Deutschland

KANZLER Die Stille nach dem Sieg Machtfragen entscheidet Kanzler Schröder meist für sich, seine Führungsautorität in Partei und Regierung ist unumstritten. Aber Macht wofür? Führung wohin? Der Krieg verdeckt die bescheidene Bilanz: Die Arbeitslosigkeit steigt, und das Kabinett wird allmählich zum Intrigantenstadl.

iese Entschlossenheit! Diese Ele- Der eigene Kanzler konnte da nicht ganz neuern. Auf dem Parteitag hat er seine ganz! Woher nimmt der Partei- und mithalten. Gerhard Schröder redete zwar Führung mit einem persönlichen Rekord- DRegierungschef nur jene Strahl- lange, exakt 75 Minuten, aber er hatte den ergebnis ausgebaut. Aber Macht wofür ei- kraft, die sich in Sekundenschnelle auf die Delegierten nicht viel zu sagen. Da war die gentlich? Und Führung wohin? Zuhörer überträgt? Rede von Macht, „die wir zu Recht ha- Schröders Siegen folgt neuerdings eine Er habe ein einfaches Ziel, erklärte er ben“, von Wirklichkeit, die „wir zur Kennt- merkwürdige Stille. Seine rot-grüne Ko- vorige Woche den Delegierten des SPD- nis nehmen müssen“, und ein bisschen alition wirkt ermattet, die Dauerreibung Parteitages in angenehm ruhigem Ton: „Ich Nachhilfe in Sachen Führungskunst gab es an einer widrigen Wirklichkeit in der will aus diesem Land eine erfolgreiche Na- auch: „Führung meint, dass man das Rich- Außen- und der Wirtschaftspolitik hat bei- tion machen. Eine Nation, die stolz ist auf tige tut.“ de Partner erkennbar Kraft gekostet. ihre eigene Identität und die zugleich ein Die einzige handfeste Botschaft, die Der Krieg und die sich verschärfende vollwertiger Partner in Europa ist.“ Schröder mitgebracht hatte, rührte nicht Wirtschaftskrise sind in den Programmen Und auch mit den USA will er eng ko- ans Gemüt: Die SPD müsse politik-, funk- von SPD und Grünen als Horrorszenario, operieren: „Ich erinnere noch genau, als tions- und machtfähig bleiben – „nur dann nicht als Alltag vorgesehen. Ausgerech- ich ein kleiner Junge war, wie damals Wil- kann ich meine Arbeit, können wir unse- net jene, die früher davon lebten, dass ly Brandt und John F. Kennedy in Berlin re Arbeit tun“. sie Visionen und alternative Zukunfts- Schulter an Schulter beieinander standen.“ Beifallsorkane waren da nicht zu erwar- entwürfe verkauften, predigen ihrem Es komme heute wie ehedem auf dieselben ten, auf den hinteren Rängen wurde sicht- Parteivolk nun den Realitätssinn. „Liebe Werte an: „Solidarität, soziale Gerechtig- bar freudlos in die Hände gepatscht. Die Genossinnen und Genossen“, rief Schrö- keit und gleiche Chancen für alle“. Not als Tugend verkauft, das setzt eben der auf dem Parteitag, „unsere Politik Die SPD-Basis, die sich vergangene Wo- keine Energien frei. Es war die Rede „eines muss sich an der Wirklichkeit messen che in Nürnberg zum Parteikonvent ver- Geschäftsführers, der Gefolgschaft ver- lassen.“ sammelt hatte, durchströmte wohlige Wär- langt“, urteilte die „Süddeutsche Zeitung“. Und die sieht eher trübe aus. In der me. „Dieser Mann hat“, schwärmte Frak- Einem chronisch übermüdeten Gerhard Wirtschafts- und Sozialpolitik macht die tionschef Peter Struck, „die Herzen der Schröder fällt es derzeit schwer zu begeis- Krise alle Anfangserfolge von Rot-Grün – Delegierten erreicht.“ tern – sich selbst und die anderen. Bei der die Steuersenkung, die Reduzierung der Nur leider: Der Mann am Mikrofon hieß Vertrauensabstimmung im Parlament und Lohnnebenkosten, die neu geschaffenen Tony Blair, er war als Einheizer eigens aus bei der Wiederwahl zum Parteichef konn- Jobs – fast über Nacht zunichte. Nun zeigt London angereist. te er zwar seine Macht eindrucksvoll er- sich, dass in der bestenfalls teilsanierten Deutschland AG acht Monate Konjunk- turflaute ausreichen – und alle ökonomi- Im roten Bereich Wunsch und Wirklichkeit der Regierung Schröder

Stabilitätsprogramm der Bundesregierung, Oktober 2000 Gesundheitsministerin 1998 Arbeitsminister Walter Riester im September 2000

Gesamtstaatliches Ausgaben der Arbeitslose Defizit gesetzlichen Kranken- saisonbereinigt, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) versicherung für Arzneimittel* in Millionen in Mrd. Mark 4,1 2000 01 02 03 42,0 4,11 0 36,2 37,8 –0,5 Planung der 33,6 4,0 Bundes- 3,92 –1,0 –1,0 regierung Steigerung 1998 1999/2000 3,9 –1,3 –1,5 bis 2001: 3,78 laut EU-Kommission* +25% geschätzt 3,8 –2,2 1998 1999 2000 2001 –2,5 –2,7 *ab 2001 1999 2000 2001 Schätzung *aus Apotheken

20 der spiegel 48/2001 schen Messinstrumente drehen in den roten Bereich: • Die Arbeitslosigkeit wird im Janu- ar voraussichtlich die magische Vier- Millionen-Grenze überschrei- ten. Schröders Ziel – 3,5 Millionen – ist damit deutlich verfehlt. • Das Wirtschaftswachstum fällt nir- gendwo in Europa so gering aus, und fast täglich verschlechtert sich die heimische Lage – minus 0,1 Pro- zent waren es im dritten Quartal. Im Klartext: Die deutsche Wirt- schaft schrumpft. • Auf Rekordniveau bewegt sich der- weil nur die Zahl der Firmenplei- ten: plus 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr; eine halbe Million Jobs ge- hen allein dadurch verloren. Der von SPD-Wahlkampfprofis er- fundene Slogan „Der neue Wohlstand. Die neue Sicherheit. Das neue Mitein- ander“ musste gleich wieder kassiert werden. Denn von neuem Wohlstand kann keine Rede sein. Die Lohnneben- kosten wurden nicht wie beabsichtigt unter 40 Prozent gesenkt, die Staats- quote, also der Anteil, den der Staat am Erwirtschafteten des Landes für sich reklamiert, steigt wieder (siehe Grafik). Auch in der SPD fällt vielen all- mählich auf, das ihr Kanzler viele Pro- bleme angepackt, aber nicht gelöst hat. Die kleine Schar der Modernisierer in der SPD hat sich auf dem Parteitag zur „Nürnberger Mitte“ zusammen- geschlossen. „Die gesamte soziale Si- cherung muss neu durchdacht wer- den“, beschreibt Potsdams Oberbür- germeister Matthias Platzeck ein Ziel der Gruppe (siehe Interview Seite 27). Das Problem für sie und den Kanz- ler: Der überwiegende Teil der Partei

KAI PFAFFENBACH / REUTERS KAI PFAFFENBACH * Vergangenen Dienstag beim SPD-Parteitag in Kanzler Schröder, Gast Blair*: „Führung meint, dass man das Richtige tut“ Nürnberg.

Neujahrsansprache Schröders am 31.12.2000 Finanzminister im September 1999 Koalitionsvertrag 1998

Wirtschafts- Staatsquote Lohnnebenkosten wachstum Ausgaben des Staates Sozialabgaben je 100 Mark Veränderung des BIP gegenüber in Prozent des BIP Bruttolohn, Arbeitgeber- und dem Vorjahr in Prozent 49,4 Arbeitnehmeranteil 48,9 3,4 48,6 Deutschland 1998 42,10 Mark 3,0 Wachstum der gesamten EU Prognose: EU-Kommission 2000 41,00 Mark 45,9 1,6 1,3 Prognose der 2002 41,20 Mark Bundes- 0,7 0,7 regierung 1999 2000 2001 2002 2000 2001 2002 angestrebte Obergrenze: ab 2001: Prognose 40 Mark der EU-Kommission

der spiegel 48/2001 21 Deutschland Cleverer Akt Wie der Kanzlerberater Michael Steiner seinen Job verlor

ichael Steiner hatte überhaupt abtropfen lassen: „Das sind eben russi- keine Lust, noch weiter über sche Verhältnisse.“ Mdas Rollfeld des Moskauer Jetzt musterte er Steiner abschätzig / DDP MICHAEL KAPPELER Flughafens gefahren zu werden. Spät- und drehte sich zu einem Unteroffizier Steiner-Nachfolger Kastrup abends zog sich der letzte Tankstopp der Flugzeugbesatzung: „Jetzt rede ich Erfahrener Diplomat vor Ende einer langen Asien-Reise erst mal mit Ihnen.“ ungebührlich in die Länge. Grim- Steiner wurde wütend, wandte sich In der nächsten Nacht übernahm Stei- mig schritt der Sicherheitsberater des seinerseits zu einem der Umstehenden. ner freilich selbst die Initiative. Vertraute Bundeskanzlers durch die Business- „Was ist das denn für ein Arschloch?“, hatten ihm berichtet, dass „Bild“ die Class-Reihen des Luftwaffen-Airbus fragte er den Leiter des Planungsstabes Kampagne gegen ihn entschlossen fort- auf den Vertreter der deutschen Bot- im Auswärtigen Amt, Achim Schmillen. setzen würde. Die Anti-Steiner-Serie, so schaft zu. „Warum werden wir nicht be- Der Rest ist ein Stück neuerer Zeit- seine Befürchtung, würde auch Schrö- tankt?“, knurrte er den Mann im geschichte. Der außen- und sicherheits- der schwächen. Nachts um drei verfass- Mantel an. politische Berater des Kanzlers erlebte, te Steiner seinen Rücktrittsbrief: „Ich Oberfeldwebel Mario P. hatte freilich wie ein kleiner Unteroffizier aus der bitte Sie, mich meiner vor drei Jahren auch keine Lust, sich mit dem unbe- Moskauer Botschaft innerhalb von we- verliehenen Funktionen zu entbinden.“ kannten Herrn aus Berlin zu befassen. nigen Tagen eine der steilsten Karrieren Dienstag gegen elf Uhr ging das Gerade noch hatte der selbstbewusste des diplomatischen Dienstes vorläufig Schreiben bei Schröders Büroleiterin in Unteroffizier andere Beschwerdeführer beenden kann. Vergangenen Dienstag Nürnberg ein. Ratlos standen Schröder mit dem Hinweis auf die Landessitten bat Steiner den Kanzler um seine Ent- und sein Kanzleramtschef Frank-Wal- lassung. Zu groß war da schon der ter Steinmeier am Rande der Tribüne Druck von außen geworden. Die dienst- des Nürnberger Parteitages. Steiner hat- liche Beschwerde, die P. und seine Ka- te Fakten geschaffen. Der Kanzler un- meraden sofort nach dem Kanzlerbe- ternahm nichts, ihn umzustimmen. Ei- such aufsetzten, gelangte Ende vorver- nen Tag später präsentierte Schröder gangener Woche an die Presse. seinen neuen Chefberater, den 64-jähri- Erst berichtete der Berliner „Tages- gen Uno-Botschafter Dieter Kastrup, ei- spiegel“ voller Mitgefühl für die Solda- nen erfahrenen Diplomaten. ten, wie Steiner nicht nur mehrmals Steiners Jahre mit Schröder waren „Arschloch“ geschimpft, sondern auch von brachialen Polit-Manövern ge- noch Kaviar verlangt habe. Dann nahm kennzeichnet, die dem Berater den Ti- sich „Bild“ der Sache an. Pünktlich zum tel des „Undiplomaten“ („Die Zeit“) SPD-Parteitag forderte das Boulevard- eintrugen. Den Deutschen Horst Köhler Blatt: „Kanzler, entlassen Sie diesen platzierte er gegen den Widerstand der Mann.“ Amerikaner als Chef des Internationa- Spätestens da interessierten die Fak- len Währungsfonds IWF – opferte dafür ten des umstrittenen Wortwechsels nicht freilich den Finanzstaatssekretär Caio mehr. Steiners Wunsch nach Kaviar war Koch-Weser, der als Alibi-Kandidat auf nach Darstellung von AA-Mann Schmil- der Strecke blieb. In der „Protokoll- len keine zynische Herrschaftsgeste affäre“ über eine heikle Mitschrift eines eines Spitzenverdieners, sondern der Gesprächs mit dem US-Präsidenten Ge- Running Gag unter den frustrierten Pas- orge W. Bush (SPIEGEL 24/2001) ver- sagieren. Auch die Leiterin des Kanz- suchte er gnadenlos, die Schuld auf den lerbüros, Sigrid Krampitz, fand, die Protokollführer, den deutschen Bot- Militärs an der Moskauer Botschaft hät- schafter Jürgen Chrobog zu schieben – ten schlampig gearbeitet, und drohte bis Außenminister den den Soldaten im Flugzeug „Konsequen- Kanzlermann stoppte. zen“ an. Die Berliner Regierungsmann- Bei Fischer hat sich Steiner vergan- schaft bewertet die öffentlich gemachte genen Donnerstag zurückgemeldet. Der Gegenbeschwerde aus der Moskauer Minister muss jetzt zusehen, dass er für Botschaft als cleveren Akt der „Vorne- den 51-Jährigen eine Position findet, die verteidigung“. der Besoldungsstufe B9 (rund 15 500 Noch am Sonntag – im Wissen um Mark Grundgehalt) des Spitzenbeam- den ersten „Bild“-Artikel – nahm der ten entspricht. Dafür kommt eigentlich Kanzler am Vorabend des SPD-Partei- nur eine der wenigen Großbotschaften

FRANK OSSENBRINK FRANK tags seinen Berater in Schutz. Er wolle bei wichtigen Partnern oder internatio- Schröder-Vertrauter Steiner Steiner wegen einer solchen Kleinigkeit nalen Organisationen in Frage – zum Brachiale Polit-Manöver nicht opfern, sagte er. Beispiel die in Moskau. Ralf Beste

22 der spiegel 48/2001 Zahl der Rücktritte von Ministern in Schröders ersten drei Regierungsjahren ... Finanzen: Oskar Kanzleramt: Bodo Verkehr: Franz Müntefering, Verkehr: Reinhard Gesundheit: Andrea Landwirtschaft: Karl- 6 Lafontaine, SPD Hombach, SPD SPD Klimmt, SPD Fischer, B’90/Grüne Heinz Funke, SPD

anschließend SPD-Generalsekretär Weitere prominente Regierungsmitglieder, die aus dem Amt geschieden sind – Staatsminister für Kultur: Michael Naumann, SPD, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Günter Verheugen, SPD, Parlamentarische Staatssekretärin im ... und in den ersten drei Gesundheitsministerium: Christa Nickels, B’90/Grüne, Außenpolitischer Berater des Kanzlers: Michael Steiner, SPD Regierungsjahren von ...... Konrad Adenauer ab 1949 zu halten. Probleme löst er erst, wenn sie de hier haben die organisierten Interessen 1 Gustav Heinemann, CDU sich von selbst nach ganz oben auf die Ta- – da die Arbeitgeberverbände, gegenüber gesordnung katapultiert haben. Er versteht die Gewerkschaften – kein wirkliches Re- ... Ludwig Erhard ab 1963 sich als Konfliktmanager, als Moderator formanliegen. Ihnen geht es darum, ihr bi- 2 Hans Krüger, CDU, Ewald Bucher, FDP von Veränderung, nicht als deren Kataly- laterales Monopol bei der Festsetzung von ... Kurt Georg Kiesinger ab 1966 sator. Löhnen und Arbeitszeiten zu verteidigen. 5 Paul Lücke, CDU, Bruno Heck, CDU, Hans-Jürgen Sein Erfolg – bei Parlamentsabstimmun- „Ganze Randgruppen wie zum Beispiel die Wischnewski, SPD, Kai-Uwe von Hassel*, CDU, gen, Parteitagswahlen und in wöchentli- Arbeitslosen“, sagt ein Minister, „haben in Gustav Heinemann**, SPD chen Meinungsumfragen – bestärkt ihn in diesem Spiel keine Lobby.“ ...Willy Brandt ab 1969 dieser Strategie. Er sieht einen Zusam- Jenes Projekt, das Schröder einst als menhang zwischen den hohen Popula- „das wichtigste“ der gesamten Legislatur- 3 Alex Möller, SPD, Karl Schiller, SPD, Hans Leussink, parteilos ritätswerten und dem eher gemächlichen periode gepriesen hatte, das Bündnis für Reformtempo in der zweiten Hälfte der Arbeit, ist so fast automatisch zum Bünd- ... Helmut Schmidt ab 1974 Legislatur. nis für Stillstand geworden. Wenn der 2 Erhard Eppler, SPD, Hans Friderichs, FDP In Partei und Fraktion ist Ruhe zur ers- Kanzler sich zweimal im Jahr mit den ... Helmut Kohl ab 1982 ten Politikerpflicht erhoben worden. Nach Topfunktionären der Deutschland AG vor 2 Otto Graf Lambsdorff, FDP, Heiner Geißler, CDU der Rentenreform, bei der die Gewerk- die Kameras stellt, dann präsentiert sich *anschließend Bundestagspräsident schaften auf den Arbeitgeberbeitrag zur da nicht der „Reformmotor“ (Schröder), **anschließend Bundespräsident Privatrente verzichteten, sei mehr nicht sondern eine Runde von Besitzstands- drin, meldete Fraktionschef Struck ans wahrern: Die Industrie verteidigt ihren hat schon das bisherige Tempo der Verän- Kanzleramt. über 20 Milliarden Mark schweren Sub- derungen als eher zackig empfunden. Hans Schröder verstand. „Wir machen nix ventionstopf, die Handwerksverbände be- Eichels knallharter Konsolidierungskurs – mehr“, gab er als Parole in kleinen Run- harren auf einer mittelalterlich anmuten- für die Linken ein Gräuel. Die Senkung den aus und ließ seinen Kanzleramtschef den Zunft- und Gewerbeordnung, die Ge- des Spitzensteuersatzes – dicht an der Zu- Frank-Walter Steinmeier schon mal Er- werkschaften auf einem reglementierten mutung. Die Privatrente – vor wenigen folgsbilanzen des Geleisteten erstellen. Arbeitsmarkt. Jahren noch undenkbar. Eine Steuerentlas- Bei einer ehrlichen Bilanz wäre der Zet- Ähnlich sieht es auch in anderen Poli- tung von 60 Milliarden Mark – fast so, wie tel reichlich leer – vor allem, wenn es um tikbereichen aus. „Weg von den Agrarfa- sie die Konservativen konzipiert hatten. die Schaffung neuer Jobs geht. Denn gera- briken“, lautete Schröders Losung noch Die Steuerfreiheit auf Ver- äußerungsgewinne – ein Geschenk an die Unter- nehmer. Deutsche-Bank- Chef Rolf Breuer sagte damals in vertrauter Run- de, er wisse wirklich nicht, wofür er die Regierung kri- tisieren solle. Der Kraftakt wirkt nach, Partei, Fraktion und auch der Regierungschef selbst sind erschöpft. Sie wollen sich und dem Wahlvolk keine weiteren Verände- rungen zumuten. Zumin- dest nicht mehr vor der Bundestagswahl. Schröder, der Situati- onskanzler, ist bemüht, die Reibung mit den organi- sierten Interessen gering

* Renate Künast (Landwirtschaft), (Familie), Wer- ner Müller (Wirtschaft), (Gesundheit) und Edelgard Bul- mahn (Bildung) Mitte Oktober in BONESS / IPON STEFAN Berlin. Rot-grüne Kabinettsmitglieder*: Gepflegter politischer Nahkampf

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Ende vergangenen Jahres, der Bauernver- sche Baubetriebe. Denn künftig sollen nur Auch seine Kollegen haben es mit band müsse „sich damit abfinden, dass er noch solche Firmen öffentliche Aufträge großen Reformplänen nicht so eilig. Nie- in Zukunft weniger zu sagen hat“. bekommen, die vertraglich zusichern, sich mand verzehrt sich für irgendeine Vision, Tatsächlich hat sich an den Kräftever- an die Tariflöhne am Einsatzort zu halten. die im Zweifel nichts als Ärger einbringt. hältnissen wenig geändert, weiterhin wer- Demnach muss ein Magdeburger Unter- Mit Inbrunst führen die Minister der rot- den große Agraranlagen gebaut. Der nehmer seinen Leuten statt des billigen grünen Koalition lieber einen Kleinkrieg Marktanteil für Bio-Produkte stieg nur Osttarifs nun teure Westlöhne bieten, wenn Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, Frau leicht auf drei Prozent. Bauernpräsident er einen Auftrag in Hannover haben will. gegen Mann: Eichel gegen Müller, Schar- Gerd Sonnleitner kann mit Recht behaup- Beispiel Bauabzugsteuer: Künftig müs- ping gegen Fischer, Eichel gegen Scharping, ten: „Die Agrarwende gibt es nicht.“ sen alle Bauherren überprüfen, ob die von Scharping gegen Riester, Riester gegen In der Gesundheitspoli- Schmidt, Schmidt mit sich tik regieren die Kräfte der selbst, Bulmahn gegen Beharrung. Der Kanzler Däubler-Gmelin – und alle sah zu, wie die mit einigem zusammen um die Gunst Reformeifer gestartete grü- von „Gerd“ im Kanzleramt. ne Ressortchefin Andrea Fi- Eines hat Schröders scher am Widerstand seiner Truppe dabei schnell ge- Genossen scheiterte. Nach lernt: In der Hauptstadt deren Rücktritt inthroni- bringt eine präzis eingefä- sierte er zu Jahresanfang delte Intrige gegen den po- die Sonderpädagogin Ulla litischen Partner allemal Schmidt. Sie müsse, so der mehr Punkte als ein gedie- Auftrag, für Beruhigung an genes Reformpaket. Wer der Medizinfront sorgen. bei diesem Spiel nicht mit- Operation misslungen, spielt, gilt schnell als Spiel- Kassenbeitrag explodiert. verderber. Ganze Vorgänge Bereits zur Jahresmitte hat- werden nur deshalb produ- te die gesetzliche Kranken- ziert, um sie an die Presse versicherung ein Defizit von lancieren zu können.

fünf Milliarden Mark ange- URBAN MARCO Als Meister des gepfleg- häuft. Erstmals, so die Pro- Finanzminister Eichel*: Geschenk an die Unternehmer ten politischen Nahkampfs gnose der Experten, müs- profilieren sich im Moment sen Beschäftigte und ihre Arbeitgeber im ihnen beauftragten Handwerker tatsäch- ausgerechnet zwei Politiker, die zumindest nächsten Jahr durchschnittlich 14 Prozent lich ihre Steuerschulden begleichen. Ist vordergründig mit der Sicherung des Welt- des Bruttolohns an ihre Kasse abführen. dies nicht der Fall, müssen sie selber einen friedens mehr als ausgelastet sein müssten. Wo Schröders Regierung sich dagegen Teil der Bausumme einbehalten – und die- Mazedonien hin, Afghanistan her – kein zum Handeln entschloss, ging vieles dane- sen Betrag quasi als Vorschuss auf die Steu- Krieg der Welt kann und ben. Allzu oft brachte die rot-grüne Trup- erschuld ihres Malers oder Schreiners ans Joschka Fischer davon abhalten, sich ge- pe nur Lösungen zu Stande, die vor allem Finanzamt überweisen. Die Auftraggeber genseitig vorzuführen. der Bürokratie einen Boom bescherten. werden so ungewollt zu Hilfsbeamten der Mit gezielten Indiskretionen hatten Fi- Beispiel 630-Mark-Gesetz: Angekündigt Steuerfahndung. schers Diplomaten bereits im vergangenen war eine Regelung, die mehr reguläre Teil- Auf Verständnis in der Regierung dürfen Dezember dafür gesorgt, dass die weih- zeitstellen schafft, heraus kam ein Paragra- die Not leidenden Handwerker und Mit- nachtliche Nahost-Reise des Verteidigungs- fenungetüm, das ganze Branchen auf die telständler nicht hoffen. Er kenne die Pro- ministers mit der Gräfin seines Vertrauens Barrikaden trieb. Die Bilanz: Fast eine Mil- blematik, winkt Wirtschaftsminister Wer- für Heiterkeit an der Heimatfront sorgte. lion Nebenberufler, etwa Aushilfskellner ner Müller ab, aber der Staat müsse nun Seitdem versichern sich die beiden in al- oder Zeitungsboten, gaben ihre Jobs auf. mal zusehen, wie er seine Steuern ein- ler Öffentlichkeit ihrer Sympathie, doch Beispiel Tariftreue-Gesetz: Geplant war treibe. Er könne nicht dulden, dass die hinter den Kulissen arbeiten sie mit großem ein Gesetz gegen illegale Dumpinganbieter, einen ihre Steuern zahlen und die ande- Fleiß gegeneinander. Und so war es kein heraus kam eine Strafaktion für ostdeut- ren nicht. Zufall, dass am Montag vergangener Wo- che, also genau fünf Tage vor dem Grünen- Parteitag in Rostock, die „Bild“-Zeitung Bilanz nach drei Jahren Zustimmung zur Politik der Bundeskanzler berichtete, Fischer habe von Scharping ge- Umfrage im ersten Regierungsjahr Umfrage nach drei Regierungsjahren plante Waffenverkäufe gestoppt. Der Ver- teidigungsminister stand als instinktloser Adenauer Erhard Kiesinger Brandt Schmidt Kohl Schröder Waffenhändler da. Dabei hatte die Regierung bereits am 64% 62% 13. Juni beschlossen, überschüssiges Mi- 58% 55% litärgerät über die Botschaften anzubieten. 51% 46% 49% Mitte August legte das Verteidigungsminis- 42% 42% terium einen 46-seitigen Katalog vor, der 37% 38% 33% abge- 36% an die Verteidigungsattachés in 53 Ländern 29% wählt nach geschickt werden sollte. Das Auswärtige zwei Amt wurde im Oktober informiert und Jahren meldete Gesprächsbedarf an. Im November vereinbarten die zustän- Jan. Jan. Nov. Nov. Jan. Sept. Nov. Nov. Juli Mai Durchschnitt Dez. Nov. digen Staatssekretäre beider Ministerien 1950 1953 1963 1966 1967 1969 1969 1972 1974 1977 1983 1986 1998 2001 Quellen: Institut für Demoskopie Allensbach bis 1986, ab 1998 Infratest * Vergangenen Mittwoch beim SPD-Parteitag.

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ein Treffen, doch bevor es dazu kam, Kosten der maroden Sozialsysteme aufzu- „Schröder und seine Partei – jeder riecht schrieb das Fischer-Ressort schon an die be- halsen. Zapft Riester mit seinen Reform- den Angstschweiß des andern“, sagt die troffenen Botschaften und forderte sie auf, plänen für die Invalidenrenten die Pflege- Parteilinke . Der Genosse die Waffen nicht anzubieten, „da der Auf- und Krankenkassen an, rächt sich Schmidt Ulrich Maurer aus dem Traditionslager be- trag nicht mit dem Außenministerium ab- mit einer Vorschrift, die die Beiträge für obachtet ein zügiges Auseinanderdriften gestimmt werden konnte“. Der Brief wur- eine Reihe von Krankenkassen nach oben von Parteichef und Parteibasis: „Wie bei de in die Öffentlichkeit lanciert. Die Bot- treibt – und damit auch die Zahlungen von Helmut Schmidt – nur im Zeitraffer.“ schaft, die es bis in die ARD-„Tagesschau“ Alters- an Krankenkassen. Bis zur letzten Minute war in der ver- schaffte: Fischer, der Friedensengel, kämpft So manches Gefecht endet für die Be- gangenen Woche unklar, ob Schröder sich an allen Fronten. Ende einer Intrige. troffenen außerhalb des Machtzentrums. mit seinem Antrag zur Außen- und Si- Als nicht minder herzlich gilt das Ver- Die Zahl der Rücktritte war während cherheitspolitik ohne Streit vor laufenden hältnis von Bildungsministerin Edelgard der ersten drei Regierungsjahre eines Kameras durchsetzen könnte. Zumindest Bulmahn und Justizministerin Herta Kanzlers noch nie so groß wie unter Ger- in der dafür zuständigen Antragskommis- Däubler-Gmelin. Während sich die eine hard Schröder (siehe Grafik Seite 23). In sion wurde hart gerungen, bis Mitternacht beim Kanzler dafür einsetzte, Forschung an der vergangenen Woche erwischte es ei- war kein Ende in Sicht. Schröder ließ sei- Embryonen zu erlauben, hielt die andere – nen, der nicht Minister, aber trotzdem nen Frust im kleinen Kreis aus: „Das hängt das Grundgesetz stets in Griffweite – da- wichtig war: Michael Steiner, außenpoliti- mir zum Hals raus. Ich geh da morgen gegen. scher Berater (siehe Seite 22). nicht mehr hin.“ Der Streit der beiden Damen („Unfug“, „Para- „Schröder und grafenreiterei“) eskalier- seine Partei – te zeitweise so heftig, dass jeder riecht sich die Bildungsministe- den Angst- rin ihre Aggressionen auf schweiß des dem Trimm-dich-Fahrrad wegstrampeln musste. anderen“, sagt Um sich dann – emotio- Andrea Nahles nal wieder in der Balance – die Kollegin am Kabi- nettstisch vorzuknöpfen. „Edelgard und Herta streiten wie die Kesselflicker“, mors- ten Teilnehmer über SMS von der Front – die Wunden schmerzen bis heute. Auch zwischen Kassenwart Hans Eichel und dem Wirtschaftsminister mag die Lie- be nicht so richtig keimen. Seit Jahren schon bemüht sich Werner Müller verge- bens, von Eichel die Grundsatzabteilung zurückzubekommen, die sich noch einverleibt hatte. Doch Eichel will nicht loslassen. Nun macht ihm der Wirtschaftsminister, der sich zudem für den eigentlichen Erfin- der der Sparpolitik hält, das Leben auf ei- nem Nebenkriegsschauplatz schwer. Beide der tagesspiegel können sich nicht einigen, wer bei der künftigen Förderbank des Bundes den Vor- Die Beschwerde eines Bundeswehrsol- Nach dem kräftezehrenden Parteitag will sitz des Verwaltungsrats übernimmt: Eichel daten, den er mit dem Wort „Arschloch“ der Kanzler den Niederungen der heimi- oder Müller. Die Folgen des Scharmützels zur Arbeit animieren wollte, wurde ihm schen Politik schnell wieder entkommen. sind teuer: Seit über einem Jahr wird der zum Verhängnis. Steiners Pech: Der Be- Seine Getreuen planen ihn als Schröder, Kauf der Deutschen Ausgleichsbank (zu- schwerdevorgang schaffte es bis in die den Staatsmann mit Durchsetzungskraft, ständig: Müller) durch die Kreditanstalt für Briefeingangskörbchen von Fischer und zu inszenieren. Wiederaufbau (zuständig: Eichel) blockiert Scharping. Und wenn es um Steiner geht, Schröder und Bush. Schröder und Putin. – so lange muss der Finanzminister bei sei- sind beide Minister in Abneigung gegen Schröder und Blair. Hauptsache Schröder. ner Haushaltsaufstellung ohne die Ver- den Ehrgeizling vereint. „Zügig durchregieren“, hieß diese Form äußerungserlöse auskommen. Die Partei erträgt die Berliner Kabalen des Wahlkampfes bei Helmut Kohl, auch Arbeitsminister Walter Riester und Ge- scheinbar mit großer Gelassenheit. Der wenn in der Sache nichts mehr entschieden sundheitsministerin Ulla Schmidt hingegen hohe Verschleiß an Personal, der erlahmte wurde. waren sich schon durch herzliche Abnei- Reformeifer, die ungünstigen Wirtschafts- Im Gefolge des Krieges und der welt- gung verbunden, als die ansonsten so fröh- daten – zumindest auf dem Parteitag in weiten Rezession, so das Kalkül der Schrö- liche Sozialdemokratin aus Aachen ihren Nürnberg kein Thema. der-Truppe, nehmen sich die kleinen Patzer Parteifreund noch als einfache Abgeord- Doch hinter der Fassade sieht es nicht und auch die noch unerfüllten Reformver- nete quälte. Systematisch raspelte die ganz so heimelig aus. Partei und Kanzler sprechen an der Heimatfront ohnehin eher Rentensachbearbeiterin der SPD-Fraktion sind sich auch nach drei Jahren Regie- gering aus. Der Kanzler müsse jetzt vor al- Riesters Reformkonzepte klein. rungszeit fremd geblieben, belauern ein- lem Stärke und Zuverlässigkeit ausstrahlen, Kaum im Kabinett, geht die Ausein- ander. Den einen ist Schröder zu modern, sagen seine Berater. Es gilt das heimliche andersetzung weiter. Mit aller Macht ver- den anderen zu traditionell, und beiden Motto: Macht statt machen. suchen die beiden Kollegen bei jedem Gruppierungen ist der Erfolgsmensch un- Horand Knaup, Konstantin von Hammerstein, Gesetzentwurf dem jeweils anderen die heimlich. Ulrich Schäfer, Gabor Steingart

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