteren Varia- tionen bemüht. Besonders oft berichteten die in Kamerun stationierten Basler Missio nare von mörderischen Geheimbünden, die ihre Zugehörig- keit und ihre Tötungs absichten per Schnaps besiegelten.188 Doch zusätzlich zu den missionarischen Klagen über den Islam sowie den »Nachäffungen der christlichen Kirche« hegten viele Missionare auch ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber verschiedenen christlichen Ge- sellschaften. Katholischen Missionsvertretern, insbesondere den Jesuiten, wurde viel Skepsis entgegengebracht sowie fehlende Strenge vorgewor-

187 Schulinspektor für Kamerun im Jahresbericht 1899 [BMA Y.2], S. 78 ff.; vgl. auch Schlatter, W. und Witschi, H., Geschichte der Basler Mission 1815-1915, III, S. 244 f. 188 Jahresbericht 1893 [BMA Y.2], S. 58 f.: »[B]etrunkene, rohe Bakoko« haben als »Gesellschaft des Todes« angeblich ein aus Schnaps und Landschildkrötenblut be- stehendes »Bündnis getrunken«, um gegen die Duala in den Krieg zu ziehen. Vgl. auch Jahresbericht 1913 [BMA Y.2], S. 113; Büchner, H., »Aus unsern Gemeinden in Asante«, Evangelischer Heidenbote 6 (1931), S. 88-90 (89). Joh. Maier, Lobethal, Jahresbericht [BMA Y.2] 1902, S. 83: Ein Häuptling griff bei Untersuchung auf Schnaps und Schildkröte zurück: »[…] jedermann musste etwas Schnaps trinken und dabei feierlich sprechen: ›Schildkröte, wenn ich an dem Verbrechen schuldig bin, dann töte mich auf der Stelle.‹« 302 Die Rhetorik der Wirklichkeit fen. Komitee-Mitglied Hans Anstein berichtete in seinen veröffentlich- ten Reiseberichten von Jesuiten, welche die Afrikaner mit Branntwein- geschenken und Talisma nen anlocken würden. Damit rückte er den Orden in die Nähe der »Fetischpriester« sowie der angeblich ›heuchleri- schen‹ »Mohammedaner«.189 Die Missionare der in Kamerun tätigen rö- mischen Mission wurden im Evangelischen Heidenboten gar als »falsche Brüder« bezeichnet, die es auf die Vernichtung der evangelischen Mission abgesehen hätten. 190 Aber selbst protestantische Missionsvertreter wurden vereinzelt für deren Laschheit getadelt. So beschrieb etwa Rudolf Fisch die englischen Wesleyaner als zu eingebildet und zu »geckenhaft«, um sich aktiv an der Blaukreuz-Bewegung zu beteiligen.191 Diese britische Missionsgesellschaft stellte laut Akyeampong aufgrund ihrer starken Präsenz in den Küsten- städten die wichtigste Missionsgesellschaft auf der Goldküste dar. Über- dies schien sie derart konsequent mit der Idee der Abstinenz verbunden, dass ihre Vertreter und Vertreterinnen an der Synode von 1915 gar die Sub- stitution des Abendmahlweines durch alkoholfreien Traubensaft empfah- len.192 Trotzdem suggerierten viele Aussagen von Basler Missionsvertre- tern, dass andere Missionsgesellschaften nicht streng genug sein würden und ihre Taufkandidaten zu voreilig tauften.193 Besonders deutlich trat diese Identifikation mit Regelkonformität in Kamerun zutage. In Bezug auf alkoholgegnerische Maßnahmen meinte etwa der auf Bonaku statio- nierte Philipp Hecklinger, dass »[d]as Verbot des Branntweintrinkens […]

189 Vgl. Anstein, H., Afrika, wie ich es erlebte. Der Vorwurf, die katholische Mission in Kamerun würde die afrikanische Bevölkerung mit Geschenken und Schnaps zu sich locken, fand sich auch im Evangelischen Heidenboten (vgl. Öhler: »83. Jahres- bericht der Basler Mission: Kamerun«, Evangelischer Heidenbote 9 (1889), S. 67). 190 Vgl. Öhler, »Das erste Jahrzehnt der Basler Mission in Kamerun«, Evangelischer Heidenbote 5 (1898), S. 33-37 (37). 191 Vgl. BMA D-1-88-22g, S. 12: »Einige unserer Mitglieder fürchten die Vereinigung könne zu Misshelligkeiten führen, da sie oft von Wesleyanerjünglingen ausge- spottet werden & ihnen erklärt werde, sie seien nicht rechte Engländer sondern dumme Deutsche.« 192 Vgl. Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 86 f. 193 Vgl. etwa die im Jahresbericht 1913 [BMA Y.2], S. 103 formulierte Kritik an den Zionisten [Zionskirche (afrikanische bischöfliche Methodisten)] in Nsaba, die anlässlich eines Missionsfestes in Omanso gerade bekehrte Afrikanerinnen und Afrikaner sofort getauft hätten. »Am Schluss des Festes erklärte der Pfarrer: Jetzt gehen wir in den Busch und suchen den Herrn Jesus. In wilder Jagd macht sie sich auf; ein Weib habe dort den ›heiligen Geist‹ bekommen und sich wie eine rasende Fetischpriesterin benommen. Durch die Freiheit für das Fleisch, die die Zionisten ihren Anhängern gewähren, locken sie trotzdem viele an sich.« Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 303 nur in der Basler Mission pünktlich durchgeführt«194 werde. Die propa- gierte Strenge konnte einerseits als Erklärung für die tiefe Anzahl konver- tierter Christen dienen. Andererseits stellte sie einen Ausdruck religiöser Identität dar, durch welche sich die Basler mit Verweis auf ihren scheinbar konsequenteren »gottgefälligen« Lebenswandel über ihre protestantischen Gesinnungsgenossen aus anderen Missionsgesellschaften zu erheben ver- suchten. Dazu zählten insbesondere die Baptisten-Gemeinden in Bethel und Viktoria, die noch vor der Expansion der Basler Mission in Kamerun gegründet worden waren. Mit diesen hatten die Basler zunächst eng ko- operiert, spalteten sich nach zwei (Bethel) respektive drei Jahren (Viktoria) aber ab, um die eigene, strengere Missionsordnung zur Geltung bringen zu können.195 In diesen Aushandlungsprozessen über den ›wahren‹ evange- lischen Lebenswandel wurde auch ein restriktiver Umgang mit Schnaps in die Waagschale geworfen. Als weitere unerwünschte Konkurrenz verstand die Basler Mission die Guttempler, deren westafrikanische Logen angelsächsisch und damit stark methodistisch geprägt waren. Ähnlich wie bei der »Almela-Kirche« wur- den gerade der Form nach den christlichen Praktiken ähnelnde Riten als Affront ausgelegt. Die am stärksten kritisierte Guttempler-Loge in Akyem wurde im Jahresbericht der Mission von 1907 wie folgt beurteilt: »Es sind Heiden, die sie bilden, die sich freilich nicht mehr als Heiden betrachten, auch die christlichen Gottesdienste besuchen, aber dabei dem Fleisch allerlei Zugeständnisse machen, z. B. der Vielweiberei, so dass man den Christen den Anschluss nicht gestatten kann.«196 Auch diese Passage zeugt von einer Abgrenzung der Basler Mission gegen- über christlich geprägten Vereinigungen. Außerdem deutet sie das latente Unbehagen an, dass die evangelische Ethik aus der Perspektive der Afrika- ner mit einem zu laxen Leitbild assoziiert werde. Dieses Unbehagen speiste sich nicht nur aus dem westlichen Ursprung des tatsächlich protestantisch geprägten Ordens, sondern auch aus dessen bildlichen Rück grif fen auf das Georgs-Kreuz, aufgrund welcher einige Bewohner des westafrikanischen »bible belts« die Guttempler als »Christians of St. George« bezeichnet hät-

194 Philipp Hecklinger im Jahresbericht 1902 [BMA Y.2], S. 76. 195 Vgl. Öhler, »Das erste Jahrzehnt der Basler Mission in Kamerun«, S. 33 f. Zum Konkurrenz-Verhältnis zwischen der Basler Mission und den Baptisten vgl. Al- tena, T., Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils: Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884- 1918 (Münster: Waxmann, 2003), S. 41. 196 Jahresbericht 1907 [BMA Y.2], S. 37. 304 Die Rhetorik der Wirklichkeit ten.197 Einen zusätzlichen Grund zur Distanzierung bot der Verdacht, der Guttempler orden würde die »äthiopische Richtung« fördern, die ohne jeg- liche Anerkennung der von Regierung und Mission erbrachten »Wohlta- ten« die Botschaft »Afrika den Afrikanern!« verbreiten würde.198 Die sich als Abstinenzvereine ausgebenden Logen seien »[…] in Wirklichkeit eine politisch-revolutionäre Verbindung, ein Reservoir für allerlei unzufrie- dene und ungute Elemente, besonders auch für die aus unsern Gemeinden Ausgeschlos senen«.199 Damit operierte dieser Verdacht mit dem Gegen- satzpaar Wirklich keit / Täuschung, in dem er diesen karitativen Vereinen »in Wirklichkeit« destabilisierende Absichten unterstellte. Im komplexen Abhängigkeitsgefüge zwischen Missionsgesell schaften, »Missionsobjekten« und Kolonialmächten schlug sich dieser Bericht auf die Seite der britischen Kolonialregierung und versah die auf Selbstbestimmung pochenden Afri- kanerinnen und Afrikaner mit dem kolonialen Narrativ der Undankbar- keit.200 Wie den Vertretern anderer christlicher Denominationen wurde den Guttemplern im »gin belt« vorgeworfen, es mit der propagierten Abs- tinenz nicht so genau zu nehmen, und hauptsächlich bei »Heiden mit laxer Moral« populär zu sein.201 Tatsächlich benutzten einige Bewohner Akyems die Guttemplerloge, um sich der Autorität ihrer Oberhäupter zu entzie- hen – die Britische Kolonialregierung beklagte ähnliche Fälle in Wenkyi und Winnebah.202 Aufgrund des doppelten Bemühens um eine »Reinhal- tung« des tatsächli chen, evangelischen Lebenswandels sowie um die Ge- währleistung einer politischen Stabili tät hielten die Berichte der Missionare die Guttempler auf Distanz, obwohl sich die Be teiligten im Ziel, den Al- kohol zu bekämpfen, einig gewesen wären.203

197 Ebd., S. 37. 198 Ebd., S. 39. 199 Ebd., S. 39. 200 Dieses Narrativ der Undankbarkeit kam in Rudyard Kiplings Gedicht »The white man’s burden« zur Geltung; vgl. Ahuja, R., »›The Bridge-Builders‹: Some Notes on Railways, Pilgrimage and the British ›Civilizing Mission‹ in Colonial India«, in Colonialism as civilizing mission: cultural ideology in British India, herausgegeben von Fischer-Tine, H. und Mann, M. (London: Anthem, 2004), S. 95-116 (102). 201 Jahresbericht 1908 [BMA Y.2], S. 46. 202 Vgl. Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 75 ff.; vgl. Bersselaar, D. v. d., »The local politics of temperance in the Gold Coast«, S. 3 ff.; Sarpei, J. A., »A Note on Coastal Elite contact with rural discontent before the First World War«, S. 108 f. Vgl. auch Jahresbericht 1908 [BMA Y. 2], S. 46. Zu Wenkyi und Winnebah vgl. Akyeampong, E., Drink, Power, and Cultural Change, S. 78 f. 203 Vgl. Jahresbericht 1907 [BMA Y.2], S. 37: »Immerhin ist es erfreulich, dass nun auch die Heiden das Verderben des Branntweins einzusehen beginnen.« Ange- sichts der aufklärerischen Ausrichtung des Guttemplerordens sowie seiner Of- Branntweingenuss als Stigma konkurrierender Glaubenskonzeptionen 305

Gleichzeitig überlagerte sich die Kritik der Basler Missionsvertreter mit einem Konflikt, der sich innerhalb des internationalen Guttemplerordens abspielte. In den deutsch sprachigen Großlogen kamen regelmäßig wahr- genommene kulturelle Unterschiede zwischen den kontinentaleuropä- ischen und den angelsächsischen Logen zur Sprache, wobei die Kontinen- taleuropäer für sich eine fortschrittlichere, da weniger dogmatische sowie eine egalitärere Ordenskultur beanspruchten. Noch 1933 bemängelte der Schweizer Abstinent den Umstand, dass einige britische Guttempler der Weltloge zu den afrikanischen Guttemplerlogen auf Distanz gingen. Diese Distanzierung wurde als rückständiger Rassismus ausgelegt: »Merkwürdig berührte es uns andere, wie kühl die Briten den Verei- nigungen in Afrika gegenüberstehen und wie sie eine Verbindung mit ihnen mehr oder weniger deutlich ablehnen. Es sind eben Neger! Was sagen aber Grundgesetz und Ritual dazu, die doch für Engländer und Schotten so heilig und unabänderlich sind wie die Bibel?«204 Diese wenigen Zeilen verweisen auf die unter den sozialhygienischen Ak- teuren verbreitete Haltung, ihren britischen Ordensgeschwistern ein Be- harren auf tradierte Regeln aus religiösen Kontexten vorzuwerfen. Die als »konservativ« umschriebene Orientierung an tradierten Schriften wurde als »unselbständig«, »unange passt« und damit als »rückständig« kriti- siert.205 Die latente Kritik wird vor dem Hintergrund des Schismas zwi- schen der angelsächsisch dominierten Ordensfraktion und der besonders in Kontinentaleuropa auf Zuspruch stoßenden neutralen Ordensfraktion umso deutlicher: Die Abspaltung der Letzteren entzündete sich im Win- ter 1905/1906 gerade am Bestreben nach einem »zeitgemäßeren« und reli- giös neutraleren, das heißt weniger an der christlichen Liturgie orientierten Ritual. Dieser ordensinterne Konflikt verweist nicht nur auf die mögliche Ausbildung unterschiedlicher kontinentaler Kulturen,206 er zeigt auch, dass jegliche tradierte Praktiken aus einer sich an den Idealen der Objektivität und des Fortschritts orientierenden Perspektive kritisiert werden können. In dieser Hinsicht stellt diese letztendlich auf die Vorstellung des Aberglau- bens abzielende Kritik eine radikalere Variante der von den Basler Missi- onsvertretern gegen über dem »Heidentum« geäußerten Kritik dar.

fenheit für alle Religionsangehörigen – als religiöse Voraussetzung zur Mitglied- schaft bei diesem Orden wurde nur verlangt, dass man an ein allmächtiges Wesen glaubte – überrascht diese Distanz nicht. 204 »Weltlogentagung in Haag«, Schweizer Abstinent 17 (1933), S. 185. 205 Vgl. ebd., S. 185. 206 Zu den kontinentalen Differenzen siehe Kapitel 5. 306 Die Rhetorik der Wirklichkeit

4. Die Motive des Aberglaubens und des Eskapismus

Die sozialhygienischen Alkoholgegnerinnen und -gegner verorteten das Motiv des Aberglaubens im Vergleich zu den religiös geprägten Akteuren stärker in der Schweiz. Sie erhoben gerade durch die explizite Ablehnung von »metaphysischen Dogmen« Anspruch auf eine objektive Beschrei- bung einer singulären Wirklichkeit. Aus diesem positivistischen Selbst- verständnis schrieben einige Abstinente von ›fort-‹ respektive ›rückschritt- lichen‹ Religionen, indem sie den Realitätsbezug derer Rituale, Mittler und Handlungsanweisungen bewerteten. Diese globale Perspektive fand sich etwa beim dreiteiligen Aufsatz »Alkohol und Religion« des Wiener Psy- chologen Hans Korolanyi. Darin verwendete Korolanyi den Stellenwert von psychoaktiven Substanzen bei den verschiedenen Ritualen als grund- legendsten »Indikator« für seine Beurteilungen der jeweils propagierten Form von Spiritualität. Derartige Substanzen legte der Psychiater als ›äu- ßere‹ Störungen einer ›inneren‹ Kontrollinstanz aus. Allen voran erklärte er die auffallende Prävalenz von alkoholischen Getränken bei den Ritualen der sogenannten »Naturvölker« mit der ekstatischen Wirkung einer alko- holischen »Scheinbefreiung«.207 Korolanyi bemühte damit wie die Basler Missionsvertreter den Vorwurf, dass die Anziehungskraft verschiedener Religionen auf ›täuschende‹ und ›unwirkliche‹ Bewusstseins zustände zu- rückzuführen sei. Als Schweizerisches Pendant zum afrikanischen »Fetisch« machten zahlreiche Beiträge aus der sozialhygienischen Abstinenzbewegung die tradierten Trinksitten aus, deren Charakter ebenso zwanghaft und ritua- lisiert schien wie die ihnen unzugänglichen Bräuche in Westafrika. Auch in der Schweiz wurde das Zutrinken vielfach als Ausdruck des Wunsches nach zukünftigem Wohlergehen der Trinkrunde gedeutet. Einige Alkohol- gegner warfen den Zutrinkenden deshalb vor, dass diese ihre ›wirklichen‹ Möglichkeiten zur aktiven Einflussnahme auf die Lebenswelt auf das ge- meinsame ›Zechen‹ reduzierten und sich demnach unter die Macht des Schicksals unterordnen würden. In diesem Vorwurf wird das gegenseitige Ineinandergreifen der Denkfiguren des Aberglaubens sowie des Eskapis- mus deutlich: Folglich lässt sich »Aberglaube« als Flucht vor einem real existierenden Handlungsbedarf in eine Illusion auslegen, die ein passives

207 Korolanyi, H., »Alkohol und Religion«, Internationale Monatsschrift 2 (1933), S. 74-85 (76). Im zweiten Teil des Aufsatzes schrieb Korolanyi, bei »fortgeschrit- tenen Religionen« habe die angestrebte Ekstase nichts mit Betrunkenheit zu tun (vgl. Korolanyi, H., »Alkohol und Religion«, Internationale Monatsschrift 4 (1933), S. 194-202 (202). Die Motive des Aberglaubens und des Eskapismus 307

Verweilen im status quo begünstigt. Indem die Motive des Aberglaubens sowie des Eskapismus diese Haltung kritisierten, implizierten sie gerade, dass die Partizipierenden einer sozialen Wirklichkeit erstens zu bestimm- ten Handlungen verpflichtet seien, und diesen Verpflichtun gen zweitens während des gemütlichen Verweilens in einer trinkenden Runde nicht nachkämen. Durch diese Kritik alternativer Ansichten bekräftigten diese Motive des Aberglaubens sowie des Eskapismus den ›wahren‹ Wirklich- keitsbezug der Alkohol gegnerschaft. Diese ineinandergreifenden Motive fanden sich jedoch nicht aus- schließlich in sozial hygie nisch geprägten Medien. Exemplarisch für viele alkoholgegnerische Erzählungen spitzte Jakob Bosshart (1862-1924) das Motiv des Aberglaubens in seiner Erzählung Die Schwarzmattleute auf eine Szene zu: Darin wird das dreizehnjährige Mädchen Betli zu Neujahr trotz ihrer starken Aversion gegen Alkohol richtiggehend zum Schnapstrinken gezwungen. Aufgrund ihrer Weigerung, am geselligen Anstoßen auf das kommende Jahr teilzunehmen, bürdet ihre in der Schnapsbrennerei tätige Ziehfamilie dem Mädchen die Verantwortung für kommendes Unglück auf.208 Allen voran wandten sich nicht zuletzt auch die protestantischen Missionare gegen den in kolonialen Kontexten vorgefundenen »heidni- schen Aberglauben«, indem sie dessen schädigende Konsequenzen auf die soziale Wirklichkeit aufzeigten. Insofern trugen sie damit zur partiellen Verfestigung von aufklärerischem Gedankengut bei. Der südafrikanische Missionswissenschaftler David Bosch hält gar fest, dass die gesamte west- liche Missions bewegung der letzten drei Jahrhunderte aus der Matrix der Aufklärung hervorgegangen sei.209 Tatsächlich hatten die Missionen teil an der Verbreitung von rationalisierten Organisationsstrukturen und propa- gierten zugleich einen asketischen Lebensstil, der weitgehend einem Den- ken in langen Zeithorizonten untergeordnet war. Dieser These gegenüber stehen allerdings die zahlreichen Distanzierungen der Basler Missionsver- treter von der »Aufklärung«. Dieses missionarische Unbehagen schien sich aber hauptsächlich gegen die spezifische Ausprägung der Aufklärung zu richten, die jegliche spirituelle Erfahrung als ›irrationalen Aberglauben‹ ablehnte. Damit drohten pietistische Grundpfeiler wie das Fühlen einer

208 Vgl. Bosshart, J., Die Schwarzmattleute, S. 20 f. 209 Bosch, D. J., Transforming Mission, S. 344: »The entire western missionary move- ment of the past three centuries emerged from the matrix of the Enlightenment.« Auch Stanley geht davon aus, dass protestantische Missionen das intellektuelle Erbe der Aufklärung übernommen haben (Stanley, B., »Christian Missions and the Enlightenment«, S. 2 f.). 308 Die Rhetorik der Wirklichkeit

»Verbundenheit mit Gott« sowie das Hoffen auf ein erlösendes ›Jenseits‹ als ›eskapistische‹ Strategien entwertet zu werden. Die von vielen Sozialhygienikern artikulierte Ablehnung gegenüber kirchlichen Dogmen tendierte gerade zu diesem Vorwurf. So klagte der langjährige »Freidenker« Forel, der in den frühen 1920er-Jahren die Reli- gion der Bahá’í für sich entdeckte,210 in seinen Memoiren: »Die Kirchen haben die wahre menschliche Ethik auf ein konstruiertes Jenseitsleben ge- richtet und sie dadurch gefälscht.«211 Zwar richtete sich dieser Vorwurf primär gegen die mächtigen Staatskirchen, jedoch lief Forels Kritik auf die Befürchtung hinaus, dass jegliche metaphysischen Jenseitskonzeptio- nen den Blick auf die soziale Wirklichkeit verstellen würden. Als ›wahre‹ Religion akzeptierte der Naturforscher ein ›urpsrünglich‹ im Menschen angelegtes Bedürfnis des Dienstes an der sozialen Wohlfahrt.212 Dieses Anliegen, sich permanent nach den gedeuteten Forderungen der sozialen Wirklichkeit zu richten, kam auch in den Medien der religiös geprägten Anti-Alkohol-Bewegung zum Ausdruck. Die stärksten Ausprägungen der Abstinenzbewegung propagierten damit ein Menschenideal, das eher auf das selbstgesteuerte und präventiv agierende Subjekt fokussierte als auf die Souveränität, die bevorstehenden Erfahrungen von Leid und Glück gelas- sen auf sich zukommen zu lassen.213 Allerdings tendierten die religiös ge- prägten Anti-Alkohol-Zeitschriften noch eher zu einer Passivität, indem erfahrenes Leid vielfach auch als notwendig dargestellt wurde, um die Menschen zur »Bekehrung« zu führen.214 Das Motiv des Eskapismus fand sich besonders ausgeprägt in sozialhy- gienisch orientierten Kreisen. Schon in den Anfangsjahren der sozialhy- gienischen Abstinenzbewegung kritisierten viele ihrer sozialistisch orien- tierten Angehörigen unter dem Stichwort des »Elendsalkoholismus« die

210 Forel bekannte sich 1921 zur Religion der Bahá’í, die er als vereinbar mit den Er- kenntnissen der Wissenschaft beschrieb. Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 293; Meier, R., August Forel, S. 134-138. 211 Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 158. 212 Vgl. Meier, R., August Forel, S. 134. 213 Unter den zahlreichen, im Schweizer Abstinent abgedruckten Erzählungen sticht das Motiv des Aberglaubens insbesondere Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenauf- gang (Berlin: Fischer, 1892) hervor. Zur Gegenüberstellung des autonomen Sub- jekts und der souveränen Persönlichkeit vgl. Böhme, G., Ich-Selbst, S. 7. 214 Diese Ansicht wurde durch die ›Perlenmuschel-Metapher‹ verdeutlicht: Wie eine Muschel erst eine Perle hervorbringe, nachdem ein unangenehmes Sandkorn in sie eingedrungen sei, so müsse auch beim Menschen manchmal etwas Schmerz- haftes ins Herz kommen, damit eine Perle entstehe (Illustrierter Arbeiterfreund 2 (1898), S. 8). Die Motive des Aberglaubens und des Eskapismus 309

Tendenz vieler männlicher Arbeiter, der ungerechten Realität durch täg- liche ›Besäufnisse‹ zu entfliehen. Viele dieser Kritiken waren zugleich von antikapitalistischen Zügen gezeichnet und forderten von den besitzenden Klassen ein sozialverträglicheres Handeln ein. Mit dem Hinweis auf un- gerechte gesellschaftliche Strukturen brachten die meisten Sozialhygieni- ker ein gewisses Verständnis für dieses Fluchtverhalten auf. Gleichzeitig beklagten sie im Wesentlichen die Unfähigkeit der in den Alkoholrausch flüchtenden Arbeiter zur aktiven Überwindung ihrer Misere. Der Vorwurf einer »Flucht« vor dem durch die harte Realität einem jeden Individuum aufgebürdeten »Daseinskampfes« hielt sich über den gesamten Untersu- chungszeitraum hinweg in sozialhygienisch geprägten Medien. Der Rhe- torik des Phantasmas entsprechend wurde damit das bewusste Aufsuchen von Genussformen kritisiert, die mit Unwahrheit und fehlender Nachhal- tigkeit in Verbindung gebracht wurden. Das Motiv des Eskapismus blieb aber nicht auf das Schlagwort des »Elendsalkoholismus« beschränkt, es ließ sich auch auf andere Phänomene beziehen: So wurde auch der Karneval als kurzfristiges Fluchtvehikel beschrieben, das die Bevöl kerung über die »Langweiligkeit ihres armseligen Daseins«215 hinwegtäusche. Wie bereits angedeutet waren auch spirituelle Zustände nicht vor die- sem Vorwurf gefeit. So hatte Korolanyi etwa das Verhältnis zwischen spi- ritueller Ekstase und Flucht folgen dermaßen umschrieben: »Die erstrebte Berauschung, welche das Geltungsbewusstsein, wenigs- tens für kurze Zeit hebt, findet ihre Parallele in der Ekstase des Mys- tikers, welcher ebenfalls, allerdings in seiner edleren und höheren Art den Weg von der Daseinswirklichkeit zur Scheinesgeltung sucht. Hier und dort eine Flucht in eine Scheineswelt. Während aber das Erleben des Mystikers das Resultat eines langen, wirklichen Kampfes bedeutet, und nur wenigen auserlesenen Geistern gelingen kann, bietet sich die Möglichkeit einer Flucht in den Alkoholrausch jedem Beliebigen zu je- der beliebigen Zeit. Und darin liegt die tiefste Wurzel des Übels, die un- begrenzte Häufigkeit und unbeschränkte Möglichkeit einer ständigen Selbstvergiftung und einer Flucht vom Daseinskampf in eine gefährli- che Scheinwirklichkeit.«216

215 Vgl. Wehberg, »Düsseldorfer Rosenmontag«, Internationale Monatsschrift 2 (1899), S. 41-45 (44). 216 Korolanyi, H., »Zur Psychologie des Alkoholismus«, Internationale Monatsschrift 6 (1931), S. 289-298 (290). 310 Die Rhetorik der Wirklichkeit

In diesem Vergleich zwischen Mystikern und Trinkenden arbeitete der Wiener Psychiater also einerseits den Unterschied heraus, dass Erstere sich diese »Flucht« mühselig erarbeiten, womit diese letztendlich ein rares Pro- dukt eines bewussten und selbst bestimmten Strebens darstelle. Andererseits verstand er den Rückzug eines Mystikers als ein vergleichsweise seltenes Phänomen. Bei den Trinkenden hingegen vermutete Korolanyi die Haupt- motivation einer Flucht vor einem als natürliche Gegebenheit vorausge- setzten »Daseinskampfes«. Viele Beiträge der Internationalen Monatsschrift setzten diese Flucht einer ›Kapitulation‹ gleich, deren Konsequenzen sich nicht bloß auf das entziehende Individuum auszuwirken drohten, sondern auf die Leistungsfähigkeit ganzer Volkskollektive. Aus dieser Perspektive erschien auch ein bewusst gewählter Rückzug vor diesen täglich neu anfal- lenden Forderungen der Realität als unhaltbar: Der Psychiater Gabriel etwa hatte dies als Nachgeben gegenüber den eigenen (und zugleich ›fremden‹) Affekten und Trieben und damit als »Lust am Bösen« sowie als »Preisgabe, Hingabe an das Fremde, die Außenwelt«217 beschrieben. Diese immer wiederholten Aufforderungen zu einer permanenten Aus- richtung des Bewusstseins auf die nach rationalen Gesichtspunkten defi- nierte soziale Wirklichkeit hinterließen längerfristige Spuren im Recht- fertigungskontext. In einem bemerkenswerten Beitrag legt der Soziologe Joseph R. Gusfield nahe, dass die alkoholgegnerische Bewegung damit in den USA zur Aufspaltung der Freizeit in die Formen der playtime und der recreation beigetragen habe.218 Erstere beschreibt eine spielerische Flucht aus dem Alltag, während sich Letztere auf eine Gewährleistung der Pro- duktivität durch Erholung bezieht. Eine einseitige Vorherrschaft der Er- holung hinterfragt Gusfield mit Verweis auf die beiden Soziologen Stan- ley Cohen und Laurie Taylor. Diese vertreten die Ansicht, dass Menschen auf zahlreiche Strategien zurückgreifen, um sich von einer absoluten Ein- gebundenheit ins alltägliche Leben zu distanzieren.219 Auch im Fall der Schweiz ist der Verdacht einer durch die Anti-Alkohol-Bewegung verfes- tigten Differenzierung zwischen ›Spaß‹ und ›Erholung‹ trotz des sozialhy- gienischen Insistierens auf einer »Lebens bejahung« nicht leicht von der Hand zu weisen. Die Schweizer Guttempler etwa verdächtigten eine ex- pandierende Auswahl von als unproduktiv erachteten Vergnügens-Formen

217 Gabriel, E. und Kratzmann, E., Die Süchtigkeit, S. 152 ff. Hervorhebungen im Original gesperrt. Zu Gabriel vgl. die Ausführungen im Kapitel 2. 218 Gusfield, J. R., »The Culture of Public Problems: Drinking-Driving and the Sym- bolic Order«, S. 217-223. 219 Vgl. dazu Cohen, S. und Taylor, L., Escape attempts: the theory and practice of re- sistance to everyday life, 2nd ed. (London etc.: Routledge, 1992). Die Motive des Aberglaubens und des Eskapismus 311 als latenten Zeit-Missbrauch. Worte wie »Tand« oder »Tingelei« fielen da- bei stets im Kontext einer vorgeworfenen Zeitverschwendung. Ein Gut- templer warb in diesem Zusammenhang gar für ein Verbot des Jassens.220 Dabei zeigt gerade das Beispiel dieses Gemeinschaftsspiels eine Funktion des scheinbar unproduktiven Vergnügens auf, das dem alkoholgegneri- schen Vorwurf der Isolierung widersprach: Gemeinschaftlich genossenes Vergnügen vermochte unabhängig von seiner Nachhaltigkeit auch soziale Banden zu festigen. Sowohl für den Kontext Europas als auch den Kon- text Afrikas haben verschiedene Historiker und Historikerinnen auf den Umstand hingewiesen, dass das Trinken zumeist eher Ausdruck der Zuge- hörigkeit als der Entfremdung war.221 Weiter trug die Anti-Alkohol-Bewegung zur Verfestigung einer spe- zifischen Konzeption des ›wahrhaftigen‹ Selbst bei. Wie der Alkoholfor- scher Robin Room in einem Aufsatz zur kulturellen Prägung von Sucht aufzeigt, hat sich die Trunkenheit als Erklärung für ein »fremdes«, nicht dem »wirklichen« Charakter der Person (im Sinne von Authentizität und »natür licher« Entwicklung) entsprechenden Verhaltens etabliert. Dabei haben laut Room unzählige Temperenz-Romane die Erklärungsstrategie der durch Suchtmittel bewirkten »secular possession« verfestigt. Dies trug zur Etablierung der Vorstellung bei, dass ein Charakter aufgrund von ge- gebenen Anlagen ursprünglich ›authentisch‹ sei, jedoch durch Reizmittel verfremdet werde. Diese Vorstellung der Verfremdung findet sich noch in gegenwärtigen, neurowissenschaftlichen Deutungen, in welchen ein verän- der tes mesolimbisches System als zentrale Determinante menschlichen Verhaltens fungiert.222 Auch in den untersuchten alkoholgegnerischen Erzählungen Europas war das Motiv einer durch Alkohol verfremdeten Identität weit verbreitet. Bestärkt wurde es überdies durch die zahlreichen Erzählungen einer durch die Abstinenz erfolgten Wiederaneignung des ›ursprünglichen‹ Selbst.223 Derartige Erlebnisberichte, die die Abstinenz wie im Falle »K’s« mit einem »Erwachen aus einem bösen Traum«224 ver-

220 Vgl. R. S.-B., »Vom Jassen«, Schweizerische Abstinentenblätter 3 (1910), S. 14. Das Jassen ist ein in der Schweiz beliebtes Kartenspiel. 221 James Roberts unterscheidet drei Arten des Trinkens: Das instrumentale, das soziale, sowie das narkotische Trinken. Nur die letzte Art verbindet er mit eska- pistischen Motiven (vgl. Roberts, J. S., »Der Alkoholkonsum deutscher Arbeiter im 19. Jahrhundert«, S. 220-223). Vgl. auch Roberts, J. S., »Drink and the Labour Movement«, S. 102; Schler, L., »Looking through a glass of beer«, S. 334. 222 Vgl. dazu Leshner, A. I., »Addiction is a Brain disease, and It Matters«, S. 45. 223 Vgl. Room, R., »The Cultural Framing of Addiction«, S. 230. 224 Dr. Julius Metzl: »Die Entwicklung der Arbeitsmethode der Trinkerfürsorgestelle Brigittenau«, S. 77. 312 Die Rhetorik der Wirklichkeit glichen, erschienen selten sogar in der Internationalen Monatsschrift. Einer- seits verfestig ten diese ein Unbehagen gegenüber solchen Personen, deren durch bewusst seins verändernde Substanzen verfremdete »Innenwelt« den Außenstehenden unzugäng lich erschien. Andererseits bestärkten sie die Vormachtstellung einer intersubjektiv erfahr baren »Außenwelt«.225 Das Motiv der Selbstverfremdung bezog sich auf den Vorwurf eines Nicht- Nachkommens gegenüber den aus rationalem Blickwinkel gedeuteten Pflichten der sozialen Wirklichkeit – und perpetuierte damit sowohl eine Norm als auch ein davon abweichendes, deviantes Verhalten. Das Motiv des Eskapismus ließ sich jedoch auch gegen die Abstinenz- bewegung einsetzen. Ein prominentes Beispiel dazu war der ungarische Arzt und Psychoanalytiker Sándor Ferenczi, der den Abstinenten eine Flucht vor dem Alkohol vorwarf und dies als eine neurotische Tendenz be- schrieb. Diese Sichtweise wurde insbesondere von Exponenten der »Zür- cher Schule« kritisiert, die fest in die sozialhygienische Abstinenzbewegung eingebunden waren.226 Tatsächlich schwächte die aufkommende Psycho- analyse den psychiatrisch geschulten Teil der Abstinenzbewegung: Zu den Verlusten zählten unter anderem Otto Juliusburger und Carl Gustav Jung.227 Im Rahmen einiger psychoanalytischer Zugänge drängte sich die Frage auf, inwiefern der Genuss von bewusstseinsverändernden Sub stan- zen tatsächlich einen Rückzug in die Selbstverfremdung darstelle, oder ob es sich dabei nicht eher um eine Bejahung verdrängter Begierden handle. Auch wenn die Psychoanalyse nach Freud nicht zuletzt eine Bewusstwer- dung des »Ich« über das »Es« anstrebte und damit das in alkoholgegneri- schen Kreisen dominante Ideal einer perma nent reflexiven Persönlichkeit bestärkte, so schien sie doch auch die Forderung nach einem Einklang zwi- schen der »Außenwelt« und der »Innenwelt«, zwischen dem Realitätsprin- zip und dem Lustprinzip, vorzubringen.228

Zwischenfazit

In diesem Kapitel fallen zunächst die weitreichenden inhaltlichen Über- schneidungen zwischen den sozialhygienischen Strategien zur Untermau- erung der vertretenen Wirklichkeitsansprüche und den von Fisch verwen-

225 Vgl. Grotjahn, A., »Alkoholismus«, S. 17. 226 Bleuler, E., »Alkohol und Neurosen«, Internationale Monatsschrift 5 (1912), S. 176- 183. 227 Vgl. Holitscher, A., »Die Lehre Freud’s und die Abstinenzbewegung«, Internatio- nale Monatsschrift 12 (1912), S. 497-499 (498). 228 Vgl. Freud, S., Das Ich und das Es, S. 43 f. Die Motive des Aberglaubens und des Eskapismus 313 deten Strategien auf: Stets waren dabei die Themen der Produktivität, Kriminalität, Degeneration, Unfälle sowie der Gesundheit und Sterblich- keit präsent. Der Missionsarzt distanzierte sich jedoch insofern von dem in sozial hygieni schen Kreisen populären Materialismus, als dass er zugleich auch eine »Wahrheit in Gott« verortete. Derartige, auf ein subjektives Er- leben ausgerichtete Wirklichkeitsreferenzen fanden sich häufiger in den unter suchten Beiträgen der Basler Missionsvertreterinnen und -vertreter, wobei der Wahrheitsanspruch zusätzlich oft auch an die Werteordnungen biblischer Schriften rückgebunden wurde. Dem als »abergläubisch« be- schriebenen »Heidentum« Westafrikas unterstellten die Missionsvertreter regelmäßig eine unvernünftige und damit verzerrte Sicht auf die soziale Wirklichkeit. Diese Realität wurde nicht zuletzt durch die realen Bedro- hungen eines physischen, geistigen sowie ökonomischen »Niedergangs« beschrieben, über welchem das Aus sterben ganzer Völker thronte. Da- mit stellten sie die von ihnen vertretene Glaubensüberzeugung nicht nur als beste Vorsorge für das »Jenseits« dar, sondern auch für das »Diesseits«. Indem sie sich über diese Wirklichkeitsbezogenheit über konkurrierende Glaubensgemeinschaften Westafrikas erhoben, griffen sie auf das Motiv des Aberglaubens zurück, das Freidenkerinnen und Freidenker noch radi- kaler einzusetzen vermochten. Obschon die dabei geforderte Ausrichtung an einer sozialen Wirklichkeit sinnvoll war und ist, so wohnt der sugge- rierten Singularität doch eine präskrip tive und einengende Tendenz inne: Diese Tendenz kann sich zu einer kulturell geprägten Norm verfestigen, nach welcher individuell erfahrenes, als authentisch wahrge nommenes Glück nach ›äußerlichen‹ Gesichtspunkten als »echt« oder »falsch« beur- teilt wird. Es scheint angebracht, über die Angemessenheit solcher Beur- teilungen nachzu denken. Auf einer individuellen Ebene kann vorgebracht werden, dass jegliches erfahrenes Glück »Wahrheit in sich« enthalte,229 oder dass gar jegliche durch psychoaktive Substanzen bewirkte Bewusstseinsver- änderung durch die leiblich erfahrene Modifikation das Leibesbewusst- sein des Konsumenten zu akzentuieren vermag. Die Frage, inwieweit eine Gesellschaft derartige Genussmittel einschränken soll, wird sich mit jeder Wahrnehmungsverschiebung bezüglich des Schadenspotenzials auf Konsu- menten und Mitmenschen wieder neu stellen.

229 Horkheimer, M. und Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, S. 70.

5 Schlussbetrachtung

1. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs

1925 druckte der Illustrierte Arbeiterfreund eine bemerkenswerte Anekdote eines Pfarrers ab. Dieser hatte sich mit einem Tropenhelm als Missionar verkleidet unter die »negerhaft bekleideten« Teilnehmenden des Timbuk- tufests, eine für Künstler und Bedürftige konzipierte Benefizveranstaltung, gemischt. Zu später Stunde endlich habe er sich auf die Bühne begeben, um zu einer anklagenden Ansprache anzusetzen: Er fühle sich tatsächlich wie ein Missionar unter einer Ansammlung von ehebrechenden Heiden, meinte der Gottesmann, und warf den anwesenden Herren vor, dass die »Weiber« auf ihren Schößen nicht die »ihrigen« seien. Damit richtete sich der Prediger in erster Linie gegen die »Vielweiberei«, in zweiter Linie griff er aber generell die unter alkoholisierter Berauschung zelebrierte Ausge- lassenheit und die damit angeblich einhergehende »Genuss sucht« an. Seine Predigt beendete er mit einem grundsätzlichen Angriff gegen die Konzep- tion der Benefiz-Veranstaltung: Hilfe an Notleidende solle selbstlos »aus reiner Liebe« erfolgen »und nicht aus sinnlichem Genuss«.1 Diese Anekdote illustriert eine Spielart, koloniale Vorstellungswelten in einen lokalen Kontext zu übertragen, um auf diese Weise Kritik zu- zuspitzen. Sie verdeut licht damit die in globalhistorischen Ansätzen eta- blierte Prämisse, dass die Diskurse zu »Zivilisierungsmissionen« in kolo- nialen Kontexten stets auch Wahrnehmungen der Zustände in Europa prägten.2 Die Äußeren Missionen in Asien und Afrika lenkten die euro-

1 »Eine ›unpassende‹ Rede am Timbuktufest«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1925), S. 23. Der Artikel erschien ursprünglich in der Frankfurter Post. 2 Von der reichhaltigen Theorie zu globalgeschichtlichen Ansätzen möchte ich in diesem Kontext drei besonders prägende Beiträge hervorheben: Cooper, F. und Sto- ler, A. L., »Between Metropole and Colony«, S. 1-56; Conrad, S. und Randeria, S., »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt«, S. 9-49; Osterhammel, J., »›The Great Work of Uplifting Mankind‹«, S. 363-426. 316 Schlussbetrachtung päische Aufmerksamkeit stets auf die ›satanischen‹ Zustände zu Hause.3 Sebastian Conrad und Susan Thorne haben in Fallstudien aufgezeigt, wie bestimmte Begriffe gerade durch das Zusammenspiel der Äußeren und der Inneren Mission eine leichte, aber aus sozialhistorischer Sicht gewich- tige Bedeutungsverschiebung erfuhren. Conrad etwa vertritt die These, dass koloniale Erfahrungen um 1900 den Diskurs zur »Sozialen Frage« in Deutschland radikalisierten, indem sie Stigmatisierungs- und Exklusions- prozesse verschärften.4 Für den britischen Kontext stellt Thorne fest, dass der Begriff des »Heidentums« durch die Konkurrenzsituation der briti- schen »home missions« und den »missions abroad« zusehends negativer konnotiert wurde.5 Auch in religiös geprägten Anti-Alkohol-Zeitschriften der Schweiz diente der Begriff des »Heiden« zuweilen als negativer Ver- gleich, um hiesige soziale Missstände anzuprangern.6 Bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten einige Vertreterinnen und Vertreter der christ- lichen Inneren Mission gerade mit Hinweis auf den ansteigenden Schnaps- konsum vor einer Vernach lässigung gegenüber der Äußeren Mission ge- warnt.7 Im deutschsprachigen Raum lässt sich somit ein vergleichbares

3 Bayly, C. A., The birth of the modern world, S. 344: »External missionizing among Asians and Africans had drawn attention to ›Satan’s dwellings‹ at home.« In einer optimistischeren Auslegung wurde eine Wiederholung der Erfolge der Äußeren Mission in Europa angestrebt (vgl. Przyrembel, A., Verbote und Geheimnisse, S. 123). 4 Vgl. Conrad, S., »Education for Work in Colony and Metropole«, S. 23-40. 5 Vgl. Thorne, S., »›The Conversion of Englishmen and the Conversion of the World Inseparable‹«, S. 238-262. 6 Vgl. Illustrierter Arbeiterfreund 11 (1901), S. 41: »Wer die Seinigen nicht versorget […] ist ärger denn ein Heide.« (H. i. O.). 7 Davon zeugt eine bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Form eines Sonderdru- ckes verbreitete Predigt des Berliner Pastors Gustav Deutschmann. Dieser hatte sich über ein »völliges Heidentum« beklagt, das sich »mitten in der Christenheit ausgebil- det« habe (S. 2). Damit appellierte er an seine Zuhörerschaft, neben den Zuständen in den Gebieten der äußeren Mission nicht die Zustände in Europa aus dem Blick zu verlieren. Denn durch das Aufeinanderprallen von Aufklärung, Industrialisierung, Verstädterung und nicht zuletzt dem Branntwein – in dieser Predigt als »Sakrament der Hölle« bezeichnet – habe sich im christlich geprägten Europa ein Zustand der »völligen Gottlosigkeit« eingeschlichen. Sodann fokussierte der Prediger auf den Branntwein, der »Satans Geist« über die Menschen gebracht habe. Aus Deutsch- manns Sicht stellte die Bekämpfung des Branntweines folglich eine Notwendigkeit für das Gelingen der »inneren Mission« dar, was mit der Wahl des Titels »Ohne den Kampf gegen den Branntwein ist alle innere Mission unmöglich« offensichtlich wird. Vgl. Deutschmann, G., »Ohne den Kampf gegen den Branntwein ist alle innere Mission unmöglich – Predigt über Evangelium Marci Kap. 3, V. 27, gehalten am Jahres- feste des Vereins gegen die Vergiftung durch Alkohol zur Förderung der Gesundheitspflege in der Bethlehems-Kirche zu Berlin, 17. September 1850« (Berlin, 1850). Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs 317

Konkurrenzverhalten in Bezug auf den Alkohol genuss beobachten. In Be- zug auf den Anti-Alkohol-Diskurs ist damit denkbar, dass die Überlage- rung der ›Äußeren‹ alkoholgegnerischen ›Mission‹ in den Kolonien mit der ›Inneren‹ alkoholgegnerischen ›Mission‹ in der Schweiz auch den Diskurs über die »Soziale Frage« verschärft hat. Die hier apostrophierte ›Innere‹ Mission bezieht sich dabei auf die alkoholgegnerische Mission im deutsch- sprachigen Mitteleuropa, die unter anderem von vielen Exponenten der christlichen Inneren Mission getragen wurde. Bei der Äußeren Mission stehen im Folgenden die alkoholbezogenen Debatten über den »dunklen Kontinent« im Zentrum, da die kolonialen Stereotype dazu im alkohol- gegnerischen Diskurs besonders ausgeprägt waren. Die Äußere Mission gegen den Alkohol wurde aber auch in anderen Weltregionen ausgetragen, was nicht zuletzt die durch Basler Missionare initiierten Blaukreuz-Vereine in Indien illustrieren.8 Zunächst soll jedoch der Umstand verdeutlicht wer- den, dass sich alkoholgegnerische Aktivitäten in Afrika vielfach aus einem europäischen Erfahrungs hintergrund speisten.

Verwobenheit von Innerer und Äußerer Mission vor dem europäischen Erfahrungshintergrund

Auch wenn die regelmäßig abgedruckten Berichte zu Afrika zumeist Bilder einer »Barbarei« vermittelten, konzentrierten sich die meisten alkoholgeg- nerischen Beiträge auf die ›Innere‹ Mission, ohne explizit auf die koloniale Konstellation zu verweisen. Überdies wurden die meisten Repräsentan- ten der christlichen Äußeren Mission zuerst in ihrer europäischen Heimat auf die Problematik der »Alkoholfrage« sensibilisiert. Rund ein Viertel der Basler Missionare gehörte nach einer Schätzung des Missionsarzt Rudolf Fisch den heimischen Landesvereinen des Blauen Kreuzes an.9 Bevor Her- mann Christ als Komitee-Mitglied der Basler Mission am Internationalen Kongress von Basel 1895 den westafrikanischen Branntweinhandel an den Pranger stellte, hatte er 1882 die Basler Blaukreuz-Sektion mitbegründet.10 Diese Verbindung mit dem heimatlichen Kontext wurde überdies durch

8 In dieser Region sticht vor allem Missionar David Berli hervor, der für die Basler Mission im Auftrag des Komitees die Grundlagen für einen missionsinternen alko- holgegnerischen Unterricht ausarbeitete (vgl. BMA BV 1079). 9 Vgl. Fisch, R., Die bedrohte schwarze Rasse, Evangelischer Heidenbote 12 (1913), S. 168. Zum pietistisch-methodistischen Hintergrund des Blauen Kreuzes vgl. Spode, H., »Die Anfänge der Suchthilfe im 19. Jahrhundert«, S. 3. 10 Schweizerische Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus, 32. Jahresbericht 1933, S. I. 318 Schlussbetrachtung die Möglichkeit der brieflichen Korrespondenz zwischen im Ausland tä- tigen Missionaren und der Familie in der Heimat sowie durch die regel- mäßigen Rückberufungen der Missionare nach einigen Jahren Dienst »im Feld« bestärkt. Einer Petition verschiedenster deutscher Missionare zufolge konnte diese Heimkehr auch von einem Schock über die europäischen Trinksitten begleitet sein.11 Bei der Basler Mission lässt sich die Verwobenheit zwischen der ›Äu- ßeren‹ und der weiteren ›Inneren‹ alkoholgegnerischen Mission am deut- lichsten am Missionsarzt Rudolf Fisch nachvollziehen.12 Der Missionsarzt blieb nach seiner definitiven Rückkehr in die Schweiz um 1911 sowohl mit dem Blauen Kreuz als auch mit dem sozialhygienisch geprägten AGB in Kontakt und war gar in der Internationalen Monatsschrift präsent.13 Der antiklerikale AGB wiederum machte sich neben seinen nationalen Bestre- bungen auch für eine internationale Regulierung des Branntweinhandels in den afrikanischen Kolonien stark. Dennoch wurde Fischs Kooperation mit dem sozialhygienischen Flügel der Alkohol gegnerschaft von Seiten der Basler Mission nur bedingt unterstützt: Als der Missionsarzt eine Reso- lution des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes an die Mis- sionsleitung weiterleitete, ging die darin formulierte Forderung nach einer generellen Prohibition in Afrika dem Missionsinspektor Oettli zu weit. In einem Antwortschreiben an Fisch bezichtigte der Missionsinspektor den Missionsarzt implizit der Übertreibung: »Mit Ihnen halten wir den Alkohol für eine der größten Gefahren, wel- che die eingeborene Bevölkerung Westafrikas bedroht, und doch kön- nen wir uns des Eindruck[s] nicht ganz erwehren, dass Sie im Eifer um die gute Sache hin und wieder zu weit gehen und die Dinge schwärzer malen, als viele andere sie sehen.«14 Oettli äußerte zur Rechtfertigung seiner Zweifel die pragmatische Befürch- tung, dass derart weitgehende Forderungen auf dem politischen Parkett

11 Vgl. »Eine Bitte des Bundes deutscher evangelischer Missionare«, Illustrierter Arbei- terfreund 2 (1924), S. 8. Die Bitte wurde von 70 Missionaren unterzeichnet. 12 Es widmeten sich jedoch auch andere Missionare nach ihrer Zurückberufung der Trinkerrettung, wie das Beispiel des Missionars Wilhelm Erhardts zeigt (vgl. BMA BV 1380). 13 Fisch, R., »Wirkungen des Schnapshandels in Westafrika«, Internationale Monats- schrift 5 (1914), S. 145-155; zusätzlich wurden aus alkoholgegnerischer Sicht relevante Aussagen aus seinem Buch über Togo zusammengefasst in Internationale Monats- schrift 1 (1912), S. 28 f. 14 Missionsinspektor Oettli an Rudolf Fisch, 24. Januar 1918, BMA BV 985. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs 319 einerseits keinerlei Erfolgsaussichten hätten. Andererseits spielte der Missi- onsinspektor mit seiner Angst vor abstinentem Übereifer und Übertreibun- gen auf einen Vorwurf an, der oft gegen die »fanatischen« Überzeugungen der Abstinenzbefürworter gerichtet wurde.15 Noch in den 1970er-Jahren äußerte der Historiker Raymond Dumett den Verdacht, die Missions- vertreter hätten aufgrund von Industrialisierungserfahrungen aus der Hei- mat übertrieben pessimistische Prognosen in Bezug auf den Alkoholkon- sum in Afrika gestellt.16 Die untersuchten Anti-Alkohol-Zeitschriften bestärken diesen Ver- dacht einer Voreinge nommenheit durch Erfahrungen aus Europa. So fanden sich in den religiös geprägten Abstinenz-Zeitschriften auch Ge- genüberstellungen von »Zivilisation« und »Barbarei«, die auf eine imagi- nierte, ›dunkle‹ Vergangenheit des eigenen Volkes Bezug nahmen.17 Weiter wurde in der alkoholgegnerischen Literatur oft das Motiv der Kindlichkeit beansprucht, um gewissen Menschen eine Fähigkeit zu verantwortungs- bewusstem Handeln abzusprechen. Viele Berichte des Illustrierten Arbei- terfreunds zur Lage im subsaharischen Afrika vermittelten den Eindruck, dass die dort ansässige Bevölkerung noch nicht zur verantwortungsbe- wussten Selbstbestimmung gefunden habe. Auch nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, im Zuge derer die europäische Zivilisierungsrhetorik an Legitimität einbüßte,18 forderte der Illustrierte Arbeiterfreund für die »schwarzen Bewohner Afrikas« einen ähnlich paternalistischen Umgang wie mit den Kindern zu Hause: »Dass Kindern keine geistigen Getränke gehören, darüber ist man sich heute mehr und mehr einig. Nun sind aber die schwarzen Bewohner

15 Dieser Vorwurf wurde besonders durch den 1908 in Breslau gegründeten Schutzver- band gegen die Übergriffe der Abstinenten (manchmal auch Schutzverband gegen die Übergriffe der Abstinenzbewegung) vorgebracht, sowie durch den 1911 gegründeten Abwehrbund gegen die Ausschreitungen der Abstinenzbewegung. Zwischen 1910 und 1911 sorgte insbesondere der deutsche Arzt Wilhelm Sternberg mit seinem Fanatis- mus-Vorwurf für viel Unmut in der Abstinenzbewegung (vgl. Kraepelin, E., »Die Übertreibungen der Abstinenz«, Internationale Monatsschrift 12 (1910), S. 432-444; E. B., »Rundschau«, Internationale Monatsschrift 4 (1911), S. 140). 16 Vgl. Dumett, R. E., »The Social Impact of the European Liquor Trade on the Akan of Ghana«, S. 72 ff. 17 Diese Referenz kommt in der bildlichen Gegenüberstellung im Illustrierten Arbei- terfreund 10 (1897), S. 40, besonders deutlich zum Ausdruck. Auf dieser Illustration dominierten auf der einen Seite Alkohol, Elend, Unordnung und Vergänglichkeit; während auf der anderen Seite Wasser, Wohlstand, Ordnung, Häuslichkeit und Jugend dargestellt wurde. 18 Vgl. Adas, M., »Contested Hegemony«, S. 31-63. 320 Schlussbetrachtung

Afrikas, wie man weiß, sozusagen als große Kinder zu betrachten und demgemäß die alkoholischen Getränke für sie besonders gefährlich, wie auch die tatsächliche Erfahrung hundertfach bewiesen hat.«19

Da der Autor die als »Europäerwein«20 bezeichneten Schnäpse überdies als europäische Verantwortung gegenüber von »unzivilisierten« oder »halb- zivilisierten Völker« auslegte, schien ihm ein paternalistischer Eingriff in diesem Kontext als gerechtfertigt. Gleichzeitig richtete sich seine Kernbot- schaft, dass alkoholische Getränke gefährlich und restriktive Maßnahmen deshalb legitim seien, an die Schweizer Leserschaft. Die Schilderungen aus kolonialen Kontexten dienten damit den Absichten der alkoholgegneri- schen ›Inneren‹ Mission.

Koloniale Tropen in der ›Inneren‹ alkoholgegnerischen Mission

Der Diskurs über den westafrikanischen »gin belt« wurde nicht nur durch die Erfahrungen der Inneren Mission beeinflusst, umgekehrt zehrten die alkohol gegnerischen Blätter der Schweiz von den Erfahrungsberichten der Missionare »im Feld«. Die diversen im Illustrierten Arbeiterfreund abge- druckten Meldungen zu Afrika beriefen sich hauptsächlich auf missions- nahe Periodika.21 Diese lassen sich grob in drei Typen einteilen: Erstens die Berichte von Missionaren und Reisenden; zweitens Heldengeschichten von zum Christentum konvertierten, alkoholgegnerisch gesinnten Afrikanern; sowie drittens Schilderungen von alkoholgegnerischen Erziehungsmetho- den durch die Missionare. Bemerkenswerterweise war die erste Kategorie der Berichterstattungen aus Afrika kaum von einem Bemühen nach de- skriptiver Detailtreue gezeichnet. Im Vordergrund der Meldungen stand dabei stets das Ausmaß des Branntweinkonsums, selten wurden mit dem Palmweinkonsum auch schwachalkoholische, fermentierte Getränke kriti- siert. Neben den spärlichen Import-Statistiken, die den Anstieg der »trade spirits« bis 1914 eindrücklich illustrierten, fanden sich im Illustrierten Ar- beiterfreund kaum Versuche, spezifische Trinkrituale oder -praktiken be- züglich Lokalität, Zeitraum, Ablauf, unterschiedlicher Rollen der Teil-

19 »Afrika und der Schnaps«, Illustrierter Arbeiterfreund 7 (1931), S. 28. Dieser Kom- mentar knüpfte an den vorangehenden Beitrag an: »Eine Kundgebung der Gold- küstechristen gegen den Schnaps«, Evangelischer Heidenbote 1 (1931), S. 10 ff. Vgl. dazu Kapitel 3. 20 Baltasar Groh, zitiert nach »Europäerwein«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1908), S. 36. 21 Siehe dazu Kapitel 1. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs 321 nehmenden und vor allem bezüglich der jenen Praktiken zugeschriebenen Bedeutungen zu differenzieren.22 Die Mehrheit der aus verschiedensten afrikanischen Regionen und Kulturen stammenden Berichte verfestigte nach ihrer Paraphrasierung durch die alkohol gegnerische Zeitschrift viel- mehr die Vorstellung eines überregionalen Anstiegs des Brannt weins sowie der Trunksucht auf dem nicht weiter differenzierten »Schwarzen Erdteil«.23 Vielfach thematisierten diese über den Branntwein in Afrika berich- tenden Beiträge aus dem Illustrierten Arbeiterfreund zugleich die Sklaverei. Dabei wurde diese Institution des äußeren Zwanges auf die trinkende Be- völkerung in der Schweiz bezogen, wie ein bereits 1888 erschienener Bei- trag illustriert. Dieser verglich die aus Europa bekannte, die Menschheit mit »inneren Ketten« bindende »Sklaverei der Trunksucht« mit dem Skla- venhandel in Afrika, der hauptsächlich den »gewinnsüchtigen Araber« zu- geschrieben wurde: »Hunderttausende sind auch in den Kulturländern von einer Gewinn- sucht beseelt, die viele unglückliche Sklaven macht, Sklaven der Trunk- sucht. Hier wird keine Gewalt, sondern nur Verführung gebraucht; die Opfer sind meistens dümmer als die Neger, sie widerstehen nicht. Wenn sie aber vor uns in den Ketten der moralischen Erschlaffung und Ge- nusssucht liegen, da wollen wir es an erbarmenden Liebesthaten nicht fehlen lassen.«24 Damit wurden diejenigen Menschen, die aus Profitstreben ihre Mitmen- schen in die »Sklaverei der Trunksucht« verführten, als europäisches Pen- dant zu den mit dem Islam in Verbindung gebrachten Sklavenhändlern identifiziert. Die alkoholgegnerische Kritik richtete sich folglich beson- ders gegen die zahlreichen Wirtshäuser, seltener auch gegen die Brauereien und Brennereien. Noch entschiedener wurden diese Gewerbe unter dem Begriff des »Braukapitals« oder »Alkoholkapitals« durch die Sozialhygie- niker und Sozialhygienikerinnen bekämpft.25 Die eigentliche Provokation

22 Eine seltene Ausnahme stellte eine nicht sehr empathische Beschreibung eines »Heidenrituals« aus Kamerun dar: vgl. »Die Reinigung durch Blut in Westafrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1913), S. 9. 23 »Neger und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 12 (1925), S. 48. Zu den ausge- prägten regionalen Unterschieden bezüglich des Alkohol-Konsums in Afrika vgl. Bryceson, D. F., »Changing Modalities of Alcohol Usage«, in Alcohol in Africa: mixing, pleasure, and politics, herausgegeben von Bryceson, D. F. (Portsmouth, NH: Heinemann, 2002), S. 23-52. 24 »Sklavenhandel«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1888), S. 36 (H i. O). 25 Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 52. 322 Schlussbetrachtung der Passage kam jedoch in der Phrase »dümmer als die Neger« zum Tragen. Damit wurde den Europäern vorgeworfen, sich widerstandslos der drohen- den Knechtschaft auszusetzen, während sich die Bewohner Afrikas immer- hin gegen die drohende Versklavung auflehnten. Vor dem Hintergrund des im Kontext kolonialer Machtasymmetrien konstruierten Stereotyps einer intellek tuellen ›Inferiorität‹ der Bewohner Afrikas las sich diese Taxierung geradezu als Weckruf an die heimischen Alkoholkonsumenten. In der zweiten Kategorie der Heldengeschichten spielten insbesondere Afrikaner von höherem Status die Hauptrolle, die zum Christentum kon- vertierten und deren gegen den Alkohol gerichteten Aussagen in den Abs- tinenz-Blätter zitiert wurden. In diesen Erzählun gen tauchten zwei Na- men immer wieder auf: Einerseits der über ein östliches Gebiet auf der Goldküste herrschende Nana Sir Ofori Atta I (1881-1943), der auf einer Reise nach England kostbare Ge schenke in Form von Alkohol erhalten hatte. Der Erzählung zufolge habe er diese Gefäße jedoch nach seiner Rückkehr vor versammeltem Volk mit den Worten »Der Alkohol ist der größte Feind der Schwarzen«26 zerschlagen. Der einflussreiche okyenhene der Akyem Abuakwa hatte seine Ausbildung an einer Schule der Basler Mission erhalten.27 Hinsichtlich medialer Ab deckung in der Schweizer Alkoholgegner- schaft wurde Atta nur von König Khama III (ca. 1835-1923) übertroffen, der die im heutigen Botswana angesiedelten Bamangwato anführte und sowohl Polygamie als auch Branntwein bekämpfte.28 Vermutlich stamm- ten die Informa tio nen dazu aus den Informationskanälen der britischen temperance societies, in denen Khama aufgrund seiner Annäherung an Großbritannien zusätzlich beliebt war.29 Derartige Portraits über ›fort- schrittliche‹ Anführer verbreiteten die egalitäre Botschaft, dass über das Christentum auch die Bevölkerung Afrikas das Ideal einer selbstverant- wortlichen Reife zu erreichen imstande sei. Doch offenbarte die dritte Kategorie der Erziehungsmethoden gleich- zeitig, dass einige Missionare zur Erreichung jenes Zustandes der Mündig-

26 Vgl. »Negerfürst und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1929), S. 19. 27 Vgl. Gocking, R. S., The history of Ghana, S. 295. 28 Vgl. »Khama, ein schwarzer Fürst von Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 2 (1924), S. 5 ff.; »König Kama«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1900), S. 17 f.; »Ein abstinenter Negerhäuptling«, Illustrierter Arbeiterfreund 10 (1921), S. 39 f. 29 Vgl. »Ein schwarzer Alkoholgegner«, Schweizer Abstinent 7 (1923), S. 28. Zu Khama III vgl. auch Henderson, W., »Khama III«, in Dictionary of African Biography, her- ausgegeben von Gates, H. L., Akyeampong, E. K. (Oxford etc.: Oxford University Press, 2012), I, S. 350-352. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs 323 keit auch paternalistische Zwangs maßnahmen beanspruchten. Während ein Missionsinspektor in Südafrika die Frauen der Wenda durch gewitzte Überzeugungsstrategien zur öffentlichen Zerschlagung der Trinkgefäße überredet haben soll,30 zerstörte ein anderer in Südafrika stationierter Mis- sionar eigenhändig die Biertöpfe trinkender Afrikaner. Der Erzählung nach soll dieser Gottesmann seine Aktion mit den herablassenden Worten abgeschlossen haben: »So meine Kinder! Wenn nun noch Durstige unter euch sind, so legt euch nur auf den Bauch und trinkt.«31 An dieser Stelle interessiert die paternalistische Anrede noch mehr als die rhetorische Auf- forderung, in einer tier-ähnlichen Haltung weiterzutrinken. Der Erzäh- lung nach hatte sich der Missionar ›im Interesse‹ seiner »Kinder« das Recht herausgenommen, deren Eigentum zu zerstören. Mit dieser Missachtung von Eigentumsrechten untergrub er einen zentralen Pfeiler der kolonialen Zivilisierungs rhetorik. Nur einmal wurde im Arbeiterfreund auf Afrika verwiesen, um die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Schweiz zu kritisieren. Zum Jahrhundertwechsel kritisierte die Sozialreformerin und Alkoholgegne- rin Adèle Huguenin (1856-1933) unter dem Pseudonym T. Combe den Umstand, dass auch in der Schweiz Frauen trotz ihres weniger kräftigen Körperbaus mehr arbeiten müssten, während der Mann lese, spaziere und rauche. Ihre Betonung der kulturellen Rückständigkeit dieses Zustandes kulminierte im Ausspruch »in unseren zivilisierten Ländern geht es oftmals wie in Afrika« zu.32 Wiederum zielte diese Kritik auf die verbreitete Ord- nungsstruktur ab, nach welcher Afrika als ›unzivilisiertes‹ Gegenstück zum ›zivilisierten Europa‹ fungierte. Die sporadisch abgedruckten Beiträge zu Afrika im Illustrierten Arbeiterfreund waren zu einer großen Mehrheit von pauschalisierenden Merkmalen geprägt und kritisierten den Alkoholge- nuss in Afrika vor dem Hintergrund einer allgemein abgewerteten Kultur. Trotz der vielen Äußerungen, wonach auch die erwachsene Bevölkerung Afrikas aufgrund ihres Zustandes einer ›Unreife‹ auf wohlwollende Res- triktionen von Seiten der »zivilisierten Völker« angewiesen sei, findet sich in dieser Zeitschrift vergleichsweise noch wenig Substanz zur Stützung der angekündigten These einer Diskurs-Verschärfung.33 Wesentlich deutlicher

30 Beyer, »Warum die Wenda-Leute ihre Biertöpfe zerschlugen«, Illustrierter Arbeiter- freund 11 (1921), S. 41-43. 31 »Eine Radikalkur«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1898), S. 21 f. 32 »Gerade wie in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1901), S. 23. Die Erzählung von T. Combe wurde aus dem Heft für Volksschriften 7 (1901) übernommen. 33 Die womöglich expliziteste Übertragung von Afrika in die Schweiz verglich die schlechte Vorbild-Rolle der »Weißen« in Afrika mit dem schlechten Beispiel der 324 Schlussbetrachtung kommt eine solche Verschär fung im sozialhygienisch informierten Schwei- zer Abstinent zwischen 1925 und 1939 zum Ausdruck.

Koloniale Tropen in der sozialhygienischen ›Mission‹

Besonders nachdem das IBAA unter der Leitung des Guttemplers Hercod 1925 die internationale Kampagne gegen den »Alkohol in den Kolonien« lanciert hatte, häuften sich im Schweizer Abstinent ironische Anspielungen auf den negativ konnotierten Begriff des »Negers«. Kurz nach der Inter- nationalen Konferenz in Genf 1925 druckte die Zeitschrift einen bemer- kenswerten Kommentar in der seit 1917 stets auf der Frontseite platzier- ten Kolumne »Der Weltspiegel« ab, die alkoholrelevante Ereignisse aus aller Welt kommentierte. In diesem Kommentar wurde das Verhalten der europäischen Siedler in Afrika kritisiert. Nicht dass jene Kritik in alkohol- gegnerischen Kreisen ein Novum dargestellt hätte; Meldungen zu einem »katastrophalen« Alkoholkonsum der nach Afrika ausgewanderten Euro- päer fanden sich bereits seit dem Fin de Siècle auch in den sozialhygienisch geprägten Zeitschriften.34 Auffällig an dieser Kritik waren vielmehr ihre expliziten Bezüge auf den heimischen Kontext in Europa: »Der Neger aber, dem man diese Wesen [Einwanderer, F. S.] als Vorbil- der auf dem Wege zur Kultur vorstellt, versteht in seiner afrikanischen Einfalt nicht, warum er nicht auch tun sollte wie seine weißen Vorbil- der […]. Auch unsere europäischen und Schweizer Neger schauen ge- nau so verständnislos auf die Weißen, die man ihnen in der Schule und Zeitung als die Vorhut der Menschheit hinstellt.«35 In diesem Fall wurde in der Kolumne neben der »afrikanischen Einfalt« auch das Motiv der Nachahmung angeführt, um dieses über die paterna- listische Wendung »unsere europäischen und Schweizer Neger« zugleich in der Schweiz und in Europa zu verorten. Abgerundet wurden die Aus- führungen mit einer Kritik an der hierzulande anscheinend verbreiteten Pauschalisierung nach dem Motto »sie sind eben Neger«.36 Die Botschaft der kurzen Kolumne war eindeutig: Viele Europäer, die herablassend auf

trinkenden Gesetzgeber und -vollzieher. Damit gab es das zuvor im Schweizer Ab- stinent vorgebrachte Argument wieder, jedoch in vergleichsweise zurückhaltenden Worten (vgl. »Neger und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 12 (1925), S. 48; »In- ternationale Konferenz in Genf«, Schweizer Abstinent 19 (1925), S. 2.). 34 Vgl. etwa Internationale Monatsschrift 7 (1898), S. 211 ff. 35 »Internationale Konferenz in Genf«, Schweizer Abstinent 19 (1925), S. 2. 36 Ebd., S. 2. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs 325 die angeblich einfältige Nachahmungssucht der Afrikaner spotteten, ver- kämen über die Trinksitten selbst zu einem Opfer der Nachahmung. Auf die negativen Konnotationen der Unmündigkeit anspielend wandte sich diese Kritik an alle maßvoll trinkenden Europäer, die wie die »weißen« Siedler in Afrika ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als Vorbild nicht gerecht würden. Damit hinterfragte der Kommentar nach den Worten des französischen Philosophen Étienne Balibar gerade jenes »elementare Wis- sen«, welches den Massen zur Rechtfertigung ihrer spontanen Gefühle der Überlegenheit dient.37 Die gleiche Kolumne brachte vier Jahre später eine ähnliche Analogie, die das Thema der mit den Bewohnern Afrikas in Verbindung gebrachten Unmündigkeit noch deutlicher artikulierte. In diesem Fall setzte sich der »Weltspiegel« kritisch mit einer aus britischen Missionskreisen gestellten Forderung eines auf die »Eingeborenen« beschränkten Trinkverbotes aus- einander. Kritisiert wurde allen voran die für die »weißen« Siedler gefor- derte Ausnahmeregelung. Die dabei angestrebte Ungleichbehandlung zwi- schen »Schwarz« und »Weiß« wurde mit folgender Frage kommentiert: »Warum immer einen solchen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß machen? Der Gedanke ist der: ›Ein Schwarzer ist unmündig, etwa wie ein Kind, ein Tier oder ein unzurechnungsfähiger Erwachsener. Aber der Weiße! Der weiß was er zu tun hat! Der hält Maß und haut nie über die Schnur!‹ Wenn es nur so wäre. Aber wer die Augen aufmacht, der wird auch im Land der Weißen sehr viele ›Schwarze‹ entdecken […].«38 Wiederum bezog sich der Kommentar auf den anscheinend verbreiteten Gemeinplatz des »unmündigen« Afrikaners und konkretisierte diesen mit den Verweisen auf negative Qualifikationen wie Kindlichkeit, Tierhaftig- keit oder Unzurechnungsfähigkeit. Und wieder verortete der Kommentar derartige Ausprägungen auch in heimischen Gefilden. Obschon auch diese Kritik auf eine Hinterfragung der chauvinistischen Distinktion zwischen »Schwarz« und »Weiß« abzielte, bezog der Appell seine Wirkung haupt- sächlich aus der Fokussierung auf unerwünschte Eigenschaften wie ›Un- mündigkeit‹ und ›Kontrollverlust‹. Die Betonung von negativ bewerteten Eigenschaften mochte strategisch gewählt sein; ermöglichte sie doch im Gegensatz zur egalitäreren positiven Betonung das Vorbringen von Pro- hibitions-Forderungen. Wie die Heilsarmee in England beschrieben auch die Sozialhygieniker die Alkoholkonsumenten mit Worten, die aufgrund

37 Balibar, É. und Wallenstein, I., Rasse Klasse Nation, S. 26 & S. 31. 38 »Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 22 (1929), S. 91. 326 Schlussbetrachtung kolonialer Rechtfertigungsrhetoriken übertrieben negative Konnotationen in sich trugen.39 Sowohl beim Illustrierten Arbeiterfreund als auch beim Schweizer Absti- nent überlagerten sich die Berichte zu kolonialen Schauplätzen selten ex- plizit mit der »Sozialen Frage« in Europa. Zwar diente der Alkoholkon- sum in unzähligen weiteren Beiträgen aus der Anti-Alkohol-Bewegung als Erklärungsansatz für fortschreitende Armut – sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas. Dennoch blieben bei diesen Analogien expli- zite Verweise auf Armut oder gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit weit- gehend aus. Dafür perpetuierten diese Berichte aus kolonialen Kontexten eine spezifische Konzeption von ›Unmündig keit‹, die auf die Trennung von ›Fleisch‹ und ›Geist‹ zurückgriff, indem die aus außereuropäischem Umfeld beladenen Vorstellungen von ›Kindlichkeit‹ und ›Tierhaftig keit‹ einem bewusst-reflektierenden Handeln gegenübergestellt wurden. Während derart pauschalisierendes Schwarz / Weiß-Denken im Schwei- zer Abstinent regel mäßig hinterfragt wurde, trugen andere Anti-Alkohol- Verbände gleichzeitig zu einer Perpetuierung des rassistischen »elementa- ren Wissens«40 bei, indem sie das Gegenstück von ›Mündigkeit‹ besonders stark dem fernen Kontext Afrikas zuschrieben. Ein auf sehen erregendes Beispiel von internationaler Tragweite stellt das eng mit der Schweizeri- schen Mission Romande verbundene Bureau international pour la Défense des Indigènes dar: Unter der maßgebenden Führung Henri-Alexandre Ju- nods richtete diese Organisation 1931 und 1932 je ein Memorandum an alle am Vertragswerk von Saint-Germain-en-Laye partizipierenden Regierun- gen. Noch in der zweiten Denkschrift wurde den »Schwarzen« noch immer die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Handeln abgesprochen: »The Whites know what they are doing and bear all the responsibility of the abuse they may commit. The Blacks are members of a race still in its minority, and it is the sacred mission of the Whites, their guardians, to raise them to a higher level of civilization and morality by protecting them against the dangers that colonization has entailed for them.«41

39 Vgl. Fischer-Tiné, H., »Global Civil Society and the Forces of Empire«, S. 30; Lorimer, D., »Reconstructing Victorian Racial Discourse: Images of Race, the Language of Race Relations, and the Context of Black Resistance«, in Black Victo- rians / Black Victoriana, herausgegeben von Gerzina, G. (New Brunswick, London: Rutgers University Press, 2003), S. 187-207 (188). 40 Balibar, É. und Wallenstein, I., Rasse Klasse Nation, S. 26 & S. 31. 41 Junod, H. A., Hefti, F. O., Junod, E. J. und Rolli, L., »Comment résoudre le pro- blème de l’Alcoolisme en Afrique?«, S. 12. Koloniale Denkmuster im Schweizer Anti-Alkohol-Diskurs 327

Während sozialhygienische Bezugnahmen auf afrikanische Kontexte zu- meist auf die Entlarvung von mangelhafter Eigenverantwortung in den eigenen Ländern abzielten, stellte dieses Memorandum der »weißen« Be- völkerung ein vergleichsweise schmeichel haftes Zeugnis aus. Der Umgang mit alkoholischen Getränken erschien darin als ein entferntes Problem. Die zu beschützende ›Minderheit‹ wurde in dieser von religiösen Referenzen durchsetzten Schrift überdies nur sehr pauschal umrissen: Im Gegensatz zu vielen Reiseberichten der Basler Missionsvertreter, die von einem Bestre- ben zeugten, die zahlreichen afrikanischen »Stämme« anhand von verall- gemeinerten Beobachtungen zu Körperbau und Verhalten voneinander zu unterscheiden, begnügten sich die Verfasser des zitierten Memorandums mit einer Komplexitätsreduktion auf die beiden Kategorien »Schwarz« und »Weiß«. Das Konsumverhalten der »Schwarzen« wurde einem »unwider- stehlichen Verlangen« (»irresistible craving«) zugeschrieben, wobei zur Ab- sorption möglichst großer Alkoholquantitäten innerhalb kürzester Zeit das Trinkgefäß jeweils gerade beidhändig gehandhabt werde: »Here we have to take into consideration the manner in which the Af- rican Natives drink. […] [T]hey have an irresistible craving for alcohol and the higher the alcohol content of the liquor they imbibe the better they are satisfied. Further, drinking for them consists in absorbing great quantities of liquid, holding the amphora in both hands.«42 In dieser Darstellung werden die Überlappungen der Gegenüberstellungen ›Mensch / Tier‹ einerseits sowie ›Zivilisation / Barbarei‹ andererseits deutlich. Auf tierhafte Instinkte verweisen die Begrifflichkeiten eines kaum zu wi- derstehenden »cravings« sowie einer mit Gier konnotierten »Absorption«. Diese Beschreibungen, die dem Verdacht eines in den Instinkten angeleg- ten Drangs zum Vollrausch zuspielen, werden durch die Schilderung der ›barbarischen‹ Praxis des beidhändigen ›Stürzens‹ der Amphore ergänzt. Die Aneinanderreihung von ›Tierhaftigkeit‹ und ›Barbarei‹ stützt Hork- heimers und Adornos Ansicht, wonach sich das europäische Menschenbild stets durch Abgrenzung vom Tier konstituiert habe.43 Auch eine Mehrheit der Äußerungen von Seiten der Basler Missions- vertreter trug zu einer Verfestigung derartiger Gegenüberstellungen bei. Dabei wurden insbesondere die mit ›Tierhaftigkeit‹ und ›Unfreiheit‹ kon- notierten »heidnischen« Praktiken hervorgehoben. Wie in Kapitel 3 dis- kutiert, legten die wenigsten dieser Männer und Frauen auf Sendung eine

42 Ebd., S. 5. 43 Horkheimer, M. und Adorno, T. W., Dialektik der Aufklärung, S. 262. 328 Schlussbetrachtung auffällige Tendenz zu rassistisch-biologistischen Verhaltenserklärungen an den Tag. Dennoch erhärten viele ihrer Aussagen Manfred Kappelers Stand- punkt, christliche Missionen hätten mit ihrer Diskriminierung verschiede- ner, religiös geprägter Kulturen eine bedeutende Rolle in deren Kolonisie- rung gespielt. Nicht zuletzt das vorbehaltslose missionarische Eintreten für eine abendländische Freiheits- und Subjektivitätskonzeption, in welcher das Subjekt unablässig durch ›fleischliche‹ Sinnlichkeit und Genusssucht bedroht erscheint, kann als Beitrag zu einem kulturellen Imperialismus gesehen werden.44 Die Kolonialerfahrungen der Missionare wurden durch die alkoholgegnerischen Zeitschriften vielfach auf einfache, manichäische Botschaften reduziert, wobei die Bezeichnungen für die dunkelhäutige Bevölkerung des subsaharischen Afrikas oft mit negativ bewerteten Eigen- schaften wie »irrational«, »tierisch«, »kindisch« und »unmündig« beladen wurden. Im Kontext dieses diskursiven Ordnungsschemas verschärften insbesondere die kolonialen Verweise im Schweizer Abstinent den alkohol- gegnerischen Diskurs in der Schweiz. In ironisierenden Bezugnahmen auf das rassistische Stereotyp aus dem Kontext Afrikas wurden auch ›unauffäl- lige‹ Alkoholkonsumenten in der Schweiz als »Schweizer Neger« bezeich- net. Damit wurde wesentlich die Vorstellung vermittelt, dass auch erwach- sene Menschen nicht immer zu einem rational-selbstbestimmten Umgang mit der gefährlichen Substanz Alkohol in der Lage seien. Von dieser Über- zeugung ausgehend konnten Forderungen nach ›wohlwollender‹ Bevor- mundung erhoben werden. Auch wenn Beiträge mit expliziten kolonialen Referenzen neben den zahlreichen anderen Berichten eine klare Minder- heit darstellten, fanden sich Erstere regelmäßig über den gesamten Unter- suchungszeitraum hinweg. Unter anderem trugen diese Pauschalisierun- gen und Zuspitzungen zur Verfestigung der noch gegenwärtig verbreiteten Ansicht bei, wonach das Risiko einer Alkohol-Abhängigkeit bei Afrikanern aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit erhöht sei.45 Die regelmäßige Präsenz kolonialer Tropen im alkoholgegnerischen Diskurs verdeutlicht nicht zuletzt die Eingebundenheit der Schweiz in die globale Konstellation des Kolonia lis mus. Ob die einzelnen Akteure mit ihren Aktionen situative Herrschafts verhältnisse nun stabilisierten oder nicht, so zeitigten sie doch eine zum Teil erhebl iche Vernetzung mit ko- lonialen Akteuren im Sinne eines Transnationalismus; zugleich gestalteten

44 Vgl. Kappeler, M., Drogen und Kolonialismus, S. 171. 45 Für eine Kritik dieser vielfach zu groben Reduktion vgl. Roy, A., »Avoiding the In- volvement Overdose: Drugs, Race, Ethnicity and Participatory Research Practice«, S. 646-654. Überblick und Ausblick 329 sie unter Verwendung übernational bekannter Denkfiguren gemeinsam geteilte Überzeugungen im Sinne einer Transnationalität mit.46 Dement- sprechend erscheint die koloniale Konstel lation als Teil einer länderüber- greifend geteilten Geschichte, die auch die Schweiz angeht.

2. Ein Überblick und Ausblick zu transnationalen Medikalisierungsbestrebungen

Abschließend soll die eingangs formulierte Frage aufgegriffen werden, wel- che Argumen te und Denkmuster die untersuchten Akteure über welche Netzwerke verbreiteten. Dazu wird zunächst die Ausbildung alkoholgeg- nerischer Netzwerke und Foren zusammen gefasst. Im zweiten Teil werden Gemeinsamkeiten, Gegensätze und Veränderungen der im Diskurs ein- gebrachten Motive, Argumente sowie Modi des Begründens beleuchtet. Diese Ausführungen verdeutlichen zugleich den Anteil, den die interna- tional ausgerichteten Anti-Alkohol-Akteure aus der Schweiz am Prozess der transnationalen Medikalisierung der »Alkoholfrage« hatten.

Aufstieg der transnational orientierten Anti-Alkohol-Verbände aus der Schweiz

Der Politikwissenschaftler Mark Schrad hatte das alkoholgegnerische Trans- national Advocacy Network in drei Phasen eingeteilt: eine Phase des Auf- stiegs (1846-1885), der Reife (1885-1925) sowie des Niedergangs (1925-1935).47 Im Vergleich dazu wies die Schweiz besonders bezüglich der ersten beiden Phasen eine deutliche zeitliche Verzögerung auf. Nach der durch Entwick- lungen aus England inspirierten Gründung des Blauen Kreuzes 1877 setzte in der Schweiz eine rapide Ausbreitung international orientierter Anti-Al- kohol-Verbände ein. Davon ragen der 1890 gegründete, spätere AGB, der 1892 gegründete Guttemplerorden sowie der 1896 gegründete Verein absti- nenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes besonders hervor. Dieser Expansion spielte ein insgesamt stark ansteigender Alkoholkonsum zu, dessen negative Folgen der karitativen »Trinkerrettung« Vorschub leisteten. In diesem phil- anthropischen Feld waren die Erweckungsbewegungen besonders präsent, die sich bereits im frühen 19. Jahrhundert organisiert hatten. Diese waren

46 Vgl. Kaelble, H., Kirsch, M. und Schmidt-Gernig, A., »Zur Entwicklung transna- tionaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert«, S. 10. 47 Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 41-59. 330 Schlussbetrachtung sowohl mit der Anti-Sklaverei-Bewegung als auch mit der Anti-Alkohol- Bewegung eng verflochten und vernetzten sich trotz unterschiedlicher re- gionaler Ausprägungen international. Im ausgehenden 19. Jahrhundert brachten besonders viele Mediziner aus der Schweiz den Alkoholgenuss mit Degenerationstheorien in Verbin- dung und vermittelten dadurch eine drängende Notwendigkeit der Abs- tinenz. Davon fallen einige mit akademischen Meriten ausgestattete Ak- teure wie Forel oder Bunge besonders auf, die sich früh exponiert hatten. Nach anfänglicher Kooperation mit religiösen Organisationen drückten diese den internationalen Anti-Alkohol-Foren wie den Internationalen Kongressen oder der Internationalen Monatsschrift zusehends den Stem- pel der »religiösen Neutralität« auf. Dem rapiden Aufkommen dieser so- zialhygienisch geprägten Abstinenzbewegung in der Schweiz dürfte der Umstand der Sozialistengesetze im deutschen Reich zugespielt haben, im Zuge welcher sich viele sozialistisch-orientierte Deutsche in der Schweiz versammelten.48 Mit der Gründung des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprach- gebiets erreichte die Agitation im Jahr 1896 auf der medizinischen Ebene eine neue Dimension. Der Ärzteverein wies mit Schriftführer Arnold Ho- litscher bereits semi-professionelle Strukturen auf und forderte weltweite Abstinenz ein. Weiter bildete sich mit dem 1902 gegründeten Schweizer Abstinenz sekretariat ein professioneller Verband aus, der jedoch erst mit der Gründung des daran angegliederten IBAA 1907 eine explizit internatio- nale Ausrichtung vertrat. Obwohl sich die evangelisch geprägten Anti-Al- kohol-Verbände über eine Dekade vor den explizit säkular ausgerichteten sozialhygienischen Verbänden organisiert hatten, erlangten Letztere im in- ternational ausgerichteten Anti-Alkohol-Diskurs noch im Fin de Siècle eine hegemoniale Deutungsmacht, die über Kontinentaleuropa hinausstrahlte. 1911 beschrieb der US-amerikanische Presbyterianer Wilbur Crafts die In- ternationalen Kongresse als »fundamentally scientific« und die deutsch- sprachigen Mediziner als »führend« in dieser Veranstaltungsreihe.49 In der dreisprachig konzipierten Internationalen Monatsschrift, in der fran-

48 Bartel, H., Schröder, W. und Seeber, G., Das Sozialistengesetz 1878-1890: Illustrierte Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Ausnahmegesetz (Berlin: Dietz, 1980). Vgl. Forel, A., Rückblick auf mein Leben, S. 147; Sawerschel, H., Refugium Schweiz im 19. Jahrhundert: Asyl für Freiheitskämpfer, Reformer, Revolutionäre und Extremisten (Köniz: H. Sawerschel, 2008). 49 Scientific Temperance Federation, »Twentieth Century Science on the Alcohol Question«, in World Book of Temperance, ed. Crafts, W. F. (Washington D. C.: The International Reform Bureau, 1911), S. 75-78 & S. 263. Überblick und Ausblick 331 zösische und englische Beiträge auffällig in der Minderzahl waren, zeigte sich eine zahlenmäßige Dominanz deutsch sprachiger Beiträge.50 Über die IBAA-Jahresberichte sowie das dreisprachig erscheinende Year Book zirku- lierte dieses Alkoholwissen über den Globus – wobei noch zu untersuchen bleibt, welche Untersuchungen wie stark an unterschiedlichen Orten re- zipiert wurden. Dass von der USA mit ihren finanzstarken Abstinenzverbänden trotz des von euro päischer Seite her oft kritisierten wissenschaftlichen ›Rückstands‹ eine große Wirkung ausging, kann an der Neustrukturierung des IBAA ab 1920 illustriert werden. Nachdem sich das Budget dieses Büros durch die Zuschüsse der WLAA sowie der US-Metho disten kirche beinahe verzehn- facht hatte, nahmen Hercod’s internationale Aktivitäten massiv zu. Ne- ben dem aufwendigen Auskunftsdienst, der Reisetätigkeit und der zuneh- mend anfallenden Organisation der Internationalen Kongresse ent faltete das IBAA einen regen Aktivismus beim Völkerbund und bei der ILO. Da- mit wurde das Büro, das sich stets als neutrale und wissenschaftliche Aus- kunftstelle verstand, zu einer der zentralsten Schaltstellen im globalen Anti-Alkohol-Netzwerk. Jedoch gingen die finanziellen Subventionen aus den USA schon ab 1925 erheblich zurück, womit das Bureau für die kommenden Jahre in fi- nanzielle Schwierigkeiten schlitterte. Fast eine Dekade lang konnte es das Schreiben roter Zahlen nur dank außerordentlicher Spenden von Regie- rungen und kirchlichen Organisationen abwenden. Obschon beim IBAA eine aktive internationale Orientierung bestehen blieb, setzte im Jahr 1932 ein spürbarer Niedergang der globalen Ambitionen ein. Hercod räumte ein, dass der Glaube an die »Weltprohibition« weltweit verloren gegan- gen sei.51 Als Folge der Weltwirtschaftskrise wurde der das Jahr zuvor ge- gründete International Temperance Council (ITC) aufgrund finanzieller Schwierigkeiten kaum aktiv. Von den Bemühungen bei der ILO, die noch 1931 stark an einer erweiterten Zusammenarbeit mit dem IBAA interessiert schien,52 wurde bis 1935 nichts mehr berichtet. Die Aktivitäten beim Völ- kerbund und der ILO scheinen erst wieder durch die erste Kommission der neu gegründeten International Temperance Union (ITU) in Angriff ge-

50 Hercod sah sich gar mehrmals dazu veranlasst, sich für die deutschsprachige Do- minanz der wissenschaftlichen Artikel zu entschuldigen; vgl. IBAA, Annual Report 1922, S. 6 f.; Annual Report 1927, S. 8; Annual Report 1928, S. 7. 51 IBAA, Jahresbericht 1932, S. 3. 52 IBAA, Report for the Year 1931, S. 9. Das Interesse erklärt sich u.a. aufgrund der ak- tiven Rolle der Finnen Tapio Voionmaa (vgl. Pernet, C., »Die Grenzen der ›global governance«, S. 95). 332 Schlussbetrachtung nommen worden zu sein. Mit der abnehmenden finanziellen Unterstüt- zung aus den USA wurden zusehends Differenzen zwischen Hercod und Ernest Cherrington als Vorsitzendem der WLAA offenbar. Der Amerikaner schloss sich den neugegründeten Organen, sowohl dem ITC als auch dem ITU, nicht an und fand sich zunehmend isoliert.53 Rückblickend bilan- zierte Hercod, dass die WLAA in Europa aufgrund kultureller Differenzen mit den leitenden Amerikanern nie recht Fuß gefasst habe: »Es ist nie zu einer echten Fühlung zwischen den Leitern der Weltliga und unseren euro- päischen Organisationen gekommen.«54 Ein ähnlicher kultureller Graben schien auch zwischen der kontinentaleuropäischen Kultur und derjenigen der Engländer zu bestehen. Der »ausgesprochen kontinentale Charakter« der Internationalen Kongresse, so Hercod, sei auch den englischen Mit- gliedern des Permanenzkomitees dieser Veranstaltung stets fremd geblie- ben, obschon die britische Delegation darin proportional jeweils stark ver- treten war.55 Als weiterer Rückschlag der international orientierten Akteure des deut- schen Sprachgebietes galt der auf die Machtergreifung der NSDAP fol- gende Austritt der deutschen Guttempler aus dem Internationalen Gut- templerorden. Trotz der zahlreichen Rückschläge in den 1930er-Jahren, zu denen nicht zuletzt der Niedergang der verschiedenen Prohibitionsregimes zählen, blieb eine internationale Orientierung auch unter den Medizine- rinnen und Medizinern bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beste- hen. Jedoch bleibt noch systematisch zu untersuchen, welche Überzeugun- gen der sozialhygienischen epistemic community auch in den verschiedenen medizinischen Spezialdiskursen außerhalb Kontinentaleuropas rezipiert wurden.

Alkoholgegnerische Denkfiguren, Argumente und Modi des Begründens

Sowohl die wissenschaftlichen als auch die religiösen alkoholgegnerischen Positionen unterschieden sich in Bezug auf ihre propagierten Weltanschau- ungen nicht so stark, wie ihre postulierten Abgrenzungsversuche naheleg- ten. Drei Gemeinsamkeiten fallen beson ders auf. So propagierten beide Richtungen erstens eine Ethik der Nächstenliebe, die in der Ablehnung

53 Schrad, M. L., The Political Power of Bad Ideas, S. 58; IBAA, Rapport pour l’année 1936, S. 11. 54 Vgl. Hercod, R., »Der Weltbund gegen den Alkoholismus«, Internationale Monats- schrift 4 /5 (1935), S. 182-190 (184). 55 Vgl. ebd., S. 184. Überblick und Ausblick 333 der ›fleischlichen‹ und tendenziell egoistischen Instinkte ihren Ausdruck fand. In beiden Strömungen wurde überdies das auf eine Selbstverleug- nung abzielende Handeln aus Nächstenliebe als größtmögliche Freiheit beschrieben. Diese altruistische Verhaltensform wurde besonders im sozi- alhygienischen Diskurs an die Prämisse gekoppelt, dass nur eine über die Nüchternheit sicherzustellende Selbstkontrolle unbeabsich tigte Beschädi- gungen der Mitmenschen vorbeuge.56 Zweitens perpetuierten beide Ak- teurs kollektive die Askese als Mittel der Selbsterkenntnis. Die beworbene Askese lief auf eine Ablehnung solcher Genussformen hinaus, die mit einer geistigen Passivität in Verbindung gebracht wurden. Im Gegensatz dazu fungierte die Arbeit als Mittel der Selbster kenntnis und der Charak- terfestigung. Fleißiges Arbeiten wurde von beiden Richtungen gefördert, da es einerseits das längerfristige Bestehen einer Gesellschaft zu gewähr- leisten schien, andererseits bewarben zahlreiche Autoren die produktive Tätigkeit zwischen den Zeilen auch als Therapeutikum gegen individuelle Zustände der Furcht oder des Zweifelns. In dieser »Arbeitsehrung« zeigt sich eine grobe Kontinuität bis in Gegenwart: Derrida verweist dazu auf die bemerkenswerte Eigenheit, dass in ›modernen Gesellschaften‹ stets die »Nicht-Arbeit« verurteilt werde.57 Drittens tendier ten beide Richtun gen zu einem Denken in langfristigen Zeithorizonten, indem sie eine Perspek- tive propagierten, die über die Lebensspanne eines Individuums hinaus- reichte. Während die religiösen Akteure ein himmlisches ›Jenseits‹ an- strebten, legten agnostische Sozialhygieniker wie Forel die Gewissheit als höchstes menschliches Glück aus, sein Bestmög liches für die »Veredelung« des Nachwuchses geleistet zu haben. Mit dem Fokus auf das Wohlergehen der Nachkommenschaft erfuhr das Konzept der Ewigkeit aus sozialhygie- nischer Perspektive eine Umdeutung, die aber das Bestreben nach persön- licher Genuss maximierung nach wie vor ablehnte. Diese normativen Gemeinsamkeiten erleichterten die Kooperation der verschiedenen Akteurskollektive und trugen damit zur Verfestigung eines permanent-reflexiven Persön lich keitsideals bei. Die Ähnlichkeiten ermög- lichten eine gegenseitige Annäherung, obschon in den beiden Kollektiven unterschiedliche Modi des Argumentierens vorherrschten.

56 Förster, F. W., »Freie Schweizer«, Schweizer Abstinenzblätter Beilage 29 (1907), S. 174. 57 Derrida, J., »Die Rhetorik der Droge«, S. 253. 334 Schlussbetrachtung

Unterschiedliche Modi des Argumentierens

Ein konstant großer Anteil der religiös geprägten Anti-Alkohol-Beiträge schilderte die sinnlich-leiblich durchlebten Erfahrungen »geretteter« Indi- viduen. Zwar bezogen sich auch sozialhygienische Argumente vereinzelt auf individuelle Erlebnisse, doch richteten diese ihren Fokus zumeist auf abs- trahierte Volkskollektive. Ein wesentliches Merkmal der Sozialhygieniker war ihre explizite Ablehnung »metaphysischer Dogmen« bei einer gleichzei- tig vertretenen Kopplung von Alkoholkonsum an Degenerationstheorien. Der ar tige Vermutungen zu alkoholbedingten Erbschäden waren während des 19. Jahr hunderts bereits bekannt und in Frankreich besonders verbrei- tet.58 Im medizinischen Anti-Alkohol-Diskurs der Schweiz häuften sich die sozialdarwinistischen Deutungen ab den frühen 1890er-Jahren, wobei viele Schweizer Mediziner diese Theorien mit besonderem Nachdruck vertraten. Diese abstinenten Sozial hygieniker verwen deten in ihren Argumenten im Wesentlichen die bereits von religiösen Abstinenz gruppierungen popula- risierten Motive der Sklaverei, der Täuschung oder der Flucht – allerdings folgten ihre Argumente der neuartigen Maxime einer durch die Leitdiszi- plin der Physiologie ausgerichteten Funktionalität. Diese bezog sich nicht mehr auf die Vorhersehung einer göttlichen Entität, sondern auf die Ge- setze der Natur, die auf die Dringlichkeit einer Prävention hinzuweisen schienen. Im populärwissenschaftli chen Inter diskurs wurde dabei allen voran die Vorstellung des ›Muskelschwunds‹ vermit telt. Diese brachte die Furcht zum Ausdruck, dass die verschiedenen Fertigkeiten des mensch- lichen Körpers bei Passivität stets die Rückbildung drohte. Die zahlreichen abstinenten Psychiater der sozialhygienischen Strömung bezogen diese Angst insbesondere auf die menschliche »Großhirnanlage«, deren best- mögliche Ausnützung als Nachkommen einer naturgegebenen Forderung und gleichzeitig als höchste menschliche Frei heit ausgelegt wurde. Doch obwohl die physiologischen Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit re- lativ rasch eine Vormachtstellung erlangten, war dem eugenischen Impe- tus der Sozialhygieniker kein anhaltender Erfolg beschieden: In England büßte der euge nisch konnotierte Begriff der »Sozialhygiene« bereits ab den 1920er-Jahren an Popularität ein und wurde durch den Begriff der »Sozial- medizin« abgelöst.59 In Kontinental europa fand diese Ablösung spätestens

58 Pick, D., Faces of Degeneration, S. 50. 59 Vgl. Jones, G., Social Hygiene in twentieth-century Britain, S. 7. Überblick und Ausblick 335 nach dem Zweiten Weltkrieg statt, was besonders anhand der zu diesem Zeitpunkt desavouierten »Rassenhygiene« ersichtlich ist.60 Die Sozialhygieniker und Sozialhygienikerinnen in der Schweiz ver- mieden den Begriff der Sozialmedizin während des Untersuchungszeit- raums weitgehend. Dennoch flachte mit der zunehmenden Kooperation von »Mäßigen« und »Abstinenten« nach dem Ersten Weltkrieg die Radi- kalität der Sozialhygienikerinnen und Sozialhygieniker ab, insbesondere wurden religiöse und sozialhygienische Motive weniger ausgeprägt als mit- einander unvereinbare Gegensätze dargestellt.61 Zahlreiche Sozialhygie- niker distanzierten sich dezidiert von den aufkommenden faschistischen Regimen, die zuneh mend die rassen hygienische Agenda über nahmen.62 Überdies waren Studien über den Zusammenhang von Alkohol und De- generation bereits innerhalb der sozialhygienischen Wissensgemeinschaft umstritten. So hatte der Osloer Gefängnisarzt Johann von Scharffenberg bereits 1912 kritisiert, dass die Untersuchungen von Demme, Bezzola, Lai- tinen und Bunge auf nicht repräsentativen Statistiken aufbauen würden, überholt seien und aus der Bewegung verschwinden sollten.63 Zehn Jahre später räumte Forel in der Internationalen Monatsschrift ein, dass der in seiner Blastophthorie vermutete Übergang von Trinkgewohnheit in die permanente Vererbung noch unbewiesen sei. 1929 kritisierte die deutsche Rassenhygienikerin und Frauenrechtlerin Agnes Bluhm diese Theorie als der »neuen Vererbungs lehre« nicht mehr standhaltend.64 Trotz dieser Ein- wände hielten führende Abstinente wie Max Oettli, der Hercods Nach- folge an der Schweizer Zentral stelle zur Bekämpfung des Alkoholismus antrat,

60 Vgl. Tanner, J., »Eugenik und Rassenhygiene in Wissenschaft und Politik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert«, S. 116; Stepan, N. L., »The hour of eugenics«: race, gender, and nation in Latin America (Ithaca, NY etc.: Cornell University Press, 1991), S. 4. 61 Max Oettli beklagte sich 1930 im Schweizer Abstinent, dass die Mäßigung wieder zunehmend akzeptiert würde (Schweizer Abstinent 3 (1930), S. 10). 62 Vgl. E. Graeter und H. Schmitter in »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 2 (1927), S. 119; »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 20 (1930), S. 83. Die Zwangssterilisation schwerer Alkoholiker wurde im Schweizer Abstinent 4 (1934) als »interessantes, aber sehr gewagtes und umstrittenes Experiment« beschrieben. 63 Internationale Monatsschrift 6 (1912), S. 214-216; vgl. auch die Kritik zu den Arbeiten Bärs und Bezzolas, Internationale Monatsschrift 3 (1923), S. 147. 64 Forel, A., Internationale Monatsschrift 1 (1922), S. 22-25; Bluhm, A., »Blastophthorie und Erblichkeit«, Internationale Monatsschrift 5 (1922), S. 199; sowie in Internatio- nale Monatsschrift 16 (1929), S. 335. 336 Schlussbetrachtung auch 1939 noch am Zusammenhang von Degeneration und Alkoholis mus fest.65 Die sich bereits in den späten 1920er-Jahren ankündigende Prohibiti- onskrise ließ die Abstinenten nach neuen Methoden der alkoholgegne- rischen Agitation suchen. Dadurch erhielt die schon seit dem ausgehen- den 19. Jahrhundert beworbene gärungsfreie Verwer tung von Obst einen neuen Aufmerksamkeitsschub.66 Zugleich forderten ab 1931 meh rere Bei- träge in der Internationalen Monatsschrift eine stärkere Hinwendung zur »modernen Psychologie«. In einem 1933 publizierten Artikel kündigte der schwedische Pädagoge Jalmar Furuskog (1887-1951) die »Ära der Psycholo- gie« für die Agitation gegen den Alkoholismus an. Dabei beschrieb Furus- kog zwei Phasen des vorangegangen Kampfes gegen den Alkohol genuss: Anfänglich aus religiösen Motiven bekämpft, hätten im späten 19. Jahr- hundert zusehends darwinistische Anschauungen auf die aufkommenden medizinischen Argumente abgefärbt. Nun sei die Zeit gekommen, den Al- koholgenuss hauptsächlich als Reaktion auf Minderwertigkeitsgefühle zu erklären. Der Pädagoge beschrieb allen voran gemeinnützige Vereinigun- gen als Mittel der Stunde, um allfälligen Selbstzweifel durch ein Angebot an sinnvollen Freizeitbeschäftigungen entgegenzuwirken.67 Auch Robert Hercod bemühte sich um diese »neuen Argumente«,68 deren Neuartig- keit aber bei eingehender Betrachtung zu hinterfragen ist: Im Wesent- lichen wurde damit der Fokus weg von Rassenkollektiven und hin zum sinnlich-leiblichen Erleben der Individuen gerichtet. Diesbezüglich kann dieser sozialhygienische turn hin zu der bewährten Strategie aus religiösen Alkoholgegnerkreisen als Abkehr von der zuvor bevorzugten quantitativen Abstraktion gedeutet werden. Enthalten blieb dabei aber die Betonung der Prävention. Ferner verdeutlicht Ernst Gabriels in Kapitel 2 diskutierte Un- terscheidung zwischen »echten« und »falschen« Räuschen mit seiner Ab- lehnung »äußere[r] Antrieb[e]« wie Rausch gift oder Tanz die perpetuierte Furcht vor einem unbestimmten »Äußerli chen«.69 Die Ausgelassenheit

65 Oettli, M., »Dürfen wir nicht mehr von alkoholischer Keimschädigung spre- chen?«, Schweizer Abstinent 4 (1939), S. 15 f. Oettli leitete die Zentralstelle zwischen 1921-1947. 66 IBAA, Jahresbericht 1932, S. 3 ff. 67 Furuskog, J., »Der Alkoholgenuss und die moderne Psychologie«, Internationale Monatsschrift 4 (1933), S. 205 f. 68 Hercod, R., »Neue Argumente für unsere Bewegung«, Schweizer Abstinent 1 (1934), S. 3. 69 Gabriel, E., »Zum Problem der Süchtigkeit«, Internationale Monatsschrift 4 (1933), S. 161-175 (172). Überblick und Ausblick 337 wurde damit tendenziell mit einem Unbehagen vor einem ›äußeren‹ An- deren in Verbindung gebracht, das auch in den negativen Bezugnahmen auf ›Animalität‹, ›Kindlichkeit‹ oder ›Zurückgebliebenheit‹ mitschwang. Trotz dieser inhaltlichen Kontinuität verlor die alkoholgegnerische Agi- tation an Mobili sierungs potenzial. Ab der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre wandten sich viele Sozial hygieniker verstärkt den Kampagnen gegen an- dere psychoaktive Substanzen als Alkohol zu. Die sozialhygienische Lesart des Alkohols als »Gehirngift« ließ sich leicht auf andere Rauschmittel über- tragen, wie auch Hercod feststellte, der die International Narcotic Associa- tion in Europa repräsentierte. Die religiös geprägten Anti-Alkohol-Akteure gingen unterschiedlich mit der aufkommenden sozialhygienischen Strömung um. Im Blauen Kreuz deutete sich ein ›Röstigraben‹ an: Die stark an Arnold Bovet ausgerichteten Deutschschweizer Vereine standen dem präventiven Abstinenzgedanken näher als die Vereine der Romandie.70 So klagten einige Mitglieder, dass die »geretteten Trinker […] den radikalen Grundsatz der Alkoholgegner viel besser als den theologisch und ethisch zwar sehr feinen, aber viel schwieri- ger zu begreifen den und zu begründenden Mäßigkeitsstandpunkt«71 ver- standen hätten. Die Art und Weise, wie die Guttempler ihrem »Meister Forel« und dessen »Evangelium der Geistigkeit« huldigten, ließ sich plau- sibel in den Dunstkreis einer »Ersatzreligion« rücken – obschon auch Fo- rel das Ideal einer möglichst nuancierten Geistigkeit predigte.72 Während im Blauen Kreuz befürchtet wurde, dass diese Abstinenten den »Kampf ge- gen die Sünde« auf den »Kampf gegen den Alkohol« reduzierten, bestärk- ten auch angesehene Zeitgenossen Forels diese Ansicht. 1901 kritisierte der ehemals absti nente Neurologe Paul Julius Möbius, die Enthaltsamkeit würde in weiten Kreisen der Abstinenzbewegung nicht mehr als Kampf- mittel, sondern als »das allein Wertvolle« angesehen.73 Andere religiös motivierte Alkoholgegner und -gegnerinnen fokus- sierten auf die geteilten Wertvorstellungen. In einem 1918 in der Inter- nationalen Monatsschrift veröffentlichten Beitrag begrüßte die evange- lische Theologin Rosa Gutknecht (1885-1959) die zu diesem Zeitpunkt

70 Vgl. Lutz, E., Fünfzig Jahre Blaues Kreuz, S. 131-139. Die Führungsfigur der Ro- mande, Louis-Lucien Rochat, wehrte sich 1906 gar gegen den Antrag Albert Rysers, das Blaue Kreuz offiziell zu einem Abstinenzverein zu machen. 71 Ebd., S. 136. 72 Vgl. Trechsel, R., Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz, S. 48; Leib- brand-Wettley, A., August Forel, S. 176. 73 Möbius, P. J., »Mäßigkeit und Enthaltsamkeit«, Internationale Monatsschrift 6 (1901), S. 193 f. Möbius brach 1899 mit der Abstinenz. 338 Schlussbetrachtung etablierten Standards des wissenschaftlichen Argumentierens zunächst als feste Grund lage: »Unsere modernen Abstinenzvereine haben sich doch endlich von die- sen alten Formen und Überresten, von diesen Banden und Krücken losgemacht; wir sind Berufsvereine, stehen auf rein wissenschaftlichem, psychologischem, hygieni schem, vernünftigem Standpunkt. O gewiss; es ist gut, dass wir endlich diesen sicheren unantastbaren Boden unter den Füßen haben für Wahrheiten, die die alte Zeit nur ahnend und von ferne ertastete.«74 Es wäre jedoch voreilig, aufgrund dieses Ausschnitts von einer ›Säkularisie- rung des Sakralen‹ zu sprechen. Gutknecht beschrieb diese nun gefestigten Erkenntnisse vielmehr als Rückkehr zu »uralten« Werten: »Wovon lebt die Abstinenzbewegung, wenn nicht doch von den uralten Mensch heits idealen: Ein Leben zu führen des Geistes und der Kraft, der Freiheit und der Selbstbeherrschung bis zur Selbstverleugnung, ein Leben der Gemein schaft, der Verständigung, der Liebe.«75 Damit stellt sich die Frage, ob Gutknecht damit nicht eher auch eine ›Sa- kralisierung des Säkularen‹ anstrebte, indem sie suggerierte, dass diese ›ewigen‹ Werte bloß nach neuem Modus begründet wurde. Über die Ent- stehung dieser »uralten Menschheitsideale« schwieg sie sich aus, und ließ damit die Möglichkeit einer Schöpfung durch eine göttliche Entität offen. Überdies verweist ihre emotionale Art des Schreibens, die sich auffällig vom sachlicheren Stil der Mehrheit der anderen Beiträge in dieser Zeitschrift unterschied, auf eine nicht vollständige Angleichung an den wissenschaft- lichen Diskurs. Während sich in Bezug auf die Form der Argumente eine Homogenisierung feststellen lässt, blieben in diesem Fall feinere Distink- tionsformen präsent. Von Seiten der Basler Mission fielen keine expliziten Stellungnahmen zur sozialhygienisch begründeten Abstinenzbewegung in der Schweiz auf. Allerdings zeugt eine interne Korrespondenz zwischen Missionar Bürki und Inspektor Oettli zur vom IBAA organisierten internationalen Konfe- renz 1925 in Genf von einem Erstaunen über die auf der Konferenz vor- herrschende Art des Argumentierens. Der Basler Missionar Rudolf Bürki hatte für die Konferenz Missionsberichte zu den Wirkungen des Alkohols

74 Gutknecht, R., »Treibende Kräfte unserer Bewegung in alter und neuer Zeit«, In- ternationale Monatsschrift 7 (1918), S. 121-130 (129). 75 Ebd., S. 129 (Hervorhebungen im Original gesperrt). Überblick und Ausblick 339 auf die individuel len »Missionsobjekte« zusammengestellt, was sich sei- ner zurückblickenden Ansicht nach als unzuläng lich erwiesen hatte.76 Die oftmals empathischen, von subjektiven Bewertungen gezeichneten Fall- beispiele der Prediger schienen offenbar nicht mehr in den internationa- len Rechtfertigungskontext zu passen, in dem aggregierte Daten zuse- hends eine Haupt rolle spielten.77 Während sich in der sozialhygienischen Propagan da eine Abkehr von dem abstrahierenden Sprechen in kollekti- vierenden Kennzahlen andeutete, schien sich diese Form des Argumentie- rens auf einer politischen Ebene als eine zentrale Rechtfertigungs instanz etabliert zu haben.

Ausblick

Trotz dieser Unterschiede innerhalb der religiös und der sozialhygienisch geprägten Alkoholgegnerschaft trug die alkoholgegnerische Agitation zur Verfestigung einer spezifi schen Subjektivitätskonzeption bei. Über die in- einandergreifenden Rhetoriken der Freiheit, der Natürlichkeit sowie der Wirklichkeit verbreitete sie bestimmte, dem Sprechen über den Rausch zu- geordnete Motive, Verbildlichungen und Vorstellungen. Das dabei propa- gierte Ideal der Selbstbestimmung beruht maßgeblich auf der Vorstel lung einer scharfen Trennung zwischen dem ›rationalen Geist‹ und dem ›irratio- nalen Fleisch‹, wobei Letzteres bekämpft wurde. Die damit einhergehende einseitige Bevorzugung der Rationalität schürt jedoch permanent Ängste vor einem »Kontrollverlust«, und befördert damit eine stetige Zunahme von neuen Suchterscheinungen. Eine Sensibilität gegenüber den langfris- tigen Konsequenzen einer überbordenden »Lust auf Lust«78 erscheint zwar im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext als sinnvoll, da verschiedene Formen eines »exzessiven Appetits«79 sowohl beim Genießenden und sei- nem Umfeld viel Leid auszulösen vermögen. Auf der anderen Seite droht das permanente Kalkulieren von Risiken zu einer Geringschätzung des Ge- nusses zu führen. Diesbezüglich warnt Böhme vor der Tendenz, dass das ausgegrenzte »Andere der Vernunft« als Furcht im Wesen des Menschen verinnerlicht wird, oder die Furcht die Identitätsbildung gar hauptsächlich

76 Rudolf Bürki an Oettli, 10. 12. 1925, BMA BV 1401. 77 Bürki fühlte sich zusätzlich durch die Abhängigkeit von der Kulanz der Britischen Kolonialregierung behindert, die er nicht zu brüskieren wagte, nachdem die Bas- ler Mission erst kürzlich wieder auf der Goldküste zugelassen wurde. Vgl. Rudolf Bürki an Oettli, 10. 12. 1925, BMA BV 1401. 78 Sarasin, P., Reizbare Maschinen, S. 219 f. 79 Orford, J., »Addiction as Excessive Appetite«, Addiction 96 (2001), S. 15-31. 340 Schlussbetrachtung antreibt.80 So erscheint die Verdammung einer »Rohheit« etwa in zweierlei Hinsichten problematisch: Einerseits reproduziert sie die Furcht vor dem eigenen ›Fremden‹, andererseits kann sie als Rhetorik zur Aufwertung des eigenen sozialen Status eingesetzt werden. Der Diskurs über »Rohheit« lässt sich als Debatte über die Frage nach dem Grad an sozialer Partizipation le- sen, das eine Gesellschaft von einem Individuum in einem spezifisch-his- torischen Kontext einfordert. Unter anderen kulturellen Vorgaben könnte die Vorstellung eines permanent optimierenden, reflexiv-bewussten Sub- jekts leicht als Phantasma erscheinen.81 Bis in die Gegenwart finden sich Spuren der sozialhygienisch gepräg- ten Abstinenz bewegung: Etwa in Form des International Council on Al- cohol and Addictions als Nachfolger des IBAA oder der Zeitschrift Sucht als Nachfolgerin der Internationalen Monatsschrift. Noch in der aktuellen Form wird der wissenschaftliche Anspruch der Zeitschrift hervorge hoben, jedoch nehmen andere psychoaktive Substanzen als Alkohol mehr Raum ein.82 Auch die 1913 aus dem Abstinenzsekretariat hervorgegangene Schwei- zerische Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus arbeitet heute unter dem Namen Sucht Schweiz und reflektiert diesen erweiterten Fokus auf »suchtähnliche[n] Verhaltensweisen«.83 Ausge hend von der Schwierigkeit, sinnlich-leibliche Erfahrungen sprachlich zu vermitteln, bleibt die Frage, über welche Motive, Sprach- und Weltbilder der scheinbar säkulare Dis- kurs ausgetragen wird, auch gegenwärtig noch von Bedeutung: Die Medi- kalisierung der Alkoholfrage ging mit einer Verschiebung von Machtver- hältnissen einher, im Zuge dieser die ›schulmedizinischen‹ Akteure eine Deutungshoheit erlangten. Eine einseitige Reduk tion der sozialreforme- rischen Agitation auf Machtgewinn scheint aber den Anliegen der betei- ligten Akteure nicht gerecht zu werden. Dennoch drängt sich aus Sicht der Alkohol konsumentinnen und -konsumenten die Frage auf, welche neuen Formen der Bevormundung die im Zuge der Medikalisierung zuneh- mende Entstigmatisierung sogenannter ›Alkoholkranker‹ mit sich bringt.

80 Böhme, G., Ich-Selbst, S. 13. 81 Hasso Spode beschreibt etwa die »Utopie der optimierten Effizienz und der nor- malisierten Homogenität« als »kollektiven Rauschzustand«, vgl. Spode, H., »Trink- kulturen in Europa«, S. 376. 82 Vgl. dazu Bühringer, G., Batra, A. und Watzl, H., »120 Jahre Zeitschrift Sucht: Neuer Verlag, neue Herausforderungen und neue Perspektiven«, Sucht 56, no. 1 (2010), S. 8-12; Bühringer, G. und Watzl, H., »Zur Geschichte und Neugestaltung der Zeitschrift SUCHT: Alter Wein in neuen Schläuchen?«, Sucht 49, no. 1 (2003), S. 5-8. 83 Sucht Schweiz, Jahresbericht 2012, S. 5. Überblick und Ausblick 341

Abschließend fällt die kontinuierliche Bedeutung der stets positiv be- werteten ›Container‹-Begriffe der Freiheit, der Natürlichkeit sowie der Wirklichkeit auf. Diese Ideen sind auch in aktuellen Debatten über den Umgang mit bestimmten Genussmitteln von zentraler Bedeutung für die Vermittlung von persönlichen Überzeugungen. Zahlreiche Kritiken be- rufen sich noch gegenwärtig auf die Überzeugung, dass der Mensch für bestimmte Praktiken nicht vorgesehen sei, wobei sie ihren Standpunkt vielfach durch plausible Argumente stützen. Die in dieser Vielfalt von plausiblen Begründungen möglichen gegensätzlichen Lesarten, die auch den Alkohol-Diskurs auszeichnen, empfehlen einen reflektierten Umgang mit den Rhetoriken der Freiheit, Natürlichkeit oder der Wirklichkeit, der diesem offenen Interpretationsspielraum Rechnung trägt.

Anhang

1. Quellen

1.1 Ungedruckte Quellen

Archiv Mission 21, Basel BMA E 10,15 »Berichte über die Alkoholfrage, Kamerun«, 1914 BMA D-1 (81-97) Quartals- und Jahresberichte Aburi BMA BV 0447 Elias Schrenk BMA BV 0627 Friedrich August Louis Ramseyer BMA BV 0985 Rudolf Fisch BMA BV 1079 David Berli BMA BV 1107 Baltasar Groh BMA BV 1185 Adam Mischlisch BMA BV 1299 Karl Wieber BMA BV 1325 Philipp Hecklinger BMA BV 1380 Wilhelm Erhardt BMA BV 1401 Rudolf Bürki BMA BV 1427 Otto Lädrach BMA BV 1501 Friedrich Spellenberg BMA BV 1651 Johann Friedrich Monninger BMA BV 1808 Otto Häberlin BMA SV 0032 Hanna Brugger BMA Q-3-4 Korrespondenz mit Anti-Alkohol-Verbänden BMA Q-24-3 Statistiken zu den Missionsorganen

Archiv Völkerbund, Genf »Alcoholism« [Dossier No. 54056, Document No. 58735x]. »Correspondance regarding conference convened by the IBAA« [Dossier No. 54056, Document No. 55257x]. »Correspondance with the Ligue International des Adversaires des Prohibitions« [Dossier No. 5333, Document No. 41818x]. »Correspondance with the International Wine Office« [Dossier No. 12524, Document No. 9949]. »Traffic des spiritueux« [Dossier No. 12524, Document No. 43343x]. Hercod, R., »Alcohol and the Traffic in Women.« Schreiben an Rachel Crowdy vom 24. November 1925 [Archiv LoN, Doc No. 43343], S. 1-3. Hercod, R., »Note on the Question of Alcohol in Connection with the Traffic in Women.« Schreiben an Rachel Crowdy vom 24. November 1925 [Archiv LoN Doc Nr. 43343]. 344 Anhang

1.2 Gedruckte Quellen aus den untersuchten Periodika

Arbeiterfreund-Kalender »Alkohol und Sterblichkeit«, Kalender des Arbeiterfreund (1896), S. 82 f. »Es ist nicht immer ratsam, nachzusehen«, Arbeiterfreund-Kalender (1898), S. 76. »Fünfzig Jahre Blaukreuzarbeit«, Arbeiterfreund-Kalender (1927), S. 1. »Teuer bezahlt«, Arbeiterfreund-Kalender (1932), S. 39-43.

Der Evangelische Heidenbote Büchner, H., »Aus unsern Gemeinden in Asante«, Evangelischer Heidenbote 6 (1931), S. 88 ff. Fisch, R., »Unsere Blaukreuzvereine auf der Goldküste«, Evangelischer Heidenbote (1909), S. 34. Fisch, R., »Die bedrohte schwarze Rasse«, in Evangelischer Heidenbote (1913), S. 168 f. Lädrach, O., Ein Beitrag zum Verständnis der Kulturfähigkeit der Schwarzen Rasse, Evangelischer Heidenbote 5 (1910), S. 33. Monninger, J. F., »Von der Goldküste«, Evangelischer Heidenbote 5 (1931), S. 71-74. Öhler: »Aufruf«, Evangelischer Heidenbote 6 (1895), S. 41. Öhler, »Das erste Jahrzehnt der Basler Mission in Kamerun«, Evangelischer Heidenbote 5 (1898), S. 33-37. Thumm, S., »Die Frage nach dem Heilsweg, als Preisfrage von einem Hindu gestellt und beantwortet von einem Christen und einem Heiden in Guledgudd«, Evangeli- scher Heidenbote 3 (1970): S. 27-32.

Der Schweizer Abstinent 1904-1905: Zürcher Abstinenz-Blätter 1905-1912: Schweizerische Abstinenzblätter 1913-1939: Der Schweizer Abstinent Bleuler-Waser, H., »Den Kindern zulieb«, Schweizerische Abstinenzblätter 22 (1912), S. 133. Bunge, G. v., »Die Quellen der Degeneration«, Schweizer Abstinent 11 (1910), S. 66. C. R., »Es ist Herrn Prof. Oettli zu verdanken«, Schweizerische Abstinenzblätter 9 (1911), S. 57. D. P. V., »Geistig abnorme Kinder«, Schweizer Abstinent 5 /6 (1929), S. 9. F. G., »Erkenne dich selbst« in Schweizer Abstinent 7 /8 (1920), S. 15. Fl., A., »Rassenhygiene und Ernährung«, Schweizer Abstinent B3 (1930), S. 15. Forel, A., »Einiges vom neutralen Guttemplerorden«, Schweizerische Abstinenzblätter B3 (1910), S. 17. –. »Zur Abstinenz- und Sozialpolitik«, Schweizer Abstinent 3 /4 (1918), S. 5 –. »Friede auf Erden«, Schweizer Abstinent 1 /2 (1916), S. 1. –. »Völkerbund«, Schweizer Abstinent 21 /20 (1920), S. 41. –. »Aufruf an die Abstinenten der Gegenwart und Zukunft«, Schweizer Abstinent 24 (1925), S. 103. Forel, E., »Zur Frauenfrage«, Schweizerische Abstinenzblätter 12 (1905), S. 72. Forkert, »Der Triumph des Alkoholkapitals in den Kolonien«, Schweizer Abstinent 12 (1921), S. 45 f. Förster, F. W., »Freie Schweizer«, Schweizer Abstinenzblätter Beilage 29 (1907), S. 174. Quellen 345

Gerling, R., »Willens- und Gedächtnisbildung«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1920), S. 14. Graeter, E., »Zur Frage des Frauenstimmrechts«, Schweizer Abstinent 3 /4 (1917), S. 5 f. Graeter, K., »Abstinenz und Frauenstimmrecht«, Schweizer Abstinent 5 /6 (1917), S. 9 f. –. »August Forel zum Gedächtnis«, Schweizer Abstinent 1931 (16). H. B., »Verträglichkeit«, Schweizerische Abstinenzblätter B1 (1911), S. 5. Heberlein, F., »Das Aschenbrödel der Abstinenzbewegung«, Schweizer Abstinent 3 (1933), S. 123 f. Hercod, R., »Zur Vergeudung der Nahrungsmittel«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1917), S. 13. –. »Volkspetition gegen die Nahrungsmittelvergeudung«, Schweizer Abstinent 17 /18 (1917), S. 35. –. »Neue Argumente für unsere Bewegung«, Schweizer Abstinent 1 (1934), S. 3. H. F., »Die Frau im Kampfe gegen den Alkohol«, Schweizerische Abstinenzblätter 2 (1909), S. 7. Juliusburger, O., »Weltanschauung und Abstinenz«, Schweizerische Abstinenzblätter B4 (1905), S. 23. Kraepelin, E., »Die wissenschaftliche Begründung der Enthaltsamkeit«, Schweizerische Abstinenzblätter 6, no. Beilage (1905). Loderer, O., »Vom Wesen der Trunksucht«, Schweizer Abstinent 6 (1938), S. 25. Martig, S., »Opferbereitschaft«, Schweizer Abstinent 21 (1936), S. 91. Matter, K., »Aus der Geschichte der Abstinenzbewegung«, Schweizer Abstinent 4 (1933), S. 129. Masaryth, »Ethik und Alkohol«, Schweizerische Abstinenzblätter, B10 (1905). M. F., »Zum Kapitel Wandervogel«, Schweizer Abstinenzblätter 22 (1908), S. 129. Niebergall, F., »Alkohol und Persönlichkeit«, Schweizerische Abstinenzblätter B1 (1925), S. 5. O. [Max Oettli?]: »Unsere Antwort an einen Alkohologen«, Schweizer Abstinent 5 (1934), S. 19 f. Oettli, M., »Dürfen wir nicht mehr von alkoholischer Keimschädigung sprechen?«, Schweizer Abstinent 4 (1939), S. 15 f. Ploetz, A. »Ziele und Aufgaben der Rassenhygiene«, Schweizerische Abstinenzblätter 22 (1910), S. 132. Rexer, »Unsere Weltanschauung«, Zürcher Abstinenzblätter 9 (1907). Römer, J. F., »Sozialdemokrat und Bourgeois als Antialkoholisten«, Schweizerische Abstinenzblätter B2 (1905), S. 11. R. S.-B., »Vom Jassen«, Schweizerische Abstinentenblätter 3 (1910), S. 14. Sch.[A. Schönenberger?], »Internationale Logen«, Schweizer Abstinent 37 /38 (1916), S. 81. Sch., A., »Zum Jahreswechsel«, Schweizer Abstinent 51 /52 (1916), S. 109. Sch., A., »Kämpfer«, Schweizer Abstinent 7 /8 (1918), S. 13. Speiser, F., »Wie Naturvölker zu Grunde gehen«, Schweizer Abstinent 4 (1925), S. 15 f. Züblin-Spiller, E., »Arbeiterstuben – Gemeindestuben«, Schweizer Abstinent 21 /22 (1919), S. 42.

Ohne Autorenangabe »Der 3. Deutsche Abstinenten-Tag Dresden«, Schweizerische Abstinenzblätter 7 (1905), S. 39. »Manifest der Schweizer Großloge I. O. G. T.«, Schweizerische Abstinenzblätter 17 (1906), S. 101 f. 346 Anhang

»Der Wandervogel«, Schweizerische Abstinenzblätter 8 (1905), S. 43. »Über das Sexualleben«, Schweizerische Abstinenzblätter 9 (1908), S. 51. »Die Wirte gegen Pfr. Bosshard«, Schweizerische Abstinenzblätter 5 (1909), S. 25 f. »Wohnverhältnisse«, Schweizerische Abstinenzblätter 8 (1910), S. 45 »Die Brauer sind schuld«, Schweizerische Abstinenzblätter 2 (1911), S. 9. »† J. Bosshardt«, Schweizerische Abstinenzblätter 6 (1911), S. 32. »Die Churertage«, Schweizerische Abstinenzblätter 13 (1912), S. 75. »Das Schnapsverbot«, Schweizer Abstinent 15 /16 (1917), S. 30. »Dr. Forel ist 70 Jahre alt«, Schweizer Abstinent 33 /34 (1918), S. 65 f. »Völkerbund«, Schweizer Abstinent 21 /22 (1920), S. 41. »Die internationale Studienkonferenz in Paris«, Schweizer Abstinent 17 /18 (1919), S. 35. »Gedichtmäßig«, Schweizer Abstinent 19 /20 (1920), S. 6. »Abstinenten-Lebensversicherungen«, Schweizer Abstinent 21 /22 (1920), S. 45. »Der isländisch-spanische Weinkrieg«, Schweizer Abstinent 7 (1922), S. 25. »Prof. Gustav von Bunge«, Schweizer Abstinent 51 /52 (1920), S. 101. »Ein schwarzer Alkoholgegner«, Schweizer Abstinent 7 (1923), S. 28. »Der Guttemplerorden«, Schweizer Abstinent B8 (1924), S. 31. »Wie Naturvölker zu Grunde gehen«, Schweizer Abstinent 4 (1925), S. 15 f. »Internationale Konferenz in Genf«, Schweizer Abstinent 19 (1925), S. 2. »Der Vater der schwedischen Enthaltsamkeits-Bewegung«, Schweizer Abstinent 21 (1925), S. 89. »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 2 (1927), S. 119. »Nachrichten aus Trockenland«, Schweizer Abstinent 5 (1927), S. 134. »Am Gängelband des Alkoholkapitals«, Schweizer Abstinent 11 (1927), S. 160. »Unserm Bruder Forel zum 80. Geburtstag«, Schweizer Abstinent 18 (1928), S. 79. »Auch ein Standpunkt«, Schweizer Abstinent 23 (1928), S. 218. »Unter der Blauen Fahne«, Schweizer Abstinent 25 (1928), S. 109. »Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 4 (1929), S. 15. »Der tschechische Ford«, Schweizer Abstinent 21 (1929), S. 87. »Henry Ford und das Alkoholproblem«, Schweizer Abstinent 24 (1929), S. 101. »Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 22 (1929), S. 91. »Schutz für die Fußgänger«, Schweizer Abstinent 25 (1929), S. 105. »Die Wein-Internationale«, Schweizer Abstinent 9 (1930), S. 35. »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 13 (1930), S. 53. »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 20 (1930), S. 83. »Versammlung des int. Vereins abstinenter Lehrer während der Weltlogensitzung in Stockholm«, Schweizer Abstinent 17 (1930), S. 83. »10 Jahre ohne Bunge«, Schweizer Abstinent 23 (1930), S. 99. »Die Weinhändler suchen ärztliche Autoritäten«, Schweizer Abstinent 4 (1931), S. 15. »Die Frauenpetition gegen das finnische Verbot«, Schweizer Abstinent 14 (1931), S. 59. »Der neue Schweizer Hauskalender«, Schweizer Abstinent 18 (1932), S. 77. »Weltlogentagung in Haag«, Schweizer Abstinent 17 (1933), S. 185. »Der Autor des ›Harringa‹ gestorben«, Schweizer Abstinent 4 (1934), S. 13 f. »Der Lausanner Kongress der weinfreundlichen Ärzte«, Schweizer Abstinent 19 (1935), S. 80. »Unser Jubilar Dr. Hercod«, Schweizer Abstinent 2 (1936), S. 6. »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 5 (1937), S. 19. »Unser Weltspiegel«, Schweizer Abstinent 17 (1937), S. 71. »Mahnwort von Gustav von Bunge«, Schweizer Abstinent 6 (1938), S. 24. Quellen 347

Illustrierter Arbeiterfreund Beyer, »Warum die Wenda-Leute ihre Biertöpfe zerschlugen«, Illustrierter Arbeiter- freund 11 (1921), S. 41 ff. Hinckeldey, A., »Frauenrecht«, Illustrierter Arbeiterfreund 4 (1907), S. 16.

Ohne Autorenangabe »Kinderzucht«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1894), S. 31. »Der Branntwein in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1886), S. 10. »Geselliges Trinken«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1886), S. 30 ff. »Erblichkeit der Trunksucht auf die Kinder«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1886), S. 35. »Verbreitung des Grundsatzes völliger Enthaltsamkeit«, Illustrierter Arbeiterfreund 1 (1887), S. 3 f. »Am Samstag Abend«, Illustrierter Arbeiterfreund 11 (1887), S. 41 f. »Schnapshandel in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1888), S. 24. »Gegen die Neigung«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1888), S. 35. »Sklavenhandel«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1888), S. 36. »Eine Radikalkur«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1898), S. 21 f. »Ein Rath an die Frauen«, Illustrierter Arbeiterfreund 1 (1890), S. 2. »3. Internationaler Kongress Christiana«, Illustrierter Arbeiterfreund 10 (1890), S. 40. »Voltaire’s Tod«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1891), S. 22. »Folgen der Neugierde«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1894), S. 19. »Kinder! Der Branntwein ist ein böses Getränk«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1895), S. 32. »Internationale Konferenz des Blauen Kreuzes«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1895) S. 36. »König Khama«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1900), S. 17 f. »Der erste Branntweinbrenner«, Illustrierter Arbeiterfreund 11 (1900), S. 41 f. »Gerade wie in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1901), S. 23. »Bovet«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1903), S. 21-24. »Sie kann nicht kochen«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1903), S. 29 f. »Der Blaukreuzverein in Aburi«, Illustrierter Arbeiterfreund 7 (1907), S. 26-28. »Europäerwein«, Illustrierter Arbeiterfreund 9 (1908), S. 36. »Der Blaukreuzverein Kumase auf der Goldküste in Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1909), S. 11. »Die Reinigung durch Blut in Westafrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1913), S. 9. »Der Sieg der Norwegerinnen über den Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1921), S. 12. »Eine Bitte des Bundes deutscher evangelischer Missionare«, Illustrierter Arbeiterfreund 2 (1924), S. 8. »Khama, ein schwarzer Fürst von Afrika«, Illustrierter Arbeiterfreund 2 (1924), S. 5-7. »Eine ›unpassende‹ Rede am Timbuktufest«, Illustrierter Arbeiterfreund 6 (1925), S. 23. »Neger und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 12 (1925), S. 48. »Etwas über die Brauerei-Industrie«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1926), S. 20. »Das Blaue Kreuz in Neu-Kaledonien«, Illustrierter Arbeiterfreund 10 (1927), S. 39. »Die traurigen Folgen der Trunkenheit (Traktat aus dem Jahre 1835)«, Illustrierter Ar- beiterfreund 12 (1928), S. 48. »Negerfürst und Alkohol«, Illustrierter Arbeiterfreund 5 (1929), S. 19. »Ein wertvolles Geheimnis für – Frauen« Illustrierter Arbeiterfreund 3 (1930), S. 12. »Afrika und der Schnaps«, Illustrierter Arbeiterfreund 7 (1931), S. 28. »Wie Josef Livesey abstinent wurde«, Illustrierter Arbeiterfreund 8 (1932), S. 30-32. 348 Anhang

Internationale Monatsschrift 1891-1901: Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 1902-1919: Internationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus und Bekämpfung der Trinksitten 1922-1933: Internationale Zeitschrift gegen den Alkoholismus 1935-1939: Forschungen zur Alkoholfrage Aschaffenburg, G., »Der derzeitige Standpunkt unserer Kenntnisse von den Wirkun- gen des Alkohols auf geistige und körperliche Arbeit«, Internationale Monatsschrift 1 (1898), S. 1-4. Bl., »Afrika«, Internationale Monatsschrift 2 (1896), S. 120 f. Bleuer, E., »Autoritätenkalamität in der Alkoholfrage«, Internationale Monatsschrift 10 (1905), S. 296-300. –. »Alkohol und Neurosen«, Internationale Monatsschrift 5 (1912), S. 176-183. –. »Notizen«, Internationale Monatsschrift 2 (1908), S. 54. Blocher, E., »Taschenbuch für Alkoholgegner«, Internationale Monatsschrift 1 (1905), S. 26 f. –. »Der Kampf gegen den Alkohol in der Schweiz«, Internationale Monatsschrift 2 (1905), S. 33-49. –. »Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum von Bunges Alkoholfrage«, Internatio nale Monatsschrift 11 (1911), S. 401-403. Blocher, H., »Ein Wort der Erwiderung an Herrn Kautsky«, Internationale Monats- schrift 2 (1892), S. 46-55. –. »Die Bekämpfung des Alkoholismus durch die Errichtung von Lesesälen«, Internatio nale Monatsschrift 10 (1895), S. 302-304. –. »Die neuste Ehrenrettung des ›mäßigen‹ Alkoholgenusses«, Internationale Monats- schrift 6 (1896), S. 161 f. –. »Die Enthaltsamkeitsbewegung in der britisch-indischen Armee«, Internationale Monatsschrift 1 (1898), S. 129-136. –. »Der Einfluss des Alkohols durch die Vererbung«, Internationale Monatsschrift 3 (1900), S. 122-128. –. »Alkoholismus und Degeneration«, Internationale Monatsschrift 1 (1904), S. 33-37. –. »Die Sterblichkeit in den Alkoholgewerben nach den Erfahrungen der Gothaer Lebensversicherungsbank von 1852-1902«, Internationale Monatsschrift 7 (1905), S. 193-200. –. »Das siegreiche Vordringen der Abstinenz«, Internationale Monatsschrift 5 (1907), S. 143-146. –. »Geh. Medizinalrat Dr. Baer«, Internationale Monatsschrift 4 (1908), S. 120. Bluhm, A., »Diskussionsbemerkungen zu vorstehenden Referaten«, Internationale Mo- natsschrift 6 (1929), S. 343-349. Bornstein, K., »Der Arzt als aktiver Politiker der Volkswohlfahrt«, Internationale Mo- natsschrift 5 /6 (1919), S. 87-93. Bunge, G. v., »Was sollen wir trinken?«, Internationale Monatsschrift 9 (1893), S. 257-263. –. »Der wachsende Zuckerkonsum und seine Gefahren«, Internationale Monatsschrift 1 (1901), S. 1 ff. –. »Nochmals die Zuckerfrage«, Internationale Monatsschrift 3 (1901), S. 67-70. –. »Verfaulen bei lebendigem Leibe«, Internationale Monatsschrift 7 (1904), S. 213-215. Clemenz, »Arzt und Nichtarzt in ihrem gegenseitigen Verhältnis bei der Behandlung Alkoholkranker«, Internationale Monatsschrift 12 (1903), S. 369-374. Quellen 349

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Zeitschriften Internationale Monatsschrift 1891-1901: Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 1902-1919: Internationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus und Bekämpfung der Trinksitten 1922-1933: Internationale Zeitschrift gegen den Alkoholismus 1935-1939: Forschungen zur Alkoholfrage 386 Anhang

Schweizer Abstinent 1904-1905: Zürcher Abstinenz-Blätter 1905-1912: Schweizerische Abstinenzblätter 1913-1939: Der Schweizer Abstinent

Archive Archiv ICAA Bibliothek des International Council on Alcohol and Addictions (ICAA Library) – Deutsches Archiv für Temperenz- und Absti- nenzliteratur (DATA), Hochschule Magdeburg-Stendal Archiv LoN Archiv des Völkerbundes, Genf Archiv Sucht Schweiz Archiv Sucht-Schweiz, Lausanne Archiv WWZ Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, Basel BMA Basel Mission Archives / Archiv der Mission 21, Basel

4. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die Gärung als Zerstörer von »Volksnahrung«. Illustration aus »Was bedeuten diese Bilder«, Schweizer Abstinent 16 (1927), S. 179 213 Abbildung 2: »Affentum«, Arbeiterfreund-Kalender 1905, S. 51 239 Abbildung 3: »Es ist nicht immer ratsam, nachzusehen«, Arbeiterfreund-Kalender 1898, S. 76 241 Abbildung 4: Illustration aus »Teuer bezahlt«, Arbeiterfreund-Kalender 1932, S. 43 244 Abbildung 5: »Einige jährliche Ausgaben des Schweizervolkes« (Skizze einer Postkarte der Jungmannschaftsloge »Vortrupp« Luzern), Schweizer Abstinent 47 /48 (1918), S. 95 257 Abbildung 6: Illustration aus »Herr Grell sozial degradiert«: Illustrierter Arbeiterfreund 1888, Nr. 11, S. 41 262 Abbildung 7: »Der soziale Aufstieg des Herrn K.«, Ausschnitt aus: »Die Entwicklung der Arbeitmethode der Trinkerfürsorgestelle Brigittenau«, Internationale Monatsschrift 2 (1927), S. 77 263 Abbildung 8: Schaubild aus dem Internationalen Jahrbuch des Alkoholgegners 1923 /24, S. 161 270 Danksagung

Ohne die vielen Menschen, die mich auf dem Weg beraten, unterstützt und inspiriert haben, wäre das vorliegende Forschungsvorhaben nicht zu dem geworden, was es jetzt ist. Ganz besonderer Dank gebührt an dieser Stelle denjenigen, die direkt im Forschungsprojekt involviert waren. Allen voran würde ich ohne Harald Fischer-Tinés Zuspruch und Ratschläge noch tiefer im Labyrinth des akademischen Elfenbeinturms umherirren. Dank- bar bin ich auch Maren Möhring für die spontanen, ausführlichen und konstruktiven Rückmeldungen, sowie Jakob Tanner für die anregenden und richtungsweisenden Gespräche. Besonders danken möchte ich Bern- hard Lange und Judith Große für ihre klugen und genauen Bemerkungen sowie ihre bewundernswerte Ausdauer. Weiteren Anteil daran hatten auch die wertvollen Korrekturen von Vanessa Meier, Anna Mohr, Livia und Mathias Spöring sowie die zahlreichen Diskussionen mit Jana Tschurenev, Nikolai Kamenov, Miguel Kempf, Sönke Bauck, Vasudha Bharadwaj, Luzia Savary, Robert Kramm-Masaoka, Sara Elmer, Béatrice Schatzmann- von Aesch, Patricia Purtschert und Antony Barrier. Für alle diese Beiträge bin ich sehr dankbar. Überdies haben zahlreiche Institutionen das Forschungsprojekt in die- ser Dimension erst ermöglicht. Der Schweizerische Nationalfonds zur För- derung der wissenschaftlichen Forschung hat das Forschungsprojekt sowie die Publikation finanziell unterstützt; weitere Beiträge stammen von der Dr. Joseph Schmid-Stiftung, Luzern. Darüber hinaus waren das Sozialar- chiv Zürich, das Archiv von Sucht Info Schweiz, das Archiv der Mission 21, das Archiv des Völkerbunds in Genf, die ICAA Library – DATA der Hochschule Magdeburg-Stendal, sowie die Universitätsbibliothek Basel, die Zentralbibliothek Zürich und die Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern ebenso unverzichtbar wie die British Library in London. In diesen Institutionen waren insbesondere die unterstützenden und zuvorkommen- den Beratungen durch Guy Thomas, Barbara Frey, Sabine Schaller und Annick Lebrau sehr hilfreich. Last but not least möchte ich mich beim ge- samten Team des Centre for History in Public Health der London School of Hygiene and Tropical Medicine für die zahlreichen Inputs bedanken so- wie bei der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften für die zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Stiftung »Dr. phil. Josef Schmid, Staatsarchiv von Luzern, und Frau Amalie Schmid-Zehnder«

Die vorliegende Arbeit wurde vom Departement Geistes- und Sozialwissenschaf- ten der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich im Frühling 2014 auf An- trag von Prof. Dr. Harald Fischer-Tiné, Prof. Dr. Jakob Tanner und Prof. Dr. Maren Möhring als Dissertation angenommen.

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© Wallstein Verlag, Göttingen 2017 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und der Frutiger Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, unter Verwendung einer Illustration aus der alkoholgegnerischen Zeitschrift Arbeiterfreund-Kalender 1932, S. 43 ISBN (Print) 978-3-8353-3050-4 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4183-8