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München ist berühmt für seine Pinakotheken, für seine Theater und Museen. Mit ihrem spektakulären Angebot und der internationalen Aufmerksamkeit, die sie auf sich ziehen, schaffen die Traditionshäuser ein günstiges Klima für eine lebhafte Kulturszene, die abseits der großen Plätze blüht. Ein Rundgang

Die Stadt der Sinne

Von Matthias Kuhn

München ist eine Insel: im Norden Deutschland, Touristen schätzen das einzigartige Deutsche versucht, aus der traditionsreichen und ehr- im Süden die Alpen und das Mittelmeer. Mün- und die Staatlichen Antikensammlun- würdigen Lach- und Schießgesellschaft einen chen ist die meist geliebte und gleichzeitig am gen. Wem jetzt noch nicht schwindelig ist, der modernen Theaterbetrieb mit wieder eigenem, argwöhnischsten beäugte Stadt der Repu- sollte wissen, dass München die zweitgrößte jungem Ensemble und entsprechend jungem blik. Lokalpatriotismus steht in Zeitungen und Verlagsstadt der Welt ist, mit immer noch un- Publikum zu machen; Ralf Komorr überlegt, Magazinen auf der Tagesordnung: „Unser abhängigen Buchverlagen wie Hanser oder Pi- wie er an einer der zwei großen Boulevard- schönes München“; „Neuer Besucherrekord“; per, herausragenden Kunstbuchverlagen wie bühnen der Stadt den Generationenwechsel „Hierin und darin ist München die Nummer Schirmer und Mosel, Prestel, Hirmer, und allein vollzogen bekommt. Abend für Abend buhlen eins“... Zwar ist München die Landeshauptstadt vier Tageszeitungen. München ist eine Insel. Klein- und Kleinstbühnen wie Jörg Maurers von Bayern, aber München ist nicht Bayern. Den Menschen geht es gut. Kultur liegt hier in Unterton und René Siegel-Sorells Krimitheater der guten Luft. Blutenburg oder das Theater im Fraunhofer Münchens Kulturschaffende sind schüchtern. In um die Publikumsgunst; die Slam-Poetry- der Staatsoper und Philharmonie blickt man Das wirkliche München liegt irgendwo zwi- Szene zählt zur vitalsten Europas; eine ehema- nach Berlin, und damit die dort auch gucken, schen alledem. Die Stadt ächzt förmlich unter lige Fachbuchhandlung wird zum Kulturkiosk inszeniert man schöner, größer, bunter und ihren Gästen, die sich an der Klischee-Metro- und setzt politische Akzente ... Auf den fol- lässt sich bei der Wahl eines Kapellmeisters – pole, der „Weltstadt mit Herz“, gütlich tun genden Seiten lässt sich mehr erfahren über auf James Levine folgt Christian Thielemann – wollen: Hofbräuhaus, Oktoberfest, Starkbier- Münchner Kultur jenseits von Philharmonie nicht lumpen. Auch die Münchner Kunstfreun- anstich, Nationaltheater, Pinakothek der Mo- und Residenztheater. Sie berichten von einem de blicken nach Berlin – und nach Köln: Der derne ... Das Wirtschaftswunderbild aus der sehr umtriebigen Belgier, Chris Dercon, der viel neue Präsident der Akademie der Künste Zeit nach der Olympiade, als die Mieten ex- für diese Stadt bewegt, sie erzählen von so kommt aus Starnberg. Das liegt bei München plodierten und viel, viel Geld in die Stadt floss, manchem Idealisten und vielen spannenden und in Bayern. In München steht auch ein mo- hält sich hartnäckig. München, die Stadt von Menschen, die mit dem tradierten München dernes und schönes Literaturhaus. Die Stadt lei- IT (Informationstechnologie) und PR (Werbe- so viel zu tun haben wie Weißwürscht mit stet sich zudem zwei staatliche, zwei städtische agenturen an jeder Ecke). Ausg’zogenen. Das München kennt man da- sowie ein Kinder- und Jugendtheater; die sons- nach zwar immer noch nicht, aber wer kennt tige Bühnendichte ist sprichwörtlich – viele Aber München 2004, das ist auch eine junge sich schon aus mit dieser Stadt, die so schön nennt man liebevoll „Brettl“ –, es ist die höch- Stadt, die sich Ecken und Kanten bewahrt hat, und selbstbewusst ist und auftritt und gleich- ste im deutschsprachigen Raum. München ver- die über eine lebendige Kunstszene verfügt, zeitig stets sich scheut, internationalen Ver- fügt über eine stattliche Galeriendichte und das die internationale Impulse in die Stadt holt und gleichen standzuhalten. Münchens Kultur- Haus der Kunst, über ein kunstgewerblich aus- ausstrahlt: „Utopia Station“ im Haus der schaffende sind grundlos schüchtern. << gerichtetes Nationalmuseum und das Lenbach- Kunst, „Spacemakers“ in der lothringer drei- haus, über den weltweit größten Museumsneu- zehn; die sehr vitale Galerienszene im Pinako- bau der letzten Jahrzehnte sowie zwei weitere theken-Areal und nicht nur dort. Das junge En- Matthias Kuhn, Jahrgang Pinakotheken. Es gibt die Kunsthalle der Hypo- semble am Volkstheater um seinen Intendan- 1964, ist Chefredakteur und Kulturstiftung und, nicht zu vergessen, ein „Va- ten Christian Stückl findet bundesweite Beach- Kulturressortleiter des Stadt- lentin Musäum“; die Stadt finanziert die Villa tung; Philip Taylor formte die Companie des magazins „go München“. Stuck und das , der Freistaat Bay- Gärtnerplatztheaters zum international aner- ern das monumentale Völkerkundemuseum. kannten Balletttheater München; Till Hofmann 25.Plan14(14.12)13.52.43.ps 14.12.2004 13:53 Uhr Seite 25

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Vielfältige Positionen (von links oben nach rechts Boom im Pinakotheken-Areal unten): Loredana Sperini, Sabrina, 2004, vierteilig Die lebendige Galerienszene im Schatten der großen Kunstmuseen Handstickerei auf Baumwolltuch (bei Dina4 Projek- te); Thomas Steffl, ohne Titel (Ali), 2004; Michael Sailstorfer: Und sie bewegt sich doch ... (beide bei Zink & Gegner), Tatjana Marusic: es geht ja ganz Galeristen sind Kunsthändler, das stimmt. Und Mit dem Neubau der ganz langsam also hat man Zeit, sich daran zu doch sind sie gemeinsam mit Kunstvereinen, von Stephan Braunfels siedelten sich zahlrei- gewöhnen, 2004, still II (bei Dina4 Projekte); Jens Wolf (bei k4 Galerie). Initiativen oder Museen ein wichtiger Impuls- che junge Galerien rund um das Pinakotheken- geber für die Szene jeder größeren Stadt. Areal an; einige zogen hierher um, andere Früher schielte man von München aus immer starteten neu. Einen vergleichbaren Boom hat So unterschiedlich die Charaktere dieser Kunst- nach Köln (und später dann nach Berlin), in- München schon einmal erlebt, Anfang der händler sind, so vielfältig ist die Kunst, die sie zwischen wird aber auch dort wahrgenom- 1990er-Jahre, als die Galerienszene rund um ausstellen. Was jedoch alle hier eint, ist eine Be- men, dass viele der hier ansässigen Galeristen den Gärtnerplatz für gemeinsame Aktionen rufsauffassung, die weit von traditionell verstan- und Galeristinnen sich nicht nur international und Ausstellungen näher zusammenrückte. denem Kunsthandel entfernt ist. Sie sind eine ausrichten, Messen besuchen, Geschäftskon- Man setzt auf Miteinander statt Gegeneinan- Hand voll Überzeugungstäter, denen es erst um takte knüpfen, sondern mit ihrer Arbeit Ein- der – der Kunstmarkt ist ein sensibler Markt, die Kunst und dann ums Geschäft geht. Nicht fluss nehmen auf die bestehenden Institutio- von einer lebendigen Szene und Aufmerksam- nur, weil sie wissen, dass Authentizität Grund- nen und deren Ausstellungsarbeit, dass sie ge- keit von außerhalb profitieren alle. lage auch kommerziellen Erfolges ist. << zielt Münchner Künstler fördern und anderswo bekannt machen, aber auch Talente hierher Anders als zu Beginn der 1990er-Jahre scheint holen und dem Münchner Publikum neue heute die Vernetzung zwischen den Galeristen Zu einer ersten Orientierung in der Münchner Strömungen vorstellen. Längst ist bei den Ga- und Kuratoren, zwischen Künstlern und Galerienszene empfehlen wir die Homepages: leriebesuchern die Schwellenangst vor Ver- Freischaffenden viel enger. Man kennt und trifft pflichtung zum Kauf der Neugierde gewi- einander (nicht nur) bei den zahlreichen, über www.openart.de chen, wozu die jährlich nach der Sommerpau- die ganze Stadt verteilten Vernissagen, seien www.galeriekarinsachs.de se stattfindende Leistungsschau Open Art, an sie nun in dem international einzigartigen Privat- www.galeriekarlpfefferle.de der sich fast alle zu einem Verbund zusam- museum – ein Herzog & de Meuron-Bau – www. galeriewittenbrink.de mengeschlossenen Galerien beteiligen, we- Sammlung Goetz, in dem von der Stadt geför- www.zink-gegner.de sentlich beigetragen hat: Drei Tage lang an ei- derten Ausstellungsraum lothringer dreizehn, in www.dina4projekte.de nem Wochenende im September stehen einer der Galerien oder im Haus der Kunst: www.grimmrosenfeld.com Kunstinteressierten dann bis in den späten Künstler treffen auf Galeristen und Journalisten, www.benkaufmann.de Abend die Türen offen; nicht wenige Besucher Galeristen auf Kuratoren und Kulturpolitiker, www.artnet.com/klueser.html kommen zu anderen Eröffnungen wieder. man spricht miteinander und mit dem Publikum. www.f5komma6.de 26.Plan14(14.12)13.53.05.ps 14.12.2004 13:53 Uhr Seite 26

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Plakate zu „Utopia Station“ im Haus der Kunst: M/M, Utopia of flows, 2004 (links); Leon Golub, No to Utopia! / Utopia Yes!, 2003/2004.

Magnus Enzensberger oder des Verlegers Mi- chael Krüger, einer Sammlerin wie Ingvild Goetz oder eines Galeristen wie Rüdiger Schöttle.

Und das Haus, dieser monströse Kasten am süd- lichen Ende des Englischen Gartens? Chris Der- con hält das Gebäude für interessant: als ge- schichtlichen Ort und mit den Möglichkeiten sei- ner Nutzbarkeit. Zu einem Ort der Begegnung will er es machen, wo die Leute gerne sind, und nicht allein Ausstellungen sollen hier stattfinden, sondern ein ambitioniertes Begleitprogramm mit hochkarätigen Gästen. „Utopia Station“ vernetzt das Haus der Kunst mit Theater und Hörfunk; zu der Zeit, als hier die fulminante Aus- stellung „Partners“ der kanadischen Sammlerin Ideenwerkstatt für Utopia Ydessa Hendeles gezeigt wurde, fand am St.-Ja- kobs-Platz die Grundsteinlegung für das neue Das Haus der Kunst und sein neuer Direktor Chris Dercon Münchner jüdische Gemeindezentrum und Mu- seum statt. Nach mehr als 35 Jahren fand erst- Derzeit macht die Utopie Station im Haus der de, die Dercon – nach dem New Yorker P.S.1 mals wieder eine große Ausstellung des Fotogra- Kunst. „Utopia Station“ nennt sich eine – man und dem Museum Boijmans van Beuningen in fenpaares Bernd und Hilla Becher hier statt. Das kann nicht sagen Ausstellung: eher Erlebniswelt, Rotterdam – dazu bewogen haben, die Nach- Haus der Kunst öffnete sich mit „Simply Droog“ die in anderer Form 2003 auf der Kunstbiennale folge Christoph Vitalis 2003 anzutreten: Aus modernem Design ebenso wie den „Sieben Sa- in Venedig zu sehen war. Von unterschiedlichs- Verpflichtung gegenüber einer anderen Ausstel- kramenten“ einer Abigail O’Brien. << ten Künstlern bespielt, mit Kino- und Aktions- lungstradition, hier, wo früh Picasso gezeigt räumen versehen: Ein Gewusel aus Plakaten wurde; der Stadt eines Alexander Kluge, Hans www.hausderkunst.de und Monitoren empfängt den Besucher, akusti- sche Eindrücke en masse umgeben ihn. „Uto- pia Station“, das sind Performances, Reden, Dis- Kultur unter freiem Himmel kussionen, Radiosendungen, Theateraufführun- Frischluftspektakel vom Rock-Konzert bis zu den Opernfestspielen gen, Veranstaltungen, die wochenlang die ganze Stadt überziehen, quasi mit der Aufforde- rung zur Bewegung, und die vor allem ein jun- des Olympiaturms zu Theateraufführungen, ges Publikum ansprechen sollen, das nicht passiv Konzerten, Kunsthandwerks- und Imbiss-Stän- Kunst konsumieren, sondern sich mit ihr ausein- den in Zelten oder unter freiem Himmel. Lange ander setzen will. Und „Utopia Station“ steht Nächte der Kunst und der Musik mobilisieren für ein Haus der Kunst, dem sein neuer Leiter Unzählige, die sich mit Shuttle-Bussen von Event Chris Dercon seit vergangenem Jahr in Deutsch- zu Event tragen lassen. James Levine dirigiert land neue Strahlkraft verleihen will – und zwar ebenfalls unter freiem Himmel die Münchner in steter Auseinandersetzung mit seiner dunklen Philharmoniker auf dem . Und sein Vergangenheit. Alles, was hier gezeigt wird, Kollege Zubin Mehta eröffnet kurze Zeit später muss sich mit Vergangenem messen, mit dem den neu gestalteten Marstallplatz mit Mahlers Makel von „entarteter Kunst“. München solle Dritter Symphonie. Stets wird ein Highlight der nicht bloß rezipieren, sondern produzieren, sagt Münchner Opernfestspiele im Sommer auf eine Chris Dercon und verweist auf den berühmten Königsplatz. Zehntausende drängen zu den Kon- Riesenleinwand vor dem Nationaltheater über- Münchner Designer Konstantin Grcic, der im zerten von Sting, Elton John, Lenny Kravitz oder tragen, wo sich bereits Tausende drängeln, mit Ausland internationale Erfolge feiert und in sei- zum Kino-Open-Air. Im Olympiastadion geben einem Glas Prosecco in der Hand oder gleich mit ner Heimatstadt nur von einigen wenigen über- sich Simon & Garfunkel und Metallica die Ehre. einem kompletten Picknick-Koffer bewaffnet. – haupt wahrgenommen wird. Die Vergangenheit Das Tollwood-Open-Air lockt Jahr für Jahr sechs Das Leben in München, es findet an 245 Tagen des Hauses der Kunst war auch einer der Grün- Wochen lang sehr viel Publikum in den Schatten im Jahr draußen statt. Und an den verbleibenden 27.Plan14(14.12)13.53.29.ps 14.12.2004 13:53 Uhr Seite 27

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Zwischen Kabarett und Krimi miklassiker stehen dreimal jährlich in Neuinsze- nierungen auf dem Programm; Klassiker von Die Brettl- und Boulevardtheaterszene der Landeshauptstadt hat viel zu bieten Agatha Christie und Edgar Wallace, Stücke wie „Das Fenster zum Hof“, „Tod auf dem Nil“ München hält im deutschsprachigen Raum das Lustspielhaus in Schwabing bis hin zum oder „Arsen und Spitzenhäubchen“. Zwar den Rekord an Bühnendichte noch vor Berlin kleinen Theater im Fraunhofer, dem Theater im würde Siegel-Sorell gerne neue Stücke von und Wien. Dabei reicht die Spanne vom Schlachthof oder der Drehleier in Haidhausen. neuen Autoren spielen, aber auch ihm fehlt Schwabinger Theater 44 über das Teamtheater Es gibt ein Theater am Sozialamt, das Deut- der Nachwuchs. Eine Sorge allerdings braucht Tankstelle vor den Toren der Altstadt, über die sche Theater mit seinen Musical- und Revue- sich der 65-Jährige nicht zu machen – dass ihm Münchner Lach- und Schießgesellschaft und produktionen, Jörg Maurers Musikkabarett das Publikum ausgeht. Eine durchschnittlichen Platzauslastung von 85 bis 91 (im Winter 100) Prozent kann sich sehen lassen und steht ei- nem äußerst erfolgreichen Residenztheater in nichts nach. Allein 1.400 (!) Abonnenten kann Siegel-Sorell vorweisen, das ist für ein Theater solchen – kaum vergleichbaren – Formats schon etwas Ungewöhnliches.

Das Blutenburg-Theater ist in ganz Deutschland ein Unikum. Und das wurde eben im Oktober 21 Jahre alt. Ungefähr 70 Premieren wurden hier über die Jahre gefeiert. Fast komplett ohne Zu- schüsse hält der gelernte Schauspieler – der bis vor kurzem in den von ihm inszenierten Stücken auch noch selbst mitgespielt hat – den kleinen Theaterbetrieb mit seinen 91 Plätzen über Was- ser, garantiert immerhin im Schnitt sechs festen Angestellten Lohn und Brot während der Spiel- zeit und finanziert sieben Minijobs und daneben auch einige freie Mitarbeiter. Bühne frei für Giftmörder und Kommissare: das Blutenburg-Theater zeigt Kriminalstücke. Wie es weitergeht? Zuerst mal wird Siegel-Sor- Unterton und die beiden Boulevardbühnen rell nicht aufgeben, endlich die Rechte für Komödie im Bayerischen Hof und Kleine „Mord im Orientexpress“ zu bekommen, was Komödie am Max II. Man macht sich gegensei- bislang nicht gelang, weil die Rechteinhaber tig Konkurrenz, aber keiner nimmt sich etwas störrischer und konservativer seien als die le- weg, zu unterschiedlich ist das Profil der Häu- gendären Brecht-Erben. Auch im kommenden 120 Wintertagen stehen allerorten emsige ser und Häusl; allein die letztgenannten Boule- Jahr hofft man auf einen bislang noch nicht Gastronomen und Biergartenbesitzer bereit, um vardbühnen spüren den sich vollziehenden angezapften Sparstrumpf. Und schließlich beim allerersten Sonnenstrahl oder bei Föhn- Generationenwechsel deutlicher als andere. wünscht sich der Theaterchef natürlich eine wetterlage ihre Tische und Stühle auf die Straße Deutschland hat keine Boulevardtheater-Tradi- gesicherte Nachfolge. Zwar sei seine Frau 20 zu rücken, die Bänke von Schneeresten zu befrei- tion wie etwa die der angelsächsischen Länder Jahre jünger als er und werde das Haus en, auf denen man alsbald keinen Platz mehr er- vorzuweisen, mancher Schauspieler ist sich zu zunächst weiterführen, aber langfristig gese- gattern kann. Das Klischee von München als der fein für die Boulevardbühne, und Stücke vom hen müsse jemand Fähiger her. Einen Versuch nördlichsten Stadt Italiens, es wurde jüngst auch Range eines Noel Coward oder Neil Simon lie- gab es schon – der Kandidat hat im letzten vom weltberühmten Filmkomponisten Ennio gen heutzutage nicht auf der Straße. Moment gekniffen. „Ich möchte doch nicht“, Morricone bestätigt, der sich für ein Konzert hier sagt René Siegel-Sorell, „dass das Bluten- aufhielt und sichtlich begeistert war vom Flair Fast noch schwieriger, zumindest was die Zu- burgtheater in der Theatergeschichte Mün- dieser barocken Metropole. Es liegt den Münch- ordenbarkeit angeht, hat es René Siegel-Sorell, chens eine Marginalie bleibt, sondern dass nerinnen und Münchnern im Blut – vielleicht der Leiter des Blutenburg-Theaters in Neuhau- mein Lebenswerk fortgeführt wird.“ Gelingt ist es ein Schönwetter-Gen, das Hiesige wie sen, einer – nomen est omen – Krimibühne, das nicht – an Vielfalt verlöre selbst München, Zuag’roaste verbindet und bei Sonnenlicht ein- die ihren Namen allein der Tatsache verdankt, die Stadt mit der größten Bühnendichte vernehmlich auf die Straße treibt. Mit diesem dass sie an der Blutenburgstraße gelegen ist: Deutschlands. << Ausdruck im Gesicht: „Wir leben in der schöns- Zwar rangiert sie unter Boulevardbühne, doch ten Stadt der Welt.“ (Foto: Heinz Gebhardt) << was hier gegeben wird, ist kein Boulevard. Kri- www.blutenburg-theater.de 28.Plan14(14.12)13.53.45.ps 14.12.2004 13:54 Uhr Seite 28

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Olymp der Nachtkultur: Das stylisch eingerichtete „Atomic Café“ ist zurzeit einer der beliebtesten und erfolgreichsten Clubs der lebhaften Münchner Musik-Szene (Foto: gesa-simons.de).

ben mittlerweile schon den zweiten Band „Pla- net Slam“ (Yedermann Verlag) heraus – einen Reiseführer durch die Welten des Poetry Slam.

Als vor fast zwei Jahren die Technikfachbuch- handlung Kanzler schloss, ahnte noch niemand, dass sich der wenig schmucke Nachkriegsflach- bau zu einem Treffpunkt für politisch streitbare Zeitgenossen, Kunstfreaks und Studenten aller Fakultäten mausern würde. Initiator des Ganzen war der Architekt Jakob Bader, dem das „immer nur nörgeln“ zu viel war und der stattdessen auf „selber was machen“ setzte. Über einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten stellte er deswegen bildenden Künstlern, politischen Wo die Nacht zum Tag wird Gruppen und Aktionisten jeder Coleur den „Kulturkiosk Kanzler“ zur Verfügung, um ihr Die Münchner Party-, Poetry- und Subkulturszene kennt keinen Schlaf Publikum zu erreichen. Als man schon glaubte, das Projekt sei an seinem Ende angelangt, In puncto Zuzug und Firmenneuansiedlungen Café“ lässt es sich bestens feiern. Die Qual der schlossen sich ihm der Journalist, Theologie- erfreut sich München ungebrochener Wachs- Wahl ist groß: Vorwiegend im Zentrum führen und Philosophiestudent Reinhard Körting sowie tumszahlen. Der Fluch des Erfolges: Aufgrund trendige House-Clubs durch die Nacht: am der aus Kolumbien stammende Redakteur, Di- der hohen Grundstückspreise sind kaum Hauptbahnhof das ehemalige Etablissement plomat und Galerist Daniel Martinez an, um den Brachflächen für kulturelle Zwischennutzung „Palais“, direkt unter dem (Stachus) die „Kanzler“ zum einem Zentrum Münchner Kul- vorhanden, wie etwa im Ruhrgebiet oder in alten Karlstor-Kinos „2Rooms“, in der edlen tur-Diskurses jenseits von Literaturhaus und Kul- Berlin. Es findet eine Eventisierung von Kultur Maximilianstraße das „Prinzip“ im Backstein- turreferat zu machen. Vorerst bis zum nächsten statt, zudem richtet sich ein starker Fokus auf Gewölbekeller oder in der ehemaligen Stadt- Frühjahr. Die Idee aber lebt weiter. die so genannte Hochkultur. Dass im Laufe von werke-Kantine am das „Funky Jahren doch immer wieder Trends in den Berei- Kitchen“. Wochenend-Gäste mit Partyaffinität Dass Stadtteilkultur nicht mit dem Ruch des Pro- chen Musik, Kunst, Literatur, Club oder Stadt- sollten sich keinesfalls die Optimolwerke-Kultfa- vinziellen vebunden sein muss, beweist Monat teilkultur gesetzt wurden und die Stadt durch- brik entgehen lassen: In den alten Fabrikhallen, für Monat auch die Pasinger Fabrik. Vom „Kak- aus über eine funktionierende Subkultur ver- den Büros und Kantinen von Pfanni und Castrol, tus“-Kleinkunstfestival bis zu den Afrika-Tagen, fügt, zeigen einige Beispiele. hat sich die größte Feierlandschaft Europas ent- vom Schwarzen Theater Prag bis zum „Kleinsten wickelt: 48 Clubs, Bars, Lokale und Diskotheken Opernhaus der Welt“ steht die Pasinger Fabrik Hartnäckigster Störenfried im nur vermeint- der unterschiedlichsten Stil- und Musikrichtun- auf dem monatlichen Kulturfahrplan all jener, die lich homogenen Landeshauptstadtsgefüge: gen werben Tür an Tür um tausende Gäste, die jenseits vom Etablierten noch Entdeckungen ma- das „Backstage“. Independent- und Punk- sich auf den Fabrikstraßen von Club zu Club be- chen wollen. Und das sind nicht wenige. << Konzerte durchaus namhafter Acts bescherten wegen – dicht belebte Fußgängerzonen der an- den Veranstaltern allein seit 2001 fast 600.000 deren Art, deren Gehsteige erst lange nach dem Zuschauer. Nicht minder erfolgreich ist das sty- ersten Hahnenschrei hochgeklappt werden. Zur ersten Orientierung in der Münchner Party-, lische „Atomic Café“, das heute der wichtigste Poetry- und Subkulturszene empfehlen wir: Musikclub Münchens und mit seinem ausge- Auch die Poesie boomt in München. Das ist vor suchten Konzertprogramm ein echter Trend- allem dem monatlichen Poetry Slam im Szenelo- www.backstage089.de setter in Sachen Wer-heute-hier-spielt-kommt- kal Substanz zu verdanken. Mittlerweile buhlen www.atomic.de morgen-groß-raus ist. Veranstaltungen wie die Lausch Lounge in den www.funkykitchen.de Kammerspielen, das „Speak & Spin“ im Café www.kultfabrik.info Seit in Bayern die Sperrstunde fiel, hat sich in Gap, der „Hörsalon 60“ im Funky Kitchen oder www.substanz-muenchen.de München ein metropolitanes Nachtleben ent- das „Westend ist Kiez“ um die Gunst des immer www.yedermann.de wickelt, das sich international sehen lassen zahlreicheren Publikums. Zwei Protagonisten der www.kulturkiosk-kanzler.de kann. Auch abseits der legendären Schicki- international gerühmten Münchner Poetry- www.kulturdiskurs.de Micki-Szene in „P1“, „Milch & Bar“ oder „Park- Slam-Szene, Rayl Patzak und Ko Bylansky, ge- www.pasinger-fabrik.com