Pastorale Aufrichtigkeit

Ein Blick in Harsdörffers und Klajs Pegnesisches Schäfergedicht*

Aufrichtigkeit steht in der pastoralen Welt im Kontext einer Trias zusammen mit Bescheidenheit und Redlichkeit. Umfangen wird sie – weniger in der pastoralen Poesie als der pastoralen Poetik – durch einen auf andere Weise ausgezeichneten Begriff, den der Niedrigkeit. Humilitas lautet das Fach- und Kernwort, über das auch simplicitas, modestia und sinceritas im Gefolge der lateinischen Tradition an- schlußfähig werden. Dieser theoretische Horizont muß daher zunächst ganz knapp erinnert werden, bevor wir uns nach gutem philologischen Brauch einem einzigen Text zuwenden, um die Trias nun mit der Aufrichtigkeit in der Mitten als geheimes Kraftzentrum pastoraler Poesie des 17. Jahrhunderts zu entfalten.

Pastorale ›humilitas‹

Zunächst zum theoretischen Horizont, ohne den die Praxis unverständlich bliebe. Humilitas mit einem Hof weiterer Begriffe um sich regiert die Gattung seit ihren ersten reflexiven Verlautbarungen, wie sie in den Eklogen Vergils selbst und sodann in den Vergil-Viten und Kommentaren des Donatus und Servius vorliegen.1 Über

* Dem kleinen Beitrag liegt ein größeres Manuskript zugrunde, das deutschsprachig noch unpubli- ziert ist, jedoch einging in: Nuremberg, Arcadia on the Pegnitz. The Self-Stylization of an Urban Sodality. – In: Imperiled Heritage. Tradition, History, and Utopia in Early Modern German Lite- rature. Selected Essays by Klaus Garber. Ed. and with an Introduction by Max Reinhart. – Al- dershot u.a.: Ashgate 2000 (= Studies in European Cultural Transition; 5), pp. 117–208. Die die Abhandlung beschließenden 13 Thesen in deutscher Fassung unter dem Titel: Pastorales Dichten des Pegnesischen Blumenordens in der Sozietätsbewegung des 17. Jahrhunderts. Ein Konspekt in 13 Thesen. – In: ›der Franken Rom‹. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- derts. Hrsg. von John Roger Paas. – Wiesbaden: Harrassowitz 1995, S. 146–154 (in diesem Band S. 429–437). Die englischsprachige Fassung ist (wie die unpublizierte deutschsprachige) reichlich mit weiterführenden Literaturangaben ausgestattet, so daß sich Wiederholungen – von Ausnah- men abgesehen – erübrigen. 1 Die Zeugnisse des Donatus und Servius zusammen mit anderen zweisprachig am leichtesten greifbar in: Vergil: Landleben. Bucolica, Georgica, Catalepton. Hrsg. von Johannes und Maria Götte. Vergil- Viten. Hrsg. von Karl Bayer. Lateinisch und deutsch. 4., verbesserte Neuaufl. – München: Artemis 1981. Dazu die beiden maßgeblichen älteren Editionen: Scholia Bernensia ad Vergili Bucolica atque Georgica. Edidit emendavit praefatus est Hermannus Hagen. – : Teubner 1861–1867 (= Jahr- bücher für classische Philologie. 4. Supplementheft; 5). Reprint: Hildesheim: Olms 1967; Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii recensuerunt Georgius Thilo et Herman- nus Hagen. Vol. I: Aeneidos librorum I–V commentarii (1881). Vol. II: Aeneidos librorum VI–XII commentarii (1884). Vol. III/1: In Vergilii Bucolica et Georgica commentarii (1887). Vol. III/2: Ap- pendix Serviana (1902). – Leipzig: Teubner 1881–1902. Reprint: Hildesheim, Zürich, New York:

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sie formt sich das Bild der Gattung, das sich in beispiellosen Modulierungen bis in das späte 18. Jahrhundert hinein unentwegt erneuert und ausdifferenziert. Eine Geschichte der europäischen Literatur und der jeweiligen zeitgenössischen Äuße- rungen über sie ließe sich sehr wohl in perspektivischer pastoraler Verkürzung ent- werfen. Denn es ist das Wesen dieser Gattung, daß sie sich in Beziehung zu den anderen, und das heißt: den ganz andersgearteten, selbst setzt und entsprechend von den Theoretikern ihrerseits gerückt wird. Nur im Kosmos der europäischen Literatur, um nicht zu sagen: des alteuropäischen Literatursystems, ist ihre Einzig- artigkeit und Unvertretbarkeit zu fassen. Sicelides musae, paulo maiora canamus! non omnis arbusta iuvant humilisque myricae: si canimus silvas, silvae sint consule dignae. Musen Siziliens, auf! Laßt höhere Weisen ertönen! Reben und Myrtengehölz, das bescheidene, fruchtet nicht jedem; Singen wir Wälder, so sei’n des Konsuls würdig die Wälder.2 So der Eingang zu dem berühmtesten Stück, das in der gut zweitausendjährigen Geschichte der Gattung zustande gekommen ist, Vergils vierter Ekloge, von der Ernst Robert Curtius sagen konnte, daß sie der meistgelesene Text der europäi- schen Literatur nach der Bibel sei – zumindest, so fügen wir hinzu, bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts, solange das humanistische Gymnasium intakt war. ›Paulo maiora canamus!‹ – ›ein wenig Größeres wollen wir singen!‹ Ein erhabe- nerer Vorwurf indes hätte nicht gewählt werden können, nicht nur in den silvae, den Eklogen, sondern in der Literatur überhaupt. Geweissagt wird nicht weniger als die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters und mit ihr die Geburt eines Kindes, mit dem im Kontext der Eklogen nur Oktavian gemeint sein kann. Der Dichter der Hirtenlieder ist ein vates, der seinem Volk unter Zuhilfenahme antiker aetas- aurea- und sibyllinischer Weissagungsformeln in verschlüsselten Bildern seine gro- ße Zukunft prophezeit, also das kardinale epische Thema der Aeneis bukolisch prä- ludiert.3

Olms 1961–1986. Dazu – mit Rückgriff auf die antiken Kommentatoren – die klassische Abhand- lung von : Über die Stellung der Bukolik in der ästhetischen Theorie des Humanis- mus. – In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 174 (1938), S. 180–198, wiederabgedruckt in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur[-] und Sprachwissenschaft. – Frank- furt a.M.: Klostermann 1949, S. 68–93, sowie in: Europäische Bukolik und Georgik. Hrsg. von Klaus Garber. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976 (= Wege der Forschung; 355), S. 140–164, sowie in Werner Krauss: Das wissenschaftliche Werk. Hrsg. von Werner Bahner, Man- fred Naumann, Heinrich Scheel. Bd. II: Cervantes und seine Zeit. Hrsg. von Werner Bahner. – Ber- lin: Akademie-Verlag 1990, S. 235–254, mit der editorischen Anmerkung des Herausgebers S. 483f. 2 Text und Übersetzung des Eingangs der vierten Ekloge Vergils in: Vergil: Bucolica. Hirtengedich- te. Lateinisch & in deutscher Übersetzung von Rudolf Alexander Schröder mit Holzschnitten von Aristide Maillol. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1957, S. 38f. 3 Aus der unermeßlichen Vergil-Literatur seien hier mit Blick auf die obigen Andeutungen drei ge- zielte Hinweise auf die ältere deutschsprachige Literatur gestattet: Friedrich Klingner: Römische Geisteswelt. 4., vermehrte Aufl. – Hamburg, München: Ellermann 1961. Hier S. 239ff. die vier

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