„A sense of humour is a serious business“:

Studien zur Paradoxie bei Martin Amis

Der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil.

vorgelegt von

Nina Kiesel

aus Nürnberg

Als Dissertation genehmigt von der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Tag der mündlichen Prüfung: 18. November 2014

Vorsitzende des Promotionsorgans: Prof. Dr. Christine Lubkoll Gutachter: Prof. Dr. Rudolf Freiburg PD Dr. Gerd Bayer

Dank

Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Rudolf Freiburg, der es stets verstanden hat, mein Promotionsprojekt motivierend und geduldig zu unterstützen und voranzutreiben. Ich danke ihm herzlich für die Ermöglichung dieser Arbeit. Prof. Dr. Christine Lubkoll bin ich aufgrund ihrer immer herzlichen und ermutigenden Betreuung während meines Studiums sowie bei der Vorbereitung auf die Disputation zu Dank verpflichtet. Für die Bereitschaft, sich als Zweitgutachter zur Verfügung zu stellen, danke ich PD Dr. Gerd Bayer. Katharina Lempe hat mich lange nicht nur als Kollegin begleitet, sondern war auch als gute Freundin immer eine Hilfe in Zeiten der Orientierungslosigkeit. Ohne das Vertrauen meiner Eltern wäre die Fertigstellung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Ich danke ihnen dafür, mich immer unterstützt und in zahlreichen Momenten der Selbstzweifel mit ihrer Bestätigung und liebevollen Zuversicht wieder aufgerichtet zu haben. Meiner Mutter danke ich von Herzen für ihren bedingungslosen und uneingeschränkten Rückhalt. Ihr Einsatz während der Abschlussphase meiner Dissertation war mir eine wertvolle Hilfe. Inmitten des chaotischen Endspurts hat mein kleiner Sohn Daudi mit seiner noch versteckten Präsenz und herzergreifenden Superkraft meine Prioritäten schlagartig gerade gerückt. Ich bin stolz und glücklich, dass wir die letzten Schritte der Promotion zu zweit gegangen sind. Die Motivation für dieses Projekt und alle wirklich wichtigen Projekte des Lebens verdanke ich Gabrieli Kiesel, der mir mit seiner verständnisvollen und warmherzigen Art in verschiedenen Lebensphasen – während der Schulzeit, des Studiums und der Jahre danach – immer wieder geholfen hat, den Blick auf das Wesentliche nicht zu verlieren. Seine Liebe bereichert mich essenziell.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Martin Amis‘ Literatur des Paradoxen 1

2. Formen und Funktionen der Paradoxie 7 2. 1 Annäherung an den Paradoxiebegriff 9 2. 2 Paradoxien als rhetorisches Mittel 20

3. „Making schizophrenic babies“: Martin Amis und die Paradoxie von Dopplungsstrukturen 26

4. „The great asocial”: Paradoxie und Groteske als satirische Gesellschaftskritik 40 4.1 Paradoxie satirischen Schreibens in Dead Babies 43 4.2 Satire als Soziogramm in Lionel Asbo: State of England 63

5. „A sentimental Journey, to Auschwitz”: Paradoxie im Dienste der Entlarvung menschlicher Perversionen 78 5.1 Time’s Arrow als Traumaroman und historiographische Metafiktion 83 5.2 Paradoxie der Antichronologie 88

6. „If God really existed he wouldn’t have given us religion”: Atheismus-Paradoxie im Dienste der Dekonstruktion von (fundamentalistischen) Religion(sphilosophien) 101

7. „It’s like putting a Band-Aid on a cancer”: Paradoxie der Geschlechterrollen 117 7.1 The Pregnant Widow und die Paradoxie der sexuellen Revolution 120 7.2 Paradoxie des weiblichen Körpers 129 7.3 Paradoxie der Inversion von Geschlechterrollen 137

8. „Banish porno, and you banish all the world”: Paradoxie und Pornographie 155 8.1 Eine Bestandsaufnahme der Pornographie: Pornoland und die literarische Inszenierung in Yellow Dog 156 8.2 Pornographisierung des Alltags in Money 170

9. Fazit 187

10. Literaturverzeichnis 193

1. Einleitung: Martin Amis‘ Literatur des Paradoxen

„Paradoxes, in general, can delight or trouble. Depending on temperamental make-up, we shall be either seduced by their stimulating teasing or upset with their frustrating lack of resolution.”1 Das Wesen von Paradoxien kennzeichnet eine inhärente Widersprüchlichkeit, die in unterschiedlichsten Formen auftritt, in ihrer Funktion einer breiten Vielfalt unterliegt und eine variable Wirkung auf Rezipienten hervorrufen kann. Paradoxien dienen als Waffe und Mittel der Provokation, können in Zeiten der Krise den Effekt einer Schockstarre herbeiführen und gleichzeitig eine Chance zur Adjustierung verfestigter Denkschemata darstellen. Paradoxe Formulierungen verweisen in der Auseinandersetzung mit Fragen nach Logik und Rationalität auf mehr als ein bloßes Wortspiel. Für Martin Amis sind Paradoxien auf stilistischer Ebene ein Mittel, um einen charakteristischen Sprachstil mit typischen Kennzeichen, die in der Sekundärliteratur auch als „Amisismen“ bezeichnet wurden,2 zu etablieren, der die individuelle Stimme des polarisierenden Autors, aber auch den Zeitgeist einer ganzen Generation widerspiegelt: Entropy, apocalypse, Judgment Day: the world winding down, time running out and the guilt stacking up. The overwhelming suspicion that modern life is the life of a lemming, with the cliff- edge only yards away, goes a long way towards explaining Amis’s characteristic style and tone: the swaggering verbal exorbitance and figurative overkill, the urgent italicized insistence, the sustained, speeding note of desperate excess. This compulsive riff finds relief only in the company of its elegiac sibling, when Amis’s prose relaxes to savour the pathos of our predicament, and its rhythms rely on cadenced refrains, on dying falls, to wring grief from the heart and flood the novel with the poignancy of belatedness and valediction.3

Die verbale Arroganz, kombiniert mit einer überdosierten Symbolik, die den für Amis‘ Romanwelten so charakteristischen Ton prägt, inszeniert in Verbindung mit den vielschichtigen Varianten des Paradoxen narrative Kulissen des Exzesses, die sich in ihrer Drastik und Eindringlichkeit des Tabubruchs und der radikalen Grenzüberschreitung zur Stätte des Sentimentalen verwandeln können. Bemerkenswerterweise bereitet die Lektüre von Amis‘ Romanen ein fast obligatorisches Vergnügen für den Leser, das gar als elektrolytisch wahrgenommen werden kann, während sich gleichzeitig ein verloren gegangener Effekt der Paradoxien aufgrund ihrer Überdosierung abzeichnet.4 Die Basis einer Literatur des Paradoxen stellt bei Amis eine zutiefst schwermütige, hedonistische, von Alkohol-, Drogen- und Sexexzessen geprägte Erzählwelt dar, vor deren Hintergrund ein Figureninventar inszeniert wird, das den Leser

1 Linda Hutcheon, A Poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction (New York: Routledge, 1988), x. 2 Vgl. beispielsweise Adam Mars-Jones, „Anti-Dad”, London Review of Books (21.06.2012), ˂http://www.lrb.co.uk/v34/n12/adam-mars-jones/anti-dad˃ (zuletzt besucht am 08.09.2014). 3 Kiernan Ryan, „Sex, Violence and Complicity: Martin Amis and Ian McEwan”, in: An Introduction to Contemporary Fiction: International Writing in English since 1970, ed. Rod Mengham (Cambridge: Polity Press, 1999), 203-18; 209. 4 Vgl. Mars-Jones, „Anti-Dad”.

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in Bereichen abholt, in deren Radius es unangenehm zu werden droht und Denkweisen der Xenophobie und des Rassismus, der Misogynie, des Sexismus und Chauvinismus transportieren kann. Die Erkenntnis und das Verständnis von Ordnung im Chaos des Alltags wird hierbei zur erschöpfenden Sinnsuche,5 da sich das vermeintlich sinnstiftende Moment als Konsequenz einer durch sämtliche paradoxe Widerstände herbeigeführten mentalen Sisyphusarbeit immer wieder als hinfällig erweist. Literarhistorisch kann Amis neben einer Reihe anderer Gegenwartsautoren wie Ian McEwan, Kazuo Ishiguro, Graham Swift oder Julian Barnes als Teil einer innerhalb der britischen Gegenwartsliteratur seit den 1970er Jahren wegweisenden literarischen Generation situiert werden. Salman Rushdie thematisiert in seinem autobiographischen Roman Joseph Anton seine Freundschaften zu englischen Autoren der Gegenwart, darunter auch Amis, vor dem Hintergrund seiner eigenen Autobiographie: „There were novelists among his contemporaries – Martin Amis, Ian McEwan – whose careers took off almost as soon as they were out of the egg, so to speak, and they soared into the sky like exalted birds.”6 Amis’ Literatur kann ebenso wie die Werke von Ian McEwan als eine Literatur des Schocks verstanden werden, die sich durch den Moment des Entsetzens und der Erschütterung zum Ziel gesetzt hat, das kollektive Bewusstsein vehement wachzurütteln.7 Amis wurde 1949 als zweiter Sohn des Schriftstellers Kingsley Amis geboren. Schon früh von einem intellektuellen, elitären Umfeld geprägt, wuchs Amis mit Literaturgrößen wie Philip Larkin auf, einem Familienfreund und Patenonkel seines Bruders Philip, und sah sich stark beeindruckt und beeinflusst vom Werk des eigenen Vaters.8 Das Verhältnis zum berühmten Vater prägte Amis von Kindheit an und beschäftigte ihn auch im höheren Alter nach Kingsley Amis‘ Tod. Im Jahr 2000 veröffentlichte er seine Autobiographie Experience, deren Inhalt auch wesentlich auf das komplexe Verhältnis zur Vaterfigur eingeht.9 Der Fluch des Epigonentums spielt für Amis eine durchaus konkrete Rolle, der Einfluss des Übervaters wird zum lebenslangen und unüberwindbaren Geflecht, das dem problematischen Konflikt von Dichtern und Autoren mit

5 Vgl. Annegret Maack, „Der Roman nach 1945“, in: Englische Literaturgeschichte, hg. Hans Ulrich Seeber (Stuttgart: Metzler, 2004), 403-22; 417. 6 Salman Rushdie, Joseph Anton (New York: Random House, 2012), 47. Vgl. ebd., 366: „Bill Buford had asked him to be one of the judges for the Best of Young British Novelists, 1993. In 1983 he had been on the first of those lists along with Ian McEwan, Martin Amis, Kazuo Ishiguro, Graham Swift and Julian Barnes.” 7 Vgl. Dominic Head, Ian McEwan (Manchester: Manchester University Press, 2007), 2: „[T]he much-discussed literature of shock (especially evident in early works by Amis and McEwan) can be seen as one strategy for awakening the collective conscience.” 8 Vgl. dazu auch Amis’ Veröffentlichung einer Gedichtsammlung von Philip Larkin: Philip Larkin Poems: Selected by Martin Amis (London: and Faber, 2011). 9 Vgl. Martin Amis, Experience (London: Jonathan Cape, 2000). Im Folgenden E.

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der unausweichlichen Einflussquelle ihrer „Dichterväter“ eine konkrete Brisanz verleiht.10 Kingsley Amis verkörperte für seinen Sohn durchaus einen machtvollen, einflussreichen Geist, der sich wiederholt als scharfer Kritiker mit Amis‘ literarischem Werk auseinandersetzte.11 Amis selbst geriet immer wieder in die Schlagzeilen, sei es aufgrund privater Umstände wie die Wiedervereinigung mit seiner unehelichen Tochter und seine kostenaufwendige Zahnsanierung oder aufgrund von öffentlichen Diskussionen. Sein Schlagabtausch mit Terry Eagleton, der ihm in Folge der Veröffentlichung von The Second Plane (2008) Islamophobie vorwarf, und seine Verbalattacken gegen Reality-TV-Star Katie Price aufgrund deren Buchveröffentlichungen, die sich – für Amis überraschenderweise – als Verkaufsschlager entpuppten, sind jüngste Beispiele medialer Dispute.12 Die Auseinandersetzung mit stilistischen, strukturellen und inhaltlichen Schwerpunkten in den Romanen, Kurzgeschichten und Essays von Amis verlangt regelrecht nach der thematischen Subsumierung unter dem Begriff des Paradoxen. Im Rahmen der Analyse sollen Themenbereiche auf ihr paradoxes Gehalt hin betrachtet werden, die bisher nicht zusammenfassend unter der Rubrik des Paradoxen untersucht wurden. Die Dopplungsmotivik innerhalb von Erzählstrukturen, die Amis wiederholt in der Art eines Möbiusbands konstruiert, verdeutlicht das Spiel mit Paradoxien auf struktureller Ebene, während das in zahlreichen Romanen integrierte Doppelgängermotiv mit der Paradoxie abzuweichen und simultan zu gleichen auf der Figurenebene sichtbar wird. In Success (1978) beschreibt Amis die Geschichte zweier Pflegebrüder, die sich im jungen Erwachsenenalter in einem Geflecht aus Intrigen, Lügenkonstrukten, Rivalität und Neid wiederfinden und dennoch mehr mit dem anderen gemeinsam haben, als sie selbst erahnen.13 Die Figur des trickster in Dead Babies (1975) stellt eine perfide Zuspitzung der Doppelgängerthematik dar und konfrontiert den Leser mit Schreckensszenarien der Gewaltdarstellung auf dem Schauplatz pervertierter Normativität.14 Die generische Ausprägung des Paradoxen in den satirischen Texten Dead Babies und Lionel Asbo: State of England (2012) manifestiert sich im Spiel mit dem Modus des Tabubruchs und der Grenzüberschreitung im Dienste der Entlarvung anerkannter Traditionen und Normen.15 Die

10 Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry (Oxford: Oxford University Press, 1997 [1973]), 26. 11 Die Beziehung von Kingsley und Martin Amis selbst basierte auf einem Paradoxon: „It’s tempting to conclude that teenage life had altered out of all recognition and in one easily recognizable direction, yet here the paradox of permissiveness recurs: in crucial respects – specifically, the way in which he related to the established adult world – Martin was actually less confident and secure than his father had been at the same age. He also lacked the powerful stimulus of parental opposition which had spurred on Kingsley’s interest in jazz and forbidden books.” (Neil Powell, Amis & Son: Two Literary Generations (Basingstoke: Macmillan, 2008), 271) 12 Vgl. Martin Amis, The Second Plane: September 11: 2001-2007 (London: Jonathan Cape, 2008); im Folgenden SP. 13 Vgl. Martin Amis, Success (London: Vintage Books, 2004 [1978]); im Folgenden S. 14 Vgl. Martin Amis, Dead Babies (London: Vintage, 2004 [1975]); im Folgenden DB. 15 Vgl. Martin Amis, Lionel Asbo: State of England (London: Vintage, 2012); im Folgenden LA.

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Paradoxie der Antichronologie, die als zentrales Motiv in Time’s Arrow, or the Nature of the Offence (1991) die Perversionen des Holocaust in all ihrer Drastik aufzuzeigen versucht, stellt als postmodernes Formexperiment eine weitere Ebene paradoxer Verflechtungen im Werk von Amis dar.16 Eine in verkehrter zeitlicher Abfolge verlaufende „Reise“ des Protagonisten durch sein Leben münzt Amis zur „sentimentalen Reise nach Auschwitz“ um und verweist dadurch bereits auf den im Roman implizierten tiefgreifenden Bruch mit Strukturen des gesunden Menschenverstands, der Rationalität und Vernunft. Eine ähnliche Devianz vom Bereich der ratio kritisiert Amis auch an fundamentalistischen Religionsphilosophien in The Second Plane, einer Textsammlung aus essayistischen und fiktionalen Texten, die infolge der Terroranschläge des 11. September 2001 entstand. Eine prägnante Auffälligkeit in The Second Plane ist in Amis‘ subjektivem, emotionalem Ton erkennbar, der durch stereotypisierende Klischees einen Verfasser entlarvt, der entgegen des Modus seiner fiktionalen Werke wenig kalkuliert und umso impulsiver seinen Gedankenfluss vertextet. Die Tendenz zur Digression und subjektiver Betroffenheit ebnet den Weg zu populistischen Gemeinplätzen, durch deren Thematisierung Amis‘ politische Position zur Speerspitze gegen seine sonst propagierte Tendenz zur Ablehnung des Normativen wird. Das weite Feld der Geschlechterparadoxien nutzt Amis vor dem Hintergrund des Humoristischen als Antidot gegen misogyne Strukturen, das ihm ermöglicht, normative Geschlechterstandards und Sexualnormen umzukehren und durch die Paradoxie der Inversion von Geschlechterrollen die Weichen für eine Überwindung von Denkklischees zu stellen. Dabei führt die Groteske als Instrument der Deformation und Entstellung des ,Normalen‘ eine paradoxe Perspektive herbei, die dem angeblich Evidenten entgegenläuft. Die Paradoxie des Pornographischen spielt in der Kombination verschobener Geschlechterbilder mit einer grenzüberschreitenden, gewaltverherrlichenden Ästhetik eine besondere Rolle. Die durch Pornographie etablierte Unterdrückung des weiblichen Geschlechts setzt Amis durch einen Großteil der Figuren in seinem Werk zur Entlarvung gesellschaftlicher Scheinheiligkeit und Heuchelei ein. Der Selbst-Widerspruch, die Abkehr vom Sinnhaften und das Aufbegehren gegen überholte Normativität weisen im Kontext von Amis‘ Literatur auf ein zentrales Anliegen der Paradoxie hin. Wie aber werden paradoxe Strukturen insbesondere in der Literatur von Englands (wenn auch etwas in die Jahre gekommenen) enfant terrible Amis fruchtbar gemacht, und welches Weltbild liegt der Auffassung, Darstellung und Auseinandersetzung mit paradoxen Inhalten und Fragestellungen zugrunde? Als Ausgangsthese dient die Überlegung, Amis‘ Gesamtwerk als ein Konglomerat einzelner, auf intendierter Widersprüchlichkeit basierender Texte anzusehen, die

16 Martin Amis, Time’s Arrow, or the Nature of the Offence (London: Vintage, 2003 [1991]). Im Folgenden TA.

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sich zu einer breit angelegten Struktur konzeptioneller Paradoxie ausweiten. Es soll untersucht werden, ob dem Phänomen des Paradoxen im Rahmen der zeitgenössischen literarischen Landschaft generell noch eine Daseinsberechtigung zugeschrieben werden kann und der Begriff sowie das der Terminologie zugrunde liegende Konzept von Paradoxien in der heutigen Zeit vor dem Hintergrund einer pluralistischen Weltsicht noch tragbar ist. Das sowohl unterhaltende als auch vernichtende Potential des Paradoxen soll nach einer ontologischen Bestimmung als bedeutendes Element am Beispiel fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte interpretiert werden. Hinter dem Begriff der Paradoxie verbirgt sich weit mehr als eine Abweichung vom Orthodoxen, als eine schlichte „Gegen-Lehre“ oder ein bloßes Stilmittel, das sich selbst oder dem common sense widerspricht und durch stark antithetische, widersinnige Tendenzen gekennzeichnet ist. Darüber hinaus ist Paradoxie bei Amis eine Lebensmetapher, die eine ludistische Ebene überschreitet und tiefere Schichten philosophischer Grundfragen freilegt. Im engsten Sinn soll Paradoxie als literaturwissenschaftlicher und linguistischer Tropus, dem in Form von Epigrammen, Aphorismen, conceits und Wortspielen auf stilistisch-sprachlicher Ebene ein besonderer Stellenwert zukommt, verstanden werden. Amis setzt das Paradoxe als Form- und Sprachspiel zum Transportieren von Komik und Kritik ein. Paradoxe Strukturen in Relation zu generischen Fragestellungen zeigen sich in Amis‘ Werk in der in satirischen Texten verankerten Verbindung von Kritik und Komik als wesentliches Merkmal seines Œuvre. Durch das Element des Grotesken überzogen und zugespitzt dargestellt, wird das Figureninventar in Amis‘ Romanwelt oft ingénueartig zum Aufbrechen traditioneller Denkklischees eingesetzt. Zwar arbeitet Amis aus der Perspektive eines Zynikers verstärkt mit Kategorien der Ironie und Groteske, der Bereich des Paradoxen jedoch formt sich außerhalb konventioneller Komikkategorien und kann in seiner Drastik und Intensität auf zutiefst erschütternde Denkkrisen, unüberwindbare Dilemmata und menschliche Abgründe verweisen. Amis‘ paradoxe Literatur kann als Reaktion auf das Kollabieren von Werte- und Normensystemen gelesen werden. Kollabieren Wertesysteme, so löst sich Paradoxes auf, da es nur in direktem Bezug auf die Vorstellung von Orthodoxie greift und funktionsfähig ist und demzufolge nicht nur subversiver, sondern entgegen jeder Vernunft auch selbstauslöschender Natur sein kann. Als Angriff auf Vernunft und rationales Denken erweisen sich bei Amis Paradoxien als Antwort und Resultat auf Fragen nach Stereotypen und Klischees sowie Sinn und Sinnhaftigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit und Logik. Die Auffassung von Orthodoxie, von Konventionen, Werten und Normen impliziert immer auch eine ethische Dimension des Paradoxen, die Auflösung fester Denkstrukturen, eine Demontage klassifizierbarer Kategorien und den Angriff auf die Idee eines Holismusprinzips.

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Amis‘ Werk weist im literarischen Kontext der Postmoderne und Gegenwartsliteratur unterschiedlichste Formen und Funktionen der Paradoxie auf. Die Abkehr vom Sinnhaften und die Verabschiedung von der universellen Idee des gesunden Menschenverstands werden als Instrument gegen eine auf vermeintlicher Rationalität und Logik basierende Mentalität genutzt, um feste Kategorien von Sinn und Unsinn, Normativität und Perversion aufzubrechen. Inwiefern Paradoxien auch als Verkörperung des Anderen eingesetzt werden, zeigt im Werk von Amis die konsequente Devianz von einer gesellschaftlichen Mitte hin zu Perspektiven der Außenseiterfiguren. In die Romane integrierte Beispiele von Alteritätskonzepten erweisen sich für die Figurenebene als bedeutend, das Figureninventar basiert überwiegend auf dem von der gesellschaftlichen Mitte abweichenden sozial Anderen. Es handelt sich bei seinen Figuren meistens um Randfiguren der Gesellschaft wie Kleinkriminelle, Schwerverbrecher, in neurotischen Zwängen gefangene Identitätslose oder -suchende und groteske Exzentriker. Die zentrale Verlagerung der Außenseiterfiguren aus ihrer peripheren Zone betont Amis‘ Dezentrierung der Norm durch die Translokation der Paradoxie aus der Devianzzone des Marginalen in den Mittelpunkt. Das Andere bleibt in Amis‘ Welten nicht durch das Anderssein markiert, sondern entpuppt sich als beunruhigend vertraut und offeriert dem Leser meist unerwünschtes Identifikationspotential. Die Paradoxie stellt ein dem Gesamtwerk von Amis zugrundeliegendes Strukturelement dar, das sich als essenzielles Mittel seines Schreibens aus den subversiven Mustern im Text dechiffrieren lässt und darüber hinaus das Werk von Amis als eine einzige breit angelegte Paradoxie dekodiert.

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2. Formen und Funktionen der Paradoxie The statement below is true. The above statement is false.17

Bei dem vorangestellten Motto handelt es sich um eine Variante von Epimenides‘ berühmter Lügner-Paradoxie, die – unabhängig von gewählter Form oder Abwandlung – unweigerlich zu folgender Fragestellung führt: Sind die beiden Sätze wahr, oder sind sie falsch?18 Mit der nur mäßig befriedigenden Schlussfolgerung: Wenn sie wahr sind, dann sind sie falsch, und wenn sie falsch sind, dann sind sie wahr. Demzufolge ist das, was in den ersten beiden Zeilen dieses Kapitels zu lesen ist, wahr und falsch zugleich19: „Since the Liar sentence must be either true or false, but in either case this implies that the Liar sentence must be both true and false, it follows that the Liar sentence must be both true and false. This violates the Law of Non-Contradiction, and we have our paradox.”20 Die Lügner-Paradoxie impliziert die Formulierung einer nicht wahrheitsgetreuen Aussage, wenn vorher nicht auf das Folgen einer Lüge verwiesen wird. Tauchen Paradoxien im Rahmen von Selbstreferenzen auf, geht mit ihnen der Widerspruch einher, sie seien beides, wahr und falsch:21 Phänomene der Selbstbezüglichkeit und die mit ihnen häufig einhergehenden Paradoxien sind im Laufe der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte in der Regel als logische oder erkenntnistheoretische Probleme diskutiert worden, deren Lösung nach den Regeln der Logik und im Hinblick auf das damit einhergehende Wahrheitsideal angestrebt und verfehlt wurde.22

Abwandlungen der Lügner-Paradoxie tauchen in verschiedensten Formen und Ausführungen auf, als bedeutender „Logiker“ ist vor dem Hintergrund dieser Paradoxie die Holzpuppe Pinocchio zu identifizieren. Diese wünscht sich nichts mehr, als ein echter Junge zu sein, doch obwohl die leblose Hülle zum Leben erweckt wird, entspricht Pinocchio nicht der Norm. Mit jeder Lüge

17 Laurence Goldstein, „Reflexivity, Contradiction, Paradox and M.C. Escher“, Leonardo 29.4 (1996): 299-308, 299. 18 „If I say that I am lying, am I telling the truth? If I am, I am lying and so uttering a falsehood; but if I am not telling the truth I am lying, and so I am telling the truth. So my utterance is both true and false.” (Michael Clark, Paradoxes from A to Z (New York: Routledge, 2002), 99) 19 Vgl. dazu auch Justin Leiber, Paradoxes (London: Duckworth, 1993), 9: „What specifically makes this sentence paradoxical is that it has a peculiar property of instability so far as truth or falsehood go. The peculiar property is that if it is true, then it is false (that’s what it says, it says it is false, so if it is true then it must be false), but if indeed it is false, then it must be true (because that is what it says, namely, that it is false). And so on, chasing its own tale endlessly, crashing its own program.” 20 Roy T. Cook, Paradoxes (Cambridge: Polity Press, 2013), 33. 21 Vgl. Clark, Paradoxes from A to Z, 99. Vgl. dazu auch ebd.: Der „Liar Cycle“ ist eine erweiterte Form des Lügner- Paradoxes: Sokrates äußert, Plato spreche die Unwahrheit und vice versa. Beziehen sich beide Äußerungen auf die des jeweils anderen, so können sie nur richtig sein, wenn sie als falsch definiert werden können. Beide Äußerungen sind nur indirekt selbstreferentiell, dennoch findet ein implizierter Selbstbezug über die jeweils andere Aussage statt. Vgl. für eine überblicksorientierte Paradoxien-Sammlung beispielsweise Glenn W. Erickson und John A. Fossa, Dictionary of Paradox (Lanham: University Press of America, 1998). 22 Christoph Reinfandt, „Selbstreferenz“, in: Metzler Lexikon: Literatur- und Kulturtheorie, hg. Ansgar Nünning (Stuttgart: Metzler, 2004), 601; 601; im Folgenden MLL.

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Pinocchios wird seine Nase ein Stückchen länger. Welche Konsequenz führt jedoch Pinocchios Aussage herbei, seine Nase werde wachsen? An dieser Stelle setzt dasselbe Dilemma ein, das auch schon die einfache Form der Lügner-Paradoxie ans Licht bringt: Spricht er die Wahrheit, wächst seine Nase nicht und signalisiert, dass er gelogen hat. Lügt er, wächst seine Nase, dabei hat er die Wahrheit gesprochen.23 Auch Paradoxien ohne Selbstreferenz stellen konventionelle Denkschemata in Frage, wenn sie sich selbst widersprechen, wie das Beispiel des Barbier-Paradox erkennen lässt: Imagine a charming village, as yet untouched by the tourist trade, in which there is only one barber. He is extremely busy, for he cuts the hair of all and only those villagers who do not cut their own hair. But who, we may wonder, cuts the barber’s hair? Suppose he cuts his own hair. If he does, then, since he is a villager, he does not cut his own hair. Suppose, alternatively, that he does not cut his own hair. If he does not, then, since he is a villager, it follows that he does cut his own hair. So the barber in this village cuts his own hair if and only if he does not cut his own hair.24

Die Suche nach einer universellen Wahrheit verkörpert eine anthropologische Grundkonstante, die tief verankert und mit epistemologischen und ontologischen Fragen – den Bereichen Logik, Einsicht oder Erkenntnis, aber auch mit Aspekten der Eingebung, Erleuchtung oder Offenbarung – verbunden ist. Im Streben nach einer Definition der Seinsbereiche von Wirklichkeit und Wahrheit dreht sich alles um den Angelpunkt der Orthodoxie, den rechtmäßigen Glauben, als eine Art Richtlinie von Wertesystemen und etablierten Normen, Paradoxien jedoch können retrospektiv als verfrüht formulierte Wahrheiten dechiffriert werden.25 Orthodoxie ist das Fundament soziohistorischer und kultureller Entstehung von Normen und Werten innerhalb einer Gesellschaft und bestimmt ausschlaggebend die vorherrschende Konvention und den Zeitgeist ganzer Generationen. Dass sie diesen auch nur implizit beeinflussen kann – wenn Zeitgeist nämlich aus der Ablehnung von oder Auflehnung gegen orthodoxe Ideen entsteht und in der Entstehungsphase entgegen der Orthodoxie als richtungsweisendes Novum das Überdenken aktueller Normen und Wertvorstellungen ins Rollen bringt, vorantreibt und letztlich erzwingt – stellt ebenso eine Facette der Orthodoxie dar, wie die Wandelbarkeit, wenn sich das gegen die Norm Gerichtete von einer Positionierung im Marginalbereich allmählich zum eigentlichen Zentrum verschiebt.26 Die Orthodoxie kann mit dem Bereich des Paradoxen fusionieren und sich mit der Gesellschaft verändern, in der sie wie eine Pflanze gesät wird, aufblüht und letztlich verwelkt, denn aufgrund

23 Vgl. Cook, Paradoxes, 30. 24 Doris Olin, Paradox (Chesham: Mcgill Queens University Press, 2003), 3. 25 Vgl. Christoph Bode, „Das Paradox in post-mimetischer Literatur und post-strukturalistischer Literaturtheorie“, in: Das Paradox: Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, hg. Roland Hagenbüchle und Paul Geyer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002), 619-57; 620. 26 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stephen Greenblatts Konzept der sozialen Energie in Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations (Berkeley: University of California Press, 1988).

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ihrer intrinsischen Schnelllebigkeit zeichnen sich die Kategorien des Paradoxen und Orthodoxen besonders durch mangelnde Kontinuität aus.

2.1 Annäherung an den Paradoxiebegriff Paradoxien beinhalten eine Tendenz zu Dunkelheit und Rätseln und fordern dazu auf, durch die Suche nach Lösungsansätzen entschlüsselt zu werden. Elemente des Komisch-Humoristischen aber auch Absurd-Grotesken gehen mit paradoxem Schreiben fast zwangsläufig einher, der Kern paradoxer Inhalte aber deutet weit über humoristische Sprachspiele hinaus und verweist auf zentrale philosophische Fragestellungen: Paradoxien sind ernst zu nehmen. Anders als Scherzfragen und Party-Rätsel, die auch Spaß machen, werfen Paradoxien wichtige Probleme auf. Historisch sind sie mit Krisen und revolutionären Fortschritten des Denkens verbunden. Mit ihnen zu ringen heißt, nicht bloß ein intellektuelles Spiel zu spielen, sondern sich mit zentralen Fragen auseinanderzusetzen.27

Paradoxien keimen im Laufe der Literaturgeschichte verstärkt in Zeiten unterschiedlichster Krisensituationen auf, in Form des conceits in der lyrischen Subgattung der metaphysical poetry, als zentrales Stilmittel in Nonsens-Gedichten, als Konsequenz von auf Entropie und kulturellem Verfall basierenden Krisen des Fin de siècle,28 in Oscar Wildes Aphorismen, als Emblem des Absurden Theaters und in der Literatur der Postmoderne.29 In der Moderne „hat das Paradoxon häufig die Aufgabe, Sachverhalte zu formulieren, die sich der Ratio entziehen.“30 Paradoxe Formen symbolisieren nicht nur ein Zeichen für ein Zeitalter der Krise, sie signalisieren eine eigene Denkkrise, deren Auslöser sich in Widersprüchlichkeiten finden lässt. Diese Art der Denkkrise ist eng verbunden mit Konzeptionen von Logik, Antagonismen und Kontradiktionen und bietet die Basis für eine Stornierung rationalen Denkens, die in paradoxe Formulierungen keine Klarheit mehr bringen kann. Paradoxien bergen „unlogische Wahrheiten“ in sich und stellen für Disziplinen der Religion, Kunst und Literatur, die sich ebenso mit paradoxen Phänomenen auseinandersetzen wie Fachrichtungen, die sich mit dem Bereich der menschlichen Psyche beschäftigen eine Herausforderung dar.31

27 R.M. Sainsbury, Paradoxien, übers. Vincent C. Müller und Volker Ellerbeck (Stuttgart: Reclam, 2010), 11. 28 Vgl. für einen ausführlichen Überblick zum englischen Fin de siècle auch Die Nineties: Das englische Fin de siècle zwischen Dekadenz und Sozialkritik, hg. Manfred Pfister und Bernd Schulte-Middelich (München: Francke, 1983). 29 Vgl. J.A. Cuddon, A Dictionary of Literary Terms and Literary Theory (Chichester: Wiley-Blackwell, 2013), 510 sowie Rudolf Beck, Hildegard Küster und Martin Küster, Basislexikon anglistische Literaturwissenschaft (Stuttgart: Fink, 2007), 126. 30 Beck, Küster und Küster, Basislexikon anglistische Literaturwissenschaft, 127. 31 Vgl. Paul Geyer, „Das Paradox: Historisch-systematische Grundlegung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 11-24; 12.

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Paradoxie kann als Waffe gegen Formen von Systembildung eingesetzt und als Mittel der 32 Auflehnung gegen die Machtergreifung der Logik des Entweder-Oder gedeutet werden: „Paradoxien sind Reibungsenergien, die entstehen, wenn die zeitlose Logik des Entweder-Oder auf Gegenstandsbereiche historischer Bewußtseinsphänomene, oder allgemeiner, auf dynamische 33 Kontinua angewendet wird.“ Auf ihre rhetorische Energie bezogen, versteht sich die Paradoxie als „[a]bsurd oder widersprüchlich erscheinende Aussage, die sich aber bei genauerer Analyse als sinnvoll erweist.“34 Eine Nähe der Paradoxie zum Absurd-Komischen und der absurden Farce bei Samuel Beckett und Harold Pinter lässt die ambigue Widersprüchlichkeit der Farce erkennen. Als identitäts- oder sinnstiftendes Instrument dient die Paradoxie als Stilmittel der Farce, indem sie mit der Etablierung einer auf Subjektivität gegründeten Logik den gegebenen Konventionen widerspricht.35 Das Paradoxe unterliegt einer engen Verknüpfung mit dem Absurden, da „die inhaltliche Problematisierung des Absurden vielfach in paradoxen Formulierungen ihre Fortsetzung findet [.]“36 Es kann zwischen logischen und rhetorischen Paradoxien differenziert werden, die entweder einen Widerspruch zwischen Behauptetem, allgemein Anerkanntem oder Geglaubtem aufzeigen oder einen rhetorischen Tropus, eine abnorme Nebeneinanderstellung von unpassenden Ideen, verkörpern, um plakative Darstellungen und unerwartete Einblicke zu erlangen. Häufig ebnen rhetorische Paradoxien den Weg zu logischen.37 Paradoxien erlangen dadurch, dass sie erst als unsinnige Wortspiele erscheinen, bei genauerem Betrachten jedoch eine höhere Wahrheit implizieren können, eine besondere Wirkungsgewalt. Die Differenzierung zwischen partikulären und allgemeinen Paradoxien verweist auf die Unterscheidung des Paradoxen als rhetorisch brillante, epigrammatische Kurzprosa und Katalysator eines komplexen Denksystems: Originally a paradox was merely a view which contradicted accepted opinion. By round about the middle of the 16th c. the word had acquired the commonly accepted meaning it now has: an apparently self-contradictory (even absurd) statement which, on closer inspection, is found to contain a truth reconciling the conflicting opposites. Basically, two kinds may be distinguished: (a) particular or ,local’; (b) general or ,structural’. Examples of the first are short, pithy statements which verge on the epigrammatic – such as Hamlet’s line: ,I must be cruel only to be

32 Vgl. Geyer, „Das Paradox: Historisch-systematische Grundlegung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 11-2. 33 Ebd., 12. 34 Beck, Küster & Küster, Basislexikon anglistische Literaturwissenschaft, 126. 35 Vgl. Ute Drechsler, Die „absurde Farce" bei Beckett, Pinter und Ionesco (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1988), 74. 36 Christine Hober, Das Absurde: Studien zu einem Grenzbegriff menschlichen Handelns (Münster: LIT, 2001), 38. Vgl. ebd.: In Kierkegaards Terminologie verweisen die Begriffe „paradox“ und „absurd“ auf eine identische Problematik und werden darüber hinaus als Synonyme verwendet. 37 Vgl. Nicholas Rescher, Paradoxes: Their Roots, Range, and Resolution (Peru: Carus Publishing Company, 2001), 4. Vgl. hierzu auch die rhetorische Paradoxie, die Lord Darlington in Lady Windermere’s Fan äußert: „I can resist everything except temptation.“ (Oscar Wilde, The Complete Illustrated Works of Oscar Wilde (London: Bounty Books, 2006), 331) Dieses Beispiel demonstriert den Balanceakt Wildes auf der hauchdünnen Grenzlinie zwischen Sinn und Unsinn, deren Ausloten er zum literarischen Programm erklärte.

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kind’; and Milton’s description of God: ,Dark with excessive bright thy skirts appear’. The second kind is more complex. For instance, there is a paradox at the heart of the Christian faith: that the world will be saved by failure. A structural paradox is one which is integral to say, a poem. The works of the metaphysical […] poets, especially Donne and Marvell, abound in them. In fact Donne has been regarded as the first major English poet to develop the possibilities of paradox as a fundamental structural device which sustains the dialectic and argument […] of a poem.38

Etymologisch leitet sich Paradoxie aus den griechischen Begriffen para (jenseits, außerhalb, entgegen) und doxa (Glaube, Meinung, Erwartung) ab und beschreibt eine Behauptung oder eine Gruppe von Behauptungen, die unglaubhaft, also jenseits des Glaubens angesiedelt sind:39 „In the root sense of the term, paradoxes are thus a matter of far-fetched opinions, curious ideas, outlandish occurences and such-like anomalies in general that run counter to ordinary expectations.”40 Paradoxerweise verweist die etymologische Erklärung des Begriffs auf die Idee einer Gegenlehre oder Nebenlehre, aber vor allem handelt es sich um einen Widerspruch, der nicht als Fehler ad acta gelegt werden kann, sondern so zwingend oder sinnvoll ist, daß er die Logik oder die Interpretation dazu herausfordert, sich mit ihm auseinanderzusetzen. P[aradoxie]n widersprechen entweder, wie es die Bedeutung nahelegt, dem common sense oder sie widersprechen sich selbst.41

Der Selbstwiderspruch der Paradoxie ist ihr zentrales Merkmal, Paradoxien verschreiben sich nicht der rhetorischen Manier einer Apodiktik, die Widersprüche und Abweichungen unterbinden will, sondern wirken als Denkangebot, das durch die Tendenz zur Selbsterodierung abweichende Meinungen zulässt, diese gar zu ihrem Fundament erhebt. Den common sense fechtet beispielsweise Oscar Wildes Essaytitel „The Truth of Masks“ an, sich selbst hingegen widersprechen das schon erwähnte Lügner-Paradox und dessen Abwandlungen. Im Bereich der Ideengeschichte wird die Paradoxie als Epochenphänomen verstanden, mit Bezug auf Autoren wie John Donne und Blaise Pascal, da sie die im Barock typische Spannung zwischen Diesseits und Jenseits in Form von Paradoxien zum Ausdruck bringen.42 Die Relation von Paradoxien und Epochenspannungen wird in der Verbindung zur Krise sichtbar. Das Zeitalter der metaphysical poetry stellt eine Schwellenepoche dar, die anhand einer verbreiteten skeptizistischen Grundstimmung neben Wahrheiten auch deren Gegenteil mitdenkt.43 Während der Strömung des

38 Cuddon, A Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, 510. Vgl. zur Thematik der Paradoxie des Glaubens auch Kapitel 6 dieser Arbeit ab Seite 101. 39 Vgl. Rescher, Paradoxes, 3-4. 40 Ebd. 41 Burkhard Niederhoff, „Paradoxie“, in: MLL, hg. Nünning, 511; 511. 42 Vgl. ebd. Auch im Werk der Autoren Jonathan Swift, Georg Christoph Lichtenberg, Blaise Pascal, Max Beerbohm und Julian Barnes sowie Regisseur und Schauspieler Woody Allen, die als Meister von Paradoxien gelten, kann das rhetorische Mittel als Epochenphänomen verschiedener Strömungen der Literatur- und Filmgeschichte erkannt werden. 43 Vgl. Wolfgang G. Müller „Das Paradoxon in der englischen Barocklyrik: John Donne, George Herbert, Richard Crashaw“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 355-84; 357. Vgl. auch Wildes Hinweis auf die

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Fin de siècle wird die Konstitution von Wahrheit ebenso als ambivalent aufgefasst. Wilde postuliert darüber hinaus, die Wahrheit der Kunst existiere gleichzeitig zu deren Gegenteil: „For in art there is no such thing as a universal truth. A Truth in art is that whose contradictory is also true.”44 Auch wenn Paradoxien auf den ersten Blick zur Erheiterung beizutragen scheinen, bergen sie – wie die Groteske in der Kunst – großes Potential für tiefgründige Auseinandersetzungen.45 Sie sind darüber hinaus mit ihrer Suspendierung alles Logischen und Normativen im Stande, einen Gewaltakt gegen Rationalität und Vernunft einzuleiten. Gegen Ende der Renaissance nimmt der Beliebtheitsgrad des Paradoxen in der Literatur als Konsequenz eines gedanklichen Umsturzes ab, durch den es zu einer Wertschätzung von Klarheit und Exaktheit kommt, mit der eine Abwertung der komplizierten, trickreichen Duplizität des Begreifens, die durch Paradoxien induziert wird, einhergeht.46 Die Ambivalenz und Vagheit führt zu einer verstärkten Sprachskepsis, die Paradoxien als ein Rätsel jenseits streng angeordneter Denkkategorien bestehen lässt, das eine universelle Wahrheit verweigert: Because paradox manages to be at once figure of speech and figure of thought, appropriate to a view of the universe profoundly metaphysical – and, more often than not, profoundly religious – it served to mediate all sorts of ideas and things which, under strict categorical arrangements, do not at first glance appear to „fit”. […] With increasing distrust of „words,” paradoxes degenerated into mere puzzles, whose answers were no longer expected to lead into the experience of real truth.47

Die Verbindung von Paradoxie und conceit ist in dem Ansatz, extrem heterogene Elemente zu einem Bild unter Zwang zusammenzuführen und in paradoxen Argumentationsstrukturen des conceits erkennbar.48 Insbesondere in der Dichtung der metaphysical poets dient das conceit der 49 Betonung des zu dieser Zeit vorherrschenden, vom Dualismus geprägten, Weltbildes: Das Paradoxale zeigt sich bei diesen Dichtern nicht nur im einzelnen gegen den Strich formulierten, Widersprüchliches zugespitzt ausdrückenden Urteil, sondern in der gesamten Argumentationsstruktur der Gedichte sowie in einzelnen Formelementen wie dem Enthymem, dem Oxymoron, der Antithese und besonders der Bildersprache.50

Wirkungsgewalt von Paradoxien in „The Decay of Lying“ durch Vivian: „[P]aradoxes are always dangerous things.“ (Oscar Wilde, „The Decay of Lying“, in: Intentions (Fairfield: 1st World Library, 2004), 29) 44 Oscar Wilde, „The Truth of Masks”, in: Intentions, 197. 45 Vgl. Mikhail Bakhtin, Rabelais and His World, trans. Hélène Iswolsky (Bloomington: Indiana University Press, 1984), 32. 46 Vgl. Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox (Princeton: Princeton University Press, 1966), 508-9. 47 Ebd. 48 „[T]he most heterogeneous elements are yoked by violence together.” (Samuel Johnson, Abraham Cowley, in: Lives of the English Poets, ed. L. Archer Hind (London: Dent, 1968), 1-45; 11) 49 Vgl. Müller, „Das Paradoxon in der englischen Barocklyrik: John Donne, George Herbert, Richard Crashaw“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 355. 50 Ebd., 356.

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Der Wandel der Wahrnehmung von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Weltbild führt zu einer tief verankerten Krise im Hinblick auf das menschliche Selbstbewusstsein. Paradoxie und conceit gehen eine Liaison ein, die ein Abhängigkeitsverhältnis hervorruft.51 Der Umgang mit dem Paradoxen zielt auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Selbstverständlichen ab, indem die Ebene des bloßen Sprachspiels oder rhetorischen Experiments durch existenzielle Fragen menschlichen Daseins erweitert wird. Die Lesererwartung oder das Vorurteil, wie es für den Verstehensprozess aus hermeneutischer Perspektive für das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen von Bedeutung ist, stehen in enger Verbindung mit der Illusion des „Selbstverständlichen“, die immer auch im Dienste einer Antizipation der Bedeutung des Gesamttextes etabliert wird. Die Nähe des Selbstverständlichen zur Vorurteilsstruktur und zum Stereotypen suggeriert vor dem Hintergrund des hermeneutischen Zirkels eine Sinnhaftigkeit, die aus der Beeinflussung von Einzelteilen und Gesamttext entsteht und sich über die durch Vorerwartungen geprägte Verstehenskonstitution definiert.52 Paradoxien erfüllen nicht nur eine ornamentale Funktion, sie wirken auch als epistemologisches Instrument, da sie die Auseinandersetzung mit dem Unerwarteten einleiten: [D]as Stutzen über das schlechthin Unerwartete und offenbar Widersinnige, das uns zum Verharren und zum Überdenken unserer Vorstellungen und Begriffe zwingt. Paradoxien haben immer – da sie nicht nur ‚irgendetwas‘ Unerwartetes sagen, sondern (viel skandalöser!) etwas, das man ‚nach allgemeiner Meinung und Kenntnis‘ […] wirklich nicht erwarten konnte – eine erkenntniskritische und potentiell erkenntnisfördernde Funktion. Deshalb ist es unumgänglich, bei jedem Paradoxon das Verständnissystem mitzudenken, den Verständnishintergrund zu spezifizieren, vor dem es sich erst als Anomalie erweist und abhebt. Die Widersprüchlichkeit des Paradoxons residiert nicht in ihm selbst, ist es doch nie einfach ‚da‘, unrelationiert, sondern immer ein in Bezug auf andere auffälliger Fall, gerade weil es aus einem (kognitiven/konzeptionellen/logischen) Rahmen fällt.53

Das Paradoxe stellt den Bereich des Selbstverständlichen und Normativen infrage und verübt im Zuge einer zutiefst skeptischen Hinterfragung stabiler und vertrauter Kategorien einen Angriff auf die Vernunft. Paradoxien werden häufig als Provokation, als Waffe, als scheinbar antirationales Instrument eingesetzt und markieren innerhalb der Vorstellung vom Normativen Risse und Widerstände: Common sense may seem like a seamless, timeless whole. But it really resembles the earth’s surface; a jigsaw puzzle of giant plates that slowly collide and rub against each other. The stability of terra firma is the result of great forces and counterforces. The equilibrium is

51 Vgl. ebd., 361. Das conceit, abgeleitet vom italienischen Terminus concetto, ist ein „ausgeklügeltes metaphorisches Gebilde, das überraschende Analogien zwischen entfernt voneinander liegenden Seinsbereichen aufzeigt.“ (Ebd.) 52 Vgl. Heinz Antor, „Hermeneutischer Zirkel“, in: MLL, hg. Nünning, 256-7; 256. 53 Bode, „Das Paradox in post-mimetischer Literatur und post-strukturalistischer Literaturtheorie“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 619.

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imperfect; there is constant underlying tension and, occasionally, sudden slippage. Paradoxes mark fault lines in our common sense world.54

Der Bereich des gesunden Menschenverstands oder common sense muss verlassen werden, der Versuch eines Lösungsansatzes oder des Verstehens einer Paradoxie dringt an die Grenzen rationalen Denkens vor.55 Paradoxien können Sprachstil und Sprachspiel zugleich sein.56 Formal öffnen sie den Bereich der Antinomien und Kontradiktionen, die zu einer in höchstem Maße ludistischen Erscheinung avancieren können und den Leser in ein herausforderndes Gedankenspiel, das in letzter Konsequenz zur Infragestellung jeglicher rationaler Denkstrukturen führt, zu verwickeln im Stande sind. Paradoxien stellen häufig ein Denkangebot, aber auch einen Denkanstoß für den Leser dar, der eine auf der Tendenz zu einer moralistischen Auseinandersetzung basierende Nähe zum essayistischen Denken erkennen lässt und als Denkvorschlag weit entfernt von universellen Gesetzen und allgemein gültigen Richtlinien positioniert ist.57 Essayistische – wie auch paradoxe – Wesensmerkmale besiedeln einen Denkraum abgelegen von Normativität und Präzision im Bereich des Pluralistischen und Vagen. Eng verbunden mit den für die Rezeptionsästhetik wichtigen literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten spielt die Reaktion und Rezeption des Lesers bei Paradoxien eine wichtige Rolle.58 Je nachdem, mit welcher Unmittelbarkeit paradoxe Denkanstöße transportiert werden,

54 Roy Sorensen, A Brief History of the Paradox: Philosophy and the Labyrinths of the Mind (Oxford: Oxford University Press, 2003), xii. 55 Vgl. zur Überwindung des gesunden Menschenverstands und normativen Denkkategorien auch die Galgenparadoxie in Sainsbury, Paradoxien, 299: „Es ist das Gesetz einer gewissen Gegend, dass all jene, welche in die Stadt hineinwollen, nach ihrem Anliegen dort gefragt werden. Wer wahrheitsgemäß antwortet, darf in Frieden kommen und gehen. Jene, die lügen, werden gehängt. Was soll mit dem Reisenden geschehen, der, nach seinem Begehr gefragt, antwortet: „Ich bin gekommen, um gehängt zu werden?“ Die Ausweglosigkeit dieses Szenarios verweist auf die typische, im Paradoxen angelegte Aporie, die sich häufig als moralisches Dilemma enttarnt. Die Relation der Paradoxie und Aporie prägt auch Sokrates‘ Mäeutik, eine Form intellektueller Geburtshilfe. 56 Vgl. zum Begriff des „Sprachspiels“ auch Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003), 26: „Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung dessen, was wir ,Zeichen‘, ,Worte‘, ,Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. […] Das Wort ,Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ 57 Für einen Überblick zum englischen Essay in seiner Blütezeit des 18. Jahrhunderts und bedeutenden Essayisten des 18. und 19. Jahrhunderts wie Richard Steele, Joseph Addison, Samuel Johnson, Henry Fielding oder Thomas de Quincey siehe auch The Great Age of the English Essay: An Anthology, ed. Denise Gigante (Ann Arbor: Yale University Press, 2008). Zur Literatur der französischen Moralistik von Michel de Montaigne, La Rochefoucauld oder Montesquieu vgl. Europäische Moralistik in Frankreich von 1600 bis 1950: Philosophie der nächsten Dinge und der alltäglichen Lebenswelt des Menschen, hg. Josef Rattner und Gerhard Danzer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006). 58 Vgl. Roland Hagenbüchle, „Was heisst ,paradox‘? Eine Standortbestimmung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 27-43; 40-1: Beim Erforschen von Paradoxien treten ein epistemologischer, ein performativer und ein appellativer Aspekt in Erscheinung. Der epistemologische Aspekt basiert auf dem Element der Negativität, also der Opposition oder Kontradiktion. Der performative Aspekt liegt in der Radikalität des Widerspruchs, die zur Forcierung einer Neubestimmung beteiligter Termini neigt und die vorhandene Grenze in Frage stellt, wodurch die Bedeutung der Gegensätze, wie sie im Zeichen- und Wertesystem etabliert ist, einer Umformung in eine Bedeutungsrelation unterliegt. Dies kann vom Leser als eine Art Denkbewegung verstanden werden, die die festen Bedeutungsgrenzen als

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führt die Rezeption zu einer Anregung im harmlosesten Sinne bis hin zum Gewaltakt gegen den Leser im radikalsten Sinne des Paradoxen. Paradoxien stellen sich im Dienste satirischen Schreibens als provokatives Mittel des Satirikers heraus, das im Kampf gegen weitverbreitete, eingefrorene Denkstrukturen eingesetzt wird und in seiner Drastik rezeptionsästhetischen Bedingungen unterliegt: „Despite the perception of nonengagement, then, paradox actually and inevitably engages its readers and audience. It not only encourages participation but requires it. Colie recognized paradox’s paradoxical relationship to commitment[.]”59 Das Paradoxe bedarf eines Publikums, es wird in seiner Funktion ohnehin erst im Hinblick auf den zu erwartenden Widerhall zum Angriff auf die Orthodoxie: „Without resonance, paradox is dead.”60 Die Reaktion auf Verstörendes und Schockierendes geht nicht allein vom Text aus, sondern bezieht auch kontextuelle Fragen ein. Die Paradoxie verursacht beim Rezipienten erkenntnisstiftende Reaktionen, die von Effekten der Überraschung und Erschütterung bis hin zu traumatischen Konsequenzen reichen können: Das Paradoxon ist ein Denk- und Sprachmodus, der sich in logischen Widersprüchen manifestiert. Diese Widersprüche sind Scheinwidersprüche, denn sie verhüllen verborgene Wahrheiten. Ihre Enthüllung löst im Rezipienten psychische und kognitive Reaktionen aus. Auffällig ist das Plötzliche und geradezu Schockartige solcher Erkenntnisvorgänge.61

Paradoxien beinhalten ein erhöhtes verbales Gewaltpotential – das Verletzende am Paradoxen spiegelt sich in der Entlarvung von Eitelkeit oder mangelnder Intelligenz des Zuhörers – und deuten als eine Art Virenbefall des ‚gesunden‘ Menschenverstandes über eine normative Vorstellung des common sense hinaus. Der Leser soll mit einer Deviation vom Allgemeingültigen konfrontiert werden, das Unerwartete soll auf Konvention und Norm hinweisen, zur Rebellion auffordern und Widerstand leisten:62 „Der Idealtext des formalistischen Deviationsästhetikers ist

Vorurteile in Frage stellt. Der appellative Aspekt ist dort anzusiedeln, wo der Rezipient überredet wird, seine ihn beherrschenden Klischees und Stereotypen bezüglich sich selbst und der Welt neu zu reflektieren. 59 Peter G. Platt, Shakespeare and the Culture of Paradox (Surrey: Ashgate, 2009), 14. 60 Colie, Paradoxia Epidemica, 482-3. Paradoxien funktionieren häufig wie Irrlichter, die sich – im Gegensatz zu der Vorstellung bei genauerer Betrachtung zu einer höheren Wahrheit zu finden – auf den zweiten Blick auch als nichtig herausstellen können. Diese Idee, unabhängig vom erkenntnisbringenden Moment, prägt ebenso das Wesen des Paradoxen und beide Varianten verweisen auf dieselbe Crux der Paradoxie als unbefriedigendes, verstörendes Partikel, das einen Generalangriff auf die Vorstellung des vermeintlich Selbstverständlichen auslösen kann: „Like all examples of showing off, the epideictic paradox must either succeed or fail – if it succeeds, it demonstrates the kind of self-contradiction proper to paradox. If it fails, it eliminates itself. In other words, the paradox takes a risk simply by its own existence. It’s self-contradictions and self-references must remain integrally ambiguous, otherwise its rhetorical and stylistic failure cancels whatever meaning it has. Without resonance, paradox is dead.“ (Ebd., 483) 61 Heinrich F. Plett, „Das Paradoxon als rhetorische Kategorie“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 89- 104; 90. 62 Vgl. Bode, „Das Paradox in post-mimetischer Literatur und post-strukturalistischer Literaturtheorie“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 623.

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der paradoxe Text, weil er auf optimale Weise den Erwartungen und automatisierten Lesegewohnheiten des Rezipienten widerspricht bzw. entgegensteht.“63 Neben der Paradoxie als Werkzeug des Ludismus und als Denkangebot für den Leser öffnet satirisches Schreiben den Bereich der verbalen Vernichtung, in dem die Paradoxie vom Satiriker eingesetzt wird, um das Gegenüber durch verbale Gewalt, bloße Schikane, soziale Vernichtung oder radikale Auslöschung zu bedrohen. Die Paradoxie avanciert zur schärfsten Waffe des Satirikers, da vor allem in der Verbindung von Komik und Kritik, dem Spiel mit der satirischen Norm und durch die Infragestellung verkrusteter Denkstrukturen und Klischees eine soziokritische Funktion von Literatur zum Fokus des Schreibens wird. In der Paradoxie ist als Opposition immer auch das Orthodoxe anwesend, das auf Vorstellungen von Normen, Moral, Sitten und Konvention bei der Abhandlung paradoxer Gegenstände und Fragestellungen verweist. So ist die Kontrastfolie allgegenwärtig, Paradoxien sind als solche nur im Kontext zu und in der Abgrenzung von ihrem Pendant, dem Orthodoxen, zu begreifen. Durch diese Abkehr und Distanzierung von einer Vorstellung des scheinbar Selbstverständlichen und dem „rechten Glauben“ – zumindest im Falle einer etymologischen Argumentation – gelingt eine Verschiebung von Logik, Wahrheit, Präzision und Faktizität auf die Ebene des Widerspruchs, des Paradoxen, der Vagheit, des Konjunktivs. Der Zusammenhang paradoxer Fragestellungen mit dem ethischen Bereich von Moral und Normen, wird auch durch moralische Dilemmata deutlich. Werden graduelle Paradoxien (gut/böse, Identität/Alterität) wie komplementäre Paradoxien (verheiratet/ledig) behandelt und unterliegen einer Entweder-Oder- Perspektive, ist mit dem Blick auf die menschliche Wirklichkeit ein Pulverfass an paradoxem Potential zu vermuten.64 Der Gedanke des Normativen und der präzisierten Oppositionen muss der Idee eines Pluralismus der Wertesysteme weichen, der über die Stornierung gängiger, kulturell verinnerlichter Kategorien des Orthodoxen erlangt wird. Die Vorstellung, nur das Ganze sei ästhetisch und gut, die Aufwertung von Symmetrie, Harmonie und Proportion fällt dem skeptizistischen, zutiefst pyrrhonistischen Ansatz paradoxen Denkens zum Opfer, da Paradoxien auf Kosten holistischer Strukturen agieren und diese nicht selten zu vagen, fragmentierten Konstrukten degradieren. Die Relation von Paradoxie und Ethik ist in der Problematik des Begriffs der Normativität bereits angelegt. Das Nebeneinander-Existieren von Gegensätzen, das der paradoxe Raum zulässt, gar herausfordert, wird zum Zweck der Entlarvung fester Denkstrukturen benutzt: „[A] discourse in

63 Bode, „Das Paradox in post-mimetischer Literatur und post-strukturalistischer Literaturtheorie“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 623. 64 Vgl. Paul Geyer, „Zur Dialektik des Paradoxen in der französischen Moralistik: Montaignes Essais – La Rochefoucaulds Maximes – Diderots Neveu de Rameau”, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 385-407; 385.

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which opposites can coexist and perspectives can be altered.“65 Paradoxien zeichnet neben dem Moment des Widerspruchs und der Überraschung oder des Schocks – abhängig von der entsprechenden Drastik – auch der Aspekt des Grenzen-Auslotens und -Überschreitens aus. Werden Gegensätze als zwei sich exponentiell voneinander entfernende Überspitzungen ihrer Kontrarität dargestellt, kann der maximale paradoxe Effekt erreicht werden: The paradox is […] not only a contradicting or surprising opinion (out of the ordinary and shocking). It implies a passing to the extreme, a sort of „maximization,” as is said in logic nowadays. It is in reality a hyperbolic movement by which the equivalence of contraries is established […]. [T]he contraries themselves pushed to the extreme, in principle infinite, of contrariety. That is why the formula for the paradox is always that of the double superlative: the more mad it is, the more wise it is; the maddest is the wisest. Paradox is defined by the infinite exchange, or the hyperbolic identity, of contraries.66

Neben den genannten Aspekten des Extremen, der Maximierung, der Übertreibung und der Gegensätze als wesentliche Elemente des Paradoxen ist vor allem die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, Prämisse und Schlussfolgerung ein Kriterium, das das Paradigma des Paradoxen verdeutlicht. Demzufolge umschreibt der Paradoxiebegriff eine scheinbar unannehmbare Schlussfolgerung, die durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist. Der Schein muss trügen, denn das Annehmbare kann nicht mit annehmbaren Schritten zum Unannehmbaren führen. Also haben wir allgemein die Wahl: Entweder ist die Schlussfolgerung gar nicht wirklich annehmbar, oder aber der Ausgangspunkt bzw. der Gedankengang hat eine Schwäche, die nicht offen zutage tritt.67

Die Aspekte der Vorannahme, Prämisse, Schlussfolgerung und Syllogismen verweisen auf epistemologisch interessante Bereiche des Glaubens und des Wissens, die für eine Einordnung des Paradoxiebegriffs hilfreich sind und zur philosophischen Herausforderung beitragen: Somewhat loosely, a paradox is a compelling argument from unexceptionable premisses to an unacceptable conclusion; more strictly speaking, a paradox is specified to be a sentence that is true if and only if it is false. […] A paradox, in either of the senses distinguished, presents an important philosophical challenge. Epistemologists are especially concerned with various paradoxes having to do with knowledge and belief.68

Die Sein-Schein-Debatte kann durch Rekurs auf die Grundlagen der Platonischen Philosophie vertieft werden, vor dem Hintergrund von Platons Ideenlehre wird die Relation von Paradoxie und Wirklichkeitsbezug sichtbar. Die Basis der Ideenlehre beschäftigt sich mit der Ontologie von Idee und Erscheinung und erfährt ihre allegorische Inszenierung im Höhlengleichnis, das das gewöhnliche Dasein als unterirdisches Gefängnis, die Umgebung als Schatten und die Vereinigung der Seelen und der Welt der Ideen mit der Wahrnehmung der Dinge außerhalb der

65 Platt, Shakespeare and the Culture of Paradox, 1. 66 Philippe Lacoue-Labarthe, Typography: Mimesis, Philosophy, Politics, hg. Christopher Fynsk (Stanford: Stanford University Press, 1998), 252. 67 Sainsbury, Paradoxien, 12. 68 Jonathan Vogel, „Paradox”, in: A Companion to Epistemology, ed. Jonathan Dancy, Ernest Sosa and Matthias Steup (Chichester: Wiley-Blackwell, 2010), 572; 572.

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Höhle erscheinen lässt. Zentral stellt sich die philosophische Schlüsselfrage, ob dem Allgemeinen eine höhere Wirklichkeit als dem Einzelnen innewohnt oder umgekehrt, denn wenn die Ideen auch die Formen und Allgemeinheiten des Seins beinhalten, sind diese mehr als allgemeine Begriffe:69 „Sie haben durchaus Realität, ja, sie haben sogar, wie auch das Gleichnis zeigt, die einzig wahre (metaphysische) Realität. Die einzelnen Dinge vergehen, aber die Ideen bestehen als deren unvergängliche Urbilder weiter.“70 Eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Bereich von Paradoxien geht über die rhetorische und logische Ebene hinaus, die New Critics erheben das Paradoxe, neben Ambiguität, Ironie, Spannung und Komplexität zu einem „konstitutivem Element“ der Lyrik und verstehen die Ebene der Vermittlung durch Lyrik als paradox und Paradoxie als allgemeines Merkmal von Literatur als Synonym von Indirektheit:71 Paradox is the language of sophistry, hard, bright, witty; it is hardly the language of the soul. We are willing to allow that paradox is a permissible weapon which a Chesterton may on occasion exploit. We may permit it in epigram, a special subvariety of poetry; and in satire, which though useful, we are hardly willing to allow to be poetry at all. Our prejudices force us to regard paradox as intellectual rather than emotional, clever rather than profound, rational rather than divinely irrational.72

Die lyrische Potenz lässt Paradoxien als Destillationsprodukte ausgereiften Denkens erscheinen, die der Essenzbildung dienen und durchaus ätzenden Effekt verursachen können. Paradoxien bergen Dichotomien, die in einem Spannungsverhältnis nebeneinander bestehen und sich gegenseitig beinhalten:73 „Each element is traced through with its counterconcept; each element is simultaneously written and erased, both asserted and doubted. Deconstruction argues that this is the condition of all discourse [.]“74 Paradoxien integrieren Wahrheiten und deren Gegenteil, verleihen in einem bedeutungskonstituierenden Prozess sous rature dem Verneinten Gültigkeit. Die Infragestellung verfestigter Denkklischees und das Verwischen oder Auflösen ontologischer Grenzen findet sich auch in der Bilderwelt von Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) allegorisch durch das Auftauchen und Sich-Auflösen der Grinsekatze oder Cheshire Cat in der Wahrnehmung von Alice wieder: […] I wish you wouldn’t keep appearing and vanishing so suddenly: you make one quite guiddy!” „All right,” said the Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone.

69 Vgl. Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004), 180. 70 Ebd., 180. 71 Vgl. Hagenbüchle, „Was heisst ,paradox‘? Eine Standortbestimmung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 36. 72 Cleanth Brooks, The Well Wrought Urn: Studies on the Structure of Poetry (New York: Brace & World, 1947), 3. 73 Vgl. Harry M. Solomon, The Rape of the Text: Reading and Misreading Pope's Essay on Man (Tuscaloosa: The University of Alabama Press, 1993), 149. 74 Ebd.

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„Well! I’ve often seen a cat without a grin,” thought Alice; „but a grin without a cat! It’s the most curious thing I ever saw in all my life!”75

Das bekannte Bild aus Alice’s Adventures in Wonderland hinterlässt beim Leser einen Effekt der Verzerrung, Deformation und des Grotesken. Faszinierend und gleichzeitig unheimlich bleibt das bloße Grinsen der Katze sichtbar, während sich der Rest des Tieres langsam auflöst. Die Absage an Klischees und Klassifizierungen wird durch das groteske Figureninventar personifiziert und durch die Cheshire Cat explizit kommuniziert: „What sort of people live about here?” „In that direction,” the Cat said, waving its right paw round, „lives a Hatter: and in that direction,” waving the other paw, „lives a March Hare. Visit either you like: they’re both mad.” „But I don’t want to go among mad people,” Alice remarked. „Oh, you can’t help that,” said the Cat: „we’re all mad here. I’m mad. You’re mad.” „How do you know I’m mad?” said Alice. „You must be” said the Cat, „or you wouldn’t have come here.” Alice didn’t think that proved it at all: however, she went on: „And how do you know that you’re mad?” „To begin with,” said the Cat, „a dog’s not mad. You grant that?” „I suppose so,” said Alice. „Well then,” the Cat went on, „you see a dog growls when it's angry, and wags its tale when it's pleased. Now I growl when I'm pleased and wag my tale when I'm angry. Therefore, I'm mad.“76

Die These zeigt die starke Abhängigkeit des Paradoxen vom Bereich der Orthodoxie, die historisch variiert und durch einen wandelbaren, transformativen Charakter geprägt ist, der in der Differenzierung zwischen Hund und Katze anhand ihrer Verhaltensweisen, Instinkte und Reflexe aufgezeigt wird. Paradoxes Denken steht auch in Alice’s Adventures in Wonderland im Dienste der Inversion von Logik und wird zum Angriff auf Vernunft und Rationalität. Die Infragestellung der Vernunft, die als einzige und letzte über Wahrheit entscheidende Instanz begreifbar ist, führt zur Hinterfragung des Normativen.77 Paradoxien gehen bei Carroll eine enge Symbiose mit dem Bereich der Imagination ein, der großzügigen Spielraum für irrationale Komponenten bietet. Carroll kreiert eine kopfstehende Welt der Anti-Logik und spielt – in der Manier einer postmodernen Schreibart avant la lettre – mit den Lesererwartungen, indem er Bilder der Widersprüchlichkeit, Verzerrung und Infragestellung gemeingültiger Konventionen entwirft, die als Kritik an einem rationalen Denksystem zu betrachten sind.78 Paradox-groteske Erzählwelten weisen bei Carroll auf die Idee der multiplen Möglichkeiten, Wirklichkeiten und Wahrheiten hin, die auch das Aufstellen von Pluralismen sowie die Abweichung vom scheinbar Offensichtlichen beinhalten. Die Welt des Irrationalen besteht auch in Alice’s Adventures in Wonderland parallel zur Welt der Emotionalität und Liebe, als das, was der Vernunft und der Rationalität

75 Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland (London: Macmillan, 2005), 93-4. 76 Ebd., 90-1. 77 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Immanuel Kants These „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, in: Kant: Bestirnter Himmel und moralisches Gesetz: Zum geschichtlichen Horizont einer These Immanuel Kants, Peter Probst (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994), 10. 78 Vgl. dazu auch: „[I]t takes all the running you can do, to keep in the same place.” (Lewis Carroll, Through The Looking-Glass and What Alice Found There (London: Macmillan, 2006), 42)

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entgegengesetzt ist.79 Die Erzählung lehnt einen allgemeinen Wahrheitsanspruch vehement ab und ebnet den Weg ins Phantastische. Das Unwahrscheinliche gewinnt an Bedeutung und Imagination wird zum Weg weg vom rationalen Denken hin zur Freiheit verstanden. Die Beschaffenheit der Paradoxie scheint sich formal und inhaltlich in Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung der Welt und des Ichs stets wieder neu darzustellen. Dieser Aspekt zeigt sich in der Transformierbarkeit von Paradoxien. Sie unterliegen einem historischen Wandel, variieren also abhängig vom zeitgenössischen Kontext, verlieren oder gewinnen an Relevanz oder lösen sich gar komplett auf. Demzufolge wird die Paradoxie entweder auf der spielerischen Ebene verharmlost,80 oder erfahrungs- und erkenntnismässig fruchtbar gemacht; sie kann aber auch (so am fin de siècle) ennui kaschieren oder wie bei Kafka eine geradezu lebensgefährliche Qualität annehmen. Trotz der unbestreitbaren Indeterminanz bleibt der Terminus gerade deswegen nützlich, weil er einer Vielheit von Verwendungsweisen offen steht, deren Motivations- und Effektskala vom witzigen Amüsement bis hin zu brisanten existenziellen Grundfragen reicht.81

2.2 Paradoxien als rhetorisches Mittel Ironie ist ein rhetorisches Mittel, das zahlreiche parallele Eigenschaften zur Paradoxie aufweist. Die Ironie als Redewendung, als rhetorischer Tropus verstanden, leitet den Austausch eines Ausdrucks durch einen semantisch entgegengesetzten mit Hilfe von Ironie-Signalen ein. Ironie arbeitet auch im Dienste der Satire.82 Sowohl Paradoxie als auch Ironie können als „etwas, das mit dem commonsense im Widerspruch steht und deshalb widersinnig ist, das aber durch einen Schein von Richtigkeit oder Sinn Überraschung und Zweifel erregt und zur Auflösung einer Prüfung bedarf“ bezeichnet werden.83 Die Ironie kann dort loben, wo Tadel zu erwarten ist.84 Demzufolge

79 Vgl. Donald Rackin, „Love and Death in Carroll’s Alices”, in: Soaring with the Dodo: Essays on Lewis Carroll’s Life and Art, ed. James R. Kincaid and Edward Guiliano (Boulder: University of Colorado Press, 1982), 26-45; 27: „After all, THE KING AND QUEEN OF HEARTS stand prominently at the center of the punning world of Wonderland, and a spirit of love is expected to inform the audience’s emotional response to a child protagonist like Alice. Love also lies at the base of several of those important nursery rhymes Alice unwittingly subverts. And despite the Cheshire Cat’s assertion that madness reigns in Wonderland, the Ugly Duchess declares with equal finality, ,’Tis love, ‘tis love, that makes the world go round!’” Nonsens bleibt unvereinbar mit dem Motiv der Liebe, da diese Form der Literatur eine starre, statische und kalte Welt etabliert, die als lebloses Szenario dargestellt wird. (Vgl. ebd., 29) 80 Vgl. Hagenbüchle, „Was heisst ,paradox‘? Eine Standortbestimmung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 37. 81 Ebd. 82 Vgl. Wolfgang G. Müller, „Ironie“, in: MLL, hg. Nünning, 302-3. 83 Erwin Ihrig, Das Paradoxon bei Oscar Wilde (Marburg: Nolte, 1934), 13. 84 Vgl. Dilwyn Knox, Ironia: Medieval and Renaissance Ideas on Irony (Leiden: E.J. Brill, 1989), 16: „Now, whether ironia praised or blamed in one or one hundred words, it apparently remained the same. Ostensible condemnation of what was in fact being praised, or vice versa, was simply to state the opposite (contrarium) to the intended meaning, irrespective of the passage’s length. Indeed, an entire work could be cast as blame by praise or praise by blame.” Vgl. zu den Verknüpfungen von Lob und Tadel auch die ironische Enkomiastik in der Folge von Erasmus von Rotterdam: „Für die antike Literatur die Bleigewichte eines ‚Sinns‘ vorauszusetzen, von dem dann der ruchlose Unsinn der paradoxen Lobreden abfällt, hieße, aus ihr die Tradition der Verkehrung, des gewollten Un-Sinns zu eskamotieren. Humanismus und Renaissance greifen von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an die enkomiastische Tradition

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zielt sie – wie die Paradoxie – auf eine Inversion des Allgemeingültigen ab. Ein Unterscheidungsmerkmal jedoch ist die Implikation der ironischen Äußerung, dass es sich bei der Umkehrung nicht um die wahre Ansicht des Sprechenden handelt.85 Ironie kann sich das Paradoxe zugunsten einer Magnifizierung des Widerspruchs rhetorisch zu eigen machen und dadurch eine Intensivierung des Effekts erreichen: […] die Ironie ist eine Form des Paradoxen. Während der Urheber von Paradoxa in dem Widerspruch befangen ist und nur die eine Seite der Widersprüche sieht, erhebt sich der Ironiker über den Widerspruch, sieht beide Seiten und benutzt das Paradoxe, um dasjenige, was er als richtig erkannt hat, durch den Widerspruch um so krasser hervortreten zu lassen.86

Auch eine ornamentale Funktion, die dazu dient, den Diskurs auszuschmücken, definiert das Ironische,87 während das Paradox sein erstes Element wiederholt, um es gleichzeitig zu negieren und so ironische Effekte steigert.88 Der Aphorismus ist eine weitere rhetorische Kategorie, die das Mittel des Paradoxen einsetzt, um einen aufrüttelnden Effekt zu erzielen. Aphorismen kleiden paradoxe Gedanken in eine präzise, eingängige Form und zeichnen sich dadurch aus, dass die Paradoxie als Stilmittel in knappen, pointierten Merksätzen eingesetzt wird. Die Differenzierung zweier fast diametraler Wortdefinitionen des Aphorismus kann auf die voneinander abweichenden Interpretationen des griechischen Begriffs aphorizein zurückgeführt werden. Dieser kann entweder „abschneiden, abgrenzen, abtrennen“ oder „von einem Horizont abheben“ und „aus dem gewohnten Horizont seiner Aufgefasstheit herausstellen“ bedeuten.89 Die Abweichung der beiden Auffassungen voneinander ist bemerkenswert, da sie – ähnlich wie die etymologische Definition der Paradoxie als Gegen- oder Nebenlehre – zwei gegensätzliche Aspekte bezüglich der Natur des Aphorismus thematisiert: Auf der einen Seite erscheint der Aphorismus als etwas in sich Geschlossenes, Isoliertes oder auch „Selbständiges“, in jedem Fall aber „Weltloses“, ohne Bezug auf ein Ganzes, Umfassendes; auf der anderen Seite wird er gerade durch sein – freilich ungewöhnliches, den herkömmlichen Weisen des Einordnens widersprechendes – Verhältnis zu einem umgreifenden Verstehenshorizont bestimmt.90

der Antike wieder auf. Höhepunkt ist gewiß das Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam.“ (Heiner Boehncke, „Die Pest – Sprachspiel und Sünde“, in: Das Paradoxe: Literatur zwischen Logik und Rhetorik, hg. Carolina Romahn und Gerold Schipper-Hönicke (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999), 152-72; 166) 85 Vgl. Ihrig, Das Paradoxon bei Oscar Wilde, 13. 86 Ebd. 87 Vgl. Knox, Ironia, 7-8. 88 Vgl. Hagenbüchle, „Was heisst ,paradox‘? Eine Standortbestimmung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 29: „Während die Ironie mit einer impliziten Inversion arbeitet (,eine schöne Geschichte‘), wiederholt das Paradox sein erstes Element explizit so, dass dieses gleichzeitig verneint wird (,Leben heißt Sterben‘).“ 89 Vgl. Gerhard Neumann, Ideenparadiese: Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe (München: Wilhelm Fink, 1976), 27. 90 Ebd.

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Charakteristische Merkmale von Aphorismen sind Kürze, Konzinnität, Zusammenhangslosigkeit, Einprägsamkeit und Pointiertheit sowie die mit dem Aphorismus verbundenen Kategorien der Definition, der Antithese, der Proportion, des Chiasmus und der Paradoxie.91 Aphorismen riefen bis ins 18. Jahrhundert die Konnotation zum medizinischen Lehrsatz hervor. Im Anfangsstadium der medizinischen Wissenschaft wurden häufig Aphorismen, also Sätze ohne Zusammenhang, formuliert, die in einer Sammlung zusammenhangslos und unsystematisch gebündelt wurden.92 Die Gattung wurde um einen politischen und moralistischen Sinn erweitert; für die Weiterentwicklung zu einer literarischen, auf verbale Brillanz ausgerichteten Kunstform ist La Rochefoucaulds Werk Maximes (1664) wegweisend, während Blaise Pascals Pensées (1670) zur endgültigen Etablierung der aphoristischen Gattung beiträgt, den Weg für die wertvollen Wortjuwelen von Autoren wie Jean de La Bruyère, Marquis de Vauvenargues, Antoine de Rivarol, Nicolas Chamfort und Joseph Joubert ebnet und „die Literatur Frankreichs mit regelrechten Sternbildern aus funkelnden Gedanken und Sätzen bereichert“.93 In der englischen Literatur verschrieben sich hingegen Autoren wie Marquess of Halifax, The Earl of Chesterfield, Sir Francis Bacon, William Blake, William Hazlitt, Ralph Waldo Emerson und Oscar Wilde der Gattung des Aphorismus.94 Aphorismen treten als prägnante Äußerung mit einer allgemeingültigen Wahrheit auf, sie thematisieren vorzugsweise Leben und Natur des Menschen und definieren sich über ihren kurzen, selbständigen sowie isolierten Charakter,95 „es handelt sich um Sammlungen von losen Gedankensplittern und Fragmenten der Wahrheit.“96 Die bruchstückhafte Form des Aphorismus zeigt sich auch in der Verkörperung von Erfahrungsfragmenten, die als universelle Wahrheiten oder Halbwahrheiten literarisch inszeniert werden. Aphorismen versinnbildlichen den kollektiven Bereich der Erfahrung97 und sind keine Phantasieflüge; sie sind keine in den Gärten Hesperiens gepflückten Früchte; sie sind Produkte der uns vertrauten Erde und haben den Geschmack der Welt, in der wir leben. Sie umfassen den gesamten Bereich der praktischen Erfahrung, von den simpelsten Maximen der

91 Vgl. Ebd. 92 Vgl. Logan Pearsall , „Einleitung zu einer Sammlung englischer Aphorismen“, in: Der Aphorismus: Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, hg. Gerhard Neumann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1976), 144-58; 146. Vgl. ebd., 144 zu Bacons Ansatz des Aphorismus als Wissen im Werden: „In seinem ‚Advancement of Learning‘ unterscheidet Bacon zwei Arten des Schreibens, nämlich einerseits das Schreiben nach dem, was er ‚Methode‘ nennt, und andererseits das Schreiben in Aphorismen. Mit Methode meint er die formal gestaltete Redeweise, zusammenfassende Überblicke und Argumentationsketten, alle Kunstgriffe im Arrangieren und Ordnen, die einem wissenschaftlichen Traktat oder einem literarischen Werk ihre Form aufprägen. Das Schreiben in Aphorismen oder zusammenhangslosen Sentenzen ist seinerseits eine ‚gebrochene‘ Art und Weise, die Wahrheit zu sagen, und doch hat diese, wie Bacon hinzufügt, viele Vorzüge. Da es sich bei Aphorismen um Wissen ,im Werden‘ handelt, regen sie zu weiterem Fragen an.“ 93 Vgl. ebd., 145. 94 Vgl. ebd., 145-6. 95 Vgl. ebd., 147-8. 96 Ebd., 148. 97 Vgl. ebd., 149.

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Krämerweisheit bis zu den feinsten Benehmensregeln; und unser Wissen über uns selbst und andere, über das menschliche Herz und die Triebfedern seines Handelns, über Liebe und Haß, Neid und Ehrgeiz, über Charaktere und Sitten des Menschengeschlechts, über alle Schwächen, Torheiten und Absurditäten der menschlichen Natur ist in dieser umfangreichen Sammlung weiser Beobachtungen enthalten und verzeichnet. Aus diesen können wir mit größtem Nutzen eher etwas darüber erfahren, aus welchem Stoff wir gemacht und welche die Ursachen für Erfolg und Mißerfolg in dem großen Experiment des Lebens sind, als aus irgendeiner systematischen Abhandlung über die Natur des Menschen.98

Der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, liegt in der Funktion von Aphorismen. Diesem Auftrag gehen sie zielstrebig nach, vernichtend konfrontieren sie in ihrer unmittelbaren Eindringlichkeit. Sie „sind die Hornissen und Wespen der Reflexion, nicht die Schmetterlinge des Nachdenkens; oder wenn sie Schmetterlingen gleichen, dann sind sie Vielfraße wie jene und ernähren sich von den weniger idealen Aspekten der menschlichen Existenz.“99 Paradoxien können als Antidot eingesetzt werden, indem sie verfestigte Denkschemata aufbrechen, in Frage stellen, deren toxischen Effekt eliminieren und selbst als verbale Giftspritze gehandhabt werden. Jedoch kann einer kurzen Aussage der absolute Wahrheitsgehalt abgesprochen werden, da es für jede Weisheit auch ein Gegenstück gibt. Im besten Fall wird eine Facette der Wahrheit reflektiert, die Paradoxie stellt sich dabei als Falle für den Aphorismus heraus. Die dem Paradoxen innewohnende höhere Wahrheit verleiht auch dem Aphorismus eine Form der Tiefe, die weit über den Effekt des Amüsements oder die reine Auflehnung gegen das Allgemeingültige und die Konventionen der Zeit hinausgeht. Paradoxien, die diesen Anspruch nicht mehr erfüllen können, unterliegen einem überfälligen Verfallsdatum.100 Rezeptionsästhetische Aspekte sind auch für die Gattung des Aphorismus von Bedeutung, dessen Entkontextualisierung zu einer sinnstiftenden Funktion des Lesers führt: Der Aphorismus sagt nicht nur so wenig wie möglich, er sagt weniger als nötig. Dadurch ist er offen, voller Spannungen und Brüche, kann allein stehen und bedarf keines Umfeldes. Seinen Leser läßt er ins Leere laufen, zwingt ihn, die Folgerungen und Zusammenhänge selbst zu suchen, und erschafft sich auf diese Weise im Leser seinen Kontext und seine Welt.101

Die Konfrontation mit dem Aphorismus kann nur in eine Richtung lenken, das Ziel muss der Leser selbst bestimmen. Es ist nicht die Absicht des Aphorismus, die Wahrheit zu vermitteln, eher

98 Ebd. 99 Ebd., 151. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Charles Highways Sehnsucht nach einem familiär instabilen Umfeld in Martin Amis, The Rachel Papers (London: Vintage, 2003 [1973]); im Folgenden RP: „The thing is that I am a member of that sad, ever-dwindling minority ... the child of an unbroken home. I have carried this albatross since the age of eleven, when I started at grammar school. Not a day would pass without somebody I knew turning out to be adopted or illegitimate, or to have mothers who were about to hare off with some bloke, or to have dead fathers and shabby stepfathers. What busy lives they led. How I envied their excuses for introspection, their ear-marked receptacles for every just antagonism and noble loyalty.” (RP, 11) 100 Vgl. Pearsall Smith, „Einleitung zu einer Sammlung englischer Aphorismen“, in: Der Aphorismus, hg. Neumann, 152. Vgl. dazu auch Wildes Aphorismen „punctuality is the thief of time“ (Wilde, The Complete Illustrated Works of Oscar Wilde, 33) und „it is only shallow people who do not judge by appearances” (ebd., 18). 101 Pearsall Smith, „Einleitung zu einer Sammlung englischer Aphorismen“, in: Der Aphorismus, hg. Neumann, 152.

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soll die Wahrheit übertroffen werden, um Paradigmen zu hinterfragen und neue Blickwinkel als Alternative für starre Denkmuster zu finden.102 Sowohl Paradoxien als auch Aphorismen sind durch eine von Ironie geprägte Geisteshaltung definiert, die durch Witz, Verblüffung und Subversion das Bestehende aufzulösen und das Gewohnte zu verkehren vermag, das Paradoxe kristallisiert sich als wesentliche Ingredienz des Aphorismus heraus.103 Die Verbindung der Paradoxie zum Aphorismus ist in der binären Strukturähnlichkeit von Denkfigur und Gattung angelegt: Das Paradoxon gewinnt seine Wirkung vielfach daraus, daß es das Widersprüchliche in Gestalt eines axiomatischen Urteils formuliert. Nicht umsonst tritt das Paradoxon häufig markant in knappen, prägnanten Ausdrucksformen wie dem Aphorismus, der Maxime oder der Sentenz auf.104

Der antithetische Aufbau des Aphorismus und dessen Position zu Bereichen der Logik, Vernunft, Ratio und Aufklärung verdeutlichen die strukturelle Ähnlichkeit zur Paradoxie. Wie auch im Bereich des Paradoxen ist die Konsequenz aphoristischen Denkens in einem tiefen Skeptizismus und dem Angriff auf ein Holismusprinzip zu erkennen, da eine Tendenz zur Doppeldeutigkeit und Vagheit den Leser weg von Präzision und Klarheit zur explosiven Sprache eines knappen Merksatzes führt. Der Wandel von Kürze und Präzision als typische Charakteristika zu ihrer Fähigkeit, eine zutiefst satirische Intention darzustellen, wird durch Lichtenberg als Bedeutungsverschiebung des Aphorismus manifestiert. In Sudelbücher (1800-1806) präferiert er den Terminus „Sentenz“ gegenüber „Aphorismus“.105 Der synonyme Gebrauch der Begriffe ist auch bei Nietzsche erkennbar, dessen bis zur Veröffentlichung von Also sprach Zarathustra (1883) bevorzugter Begriff „Sentenz“ später durch „Aphorismus“ ersetzt wurde.106 Amis verpackt Paradoxien als Epigramm, Oxymoron, pun107 oder Aphorismus und entwickelt paradoxe

102 Vgl. ebd. 103 Vgl. Bang-Soon Ahn, Dekadenz in der Dichtung des Fin de siècle (Göttingen: Cuvillier, 1996), 85. 104 Müller, „Das Paradoxon in der englischen Barocklyrik: John Donne, George Herbert, Richard Crashaw“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 358. 105 Vgl. Friederike Kleisner, Körper und Seele bei Georg Christoph Lichtenberg (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1998), 11-2: Lichtenbergs Sudelbücher besitzen den Charakter von „Gedankentagebüchern“ und gelten als Fundament des deutschen Aphorismus: „Ihm Bekanntes wird unter verschiedenen Aspekten auf seinen Gehalt getestet, alles ihn Interessierende oder ihn (erneut) Beschäftigende, (neu) Erfahrenes, gedankliche Verarbeitungen aus allen Wissensgebieten seiner Zeit findet in diese Sammlung Eingang, je nach seiner Stunden-, Tages-, ja Augenblickspriorität.“ (Ebd.) Die writing-to-the-moment-Konzeption erinnert auch an Michel de Montaignes Essais, die – ähnlich wie Lichtenberg und seine Aphoristik – die Gattung der Maxime als Kurzprosa prägen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hugo Friedrich, Montaigne (Berkeley: University of California Press, 1991 [1949]). 106 Vgl. Andreas Egert, Vom Wesen und Werden des deutschen Aphorismus: Essays zur Gattungsproblematik bei Lichtenberg und Nietzsche (Oldenburg: Igel Verlag Wissenschaft, 2005), 16-7. 107 Vgl. dazu auch die Äußerung des Protagonisten John Self in Martin Amis, Money (London: Vintage, 2005 [1984]); im Folgenden M: „Of the many directives gummed to the glass partition, one took the trouble to thank me for not smoking. I hate that. I mean, it’s a bit previous, isn’t it, don’t you think? I haven’t not smoked yet. As it turned out, I never did not smoke in the end. I lit a cigarette and kept them coming. The frizzy-rugged beaner at the wheel shouted something and threw himself around for a while, but I kept on not not smoking quietly in the back, and nothing happened.” (M, 105) Vgl. ebd., 303: „I can take a joke, I thought, even when the joke is my life, is myself. Me, I often feel like a good laugh. But it’s wearing thin, this joke, just like everything else. When I saw that my life had shape and

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Argumentationen, die eine Nähe zur in The Picture of Dorian Gray formulierten Stilistik Oscar Wildes offenbaren:108 „[T]he way of paradoxes is the way of truth. To test reality we must see it on the tight rope. When the verities become acrobats, we can judge them.”109 Die Paradoxie bei Wilde dekodiert sich, wie im Werk von Amis, als allgemein gültig und vorübergehend zugleich. Der vermutete Selbst-Widerspruch entschlüsselt sich auch bei Amis entgegen der ersten Erwartung als sinnstiftend.110

form, I was the first to scream with laughter. Dead witty, I thought. Life’s forms and shapes seem droll, until they feel like snares or curses, invalidations, inhuman handicaps. Maybe we are all crippled – or challenged, as they call it here. I am. I was challenged and the challenge won. No contest. I am a cripple in my detail, with my many tramp precincts. I am a rug retard, a gut bum, a gum gimp. I have ticker trouble. I know nothing. I am weak, wanton, baffled, faint. I need a new dimension. I’m tired of being a one-liner.” 108 Paradoxien entwickeln sich auch aus dem Spiel mit abgewandelten Sprichwörtern wie „Nothing ventured, nothing lost“ (RP, 65). Diese Textstelle bringt das für seine Eroberungsversuche geltende Motto von Protagonist Charles Highway in The Rachel Papers zum Ausdruck. 109 Wilde, The Complete Illustrated Works of Oscar Wilde, 30. Vgl. zum Element des Paradoxen bei Wilde auch Merlin Holland, Oscar Wilde: A Life in Letters (New York: Carroll & Graf, 2007), 137: „Between me and life there is a mist of words always. I throw probability out of the window for the sake of a phrase, and the chance of an epigram makes me desert truth.“ Auch in De Profundis formuliert Wilde seine Affinität zu Wortspielereien und Epigrammen auf ähnliche Weise: „I summed up all systems in a phrase, and all existence in an epigram.” (Hans-Christian Oeser, Oscar Wilde in Prison (Stuttgart: Reclam, 2004), 61) 110 Vgl. Ria Omasreiter, Oscar Wilde: Epigone, Ästhet und wit (Heidelberg: Carl Winter, 1978), 24-5: „Es gibt sich universal und ist doch zeitbedingt. Im scheinbaren Widersinn liegt eine sinngebende Bedeutung und in der blitzartigen Erhellung des Gegensatzes von Erwartung und Realität, löst sich die Spannung eben dadurch, daß sie als solche formuliert und ausgesprochen wird. Das Paradoxon ist nicht nur eine Spielerei, sondern in einem viel tieferen anthropologischen Sinn auch Spiel.“

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3. „Making schizophrenic babies“: Martin Amis und die Paradoxie von Dopplungsstrukturen

Die Frage nach Amis‘ literarischen Themenschwerpunkten erfuhr in den letzten Dekaden nicht unerhebliche Beachtung innerhalb der anglistischen Forschungslandschaft. Der Fokus verschiedener Monographien liegt dabei auf der Situierung von Amis‘ Werk im Kontext postmodernen Schreibens.111 Dabei steht besonders der Blick auf eine narratologische Unzuverlässigkeit, postmoderne Formexperimente – wie die Antichronologie der Erzählung in Time’s Arrow oder der Roman innerhalb des Romans in London Fields (1989)112 – und die Autor- Text-Beziehung, die besonders häufig im Hinblick auf den Roman Money: A Suicide Note betrachtet wurde, im Vordergrund analytischer Auseinandersetzungen.113 Insbesondere Time’s Arrow erweckte in der zeitgenössischen Forschungslandschaft großes Interesse und wurde in der Kategorie des Genres Traumaliteratur intensiv untersucht.114 In den letzten Jahrzehnten wurden einige Monographien zum Werk von Amis veröffentlicht, die einen Überblick über zentrale Themen und Motive seiner fiktionalen und nicht-fiktionalen Texte vorstellten. Verschiedene literarische Wegweiser, die durch den Dschungel satirischer Zerrbilder eines grotesken Figureninventars leiten, behandeln zentrale inhaltliche Schwerpunkte und bieten eine Sammlung von Rezensionen, Aufsätzen und Interviews mit Amis.115 Das zentrale Motiv des Paradoxen findet in den Einzeldarstellungen vermehrt Beachtung, jedoch häufig innerhalb der Abhandlung verwandter Themenschwerpunkte. Die sprachliche Schaffenskraft und der charakteristische Ton von Amis, der geprägt von Zynismus, Sarkasmus und Ironie paradoxe Strukturen auf rhetorischer Ebene aufweist sowie die generische Ausprägung des Paradoxen in Form von hochgradig satirischen Romanen und Kurzgeschichten, liegen ebenso im Fokus der Forschung wie auf paradoxe inhaltliche Motivik fokussierte Textinterpretationen. Der zentrale Fokus liegt nicht konkret auf Formen und Funktion der Paradoxie, verweist jedoch auf eine Literatur der Gegenläufigkeit und des paradoxen Widerstands durch die Analyse verwandter Kategorien. Paradoxe Strukturen und deren Bedeutung für Amis‘ Werk wurden in Verbindung mit anderen zentralen Motiven häufig als eine Abweichung vom Orthodoxen erkannt oder als tabubrechende

111 Vgl. Gavin Keulks, der mit Martin Amis: Postmodernism and Beyond eine Sammlung interessanter Studien zur Literatur Amis‘ veröffentlichte (Gavin Keulks, ed., Martin Amis: Postmodernism and Beyond (London: Palgrave Macmillan, 2006). 112 Vgl. Martin Amis, London Fields (London: Vintage, 2003 [1989]); im Folgenden LF. 113 Vgl. John A. Dern, Martians, Monsters and Madonna: Fiction and Form in the World of Martin Amis (New York: Peter Lang, 2000). 114 Vgl. Valentina Adami, Trauma Studies and Literature: Martin Amis’s Time’s Arrow As Trauma Fiction (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2008). 115 Vgl. Nicholas Tredell, ed., The Fiction of Martin Amis: A Reader’s Guide to Essential Criticism (Houndmills: Palgrave Macmillan, 2000) und Jonathan Noakes and Margaret Reynolds, Martin Amis: The Essential Guide to Contemporary Literature (London: Vintage, 2003).

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Literatur der Grenzüberschreitung analysiert. Das Hauptaugenmerk wurde wiederholt auf das auffällige Motiv der Dopplung gerichtet, das sich in verschiedenen Formen in der Literatur Amis‘ identifizieren lässt, wie der Symbolik von Spiegelungen, dem Narzissmus-Motiv und einer erhöhten Tendenz zu Dopplungsstrukturen sowohl auf narratologischer Ebene als auch im unausweichlichen Bild des Doppelgängers. Außerdem gehen viele Analysen auf die unübersehbare Färbung der Übersexualisierung ein, die die Bereiche Gender und Sexualität aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Die Rezeption variiert zwischen dem Vorwurf misogyner Textstrukturen und der Auslegung, Amis entlarve eine pornographische Übersexualisierung des gegenwärtigen Zeitgeists. Wenn sich die Erzählwelten in Amis‘ Romanen als Orte des Exzesses, des Rauschs und der Ekstase zu erkennen geben und vor einer Kulisse der Entropie und des Verfalls aufgebaut werden, überwindet wiederholt das Motiv des Melancholischen den Anschein von bloßem Tabubruch.116 Auch auf biographische Aspekte richtet sich in den zu Amis bislang veröffentlichten Monographien der Fokus. Die außergewöhnliche, unter den Schriftstellern der Gegenwart wohl einmalige Vater-Sohn-Konstellation von Kingsley und Martin Amis stellt das Hauptaugenmerk einiger Abhandlungen dar.117 Biographische Daten zu beiden Literaten und deren Beziehung zueinander sind ebenso Bestandteil der Ausführungen wie die vergleichende Gegenüberstellung zentraler Werke, wie Lucky Jim (1954) und The Rachel Papers (1973).118 Der Vergleich mit der Literatur seines Vaters, aber auch die Einflüsse und intertextuellen Verflechtungen mit amerikanischen Autoren wie Vladimir Nabokov, Saul Bellow oder Philip Roth rücken dabei ins Zentrum des Interesses. Eine detaillierte Abhandlung zu Wesen, Funktion und Struktur des Paradoxen in Amis‘ Werk, die verschiedene Schwerpunkte unter der Rubrik „Paradoxie“ als zentrales Strukturelement verbindet, ist aktuell noch nicht erschienen und soll in den folgenden Kapiteln geliefert werden. Das Ziel der angewandten Literaturanalyse ist die Darstellung und analytische Auseinandersetzung mit der hohen Dichte und Spannbreite paradoxer Erscheinungsformen in Amis‘ Literatur, die auf rhetorischer, stilistischer, formaler, semantischer und inhaltlicher Ebene in Erscheinung treten. Amis sieht den Kern des Schreibziels im Aufbrechen archaischer Denkstrukturen und der Kampfansage an Klischees, an überholte Ideen und veraltete Weltbilder. Paradoxien dienen dabei als Waffe gegen

116 Vgl. James Diedrick, Understanding Martin Amis (Columbia: University of South Carolina Press, 2004 [1995]) und Brian Finney, Martin Amis (New York: Routledge, 2008). 117 Vgl. Gavin Keulks, Father and Son: Kingsley Amis, Martin Amis, and the British Novel since 1950 (Madison: The University of Wisconsin Press, 2003) und Powell, Amis & Son: Two Literary Generations. 118 Amis‘ Schwierigkeit im Umgang mit auf seinen familiären Hintergrund begründeten Erwartungen und Vorurteilen bezüglich seiner Literatur ist auch in Money Bestandteil einer Szene, die den Schriftsteller „Martin Amis“ auf den Protagonisten John Self treffen lässt: „,Your dad, he’s a writer too, isn’t he? Bet that made it easier.‘ ‚Oh, sure. It’s just like taking over the family pub.‘” (M, 88) Vgl. in diesem Zusammenhang auch: „Like his father, Amis has had to bear the burden of being the voice of a particular (male) literary generation and, again echoing the experience of his father, critics have often found it difficult to assess his career dispassionately.” (Nick Rennison, Contemporary British Novelists (New York: Routledge, 2005), 7)

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gesellschaftlich weit verbreitete Mentalitäten, sie sind nicht nur Werkzeug im Dienste der Entlarvung überholter Normen, sie symbolisieren auch neue Dimensionen der Ungewissheit, die einem verunsicherten Zeitgeist innewohnt. Ihre verunsichernde Natur konfrontiert den Leser immer auch mit den Grenzen des angeblich Normalen und Natürlichen, das sich aus kulturellen und sozialen Normen, Wertvorstellungen und Konventionen entwickelt. Amis‘ Literatur lässt eine generelle Geisteshaltung des Hybriden und den Entwurf invertierter, auf den Kopf gestellter Welten erkennen. Der Prozess der Grenzüberschreitung, die Faszination des Bösen und eine Ästhetik der Brutalität sind ebenso charakteristisch für sein literarisches Werk wie die postmoderne Redefinition von Identität als paradoxes Konstrukt. Orthodoxem Denken als Maßstab von Moralvorstellungen und traditionellen Normen setzt Amis eine ,Normativität des Paradoxen‘ entgegen, die er konsequent und in verschiedenen Formen, auf der Ebene von Rhetorik, Stilistik und Erzählstruktur, aber auch im Bereich des Figureninventars und der Themenschwerpunkte in seinem Werk etabliert. Die charakteristische Tendenz des Paradoxen in Amis‘ Literatur lädt dazu ein, durch die Suche nach einer ,anderen Orthodoxie‘ dechiffriert zu werden. Das zentrale Attribut der Selbstkontradiktion der Paradoxie erzielt seinen Wirkungsbereich nicht im Apodiktischen, sondern erhebt Widersprüche und abweichende Meinungen zu seiner immanenten Grundlage. Amis setzt das Paradoxe als Mittel der Provokation ein, das vom Denkangebot bis hin zum verbalen Gewaltakt, den Leser zu einer Stornierung traditioneller Kategorien des Normativen zwingt. Als Folge des durch Paradoxien implizierten Moments der Überraschung oder des Schocks werden Grenzen ausgelotet und überschritten. Häufig führen aus Paradoxien hervorgegangene Erkenntnise zur Forderung nach einer Redefinition des Gängigen und Vertrauten. Durch Elemente des Komischen und absurd- groteske Welten und Gestalten schlägt sich Paradoxie in Amis‘ Literatur nieder, der Effekt humoristischer Sprachspiele siedelt sich jedoch jenseits einer suggerierten Heiterkeit und Belustigung in den düster-rätselhaften, bitterernsten Arealen paradoxer Angriffe auf das Sichere und Selbstverständliche an und entartet zum schmerzvollen Moment der Offenbarung bezüglich pervertierter Strukturen der Natur des Menschen. Der Effekt paradoxer Inhalte deutet auch bei Amis weit über sich hinaus und sensibilisiert für zentrale philosophische Fragestellungen, die durch das Spiel mit Sinn und Unsinn oder Logik und Anti-Logik ins Zentrum seiner Literatur gerückt werden. Paradoxien spielen mit dem Tabuisierten und dem Verbotenen, indem sie das Vertraute im Zuge einer Stornierung geläufiger Direktive und allgemeiner Standards unterlaufen. Eine tiefe skeptizistische Evaluierung stabiler und vertrauter Kategorien offenbart sich auch in Amis‘ Literatur als eine Invasion des Vernunftbereichs. Durch die Verabschiedung alles Logischen und Normativen greift die Paradoxie als Waffe und antirationales Instrument gängige

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Denkstrukturen an. Amis‘ Literatur kann als Verquickung logischer und rhetorischer Paradoxien gelesen werden, da eine Fusion verbreiteter Richtwerte und allgemein Anerkanntem mit dem sprachlichen Stilmittel einer von der Norm abweichenden Zusammenführung von unpassenden Ideen vollzogen wird. Die Differenzierung zwischen partikulären und allgemeinen Paradoxien verweist darüber hinaus auch in den Texten von Amis auf die Unterscheidung des Paradoxen als epigrammatische Form der Kurzprosa und Katalysator eines komplexen Denksystems. Das Einsetzen von Paradoxien jenseits rhetorischer Figuralität kulminiert in einer Reihe von Themenschwerpunkten, die in Amis‘ Gesamtwerk vorgefunden werden und durchweg die Paradoxie als Mentalität und Lebensmetapher offenbaren. Die Komplexität und Vielschichtigkeit des Paradoxen verwebt die Ebene der paradoxen Sprache und Motivik mit einer Paradoxie der Erzählstrukturen: In considering the fiction of Martin Amis, one cannot avoid a discussion of the postmodern in literature. Amis’ postmodernism is, in certain ways, amorphous […] being at once an agglomeration of forms (literary techniques and influences) and a challenge to those forms. Paradoxical, self-contradictory perspectives drive this fiction.119

Allerdings nimmt das Paradoxe auch die Gestalt einer Lebensmetapher und einer omnipräsenten Grundhaltung an, die sich im Umgang mit den von Amis dargestellten Themenwelten offenbaren. Die Paradoxie wird zum Allgemeinplatz, zum allgegenwärtigen Markenzeichen in Amis‘ Romanwelten, verliert paradoxerweise ihren Stellenwert als etwas hochgradig Gegenläufiges und Subversives, das gegen die Meinung oder den rechten Glauben verläuft und dekonstruiert sich damit selbst. Paradoxien verlassen die Marginalien, um sich im Zentrum auszubreiten, erklären die Ausnahme zur Regel, während Antilogik zum ordnungsstiftenden Zweck erhoben wird. Amis thematisiert das Paradoxe auf verschiedensten Ebenen, sowohl als Stilmittel als auch als Denkfigur und Lebensmentalität, als themenübergreifendes und -verbindendes Element, das gleichzeitig eine grundlegende Subversivität transportiert. Das von Amis literarisch stark eingebundene Dopplungsverfahren im Dienste der Paradoxie verweist häufig auf Erzählungen von Brüderfiguren oder Doppelgängern, die in Success, Dead Babies, Money, The Information (1995) oder House of Meetings (2006) den Kern paradoxer Figurenkonstellationen prägen.120 Die Möbiusbandstruktur in Other People: A Mystery Story (1981), die gedoppelte Erzählstruktur in Success sowie die temporale Paradoxie des Formexperiments in Time’s Arrow und der Kurzgeschichte „Bujak and the Strong Force or God’s

119 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 1. 120 Vgl. Martin Amis, The Information (London: Vintage, 2008 [1995]) und House of Meetings (London: Vintage, 2006); im Folgenden HM.

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Dice“ in Einstein’s Monsters (1987) bestätigen Tendenzen zum Paradoxen auf formaler Ebene.121 Amis benutzt narrative Prozesse, um strukturelle Symmetrie zu erzeugen, wie in Other People anhand von Prolog, Epilog und deren Parallelstruktur deutlich wird.122 Der strukturelle Aufbau des Textes verweist auf einen erhöhten Grad selbstreferentieller Metafiktionalität.123 Eine Nähe zur Möbiusband-Struktur lässt den Roman zu einer formalen Inszenierung des Paradoxen avancieren und einen an das geometrische Gebilde einer Doppelhelix erinnernden Aufbau erkennen.124 Eine paradoxe Erzählwelt und die Ablehnung konventioneller Kategorien inszeniert Amis häufig in der Transformation von Figuren, die plötzlich neue oder doppelte Identitäten annehmen, wie etwa die Doppelgänger Mary Lamb und Amy Hide in Other People, Quentin Villiers und sein alter ego Johnny in Dead Babies oder die Brüder Terence Service und Gregory Riding in Success sowie im Entwurf fremder Eigenwelten, wie den apokalyptischen Dystopien in London Fields und Other People, dem Experimentieren mit Zeitkategorien in Time’s Arrow und der Erzählstruktur des Möbiusbands in Other People: Der Ort des Paradoxons ist also genau dort, wo der Text sich den herkömmlichen Kategorien nicht fügt, das heißt in fiction dort, wo Figuren plötzlich ganz andere sind oder zwar gleich bleiben, aber unvermittelt anders heißen, oder sich gar ganz verflüchtigen zu bloßen vagierenden Stimmen, zum reinen Text; wo Räume sich merkwürdig verwandeln und befremdliche Eigen- Welten entworfen werden; wo Zeit sich streckt oder zusammenschnurrt, sich in Schleifen windet oder parallel, doch separat verläuft; wo Ursache und Wirkung durch unbegründete Kontingenz abgelöst sind; wo letztlich die Erzählsituation selbst unterlaufen wird durch paradoxe Selbstbezüglichkeit, infiniten Regreß, mise en abyme, ‚strange loops‘[.]125

121 Vgl. Martin Amis, Other People: A Mystery Story (London: Vintage, 2003 [1981]); im Folgenden OP und Einstein’s Monsters (London: Vintage, 2003 [1987]); im Folgenden EM. 122 Vgl. Stephen Jones, „Martin, Karl, and Maggie Too: Political Discourse in Martin Amis’s Other People: A Mystery Story“, (zuletzt besucht am 08.09.2014). Der Prolog eröffnet die Erzählung mit Vorausdeutungen („This is a confession, but a brief one. I didn’t want to have to do it to her. I would have infinitely preferred some other solution. Still there we are. It makes sense, really, given the rules of life on earth; and she asked for it.” (OP, 9)); und der Epilog schließt mit einem Versprechen („This is a promise. I won’t do anything to her if she doesn’t want me to. I won’t do anything to her unless she asks for it.” (OP, 224)). Durch die Erzählstruktur, die die Paradoxie einer Simultaneität in der Linearität erkennen lässt, werden traditionelle Kategorien von Ende und Anfang in Other People storniert. 123 Vgl. zur Paradoxie von Metafiktionalität in Linda Hutcheon, Narcissistic Narrative: The Metafictional Paradox (New York: Methuen, 1984), xii: „Its central paradox for readers is that, while being made aware of the linguistic and fictive nature of what is being read, and thereby distanced from any unself-conscious identification on the level of character or plot, readers of metafiction are at the same time made mindful of their active role in reading, in participating in making the text mean. […] What is interesting here is that it is the fiction itself that is attempting to bring to readers’ attention their central and enabling role.” 124 Vgl. zum Motiv der Zirkularität in Other People Jones, „Martin, Karl, and Maggie Too: Political Discourse in Martin Amis’s Other People: A Mystery Story“: „The analogy to the mathematical structures of a double helix and a Möbius strip suggests the precision and rigidity with which Amis has ,calculated’ his narrative structures, and it is the Möbius strip structure of Other People: A Mystery Story (1981) in particular that appears to have distracted many critics from any political content that the novel may contain.” 125 Bode, „Das Paradox in post-mimetischer Literatur und post-strukturalistischer Literaturtheorie“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 627.

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Amis setzt in Success die plötzliche Wandelbarkeit von Figuren, die Inszenierung von Doppelgängern und ein bizarres Spiel mit Erzählstrukturen ein, um eine Devianz von narratologischer Normativität zu erzielen. Seine Erzählwelten suggerieren einen Generalangriff auf Rationalität und Logik, gleichzeitig bleibt jedoch ein Abhängigkeitsverhältnis zum Konzept des Logischen bestehen. Logische Paradoxien manifestieren sich auf der Ebene semantischer und mengentheoretischer Paradoxien, in logischen Antinomien und als Paradoxien mit rekursiven Schleifen,126 die als strange loops auf die Textkonzeption als paradoxes Konstrukt verweisen: It is these strange, twisty patterns that the book spends so much time on, because they are little known, little appreciated, counterintuitive, and quite filled with mystery. And for reasons that should not be too difficult to fathom, I call such strange, loopy patterns ,strange loops’ throughout the book, although in later chapters I also use the phrase ,tangled hierarchies’ to describe basically the same idea.127

Strange loops verfügen über Desillusionierungsfähigkeiten, ihr kontraintuitives, unerklärlich- rätselhaftes Wesen leitet eine Stornierung konventioneller Lesegewohnheiten ein, die aufgrund des stark experimentellen Charakters der Erzählstruktur sowie des Verwischens ontologischer Ebenen von Fiktionalität und Faktizität und der Inkohärenz einer antiholistischen Weltkonzeption zustande kommt.128 Im Bereich der Figurenkonstellation zeigt sich die Inszenierung des Paradoxen bei Amis im Motiv der Dopplung: „Success is an orphan delirium, and the first of three fictions, of a series of turmoils, in which orphan and double meet.“129 Dem Motiv des Doppelgängers liegt die Paradoxie

126 Vgl. Hagenbüchle, „Was heisst ,paradox‘? Eine Standortbestimmung“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 31-2. 127 Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid (New York: Basic Books, 1999 [1979]), P- 2. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: „The ‚Strange Loop‘ phenomenon occurs whenever, by moving upwards (or downwards) through the levels of some hierarchical system, we unexpectedly find ourselves right back where we started. […] Sometimes I use the term Tangled Hierarchy to describe a system in which a Strange Loop occurs.” (Ebd., 10) 128 Auch Paradoxien erlangen ihre Wirkung durch widersprüchliche, kontraintuitive Schlussfolgerungen eines vermeintlich logischen Gedankengangs (vgl. Gary Hayden and Michael Picard, This Book Does Not Exist: Adventures in the Paradoxical (London: Continuum, 2009), 6). Die topologisch komplexen Erzählstrukturen in Other People dienen der Veranschaulichung des Bezugs zur Wirklichkeitsdarstellung. Durch die geometrische Dimension des Paradoxen im Text wird eine Nähe zur nomadischen Lektüre hergestellt und Linearität zugunsten einer rhizomstrukturartigen Non-Linearität aufgehoben. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizom (Berlin: Merve, 1977). Vgl. auch das Selbst-Bewusstsein der Figuren in Gödel, Escher, Bach, nachdem Hofstadter Überlegungen anstellt, sein Buch auf ,sexistische Ansätze’ hin zu überarbeiten: „Out of this internal battle suddenly came a long and rather amusing dialogue in which my various characters, having come to the realization that they are all males, discuss why this might be so, and decide that, despite their sense of having free will, they must in fact be merely characters in the mind of some sexist male author. One way or another, they manage to summon this Author character into their dialogue – and what does he do when accused of sexism? He pleads innocent, claiming that what his brain does is out of his control – the blame for his sexism must instead fall on a sexist God. And the next thing you know, God poofs into the dialogue – and guess what? She turns out to be female (ho ho ho).” (Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, P-15) Vgl. zum Motiv des Selbst-Bewusstseins literarischer Figuren auch Malcolm Bradburys postmoderne Kurzgeschichte „Last Things” in Malcolm Bradbury, Who Do You Think You Are?: Stories and Parodies (London: Macmillan, 2000). 129 Karl Miller, Doubles: Studies in Literary History (Oxford: Oxford University Press, 1985), 409.

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zugrunde, scheinbare Widersprüche wie das Eigene und das Andere miteinander zu verbinden, dem Original zu gleichen und simultan davon abzuweichen: [The] double is simultaneously identical to and different from – indeed, even opposite to – the original. It is always a source of fascination to the person who possesses it, because of the paradox that it represents (being simultaneously internal and external, here and there, opposite and complementary). In addition, it arouses extreme emotional reactions in the form of attraction or repulsion. The relationship between the two entities is one of dynamic tension and the meeting between them takes place when the ego of the original is particularly vulnerable.130

Amis‘ dritter Roman Success setzt die Paradoxie des Doppelgängers auf eindringliche Weise in Szene.131 Über die Dauer eines Jahres wird die Handlung Monat für Monat aus den Perspektiven der Brüder Gregory Riding und Terence Service wiedergegeben. Gregory und Terence sind Pflegebrüder und Kontrahenten, deren Beziehung zueinander von Neid, Abneigung und Rachegefühlen geprägt ist: „The novel is a malicious comedy of orphan malice and adolescent trauma. These heartless sufferers are for the most part rivals, and their competing diaries focus, again in traditional style on the capture and simulation of success – success with girls, and in the

130 Nicole Fernandez Bravo, „Doubles and Counterparts”, in: Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes, ed. Pierre Brunel, trans. Wendy Allatson, Judith Hayward and Trista Selous (London: Routledge, 1992), 343-82; 346. Das Spannungsverhältnis beider Instanzen prägt die Doppelgängersituation und trägt zur erhöhten Emotionalität der Thematik bei, die als Anziehung oder Abneigung des vermeintlich Anderen spürbar wird. In der Kurzgeschichte „Insight at Flame Lake“ ist das Doppelgängermotiv anhand der Schizophrenieerkrankung des Protagonisten Dan wiederzufinden: „Like most schizophrenics, I was born in the winter quarter. Many people are baffled by this seasonal disposition. With insight, however, the explanation seems straightforward enough. Fall and winter are the hardest times for the schizophrenic. They feel terribly schizophrenic in the fall and winter. Not until March or April do they feel like making love. Not until March or April do they feel like making schizophrenic babies.” (EM, 56) Die Leiden der psychisch unerträglichen Krankheit treiben Dans Vater in den Selbstmord. Die Symptome und Folgen von Schizophrenie werden in „Insight at Flame Lake“ aus zwei Perspektiven geschildert, durch Tagebucheinträge und Notizen von Dan und dessen Onkel Ned erhält der Leser einen Blick auf die Krankheit aus verschiedenen Blickwinkeln: die Sicht des Betroffenen und die eines Angehörigen. Neben der Doppelgängerthematik, die dem Wesen der Schizophrenie-Erkrankung zugrunde liegt, greift Amis in der Kurzgeschichte auch Kategorien wie Sinn und Unsinn, Logik und Anti-Logik oder Sein und Schein auf. Eine an die skurrile Welt in Alice’s Adventures in Wonderland erinnernde Verzerrung der Größenverhältnisse und dadurch implizierte Deformierung der Realität wird durch Dans gestörte, halluzinierende Wahrnehmung deutlich, als er die kleine Cousine Harriet als überdimensionales Zerrgespenst ihrer selbst vor Augen hat: „The baby gave a smile of greedy recognition, and I guess she was about fifteen feet away when, ,before my eyes‘, she started to grow. Within a second she was as large as a five-year-old; within a second more she was the size of a pig. I lay there as she billowed like a circus fatlady, the face growing faster than the body until it filled the room, my whole vision, until it seemed to burst the bounds of the house itself.” (EM, 58) Das Baby wird für Dan zur Inkarnation einer grotesken Gestalt, seine abgeklärte Reaktion auf die eigene Wahrnehmungsstörung integriert den Bereich der ratio und des gesunden Menschenverstands in die Schizophrenie- Debatte: „Alarming? Not really. A routine case of size-constancy breakdown. All the baby had done was crawl toward me. Our noses were almost touching, and I had a fisheye-lens view of her marbled eyes, her food-storing cheeks, her depthless teeth, and the ears, translucent, glowing like eyelids shut to the sun.” (EM, 58) Eingenommen von schizophrenen Wahrnehmungen, entwickelt Dan die Vorstellung, dass Harriet von derselben Krankheit befallen ist wie er selbst und nimmt das Baby als schizophrenes Wesen wahr, das die Diskrepanz zwischen Sein und Schein verkörpert. 131 Eine Parallele von Amis‘ Leben zu seinen Figuren in Success lässt sich an seiner Freundschaft zu Rob Henderson erkennen, der als Vorlage für die literarischen Figuren gedient haben soll. Auch die Leben der beiden Freunde Amis und Henderson verliefen entgegengesetzt, als Amis erfolgreicher Autor wird und Henderson immer tiefer stürzt: „Both small, good-looking and charming, the two quickly became friends. ‚They were the terrible twins – what they didn’t do isn’t worth recording […]. They were both 5ft 6in tall. It was Tweedledum and Tweedledee.’” (Harry de Quetteville, „Martin Amis: Me and My ,Terrible Twin’”, Telegraph (19.06.2009), (zuletzt besucht am 08.09.2014))

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working world.“132 Oberflächlich kommt die brüderliche Rivalität durch eine Art sinnbildlichen und in gewisser Weise auch buchstäblichen „Penisvergleich” der Protagonisten zum Ausdruck: I’m very keen indeed, as a matter of general principle, on picking up intimate details about Gregory. I want details, I want details, actual details, and I want them to be hurtful, damaging and grotesque. I nurse dreams of impotence, monorchism and premature ejaculation. I lust for his repressions and blocks; I ache for his traumata. (Why can’t he just kick the girls and be a proper queer? It would make things much simpler for me.) And above all, of course, I long for Gregory to be dismally endowed. I pine for it. All my life I’ve wanted his cock to be small. Even before I met him the meagreness of his member was paramount to my well-being.” (S, 10)

Jean Baudrillard erkennt in seiner Abhandlung zur Thematik des Klonens im Double einen wesentlichen Bestandteil menschlichen Seins, das das Individuum, wie die Seele, der Schatten und das Spiegelbild heimsuchen und verfolgen kann und in der Konsequenz die Paradoxie beinhaltet, das Subjekt bleibe es selbst und werde dem Selbst nie mehr gleichen133: „[T]he imaginary power and wealth of the double – the one in which the strangeness and at the same time the intimacy of the subject to itself are played out (heimlich/unheimlich) – rests on its immateriality, on the fact that it is and remains a phantasm.“134 Über das Motiv einer doppelten Ich-Erzählung integriert Amis eine zweidimensionale Erzählperspektive, durch die in Success beim Spiel mit der Verunsicherung des Lesers aufgrund unterschiedlicher Berichterstattungen zu identischen Situationen die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanzen maximiert wird. Die Erzählsituation unterliegt in Success einer grundlegenden Dichotomie. Die Erzähler treten als Protagonisten in Erscheinung, die Subjektivität wird paradoxerweise durch eine zweifache Ich-Erzählperspektive verdoppelt und gleichzeitig gespalten.135 Diese Spaltung kommt nicht etwa durch ein erzählendes und ein erlebendes Ich zum Vorschein, sondern basiert auf der zweifachen Erzählinstanz der Brüder Gregory und Terence. Der Leser erfährt eine Art Spiegelung der Erzählerfiguren, die sich beide als explizite, aber durch die Vermittlung von zweierlei Sichtweisen unzuverlässige Erzähler herausstellen. Die Paradoxie der geteilten und doppelten Erzählperspektive entsteht auch durch eine Abwandlung der multiplen Fokalisierung, die charakteristisch in Briefromanen zu finden ist, wenn dasselbe Ereignis aus

132 Miller, Doubles, 409. 133 Vgl. Jean Baudrillard, Simulacra and Simulation, trans. Sheila Faria Glaser (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1994), 95. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hutcheons Einschätzung der Photographie als simulakrumartigen Inbegriff eines postmodernen Mediums: „I have been suggesting that photography may be the perfect postmodern vehicle in many ways, for it is based on a set of paradoxes inherent in its medium, general paradoxes which make it ripe for the particular paradoxes of postmodernism. For example, photography could be seen as Baudrillard’s perfect industrial simulacrum: it is, by definition, open to copy, to infinite duplication. […] And its very instrumentality (be it in terms of either documentary testimony or consumerist persuasion) would seem to contest the formalist view of the photograph as autonomous work of art. There are still other paradoxes at the heart of the photographic medium: the subject-framing eye of the photographer is difficult to reconcile with the objectivity of the camera’s technology, its seemingly transparent realism of recording. […] Postmodern photographic work, in particular, exploits and challenges both the objective and the subjective, the technological and the creative.” (Linda Hutcheon, The Politics of Postmodernism (London: Routledge, 1989), 120-1) 134 Baudrillard, Simulacra and Simulation, 95. 135 Vgl. F.K. Stanzel, A Theory of Narrative (Cambridge: Cambridge University Press, 1984), 62.

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verschiedenen Perspektiven der sich schriftlich austauschenden Figuren beschrieben wird.136 Die narrative Methodik in Success ist vergleichbar, die Figuren liefern ihre subjektiven Schilderungen allerdings als isoliert voneinander entstandene Tagebucheinträge oder Notizen, die keinerlei Bezug aufeinander nehmen. Die beiden Protagonisten verkörpern den zentralen „Helden“ ihrer eigenen Erzählung und berichten im Modus einer dualistisch-autodiegetischen Erzählform, die den zugrundeliegenden Fokus auf zwei Versionen des Selbst richtet.137 Terrys Lebenslauf ist als Inbegriff menschlicher Tragik lesbar. Er wurde von Gregorys Eltern in jungen Jahren als Pflegekind aufgenommen, nachdem er unvorstellbare familiäre Traumata durchleben musste, wie den Tod seiner Mutter und die sich vor seinen Augen zugetragene Ermordung der Schwester durch den eigenen Vater.138 Der Blick in die dramatische Vergangenheit Terrys antizipiert die für den Roman durch die beiden Protagonisten so deutlich angelegte Struktur des Guten im Bösen und vice versa.139 Die Struktur des Möbiusbands erlaubt die Darstellung der Parallelgeschichten und -welten der zu Beginn so unterschiedlich erscheinenden Brüder. Beide beschreiben Alltagssituationen, die identisch und doch grundverschieden sind und aufgrund der Wahrnehmung ihrer Umgebung häufig das genaue Gegenteil des jeweils vom anderen zum Ausdruck gebrachten aufzeigen.140 Die formale Paradoxie der Erzählebene liegt in einem zentralen Widerspruch des Aufbaus. Die narrative Dopplung mit zwei unzuverlässigen Ich-Erzählern leitet eine skeptische Rezeption der auktorialen Integrität ein, da im Roman durch die gedoppelte Erzählsituation eine grundlegende Klarheit und Eindeutigkeit zugunsten einer narrativen Vagheit von Bedeutungskonstitution aufgegeben wird,141 obwohl das Doppelgängermotiv in Success gleichzeitig als ordnungsstiftendes Prinzip dient.142 Die geometrische Struktur des Romans ist, vergleichbar mit den zwei Achsen eines X, auf zwei eng miteinander verbundene Erzählsituationen ausgelegt:

136 Vgl. Gérard Genette, Narrative Discourse: An Essay on Method, trans. Jane E. Lewin (Ithaca: Cornell University Press, 1983), 189-90. 137 Vgl. ebd., 245. 138 Vgl. dazu auch die Paradoxie, mit der Terry seiner Freundin Jan vom Mord der Schwester durch den eigenen Vater erzählt und sein zwiegespaltenes Wesen zum Ausdruck bringen kann: „Oh, I’ve got so little resilience in my nature. This being alive, it‘s killing me. I’m just not up to it.” (S, 105) 139 Vgl. auch das Doppelgängermotiv als Ausdruck der Ich-Krise in der deutschen Literatur: „Das paradox erscheinende ‚Anti-mimetische‘ im Doppelgänger als Ausdruck der Ich-Krise ist in der deutschen Literatur schon seit Jean Paul festzustellen und hat sich auch in der Textstruktur niedergeschlagen.“ (Gerald Bär, Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm (Amsterdam, NY: Editions Rodopi, 2005), 444) Vgl. zur Ich-Spaltung in der viktorianischen Literatur auch Masao Miyoshi, The Divided Self: A Perspective on the Literature of the Victorians (New York: New York University Press, 1969). 140 Vgl. in diesem Zusammenhang auch eine Nähe zu Julian Barnes’ Roman Talking it Over (1991), der auf der Ebene der Erzählstruktur drei Ich-Erzähler über dieselben Ereignisse aus ihrer subjektiven Perspektive berichten lässt und John Fowles’ Roman The Collector (1963), in dem die Handlung aus den konträren Blickwinkeln eines Entführers und der Entführten vermittelt wird. 141 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 70. 142 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 47.

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Taken together, these monologues form an ,X’ whose intersection marks the death of Greg’s sister Ursula, to which both men have contributed. It also represents the crossing point in the fortunes of each: while one brother falls in the world, the other ascends. As this geometry suggests, and even granting the precisely rendered differences between the two […] they emerge as doubles of one another, much as Quentin and Andy do in Dead Babies. Only now such doubling is an explicit theme.143

Der Aufstieg Gregorys verläuft parallel zum Niedergang Terrys, bis sich die Erzählstränge der beiden Protagonisten überschneiden und Gregorys Aufstieg zu seinem Abstieg wird, während Terry aus dem Niedergang heraus neue Kräfte mobilisiert und über sich selbst hinauswächst. Die Zeitspanne der Handlung von Januar bis Dezember unterstützt die zyklische Struktur des Romans und die sich wandelnden, jeweils ins Gegenteil der Ausgangssituation entwickelnden Lebensumstände der Brüder hinterlassen am Ende des Romans, so wie auch zu Beginn, einen erniedrigten und einen aufsteigenden Erzähler.144 Die Doppelgängerthematik spielt mit den Schattenseiten der Psyche und verkörpert in ihrer inhärenten Paradoxie die in jedermann aufspürbaren Abgründe menschlicher Innenwelten. Die Integration des Phallussymbols als Zeichen von Macht und Lebendigkeit lässt den permanenten Vergleich ihrer Geschlechtsorgane und Potenz als stellvertretend für ein Konkurrenzverhalten der Brüder bezüglich ihres sozialen Status als Symbol für männliches Kräftemessen erscheinen. Gregory lebt seinen subjektiven Ausführungen zufolge ein Leben auf der Sonnenseite. So scheint er gesegnet mit Glück in der Liebe und Erfolg im Beruf, sein Leben gleicht einer einzigen Party, und überall, wo er auftaucht, zieht er neidische und bewundernde Blicke auf sich. Terry hingegen fristet seiner eigenen Schilderung zufolge ein tristes Dasein, das durch alltägliche Langeweile, einen frustrierenden Arbeitsplatz und Chancenlosigkeit beim weiblichen Geschlecht geprägt ist. Diverse Situationen, in die sich die beiden Brüder begeben, zeigen deutlich die Diskrepanz ihres Auto- und Heteroimagos auf. Gregorys Bericht über einen Restaurantbesuch mit der Schwester Ursula hebt sich im direkten Vergleich zu Ursulas Treffen mit Terry stark von dessen Darstellung ab. Gregory erzählt von einem Dinner im gehobenen Restaurant, in dem er als VIP-Gast empfangen wird, Terry führt seine Schwester lediglich in ein billiges Fast-Food-Lokal aus. Vor dem Hintergrund einer unmissverständlichen Diskrepanz von Gregorys und Terrys Darstellungen tritt Terry als emotional stark lädiert auf und wirkt durch unzählige Komplexe, sexuelle Zwangsgedanken, Gewaltphantasien und minimales Selbstbewusstsein in seiner Identität aufs Tiefste verunsichert. Von seinem eigenen Wesen geplagt, seiner Familienhistorie gepeinigt und inzestuösen Ereignissen in der neuen Familie nachhaltig beeinflusst – Gregorys Schwester Ursula verbindet bis in die Gegenwart des Romans zu beiden Brüdern eine sexuelle Beziehung –

143 Diedrick, Understanding Martin Amis, 48. 144 Vgl. ebd., 49.

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entwickelt Terry eine Sozialphobie und sieht sich als Opfer stark belastender Panikattacken. Gregory hingegen wird als eine Art Dandy, Bohemien oder Libertin dargestellt und verkörpert als Figur Strukturen der Paradoxie:145 als postmoderne Dandy-Figur fühlt er sich hingezogen zur zeitgenössischen Aristokratie, der upper class und bewegt sich in einer Existenz in den Zwischenräumen. Seine Bisexualität, der Bruch mit sexuellen Normen oder die Inzestvorfälle, die, nachdem sich seine Schwester Ursula das Leben nimmt, zu seinem Untergang führen, zeichnen das Bild eines Menschen, der in seiner eigenen Identität ebenso in paradoxen Strukturen verhaftet ist wie in seiner Beziehung zu seinem Gegenspieler Terry.146 Dabei stellen Gregorys inzestuöse Übergriffe sowohl das Produkt als auch die Verkörperung seiner krankhaft narzisstischen Wesenszüge dar, in denen seine Persönlichkeit gefangen ist.147 Die Geschichten von Gregory und Terry könnten auch unabhängig voneinander, nacheinander oder parallel zueinander gelesen werden, sie bieten eine chronologische und simultane Leseerfahrung zugleich. Die verschiedenen Erzähl- und Zeitachsen, distinktive Versionen des Gegenwärtigen, aber auch retrospektive Berichte der beiden über Vorfälle in ihrer Kindheit stehen im Dienst eines Spiels mit den Lesererwartungen und suggerieren ein postmodernes Selbst-Bewusstsein der Figuren. Bezeichnenderweise scheint der Begriff „Schizophrenie“ der einzige Terminus zu sein, den der sonst so fremdwortaffine Gregory nicht buchstabieren kann: „,Gregory! How do you spell ‚Schizophrenia‘?’ ,Oh, you’ll have to look that one up,’ I said wearily.” (S, 120) Diese Textstelle antizipiert den Untergang Ursulas, die vor ihrem Selbstmord auch schizophrene Tendenzen entwickelt: „And now Greg’s sister Ursula is going mad too: she is ,getting’ schizophrenia, rather in the way that other people get hay fever, or get rich quick, or get fucked up.” (S, 121) In der Mitte des Romans wird ein Schnitt im Leben beider Protagonisten vollzogen, der deren Positionen allmählich ins direkte Gegenteil verkehrt. Im August steigt Terrys Einkommen unerwartet an, er wird für seine Arbeit mit einem Bonus belohnt und beginnt, im Zuge seines langsamen Aufstiegs aus der emotionalen Schattenseite Rachepläne gegen Gregory zu schmieden. Der sonst so unscheinbare und schüchterne Terry kann sein Umfeld neu und lebendig wahrnehmen, allerdings verändert sich auch Gregory, der nun selbst zum Opfer von Panikattacken und Angstzuständen in der U-Bahn wird: „Now I’ve got this new thing in my life called panic. It was only a word to me until yesterday. What do I want with panic? Why can’t panic go and pick

145 Vgl. Paul Ableman, „Sub-texts“, Spectator 240.2815 (1978): 23-4, zitiert nach: The Fiction of Martin Amis: A Reader’s Guide to Essential Criticism, ed. Tredell, 36-7; 36. 146 Ebd. Vgl. für einen detaillierten Überblick zur literarischen Figur des Dandys Andreas Höfele, „Dandy und New Woman“, in: Die Nineties, hg. Pfister und Schulte-Middelich, 147-63 und Otto Mann, Der Dandy: Ein Kulturproblem der Moderne (Gerabronn: Wolfgang Rothe, 1962). 147 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 53.

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on somebody else?” (S, 169) Gregorys Panikzustände zeigen sich als Symptom eines diametralen Wendepunkts in der Handlung von Success. Die Diskrepanz zwischen Sein und Schein wird in ihrer Allgegenwärtigkeit auf die Spitze getrieben und befördert die beiden Brüder schlagartig in ein anderes Leben.148 Der diametrale Aufbau der beiden Erzählungen verstärkt die Unmittelbarkeit des Wendepunkts, danach zeigt sich die Entwicklung der Ereignisse und Figuren als komplementär entgegengesetzt, die Grenzen der Kategorien von Protagonist und Antagonist, Held und Antiheld verschmelzen. Da Anfang und Ende vorgegeben sind, kann der Aspekt der Endlosschleife nicht konsequent in die Erzählführung verwoben werden, die Parallelgeschichten jedoch können voneinander unabhängig oder einzeln gelesen werden.149 Terrys plötzlicher Reichtum und sein daraus resultierender Hedonismus verändern den Blick auf die Figuren ebenso wie der Raubüberfall, dem Gregory zum Opfer fällt. Die Szene löst beim Leser Mitgefühl aus und führt einen Wandel in der Darstellung von Gregory sowie die im Laufe der Erzählung vollzogene empathische Verlagerung herbei: „Terry says at the outset that he wishes to make us hate Gregory, and for much of the novel he succeeds; but at the end, with Ursula dead, Gregory broke and broken, and Terry increasingly vicious, our sympathy may have shifted.”150 Terrys Verhältnis zu Ursula erreicht eine neue Brisanz und führt zu einer allmählichen Distanzierung von Ursula und Gregory. Das Inzestmotiv wird im Laufe der Handlung von Gregory auf Terry verlagert, der eine negative Veränderung in seinem Umgang mit Ursula an den Tag legt, indem er sie durch die Mechanismen von emotionaler Erpressung und Manipulation unter Druck setzt. Ursula flüchtet vor der psychischen Grausamkeit und dem wiederholten Missbrauch durch Gregory in den Selbstmord:151 „Moreover, the reader’s initial sympathy for the poor ,yob’ Terry makes his newfound coldness all the more unpalatable: the reader is forced either to reverse his initial opinion or be implicated alongside Terry in Ursula’s death.”152 Das Doppelgängermotiv erlangt seinen Höhepunkt, als Gregory gewissermaßen zu Terry „wird“, die Figuren ineinander übergehen und verschmelzen: „Gradually he [Terry] begins to behave and talk […] rather as Gregory had done: they might almost be one person so interchangeable are the roles of failure and success.”153

148 Vgl. auch S, 170: „What happened to me down there? Everything has changed. That was all it took. A whole layer of protective casing has been ripped off my life. Nothing looks the way it used to look. […] I take nothing for granted any more: the tiniest action or thought is broken down into a million contingencies. I have come out. I am one of you now. Where did I catch all this?” 149 Vgl. als Beispiel einer Erzählstruktur des Möbiusbands auch Gabriel Josipovicis Kurzgeschichte Mobius the Stripper in Gabriel Josipovici, Steps: Selected Fiction and Drama (Manchester: Carcanet Press, 1990). 150 Blake Morrison, „Into Nastiness”, Times Literary Supplement 3967 (1978): 405, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 34-6; 35. 151 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 75. 152 Ebd. 153 Morrison, „Into Nastiness”, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 35.

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Sigmund Freuds Abhandlung des „Unheimlichen“, die unter anderem Motive der Dopplung am Beispiel der Doppelgängerthematik in E.T.A. Hoffmanns Elixire des Teufels (1815) betrachtet, erkennt charakteristische Merkmale von Doppelgängerfiguren in der Entwicklung eines verdoppelten, gespaltenen und ausgewechselten Selbst.154 Die Herausbildung einer Ich-Spaltung beider Protagonisten illustriert die in Success im Laufe der Handlung inszenierte Verschmelzung der Brüderfiguren. Durch Ursulas Selbstmord am Ende des Romans wird der Rollentausch der Rivalen endgültig vollzogen. Terry übernimmt vollends den arrogant-abwertenden, vernichtend- manipulativen Ton, für den er seinen Bruder früher zu verachten wusste: „I sort of hate to see him now. His grief is an unmanly and demeaning thing. He looks so pathetically at-a-loss, staring out of windows all day long, as if the rooftops might suddenly realign and make themselves new for him again.” (S, 207) Gregorys Lügenkonstrukte fallen am Ende des Romans in sich zusammen, seine finanzielle und private Situation entlarven sich als bloße Phantasmen einer Wunschvorstellung und Traumwelt, die zum Selbstschutz errichtet wurde. Die rezeptionsästhetische Paradoxie für den Leser mündet am Ende des Romans in dem Dilemma, die ursprüngliche Einschätzung der Brüder als mitleidsbedürftigem Waisen und arrogantem Lebemann überwinden zu müssen.155 Die „X”-Ausrichtung der Erzählstränge und die dadurch implizierte Umkehrung der Lebenssituationen führen zu der Erkenntnis, dass Gregorys Tagebucheinträge auf purer Selbstinszenierung basieren. Die Kategorien von Niedergang und Aufstieg werden durch die Janushaftigkeit der Figuren im Laufe der Handlung unterminiert:156 „However, Greg was never ‚high‘ enough to descend. He was pitiable from the beginning, actually starting at the bottom. His narrative of descend is a falsehood – a fiction within a fiction or metafiction[.]”157 Die Paradoxie der Erzählsituationen erfährt eine weitere Steigerung, wenn die Handlung als Rahmenhandlung der Binnenlüge Gregorys entlarvt wird. Metafiktionale Grundideen werden im Dienste der paradoxen Inszenierung eines alter ego eingesetzt. Ironischerweise ist demnach nicht nur Terry als Gregorys Doppelgänger identifizierbar, sondern auch die Konstruktfigur Gregory, die dieser selbst entwirft. Die gegensätzlichen Blickwinkel der Kontrahenten beinhalten dennoch ein Identifikationspotential, das trotz inzestuöser Grenzüberschreitung und misanthropischer

154 Vgl. Sigmund Freud, „The Uncanny”, in: Literary Theory: An Anthology, ed. Julie Rivkin and Michael Ryan (Malden: Blackwell, 1998 [1919]), 154-67; 162: „These themes are all concerned with the idea of a ,double‘ in every shape and degree, with persons, therefore, who are to be considered identical by reason of looking alike; Hoffmann accentuates this relation by transferring mental processes from the one person to the other – what we should call telepathy – so that the one possesses knowledge, feeling and experience in common with the other, identifies himself with another person, so that his self becomes confounded, or the foreign self is substituted for his own – in other words by doubling, dividing and interchanging the self.” 155 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 76. 156 Vgl. ebd., 75. 157 Ebd.

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Tendenzen zu greifen scheint. Die Präsenz des Guten im Bösen zeigt sich in den antagonistischen Positionen der beiden Figuren, die am Ende zu einer Einheit zusammenfließen. Das Leitmotiv der Dopplung und Spiegelung prägt die paradoxe Ästhetik bei Amis, das paradoxe Potential kommt allgemein in der Darstellung des selbstreflektiven, narzisstischen Textes sowie speziell in der Spiegelmetaphorik und dem Einsatz von Doppelgängern zum Vorschein:158 The uses of mirrors and doubles – from their metafictional to their gothic and even noir effects – is absolutely inherent to Amis’s style and his aesthetic. Indeed they define that aesthetic, which is one of realistic or mimetic absence and detachment. […] [E]qually as important, that phrase or sentence with a rhetorical ,spin on it’ often involves the double and usually – especially when it contributes to a denouement – comes with a chill of horror[.]159

Amis funktionalisiert Antinomien und Gegensatzstrukturen in Form von Paradoxien zum Umwertungsprogramm aller gängigen Wertvorstellungen, durch deren Spannungsfeld dem Leser neue Perspektiven vermittelt werden. Der initiierte Denkanstoß signalisiert jedoch auch eine Form der Verweigerungshaltung gegenüber endgültigen Antworten und Lösungen. Als Basis intellektueller Auseinandersetzungen mit der postmodernen Mentalität können Paradoxien weit über ihre eigene Widersprüchlichkeit hinausdeuten und zum Lieferanten neuer Ansätze postmodernen Denkens avancieren: „While unresolved paradoxes may be unsatisfying to those in need of absolute and final answers, to postmodernist thinkers and artists they have been the source of intellectual energy that has provoked new articulations of the postmodern condition.”160 Neben den Motiven der Schizophrenie und des Wahnsinns sowie der Tendenz zu Paranoia zeigen sich paradoxe Strukturen auf der Figurenebene am deutlichsten in der trickster-Figur Johnny in Dead Babies, dessen paradoxes Wesen durch sein Dasein zwischen den Kategorien, seine Existenz in den Zwischenräumen, auf den Höhepunkt getrieben wird. Dem guten Prinzip wohnt in den Romanwelten Amis‘ immer eine unüberwindbare Schattenseite inne, die maßgeblich am Verlust des Glücks beteiligt ist.

158 Vgl. Richard Todd, „Looking-Glass World in Martin Amis’s Early Fiction: Reflectiveness, Mirror Narcissism, and Doubles”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 22-35; 34. 159 Ebd. 160 Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, 21.

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4. „The great asocial”: Paradoxie und Groteske als satirische Gesellschaftskritik

If the morphology of Success seems like a well-constructed fable – with pride being unseated and humility being rewarded – this is not finally what the novel is ,about’. It would be more accurate to say that the device of the double enables the fable-like morphology, and it seems that this is how we should regard early Amis fictions that have often – insufficiently in my view – been described as satires, urban or not. Of course it would be foolish to deny that there is satiric or fable-like content, but unlike in Jonathan Swift’s prose, often conscribed into discussions of Amis’s, these things are served by another, deeper obsession – the obsession with doubles, self- reflectiveness, and inverted mimesis.161

Die Paradoxie der Erzählstrukturen und des Dopplungsmotivs spielt für Amis‘ Literatur eine ebenso zentrale Rolle wie die generische Ausprägung des Paradoxen in Form satirischen Schreibens. Die Auseinandersetzung mit Paradoxien führt häufig zu zirkulären und selbstbezogenen Debatten oder zu einem logischen Dilemma.162 Paradoxes Denken manifestiert sich neben der Tendenz zu stilistischen Paradoxien besonders über eine in Amis‘ Texten stark verwurzelte paradoxe Geisteshaltung, die eine Mentalität der Subversivität und das Antinomische als Lebensmetapher prägt. Die Allgegenwärtigkeit paradoxer Inhalte und Strukturen in Amis‘ Werken zeigt auch die Kategorisierung der Paradoxie als Genre, Modus und Mentalität auf. Eine generische Manifestierung des Paradoxen ist in Amis‘ Literatur an hochgradig satirischen Inhalten ablesbar. Distinktive Merkmale der Satire wie die Tendenz zum paradoxen Duktus, zur rhetorischen Figur des Ironischen – die als scharfe Waffe der Satire eingesetzt wird – und zu hyperbolischen Verzerrungen und Überspitzungen der Realität prägen bei Amis den satirischen Kern einer Literatur,163 die mit von Widersprüchen gekennzeichneter Textkonstruktion und ambiguer Bedeutungskonstitution paradoxe Inhalte zu Gunsten satirischen Schreibens inszeniert.164 Amis‘ satirische Technik setzt Paradoxie im Dienste des ludistischen Wortspiels ein,165 funktionalisiert dabei jedoch nicht nur leere Floskeln, sondern spielt mit der Idee gewaltsamer verbaler Energie, die zur Sprengkraft des Paradoxen konzentriert werden kann. Dass Satiren sowohl als Modus als auch als Gattung eingesetzt werden,166 kommt ebenso durch die für den Duktus von Amis‘ charakteristischen stilistischen und rhetorischen Paradoxien wie durch seine Zuwendung zur Menippeischen Form der Satire in Dead Babies zum Tragen, wobei Merkmale der Menippeischen Satire neben Dead Babies im Ansatz auch in Success, Other

161 Todd, „Looking-Glass World in Martin Amis’s Early Fiction: Reflectiveness, Mirror Narcissism, and Doubles”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 33. 162 Vgl. Jim Al-Khalili, Paradox: The Nine Greatest Enigmas in Physics (New York: Broadway Paperbacks, 2012), ix. 163 Müller, „Ironie“, in: MLL, hg. Nünning, 303. Vgl. ebd.: Ein Beispiel für dramatische, insbesondere tragische Ironie verkörpert Sophokles’ Ödipus im Motiv von „Ödipus‘ Verfluchung des Mörders seines Vaters […], die unwissentlich eine Selbstverfluchung ist.“ 164 Vgl. Frank Wünsch, Die Parodie: Zu Definition und Typologie (Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 1999), 26. 165 Vgl. Keulks, Father and Son, 148-9. 166 Vgl. Dustin H. Griffin, Satire: A Critical Reintroduction (Kentucky: The University Press of Kentucky, 1994), 4.

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People, Money, London Fields und Time’s Arrow zu finden sind.167 Etwas undifferenziertere, weniger gattungsspezifische Kennzeichen satirischen Schreibens sind in Money, Yellow Dog (2003) oder Lionel Asbo zu erkennen.168 Satirische Strategien werden von Amis häufig eingesetzt, um soziokulturelle Entwicklungen der Entlarvung einer markanten Doppelmoral preiszugeben. Zwar sind augenfällige Ähnlichkeiten zu sozialen Anliegen, wie die von Jonathan Swift und Charles Dickens nicht von der Hand zu weisen, im Kern bleibt Amis‘ Ansatz allerdings immer auch ein ästhetisch-stilistischer:169 Martin cannot therefore be neatly labeled a Juvenalian satirist such as Dickens or Swift, for although he shares with these writers a formalized social concern, his primary considerations remain stylistic and aesthetic, not social or political. Kingsley and Martin both deride the programmatic agenda that defines much Juvenalian satire; however, and importantly, they revaluate the form in unique, individual ways. Repulsed by the propagandistic tones and social activism of Juvenalian satire, Kingsley embraced Fielding’s Horation model. Martin, however, rejects the historical motivations of both Horatian and Juvenalian satire. His work is best positioned not at either extreme of the Horatian/Juvenalian spectrum but at its axis, where satire branches off into Menippean forms.170

Am satirischen Spektrum positioniert sich Amis‘ Literatur nicht etwa innerhalb der Juvenalischen oder Horazischen Form, sondern an deren Achse in der Rubrik der Menippeischen Satire. Die Zuordnung von Dead Babies zum Genre der Menippeischen Satire stellt sich jedoch als nicht unproblematisch heraus, da die Gattungsgrenzen nicht stark fixiert sind: „So begreift man die Menippea üblicherweise als narrative Form der Satire, die sich durch das formale Kriterium der parodistischen Mischung von Prosa und Vers (Prosimetrum) und durch einen ‚scherzernsten‘ Sprechduktus auszeichnet.“171 Zentrale Merkmale verkörpern die generische Grenzüberschreitung von Prosa und Lyrik sowie ein humoristischer, iocoser Ton der satirischen persona. Obwohl sich die Nähe zu Swifts Werk vor allem auf der Basis satirischer Tendenzen zeigt, stellt dieser deutlicher die Frage nach dem Menschen als politisches und religiöses Wesen in den Fokus der satirischen Intention und wirft einen moralischen Blick auf die Kondition des Menschen. Sein Anliegen ist die Auseinandersetzung mit dem Menschen als „linguistisches, religiöses und politisches Wesen.“172

167 Vgl. Keulks, Father and Son, 151. 168 Vgl. Martin Amis, Yellow Dog (London: Vintage, 2005 [2003]); im Folgenden YD. 169 Vgl. Keulks, Father and Son, 148. 170 Ebd. Im Hinblick auf das Selbstbild besteht jedoch auch eine Nähe Swifts zur Horazischen Satire: „Readers have often failed to notice, for example, that in many of his statements on satire Swift closely follows Horace, who always made it a point to show that he did not take either himself or his vocation too seriously. For example, Horace dimissively claims that his satirical versifying is merely an avocation akin to the way other men take up boxing, or ride horses, or even heavy drinking.” (Michael F. Suarez, S.J., „Swift’s Satire and Parody”, in: The Cambridge Companion to Jonathan Swift, ed. Christopher Fox (Cambridge: Cambridge University Press, 2003), 112-27; 114) 171 Dieter Fuchs, Joyce und Menippos (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006), 7. 172 Vgl. Suarez, „Swift’s Satire and Parody”, in: The Cambridge Companion to Jonathan Swift, ed. Fox, 112. Vgl. auch ebd.: „The serious business of Swiftian satire is that it invites (or provokes) the reader to be critical: that is, to judge. Most often, the judgments that Swift’s satires ask us to make go well beyond straightforward condemnation of the work’s obvious target; rather we are led to form a series of deeper judgments about language, religion, and

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Die Entwicklung satirischen Schreibens ist über eine generische Bandbreite gekennzeichnet, der Modus des Satirischen kann in Essays, Romanen, Reiseberichten und anderen Gattungen eingesetzt werden: Throughout its history, satire has aligned itself with all kinds of writing, both poetry and prose; it has accommodated itself in a host of genres, in epistles, fables, comedies, essays, travel accounts, allegories, and novels, picaresque as well as otherwise, not to mention strange(r) bedfellows like sonnets and odes, ballads and elegies.173

Die Referenz auf Swifts satirisches Werk wird nicht nur durch den Titel Dead Babies deutlich, der die Grundthese von A Modest Proposal aufgreift, sondern auch durch die satirische Intention des Romans.174 Swift manifestierte 1729 in A Modest Proposal from preventing the Children of Poor People from being a Burthen to their parents, or the Country seinen ironischen Vorschlag, die Armut in Irland durch Kannibalismus zu bekämpfen, indem er die schauderhafte Idee der Massenschlachtung von Kindern aus der Unterschicht und deren Verkauf an obere Schichten satirisch inszeniert:175 Much of Swift’s […] satire works by means of paradox too. A Modest Proposal is only the most obvious case of a shockingly heterodox opinion designed to shatter the comfortable belief of administrators and reformers, merchants and projectors, English and Irish, that proper measures are surely being taken to solve the „problem” of Irish poverty.176

Sowohl Amis als auch Swift nehmen aus einer paradoxen humanistischen Besorgnis heraus Bezug auf den jeweils mit großem Skeptizismus wahrgenommenen Zeitgeist, obgleich Amis‘ Obsession mit der Darstellung einer zu erhöhter Artifizialität neigenden Mentalität wenig mit Swifts Erzählwelten zu tun hat: Swift’s fascination with the shadowy recesses of the past and Amis’s open-eyed infatuation with the cheap and fake glitter of our junk age should place them on different literary wave lengths. What their novels share however is a paradoxical humanist concern with our „sad frightened time”. The cruelty and the anger, the fear and the insanity, the shame and the desire are all there for „ever after”, ingrained in the scarred surface of the characters’ lives, and the burning tautness of words, beyond the so-called postmodern disenchantment with the allegedly inadequate tools left to novelists in this age of aesthetic disillusion and cultural chaos.177

politics, and about the operations of human vice and virtue that govern these activities in others and in ourselves.” Auf Swifts bekannte skatologische Verssatiren nimmt Amis in The Rachel Papers intertextuellen Bezug. Vgl. dazu die Referenz auf Swifts Gedicht „Cassinus and Peter“ durch die Kapitelüberschrift „,Celia shits‘ (the Dean of St Patrick’s)“. (Vgl. Finney, Martin Amis, 36) Swift thematisiert in seinem skatologischen Gedicht einen ähnlichen Erkenntnisschock wie Amis in The Rachel Papers und die Darstellung des weiblichen Körpers entsteht immer aus einer Position der ironischen Distanz heraus. (Vgl. Carol Houlihan Flynn, The Body in Swift and Defoe (Cambridge: Cambridge University Press, 2005 [1990]), 88) Ebd.: „Swift’s consciousness of the absurdity of his position produces in ironic detachment that serves to protect him from the hysterical implications of his misogyny.” 173 Hermann J. Real, „An Introduction to Satire”, in: Teaching Satire: Dryden to Pope, ed. Hermann Josef Real (Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1992), 7-20; 9. 174 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 44. 175 Vgl. Vera und Ansgar Nünning, Englische Literatur des 18. Jahrhunderts (Stuttgart: Klett, 1998), 45. 176 Griffin, Satire, 53. 177 Catherine Bernard, „Dismembering/Remembering Mimesis: Martin Amis, Graham Swift”, in: British Postmodern Fiction, ed. Theo D’haen and Hans Bertens (Amsterdam, NY: Rodopi Press, 1993), 121-44; 121.

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Beide Autoren schreiben gegen literarische Konventionen an, mit dem Ziel, diese aufzubrechen. Die zugrundeliegende Logik dieser Konventionen soll genutzt, benutzt und zu einer „Rhetorik des Exzesses” umfunktioniert werden.178 Charakteristisch für groteske Formen der Literatur, bricht auch in Dead Babies in eine Welt des Alltags plötzlich und unausweichlich das Chaos in Form von Verderben hinein, das die vertraute Umgebung einem Verfremdungseffekt unterzieht und im Alltäglichen den Moment des Schreckhaften und Angsteinflößenden erkennen lässt.179 Paradoxie steht in den Romanen Dead Babies und Lionel Asbo: State of England im Dienste satirischen und grotesken Schreibens.

4.1 Paradoxie satirischen Schreibens in Dead Babies Neither a simple explanation of the satirist’s motivation – such as morality, nor a complex one – such as compensation, is wholly adequate, for there have been moral satirists and immoral, sentimental and brutal, crude and sophisticated. The satirist is a writer, but the writer is a person. […] What makes the satirist write satire is his unique adjustment to his society. The adjustment consists of exploiting his special talent: a playfully critical distortion of the familiar.180

Die Perspektive des Satirikers auf seine Umgebung erklärt sich durch die Wahrnehmung einer verzerrten Version der vertrauten Welt. Als Ziel satirischen Schreibens werden soziale und kulturelle Missstände freigelegt und verspottet, gegen die durch eine Fusion von Komik und Kritik angeschrieben wird, indem das Element des Komischen zum Zweck der „kritischen Intention“ als Waffe eingesetzt wird:181 „Komik und Kritik sind also nicht unabhängig voneinander, sondern die Komik richtet sich gegen den kritisierten Gegenstand mit dem Ziel, ihn zu verspotten und der Lächerlichkeit preiszugeben, um ihn (sozial) zu vernichten oder zu tadeln.“182 Den Satiriker zeichnet aufgrund der ständigen Auslotung zwischen Ideal und Realität eine erhöhte Sensibilität und Melancholie aus, die aus dem Bewusstsein einer Diskrepanz von Erwartung und Wirklichkeit rührt. Unerfüllte Erwartungen, die eine tiefe Traurigkeit und allgemeine Schwermut zu induzieren im Stande sind, offenbaren den Satiriker im Zuge der Realisierung dieser Diskrepanzen als Melancholiker.183 Den Satiriker kennzeichnet außerdem,

178 Vgl. Bernard, „Dismembering/Remembering Mimesis: Martin Amis, Graham Swift”, in: British Postmodern Fiction, ed. D’haen and Bertens, 123: „They [Swift and Amis] mean […] to subvert literary conventions from within, by using and abusing their logic, an excess of coherence generating eventually incoherence and a rhetoric of excess. They consequently establish a paradoxical dialogue with inherited norms. If hackneyed mimetic stratagems prove unable to account for an insane world, the same stratagems, carried to their limits, may recover a contradictory relevance to their referent.” 179 Vgl. Bakhtin, Rabelais and His World, 39. 180 Leonard Feinberg, The Satirist (New Brunswick: Transaction Publishers, 2009 [1964]), 80-1. 181 Vgl. Wünsch, Die Parodie, 25. 182 Ebd. 183 Vgl. Feinberg, The Satirist, 135: „Because the satirist is extremely sensitive to incongruities he is more than most men constantly aware of the wide chasm between the ideal and the actual. He is acutely conscious of discrepancies, many of which deal with unfulfilled expectations and are, consequently, tinged with sadness. The satirist usually is a melancholy individual.” (Ebd.)

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dass er Motive wie Hohn, Spott, Verachtung oder Zorn in seinem Bestreben, der Gesellschaft durch seinen aufmerksamen Blick den Spiegel vorzuhalten, ebenso einsetzt wie Sarkasmus, Vergnügen, Entrüstung oder Rebellion. Seine Beweggründe erweisen sich als vielseitig, die Zielscheibe bleibt jedoch gleich: die unergründbare Neigung des Menschen zu Torheit und Lastern.184 Die traditionelle Unterscheidung der Juvenalischen und Horazischen Form der Satire, den zwei grundlegenden Paradigmen satirischen Schreibens, basiert auf Drydens in Discourse Concerning the Original and Progress of Satire (1693) ausgeführten Differenzierung von Juvenals Satire als eine Art Bestrafung mit dem spitzzüngigen, geistreichen Ton einer saeva indignatio und Horaz‘ Satire, die auf Weltgewandtheit und guten Umgangsformen als eine Art ‚urbanem Spott‘ gegründet ist.185 Juvenals Absicht ist ein mit der scharfen und vernichtenden Waffe der Satire durchgeführter Angriff auf das Gegenüber, während Horaz in seiner Form des satirischen Schreibens einer humoristischen Grundhaltung verschrieben bleibt, Juvenals Satire ist auf tragische, Horaz‘ auf komische Effekte angelegt.186 Die beiden Kategorien verkörpern die Grunddifferenzierung einer auf totale gesellschaftliche Vernichtung bis hin zum Selbstmord angelegten Satire einerseits und einer dem bloßen Hohn und Spott gewidmeten satirischen Funktion andererseits. Ein zentrales Merkmal der Menippeischen Satire liegt in dem Anliegen der Darlegung innerer Einstellungen und der daraus resultierenden Kritik an menschlichen Verhaltensweisen, Charakterzügen und Geisteshaltungen:187 The Menippean satire deals less with people as such than with mental attitudes. Pedants, bigots, cranks, parvenus, virtuosi, enthusiasts, rapacious and incompetent professional men of all kinds, are handled in terms of their occupational approach to life as distinct from their social behavior. The Menippean satire thus resembles the confession in its ability to handle abstract ideas and

184 Vgl. Real, „An Introduction to Satire”, in: Teaching Satire, ed. Real, 8. Ebd.: „Although often denounced as agents provocateurs rejoycing in the art of giving offence, satirists usually regard themselves as writers refusing to succumb to resignation and indifference. Being incorrigible believers in the corrigibility of mankind, they are temperamentally incapable of coming to terms with the anarchy surrounding them if only to raise guilt and the desire to reform. Extending both a correction of, and a corrective to, abuse, satirists seek to annihilate folly and vice in its myriad of kinds. […] Despite their disaffection with the state of society as it is, satirists are more likely to be philanthropists than misanthropists. They attack because they care.” 185 Vgl. Fredric V. Bogel, The Difference Satire Makes: Rhetoric and Reading from Jonson to Byron (Ithaca: Cornell University Press, 2001), 30. Ebd.: „Juvenal is on the gallop, a vigorous and aggressive attacker; Horace is on the amble, a gentle and well-mannered humorist. […] Harshness and violence, at times strong enough to be disorienting as well as disturbing, are assigned to Juvenal, and that assignment in turn secures a more normative, less problematic ,Horatian’ dimension of satire that can serve to anchor the pieties of a more conservative reading of the mode.” 186 Vgl. Howard D. Weinbrot, Menippean Satire Reconsidered: From Antiquity to the Eighteenth Century (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 2005), 2. Ebd.: „Seventeenth- and eighteenth-century commentators defined as verse satire that form in which the poet praised the opposite of the vice attacked. Within this genus, such commentators then saw Horace as comic, Juvenal as tragic, and Persius as philosophical. These of course are not rigid categories but approximate and sliding places on a satiric spectrum’s genus plus its species with differentiae.” 187 Vgl. Dorothy J. Hale, The Novel: An Anthology of Criticism and Theory 1900-2000 (Malden: Blackwell Publishing, 2006), 102.

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theories, and differs from the novel in its characterization, which is stylized rather than naturalistic, and presents people as mouthpieces of the ideas they represent.188

Durch Figuren, die eine satirische Inszenierung von Mentalitäten verkörpern, wie der Sonderling, Virtuose, Parvenue und Enthusiast können Eigenarten wie Pedanterie, Bigotterie oder Habgier satirisch dargestellt werden. Im Epigraph von Dead Babies zieht Amis eine intertextuelle Verbindung zu Menippus: „…and so even when [the satirist] presents a vision of the future, his business is not prophecy, just as his subject is not tomorrow … it is today.” (DB, 10)189 Auf die Satire Menippus‘, der mit den Grundideen des Kynismus verbunden wird, verweist Amis zu Beginn des Romans, wenn der sympathische Quentin Villiers eine der großen Menippeischen Satiren des 18. Jahrhunderts, Denis Diderots Le Neveu de Rameau (1805), zu seiner Lektüre macht.190 Die Menippeische Form der Satire versteht das Böse und die Torheit nicht als Krankheiten der Gesellschaft, sondern als Krankheit des Intellekts.191 Die Gattungsbestimmung des satirischen Subgenres erweist sich als vage, der satirische Ton erklingt eher über bestimmte rhetorische Mittel als konkret generische Charakteristika: „It often attaches itself to other kinds of works within other dominant genres, and peers in as occasion requires. It is perhaps less a clearly defined genre than a set of variable but compatible devices whose traits support an authorial theme.”192 Dem satirischen Auftrag in Dead Babies folgt Amis mit zahlreichen Tendenzen zum Tabubruch und – ganz im Sinne Swifts – einer unverkennbaren Nähe zum Skatologischen: „Body fluids of all kinds flow copiously in Dead Babies, but they are not purgative. They express the varieties of personal and social disease produced by everything from parental neglect to the aestheticization of violence.“193 Häusliche Verwahrlosung und die Verherrlichung von Gewalt sind nur zwei Beispiele für die zugunsten des satirischen Effekts in die Handlung verwobenen sozialen Prägungen der Figuren. Die Thematisierung einer dem Leben inhärenten Obszönität stellt

188 Ebd. 189 Vgl. für einen weitaus kritischeren Ansatz auch Diedrick, Understanding Martin Amis, 39. Diedrick erkennt einen programmatischen Ansatz, der als „virtuelle Enzyklopädie der Menippeischen Effekte” weder die Vervollkommnung als Roman noch als Satire erreichen kann. 190 Vgl. ebd., 41. 191 Vgl. Northrop Frye, „Rhetorical Criticism: Theory of Genres”, aus Anatomy of Criticism, in: The Novel, ed. Hale, 97-106; 102. Ebd.: „The novelist sees evil and folly as social diseases, but the Menippean satirist sees them as diseases of the intellect, as a kind of maddened pedantry which the philosophus gloriosus at once symbolizes and defines.” 192 Weinbrot, Menippean Satire Reconsidered, 4. Vgl. auch ebd., 6-7: „In different exemplars, the satire may use either of two tones: the severe, in which the threatened angry satirist fails and becomes angrier still, or the muted in which the threatened angry satirist offers a partial antidote to the poison he knows remains. The form also may use or combine any of four cognate devices. Menippean satire by addition enlarges a main text with new generally smaller texts that further characterize a dangerous world. Menippean satire by genre sets a work against its own approximate genre, like an art of poetry, and either comments on it or uses it as a backdrop to suggest its own subject’s danger to the world. Menippean satire by annotation uses the sub- or side-text further to darken the already dark text. Menippean satire by incursion is a brief guerilla attack that emphasizes the danger in the text and then departs.” 193 Diedrick, Understanding Martin Amis, 43.

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außerdem ein Merkmal der Menippeischen Satire dar.194 Der satirische Kern bleibt über die übertriebene Darstellung der Gegenwart hinaus im Bild des „Theaters der Grausamkeit“ und dem „Körper als Bühne“ zu erkennen: „The worst tendencies of the present are exaggerated and projected into a post-seventies future that has become a theater of cruelty, with the body as its stage.”195 Amis stößt durch die oberflächliche Darstellung von zehn Figuren in Dead Babies an die Grenzen des satirischen Genres, eine detaillierte, den Leser mit den Figuren emotional verbindende Ebene der Figurendarstellung kann nicht konsequent verwirklicht werden. Während sich Amis‘ Debut noch als „semi-autobiographische satirische Komödie“ aus der Ich-Erzähler- Perspektive versteht, kann Dead Babies als „ausgewachsene Menippeische Satire“ kategorisiert werden.196 Auch eine karnevaleske Einstellung zur Welt kennzeichnet Amis‘ Form satirischen Schreibens:197 As in Dead Babies, the world of Bakhtin’s menippea is dangerously interior and unstable, leading to the inverted worlds of madness and dream, disillusionment and fantasy. Insanity, split personalities, unfettered dreams, ungovernable passions, suicidal tendencies – all figure not only structurally but also thematically into the work.198

Die invertierende Transformation einer gewohnten und vertrauten Umgebung in eine Welt des Wahnsinns, der Desillusion und gespaltener Persönlichkeiten, die sich durch den Kontrollverlust an einem geographischen und emotionalen Ort des Chaos orientierungslos wiederfinden und ihren eskapistischen Instinkten sogar mit suizidalen Tendenzen nachzugeben verlockt sind, prägt eine Form der Satire, die mit dem Prinzip der Paradoxie gültige Normen durch deren absolute Umkehrung aufzulösen vermag. Die Hauptakteure in Dead Babies bleiben in ihrem Entwurf minimalistisch gezeichnet und definieren sich größtenteils über die im Roman so häufig aufgegriffene psychische und physische Verfassung der „Straßen-Schwermut“ und des „stornierten Sex“: And inside the house itself perspective seems no less unreliable. Everyone is always blacking out at Appleseed Rectory, and they can’t remember farther back than a few days. Everyone tends to be either drunk or stoned or hungover or sick at Appleseed Rectory, and they have learned to be empirical about all sense-perceptions. Everything is out of whack at Appleseed Rectory; its rooms are without bearing and without certainty. The inhabitants suffer, too, from curious mental complaints brought on by prolonged use of drugs, complaints that can be alleviated only by drugs of different kinds. And so Appleseed Rectory is a place of shifting outlines and imploded

194 Vgl. ebd., 44. 195 Diedrick, Understanding Martin Amis, 44. Zu Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ und der zeitgenössischen Parallele im In-yer-face theatre Sarah Kanes und Mark Ravenhills vgl. auch Laurens De Vos, Cruelty and Desire in the Modern Theater: Antonin Artaud, Sarah Kane, and Samuel Beckett (Madison: Fairleigh Dickinson University Press, 2011). 196 Diedrick, Understanding Martin Amis, 39. 197 Vgl. Keulks, Father and Son, 152 sowie Mikhail Bakhtin, Problems of Dostoevsky’s Poetics, ed. and trans. Caryl Emerson (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1984). 198 Keulks, Father and Son, 152-3.

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vacuums; it is a place of lagging time and false memory, a place of street sadness, night fatigue and cancelled sex. (DB, 31)

Quentin Villiers‘ Landhaus Appleseed Rectory liefert in Dead Babies die Kulisse des moralischen Verfalls. Auf den ersten Blick vertritt das Figureninventar schlicht den Zeitgeist sexueller Liberalisierung, beim genaueren Betrachten einzelner Beziehungsverknüpfungen und den Verunsicherungen der Figuren wird der Grad der innerlichen Zerstörung der Protagonisten unübersehbar.199 Die satirische Wirkung des Romans entfaltet sich auch in der Erzählerstimme der auktorialen Erzählinstanz. Vergleichbar mit den Erzählerfiguren in Romanen von Henry Fielding oder Cervantes, Goethe oder Thomas Mann, kennzeichnet auch den auktorialen Erzähler in Dead Babies eine zutiefst ironische Gesinnung:200 Swift always maintains a clinical distance from the characters and narrators who are the targets of his satire; Amis is, to varying degrees, complicit with his. This is registered in Dead Babies in varying ways, most noticeably in Amis’s uncertain control of tone at crucial moments. While he strives for and usually maintains a coolly detached point of view, at times his judgement fails him and his writing goes soft. Near the end of the novel, for instance, just before doom descends, the narrator abandons satire for bathos [.]201

Der Wechsel vom Todernsten ins Lächerliche am Ende des Romans zeigt, wie Amis in Dead Babies sporadisch die durch die satirische persona vermittelte Distanzierung vom Rezipienten aufgibt: „But pity the dead babies. Now, before it starts. They couldn’t know what was behind them nor what was to come. The past? They had none. Like children after a long day’s journey, their lives arranged themselves in a patchwork of vanished mornings, lost afternoons, and probable yesterdays” (DB, 180) Der Roman weist an einigen Stellen tonale Unausgewogenheiten auf, die eine ironische und satirische Distanzierung der Erzählinstanz nicht konsequent zu gewährleisteten vermögen.202 Ein weiteres Merkmal der Paradoxie im Dienste der Gattungskonstitution bildet die generische Grenzüberschreitung, die Elemente der Satire, des Romans und des Dramas miteinander verschmelzen lässt. Das paradoxe Verhältnis erklärt sich aus einer unstimmigen Gleichzeitigkeit und dem widerspenstigen Zusammenspiel von Holismus und Pluralität, Grenze und Überschreitung, durch das der Bereich der Transgenerik mit dem Paradoxen verbunden ist. Durch transgenerische Interferenzerscheinungen vermeintlich oppositioneller Genrekonventionen

199 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 40: „In place of the fully realized Charles Highway, Amis presents ten minimally rendered characters, most of them suffering from ‚street sadness‘ and ‚cancelled sex,‘ their outward liberation masking inward blight. And they are all forced to serve a satire that is less successful than the satirical comedy of The Rachel Papers. Nastiness proliferates – Dead Babies is not for the squeamish – but the novel is only fitfully funny.” 200 Müller, „Ironie”, in: MLL, hg. Nünning, 303. 201 Diedrick, Understanding Martin Amis, 45. Vgl. dazu auch ebd., 28: „[…] an uncertain control of tone often results in pastiche.” 202 Vgl. Neil Powell, „What Life Is: The Novels of Martin Amis“, PN Review 20.7/6 (1981): 42-5, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 42-3; 42.

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begehrt die Paradoxie im Dienste einer Illusionsdurchbrechung auf, die Übertretung von Gattungsgrenzen und Verschmelzung generischer Kategorien impliziert eine paradoxe Ambiguität von Gattungsgerüsten und bricht feststehende Gedankengeflechte zu Gunsten einer transgenerischen Vagheit auf: His involvement with both reader and text makes the narrator/implied author a pseudo-dramatic character moving in and out of the play, observing and directing. […] The conflation of the first person and the third person in Dead Babies, especially in the use of the first-person plural, further emphasizes the way the novel becomes a drama, with one of the characters occasionally stepping out of the scene in order to bring the viewer up to date or to provide background information. This technique, combined with the narrator’s puppeteer-like references and control over the ,purposes’ of the text, leaves the reader uncertain if he hears an unreliable character, narrator, author or director. What he actually hears is a postmodern combination of all of these.203

Die Grenzüberschreitung bestehender Limitierungen und eine generelle Tendenz zur Abweichung von der Konvention setzt Amis durch die Übertretung von Kunst- und Gattungsgrenzen um.204 Besonders herausragend erscheint vor dem Hintergrund der Grenzüberschreitung die Beschaffenheit der Erzählinstanz, die als eine postmoderne Mischform von unzuverlässiger Figur, Erzähler, Autor und Regisseur in Erscheinung tritt. Der Roman ist zu Beginn mit einer dramatis personae ausgestattet und weist mit wiederholter Kursivschrift im ersten Kapitel zur Beschreibung der Ausgangssituation eine Nähe zum dramatischen Text auf, um Szenen einzuführen oder innere Monologe vom Haupttext abzusetzen.205 Der Aspekt der Transgenerik wird durch Elemente des Paratextes zusätzlich betont:206

In the master suite, on knees and elbows, Giles Coldstream was crawling around the floor in search of the telephone, both hands cupped tightly over his mouth. The curling green cord eventually led him to a heap of spent gin bottles beneath his desk. With his left palm still flat over his lips Giles tugged at the wire, hobbled into a crouch, and dialed two digits. (DB, 13)

Elemente der Biographie – die sechs Hauptfiguren Quentin, Diana, Giles, Keith, Celia und Andy werden mit kurzen biographischen Angaben zu ihrer Sexualhistorie vorgestellt – stehen ebenso im

203 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 65. 204 Vgl. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, 9. Ebd.: „The borders between literary genres have become fluid: who can tell anymore what the limits are between the novel and the short story collection (Alice Munro’s Lives of Girls and Women), the novel and the long poem (Michael Ondaatje’s Coming Through Slaughter), the novel and autobiography (Maxine Hong Kingston’s China Men), the novel and history (Salman Rushdie’s Shame), the novel and biography (John Banville’s Kepler)? But, in any of these examples, the conventions of the two genres are played off against each other; there is no simple, unproblematic merging.” 205 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 66. 206 Vgl. in diesem Zusammenhang die textuellen Kategorisierungen in Gérard Genette, Palimpsests: Literature in the Second Degree, trans. Channa Newman and Claude Doubinsky (Lincoln: University of Nebraska Press, 1997), 3: „The second type is the generally less explicit and more distant relationship that binds the text properly speaking, taken within the totality of the literary work, to what can be called its paratext: a title, a subtitle, intertitles; prefaces, postfaces, notices, forewords, etc.; marginal, infrapaginal, terminal notes; epigraphs; illustrations; blurbs, book covers, dust jackets, and many other kinds of secondary signals, whether allographic or autographic.”

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Zeichen einer gattungsübergreifenden Fusion wie die satirische persona der Erzählinstanz,207 die aus einer auktorialen Perspektive heraus in der Manier eines Marionettenspielers eine rätselhafte Welt des Verfalls sichtbar macht: In Dead Babies, Amis attempts a satiric collapse of the distinctions between drama, biography and the novel. His narrator simultaneously treats the action dramatically, offers simple biographies for each character and admits that the action thus described has not yet occurred – a tacit acknowledgement of a prescience that, when combined with his puppeteer-like authority, makes him the enigmatic Merlin of a world facing decay.208

Mit Dead Babies offeriert Amis eine pervertierte Form des britischen country house weekend novel und leitet die generische Grenzüberschreitung satirisch und parodistisch ein.209 Satiren beinhalten häufig Parodien und nehmen sowohl auf individuelle Autoren oder ganze literarische Gattungen Bezug.210 Die Vorstellung der paradoxen Parodie bezieht sich auf eine an den von Bakhtin stark geprägten Begriff der Polyphonie erinnernde Idee der „interdiskursiven Zweistimmigkeit“ sowie den Dialogcharakter der Parodie durch den Verweis auf sich selbst und das Parodierte zugleich, der ein verstärktes Selbst-Bewusstsein und eine erhöhte Selbst- Reflexivität des Romans einleitet.211 Das paradoxe Wesen der Parodie entwickelt sich aus dem Aspekt der autorisierten Grenzüberschreitung im Parodistischen sowie aus der Paradoxie der gleichzeitigen Integration und Infragestellung des Parodierten.212 Der Tropus der Ironie wird häufig in parodistischem sowie satirischem Schreiben eingesetzt und lässt sich von den beiden Kategorien durch die flexible Gradierung des Begriffs abgrenzen:213 „If, within the mocking ethos of irony, there exists a gradation – from the disdainful laugh to the knowing smile – then at the

207 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 67. 208 Ebd., 68. 209 Diedrick, Understanding Martin Amis, 40. Elemente der Parodie sind in konzentrierter Form auch in Amis’ Roman Night Train (London: Vintage, 2007 [1997]) zu finden; im Folgenden NT. Vgl. einführend zur Gattung der Parodie auch Margaret A. Rose, Parody: Ancient, Modern, and Post-Modern (Cambridge: Cambridge University Press, 1993). 210 Vgl. Leonard Feinberg, Introduction to Satire (Ames: The Iowa State University Press, 1967), 188. Vgl. zur Definition des Parodistischen auch Wünsch, Die Parodie, 11: „Eine Parodie bezieht sich immer auf eine Vorlage (ein Original, einen Bezugstext), die sie partiell wiederholt (imitiert, nachahmt, nachbildet), aber gleichzeitig auch variiert (verändert, adaptiert). Die Art der Adaption ist grundsätzlich abweichend, unpassend, verzerrend, und verzerrt wird immer dergestalt, daß eine komische Wirkung entsteht, speziell eine komische Diskrepanz zwischen Original und Parodie bzw. zwischen den wiederholenden und den variierenden Textpassagen oder –schichten innerhalb der Parodie. Die komische Wirkung richtet sich auch oder ausschließlich gegen das Original.“ Da der Begriff „Parodie“ die griechischen Begriffe para (neben, gegen) und ode (Gesang) beinhaltet, wird er traditionell als Nebengesang oder Imitation eines Originaltexts verstanden, nicht selten mit der Intention, dessen Autor oder Meinung dem Spott auszusetzen. Die Diskrepanz von Form und Inhalt kommt zustande, wenn Form und Stil des Originals übernommen werden, während eine inhaltliche Abwandlung erfolgt. Aufgrund der etymologischen Zweideutigkeit kann sowohl von einem Gegen- als auch einem Nebengesang ausgegangen werden und neben der Intention des Spotts, wenn auch wesentlich seltener, reine Intertextualität zur Grundlage der Gattung avancieren. (Vgl. Martin Kuester, „Parodie“, in: MLL, hg. Nünning, 512-3; 512) Vgl. auch Rose, Parody, 48: „[A]n ambiguity exists in the word ,parodia’ in that its prefix ,para’ can be translated to mean both nearness and opposition.” 211 Vgl. Linda Hutcheon, A Theory of Parody: The Teachings of Twentieth-Century Art Forms (Urbana: University of Illinois Press, 2000 [1985]), 69-70. 212 Vgl. ebd., 26 und Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, 11. 213 Vgl. Hutcheon, A Theory of Parody, 61.

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point at which irony overlaps with satire it will be that contemptuous laugh that will merge with the scornful satiric ethos (which always implies corrective intent).”214 Vor dem Hintergrund der exzessiven Kulisse in Dead Babies bieten das letzte Abendmahl und das Motiv der Kreuzigung parodistische Vorlagen für ein Wochenende geprägt von Sex, Drogen und Sittenlosigkeit, an dem Quentin Villiers als eine Art Antichrist in Erscheinung tritt:215 The weekend orgy of sex, drugs, and depravity that constitutes the action of Dead Babies is a kind of infernal parody of the Last Supper, with presiding host Quentin Villiers ultimately revealed as the Antichrist (his last name evokes the word ,villain’ and anagrammatically contains the word ,evil’). There is even a crucifixion when the long-suffering dwarf Keith Whitehead is roped to the blossoming apple tree in the rectory garden, where ,two grimed hypodermics hung from his bloated arms’ […].216

Die Paradoxie geht eine unheilige Allianz mit der Blasphemie ein, mit der sie durch die Abkehr von einem festgelegten Sittenkodex und dem Protest gegen orthodoxe Meinungen, aber auch durch ein Element der Verzweiflung über erodierende Sinnstrukturen verbunden ist.217 Das paradoxe Konzept des verzweifelten Hedonismus oder des Hedonismus aus Verzweiflung integriert Amis in Dead Babies anhand des ausschweifend-genusssüchtigen Lebenswandels der sich in Appleseed Rectory einfindenden Figuren.218 Es handelt sich in Dead Babies um ein zweigeteiltes Figureninventar, die Appleseeders und die Americans und eine außerhalb der Gruppierungen angesiedelten dritten Partei, bestehend aus der heiteren, warmherzigen Prostituierten Lucy Littlejohn und Johnny, einem „praktischen Joker“, wie er innerhalb der dramatis personae charakterisiert wird. Zu den Appleseeders gehören der gut aussehende, weltgewandte Quentin Villiers mit seiner Frau Celia, sein rüpelhafter, gewalttätiger, emotional beschränkter Freund Andy Adorno und dessen Freundin Diana Parry, der reiche Giles Coldstream und der vollleibige „Hofzwerg“ Keith Whitehead.219 Als Americans werden der autoritäre, als spiritus rector oder Guru der Gruppe beschriebene Marvell Buzhardt, der entwicklungsgestörte Südstaatler Skip Marshall und die rothaarige, kurvenreiche Roxeanne Smith kategorisiert. Das Setting von Dead Babies, Appleseed Rectory, kann als ein Erlebnisraum der

214 Ebd. 215 Dead Babies beschreibt ein an Bakhtins Konzept des Karnevalesken erinnerndes Szenario: „[…] one might say that carnival celebrated temporary liberation from the prevailing truth and from the established order; it marked the suspension of all hierarchical rank, privileges, norms, and prohibitions. Carnival was the true feast of time, the feast of becoming, change, and renewal. It was hostile to all that was immortalized and completed.” (Bakhtin, Rabelais and His World, 10) 216 Diedrick, Understanding Martin Amis, 43. 217 Vgl. zum Motiv der Blasphemie auch David Nash, Blasphemy in the Christian World: A History (Oxford: Oxford University Press, 2007). 218 Finney, Martin Amis, 38: „The plot follows the escalating orgy of sex, alcohol, and drugs in which the group indulges over the weekend and which fails to provide anyone with genuine pleasure.” 219 Vgl. ebd., 40: „Amis uses a number of intertextual references (to Theodor Adorno, Andy’s adopted name, to Diderot’s famous eighteenth-century satire that Quentin is reading, to Menippus from whom the epigraph is taken) to indicate the object of his own satire. […] Like Adorno, Amis is enough of a postmodernist to blame the Enlightenment for the degeneration that an overreliance on reason had produced by the later twentieth-century.”

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Paralyse und Ort des Kontrastes beschrieben werden, den Amis als ein Rahmengerüst für die im Roman thematisierten „toten Babies“ einsetzt: „The household, indeed, considers itself a fortress for the old pieties, a stout anachronism, a bastion of the values it seems to us so notably to lack.” (DB, 27) Als Festung veralteter Gebote ist an der paradoxen Raumdarstellung von Appleseed Rectory eine Chronotopie zu erkennen, die durch den Raum des Landhauses die Orientierungs- und Sittenlosigkeit der gesellschaftlichen Verrohung durch die sexuelle Revolution versinnbildlicht. Appleseed Rectory entwickelt sich in Dead Babies vom Erlebnisraum zum paradoxen Bedeutungsraum und ebnet durch die Entfaltung der antiorthodoxen Verhaltensweisen der Figuren den Weg aus dem ursprünglichen auf festen Prinzipien und Wertesystemen gegründeten Fundament des Bollwerks in eine terra incognita, die den Ort als Zerrgestalt der Gebote erscheinen lässt, die er so eindringlich verkörpert und zum Kulturraum des Morbiden und des Verfalls degradiert. Appleseed Rectory, dessen Mauern in exzessiver und bedrohlicher Weise Leben eingehaucht wurde, wird nach dem Höhepunkt des Ekstatischen, dem Drogenrausch und der sexuellen Reizüberflutung von der Hochburg der Stimulanz zum luftleeren Raum und zum emotionalen Vakuum für die Figuren. Als ‚tote Babies‘ werden veraltete, in Appleseed Rectory längst überholte Normen verstanden. Werden jene starren Denkstrukturen in der Einstellung entlarvt, erfolgt ein Appell an den gesunden Menschenverstand der Figuren, die mit ihrem altmodischen Spießbürgertum und ihrer auf unzeitgemäßen Traditionen basierenden Anpassung konfrontiert werden: „The ,dead babies’ of the title refers to a variety of humanist beliefs that most members of the group have declared defunct. The phrase is evoked whenever any of these beliefs threaten the narcissistic ethos articulated most aggressively by Marvell Buzhardt.”220 Die Paradoxie der ,toten Babies’ ist in der Ambiguität des von Amis im Roman etablierten Neologismus zu erkennen. Babies symbolisieren neues Leben, Vitalität und Zukunft und stehen im direkten Kontrast zur sterbenden Welt und zur Welt des Verfalls. Die Assoziation mit Geburt und Lebenskraft wird zu Gunsten des paradoxen Tabubruchs des Terminus aufgelöst, dessen Bildlichkeit den Ideenraum des Makabren und Morbiden evoziert. Die Umwertung des logischen Denkens und der Vernunft dekodiert die Rotation von Paradoxie und Orthodoxie auf der Basis gesellschaftlicher Verhaltensnormen. Das Überwinden der traditionellen Idee eines zumindest kulturell gültigen Ethos durch die Redefinition von Wertesystemen impliziert das Changieren der Figuren zwischen Provokation und Anpassung: „,They’re trying to do the embarrassment routine again,’ drawled Quentin. ,It’s meant to be this bad, but no one gets embarrassed any more – embarrassment has gone. Surely they know that.’” (DB, 105) Die Auflösung von Scham und Schamgefühl kristallisiert sich als Indiz für die

220 Diedrick, Understanding Martin Amis, 40.

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Verrohung der Gesellschaft heraus. In einer Welt, in der peinliche Berührtheit und Verlegenheit als bloße Überreaktion, als sinnentleerter Habitus, aufgelöst werden, kommt es unausweichlich zu einer erhöhten Anreicherung in der Rubrik der ,toten Babies‘. Traditionelle Liebesbeziehungen, wie die von Quentin und Celia werden als ,tote Babies‘ abgestempelt und sollen neuen Reizen – wie dem des Drogenkonsums – endgültig weichen: ,No reason! Look – fuck – we’re agreed that life is a rat’s ass and that it’s no fun being yourself all the time. So why not do with your brain what you do with your body? Fuck all this dead babies about love, understanding, compassion – use drugs to kind of … cushion the consciousness, guide it, protect it, stimulate it. We have a fantastic range of drugs now, Andy. We have drugs to make you euphoric, sad, horny, violent, lucid, tender. We have drug- combinations that will produce any kind of hallucination or sense-modification you want. Alternatively, we have drugs that can neutralize these effects instantaneously. Not the old Leary line – no ,religion’, no false promises. We have chemical authority over the psyche – so let’s use it, and have a good time.’ (DB, 56-7)

Marvell Buzhardt offenbart sich als eine Art Visionär und Verfechter einer „chemischen Autorität“, die echtes Gefühl durch synthetische Stimmungserzeuger zu ersetzen versucht. Die Unmittelbarkeit menschlicher Gefühlsausschüttungen weicht einer Art Stimmungskatalog, aus dessen Fundus sich die Figuren in Dead Babies bedienen und eine künstliche Gefühlswelt erzeugen können. Buzhardt hat das Manifest The Mind Lab geschrieben, in dem er zum hedonistischen Gebrauch bewusstseinserweiternder Substanzen aufruft, die er während des Wochenendes an den Appleseeders testet und die ihm eine Stellung von Macht und Kontrolle über die anderen Figuren verschaffen.221 Die Paradoxie von chemischer Kontrolle, Bewusstsein und freiem Willen gipfelt in der radikalen Auslöschung der Figuren am Ende des Romans. Die Drogenexperimente führen für konsumierende Figuren zur Überreizung der Synapsen und befördern sie in eine dionysische Sphäre des Rausches, der Ekstase und der Fleischeslust. Der damit einhergehende Kontrollverlust kulminiert in einer orgiastischen, durch zügellose Lust herbeigeführten und jegliche Vernunft ausschaltenden Besinnungslosigkeit der Appleseeders, die in ihrer Exzessivität jedoch kaum bestehen kann und folglich zum paralysierenden und depressiven Moment verkommt. Paradoxerweise schreibt sich das Motiv der Ekstase am eindringlichsten über deren Abwesenheit in den Roman ein, das Wechselspiel aus Präsenz und Absenz des Rausches, der Lust und sexuellen Grenzüberschreitung spielt satirisch mit der Idee des Austauschs emotional-spiritueller Aspekte durch Drogen und Sex: […] [E]cstasy is conspicuous only by its absence. In this extreme satire on countercultural liberation theology the sacraments of drugs and sex substitute for emotional or spiritual ones, but they never bestow even fleeting grace. For all the compulsive talk of, and graphically rendered attempts at, sexual congress in the novel, only one couple consummates their desire, and this event leaves the woman in tears.222

221 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 41. 222 Ebd., 43.

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Durch die Darstellung paradoxer Orgien melancholisierender Exzesse inszeniert Amis mit einer satirischen Hyperbolik die Verrohung der Gesellschaft und die Verschiebung von Sexualnormen. Momente, die eine moralische Instanz erwarten lassen, werden zu paradoxen Epiphanien existenzieller Desillusion.223 Das Lachen, das einem infolge grotesker Darstellungen im Halse stecken zu bleiben droht, leitet den Umschlag von Komik in Grauen ein, während die Effektskala von Erheiterung bis zum bloßen Entsetzen reicht und anerkannte Normen außer Kraft gesetzt werden, um mit Mitteln der Verzerrung, Entstellung und Übersteigerung der Realität auf Situationen zu antworten, die eigentlich zum Verzweifeln sind.224 Amis setzt einen Akt der „Degradierung als programmatisches Prinzip“ in Dead Babies ein,225 am deutlichsten erkennbar in der tragisch-komischen Figur Keith Whitehead. Wenn auch auf Kosten der Glaubwürdigkeit des Erzählers, trifft die groteske Überspitzung der Handlung und Charakterisierung der Figuren den paradoxen Nerv der Zeit, der den Versuch des Überwindens überholter Konventionen, den Aufruf zur freien Liebe und die gleichzeitig ins Extreme übersteigerte Auseinandersetzung mit Oberflächlichkeiten für die Figuren zur Herausforderung mit dem eigenen Geist und Körper werden lässt. Entwirft Amis in The Rachel Papers noch eine komisch überhöhte und karikierte Idealisierung einer pubertären Form der Liebe oder der ,Liebe zur Liebe‘, öffnet Dead Babies dem Leser wiederum die Tore zur absoluten Liberalisierung von Sexualität und gewährt tiefen Einblick in die Mentalität einer Zeit, die die Praxis der freien Liebe glorifiziert: „,That’s what they did. In the ‘seventies. That’s what they achieved. They separated emotion and sex.’ ,Nonsense, Marvell,’ said Quentin. ,They merely showed that they could be separable. In the last analysis, of course, they aren’t separable at all.’” (DB, 135)226 Die beabsichtigte, aber nicht durchführbare Trennung von Emotion und Sexualität sowie die Auffassung von Sexualität als „triebhaft“, „instinktiv“ und „verroht“ führen in letzter Konsequenz zu einem emotionalen Verarmungsritus der Figuren, der aus der Etablierung alternativer Werte

223 Vgl. dazu auch die satirische Inszenierung der gesellschaftlichen Verrohung über das Motiv der infantilen Sexualität, die mit der Paradoxie einhergeht, die sexuelle Reife gehe der persönlichen maturitas voraus: „,Kids over here, they’re fucking in the first grade. We thought we were smart getting laid when we were twelve. […]’ Andy came alive. ,I think that’s disgusting,’ he said. ,Little bastards. I didn’t get fucked till I was nearly thirteen!‘ ‚More importantly,‘ Villiers resumed: ‚when are these promiscuous tots going to put in time on growing up? When will their sexual emotions have time to develop? When will their natures have time to absorb frustration, yearning, joy, surprise –?’ ,Christ, Quentin,’ said Marvell, ,you trying to reinstitute sex-angst, or what? Know who you sound like? Fuckin D. H. Lawrence![‘]” (DB, 136) 224 Christian W. Thomsen, „Groteske”, in: MLL, hg. Nünning, 240-1; 240. 225 Vgl. Bernard, „Dismembering/Remembering Mimesis: Martin Amis, Graham Swift”, in: British Postmodern Fiction, ed. D’haen and Bertens, 123: „Degradation becomes a programmatic principle, the disorganization of which paradoxically and ironically redefines new organic links between fiction and the world.” 226 Das zentrale Motiv der Grenzüberschreitung wird in Dead Babies, aber auch in anderen Romanen wie Money, Time’s Arrow oder Yellow Dog, auch über eine transatlantische Grenzüberschreitung illustriert, die den Fokus der Figuren oder Handlungsstränge zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten oszillieren lässt.

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und normativer Neuorientierung entsteht:227 „[S]ex isn‘t erotic any more. It’s carnal – conceptualized – to do just with geometrics and sensations.” (DB, 170) Die Verknüpfung der mathematischen Präzision und der geometrischen Exaktheit mit dem Bereich des Sexuellen lässt Sexualität nicht als unkontrollierten, instinktiven Trieb erscheinen, sondern als konzeptionierten Entwurf, eine auf Ebenen, Flächen, Symmetrien und Spiegelungen angelegte Formenkunde, die sinnliche Körper zu geometrischen Körpern umformt und den Bereich der Passion und Spontaneität durch die Paradoxie der Mathematisierung und Geometrisierung des Sexuellen und Triebhaften more geometrico ersetzt.228 Die übersexualisierten Körper der Figuren offenbaren sich lediglich als menschliche Hüllen, deren Konturlosigkeit Stück für Stück freigelegt wird. Sexuelle Grenzüberschreitung ist in der Beziehung von Diana und Andy zu erkennen, denn sie führen einerseits eine gemäß des sexuell befreiten Zeitgeists offene Beziehung, durchlaufen jedoch selbst die unvermeidbaren Implikationen von freier Liebe: Eifersucht, Betrug, Misstrauen. Diese Begleiterscheinungen der Polygamie sowie die freie Liebe an sich werden in Dead Babies aus dem paradoxen Bereich der Randgebiete der Gesellschaft in die soziale Mitte verschoben. Die Umkehrung von Moralvorstellungen und Sexualnormen beinhaltet die Umwertung der Paradoxie zur Orthodoxie. Das Wertesystem der 1970er Jahre erschließt sich für Andy und Diana (sowie die anderen Figuren in Dead Babies) aus der absoluten Umkehrung der traditionellen Sexual- und Gendernormen.229 Überwiegend sind die Figuren geprägt von sozialen und existenziellen Ängsten und geplagt von destruktiven Selbstzweifeln,230 wie Giles‘ irrationale, in Alpträumen immer wiederkehrende Angst vor Zahnverlust,231 Andys durch die Unterdrückung seiner Freundin Diana vermeintlich gemilderter und in Impotenz kulminierender Minderwertigkeitskomplex, Dianas hochgradig verzerrte Selbstwahrnehmung und getrübter Blick auf das eigene Spiegelbild und Keiths ausgereiftes Inferioritätsgefühl: Physical anxieties and humiliations are commonplace in Dead Babies, from Giles Coldstream’s dental nightmares to Andy’s bouts of impotence, which strike hardest when he meets a woman

227 Vgl. für eine ausführliche Analyse der Paradoxie der sexuellen Revolution auch Kapitel 7 ab Seite 117 in dieser Arbeit. 228 Vgl. zur paradoxen Verbindung von Geometrie und Sexualität auch Ian McEwans Kurzgeschichte „Solid Geometry“ in Ian McEwan, First Love, Last Rites (London: Vintage, 2006 [1975]). 229 Dern erkennt eine intertextuelle Referenz zu Philip Larkins Gedicht „Love Again”: „Admittedly, Larkin’s poetic narrator clearly examines his own inner emptiness and sense of loss while Andy apparently seeks self-gratification; however, Amis satirizes Andy’s emotional emptiness throughout the novel, showing him to be a flat character who cannot connect emotion and the sexual act. Therefore, both Amis and Larkin combine the topics of emotional emptiness and physical pleasure. The difference remains one of purpose: Larkin’s poem falls back on Existentialist truth while Amis’s novel expounds a literature of putrefaction.” (Dern, Martians, Monsters and Madonna, 63-4) 230 Die destruktiven Verhaltensweisen der Figuren dienen als generische Weichenstellung der Menippeischen Satire in Dead Babies: „The overtones of self-destruction create the foundation for the Menippean satire – the reader sees the banality of his own existence in the exaggerated lifestyle of the Appleseeders – yet the novel’s satire turns in on itself, becoming a gateway to oblivion by the end because of the postmodern characterization of Quentin.” (Dern, Martians, Monsters and Madonna, 63) 231 Vgl. dazu auch Sigmund Freud, „Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre (1917)“, in: Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften (Frankfurt am Main: Fischer, 2005 [1992]), 155-69.

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he can’t dominate. The narrator offers brief but graphic sexual histories for each character, and these, along with their physical eccentricities, define them. In a novel, this formula would seem hopelessly reductive. In a satire on narcissism, it serves to suggest what life has been reduced to.232

Die paradoxe Reduktion des Menschen auf die Eindimensionalität der Sexualität verweist in Dead Babies auf den Aspekt der sexuellen Ausschweifung. Die Figuren erleben durch den Fokus auf Sexualität keine Befriedigung mehr, die ständige Verfügbarkeit von Sexualpartnern mindert den Reiz und führt zur mentalen Erschöpfung. Die biographische Reduzierung der Figuren auf ihre sexuelle Vergangenheit wird durch den Erzähler zu Beginn der einzelnen Kapitel zelebriert und definiert die jungen Menschen lediglich über ihre Sexualität. Die „Satire des Narzissmus“ richtet den Fokus auf sexuelle Werdegänge der Figuren als stellvertretend für deren Wesen an sich und suggeriert eine Realität, die sich eben dieser Reduzierung verschrieben hat. Den paradoxen Höhepunkt des satirischen Narzissmus bildet Roxeannes Selbstbild, das sich über ihre Erlebnisse im Rotlichtmilieu definiert. Die satirische Umsetzung der Verknüpfung von Paradoxie und Pornographie kulminiert im Motiv der ‚ehrenamtlichen Prostitution‘ von Roxeanne, die den anderen Frauen von ihren sexuellen Aktivitäten auf dem Straßenstrich berichtet, die sie unentgeltlich und zum reinen Vergnügen vollzogen haben will: ,I used to whore out on the Strip. Throat-jobs. The guys used to get really phased because I wouldn’t take any cash.’ ,Why wouldn’t you?’ asked Lucy. ,Had plenty cash of my own.’ […] ,Why did you?’ ,Fun.’ Celia frowned. ,I think I’d find it terribly difficult to do anything with someone I didn’t fancy a bit.’ She stopped frowning. ,Do you know, I don’t think I’ve ever been to bed with someone I didn’t quite like,’ she lied. ,Me neither,’ lied Diana. (DB, 164)

Roxeannes Verzicht auf jegliche Vergütung führt das Gewerbe der Prostitution in einem satirischen Akt ad absurdum und manifestiert sich als paradoxe Auflösung kapitalistischer Grundsätze im Roman. Amis inszeniert eine auf den Kopf gestellte Welt, in der zwielichtigen Figuren eine Form der ,Normalität‘ übergestülpt wird und dadurch der Anschein entsteht, sie würden normative Verhaltensweisen an den Tag legen. Als Personifizierungen der Todsünden existieren sie in der unmissverständlichen Devianz des Orthodoxen und definieren sich über Laster wie Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit,233 die sowohl in den sexuellen Ausschweifungen als auch in Roxeannes unentgeltlich-käuflicher Liebe, Keiths exzessiver Esssucht, Andys degradierenden Verhaltensweisen gegenüber seiner Freundin Diana

232 Diedrick, Understanding Martin Amis, 44. 233 Vgl. Ryan, „Sex, Violence and Complicity: Martin Amis and Ian McEwan”, in: An Introduction to Contemporary Fiction, ed. Mengham, 207: „Yet it is not simply a matter of Amis’s pretending to the reverse of what he really feels. The irony is more intricate and barbed than that. It is more like an act of demonic possession than of sedate ventriloquism. The delinquent, the demented, the vain, the lecherous and the vile are authorized in a manner that confers normality upon them and compels us to wonder whether they may not be the rule rather than the exception. The author is seized by a self who licenses a blissful indulgence in what one is not supposed to feel and think and want – an indulgence which the reader is invited to share. The writer’s and the reader’s deepest pleasure consists less in their sense of ironic superiority to the benighted narrator than in the vicarious delight of identification, which is rooted in finding the scandalous secretly seductive and its apologists convincing.”

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und der allgemeinen Suche nach Rausch und Ekstase gipfeln. Das Paradox wird gewissermaßen zu Pandoras Box umfunktioniert, wenn sich alle nur denkbaren Übel in Appleseed Rectory im Laufe eines Wochenendes wie böse Geister in den Bewohnern des Landhauses einnisten: „Paradox […] might serve as an opportunity for the display of rhetorical ingenuity, for advancing an unorthodox opinion or (more often) exposing vulgar errors, or for stimulating a thinking temper.”234 Groteske Strukturen in der Literatur führen, ähnlich wie das conceit, Elemente zusammen, die vermeintlich unvereinbar sind. Die Groteske manifestiert sich als angemessene Reaktion auf eine absurde Welt, auf eine Situation, die zum Verzweifeln ist und nicht mehr nachvollziehbar und verständlich dargestellt werden kann und mit den Werkzeugen der Verzerrung oder Karikatur dem Grauen durch Komik entgegenwirkt. Etymologisch bezieht sich der italienische Begriff der Höhle, grotta, auf antike Wandmalerei, die auf der Verschmelzung von Pflanzen-, Mensch- und Tiergemälden basiert. Das davon abgeleitete Adjektiv grottesco bedeutet „wunderlich“ oder „verzerrt“ und verweist auf die Tendenz des Grotesken zur Deformation des Realen. Während des 19. Jahrhunderts tritt eine Verlagerung der Groteske in konkrete Bereiche unmittelbarer Realität ein, die zu tiefgreifenden Krisen führen kann:235 Fortan ist die Welt das eigentlich Groteske, nicht mehr ihre Wahrnehmung, und die Figuren, die den disparaten, unverständlichen, chaotischen Zustand der Welt erkennen, erleiden einen kognitiven Zusammenbruch. Die Komik steht gleichwertig neben dem Grauen und führt nicht mehr so recht zum Lachen, das sich verändert zum „Grinsen neben der Leiche“[.]236

Das Motiv des grotesken Körpers kommt besonders durch die Figur Keith Whitehead und das Spektrum der Reaktion seiner Umgebung auf ihn zum Vorschein. Sein Umfeld reagiert mit einer Mischung aus Horror, Schrecken und Humor auf seine Erscheinung, die vom heiteren Amüsement bis hin zum blanken Entsetzen führt.237 Das cartooneske Bild, das Whitehead sich immer weiter aufblasend bis hin zu seiner Implosion zeichnet, rückt ihn ins Zentrum satirischer Beobachtungen und zeigt auf ikonographische Art einen im Rahmen der semantischen Gravitation vollzogenen

234 Griffin, Satire, 53. 235 Vgl. Dieter Lamping, Handbuch der literarischen Gattungen (Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2009), 346-7. Bakhtin beschreibt den Ursprung des Grotesken als die Verflechtung von Mensch, Tier und Pflanze in den altertümlichen Wandmalereien, die miteinander verwoben scheinen: „There was no longer the movement of finished forms, vegetable or animal, in a finished and stable world; instead the inner movement of being itself was expressed in the passing of one form into another, in the ever incompleted character of being. This ornamental interplay revealed an extreme lightness and freedom of artistic fantasy, a gay, almost laughing, libertinage.” (Bakhtin, Rabelais and His World, 32) 236 Lamping, Handbuch der literarischen Gattungen, 347. 237 Vgl. dazu in DB, 15-6: „Whenever people want to say something nice about his appearance they usually come up with ,You’ve got quite nice colouring’, a reference to his dark eyebrows and thin yellow hair. […] The more clothes you took off him, the more traumatic the spectacle became. His (equally fat but better proportioned) sister went into hysterics when she once surprised him in the bath. As he entered the Wimbledon Municipal Swimming Pool two teenage girls spontaneously vomited into the shallow end (on being questioned, they said it was the quiffs on the nipples of Keith’s D-cup breasts that had done the trick – Whitehead was subsequently banned from the baths).”

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satirischen Effekt:238 „If Whitehead had been in a cartoon (which is probably where he belonged), he would simply have imploded to a third of his mass and drifted up into the air. As it was, he collapsed instantaneously, his legs, snatched from beneath him as though they had been lassoed by a cantering cowboy.” (DB, 204) Keith Whitehead wird auch über sein tragisches Ende als satirische Symbolfigur definiert. Als er das erklärte Ziel, in Appleseed Rectory seine sexuellen Bedürfnisse auszuleben, nicht realisieren kann, sieht er als letzten Ausweg den Akt des Freitods.239 Die bittere Ironie, dass Keith am Ende des Wochenendes sterben wird, und zwar nicht als Folge eines Suizids, wird an dieser Stelle für den Leser noch nicht erkennbar und zeigt das Ausmaß seiner fiktionalen Diskreditierung.240 Whitehead, auf allen Ebenen des Lebens erfolglos, wird zum Opfer seines durchweg negativen Autoimagos, das ihn ein derart trostloses Bild von sich selbst zeichnen lässt, dass die Paradoxie des Selbst in all ihrer Grausamkeit als sinnentleerte Chiffre zur Platitüde zu verkommen droht: ,Well, as I told you, it’s quite straightforward. No one likes me – actually most people dislike me instinctively, including my family – I’m not much good at my work, I’ve never had a girl-friend or a friend of any kind, I’ve got very little imagination, nothing makes me laugh, I’m fat, poor, bald, I’ve got a horrible spotty face, constipation, B.O., bad breath, no prick and I’m one inch tall. That’s why I’m mad now. Fair enough?’ (DB, 148-9)

Whitehead, der schon in seiner Charakterisierung innerhalb der dramatis personae als eine Art unfreiwilliger Hofnarr beschrieben wird, unterliegt ohnehin endlosem Mobbing durch Quentin, Andy und die Amerikaner und steigert seine Erniedrigung durch den gleichermaßen destruktiven Akt der Selbst-Degradierung.241 Durch die eigene Opferrolle und permanente Viktimisierung entwickelt sich Whitehead in dem wiederholten Versuch, die Nachbarsfamilie Tuckle zu demütigen, selbst zum Unterdrücker.242 Er wird zur Verkörperung des Sadomasochisten, wenn durch die Sexualisierung seiner Landhausumgebung ihm innewohnende soziale, körperliche und psychologische Defizite aufgedeckt und mit dem Mittel maßloser Übertreibung satirisch

238 Vgl. zum Begriff der „semantischen Gravitation” auch Joseph Bentley, „Semantic Gravitation: An Essay on Satiric Reduction”, MLQ 30 (1969): 3-19. 239 „Although Whitehead didn’t consider himself a highly-,sexed’ person […] he felt it highly likely that if he failed to have a definite sexual experience this weekend he would make some sort of attempt to kill himself. It was not release he craved, far less pleasure, merely a token withdrawal of the insult of ugliness.” (DB, 73) 240 Im radikalsten Ausmaß führt satirische Vernichtung in den Selbstmord. Die paradoxe Überwindung dieser Vorstellung wird in Dianas Kommentar zu Suizid geliefert: „,I’ve got no time for suicides. It’s just too boring. A schoolfriend of mine was in a crash once and I went to see her every day for three months. A year later the bitch stuck her head in the oven because her guy couldn’t kick being queer. Did I go to the hospital once? No way. I told her why not, too.’ ,I agree,’ said Celia. ,It’s selfish, stupid and utterly boring.‘” (DB, 211) 241 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 44. 242 Vgl. Todd, „Looking-Glass World in Martin Amis’s Early Fiction: Reflectiveness, Mirror Narcissism, and Doubles”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 28-9.

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vorgeführt werden243: „Keith Whitehead is such a complete misfit, such an extreme type, that the sadomasochism of Dead Babies is palliated by the narrator’s obvious sympathy for him.”244 Durch die inkonsequente Erzählsituation und den parodistischen Ansatz auf generischer Ebene – durch die Mischung von Drama und Biographie – kann Dead Babies als menippeisches Experiment der Unzuverlässigkeit interpretiert werden. Auch eine auktoriale Erzählinstanz schreitet in das Geschehen ein und macht sich durch die Überlegenheit gegenüber elf anderen Figuren als eine Art zwölfte Figur bemerkbar.245 Das verwirrende Spiel mit den gängigen Lesererwartungen inszeniert Amis in Dead Babies programmatisch, indem er die Figur Johnny als alter ego und Doppelgänger der Figur Quentin entwirft und das moralische Zentrum des Romans dadurch variabel verschieben kann.246 Paradoxien im Dienste satirischen Schreibens gehen in Dead Babies über die Funktion des Denkangebots weit hinaus und entfesseln vor dem Hintergrund der sexuellen Revolution ein Umwertungsprogramm zeitgenössischer Konventionen. Der Leser wird seiner Sehnsucht nach Ordnung und Versöhnung am Ende beraubt und muss sich vom brutalen Schlachtfeld willkürlicher Gewalt und Zerstörung aus der narrativen Welt befreien. Paradoxien umgekehrter Normen und Werte, die konventionelle Konzepte von Familie, Liebe, Treue und Freundschaft zu Bildern widersprüchlicher Abweichungen der etablierten Normen bündeln, werden von Amis zentral in die Handlung verwoben, der sich im Laufe des Wochenendes allmählich abzeichnende, unausweichliche finale Amoklauf jedoch entfaltet seine Paradoxie vor dem Hintergrund eines frappierenden Handlungshöhepunkts durch den apokalyptischen Untergang Appleseed Rectorys. Selbst Quentin, der in Relation zu den anderen Appleseeders eine Identifikationsfigur für den Leser darstellt und inmitten der ekstatischen, durch verschiedenste Reizmittel aufgeputschten anderen Figuren im Laufe der Handlung wiederholt zum Angelpunkt der Orientierung inmitten des Chaos erklärt wird, entlarvt sich lediglich als Sprachrohr epigrammatischer Paradoxien, die eine Welt des Verfalls, auf soziokultureller, aber auch privat-domestischer Ebene offenlegen: „,The only remotely vexing thing about the aeroplane crash that killed my parents,’ the Honourable Quentin Villiers is fond of saying, , – the only thing about the news that didn’t make one simply weep with joy – is that my brother Neville survived it.‘” (DB, 49) Die wahre Tragödie

243 Vgl. ebd., 28. 244 Ebd. 245 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 40. 246 Vgl. ebd. Vgl. auch in Rennison, Contemporary British Novelists, 8: „Dead Babies […] follows the progress of its characters’ weekend-long descent into a maelstrom of sex, drugs and drink. Old-fashioned English upper-class depravity in the shape of Quentin Villiers and his friends meets American counter-cultural amorality, represented by Marvell Buzhardt, a kind of guru of self-gratification, in the unlikely setting of a country rectory owned by Villiers. Nemesis, hinted at throughout the book, arrives through an enigmatic avenger called ,Johnny’, who turns out to be an unexpectedly familiar figure.[…] Both Dead Babies and Success are dark morality tales in which Amis never allows readers the comfort of knowing for certain where the moral centre lies.”

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um seine bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Eltern erkennt Quentin im Überleben seines Bruders und verweist in dieser Aussage auf ein prekäres Familiengerüst, das die meisten Figuren verbindet. Die Mentalität des kulturellen Verfalls drängt sich förmlich auf, der Zeitgeist entlarvt sich als tickende Zeitbombe, die das im Laufe der Handlung bereits antizipierte apokalyptische Finale explosiv untermauert: „,But you can’t regress. There’s no way. It’s too late for that now. All you can do is smash everything, raze the entire planet, and then start over, make it new.’” (DB, 155) Das mörderische Ende inszeniert die satirische Funktion als eskapistische Maßnahme in einer zerstörerischen Welt vor dem Hintergrund eines linearen sozio-kulturellen Verfalls. Die Figurenbeschreibung Quentins zeigt dessen paradoxes Wesen, denn der „Meister des Pastiche”, der die universitätsinterne Zeitung, das Satiremagazin Yes, herausgibt, ist eine auf drastischen Widersprüchen basierende Figur.247 Er schmückt sein Portfolio mit fremden Federn und Fälschungen ausgezeichneter Referenzen. Teile seiner im Zuge des Bewerbungsprozesses eingereichten redaktionellen Arbeiten heimste er als unfreiwillige Leihgabe anderer Herausgeber und deren Gedankengut ein, um seine beruflichen Chancen zu verbessern. Dennoch wird Quentins redaktionelle Arbeit als „jeu d’esprit“ und persönliche „tour de force“ dargestellt und er selbst zu einer Art Superman gekürt:248 These imitative gifts are matched by the astounding versatility of his physical presence. Quentin can silence a cocktail party just by walking into it or alternatively cruise round the room for half an hour and listen to people complaining about his non-arrival. He can swank into the Savoy in T-shirt and jeans or sidle dinner-jacketed through the Glasgow slums. He can halt a conference with a movement of his little finger and yet sit so invisibly that directors start to discuss his salary without realizing he’s there. ,Or so it seems,’ Quentin is fond of saying, ,– and that’s all it needs to do.’ (DB, 53)

Aufgrund seiner faszinierenden Aura kann der gutaussehende Quentin durch sein bloßes Erscheinen eine ganze Party verstummen lassen. Seine Lebensumstände weisen, insbesondere durch die Affinität zur Literatur und dem Schreiben sowie seinen geistreichen Wortwitz, Parallelen zu Amis‘ Biographie auf, durch die er – ähnlich wie Charles Highway in The Rachel Papers – als eine Art Abziehbild von Amis‘ persönlichem Porträt erscheint.249 Quentin ist die einzige Figur im Roman, die dem Leser Hoffnung auf eine Wiederherstellung von Normalität

247 Vgl. in diesem Zusammenhang: „Obviously Quentin was an adept at character stylization, a master of pastiche, a connoisseur of verbal self-dramatization – and he needed to be. Although affiliated with London University Quentin was the only member of the household who wasn’t supposed to be taking a degree there. Instead, he ran – more or less single-handed – the University newspaper, a satirico-politico-literary magazine called Yes.” (DB, 50) 248 Vgl. DB, 53: „Quentin is a superman. The versatility of the fellow! He can talk all day to a butcher about the longevity of imported meats, to an air-hostess about safety regulations in the de Gaulle hangars, to an insurance salesman about post-dated transferable policies, to a poet about non typographical means of distinguishing six- syllable three-lined stanzas and nine-syllabled two-line ones, to an economist about pre-war counter-inflationary theory, to a zoologist about the compersatory eye-movements of the iguana.” 249 Diedrick, Understanding Martin Amis, 46.

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bietet. Abgesehen von seinem geistigen Raubzug lässt er sich nichts zu Schulden kommen und wirkt wie eine Art Jedermann und die einzig mögliche Rettung der Appleseeders.250 Zwar wird der Leser von einer auktorialen Erzählinstanz im Hinblick auf Quentin vorgewarnt, trotzdem bietet er über lange Strecken der Erzählung das meiste Identifikationspotential innerhalb einer abgründig grotesken Figurenwelt. Der charismatische Quentin, in den sich jeder, der ihm begegnet, ein wenig zu verlieben scheint, verkörpert eine Bezugsquelle inmitten der verstörend- pervertierten Kulisse von Dead Babies.251 Jedoch kann Quentin die ihm vom Leser auferlegte Funktion der Wiederherstellung der sozialen Ordnung nicht umsetzen und offenbart sich im Laufe der Handlung als das Kontrastprogramm aller Ideale, die auf ihn projiziert werden: „But Quentin is, in fact, the antithesis of a savior, a postmodern monster who turns out to be the most depraved of all the characters in Dead Babies.”252 Das Ende von Dead Babies gibt Aufschluss über eine in der Figurenentwicklung angelegte Paradoxie. Das Motiv der Dopplung wird in der Doppelgängerthematik der Figuren Quentin und dessen mörderischen alter ego Johnny in ein paradoxes Spannungsverhältnis gesetzt. Jedoch entlarvt sich Quentin als eine für den Leser gelegte falsche Fährte, eine emotionale Falle, durch die der Leser sich in Sicherheit zu wiegen glaubt, während sich Quentin als „Antithese eines Erlösers“ entpuppt. Der Sympathieträger bietet eine trügerische Alternative zur Welt der Sünden und Laster der anderen Figuren und transformiert anschließend zum Inbegriff der Perversion. Die Figur Johnny offenbart sich als Inkarnation einer paradoxen Interfiguralität, die weit über eine bloße Nähe der Figuren Quentin und Johnny hinausdeutet. Die Bewusstseinsspaltung verunglimpft Quentin zum wandelnden Oxymoron, er offenbart sich als paradoxe Figur, die Identifikationsangebote offeriert und simultan storniert. Der Leser sieht sich seiner durch Quentin vermeintlich vermittelten Sicherheit beraubt:253 Although he mouths the traditional pieties of love, commitment, and paternal responsibility, he actually represents a trap laid for the reader, a false alternative to the excesses of the others. His heart is the darkest of all. He is finally more like de Sade than Marvell himself: a monster of perversion and rapacity. Readers seeking safe harbor with Quentin find themselves alone and unprotected in the final storm. In an important sense Quentin, who combines civility and sadism, deference and control, who has one foot firmly planted in the eighteenth century, symbolizes the historical conditions that gave rise to the Marvells of the contemporary scene.254

250 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 69. 251 Vgl. in DB, 53: „Watch Quentin closely. Everyone else does. Stunned by his good looks, proportionately taken aback by his friendliness and accessibility, flattered by his interest, struck by the intimacy of his manner and lulled by the hypnotic sonority of his voice – it is impossible to meet Quentin without falling a little bit in love.” 252 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 69. 253 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 45-6. 254 Ebd. Quentin positioniert sich zunächst als vermeintliche Gegenfigur zu Marvell Buzhardt, wird jedoch am Ende des Romans als düsterste und sadistischste Figur entlarvt. Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 42: „In Dead Babies, Marvell is the voice of hedonism, and he articulates certain au courant ideas of his generation. It is left to Quentin to oppose Marvell’s post-humanist values, at least rhetorically. He defends love, monogamy, even feudalism,

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Die trickster-Figur Johnny symbolisiert die Inkarnation der Paradoxie in der Existenz zwischen festen Kategorien. Diese für den Typus des trickster charakteristischen Merkmale der Grenzüberschreitung gehören zu Quentins Metier, er vollzieht einen ständigen Balanceakt zwischen den Kategorien Innen und Außen, des Orthodoxen und Paradoxen, der Norm und Devianz von der Norm. Als Verkörperung von Ambiguität und Dopplung, Duplizität und Widerspruch, zeichnet sich der trickster über den Bereich des Liminalen, das auf einen archetypischen Schwellenzustand oder eine Übergangsphase verweist, aus und wird zur ambivalenten Inkarnation von Paradoxie:255 [T]rickster is a boundary-crosser. Every group has its edge, its sense of in and out, and trickster is always there, at the gates of the city and the gates of life, making sure there is commerce. He also attends the internal boundaries by which groups articulate their social life. We constantly distinguish – right and wrong, sacred and profane, clean and dirty, male and female, young and old, living and dead – and in every case trickster will cross the line and confuse the distinction. […] Where someone’s sense of honorable behavior has left him unable to act, trickster will appear to suggest an amoral action, something right/wrong that will get life going again. Trickster is the mythic embodiment of ambiguity and ambivalence, doubleness and duplicity, contradiction and paradox.256

Die paradoxe Schizophrenie des trickster wird durch die Figuren Quentin und Johnny satirisch potenziert, Quentin etabliert sich als Liebling der Massen, und Johnny entlarvt sich als vernichtend-bestialischer, zutiefst sardonischer Doppelgänger. Die Paradoxie wird im satirischen Angriff zur Waffe gegen Heuchelei und gesellschaftliche Doppelmoral umfunktioniert. In Johnnys finalem Akt des morbiden Zynismus wird das Bild der Paradoxie als Waffe im metaphorischen Exorzismus einer ganzen Generation inszeniert. Während Amis in The Rachel Papers noch gegen die Generation seiner Eltern anschreibt, erweckt der selbsterodierende Ansatz in Dead Babies den Anschein, als exorzistische Maßregelung seiner eigenen Generation zu dienen: Dead Babies is full of animus and condescension toward Amis’s generation, and Quentin’s final burst of murderous violence is its ultimate symbolic expression. In The Rachel Papers, Amis seeks to exorcise his father’s generation; in Dead Babies, he enacts a similar ritual on his own.257

Im Rahmen von C.G. Jungs Archetypenlehre, die durch einen kollektiven Charakter geprägt von universellen mythologischen Strukturen ausgeht, kann eine Tendenz zur Osmose zwischen den verschiedenen, miteinander verschmelzenden Archetypen konstatiert werden, die als ein

often sounding like an Eighteenth-century English squire. He is an anachronism, in other words. Marvell, on the other hand, echoes another representative of the eighteenth century, one who has gained a certain currency in the twentieth: the Marquis de Sade. Sade’s celebration of perversity was not a rejection of Enlightenment values so much as a dark variant of Enlightenment mastery over nature.” 255 Vgl. zum Begriff des Liminalen auch Victor Turner, „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites of Passage“, in: Betwixt & Between: Patterns of Masculine and Feminine Initiation, ed. Louise Carus Mahdi, Steven Foster and Meredith Little (Peru: Open Court Publishing Company, 1987), 3-19. 256 Lewis Hyde, Trickster Makes This World: How Disruptive Imagination Creates Culture (Edinburgh: Canongate Books, 2008), 7. 257 Diedrick, Understanding Martin Amis, 47.

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ordnungsstiftendes Prinzip, eine angeborene Tendenz, mit Erfahrungen umzugehen, verstanden werden.258 Der trickster als ‚arche-typologische‘ Inkarnation des Paradoxen wird durch Johnnys abschließenden Amoklauf inszeniert und führt in letzter Konsequenz zur durch ihn vollstreckten mikrokosmischen Apokalypse und fatalen Auslöschung aller in Appleseed Rectory verweilenden Figuren: The overtones of self-destruction create the foundation for the Menippean satire – the reader sees the banality of his own existence in the exaggerated lifestyle of the Appleseeders – yet the novel’s satire turns in on itself, becoming a gateway to oblivion by the end because of the postmodern characterization of Quentin.259

Die dem Roman zugrundeliegende Paradoxie der Brutalität der Alltäglichkeit zeigt Aggression und körperliche Gewalt als literarisches Motiv, durch das eine Referenz auf gesellschaftliche Bedrohungen dechiffrierbar wird:260 [E]inerseits der Rückfall ins Barbarische, andererseits die Absolutsetzung willkürlicher Ansprüche gegen das Rechtsempfinden, die gesellschaftliche Konvention oder gesetzliche Schranken. […] Das Thema diente der Darstellung tyrannischer Organisationen, undurchschaubarer Gesellschaftsstrukturen, die das Leben einzelner beeinträchtigen, asozialer Elemente, der Ausschreitung von Gruppen, einzelner Mordszenen und revolutionärer sozialer oder historischer Vorgänge. […] Indem die Aggression in die Sphäre der Sittlichkeit, der Familie, der Gesellschaft und des Staates eindringt, vermischen sich Sach- und Sinnzusammenhänge.261

Johnny wird als diabolus ex machina und Inkarnation einer contradictio in adiectu in die Handlung eingeführt262 und verkörpert den Kontrast zum von Amis geprägten Begriff des „menschlichen Trugschlusses” – der Paralogismus, Autoren seien für den Schutz der Lesergefühle verantwortlich, den sie durch poetische Gerechtigkeit am Ende des Romans gewährleisten

258 Vgl. David Williams, The Trickster Brain: Neuroscience, Evolution, and Narrative (Plymouth: Lexington Books, 2012), 8. 259 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 63. 260 Vgl. Horst S. und Ingrid G. Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur: Ein Handbuch (Tübingen: Francke Verlag, 1995), 19. Ein Vorfall im „Psychological Revue” führt einen extremen Gewaltakt an dem Komiker Acey- Deecey durch die gefürchteten Conceptualists herbei und zeigt, wie zwei Zuschauer bei seinem Auftritt zu Darstellern werden, die Grenzen zwischen Publikum, Bühne, Realität und Show werden dabei übertreten. (Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 66) Vgl. ebd., 66-7: „The novel attempts to draw the reading audience into the work, just as the supposed audience at ,The Psychological Revue’ was drawn into the play. Their participation and complicity in the events provide meaning, just as the reader’s complicity in the happenings of Dead Babies gives it meaning, a basis for its Menippean look at youth, innocence and unconcern for reality. Inattentive readers of Dead Babies suffer the consequences of complicity, becoming the narrator’s partners and witnessing the dissolution of society despite repeated warnings and hints that all is not as it seems.” Vgl. in Abgrenzung dazu auch Bakhtins Motiv des alle Anwesenden einbeziehenden Charakters des Karnevalesken: „In fact, carnival does not know footlights, in the sense that it does not acknowledge any distinction between actors and spectators. Footlights would destroy a carnival, as the absence of footlights would destroy a theatrical performance. Carnival is not a spectacle seen by the people; they live in it, and everyone participates because its very idea embraces all the people. While carnival lasts, there is no other life outside it.” (Bakhtin, Rabelais and His World, 7) 261 Daemmrich und Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur, 19. 262 Eric Korn, „Frazzled Yob-Gene Lag-Jag“, Times Literary Supplement 4253 (1984): 1119, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 55-8; 58.

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sollen263 – indem durch das Sichtbarwerden seiner Identität die schizophrene Natur Quentins zum Verderben der Appleseeders und Americans führt: If Quentin […] is an ,Everyman,’ then, metaphorically, every man bears the ignominy of his final, heinous actions. Johnny makes sure that Dead Babies is ultimately terminal. His lasting message is that there is no hope for the new, motive-lacking breed of human being who, when seen again in Night Train, finishes motive once and for all by turning gratuitous violence in on the self, making self-abnegation an incomprehensible and frightening reality.264

Der Leser wird unweigerlich in Johnnys Spiel involviert, wenngleich er durch den Erzähler vor Quentin gewarnt wurde.265 Obwohl es für Amis’ Literatur eine Art Markenzeichen geworden ist, sadomasochistische, psychisch gestörte Charaktere zu kreieren, verkörpert Quentins Inkognito Johnny die pathologischste aller Doppelgängerfiguren in seinem Werk.266 Groteske Strukturen lassen sich neben dem Aspekt des Wahnsinns auch über Überraschungsmomente verstehen, die das Vertraute und Familiäre unmittelbar und unwiderruflich zum Fremden und Unheimlichen transformieren und maßgeblich zur Wahrnehmung der Groteske als entfremdete Welt beitragen267:

„Ins Unheimliche verwandelt, erscheint das Menschliche im Wahnsinnigen […], als ob ,Es’, ein fremder, unmenschlicher Geist in die Seele gefahren sei. Die Begegnung mit dem Wahnsinn ist gleichsam eine der Urerfahrungen des Grotesken, die uns das Leben aufdrängt.“268 Die Verknüpfung der Doppelgängerthematik mit dem Motiv des Wahnsinns verweist auf eine postmoderne Jekyll-and-Hyde-Adaption, die durch bedrohliche Formen von Rivalität in einer brutal-sadistischen Weise vorgeführt wird.269

4.2 Satire als Soziogramm in Lionel Asbo: State of England Fame had so democratised itself that obscurity was felt as a deprivation or even a punishment. And people who weren’t famous behaved famous. Indeed, in certain mental atmospheres it was possible to believe that the island he lived on contained sixty million superstars… Meo was, in fact, an actor, an actor who had gained sudden repute by warily diversifying into another field.

263 Vgl. Keulks, Father and Son, 148: „Martin diverges from his father’s brand of Fieldingesque satire by assimilating elements of both Horatian and Juvenalian modes, resulting in an aggregate effect, a cumulative, amorphous form. He rejects his father’s tonal moderations, but he refuses to judge his characters, at least within the novels themselves. Furthermore, following Nabokov, he revels in an amoral artistic bliss and a conscious subordination to the creative demands of the tale. Although Martin admits to being ,very interested’ in the moral stances of his characters, he wholeheartedly rejects responsibility for their well-being or enlightenment. Instead, he professes no urge ,to convert them, or punish them, or bring them round – Or even to make them see what they’re doing.’ For him, such things constitute a ,human fallacy’ – his phrase for the common misperception that an author must protect the sensibilities of the reader, either by imposing or by allocating justice at the novel’s end.” 264 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 70. 265 Vgl. ebd. 266 Vgl. Todd, „Looking-Glass World in Martin Amis’s Early Fiction: Reflectiveness, Mirror Narcissism, and Doubles”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 32: „[…] the most psychopathic of all Amis’s doubles – Johnny, described in the dramatis personae as a ,practical joker.’” 267 Vgl. Wolfgang Kayser, Das Groteske: Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung (Oldenburg: Gerhard Stalling Verlag, 1957), 198-9. 268 Ebd., 198. 269 Vgl. Todd, „Looking-Glass World in Martin Amis’s Early Fiction: Reflectiveness, Mirror Narcissism, and Doubles”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 24.

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And the world has a name for these people who can do more than one thing at the same time, these heroic multitaskers: it calls them Renaissance Men. (YD, 8-9)

Das Zeugnis, das Amis der zeitgenössischen britischen und amerikanischen Gesellschaft in Yellow Dog ausstellt, greift er auch in seinem Roman Lionel Asbo: State of England auf. Darüber hinaus richtet er den Fokus auf die zeitgenössische Entwicklung der Massenmedien, die als Folge eines neuen medialen Zeitgeists im Motiv des flüchtigen Ruhms gipfelt. Der Wandel durch soziale Medien wie „Facebook“, „Twitter“, „Pinterest“ oder „Instagram“ ermöglicht eine Demokratisierung des Kritikbegriffs, die allgemeine Wertung und Bewertung von Kunst und Unterhaltung wird nicht mehr von vereinzelten Experten geformt, sondern als Massenmeinung und Kollektivevaluation aus der Mitte der Gesellschaft heraus gebildet. Wie bei fast allen durch das Internet erheblich veränderten Formen der Kommunikation ist eine neue Ambivalenz der Medien nicht von der Hand zu weisen. Die etablierte Form einer avantgardistischen Meinungshoheit und die damit einhergehende präskriptive Normativität weichen einem Pluralismus subjektiver Blickwinkel und einer Flut polemischer Evaluierungen. Dass jedoch durch die Anonymität des Internets auch etablierte Umgangsformen und Verhaltensnormen im virtuellen Umgang miteinander allmählich verloren gehen, birgt schwerwiegende gesellschaftliche Verschiebungen. Als Symbol der Regenbogenpresse ist in Lionel Asbo wie auch schon zuvor in Yellow Dog das Magazin The Morning Lark zu nennen, ein schäbiges Produkt der Boulevardpresse, das eine Gesellschaft des Überflusses, der Langeweile und der Sinnentleertheit widerspiegelt und als auf die Spitze getriebenes Medium der Subjektivität und Tabulosigkeit ohne jeglichen Bildungsanspruch funktioniert. Die Demokratisierung von Wissen wird in Lionel Asbo zur Demokratisierung von Belanglosigkeit im Dienste einer Bagatellisierung des Lebens. Amis setzt einen pervertierten Sprachduktus ein, indem er die Figur Lionel Asbo paradox wirkende Regelverstöße als Protest gegen orthodoxe Grammatik und Idiomatik begehen lässt.270 Auf stilistischer Ebene gelingt Amis die Integration von Paradoxien anhand verschiedener Verfahren, wie den Mitteln der Ironie, des conceits, des Oxymorons und der Aphorismen. Die Verbindung von Paradoxie und Ironie bündelt Amis in der Figur Lionel Asbo, die als buchstäblicher Antityp Paradoxie als Lebensart auf die Spitze treibt. Eine doppelte paradoxe Ebene entwickelt sich im Roman aus Asbos Wesen und Lebenseinstellung, die als Ironie rezipiert werden und jeglicher Norm widersprechen, jedoch seine tatsächliche Mentalität offenbaren.271 Schon der Untertitel

270 Vgl. dazu auch Mars-Jones, der von einer paradoxen Mixtur aus gekünsteltem Tonfall und gebrochenem Straßenslang als symptomatisch für Sprache und Stil ausgeht: „[A] manner electric, impure and unimpressed, except sometimes by itself, mixing refracted slang with swaggeringly artificial cadence.” (Mars-Jones, „Anti-Dad”) 271 Die Fusion von Ironie und Paradoxie wird beispielsweise durch die Mutter von Lionel Asbo, Grace, aufgrund ihres geistigen Abbaus im Altersheim umrissen: „,There’s all these barebacked plugs and the fire doors are all jammed.

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„State of England“ verweist auf die Paradoxie im Dienste eines satirischen Soziogramms des kulturellen Zustands Englands.272 Die Paradoxie wirkt gesellschaftskritisch als Hilfsmittel der satirischen Intention und erhebt die Milieustudie, die Amis als Querschnitt der englischen Unterschicht zeichnet, zur ‚Groteske der Groteske‘. Die autoreferentielle Meta-Groteske führt Amis durch Asbos Selbstreflektion in einem Prozess pervertierter Ironie-Signale ad absurdum, wenn dieser seinem Neffen eindringlich erklären will, worin der Reiz für seine Gespielinnen besteht, sich mit ihm zu vergnügen: „[,] They pay for the room and the champagne and that … She’s controlling her own little treat, see. Which is?’ ,I don’t know.’ ,The joy of messing around with someone stupid.’ ,You’re not stupid, Uncle Li.’ ,Yes I fucking am.’” (LA, 204-5) Die humoristische Ebene der Sprache, die zunächst als überaus unterhaltende Maßnahme eingesetzt wird, verwandelt sich im Laufe der Handlung in die Erkenntnis, dass Absurdität und vermeintliche Ironie die Kategorien des ,Normalen’ nicht nur durch den pervertierten Duktus der Sprache ersetzen, sondern zur eigentlichen Norm umfunktioniert werden. Der Moment der Erkenntnis, wenn für den Leser deutlich wird, dass Asbo die ironisch wirkenden Äußerungen ohne jegliche ironische Intention ausspricht, multipliziert die groteske Motivik, die als ihre eigene Farce entlarvt wird. Amis‘ Literatur des Schocks zeigt durch verlorene Normen eine Desorientierung, die auf die Kategorie des Parodistischen verweisen kann.273 Der dystopische Schauplatz Diston, ein fiktiver Ort, der Amis als Mikrokosmos stellvertretend für den Gesamtzustand Englands dient, führt eine paradoxe Welt der gegenwärtigen populärkulturellen Mentalität des Überflusses und der gleichzeitigen gesellschaftlichen Verarmung vor.274 Die Drastik und Unmittelbarkeit von Amis‘ Generalangriff

She’s got rope burn on her wrists. And frozen joints and pressure sores. And I saw a tin of Whiskas on her bedside table.’ ,Whiskas?’ ,She needs better care, Uncle Li.’ ,Well it’s not for fairies, is it. Old age.’ ,She’s just turned forty- five.’ ,Then what she expect? Comes to us all. And anyway, why bother moving her? It’s all one to Grace. She’s past caring.’” (LA, 163). Dass Grace, die als Mid-Vierzigerin bereits Großmutter eines Teenagers ist, in der Vorstellung ihres Sohns schon dem körperlichen und geistigen Verfall ausgesetzt ist, stellt nur ein Beispiel für die verquere Welt Lionel Asbos dar, die den Leser mit einer derart konsequenten Abweichung vom Allgemeingültigen konfrontiert, dass nur Paradoxien das zentrale Lebensgefühl Asbos pointieren können. Die Ironie, die nicht als solche intendiert ist, erlangt ebenso einen doppelten Effekt, wenn sich für den Rezipienten herauskristallisiert, dass er die Ironie nur auf die Figur Asbo projiziert. 272 Amis veröffentlichte in Heavy Water and Other Stories (1998) bereits eine Kurzgeschichte mit dem Titel „State of England“, in der auf Handlungs- und Figurenebene als Mikrokosmos ein Kreuzfahrtschiff mit englischen Urlaubern stellvertretend für den kulturellen Verfall Englands besetzt wird. Vgl. Martin Amis, Heavy Water and Other Stories (London: Vintage, 2004); im Folgenden HW. Die Subgattung des „Condition-of-England novel“ der viktorianischen Literatur, deren zeitgemäße Analogie im „State-of-England novel“ erkennbar ist, erfährt auch durch Amis‘ Lionel Asbo eine Wiederbelebung: „The label has been revived fairly recently by Martin Amis’s Lionel Asbo: State of England (2012), in the wake of his earlier Money: A Suicide Note (1984), which provided a radioscopy of 1980s London.“ (Jean-Michel Ganteau, „Vulnerable Form and Traumatic Vulnerability: Jon McGregor’s Even the Dogs”, in: Contemporary Trauma Narratives: Liminality and the Ethics of Form, ed. Susana Onega and Jean-Michel Ganteau (New York: Routledge, 2014), 89-103; 89-90) 273 Vgl. Hutcheon, A Theory of Parody, 79. 274 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke, hg., Texte zur Theorie des Pop (Stuttgart: Reclam, 2013).

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auf Medien, Popkultur, Reality-Fernsehen und die Welt talentfreier Prominenter werden schon in der Grenzüberschreitung der ersten Zeilen des Romans deutlich: I’m having an affair with an older woman. Shes’ a lady of some sophistication, and makes a refreshing change from the teen agers I know (like Alektra for example, or Chanel.) The sex is fantastic and I think I’m in love. But ther’es one very serious complication and i’ts this; shes’ my Gran! (LA, 3)

Desmond Pepperdine, eine der Hauptfiguren des Romans und der Neffe Lionel Asbos, formuliert seine persönliche Situation in einem Leserbrief an die ‚Dear Daphne‘-Kolumne der Sun. Nervös erwartet er eine ausführliche, gedruckte Antwort und flüchtet sich in seiner Verzweiflung in paradoxe Denkmuster. Er vermutet, sein Anliegen könne zu trivial sein, um besprochen zu werden: First, naturally, he wrenched open the Sun, and thrashed his way to ,Dear Daphne’. Worries about getting an erection, worries about keeping an erection, the many girls whose married boyfriends wouldn’t leave their wives, the many boys who loved the feel of women’s clothing: all this, but nothing about a fifteen-year-old and his nan. Eleven days had passed since he posted his letter. Why hadn’t Daphne printed it? Was it too terrible? No (or so a part of him still wanly hoped): it was too trivial.” (LA, 34)

Die Trivialisierung ernsthafter Themen setzt Amis als Strategie ein, um Fragen nach Orthodoxie und Normativität außer Kraft zu setzen. Der Leser kann sich im Laufe der Handlung der paradoxen Werte- und Normenverkehrung nicht entziehen und taucht immer mehr in den bizarren Schauplatz Diston ein: Town wasn’t quite as noisy as Cairo, but it was famous for its auto-repair yards, sawmills, and tanneries, and for its lawless traffic; it seemed also to get more than its fair share of demolitions, roadworks, municipal tree-prunings and leaf-hooverings, and more than its fair share of car alarms, burglar alarms, and fire alarms (the caff hates the van! the bike hates the shop! the pub hates the bus!), and, of course, more than its fair share of sirens. In this sector of the world city, compact technology had not yet fully supplanted the blaring trannies and boom boxes and windowsill hi-fi speakers. People yelled at each other anyway, but now they yelled all the louder. Nor were Jeff and Joe the only neighbourhood dogs who suffered from canine Tourette’s. The full-mouthed pitbulls, the screeching cats, the grimily milling pigeons; only the fugitive foxes observed their code of silence. Diston, with its burping, magmatic canal, its fizzy low-rise pylons, its buzzing waste. Diston – a world of italics and exclamation marks. (LA, 33-4)

In Diston, der „Welt der Kursivierung und Ausrufezeichen“, verabredet man sich zu sogenannten Garagentreffen, um sich einvernehmlich gegenseitig zu verprügeln.275 Die Paradoxie der Gewalt entwickelt sich dabei als Para-Text, der den von Legalität und Normativität geprägten Haupttext subversiv unterwandert. Schlägereien mit zahlwilligem Publikum tragen ohne Regeln, ohne Schiedsrichter und ohne Grenzen zur Alltäglichkeit und Beiläufigkeit und damit auch zur Ästhetisierung von Brutalität und Gewalt bei. Dies ist nicht die Ausnahme, sondern gehört in Diston zum guten Ton: „Didn’t mean a thing. See, we always rucked. As babies, toddlers, kids,

275 Vgl. im Zusammenhang mit den in Lionel Asbo beschriebenen „garage meets“ die Parallele zu David Finchers Film Fight Club (1999).

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youths, grown-ups – always rucked. Long fights, serious fights. Why? Out of respect. To keep ourselves honest.” (LA, 79) Die Paradoxie der körperlichen Gewalt als Resultat von Respekt erklärt die derbe Gossenmentalität, die entgegen jeglicher Vorstellung des normalen Menschenverstands funktioniert und die durch eine gewisse ,Straßen-Authentizität‘ das moralische und juristische Gesetz außer Kraft setzt. Sämtliche Aspekte, die für das Funktionieren und friedvolle Zusammenleben einer sozialen Gemeinschaft eine Rolle spielen, erweisen sich in Diston als irrelevant und dienen der Entlarvung eines übertrieben moralinsauren Zeitgeistes einerseits und der vor allem medial vorangetriebenen verdummenden Domestizierung der Massen andererseits: „In Diston […], everything hated everything else, and everything else, in return, hated everything back. Everything soft hated everything hard, and vice versa, cold fought heat, heat fought cold, everything honked and yelled and swore at everything, and all was weightless, and all hated weight.” (LA, 165) Die Groteske in Lionel Asbo arbeitet in höchstem Maß mit dem Element der Verzerrung und einer bizarren Überdehnung der Realität, die Amis mit skurrilen Superlativen jonglieren lässt. Sie steht in enger Verbindung zum Begriff des Absurden, wie er insbesondere für die existenzialistische Literatur Eugène Ionescos, Jean-Paul Sartres, Albert Camus‘ und Samuel Becketts von Bedeutung ist und die damit verbundene Referenz auf eine condition humaine, die in Lionel Asbo nur in invertierter, pervertierter Form aufzuspüren ist. Das Absurde kann als eine „Kategorie der Weltwahrnehmung“ über den Ansatz der bloßen Sinnlosigkeit oder Sinnwidrigkeit hinaus auf eine Philosophie des menschlichen Daseins verweisen.276 Tabubruch und Grenzüberschreitung werden dabei als wesentliche Ingredienzen der satirischen Gattung funktionalisiert, um den gesellschaftskritischen Auftrag des Satirikers umso eindringlicher aufzuzeigen.277 Ein Morning-Lark-Artikel über ein zweijähriges Mädchen beispielsweise thematisiert, wie in Diston bereits ein Kleinkind mit dem Gesetz in Konflikt gerät: And with miming lips he started on a report about a two-year-old who was already in trouble with the law! … This little minx, this little … This little monkey – she was striping all the cars with a doorkey … She was stealing cash and smashing windows … And she got pissed on her mum’s vodka and when the woman from the Social come round she bit her one on the…[…] No, come on, you got to give her credit. Yet to celebrate her third birthday, and this little bleeder’s already… (LA, 123-4)

276 Vgl. Sabine Schlüter, Das Groteske in einer absurden Welt: Weltwahrnehmung und Gesellschaftskritik in den Dramen von George F. Walker (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007), 19. 277 Vgl. Lamping, Handbuch der literarischen Gattungen, 349-50: „Im Rahmen seines Entwurfs von volkstümlicher ‚Lachkultur‘ sah Bachtin Groteske als volkstümlichen Abwehrmechanismus gegen das Undurchschaubare der Welt und die eigene Machtlosigkeit, ein utopisches Moment, in dem das verlorene ‚Goldene Zeitalter‘ aufscheine: In den grotesken Körpern auf dem Jahrmarkt und im Karneval habe sich der Mensch über seine existenziellen Bedrohungen erhoben, Tod erscheine hier nur noch als notwendige Voraussetzung für eine Wiedergeburt. Seine Theorie des grotesken Körpers thematisiert vor allem Ausbuchtungen, Öffnungen, in der Folge auch Essen, Trinken, Verdauungsprozesse oder Sexualität als permanente Überschreitungen von Körpergrenzen. Bachtin weitet den ‚Groteske‘-Begriff dabei nicht nur zeitlich aus, er untersucht über Werke der Kunst und Literatur hinaus auch gesellschaftliche Ereignisse.“

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Das Element des Hyperbolischen verkörpert die dystopische Extrapolation gegenwärtiger sozialer Defizite und schreibt sich als Reflex in den Handlungsstrang ein: „In Amis’s fiction exaggeration is often no more than a reflex, though a revealing one, since it testifies to such a fear of being middle of the road, of being less than extreme, of being left behind.”278 Die Tendenz zum Extremen und zur Maximierung transformiert die groteske Welt jedoch zu einem surrealistischen Ort „jenseits der Übertreibung“ und kann daher nur eingeschränkt der satirischen Intention auf Kosten des „verlorenen Effekts der Paradoxien“ gerecht werden:279 And there it is, the voice in a generation’s ear, charming without charm, insistently dazzling, milking the paradoxes until their teats are sore and they have no more nourishment to give. It’s easy to write Amislike sentences, hard to write good ones, and there are signs that Amis feels this too.280

Lionel Asbo symbolisiert als Inbegriff eines zeitgenössischen Antihelden eine fleischgewordene Groteske. Ausnahmslos wird jede Überlegung, Äußerung und Handlung Lionels als das genaue Gegenteil der Lesererwartungen und sein gesamtes Leben als skurril-absurder Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Norm dargestellt, der gleichzeitig auf die ansteigende ,Normalität‘ asozialen Verhaltens aufmerksam macht: Again, the distortion must not proceed to the point of pure senselessness, but must result in the creation of an entirely new ordering principle, an ‚anti-norm.‘ The customary order of things must seem to give way to a kind of deranged intent on the part of nature itself. The current of demonic fear expresses itself in this case not as the menace of a bogey, but as the collapse of a world. The familiar structure of existence is undermined and chaos seems imminent. This aspect is intensified when concrete manifestations of decay appear and a feeling of hopelessness and corruption is developed. The ludicrous aspect, in turn, arises from the farcical quality inherent in such scenes of absurdity and approaching chaos.281 Durch die paradoxe Struktur der Antinormativität werden auf Holismus angelegte Kategorien der Ordnung und standardisierte Grundsätze exterminiert, die dadurch implizierte Kollabierung sämtlicher Wertesysteme wird in Lionel Asbo als Konsequenz der auf Chaos basierenden Absage an das Vertraute literarisch dargeboten. Wenn der Leser realisiert, dass die übertrieben grotesk wirkende Darstellung bizarrster Paradoxien aus der Peripherie ins Zentrum rückt und Lionel Asbo mehr als gesellschaftliche Norm denn als Außenseiter oder „Anti-Norm“ erscheint, wird die eindringliche Vehemenz der Darstellung einer gesellschaftlichen Verarmung zunehmend erkennbar. Im Vergleich mit Lionel Asbo wirkt der Protagonist aus Amis‘ Money, John Self, trotz frauenfeindlicher Parolen und seines menschenverachtenden Weltbildes schlichtweg harmlos. Das besonders Erschreckende an Lionel Asbo ist die konsequente Ignoranz, die ihn in einen

278 Mars-Jones, „Anti-Dad“. 279 Vgl. ebd. 280 Ebd. 281 Lee Byron Jennings, The Ludicrous Demon: Aspects of the Grotesque in German Post Romantic Prose (Berkeley: University of California Press, 1963), 18.

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dauerhaften Zustand der moralischen Vollnarkose versetzt. Als sein mit einem erheblich höheren Maß an Verantwortungsgefühl ausgestatteter Neffe Desmond, genannt Des, feststellt, die Ernährung seines Onkels könne ausgewogener und vitaminreicher sein, – Lionels Frühstück besteht in der Regel aus Zigaretten und der Zeitschrift Morning Lark – kontert dieser mit einer nicht intendierten Ironie: „What you think a Pop-Tart is? Look. Nice bunch of grapes.” (LA, 18-9) Die Stellen im Text, die Ironie unterstellen, können als Momente vollkommener serenitas entlarvt werden. Lionel soll eine Art Ersatzvater für Des verkörpern, offenbart sich aber schnell als paradoxes Gegenbild oder Antivater, dessen Rat der vernünftige Des instinktiv und konsequent zu ignorieren weiß: „It was the way they’d always seemed to manage it. The anti-dad, the counterfather. Lionel spoke; Des listened, and did otherwise.” (LA, 56)282 Den Angriff auf logisches Denken und vermeintliche Normen führt Amis in Lionel Asbo mit der Waffe des Paradoxen aus. Zahlreiche Allgemeinplätze werden im Roman der Lächerlichkeit preisgegeben, indem sie in verkehrter und verzerrter Weise als Ausgeburt eines pervertierten Geistes auftreten. Die Paradoxie wird zum Instrument fundamentaler Attacken auf das Erwartete und Schlüssige und zum Symbol von Inkohärenz, Chaos und Aufbegehren. Das Fundament logischen Denkens ist auf festgelegten Denkmustern und rationalen Prinzipien gegründet, gerät dieses aus dem Lot, schwindet auch die Selbstverständlichkeit vernunftgemäßen Urteilsvermögens. Die Paradoxie verkommt jedoch nicht zur bloßen Sprachhülse, sondern zeitigt auch in der banalsten Form ihrer Existenz eine tiefgründige Wirkungsabsicht. Die Einwohner Distons leben in einem Umfeld der Übersexualisierung und Verrohung, in dem Sexualkunde nicht pädagogisch und einfühlsam vermittelt wird, sondern durch die scharfgestellte Linse der Pornographie in höchstmöglicher Auflösung über den Flachbildfernseher, Computerbildschirm oder das Smartphone flimmert: „Chanel was the same – and Joslinne, and Jade. What did you expect? They started learning about the birds and the bees (in high definition) when they were three.” (LA, 24) Ausgerechnet Des Pepperdine verkörpert trotz der inzestuösen Verbindung zu seiner Großmutter Grace eine Art ordnungsstiftende Instanz, indem er inmitten einer Umgebung des Chaos und der Willkür für den Leser immer wieder die Möglichkeit zur moralischen Identifikation bietet. Den Sohn von Lionels verstorbener Schwester Cilla und einem dunkelhäutigen, ihm kaum bekannten Vater, prägt auf kultureller wie sozialer Ebene eine paradoxe Existenz in den Zwischenräumen. Des‘ Wesen ist vor dem Hintergrund des interethnischen Aspekts stark geprägt, zusätzlich ist er auch innerhalb der Pepperdine-Familie von einer Form der Alteritätserfahrung beeinflusst. Der erste Teil des Romans kategorisiert Des als Renaissance Boy, eine

282 Vgl. dazu auch: „He also had that familiar sense of Lionel as a kind of anti-dad or counterfather.” (LA, 22)

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Verniedlichung, aber auch gleichzeitige Referenz auf die Idee des Originalgenies, die Des zum Sympathieträger avancieren lässt.283 Trotz oder aufgrund seiner tragischen Vergangenheit hat er als einzige Figur im Roman einen klaren und rationalen Blick auf sein Umfeld. Lediglich in Bezug auf seinen Onkel Lionel setzt bei Des ein Idealisierungsmechanismus ein, da ein Zusammenleben anders kaum möglich wäre. Zu groß ist die Kluft zwischen den beiden Hauptfiguren des Romans, denn während sich Des gerne den Studien der Literatur hingibt, definiert sich Lionel Asbo vorrangig über seinen sprechenden Namen: „ASBO“ bezeichnet eine einstweilige Verfügung, die aufgrund von asozialen Verhaltensweisen verhängt wird.284 Zwar nennt er sich erst ab seinem 18. Geburtstag Asbo, die kriminelle Laufbahn wurde ihm jedoch bereits in die Wiege gelegt. Seine Schwester Cilla und seine Brüder, die ausschließlich nach den

Mitgliedern der Beatles benannt wurden, fürchteten Lionels Unmut schon in jungen Jahren: „If any of the brothers played with his toys (even when he wasn’t there), they lived to wish they hadn’t. John, Paul, George, Ringo and Stuart were all very afraid of their little brother. John, who was then aged seven, told Cilla, who was then aged eight, that he was very afraid of Lionel, who was then aged two.” (LA, 26)285 Lionel muss ein Antiaggressionstraining absolvieren, während Des starke Reue und schwere Schuldgefühle aufgrund der inzestuösen Beziehung zu seiner Großmutter plagen. In einer Reflektion über den Tod seiner Eltern erlebt Des einen Moment der Epiphanie: As he rinsed the glass and cleaned the ashtray (and put the dogs out) and vaguely dreamed about Queen Anne’s College (the one poem, the cosmos of the University), something struck him as suddenly as the sun struck the rain on that last day with his mother: It will take a whole new person to make me whole. A whole new person. It can’t come from anything within. I’ll just have to … I’ll just have to wait. I’ll wait. Where is she? I’ll wait. (LA, 62)

Der Moment des Epiphanen erschließt sich für Des als Augenblick der emotionalen Offenbarung inmitten der verwahrlosten Welt Distons, die auf die Allgegenwärtigkeit von Gewalt aufgebaut ist. Des ist der Träger tief verankerter ethischer Grundsätze, einer Grundhaltung der Benevolenz und einer ausgeprägten Arbeitsmoral. Im direkten Kontrast zu ihm ist Lionel zwar angeblich „zu beschäftigt mit seiner Karriere“, diskreditiert sich aber gleichzeitig als hohler Phrasendrescher: „Too busy with me career, he murmured. Workaholic, if you like. Earning a crust and keeping the old wolf from the door.” (LA, 115) Die invertierte Polarität im Roman lässt Des als moralische

283 Vgl. „Part One: 2006: Desmond Pepperdine, Renaissance Boy”. Vgl. auch das der Figur Xan Meo gewidmete Kapitel „Renaissance Man” in Yellow Dog. 284 „ASBO, which (as all the kingdom now knew) stood for Anti-Social Behaviour Order.” (LA, 27) Vgl. dazu auch das Zitat aus der Kapitelüberschrift: „Could it be possible that Lionel Asbo, the great asocial, was in certain settings a social being?” (LA, 74-5) 285 Die Geschwister Cilla und Lionel werden innerhalb ihrer Familie liebevoll „die Zwillinge” genannt, da sie die einzigen Geschwister sind, die den selben Vater haben.

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Instanz erscheinen,286 er sieht sich gezwungen, sich kontinuierlich Rechtfertigungsstrategien für die Ignoranz seines Onkels zurechtzulegen. Als Des und seine Freundin Dawn erfahren, dass sie Eltern werden, schwelgt Des in Zukunftsplänen, aus denen ihn Lionel durch seine eingeschränkte Denkfähigkeit unmittelbar auf den Boden der Tatsachen seiner stumpfsinnigen Präsenz zurückholt: „Des leaned back and closed his eyes and said dreamily, ,I fancy a girl.’ ,Oh yeah? Who?’ Was Lionel being sarcastic – or just stupid on purpose? ,No. I fancy having a girl.’ ,Yeah? Who?’ ,No, Uncle Li. I fancy fathering a girl.’ ,Oh. Oh. Well that’s you own business [.‘]” (LA, 155) Lionel mischt sich Hochprozentiges zum Frühstück und bestellt Lamm Vindaloo vom indischen Lieferservice für seine kulinarisch weltoffenen, jedoch verhaltensgestörten Pitbulls Joe und Jeff. Des hingegen verkörpert Intellekt, Moral und Toleranz, er schließt vorbildlich die Schule ab, jedoch bedarf es ausgiebiger seelischer Vorbereitung, seinem Onkel die Aufnahme am Queen Anne’s College zu beichten: „It took him a long time to break the news to Lionel. Lionel was bitterly opposed to higher education.“ (LA, 57) Die auf den Kopf gestellten Werte Asbos sorgen wiederholt für einen tragikomischen Effekt. Aufgrund der durch die Serie verbalisierter paradoxer Denkansätze entstehenden Gewohnheit werden sprachliche Wirkung und komische Effekte gemildert. Asbo verkörpert darüber hinaus ein Beispiel der paradoxen Pervertierung des Zeitgeists der generation Y. Als Lionel Des inmitten einer Lyrikanalyse erwischt, stellt er entsetzt die normale Entwicklung seines Neffen in Frage: „I despair of you sometimes, Des. Why aren’t you out smashing windows? It’s not healthy.“ (LA, 6)287 Paradoxie im Dienste der Vernunftkritik zeigt sich auch in der Parodie des Konzepts eines advocatus diaboli, weil Lionel scheinbar unsinnige Positionen des Widerspruchs einnimmt. So rät er Des dringlichst von einer Steigerung der Allgemeinbildung ab, die aus seiner Sicht durch die tägliche Zeitungslektüre unweigerlich anzuwachsen droht: ,You don’t want to read the papers, Des,‘ said Lionel, turning the page of his Morning Lark and smoothly realigning its wings: Hubbie Nabbed Over Wheelie Bin Corpse Find. With a look of the sharpest disapproval, he added, ,All that’s none of you concern.’ ,So you don’t follow it – all that … Uncle Li, why are we in Iraq?’ Lionel turned the page: Noreen’s Lezbo Boob Romp Shock. ,Or don’t you know about Iraq?’ ,Course I know about Iraq,’ he said without looking up. ,9/11, mate.’ (LA, 35-6)288

Die Verzerrung und Überdehnung der Realität sind für Amis typische stilistische Charakteristika, die er auch in Lionel Asbo mit dem Mittel der Groteske satirisch in Szene setzt.289 So entpuppt

286 Mars-Jones, „Anti-Dad”. 287 Vgl. auch Asbos Kritik an Des‘ Umgang mit seinen Pitbulls: „The dogs, Desmond. The dogs. They never had a chance. You fucked them up when they was just pups. [...] I go away for a while. I return. And they both lying on they backs and wagging they tails! They like poodles.” (LA, 107) 288 Für eine Analyse zu Amis’ Auseinandersetzung mit dem 11. September 2001 siehe auch Kapitel 6 ab Seite 101 in dieser Arbeit. 289 Vgl. Mars-Jones, „Anti-Dad”: „Distortion is back in full force, and Amis reverts to exaggeration and the grotesque, which are not for him ways of exploring dangerous subjects but rather places of safety and business as usual.”

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sich Lionels Trauzeugenrede als Grabesrede, die eine Massenschlägerei einleitet und die Hochzeitsfeier seines besten Freundes Marlon mit dessen Frau Gina beendet.290 Die Groteske erreicht ihren ersten Höhepunkt als Lionel, besorgt um das moralische Ansehen seiner Mutter Grace, vermutet, ihrer vermeintlichen Affäre mit einem Schuljungen auf die Schliche gekommen zu sein. Asbos Rolle des Moralapostels ist schnell durch seinen Vorschlag, den vermeintlichen, jungen Liebhaber der Mutter endgültig zu beseitigen, ad acta gelegt. Als ihn die Information erreicht, seine Mutter habe ein Verhältnis mit Des‘ Schulfreund Rory Nightingale, schwört Lionel in einem Moment der Peripetie bittere Rache. Parallel zu Lionels Mission, Licht ins Dunkel von Graces Liebschaften zu bringen, formen sich in der grotesken Inszenierung des Alterungsprozesses, der schon in früheren Werken von Amis eine Rolle spielt, weitere paradoxe Umkehrungen.291 Graces allmählicher körperlicher und geistiger Verfall wird als eine Saga der Panikzustände, Vergesslichkeit und Depression inszeniert.292 Die Metapher für Graces Zustand der Demenz basiert auf dem Bild der Reise auf hoher, dunkler See, während ein Stern nach dem anderen endgültig erlischt:293 „And he felt he was preparing for a long voyage on a dark sea where, one by one, all the stars would be going out.“ (LA, 60) Neben alterstypischen Beschwerden diagnostiziert Lionel seiner Mutter den Beginn ihrer Menopause und ist davon überzeugt, ihre Erinnerung weiche zunehmend einer altersbedingten Demenz. Er weiß sich nur noch mit ihrer Einweisung in ein Altersheim zu helfen: Just been round there. I told her, Mum? Pack you nightie. They coming for her in the morning. Two nice male nurses. […] ,How’d she take it?’ ,Oh, you know. On come the waterworks. I’ll miss me sister! All this. I said, Woman – you forty-two. You can’t fight the march of time! … She’ll love it once she’s there.’ (LA, 104-5)

290 „Uncle Li’s been working on his speech. The best man’s speech. You know, the eulogy.” (LA, 73) In seiner Trauzeugenrede offenbart Lionel für sein Publikum außerdem eine seiner Grundmaxime: „Marl was craftier, and quicker on his toes. I was more headstrong. I wouldn’t learn. For me, for me that’s a point of principle. Never learn.” (LA, 77) 291 John Self beispielsweise analysiert das Altern in einem eindrucksvollen inneren Monolog am Ende des Romans Money: „Oh yeah. I think I’ve cracked my age problem, my time problem – sussed it, not solved it. A product of the Sixties, I was led to believe that being young was quite an achievement. Everyone seemed to encourage me in this apprehension, especially the old. An iconoclast, I had no time for mortality. I used to stand around denouncing you all – you old fucks – and you just nodded and smiled. You seemed to think I was wonderful … Come to think of it, I didn’t look too bad in those days. My rug was frizzy but strong and electrical. My gut was flat, my teeth were white. I was better then. But they told me I was everything, and they were lying, those old fucks.” (M, 392) Vgl. in diesem Zusammenhang zur Thematik des Alterns in der Literatur auch Rudolf Freiburg und Dirk Kretzschmar, hg., Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012). 292 „[S]aga of anxiety, weight loss, heart palpitations, insomnia, depression, chronic fatigue, and osteoporosis. In addition, she kept mislaying things.” (LA, 56) 293 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das in The Pregnant Widow gezeichnete Bild des Alterns und der Vergangenheit als Betreten eines unentdeckten Kontinents: „This is the way it goes. In your mid-forties you have your first crisis of mortality (death will not ignore me); and ten years later you have your first crisis of age (my body whispers that death is already intrigued by me). But something very interesting happens to you in between. As the fiftieth birthday approaches, you get the sense that your life is thinning out, and will continue to thin out, until it thins out into nothing. And you sometimes say to yourself: That went a bit quick. That went a bit quick. In certain moods, you may want to put it rather more forcefully. As in: OY!! THAT went a BIT FUCKING QUICK!!!... Then fifty comes and goes, and fifty-one, and fifty-two. And life thickens out again. Because there is now an enormous and unsuspected presence within your being, like an undiscovered continent. This is the past.” (PW, 4)

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Der Prozess des Alterns wird durch den Zynismus von Euphemismen und die Mittel der Ironie und Paradoxie satirisch ins Bild gesetzt. Die Thematik der Demenz zeigt sich als selbsterfüllende Prophezeiung, wenn Lionel seiner Mutter kontinuierlich ihre angebliche Vergesslichkeit und Senilität suggeriert, und ihr damit versucht einzubläuen, das trostlose Dasein im Altersheim als einzige Lösung für ihre ausweglose Situation zu akzeptieren. Der Aspekt des Alterns findet in Diston in einem Programm der Zeitraffung statt:294 In dusty Diston […], nothing – and no one – was over sixty years old. On an international chart for life expectancy, Diston would appear between Benin and Djibouti (fifty-four for men and fifty-seven for women). And that wasn’t all. On an international chart for fertility rates, Diston would appear between Malawi and Yemen (six children per couple – or per single mother). Thus the age structure in Diston was strangely shaped. But still: Town would not be thinning out. (LA, 9)

Lionels Lottogewinn, der zu einem zentralen Wendepunkt der Handlung wird, führt die pervertierte Ordnung der Erzählwelt erneut ad absurdum. Asbo gewinnt einen hohen, mehrstelligen Betrag, durch den die Paradoxie des monetären Aufstiegs die Diskrepanz zwischen Sein und Schein besonders deutlich zeigt. Anders als etwa die Bewohner von West Egg in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1925) verkörpert Asbo nicht den durchschnittlichen Neureichen, der durch Geschäfte einen erheblichen gesellschaftlichen Aufstieg erreicht hat – wobei auch hier Grenzen gesetzt sind, ganz nach oben konnte es auch Jay Gatsby nicht schaffen –, sondern eine groteske Karikatur eines zeitgenössischen Medienkonstrukts. Asbo ist dem Rampenlicht und der Öffentlichkeit nicht gewachsen, er wird bloßgestellt, vorgeführt und gleichzeitig stellvertretend für eine ganze Spezies der Unterhaltungsbranche despektierlich medial inszeniert. Sein einprägsamer Soziolekt lässt ihn schon zu Beginn des Romans als Prototyp der unteren Schichten erkennen. Der satirische Effekt wird auf sprachlicher Ebene inszeniert, wie beispielsweise in einer hieroglyphischen Notiz, die er für Des in der Wohnung hinterlässt: „DES BE AT NORF GATE ON SATDEE JULY 11 TWELVEFIRTY BRING ME DRIVE-IN LICENSE ME BIRF STATIFICAT ME BLAK SELL FONE AND ME CUMPEW UH [.]” (LA, 86) Grammatikalische Grundregeln, Rechtschreibung oder Interpunktion erweisen sich für Asbo als überbewertet, das Glück seines Lottogewinns bestätigt die Option des medialen Erfolgs trotz mangelnder Talente. Asbo kommt ohne jegliche Leistung zum finanziellen Erfolg und wird nach seinem Geldgewinn zu einer begehrten Persönlichkeit für die Boulevardpresse, die ihn auf Schritt und Tritt beim Ausgeben seines neugewonnenen Vermögens verfolgt.295

294 Vgl. Mars-Jones, „Anti-Dad“. 295 Vgl. LA, 132: „A word, therefore, about Lionel’s finances. In his three weeks of freedom Lionel Asbo spent nine million pounds, nearly all of it on craps, blackjack, and roulette (there was also the unused Bentley ,Aurora’, and a seven-figure clothes bill). But his investments prospered almost uncontrollably right from the start.”

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Der „korrumpierende Einfluss von Geld“ findet sich in Lionel Asbo wie auch schon in Money im Zentrum des Romans wieder und erinnert an die Gesellschaftskritik Charles Dickens‘:296 „As demonstrated by his earlier novels, Amis is, like Dickens, an insistently moral writer, satire being an edifying genre with a noble cause: the improvement of society.“297 Asbo wird zu einer Zerrgestalt und paradoxen Projektionsfläche der Artifizialität der zeitgenössischen Medienwelt. Als eine Art Prototyp des Pöbels propagiert er Talentfreiheit, da er den Einzug in die Medienwelt ohne jegliche Qualifikationen, Fähigkeiten oder Begabungen vollzieht.298 Die Klientel seines Stammhotels South Central verkörpert, wie Asbo selbst, Reichtum und Ruhm fernab anerkannter Errungenschaften. Der Welt Distons, die einst eine geordnete und einschätzbare Umgebung für Lionel bot, versucht er im Zuge seiner finanziellen Unabhängigkeit den Rücken zu kehren, doch wie nicht anders erwartet, kann Lionel zwar Diston verlassen, Diston aber nicht Lionel. Als er ein Haus mit vielen Antiquitäten kauft, fühlt er sich direkt in seine alte Lebenssituation zurückversetzt: „Everything’s got to be new. I had my fill of f***ing antiques when I was growing up in Diston.’ […] ,Or do you think it suits me, Daph, all this old gear? Trouble is, it aggravates me class hatred.’” (LA, 146) Der Klassenhass bezüglich einer Schicht, der Asbo unabdingbar zugehörig bleiben wird, zeigt erneut seine verzerrte Selbstwahrnehmung. Die Szene, in der Asbo während eines Besuchs in einem Sternerestaurant in seiner Unbeholfenheit und Tölpelei inmitten der gehobenen Umgebung als komplett deplatziert auffällt, leitet einen vorübergehenden Wendepunkt der Selbstwahrnehmung Asbos ein. Dieser findet sich in einer Welt wieder, die ihm, anders als sein Stammhotel South Central, nicht vertraut ist und in welcher er über seinen für jeden anderen Gast eindeutig sichtbaren Orientierungsverlust nicht durch Geld hinwegtäuschen kann: „The caviar came. He’d had caviar before, because it was often the most expensive starter, and caviar, he found, was tasty enough so long as you seasoned it with Tabasco[.]“ (LA, 122) Obwohl Asbo

296 Vgl. Kathryn Harrison, „Lottery Lout, ,Lionel Asbo,‘ by Martin Amis”, The New York Times (16.08.2012), (zuletzt besucht am 08.09.2014). Die Thematik des korrumpierenden Charakters von Geld zeigt sich nach Lionel Asbos Lottogewinn, als er in ein Luxushotel eincheckt, aus dem er nach einem kurzen Aufenthalt aufgrund unangemessenen Benehmens herausgebeten wird: „He swam in the pool in his Y-fronts … And he asked the masseuse for ,relief’ … He watched a film in his room called MILFs Gone Mad. Then he went and watched more filth in the business centre! […] He was sitting there with all these bankers and diplomats and sheiks.” (LA, 100) 297 Harrison, „Lottery Lout, ,Lionel Asbo,‘ by Martin Amis”. 298 Die Journalistin Daphne fasst Lionels medialen Aufstieg in einem Artikel als eine Laufbahn geprägt von Talentlosigkeit und unverdientem Reichtum zusammen: „Lionel Asbo is now a very wealthy man (see sidebar). And for what? The rewards have been huge, whilst the endeavor, and the talent, have always been non-existent. Thus, the trappings of wealth, in Asbo’s case, are just a constant reminder of his basic worthlessness. His self-esteem is no higher than his IQ (which barely aspires to double figures). This – combined with severe emotional disorders, and an alarming shakiness in the sexual sphere – has produced a terrible stew of violent insecurity and hollow pride. […] And I’m thinking, of course, that it’s young Des Pepperdine who’s faced a challenge and surmounted it. It’s young Des Pepperdine who’s achieved something in this life. It’s young Des Pepperdine who’s ,come good’. ,Not Lionel Asbo.’” (LA, 151-2)

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seine Vorspeise nach dem höchsten Preis auf der Karte auswählt, entlarven seine kulinarischen Gewohnheiten, dass der Besuch im Gourmetrestaurant neues Terrain für ihn bedeutet, wenn er den hochwertigen Kaviar mit einem großzügigen Schuss Tabasco verfeinert. Diese Textstelle zeigt auf eindringliche Weise die Erkenntnis, die Asbo im Hinblick auf sein Autoimago erfahren muss und verkörpert gleichzeitig den einzigen Moment der Zusammenführung von Auto- und Heteroimago. Vor dem Einsetzen eines Schamgefühls und der ihn langsam beschleichenden Ahnung, isoliert als das Andere in einem neuen Umfeld wahrgenommen zu werden, ist auch der sonst so unsensible Asbo nicht gefeit, während er über der Melange aus Kaviar und Tabasco mit der für jeden sichtbar aufgeschlagenen Seite pornographischer Ablichtungen älterer Damen in der Zeitschrift Morning Lark die Blicke auf sich zieht: 299 Then he blushed. And it was as if all his blushes, all the blushes of a lifetime, had come to him at once. Like flames they plumed and hummed, wave after wave […]. Come on now, son, he told himself – steady. The Lark ain’t illegal or anything. On sale everywhere – great big stack of them in your corner shop. The Lark’s just a bit of fun. Everyone knows that. No harm in it. Just a bit of fun. Everyone knows that. (LA, 124)

Die Rechtfertigungsstrategie öffnet eine neue Tiefe der Figurendarstellung, Asbo reflektiert seine Außenwirkung und erkennt zum ersten Mal im Ansatz sein unangemessenes Verhalten. Die Situation im Gourmetrestaurant kann als Analogie zu seiner Rolle in der Gesellschaft verstanden werden und die Verstärkung der Distanz zur gesellschaftlichen Mitte ist an seiner Marginalposition im Restaurant abzulesen. Die „negative Darstellung sozialer Aufsteiger, die als dumme Tölpel karikiert werden, die mit ihrem Geld nichts anzufangen wissen und zum Gespött ihrer Bekannten verzweifelt versuchen, polite und kultiviert zu erscheinen, die aber letztlich in ihrer gehobenen gesellschaftlichen Position sehr unglücklich sind“,300 ist charakteristisch für satirische Texte und auch schon in Samuel Johnsons Essays zu finden.301 Gewiss gehört es nicht zu Asbos Bemühungen öffentlich besonders kultiviert aufzutreten, die Auswahl des Hummers verweist durch Asbos Umgang mit der lukullischen Speise jedoch auf die Fusion seiner einfachen Ursprungsumgebung mit den ihm neu zugänglichen gehobenen Kreisen:

299 Vgl. zur Thematik des dezentrierten Anderen auch Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, 12: „The teleology of art forms – from fiction to music – is both suggested and transformed. The centre no longer completely holds. And, from the decentered perspective, the ,marginal’ and what I will be calling […] the ,ex-centric’ (be it in class, race, gender, sexual orientation, or ethnicity) take on new significance in the light of the implied recognition that our culture is not really the homogeneous monolith (that is middle-class, male, heterosexual, white, western) we might have assumed. The concept of alienated otherness (based on binary oppositions that conceal hierarchies) gives way, as I have argued, to that of differences, that is to the assertion, not of centralized sameness, but of decentralized community – another postmodern paradox. […] Culture (with a capital C and in the singular) has become cultures (uncapitalized and plural), as documented at length by our social scientists. And this appears to be happening in spite of – and, I would argue, maybe even because of – the homogenizing impulse of the consumer society of late capitalism: yet another postmodern contradiction.” 300 Nünning und Nünning, Englische Literatur des 18. Jahrhunderts, 46. 301 Vgl. ebd.

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And then he went back inside to confront the scarlet fortress of the crustacean. Now the creature lay in front of him on its oval dish. There were two skewers (one with a curved tip) and a nutcracker. He picked up the gangly device: like the bottom half of a chorus girl made of steel… Fucking ugly-looking bugger, this fish. The shrunken, horror-comic face. And the monstrous hydraulics of the forearms. (LA, 125-6)

Das hässliche tote Krustentier mit seinem tragikomischen Gesichtsausdruck und den monströs wirkenden Scheren kann als Asbos Spiegelbild bezüglich seiner sozialen Hilflosigkeit und als eindringlichstes Symbol des Grotesken im Roman wahrgenommen werden.302 Die Symbolik von Maske und Täuschung, der Diskrepanz zwischen Sein und Schein, schlägt sich auch in der grotesken Verzerrung von Asbos, durch ein aufgesetztes Lächeln entstellt wirkendes Gesicht, nieder: „What’s happening, Des? Me face – me face, Des, it’s all distorted. From the smiling. I can’t get it back to what it was before! […] What’s happening? Where’s Lionel Asbo? Gone. I’m gone, boy, I’m gone.” (LA, 181)303 Besonders interessant wird Asbos Leben für die Presse, als er eine Beziehung mit der berühmten Threnody beginnt, deren Medienpräsenz ebenfalls auf der ,Berühmtheit für das Berühmtsein‘ basiert.304 Die Tiefgründigkeit des Klagelieds ist gewiss nicht auf Threnodys Wesen übertragbar, Asbo jedoch beschreibt sein erstes Treffen mit seiner ihm den Weg umgehend auf die Rückbank ihrer Limousine weisenden Schäferin, die ihm den locus amoenus der glitzernden Medienwelt vor Augen führt als unvergleichbar und sublimiert die ihn durch das erste gemeinsame ‚Schäferstündchen‘ direkt mesmerisierende Threnody zum Ideal seines Frauenbildes: ,Them other birds,’ says Asbo, ,they were all up for a porking on the very first night! Not ,Threnody’. She’s not that kind of girl. ,Lionel,’ she says, ,you’re like a little boy lost. Trust me. I’ll be your [...] shepherdess. And guide you through the er, celebrity circuit. Give me your hand.’ We shake on it. And she gazes into my eyes and she whispers, ,Let’s seal our pledge,’ she says, ,with a swift ,jobbie’ in the stretch.’ You know, the limo. There. Dead discreet.’ (LA, 149) Der paradoxe Höhepunkt einer grotesken Inszenierung, die die Verschmelzung zweier Welten symbolisiert, ist in Threnodys im Rahmen einer Werbekampagne für Reizwäsche angetretener

302 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kayser, Das Groteske, 196: Traditionell verkörpern verschiedene Tiere das Groteske, etwa Schlangen, Eulen, Kröten oder Spinnen, jedoch auch „das Nachtgetier und das kriechende Getier, das in anderen, dem Menschen unzugänglichen Ordnungen lebt. Das Groteske liebt weiterhin alles Ungeziefer.“ (Ebd.) Vgl. auch Jennings, The Ludicrous Demon, 9-10: „The grotesque displays something more than the superficial distortion of most caricature, which alters the outlines of a given original and gains its effect by exaggerating a part with respect to the whole; it is rather a distortion that penetrates to the bases of our perception of reality. It is significant that the grotesque figure commonly displays a union of disparate parts from the animal, vegetable, and mineral kingdoms or from the worlds of man and beast. The ,original’ (the human form in general) is not so much distorted in the strict sense as it is destroyed and rebuilt along new lines. There is a recombining of the elements of experienced reality to form something alien to it; the norms of common life are replaced by an ,anti-norm’.” 303 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kayser, Das Groteske, 194-5: „[Es] ist durchaus denkbar, daß als grotesk aufgenommen wird, was gar keine Rechtfertigung dafür in der Organisation des Werkes besitzt. […] [V]ielleicht hat das, was uns als Fratze, als unheimlicher Dämon, als Nachtgesicht anmutet und also als Träger eines Gehaltes an Grauen, Ratlosigkeit, Beklemmung vor dem Unfaßbaren, als eine vertraute Form eine feste Stelle in einem völlig einsichtigen Sinnzusammenhang.“ 304 „You could count on Lionel (he thought) to have a girlfriend whose name he couldn’t pronounce. And didn’t threnody mean a lament or a dirge?” (LA, 153)

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Reise nach Kabul erkennbar: „It was rumoured that for the signing session she would shed her burqa to reveal an offering from ,Self Esteem’, her new line in underwear. She didn’t.” (LA, 174- 5)305 Die in Dead Babies und Lionel Asbo etablierten Kategorien der satirischen Inversion gängiger Richtwerte und der grotesken Verzerrung der Realität werden in Time’s Arrow zur Paradoxie menschlicher Perversionen umgemünzt und durch die Thematisierung des Holocaust in ihrem verletzenden, vernichtenden Potential auf die Spitze getrieben.306

305 In einer Pressekonferenz wird Asbo nach Threnodys Auslandsaufenthalt gefragt und quittiert das Reisen selbst mit Abwertung: „Are you going out there yourself, Lionel? Lionel Asbo (laughing): What, and leave England? No chance. I’ll never set foot outside my motherland. Well, Scotland and that. You know, maybe Wales. But I’m not going over that water, mate. I love this f***ing country. It’s England, my England, for Lionel Asbo. England. England. England.” (LA, 175) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die satirische Referenz auf einen vermeintlichen Trend innerhalb der Prominentenwelt, Kinder im Ausland zu adoptieren in Daphnes Artikel über Lionel und Threnody: „,And whilst the couple are impatient to start a family of their own, they also have plans to adopt the three Afghan Babies that ,Threnody’ fell in love with at the orphanage in Badroo.” (LA, 180) 306 Vgl. Bernard, „Dismembering/Remembering Mimesis: Martin Amis, Graham Swift”, in: British Postmodern Fiction, ed. D’haen and Bertens, 122.

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5. „A sentimental Journey, to Auschwitz”: Paradoxie im Dienste der Entlarvung menschlicher Perversionen

Amis‘ Referenz auf Laurence Sternes 1768 veröffentlichten psychologischen Roman A Sentimental Journey Through France and Italy erweist sich in Time’s Arrow als schwerwiegend paradoxes Oxymoron. Die historische Bezugnahme auf einen Ort, der für die wohl grausamsten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs symbolisch über seine geographische Existenz hinausdeutet und zu einem eindringlichen Bild jüngster Geschichte geworden ist, weist mit der sentimentalen Reise Sternes keinerlei Berührungspunkte auf. Sternes Reisebericht ist geprägt von Motiven des Sentimentalismus und der Empfindsamkeit und gleichzeitig distanziert vom Subgenre der grand tour, da er nicht im Sinne der traditionellen Bildungsreise verfasst wurde. Der innerhalb der Montaigneschen Essayistik etablierte Modus des „Philosophen der Alltäglichkeit“ kennzeichnet den Protagonisten Yorick, der als wissbegieriger homo curiosus einer condition humaine oder dem Menschlichen an sich essayistisch auf die Spur zu kommen vermag.307 Dass Amis die Reise in die Vergangenheit und durch die Horrorszenarien von Auschwitz zur sentimentalen Reise der Erzählinstanz umfunktionalisiert, stellt in grotesker Weise die grundlegende Paradoxie des Romans dar. Durch die paradoxe Reevaluation von Geschichte wird dem Leser die in ihrer Absurdität abgrundtiefe Form der paradoxen Antichronologie umso eindringlicher vor Augen geführt und die obszöne Logik sowie das narrative conceit zum literarischen Programm erhoben: Before long, this inverted world becomes comprehensible, because it follows predictable rules. In adapting to its crazy logic, the reader is also preparing to confront another inverted world: Auschwitz and its obscene logic. […] [T]he narrative conceit of Time’s Arrow is placed wholly in the service of a grim moral reckoning.308

Die Referenz auf Sterne legt eine weitere Ebene des Paradoxen frei, da Amis in dieser Bezugnahme ausgerechnet auf den Autor des 18. Jahrhunderts verweist, der, anders als seine Zeitgenossen Daniel Defoe, Jonathan Swift oder etwa Henry Fielding, auf den moralischen Anspruch seines Werks verzichtet und sich somit von den für das Lange Achtzehnte Jahrhundert so typischen generischen Normen des Romans abzugrenzen versucht:309 Für den Roman des 18. Jahrhunderts galt nämlich die Vermittlung moralischer Weisheit als Grundsatz zur Rechtfertigung der Gattung. An diese Verpflichtung hatten sich auch Defoe, Swift

307 Vgl. Rudolf Freiburg, „A Sentimental Journey Through France and Italy“, in: Kindlers Literatur Lexikon, hg. Heinz Ludwig Arnold (Stuttgart: Metzler, 2009), 572-3; 572. Dern gibt in Martians, Monsters and Madonna einen Überblick zum Thema „Unreliability in Fiction: From Sterne to Amis“ und sieht die Parallele von Amis zu Sterne vor allem in der unzuverlässigen Erzählinstanz, die in Sternes Tristram Shandy (1759) auf beeindruckende Weise den metafiktionalen Roman des 18. Jahrhunderts prägte. Sterne antizipiert den postmodernen Charakter von Time’s Arrow avant la lettre. (Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 42) 308 Diedrick, Understanding Martin Amis, 135. 309 Vgl. Gerd Rohmann, „Einleitung“, in: Laurence Sterne, hg. Gerd Rohmann (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980), 1-15; 1.

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und Fielding wie selbstverständlich gehalten. Jeder von ihnen verband, seiner Weltanschauung entsprechend, unterschiedlich, aber direkt, das fiktionale Amüsement mit der moralischen Lektion. Mit diesem ungeschriebenen Gesetz scheint Sterne zu brechen.310

Zwar sind allgemeine moralische Reflexionen in Sternes Werk erkennbar, jedoch unterliegen diese meist einer Relativierung zu Gunsten von Subjektivität seiner individualistischen Figuren.311 Die Paradoxie in Amis‘ Referenz auf Sterne liegt in der Distanzierung der zeitgenössischen Norm und der Abkehr von einer moralischen Belehrung in Verbindung mit dem Motiv des Holocaust. Dass ausgerechnet im Rahmen der literarischen Aufarbeitung der Holocaustverbrechen, die im Kern Fragen nach moralischer Verpflichtung und essenziellen Aspekten von Humanität stellt, eine intertextuelle Referenz zu einem Autor gezogen wird, der als Vorreiter postmoderner Formexperimente gilt und „den an eine historisierende Chronologie der Handlung gewöhnten Leser mit der Zeitraffung und Zeitdehnung einer freien Assoziationstechnik, die subjektiv und virtuos mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umspringt“ konfrontiert,312 scheint vor dem Hintergrund der experimentellen Erzähltechnik in Time’s Arrow die Konzentration des Paradoxiegehalts eindringlich zu verstärken. Die Eigenschaft des Sentimentalen, in der Welt überall Sinn zu erkennen und die damit einhergehende Intensität der Rührung, selbst vor der Kulisse von Leid und Armut, verweist auf die paradoxe Spannung zwischen Sentimentalität und den Grauen des Holocaust. Durch das Aufeinanderprallen von Sinnhaftigkeit und Kontingenz des Sentimentalen mit den Schrecken von Auschwitz inszeniert Amis eine Form der pervertierten Sentimentalität. Die Ebene des Paradoxen im Rahmen der Holocaustthematik ist ebenso vielschichtig wie der Umgang damit emotional komplex. Es gehört zum Wesen der Paradoxie, auf Zustände der Krise zu antworten und als eine Art Rettungsanker im tiefenpsychologischen Ozean menschlicher Abgründe eine Form von auf den ersten Blick schwer erfassbarer Sinnstiftung zu offerieren. Schon die Bestürzung des Protagonisten aus Money, John Self, lässt erkennen, in welchen Dimensionen die Horrorszenarien des dritten Reichs in den gesellschaftlichen Zeitgeist eingeschrieben sind: ausgerechnet der draufgängerische Hedonist und pietätlose Libertin Self, der von Amis als Außenseiter aus der gesellschaftlichen Peripherie im Dienste der Kritik eines kapitalistischen Zeitgeistes ins Zentrum verlagert wird, definiert als Inkarnation des Paradoxen die Ontologie der Perversion neu. Die gesellschaftliche Norm wird zur Perversion und vice versa, Self, wie sein Name vermuten lässt, hat mehr mit einem universellen Selbst zu tun, als der Leser wohl bei der Lektüre wahrhaben will, und er wird zum Ideenträger eines pervertierten

310 Ebd. 311 Vgl. ebd. 312 Ebd., 2.

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Devianzprogramms, das jegliche Fragen nach Sitte und Moral im Keim erstickt.313 Doch als er von den im Zuge des Zweiten Weltkriegs vollzogenen Gräueltaten erfährt, kann selbst der menschenverachtende Self, normalerweise personifizierter Gegenentwurf zu Moral und Ethos, seine Entrüstung nicht verstecken: I’ve been reading Money, and dipping into the other books Martina gave me. Einstein. Now you’ve got to give him credit. To stare into the world and see its conspiracies, to see the secrets of the Old One. Darwin too. Freud, Marx – what colossal guessers. I haven’t given up on the fiction either: I read The Catcher in the Rye, a first-class work in my view, most powerfully and elegantly written. As for Hitler, well, I’m consternated. I can’t fucking believe this stuff. Look how far he spread his violence. And I thought I was aggressive. Boy, Germany must have had some dizzy spell or drunk on, in the Thirties and Forties there, to have given headroom to a sick little gimp like him. I’m consternated. I can’t believe this stuff. And you’re telling me it’s true? (M, 298)

Wie sehr den sonst so unmoralisch handelnden Self die Holocaustverbrechen aus der Bahn werfen, überrascht insbesondere vor dem Hintergrund seiner eigenen menschen- und vor allem frauenverachtenden Grundhaltung. Doch Self entwickelt sich im Laufe des Romans immer mehr vom Misanthrop und Misogynist zu einer Art l‘homme moyen sensuel, der immerhin ein Mindestmaß menschlicher Empfindsamkeiten zulassen kann, wenn unter all der Benebelung seiner Sinne und Abtötung echter Emotionen ein kurzer Moment moralischer Indignation aufzublitzen scheint. Die Verbindung des Holocaust, in der Gestalt des abendländischen Zenits monströser Grausamkeiten, mit Aspekten der Empfindsamkeit wie der Fusion von Sentimentalität und Rationalität, von Herz und Verstand, ist nur auf der Ebene äußerster Paradoxie lokalisierbar als das, was das Orthodoxe in seiner brutalsten Erscheinung grotesker Absurditäten außer Kraft setzt. Die „sentimentale Reise nach Auschwitz“ erschließt sich für den Leser als stockfinstere, skurril- verzerrte Allegorie, die durch den Aspekt der Antichronologie eine potenzierte Form der Verdichtung von Perversion entlarvt und sucht in ihrer bildlichen Eindringlichkeit als wohl drastischste Form der Paradoxie menschlicher Abgründe im Werk von Amis ihresgleichen.314 Time’s Arrow ist nicht nur geprägt von den Genres der Traumaliteratur und der historiographischen Metafiktion, sondern weist auch intertextuelle Referenzen zu anderen für die Rezeption des Holocaust relevanten Werken auf. Amis benutzt im Entstehungsprozess von Time’s Arrow den von Primo Levi übernommenen Untertitel The Nature of the Offence zunächst als

313 Vgl. Ryan, „Sex, Violence and Complicity: Martin Amis and Ian McEwan”, in: An Introduction to Contemporary Fiction, ed. Mengham, 214: „One of the many points about the protagonist’s surname is that the Self to whom we are listening is also our self and, of course, the author himself.” 314 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Amis in einem Interview mit Noakes, in dem er die Antichronologie als einzig zweckmäßiges Mittel, die Perversionen des Holocaust als fundamentalen Fehler in ihrem abartigen Ausmaß zu beschreiben, beurteilt: „[W]hat I’m saying is that the Holocaust would have been exactly what the Nazis said it was – i.e., a biomedical initiative for the cleansing of Germany – if, and only if, the arrow of time ran the other way. That’s how fundamental the error was.” (Noakes and Reynolds, Martin Amis, 20)

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„Alternativtitel“ für seinen Roman.315 Den größten Einfluss auf die Entstehung von Time’s Arrow, Robert Jay Liftons The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide, benennt Amis im Nachwort des Romans.316 Unverdorbens Werdegang kann exemplarisch für den Lebenslauf der von Lifton in The Nazi Doctors analysierten Ärzte angesehen werden. 1916 in Solingen, dem Geburtsort von Adolf Eichmann, geboren, studiert Unverdorben später Medizin, tritt der Sanitätstruppe bei und wird auf Schloss Hartheim stationiert, dem Ort, an dem Hitler die für seine Vorstellung der Rassenhygiene benötigten medizinischen Experimente durchführen lässt, bis die Eugenetik systematisch zur Judenvernichtung eingesetzt wird. Später ist er an der Zwangsverlagerung von Juden für die SS in Ghettos beteiligt, bevor er in Auschwitz eingesetzt wird, um als Assistent der an den berühmt- berüchtigten Josef Mengele angelehnten Figur des „Uncle Pepi“ KZ-Insassen Phenolinjektionen zu verabreichen und bei der durch die im Zuge der Massenvernichtung angeordneten Befüllung der Gaskammern mit Zyklon B zu assistieren. Einen weiteren intertextuellen Bezug zu Lifton lässt Time’s Arrow in der vom Erzähler thematisierten Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit angewandter Biologie erkennen:317 „National Socialism is nothing more than applied biology. Odilo is a doctor: a biological soldier.“ (TA, 157-8)318 Auch Lifton geht in The Nazi Doctors in Kapitel 17, das den bezeichnenden Titel „Dr. Auschwitz: Josef Mengele“ trägt, detailliert auf die grausamen Machenschaften Mengeles ein. Amis gestaltet Unverdorbens Biographie durchgehend in Anlehnung an die von Lifton befragten Ärzte, wenn er nach dem Krieg in den Vatikan und nach Portugal flieht, wo er sich unter dem Decknamen Hamilton de Souza aufhält, um sich danach als John Young in den Vereinigten Staaten niederzulassen, wo er erst in New York und dann in New England als Chirurg tätig ist. Seine letzte Namensänderung veranlasst er kurz bevor seine Identität erneut aufzufliegen droht, und trägt fortan den sprechenden Namen Tod T. Friendly. Wie die realen, von Lifton studierten Ärzte, scheitert auch Unverdorben nach Ende des Krieges an dem Versuch, sein prä-nationalsozialistisches Selbst zu rehabilitieren. Unverdorbens Entwicklung scheint auf der von Lifton aufgestellten Idee der psychologischen Dopplung mit der Etablierung

315 „The offence was of such a nature that perhaps we can see Levi’s suicide as an act of ironic heroism, an act that asserts something like: My life is mine and mine alone to take. The offence was unique, not in its cruelty, nor in its cowardice, but in its style – in its combination of the atavistic and the modern.” (TA, 176) 316 Robert Jay Lifton, The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide (New York: Basic Books, 2000 [1986]). Vgl. „Afterword“ in TA, 175: „I also owe a great debt to my friend Robert Jay Lifton. Two summers ago I found myself considering the idea of telling the story of a man’s life backwards in time. Then, one afternoon, after a typically emotional encounter on the tennis court, Lifton gave me a copy of his book The Nazi Doctors. My novel would not and could not have been written without it.” 317 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 136-7. 318 Vgl. dazu in Liftons The Nazi Doctors, 31, die Aussage des damaligen Reichsministers Rudolf Heß, den der Erzähler in Time’s Arrow direkt zitiert. (Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 137)

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eines zweiten Selbst zu basieren, das in einer schizophrenen Koexistenz neben dem ursprünglichen Selbst besteht und dieses gänzlich ersetzen kann:319 The key to understanding how Nazi doctors came to do the work of Auschwitz is the psychological principle I call ,doubling’: the division of the self into two functioning wholes, so that a part-self acts as an entire self. An Auschwitz doctor could, through doubling, not only kill and contribute to killing but organize silently, on behalf of that evil project, an entire self- structure (or self-process) encompassing virtually all aspects of his behavior.320

Das Dopplungsverfahren des Unterbewusstseins gilt als „psychologisches Vehikel“ für die Ärzte, die in Time’s Arrow am Beispiel Odilo Unverdorbens als pervertierte Personifizierung psychischer Spaltungseffekte in Erscheinung treten.321 Die Kulmination paradoxer Perversion stellt für Lifton in The Nazi Doctors ein „Heilungs-Tötungs-Paradox” der Ärzte dar: The Nazi doctors’ immersion in the healing-killing paradox was crucial in setting the tone for doubling, as the Auschwitz self had to live by that paradox. To the extent that one embraces the far reaches of the Nazi vision of killing Jews in order to heal the Nordic race, the paradox disappears.322

Die Wirkung des „Heilungs-Tötungs-Paradox” entfaltet sich vor dem Hintergrund der Antichronologie als Umwandlung des therapeutischen Schwerpunkts der Medizin in eine Wissenschaft der Zerstörung323: „Destruction – is difficult. Destruction is slow. Creation, as I said, is no trouble at all.” (TA, 26) Als Metapher des „Heilungs-Tötungs-Paradox” verweist diese Textstelle auf die Inversion von Schöpfung und Zerstörung, die den Wechsel vom Komischen zum Tragischen herbeiführt.324 Das „Heilungs-Tötungs-Paradox” wird vom Erzähler in Time’s Arrow auch in der Kapitelüberschrift „Because I am a healer, everything I do heals” inszeniert.325 Amis sieht sich als Repräsentant seiner Generation, die mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist:326 „He sees the origins of modernity’s self-destructive momentum in the Holocaust, the Soviet gulags and the explosion of the first atomic bomb.”327 Sein Gesamtwerk richtet den Fokus auf den auch im Themenschwerpunkt des Nuklearkriegs erkennbaren Akt der Destruktivität der modernen Welt und erklärt den Holocaust und den Gulag zum Ursprung der

319 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 137-8. Zum Motiv des schizophrenen Selbst und des Doppelgängers vgl. auch Kapitel 3 ab Seite 26 in dieser Arbeit. 320 Lifton, The Nazi Doctors, 418. 321 Vgl. ebd. und vgl. Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 109. Vgl. zur Verbindung des Dopplungsmotivs zum Umheimlichen bei Freud auch Diedrick, 139: „Like the relationship between Unverdorben and his double, the relationship between the two ,halves’ of Time’s Arrow – the Auschwitz and pre-Auschwitz sections – is an uncanny one. Freud explained the uncanny as a return of the repressed, a moment when something in the individual’s psychic past emerges unbidden, and the familiar suddenly turns strange.” 322 Lifton, The Nazi Doctors, 430. 323 Vgl. Sue Vice, Holocaust Fiction (New York: Routledge, 2000), 31. 324 Vgl. Adami, Trauma Studies and Literature, 81. 325$María Jesús Martínez-Alfaro, „Where Madness Lies: Holocaust Representation and the Ethics of Form in Martin Amis’ Time’s Arrow”, in: Ethics and Trauma in Contemporary British Fiction, ed. Susana Onega and Jean-Michel Ganteau (Amsterdam, NY: Editions Rodopi, 2009), 127-54; 135.$ 326 Vgl. Finney, Martin Amis, 54. 327 Ebd.

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Entwicklung einer implodierenden Zivilisation der Selbstauslöschung. Seine ambigue Einstellung zur modernen Welt basiert auf einer neuen Perspektive auf eine Gesellschaft der Aufklärung, die gerade nach Kriegsende dringlich hinterfragt wird und, wie Lyotards Idee der grand narratives beinhaltet, die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs vor dem Hintergrund einer Janushaftigkeit der Moderne in der Verknüpfung von Zivilisation und barbarischer Grausamkeit erkennt. Der im Zuge des Holocaust herbeigeführte und paradoxerweise auf vermeintlich rationalen Beweggründen und Erklärungen aufgebaute Plan des Genozids verkörpert ein abgründig düsteres Sinnbild der Irrationalität:328 „This crucial event in modern history is a paradox that requires the use of paradoxical narrative techniques on the part of any novelist attempting to evoke it.”329

5.1 Time’s Arrow als Traumaroman und historiographische Metafiktion Der Begriff „Trauma“, der aus dem griechischen Terminus für „Verwundung“ hervorgeht, verweist schon ausgehend von seiner etymologischen Bedeutung auf die Aspekte einer selbstverändernden, in manchen Fällen gar selbstvernichtenden Gewalterfahrung, auf Verletzung oder Leid.330 Die postmoderne Welt nach den Schrecken des Holocaust löst Bedeutungskonstitution und Kohärenz zu Gunsten eines Zustands der Unordnung und des Chaos auf und lässt eine Analogie der postmodernen Konstitution zu traumatischen Erfahrungen erkennen. Literatur erscheint dabei als angemessenes Medium der Darstellung traumatischer Erfahrungen, denen sie durch traumatische Erzählungen jenseits eines durch Desensibilisierung entstehenden Darstellungsmodus der Klischeehaftigkeit und Abstumpfung eine adäquate Inszenierung bieten kann. Als paradoxe Abweichung einer auf Vollständigkeit angelegten Literatur können postmoderne Aspekte mit Traumaliteratur verbunden werden:331 „[T]rauma fiction usually overlaps with postmodern fiction in its refusal of closure and coherence, proposing disruptive forms of narrative that depart from conventional plot structures.“332 Postmoderne Literatur wird als Reaktion auf Traumata erkennbar und die Tendenz zur Fragmentarisierung als Effekt der Verletzung dechiffriert. In der Traumaliteratur liegt ein eindringliches Anliegen in der Möglichkeit, der nicht greifbaren Natur des Traumas durch besondere Erzähltechniken gerecht zu werden. Diese Techniken können als Abbild des Traumatischen dechiffriert werden und finden

328 Vgl. Brian Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 101-16; 101-2. Vgl. dazu auch Jean-François Lyotard, The Differend: Phrases in Dispute, trans. Georgs van den Abbeele (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1991). 329 Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 102. 330 Vgl. Leigh Gilmore, The Limits of Autobiography: Trauma and Testimony (Ithaca: Cornell University Press, 2001), 6. 331 Vgl. Adami, Trauma Studies and Literature, 7. 332 Ebd.

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sich auch in Time’s Arrow in Form der nicht nur unterbrochenen, sondern invertierten Chronologie und einer fragmentierten Erzählerstimme wieder, die dazu dienen, einen Kollaps der Temporalität und einen krisenhaften Umgang mit Wahrheit erzähltechnisch nachzustellen.333 Durch die fiktive Autobiographie Tod T. Friendlys stellt Amis in Time’s Arrow die neue Identität eines durch die Vergangenheit traumatisierten Täters dar.334 Die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern ist für das Entstehen eines Traumas nicht ausschlaggebend, die Traumatisierung von Opfern findet nicht immer statt, ebenso sind Traumatisierte nicht ausschließlich Opfer.335 Die Spaltung von Ich-Erzähler und Protagonist verweist auf eine Geschichte des Traumas. Typisch posttraumatische Symptome erfährt der Erzähler in Time‘s Arrow nur eingeschränkt und auf der Basis unbewusster Vorgänge. Das Vergangene ist zwar in unerwünscht wiederkehrende Bilder gebündelt und bildet das Fundament repetitiver Alpträume als Folge des erlebten Traumas, jedoch ist der unzuverlässige Erzähler nicht in der Lage, die Bilder und Träume mit Odilo Unverdorbens Vergangenheit zu verknüpfen:336 If PTSD must be understood as a pathological symptom, then it is not so much a symptom of the unconscious, as it is a symptom of history. The traumatized, we might say, carry an impossible history within them, or they become themselves the symptom of a history that they cannot entirely possess.337

Die Idee der postmodernen Multiperspektivität verengt sich in Time’s Arrow zum auf Verdrängen und Amnesie basierenden Tunnelblick der Erzählinstanz.338 Die Basis traumatischer Erinnerung zeigt sich in der Paradoxie, dass lebhafte Bilder der Vergangenheit mit der Begleiterscheinung der Amnesie verbunden werden:339 Traumatic recollection is characterized by the striking paradox that while its re-enactments are disturbingly literal and precise, they nevertheless remain largely unavailable to conscious recall and control. Although the event returns in a vivid and precise form in the traumatic nightmare or flashback, it is simultaneously accompanied by amnesia.340

333 Vgl. ebd. 334 Für das Genre der Autobiographie ist das Konzept des Limit Case Trauma relevant, das sich mit der Frage nach den Grenzen von Autobiographie und Fiktion in der Traumaliteratur auseinandersetzt. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge, oder Faktizität und Fiktionalität, sondern auf der Grenze der Darstellung, die auf die Betonung des Selbst als stellvertretend für andere, die durch die Referenz auf das Selbst entstehende Paradoxie der gleichzeitigen Einengung und Beschränkung sowie die Problematik einer Verifizierung oder Falsifizierung der eigenen Geschichte, verweist. (Vgl. Gilmore, The Limits of Autobiography, 5) 335 Vgl. Jesús Martínez-Alfaro, „Where Madness Lies”, in: Ethics and Trauma in Contemporary British Fiction, ed. Onega and Ganteau, 132. 336 Vgl. Cathy Caruth, „Introduction”, in: Trauma Explorations in Memory, ed. Cathy Caruth (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1995), 3-12; 4-5. 337 Ebd., 5. 338 Vgl. dazu auch Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (München: C.H. Beck, 2006), 44: „Der Antagonismus zwischen Geschichte und Gedächtnis ist keineswegs universal, sondern hat selbst eine Geschichte. Geschichte und Gedächtnis haben sich erst mit der Entstehung der Geschichtswissenschaft als eines professionalisierten Diskurses im 19. Jahrhundert voneinander getrennt und haben jeweils im anderen ihren Widersacher entdeckt.“ 339 Vgl. Anne Whitehead, Trauma Fiction (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2004), 140. 340 Ebd.

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Als Sinnbild für das paradoxe Motiv der Verknüpfung einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit und der Amnesie des Vergangenen führt Amis die Struktur der reversierten, unbeweglichen und gefrorenen Zeit ein.341 Amis baut eine Nähe zu den Dramen Harold Pinters und Samuel Becketts auf, in denen Figuren in stehengebliebener Zeit gewissermaßen feststecken:342 As in Samuel Beckett’s plays, Martin’s characters seem trapped in repetitive or fixed time. They are unable to effect meaningful change, and they often discover that identity and reality are illusory constructs, manipulated by authorial guile. Time moves circularly in a work such as Other People: A Mystery Story (1981), whereas it moves backward in Time’s Arrow, or The Nature of the Offence (1991). In London Fields (1989), it proceeds relentlessly toward its fated determination, invalidating free will and autonomy. Finally, in Money: A Suicide Note (1984), the character John Self discovers the artifice that thwarts his attempts at self-realization or free will, and triumphantly he throws a punch at Martin, liberating himself from his creators fictive prison.343

Das Motiv der gefrorenen oder fixierten Zeitebene steht im Dienste des Konstruktcharakters von Identität und Realität und ist vor Time’s Arrow auch schon in Other People präsent.344 Nach der soziokulturellen und globalpolitischen Katastrophe des Genozids muss das Motiv der ,Banalität des Bösen‘ mit einer zutiefst ernüchterten Weltsicht und einem negativen Menschenbild bilanziert werden, das sich wohl zwangsläufig in der Sehnsucht nach einer Umkehrung von Zeit und dem Wunsch des Zurückspulens von Geschichte fixiert.345 Time’s Arrow dient als Beispiel für die Neuschreibung von Geschichte und entlarvt diese gleichzeitig im Modus eines zurückgespulten Films.346 Amis‘ Versuch, dieses Verlangen literarisch zu manifestieren, zeichnet sich durch ein

341 Vgl. Keulks, Father and Son, 222: „Regardless of whether his works explore the nature of reversed, fixed, or frozen time, the confluence of time and identity has always been important in Martin’s books [.]“ 342 Vgl. ebd., 233. 343 Ebd., 233-4. Vgl. dazu auch Kapitel 13 in John Fowles, The French Lieutenant’s Woman (London: Vintage, 2005 [1969]), 97: „I do not know. This story I am telling is all imagination. These characters I create never existed outside my own mind. If I have pretended until now to know my characters’ minds and innermost thoughts, it is because I am writing in (just as I have assumed some of the vocabulary and ,voice’ of) a convention universally accepted at the time of my story: that the novelist stands next to God.” 344 Vgl. Jones, „Martin, Karl, and Maggie Too: Political Discourse in Martin Amis’s Other People: A Mystery Story“. 345 Vgl. Ronald Granofsky, The Trauma Novel: Contemporary Symbolic Depictions of Collective Disaster (New York: Peter Lang, 1995), 55. Vgl. auch Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (München: Piper, 1964). 346 Vgl. Stephen Baker, The Fiction of Postmodernity (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2000), 139. Ebd: „It is this playfulness of form, the narrative mimicry of film or videotape running in reverse, which most obviously marks Time’s Arrow as a characteristically postmodern text. This postmodern status might be reinforced by the fact that Amis’s novel applies such features of textual play to the writing or reimagining of a historical narrative, thereby seeming to identify Time’s Arrow with Linda Hutcheon’s postmodern genre of historiographic metafiction.” Nicht immer besteht eine direkte Verbindung der Verfasser von Holocaustliteratur zu den Überlebenden: „Authors who write ,Holocaust‘ novels are not always connected to Holocaust survivors, but, like the ,second generation,‘ they imagine an experience they have not personally experienced.“ (Efraim Sicher, The Holocaust Novel (New York: Taylor and Francis Group, 2005), xxi) Die Einteilung in eine erste, zweite und dritte Holocaust-Generation schreibt dem Bereich Holocaust und Erleben eine unterschiedliche Form der Unmittelbarkeit zu. Die Kategorie der ersten Generation beinhaltet Überlebende des Holocaust und der Begriff der zweiten Generation bezieht sich auf die Literatur der Nachkommen Holocaust-Überlebender, die schon in der Kindheit und Jugend den Holocaust als vertrauten Begleiter durch die Traumatisierung der Elterngeneration miterleben mussten. (Vgl. Erin Heather

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generelles Revisionsprogramm auf verschiedensten Ebenen ab, sprachlich, stilistisch, kausal, inhaltlich und temporal findet eine Umkehrung der gewohnten, vermeintlich normativen Abfolge von Ereignissen und Erzählstrukturen statt, die sich als einzige Möglichkeit der Sinngebung im Umfeld des kulturellen Traumas herausstellt. Häufig haben Autoren von Traumaliteratur den Seinsbereich des Traumas, über das sie schreiben, nicht selbst erlebt. Gerade im Bereich der Holocaustliteratur bleiben generische Ansätze meist einer autobiographischen Tendenz treu. Gattungen, die auf der Fiktionalität eines Textes basieren, bieten sich für die Überwindung des persönlichen Traumas seltener an, der Schreibprozess als therapeutisches Mittel bewegt sich meist weg vom Fiktiven hin zum Autobiographischen. Der imaginative Akt kann jedoch auch als Teil der Therapie genutzt werden, um einen Ausweg aus der autobiographischen Zwangslage zu finden. Die Entstehung eines Traumaromans setzt die „imaginative Projektion der Psyche“ in den Zustand des Traumatischen voraus, das ähnlich des Verlaufs eines kollektiven Traumas nicht am eigenen Leib erfahren wurde:347 For collective trauma is an overwhelming sense of anxiety not in the face of an actual or present threat but in response to an historical event revelatory of humanity’s destructive potential or a future possibility which could be its consummation. The writer of the trauma engages in a creative act of imagination which allows the reader to explore and come to grips with the emotions of collective trauma.348

Der imaginative Akt kann dennoch als Ausweg aus der autobiographischen Zwangslage genutzt werden und als Teil der Therapie einen wesentlichen Beitrag zur Traumabewältigung leisten. Time’s Arrow thematisiert in postmoderner, experimenteller Weise die Bedrohung des Zweiten Weltkriegs und versucht durch die Umkehrung von Ursache und Wirkung die Essenz aus dieser paradoxen, die menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Perversion zu ziehen. Die Paradoxie wird zum Erkenntnisinstrument, das im Dienste der Entlarvung pervertierter Rationalität und Humanität über sich selbst hinausdeutet: „The term ,trauma fiction‘ represents a paradox or contradiction: if trauma comprises an event or experience which overwhelms the individual and resists language or representation, how then can it be narrativised in fiction?“349 Amis wendet sich in Time‘s Arrow vom Gebrauch normaler und banaler Sprachformen ab und versucht sich dem Thema des Holocaust auf experimentelle Weise zu nähern. Durch die Antichronologie wird die Antilogik in ihrer unmissverständlichen, durch abgrundtiefen Horror ergänzten Absurdität zwar greifbarer gemacht, gleichzeitig aber durch das paradoxe Potential ins

McGlothlin, Second-Generation Holocaust Literature: Legacies of Survival and Perpetration (Rochester: Camden House, 2006), 8) 347 Vgl. Granofsky, The Trauma Novel, 54. 348 Ebd., 55. 349 Whitehead, Trauma Fiction, 3.

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direkte Gegenteil verkehrt. Diese Erzählebene, die Genozid in Genesis verwandelt,350 hat selbstverständlich nichts mit heiterer Komik zu tun und bewegt sich einzig in den abgelegenen Randzonen des Grotesken. Damit geht zunächst eine verstörende Wirkung einher, letztendlich wird der Holocaust jedoch als ein Teil der Geschichte fernab menschlichen Auffassungsvermögens und jeglicher Logik beschrieben. Die Ebene der Paradoxie und das Element des Grotesken verschmelzen in Time’s Arrow zu einem Konglomerat der Skurrilität, das durch Verzerrung, Entstellung und Übersteigerung der Realität auf eine Situation antwortet, die eigentlich zum Verzweifeln ist.351 Die Paradoxie im Dienste einer historiographischen Metafiktion, wie sie beispielsweise John Fowles‘ The French Lieutenant‘s Woman (1969) oder Salman Rushdies Midnight Children (1981) prägt, basiert auf der paradoxen Verbindung selbstreflektiver Texte mit wahren historischen Begebenheiten und Personen. Historiographische Metafiktion ist im Wesen paradox und über „inhärente Widersprüche“ definiert, denn sie bewegt sich innerhalb generischer Konventionen, schreibt sich diesen aber immer auch im Auftrag ihrer gleichzeitigen Überwindung ein.352 Geschichte findet als Thema der Gegenwartsliteratur generisch in Form des historischen Romans und der historiographischen Metafiktion statt. Die Definition von Geschichte als die „Summe tatsächlich geschehener Ereignisse“ stellt sich problematisch dar, da es sich um eine Summe aus verschiedensten individuellen Sichten auf geschichtliche Ereignisse handelt:353 Historians are concerned with events which can be assigned to specific time-space locations, events which are (or were) in principle observable or perceivable, whereas imaginative writers – poets, novelists, playwrights – are concerned with both these kinds of events and imagined, hypothetical, or invented ones.354

Das paradoxe Verhältnis zwischen geschichtlichen Ereignissen und literarischer Inszenierung sowie Fragen nach narrativen Formen, Intertexualität und der Rolle der Sprache bilden einen zentralen Kern historiographischer Metafiktion: Issues such as those of narrative form, of intertextuality, of strategies of representation, of the role of language, of the relation between historical fact and experiential event, and, in general of the epistemological and ontological consequences of the act of rendering problematic that which was once taken for granted by historiography – and literature.355

350 Vgl. Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 111: „As Menke aptly puts it, the narrator ,recast[s] genocide as genesis’[.]” 351 Vgl. Thomsen, „Groteske”, in: MLL, hg. Nünning, 240. 352 Vgl. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, 5. 353 Vgl. Oliver Schoenbeck, Their Versions of the Facts: Text und Fiction in den Romanen von Iain Banks, Kazuo Ishiguro, Martin Amis und Jeanette Winterson (Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2000), 160. 354 Hayden White, Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1978), 121. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den von Hayden White geprägten Begriff des emplotment, der die Genese von Geschichtsschreibung zur Geschichte beschreibt: „[H]istories gain part of their explanatory effect by their success in making stories out of mere chronicles; and stories in turn are made out of chronicles by an operation which I have elsewhere called ,emplotment.‘ And by emplotment I mean simply the encodation of the facts contained in the chronicle as components of specific kinds of plot structures.” (White, Tropics of Discourse, 83) 355 Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, xii.

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Ein weiteres Anliegen historiographischer Metafiktion ist die Problematisierung der Relation literarischer Manifestationen zur realen Geschichte, deren paradoxes Potential die metafiktionale Selbstreflektivität mit historischen Inhalten verbindet.356

5.2 Paradoxie der Antichronologie Imagine how Martin Amis must have viewed the Booker Prize ceremony, where his celebrated „backwards” novel, Time’s Arrow, was sadly overlooked. Ben Okri, the winner, thrust back the £ 20,000 cheque and walked backwards across the stage to his seat. Amis felt the stab of disappointment in the pit of his stomach turn to a flutter of anticipation. Any minute the winner would be named. A waiter bent across and a stream of brandy climbed from Amis’s glass back into the bottle. He spooned the strawberry creme from his mouth back onto the pudding plate. The waiter then removed, in turn, the beef, the asparagus in pastry and then the salmon starter. His stomach rumbled. Gracious, he was hungry. This was going to be his big night, he thought, standing up and backing towards the door.357

Dieser anonyme Kommentar im Guardian persifliert das in Time’s Arrow vollzogene Formexperiment, indem der Verfasser Amis’ vermeintliche Enttäuschung über den nicht gewonnenen Booker Prize im verkehrten Modus der Time’s Arrow-Erzähltechnik parodistisch inszeniert. Er richtet den Fokus sowohl auf die experimentelle Antichronologie der Handlung als auch auf Amis‘ Image des selbstüberzeugten, elitären und leicht versnobten Literaten, dessen höchste Form der Bewunderung wohl im Lobgesang des Selbstgesprächs erklingt.358 Die Idee, die Holocaustthematik in einer rückwärtsgewandten Kurzgeschichte als „wunderschönes und trauriges, tragisches conceit” zu präsentieren, erweiterte sich durch die Lektüre von Liftons The Nazi Doctors im Entstehungsprozess zum Roman: I thought it was going to be a short story, a poetic short story of four or five pages, of a life done backwards. And I’d toyed with it in a short story where I’d just done a paragraph like that. But then I thought that, even as a short story, there’s not very much point to this. It’s a conceit, and a beautiful and sad, tragic conceit. But then I read The Nazi Doctors by my friend Robert J. Lifton, and I thought, now, there would be a point. And I thought a long short story, then I thought a novella, and it became, in the end, a short novel.359

Neben den verschiedenen Ebenen der stilistisch-formalen und inhaltlichen Paradoxie offenbart sich der paradoxe Kern demzufolge im zentralen conceit, auf das der Roman aufgebaut ist und das

356 Vgl. ebd., 19. 357 Annonymer Kommentar in The Guardian (24.10.1991) zitiert nach Susanne Mecklenburg, Martin Amis und Graham Swift: Erfolg durch bodenlosen Moralismus im zeitgenössischen britischen Roman (Heidelberg: Winter, 2000), 70. 358 Das spezielle Verhältnis, das Amis mit den britischen Medien bis heute verbindet, zeichnet sich früh in seiner Laufbahn ab. Nach anfänglicher und anhaltender Euphorie in der Rezeption seiner Romane der 70er und 80er Jahre bemängelten kritische Stimmen zu Beginn der 90er Jahre zunehmend inhaltliche Schwachstellen. Das Bild der Öffentlichkeit von Amis wandelte sich durch die veränderte Wahrnehmung in den Medien. Schlagzeilen über sein Privatleben und Familientragödien überschatteten die Kritiken seiner Werke, und der Wechsel der Literaturagenten – Amis verließ nach jahrelanger Zusammenarbeit Julian Barnes‘ Ehefrau Pat Kavanagh für den in der Branche als „The Jackal“ betitelten Andrew Wiley – erregte großes Aufsehen. Amis wurde immer mehr zur öffentlichen Persönlichkeit mit auffallend ausgeprägter Medienpräsenz. 359 Noakes and Reynolds, Martin Amis, 19-20.

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im Hinblick auf Samuel Johnsons Definition als ein „gewaltsames Zusammenzwingen heterogenster Elemente“ verstanden wird: „Time’s Arrow (1991) is built around a literary conceit, and the effectiveness of the novel depends, almost entirely, on the reader’s willingness to accept the conceit and its appropriateness to the subject matter Amis is treating.”360 Als Sonderform der Metapher basieren conceits auf der Überschneidung gegensätzlichster Seinsbereiche und verkörpern eine spezielle Verbindung zum Bereich der Paradoxie, wenn sie sich nicht nur von orthodoxen Denksystemen abwenden, sondern diese im Zuge eines erkenntnisfördernden Akts gar aufzusprengen vermögen. Schon im Titel Time’s Arrow ist die Referenz auf die Verbindung der Zeitparadoxie mit der Pfeilparadoxie angelegt, denn eine Momentaufnahme des abgeschossenen Pfeils besteht per se immer nur im paradoxen Raum, da in jedem Augenblick eine Position an einem definierbaren Ort lokalisierbar ist.361 Der Pfeil ist paradoxerweise nie in der Bewegung, sondern immer im Zustand der Stasis wahrnehmbar: Consider, for example, the flight of an arrow. If reality is what is present at any given instant, the arrow produces a paradox. At any given moment it is in a particular spot; it is always in a particular spot and never in motion. We want to insist, quite justifiably, that the arrow is in motion at every instant from the beginning to the end of its flight, yet its motion is never present at any moment of presence. The presence of motion is conceivable, it turns out, only insofar as every instant is already marked with the traces of the past and future. Motion can be present, that is to say, only if the present instant is not something given but a product of the relations between past and future. Something can be happening at a given instant only if the instant is already divided within itself, inhabited by the nonpresent.362

Die Umkehrung der Chronologie verkörpert eine Paradoxie des Zeitpfeils, da die Gegenwart dennoch als „Produkt der Relation von Vergangenheit und Zukunft“ existiert und die Paradoxie dadurch nicht aufgehoben, sondern durch die Umkehrung des Ursache-Wirkung-Prinzips potenziert wird und den Leser desorientiert in einer entfremdeten Welt zurücklässt:363 „Time’s Arrow is a remarkable imaginative achievement, and it places special demands on the reader. Disorientation is one’s initial response to a world in which time moves in reverse and effect

360 Rennison, Contemporary British Novelists, 10. 361 Der Begriff „time’s arrow“ wurde von dem Physiker A.S. Eddington in Anlehnung an die in eine Richtung verlaufende Eigenschaft von Zeit geprägt und bezieht sich außerdem auf das physikalische Gesetz, dass Hitze aus einer wärmeren Umgebung in eine kältere fließt, nie aber umgekehrt und das Gesetz der Thermodynamik, das von einem zwingenden Anstieg der Entropie ausgeht, also der unbenutzbaren Energie, die – in den kühlen Bereichen angekommen – nicht mehr zurückfließen kann. Der Anstieg der Entropie bezieht sich auf die Asymmetrie von Zeit und deren Richtung. (Vgl. Adami, Trauma Studies in Literature, 77-8) 362 Jonathan Culler, On Deconstruction: Theory and Criticism after Structuralism (Ithaca: Cornell University Press, 2007), 94. 363 Vgl. auch den in diesem Kontext interessanten Ansatz der Großvater-Paradoxie, die relevante Fragen für die Bedeutung von Zeit adressiert. Die Paradoxie formuliert die Überlegung, ob es möglich wäre, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu begehen und den eigenen Großvater zu töten, bevor dieser auf die Großmutter trifft. Wenn es möglich wäre, wäre es – aufgrund der Tatsache, dass man selbst nicht existieren würde – unmöglich. (Vgl. Margaret Cuonzo, Paradox (Massachusetts: MIT Press, 2014), 1-2)

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always precedes cause.”364 Das Formexperiment führt die Durchbrechung der Lesererwartung und den Orientierungsverlust des Lesers herbei, das rezeptionsästhetische Fundament der Paradoxie avanciert dabei zur wichtigen Grundlage der textuellen Subversivität. Die extreme Form „temporaler Deformation“ kann als Kulmination formaler Entfremdung gelesen werden: The same features as in any fictional work are present in Holocaust novels; intertextuality, plot and story, author and narrator. However, because of the subject matter, all these standard features are brought to their limit, taken literally, defamiliarized or used self-consciously. In this way, effective Holocaust fiction cannot help registering the shocking and unassimilable nature of its subject in formal ways[.]365

Time’s Arrow beginnt mit dem Tod des Protagonisten Tod T. Friendly, der im Laufe der Handlung verschiedene Identitäten annimmt und entgegen des Motivs der longevitas immer jünger zu werden scheint, bis er sich im Mutterleib wiederfindet und danach als bloßes Arrangement von Atomen oder Cluster von Zellen in den Bereich der Vergänglichkeit eintritt. Das Motiv der Sterblichkeit leitet jedoch in dem Bild der Reinkarnation Friendlys eine Paradoxie des Todes ein, weil der Anspruch auf Finalität paradox aufgebrochen wird. Die ersten Seiten lesen sich im Modus einer buchstäblichen, invertierten Mäeutik-Metapher: der Tod wird dabei zur Geburt und der Erzähler zum Subjekt einer pervertierten Form intellektueller Geburtshilfe, die paradoxerweise als antirationale Erfahrung den Protagonisten im Zustand der Ahnungslosigkeit verharren lässt. Die Umkehrung der chronologischen und kausalen Erzählstrukturen mäandert zwischen bizarren, perversen und tragischen Effekten. Im Bereich des gegenläufigen Dialogs und der invertierten Konversationsszenen des Romans kommt es außerdem zu einem inhaltlichen Spiegeleffekt, der die sinnentleerten Kommunikationsformen, insbesondere zwischen den Geschlechtern, entlarvt. So machen Friendlys Dialoge mit seinen jeweiligen Partnerinnen antichronologisch kaum weniger Sinn als in zeitlich richtiger Abfolge.366 In Time’s Arrow werden Kategorien von Ursache und Wirkung durch das stilistische Formexperiment zu Gunsten einer höheren Ebene der Sinnstiftung aufgebrochen, die Umkehrung von Zeit findet nicht nur durch die antichronologische Darstellung von physischer Zeit statt, sondern wird außerdem syntaktisch und sprachlich vollzogen:367 Wait a minute. Why am I walking backwards into the house? Wait. Is it dusk coming or is it dawn? What is the – what is the sequence of this journey I’m on? What are its rules? Why are the birds singing so strangely? Where am I heading? […] Watch. We’re getting younger. We are. We’re getting stronger. We’re even getting taller. I don’t quite recognize this world we’re in. Everything is familiar but not at all reassuring. Far from it. This is a world of mistakes, of diametrical mistakes. […] After October 2, you get October 1. After October 1, you get September 30. How do you figure that? (TA, 14-6)

364 Diedrick, Understanding Martin Amis, 134. 365 Vice, Holocaust Fiction, 4. 366 Vgl. Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 109. 367 Vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 9.

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Amis’ experimentelles Spiel mit Sprache ist nicht von langer Dauer und wird nach einem Sprachexperiment auf den ersten Seiten des Romans durch eine bloße zeitliche Umkehrung ersetzt.368 Zu mühsam scheint das Rückwärtslesen der im Rahmen der gedoppelten „Paradoxie der Inversion der Inversion“ etablierten Dialoge: In the case of Martin Amis’s Time’s Arrow, the effort to make sense of events narrated backwards often involves a strikingly literal kind of inversion of the inversion, such as the reading of letters from right to left, or of dialogue upwards on the page, in order to reconstruct the causal chain which is the basis of its intelligibility.369

Die Erzählweise erhebt die bloße Umkehrung zu einer Umwertung gängiger Kommunikationssignale und Verhaltensweisen und postuliert einen über die Mentalität des postmodernen Sprachspiels weit hinausgehenden ethischen Aspekt dieses Stilbruchs.370 Die „verspielte“ Erzähltechnik leitet unverzüglich den Bruch des Dekorums ein, wenn klar wird, dass die zunächst so unterhaltsam-banal wirkende Erzählweise auf die kulturell und historisch schwerwiegende Thematik des Holocaust vorbereitet. Die narrative Welt unterliegt durch Amis‘ intellektuellen Wortwitz einem entfremdenden Effekt, der die Verknüpfung einer erzählerischen Kunstfertigkeit mit ethischen Implikationen illustriert.371 Zu Beginn des Romans zeichnet sich die sprachliche Problematik ab, diese kann nicht mehr als Medium der Kommunikation ein sinnstiftendes Verständigungstool darstellen. Die Überspitzung einer idiosynkratischen Sprachvorstellung symbolisiert die Entfremdung und Isolation des Erzählers und lässt eine dezidiert solipsistische Präsenz erkennen.372 Der Erzähler findet sich in einer grotesken, als groß angelegte Paradoxie dargestellten Welt wieder, in der er sich allein mit dem japanischen Austauschstudenten Mikio inmitten einer befremdlichen Umwelt identifizieren kann: He reads the way I read – or would read, if I ever got the chance. He turns the pages from right to left. He begins at the beginning and ends at the end. This makes a quirky sense to me – but Mikio and I are definitely in the minority here. And how can we two be right? It would make so many others wrong. (TA, 51)

Die Paradoxie des Wechselspiels des Anderen und des Eigenen, der Fremdheit und der Vertrautheit, wird durch die Erzähleridentität verstärkt und über den paradoxen Zwiespalt einer in der Erzählinstanz angelegten Körper-Geist-Dichotomie zum Ausdruck gebracht,373 die das Motiv

368 Vgl. Adami, Trauma Studies in Literature, 78. Vgl. in TA, 14:„,Dug. Dug,’ says the lady in the pharmacy. ,Dug,’ I join in. ,Oo y’rrah?’ ,Aid u too y’rrah?’ ,Mh-mm,’ she’ll say, as she unwraps my hair lotion.’” 369 Mark Currie, About Time: Narrative, Fiction and the Philosophy of Time (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007), 96-7. 370 Vgl. Schoenbeck, Their Versions of the Facts, 171. 371 Vgl. Jesús Martínez-Alfaro, „Where Madness Lies”, in: Ethics and Trauma in Contemporary British Fiction, ed. Onega and Ganteau, 133. 372 Vgl. im Zusammenhang mit einer absurden Weltanschauung und dem Freiheitsmotiv auch Albert Camus‘ Roman Der Fremde (Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006). 373 Vgl. im Zusammenhang mit der Koexistenz zweier Seelen in einem Körper auch Sokrates, der in Phaedo Platos Argumentation aufgreift und auf die Zweiteilung des Selbst in Körper und Seele sowie auf zwei Formen des

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der fragmentierten Identität in die Erzählung verwebt. Generell unterliegt Identitätsbildung verschiedenen Faktoren, ob sie dem Ich inhärent ist oder von außen an das Subjekt herangetragen wird, bleibt in Time’s Arrow eine unbeantwortete Frage. Erfahrungen, Gefühle, kulturelle und soziale Prägung des Protagonisten werden durch das Motiv der Amnesie vom Erzähler untergraben. Eine weitere Paradoxie ist neben den Kapitelüberschriften durch die besondere Erzählsituation gegeben,374 es handelt sich um einen Ich-Erzähler, der als Erzählinstanz getrennt vom Körper des Protagonisten existiert, obwohl er dessen Seele verkörpert: „[T]his body I’m in won‘t take orders from this will of mine. Look around, I say. But his neck ignores me. His eyes have their own agenda.” (TA, 13) Eine Osmose im Bereich der Gefühlsebenen von Erzähler und Protagonist ist ebenso erkennbar wie die klare Trennung der Gedankenwelten. Die erzählende Instanz kann Tods Gefühle wahrnehmen, erhält jedoch keinen Einblick in seine Gedanken:375 „I have no access to his thoughts – but I am awash with his emotions. I am a crocodile in the thick river of his feeling tone.” (TA, 15) Diese Isolierung von Geist, Verstand und Gefühl dämmt schon am Anfang der Handlung die ethische Verpflichtung der Erzählinstanz ein und bereitet überdies deren moralischen Freispruch vor. Der Erzähler erscheint als eine Art Passagier oder gar Parasit, der eingenistet im Körper des Protagonisten, dessen Leben hautnah und dennoch zum ersten Mal aus einer ingénue-Perspektive miterlebt und einen naiv, aber interessierten, ja neugierigen Blick auf die Gewohnheiten der Menschen seiner Umgebung wirft:376 „The other people, do they have someone else inside them, passenger or parasite, like me?” (TA, 16) Der Beginn des Romans birgt mit der paradoxen Variante der Gedächtnismetapher einer unbeschriebenen Wachstafel als Ausgangssituation der Handlung einen zentralen Widerspruch, folgende und damit chronologisch zurückliegende Eindrücke erschließen sich für den Erzähler erst

Existierens allgemein verweist. Er benennt die sich stets verändernde physikalische Welt der Erfahrung als das Sichtbare analog zur Beschaffenheit des Körpers und den indisponiblen Bereich des Unsichtbaren wie die Konstitution der Seele, die demzufolge als unveränderbar und unsterblich auch das Selbst transzendental konserviert, während der Körper eine bloße Hülle der Seele und damit des Essentiellen bleibt. Die Essenz unseres Seins bleibt über die Zeitlichkeit hinaus bestehen und überwindet auch den Moment des Todes. (Vgl. Peter Sedgwick, „Self“, in: Cultural Theory: The Key Concepts, ed. Andrew Edgar and Peter Sedgwick (Abingdon: Routledge, 2008), 302-5; 303) 374 Bei den Überschriften in Time’s Arrow handelt es sich um einfache Formen rhetorischer Paradoxien wie „You have to be cruel to be kind“, „You do what you do best, not what’s best to do“, „Multiply zero by zero and you still get zero“ und „She loves me, she loves me not“. 375 Vgl. Mecklenburg, Martin Amis und Graham Swift, 72. 376 „The reversed entropy of Time’s Arrow pulls off a similar miracle of redemptive defamiliarization. An equally prestine, naïve narrative voice relates the biography of a Nazi war criminal backwards, from extinction to conception. The life and times of Odilo Undervorben, one of the surgical butchers of Auschwitz, unravel in reverse.” (Ryan, „Sex, Violence and Complicity: Martin Amis and Ian McEwan”, in: An Introduction to Contemporary Fiction, ed. Mengham, 216) Durch die Erzählperspektive wird das Erinnern und Vergessen des Vergangenen inszeniert, da die Vergangenheit vom Erzähler als etwas Unerwartetes und Unvertrautes aufs Neue durchlebt wird. Vgl. zur Thematik des Erinnerns und Vergessens auch Aleida Assmann, Memory in a Global Age: Discourses, Practices and Trajectories (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2010).

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im Laufe der rückwärts gerichteten Handlung. Häufig wird Time’s Arrow als Glanzleistung der Erzähltechnik gelobt, die jedoch aufgrund des experimentellen Ansatzes die für das Thema des Holocaust so unabdingbare Empathie und emotionale Tiefe vermissen lässt.377 Das Formexperiment erzwingt eine erforderliche Entfernung vom Gegenstand und durch den stilistischen Ludismus tritt die Frage nach ethischer Verantwortung von Literatur zutage. Der multiperspektivische, pluralistische Ansatz postmoderner Formexperimente benutzt das Spiel mit formalen Kriterien, um diese wiederum zu unterwandern: As modernity concerns form, postmodernity concerns multiple forms and their permutations; or, as noted, ,reason‘ has been replaced by ,reasons’. Malcolm Bradbury and James McFarlane echo this idea, seeing postmodernism (as opposed to modernism, which was ,devoted to the paradoxes of form’) as ,anti-formalist, though compelled to use form to subvert it.’378

Die Anatomie des Paradoxen nimmt in Time’s Arrow eine neue Form an, die im Zusammenhang mit den menschenverachtenden Schreckensszenarien des Holocaust eine zutiefst beunruhigende Wirkung evoziert. Durch die vernichtend düstere Färbung komischer Elemente sowie die nicht unproblematische Täterperspektive im Roman wird in Verbindung mit dem Ansatz des Formexperiments der Rhetorik der Paradoxie und deren Geltungsbereich ein ethisch problematisches Ausmaß zugeschrieben. Umso subversiver wirkt im direkten Kontrast zu historischem Kontext die kindliche, ingénueartige Naivität des Erzählers, die auch durch die Trennung von Körper/Handlungen und Geist/Bewusstsein verstärkt wird. Mit der konsequenten Verkehrung von Ursache und Wirkung geht eine gewisse Komik einher, die alltäglichen Situationen einen widernatürlichen, paradoxen Charakter verleiht.379 Häufig enttarnt sich eine Ebene des kühlen Sarkasmus, wenn beispielsweise Zuhälter von Ausbeutern und Menschenhändlern zu Beschützern der Prostituierten werden und diese mit Geld überschütten, anstatt sich selbst zu bereichern.380 Der Erzähler berichtet immer wieder entrüstet von Alltagssituationen, die menschlicher Logik eine Absage erteilen und jegliche Sinnhaftigkeit annullieren. Die verkehrte Welt lässt den Erzähler entfremdet von seiner Umgebung im Zustand einer ausgeprägten Entrüstung zurück und bereitet den Leser schrittweise auf das derbste Szenario und den Kernpunkt des Romans vor: den Genozid des Zweiten Weltkriegs. Dagegen wirken die auf den Kopf gestellten Alltagsbeobachtungen des unzuverlässigen Erzählers wie banale Stilexperimente:

377 Vgl. Keulks, Father and Son, 182. 378 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 14. 379 Vgl. dazu auch: „I’m not a complete innocent. For instance, I find I am equipped with a fair amount of value-free information, or general knowledge, if you prefer.” (TA, 16) 380 „I don’t see eye to eye with Tod on all issues. […] For instance, Tod’s very down on the pimps. The pimps – these outstanding individuals, who, moreover, lend such colour to the city scene, with their zootily customized clothes and cars. Where would the poor girls be without their pimps, who shower money on them and ask for nothing in return?” (TA, 39)

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Oh, the disgusted look on women’s faces as they step backwards through a doorway, out of the rain. Never watching where they are going, the people move through something prearranged, armed with lies. They’re always looking forward to going to places they’ve just come back from, or regretting doing things they haven’t yet done. They say hello when they mean goodbye. (TA, 51) In der paradoxen Welt von Time’s Arrow werden gesunde Menschen ins Krankenhaus eingewiesen, um es krank zu verlassen oder Farbfernseher durch Schwarz-Weiß-Fernseher ersetzt. Friendlys Seele kann seinen Körper schlichtweg nicht begreifen, als sich dieser dazu herablässt, fremden Kindern ihrer Spielzeuge zu berauben.381 Nicht nur stiehlt Tod niederträchtig Spielzeug, um sich selbst finanziell daran zu bereichern, auch nutzt er seinen Kirchenbesuch als persönliche Finanzspritze. Tatsächlich spendet Friendly in der Kirche Geld, durch Antichronologie aber wird er zum Dieb: Tod goes to church and everything. He trudges along there on a Sunday, in hat, tie, dark suit. The forgiving look you get from everybody on the way in – Tod seems to need it, the social reassurence. We sit in lines and worship a corpse. But it's clear what Tod's after. Christ, he's so shameless. He always takes a really big bill from the bowl. (TA, 23)

Die pervertierten Gedanken und Handlungen Friendlys symbolisieren eine Devianz von Normativität und lassen die „treuherzigen Moralismen des Ich-Erzählers in einer gelungenen Dopplung gleichzeitig richtig und falsch“ erscheinen.382 Die Geburt beispielsweise erklärt sich der Erzähler mit dem kontinuierlichen Schrumpfen der Babies, das in letzter Konsequenz das Verschwinden der Neugeborenen mit sich bringt: The little children on the street, they get littler and littler. At some point it is thought necessary to confine them to pushchairs, later to backpacks. Or they are held in the arms and quietly soothed – of course they’re sad to be going. In the very last months they cry more than ever. And they no longer smile. The mothers then proceed to the hospital. Where else? Two people go into that room (…). But only one comes out. Oh, the poor mothers, you can see how they feel during the long goodbye, the long goodbye to babies. (TA, 41)

Mit der langwierigen Verabschiedung der Kinder ist an dieser Stelle die Schwangerschaft, mit dem plötzlichen und spurlosen Verschwinden der Babies die eigentliche Geburt gemeint. Der Erzähler erlebt im Laufe von Friendlys Leben in eigentlich trivialen Situationen invertierte Epiphanien, die im Dienste der Überwindung des streng Systematischen stehen und an deren erkenntnisbringenden Offenbarungsmomenten er konsequent scheitert. Durch die später im Roman dargestellte Absurdität und Paradoxie der Naziverbrechen hält Amis der Gesellschaft den satirischen Spiegel mit Blick auf die bestialischen Auswüchse einer auf Aufklärung und Verstand basierenden, gescheiterten Gesellschaftsform vor und zwingt den Leser dazu, die oberflächliche

381 Vgl. dazu in TA, 23: „I can’t tell – and I need to know – whether Tod is kind. Or how unkind. He takes toys from children, on the street. He does. The kid will be standing there, with flustered mother, with big dad. Tod’ll come on up. The toy, the squeaky duck or whatever, will be offered to him by the smiling child. Tod takes it. And backs away, with what I believe is called a shiteating grin. The child’s face turns blank, or closes. Both toy and smile are gone. […] Then he heads for the store, to cash it in. For what? A couple of bucks. Can you believe this guy? He’ll take candy from a baby, if there is fifty cents in it for him.” 382 Mecklenburg, Martin Amis und Graham Swift, 73.

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Paradoxie zu überwinden, um den kritischen Ansatz zu erkennen: „[R]eaders of Amis’ works are required to transcend the paradox and discover the critiques beneath.”383 Die Abwendung von einer linearen Erzählweise kommt nicht durch Digressionen und Abschweifungen zustande, sondern durch die Umkehrung der Handlung. Amis setzt in Time’s Arrow keinen non-linearen, sondern anti-linearen Aufbau ein und entwirft eine klare und zielgerichtete Rückkehr zum Ursprung der Unschuld. Die Regression und Repetition von Zeit verweist auf eine zyklische Wiederholung von Geschichte als Alptraum, aus dem man nicht erwachen kann.384 Die Umkehrung der Zeitachse am Ende des Romans deutet durch die Betonung des exerzierten Formexperiments an, dass den historischen Ereignissen keine abschließende Lesart zugeschrieben werden kann.385 Amis verweist in seinem Roman auf die Tradition der vanitas- Thematik und spielt mit der Antinomie von Kategorien der Vergänglichkeit, die eng mit den exemplarischen Motiven der Barocklyrik verbunden sind. Memento mori, carpe diem und respice finem bilden auf eindringliche Weise den Grundtenor des Romans und erinnern nicht nur die erzählende Instanz, sondern auch den Leser unaufhörlich an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Sterblichkeit und Todesmetaphern sind omnipräsent, wenn das Ende zum Anfang wird. Die Kategorie des Ich-Erzählers wird in Time’s Arrow auf eine harte Probe gestellt, wenn die typischen erzähltechnischen Kriterien durch die Erzählinstanz außer Kraft gesetzt werden. Die in die Doppelgängerparadoxie der konträren „Figuren“ des Erzählers und Protagonisten erneut eingeflochtene, für Amis so typische Dopplungs-Symbolik verstärkt die schizophrene Abspaltung von Moral, Gewissen und Handlungen. In der Subkategorie des unzuverlässigen Erzählers wird ein Paradoxiepotential etabliert, das auf den Widerspruch abzielt, Protagonist und Erzähler seien gefangen in einem Körper und trotzdem Fremde:386 „The authoritative yet unreliable inside view has been ironically exaggerated into a world of self-knowledge dominated by misunderstanding and the impossibility of the inside view.“387 Die Verbindung von Sexualität und Macht wird in Time’s Arrow durch das Motiv der Impotenz als paradoxe Verkehrung des Omnipotenten zum Symptom von Friendlys emotionaler

383 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 4. 384 Vgl. dazu in James Joyce, Ulysses (London: Penguin Books, 1992), 42, Stephen Dedalus’ Ansatz von Geschichte als nicht endendem Alptraum, den er in der Aussage gegenüber Mr Deasy vor dem Hintergrund der brutalen historischen Entwicklung Irlands entfaltet: „History […] is a nightmare from which I am trying to awake.” 385 Vgl. dazu auch Gerd Bayer, „Holocaust als Metapher in postmodernen und postkolonialen Romanen“, in: Literatur und Holocaust, hg. Gerd Bayer und Rudolf Freiburg (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009), 267-90; 277-8: „Das Ende des Romans, mit seiner erneuten Umkehrung der Zeit und der damit implizierten Wiederholung aller Geschehnisse, deutet dabei an, dass Amis‘ Roman auf keinen Fall eine abschließende Deutung der Geschichte liefern möchte. Vielmehr ist seine Beschäftigung mit dem Holocaust eine kritische Positionierung zu den Sinngebungsprozessen von Aufklärung und Moderne.“ 386 Vgl. Currie, About Time, 100. 387 Ebd.

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und körperlicher Abstumpfung.388 Die Tendenz zum sexuellen Tabubruch findet in der Inversion von brutalen Vergewaltigungsszenen durch die Umkehrung von Ursache und Wirkung einen beunruhigenden Höhepunkt: The women at the crisis centres and the refuges are all hiding from their redeemers. The crisis centre is not called a crisis centre for nothing. If you want a crisis, just check in. The welts, the abrasions and the black eyes get starker, more livid, until it is time for the women to return, in an ecstasy of distress, to the men who will suddenly heal them. Some require more specialized treatment. They stagger off and go and lie in a park or a basement or wherever, until men come along and rape them, and then they’re ok again. (TA, 39)

Die Paradoxie der im achten Kapitel beschriebenen „sentimentalen Reise nach Auschwitz“, einem Ort, an dem „Juden vom Himmel hinabsteigen“ und an dem „es kein warum gibt“, offenbart sich als zentraler Ort des Paradoxons: „Ever since my days at Schloss Hartheim I had thought of making a sentimental journey, to Auschwitz. The place of power of the confluence of the rivers; the place where the numbered Jews, and all the others, who had no number, came down from the heavens; the place where, for a time, there was no why.” (TA, 169)389 Die „sentimentale Reise“ offenbart sich gleichzeitig als allegorischer Inbegriff des lebendigen Totseins, da auf umgekehrter Zeitebene der Tod immer schon stattgefunden hat und somit die Omnipräsenz des Todesmotivs impliziert wird.390 Das durch die massive Illusionsdurchbrechung inszenierte Spiel mit den Lesererwartungen ist aufgrund der implizierten Infragestellung von Logik und Rationalität auch als Angriff auf die Lesekonventionen zu verstehen. Dennoch erklärt sich die Thematik des Holocaust nicht als Gegenpol der Aufklärung, sondern als eine Art pervertierter Ausgeburt von Vernunft:391 „For Amis, the Holocaust is not antithetical to the Enlightenment, but ,represents one of its faces.’“392 Die für den Roman zentrale Sehnsucht nach poetischer Gerechtigkeit prägt das formale Experiment in Time’s Arrow,393 da durch die absolute Umkehrung aller Ereignisse,

388 Vgl. Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 108: „Power forms a recurrent motif in the novel, often becoming associated with sex. […] Power is equated with the ultimate authority over life, a fact literalized by the six figures in the photograph from Unverdorben’s Auschwitz period who exercised power over their six victims.” Vgl. auch: „We can make another baby, Herta and I. If I wept copiously both before and after, she let me do it, or try it, but I am impotent and don’t even go to the whores any more.” (TA, 143) 389 Vgl. auch in TA, 128: „Hier ist kein warum. Here there is no why. Here there is no when, no how, no where. Our preternatural purpose? To dream a race. To make a people from the weather. From thunder and from lightning. With gas, with electricity, with shit, with fire.” 390 Vgl. für eine ausführliche Studie zum Topos des lebendigen Totseins Günther Blaicher, hg., Death-In-Life: Studien zur historischen Entfaltung der Paradoxie der Entfremdung in der englischen Literatur (Trier: WVT, 1998). 391 Vgl. in diesem Zusammenhang: „The Auschwitz universe, it has to be allowed, was fiercely coprocentric. It was made of shit. In the early months I still had my natural aversion to overcome, before I understood the fundamental strangeness of the process of fruition. Enlightenment was urged on me the day I saw the old Jew float to the surface of the deep latrine, how he splashed and struggled into life, and was hoisted out by the jubilant guards, his clothes cleansed by the mire. Then they put his beard back on.” (TA, 132) 392 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 4. 393 Diedrick, Understanding Martin Amis, 133: „In the midst of imagining both the bureaucracy and the psychology of genocidal evil, it also offers poetic justice – on a grand historical scale.“ In Time’s Arrow wird die Paradoxie der poetischen Gerechtigkeit zum sinnstiftenden Moment der Erzählung, indem die verbreitete Vorstellung, das ganze Leben ziehe kurz vor dem Tod filmartig an einem vorbei, von Amis in der Umkehrung des Lebens literarisch in Szene

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individueller Vorgänge und relevanter Handlungsketten auch die Umkehrung der Verbrechen des Dritten Reichs herbeigeführt wird: „Water moves upward. It seeks the highest level. What did you expect? Smoke falls. Things are created in the violence of fire. But that’s alright. Gravity still pins us to the planet.“ (TA, 51) Die Vernichtung eines Volkes mutiert im Zuge der paradoxen Erzählstruktur zum irrational-absurden Akt der Entstehung eines Volkes.394 Die Paradoxie der Imagination von Geschichte übernimmt bei Amis die Funktion, Geschichtsversionen zu zeitigen. Dass für Holocaustliteratur eine zentrale Frage nach der Grenze von Sprache besteht, zeigt die Debatte der problematischen Osmose von Fakten und Fiktion, die einerseits in Bezug auf autobiographische Texte, auf die Darstellung historisch realer Ereignisse und Personen, andererseits aufgrund der Frage nach dem Umgang mit Fiktionalisierungen eines schwer vertextbaren Ereignisses deutscher Geschichte geführt wird. Theodor W. Adornos Unsagbarkeitstopos fasst diesen Konflikt zusammen und sieht im lyrischen Schaffen in Folge des Zweiten Weltkriegs einen „barbarischen Akt“: Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.395

Die Unmöglichkeit, nach Auschwitz ein Gedicht, und im erweiterten Sinne Literatur allgemein zu verfassen, stellt sich als Folge der Verbalisierung und dadurch auch Verharmlosung unmenschlich-bestialischer Verbrechen des Zweiten Weltkriegs heraus, vor deren Hintergrund jegliche bezugnehmende Äußerung zur Bagatellisierung tiefsitzender Traumata und Degradierung historischer Schandtaten verkommt. Da das Gewissen des Protagonisten in Time’s Arrow isoliert von dessen Erinnerungen und Erfahrungen als autonome Instanz vorgestellt wird, können sich die zeitlichen Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auflösen. Die Vorstellung, dass die Welt nach und vor Auschwitz nicht dieselbe sein kann, verkörpert einen Kernpunkt der Holocaustliteratur, den Amis durch die experimentelle Inszenierung von Zeit umsetzt.396

gesetzt wird. In einer Szene in dem 1993 erschienenen Film Schindlers Liste ist eine Parallele zu Time’s Arrow zu erkennen, als 300 Frauen, die ein Zug eigentlich zu Oskar Schindlers neuer Fabrik in die Tschechoslowakei befördern soll, anstatt dessen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ankommen. Dort werden sie ihrer Kleidung entledigt, rasiert und in Gaskammern verschleppt, als im Dunkeln – entgegen der Zuschauererwartung – plötzlich das Geräusch von Wasser zu hören ist. An dieser Stelle findet eine Art filmische Inszenierung von poetischer Gerechtigkeit statt, die einen Moment der Umkehrung geschichtlicher Ereignisse suggeriert und den Rezipienten kurz erahnen lässt, wie die deutsche Geschichte ohne den Holocaust imaginiert werden könnte: Dank Schindlers Einsatz und Bestechungen der Kommandanten könnten die Frauen das Lager wieder verlassen, zum Zug und letztlich zu ihrer Arbeit und der Familie zurückkehren (vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 132-3). 394 Vgl. Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 111. 395 Theodor W. Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997), Bd. 10.1, 11-30; 30. 396 Theodor W. Adorno, Metaphysik: Begriff und Probleme, hg. Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006 [1998]), 162: „[E]s kann für keinen Menschen, dem nicht das Organ der Erfahrung überhaupt abgestorben ist,

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Time’s Arrow ist ein zynisch-sarkastisches Satirekonstrukt, das durch einen vermeintlichen Augenzeugenbericht mit der Wahrnehmung von Realität spielt.397 Die Berichterstattung der Erzählinstanz kreiert die Paradoxie des ‚blinden Augenzeugens‘. Ereignisse werden wahrgenommen und wiedergegeben, aber nicht reflektiert und verstanden. Die ingénue- Perspektive erlaubt ein groteskes Spiel, dessen Fäden eine übergeordnete Instanz zu ziehen im Stande ist. Als düstere Variante einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit überwindet Amis etablierte Zeitkonzepte zugunsten der Vagheit und des offenen Endes. Durch eine Art Möbiusbandstruktur soll die Geschichte nicht abgeschlossen sein, sondern zyklusartig aufs Neue gelesen werden können: But in Time’s Arrow he rejects closure because this narrative should never be forgotten, only endlessly retold. Far from releasing readers in the final paragraph, the narrative condemns them to share with the narrator an endless oscillation between past and present, incorporating the past into our sense of modernity.398

In die invertierte Biographie Friendlys sind Elemente der kollektiven Geschichte verwoben; Amis zieht reale historische Ereignisse und Personen heran, um den antichronologischen Verlauf der Handlung am historischen Kontext zu verdeutlichen:399 „Ein Prozeß, der Text und Welt gleichermaßen entgrenzt und neu kontextualisiert.“400 Die Nähe Friendlys oder Odilo Unverdorbens, wie der Protagonist vor seinen Namensänderungen hieß, zur realen Person Adolf Eichmann wird durch dessen Geburtsort Solingen angedeutet.401 Ab dem Moment in der Erzählung, an dem der Schnittpunkt der Zeitachse überwunden wird und der Erzählverlauf in die Zeit vor 1933 übergeht, ist einzig der Erzählinstanz und dem Gewissen Unverdorbens die Existenz des bevorstehenden Genozids bewusst:402 Hier wird klar, daß die rückwärts gewandte Reise der Erzählstimme zwar eine in die Zeit geschichtlicher Unschuld ist, doch gleichzeitig auch zu den Ursprüngen der Nazi-Verbrechen.

die Welt nach Auschwitz, das heißt: die Welt, in der Auschwitz möglich war, mehr dieselbe sein, als sie es vorher gewesen ist.“ 397 Vgl. dazu auch Rudolf Freiburg und Gerd Bayer, „Einleitung: Literatur und Holocaust“, in: Literatur und Holocaust, hg. Bayer und Freiburg, 1-38; 11-2: „Während sich bereits die Historiographie schwer damit abmüht, die Faktizität der Ereignisse zu rekonstruieren und gerade auch die Erinnerungsforschung bezeichnende Schlaglichter auf die Verlässlichkeit des persönlichen und kollektiven Erinnerungsvorgangs wirft, gewinnt die allen Formen der Repräsentation des Holocaust implizite ethische Fragestellung noch zusätzlich an Schärfe, sobald sie sich auf das Problem der bewussten Literarisierung des Genozids konzentriert. Die Erkenntnisse der Erinnerungsforschung, so wurde deutlich, die den Akt der erinnernden ‚Rekonstruktion‘ auch immer als ‚Konstruktion‘ entlarven, bergen ein hohes ethisches Problem: Was ist, so könnte man die Frage zuspitzen, von der Verlässlichkeit der Augenzeugen zu halten, wenn sie in den Details irren? Ist der Nachweis, dass die in einem Bericht geäußerten Aussagen über ‚Fakten‘, die Beschreibung von Topographien, die Chronologie der Ereignisse, der Ablauf des Schreckens ‚fehlerhaft‘ sind, gleichzeitig eine Legitimation, auch weitere inhaltliche Aspekte eines ‚Augenzeugenberichtes‘ in Frage zu stellen?“ 398 Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 111. 399 Vgl. Schoenbeck, Their Versions of the Facts, 170. 400 Ebd. 401 Vgl. ebd. 402 Vgl. ebd., 171.

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Gerade in der Umkehrung der Zeit wird schon an dieser Stelle deutlich, daß der Roman einen streng kausalen Geschichtsbegriff propagiert, indem auf jede Ursache ihre Wirkung folgt.403

Exemplarisch wird am Leben Unverdorbens eine Welt vor und nach dem Holocaust präsentiert. Wenn die Erzählung an ihrem Höhepunkt – den Gräueltaten Unverdorbens als KZ-Arzt – ankommt, hat der Leser schon sein Leben nach dem Holocaust sowie Unverdorbens positive Attribute kennengelernt. In der Zeit nach 1945 entwickelt er sich im Exil in Amerika zum angenehmen Durchschnittsbürger, die Antichronologie des Romans lässt diesen Zustand einer Normalität in den historischen Ausnahmezustand des Holocaust übergehen. Der historische Kontext wird konkreter als etwas „nur Vergangenes.“404 Die Handlung vor dem Auschwitz- Kapitel entfaltet sich vor einer sinnlosen, irrationalen Erzählwelt: „The world has stopped making sense again, and Odilo forgets everything again (which is probably just as well), and the war is over now (and it seems pretty clear to me that we lost it), and life goes on for a little while.” (TA, 157) Amis etabliert in Time’s Arrow keine Antwort auf die Schrecken des Holocaust, eher schreibt er im Dienste einer Offenbarung von „Kontingenz, Irrationalität und Instabilität“ der Moderne mit Hilfe dekonstruktivistischer Metanarration dagegen an.405 Die Überwindung der Irrationalität manifestiert sich vor der paradoxen Kulisse von Auschwitz als sinnstiftendes Moment: „What I didn’t expect was a statement of truth. The truth was the last thing I was ready for. I should have known. The world, after all, here in Auschwitz, has a new habit. It makes sense.” (TA, 138) Die Paradoxie basiert auf den Beobachtungen des Erzählers vor der Zeit in Auschwitz, während Unverdorben in seiner Tätigkeit als Arzt im Zuge der kausalen Umkehrung Patienten nicht heilt, sondern verwundet, nicht vom Schmerz befreit, sondern Schmerz zufügt und sie mit körperlichen Leiden entlässt.406 Die rezeptionsästhetische Herausforderung ist im Effekt der bloßen Umkehrung von Zeit, Moral und Konvention zu erkennen und transformiert im Laufe der Auschwitz-Szene zu einer für den Leser gewohnten Normativität. Demzufolge findet der Prozess der „Bedeutungskonfiguration“ auf Seiten des Rezipienten statt, der durch im Text angelegte Ironie-Signale die Absurdität der Erzähltechnik entlarven und eine Konfrontation mit seinem „eigenen Akt der Sinnschaffung“ einleiten kann.407

403 Ebd. 404 Vgl. ebd. 405 Vgl. Finney, „Martin Amis’s Time’s Arrow and the Postmodern Sublime”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 114. 406 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 133-4. 407 Vgl. Schoenbeck, Their Versions of the Facts, 174. Die absurd-sinnstiftende Kulisse von Auschwitz dient der Offenbarung grausamster Perversion und erscheint dem Leser durch den invertierten Verlauf der Handlung besonders eindringlich, die Welt wirkt durch die Umkehrung von Ursache und Wirkung im zentralen Kapitel des Romans sinnhaft: „[…] Amis sucks us backwards into the origins of what went wrong. A soul or conscience enters at death’s door – the wrong way, one might think. Except that we discover that since Auschwitz the world makes more sense backwards[.]” (Sicher, The Holocaust Novel, 178) Vgl. auch Jon Adams, Interference Patterns: Literary Study,

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Die Erzählwelt in Time’s Arrow hingegen ist eine Welt des Absurden und der Sinnlosigkeit, die keine Gottesinstanz zulassen kann. Die Abwesenheit Gottes vor dem Hintergrund der Holocaustverbrechen verweist auf einen Bezug der Sinnlosigkeit zur Sinnfrage an sich und lässt zentrale Aspekte der Theodizee-Debatte in Amis‘ paradoxer Literatur narratologisch im sich selbst abschaffenden Autorgott und dem Motiv des Atheismus aufleuchten. Die Frage nach einem allmächtigen, gütigen Gott kanalisiert insbesondere mit dem Blick auf das Genre der Holocaustliteratur die Atheismusdebatte und den Theodizee-Diskurs in ihrer wohl drastischsten literarischen Darbietung.408

Scientific Knowledge, and Disciplinary Autonomy (Cranbury: Rosemont, 2007), 186: „[…] [I]t is all about entropy, about the shift from order to chaos, and about how you can’t put things back together again. Time’s Arrow can be seen as meditation on the irreversibility of actions[.]” 408 Vgl. dazu auch Rudolf Freiburg, „,Moments that murdered my God and my Soul‘: Der Theodizee-Diskurs im Spiegel ausgewählter Holocaust-Literatur“, in: Literatur und Holocaust, hg. Bayer und Freiburg, 111-39.

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6. „If God really existed he wouldn’t have given us religion”: Atheismus-Paradoxie im Dienste der Dekonstruktion von (fundamentalistischen) Religion(sphilosophien)

Untersuchungen und Kategorisierungen bekannter Paradoxien zeigen eine systematische Einteilung in verschiedene Rubriken, zu denen auch die Bereiche „Religion“ und „Glaube“ gehören. Die Stein-Paradoxie beispielsweise verweist auf die Infragestellung göttlicher Allmachtstellung: „Kann ein allmächtiges Wesen einen Stein machen, der so schwer ist, dass es ihn nicht heben kann? Es kann ihn machen, denn es kann alles tun, da es allmächtig ist. Jedoch, es kann dies auch nicht, denn wenn es ihn machen könnte, dann gäbe es etwas, das es nicht tun kann – ihn heben.“409 Die Auseinandersetzung mit Religion und Gottesbildern beinhaltet die Tradition eines religionsbezogenen Skeptizismus, der stark geprägt von der Theodizee-Debatte mit Fragen nach Paradoxien des Glaubens einhergeht:410 Der existenzialistische Protest gegen die Absurdität eines von menschlichem Leid und Tod gekennzeichneten Daseins weigert sich, vor der langen Geschichte stattgefundenen Leidens begriffs- und tatenlos zu kapitulieren. Möglicherweise liegt hier die Wurzel des modernen Atheismus mit seiner reinen Immanenzhaltung: Die Theologie als Theodizee hat angesichts der nicht zu erklärenden Leidensgeschichte der Welt keine Rückfragen an Gott zugelassen und so die Verantwortung in die Freiheit des Menschen gelegt, um sich dann auf Kosten der Leiden Unschuldiger ‚mit dem allmächtigen Gott zu versöhnen.‘411

Jules Renard verweist in seinem Wortspiel „I don’t know if God exists; but it would be better for his reputation if he didn’t” auf die Paradoxie des Glaubens, des Atheismus und Agnostizismus.412 Amis stellt die Theodizee-Frage auch in seiner autobiographischen Auseinandersetzung mit dem Motiv des Glaubens infolge der Entführung und Ermordung seiner Cousine Lucy Partington im Dezember 1973 durch den Massenmörder Frederick West in Experience: And what the facts of wounds must mean, of course, is that God is absent, or immoral, or impotent. Lucy Partington converted to Roman Catholicism three months before her death, and in my view this raises questions of theodicy. It is naïve of me, no doubt, but very often I find myself reflexively wondering how the Vatican has the gall to go on standing after the events following the Christmas of 1973. (E, 170)

409 Sainsbury, Paradoxien, 302. Vgl. auch die Paradoxie der Allwissenheit in Cook, Paradoxes, 28: „God is omniscient. Therefore he knows what he is going to do tomorrow. And he knows what you are going to do as well. This contradicts the fact that both he and you have free will, and also contradicts the idea that he is omnipotent (since he cannot do anything other than what he already knows he is going to do!) What has gone wrong?“ 410 Vgl. Rudolf Freiburg and Susanne Gruss, „Introduction“, in: „But Vindicate the Ways of God to Man”: Literature and Theodicy, ed. Rudolf Freiburg and Susanne Gruss (Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2004), 13-47; 16: Der Begriff „Theodizee“ setzt sich aus den griechischen Begriffen theos („Gott“) und dike („Gesetz“) zusammen und verweist auf die Paradoxie der Sinnfrage nach der gleichzeitigen Anwesenheit einer allmächtigen und gütigen Gottesfigur und willkürlich auftretenden Leids, das Menschen beliebig widerfährt. 411 Hober, Das Absurde, 69. 412 Ephraim Radner, The World in the Shadow of God: An Introduction to Christian Natural Theology (Eugene: Cascade Books, 2010), 22. Vgl. auch Luis Buñuels Aussage: „Gott sei’s gedankt, ich bin immer noch Atheist.” (Gerhard Vollmer, „Paradoxien und Antinomien. Stolpersteine auf dem Weg zur Wahrheit“, in: Das Paradox, hg. Hagenbüchle und Geyer, 159-89; 164)

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Seit Anfang des Jahrhunderts tritt innerhalb der westlichen Zivilisation der Kult eines „neuen Atheismus“ in Erscheinung, der durch Sam Harris’ The End of Faith (2004), Daniel Dennetts Breaking the Spell (2006), Richard Dawkins’ The God Delusion (2006) und Christopher Hitchens’ God is Not Great (2007) maßgeblich vorangetrieben wurde. Die übereinstimmende Position dieser Werke manifestiert sich in der Überzeugung einer grundlegenden Irrationalität, Immoralität und Gefahr von Religion.413 Der Vorwurf der Irrationalität wird von Kritikern des New Atheism zwar an die Verfasser der Werke zurückgegeben, die durch eine Radikalisierung des Atheismus-Diskurses umgelenkte Thematik jedoch leitet eine wichtige Debatte zur öffentlichen intellektuellen Auseinandersetzung mit atheistischen Fragestellungen ein.414 Bezeichnenderweise ist das Element des Neuen in der Literatur des New Atheism weniger innovativ, als die Bezeichnung impliziert, eher verweist es auf eine Wiederbelebung alter Ideen. Als neuartig können dennoch eine Dringlichkeit der Vermittlung in der Verbreitung atheistischer Gedanken und ein durch themenrelevante Veröffentlichungen, Vorlesungen und Konferenzen initiiertes atheistisches Wiedererwachen eingestuft werden.415 Amis‘ Literatur arbeitet auch mit der narratologischen Inszenierung von Atheismusparadoxien. Die Dekonstruktion der auktorialen Erzählinstanz symbolisiert das Motiv einer sich selbst abschaffenden Gottesfigur. Der deus absconditus zeigt sich bei Amis paradoxerweise im Darstellungsmodus eines Autor-Gotts und dem Spiel mit Erzählerkategorien und verkörpert eine postmoderne Metapher metafiktionaler Erzählexperimente, wenn die auktoriale Erzählsituation zugunsten der Illusionsdurchbrechung und dem Spiel mit den Erwartungen des Lesers aufgelöst wird.416 In Dead Babies, Other People oder London Fields steht die spielerische Inszenierung der auktorialen, allwissenden Erzählinstanz im Dienste einer narratologischen Paradoxie. Auch in Money wird die Diskrepanz der ontologischen Differenz zwischen Autorebene und Figurenebene narratologisch vorgeführt. Fiktionale und reale Ebenen gehen eine Fusion ein, wenn Amis die Figur Martin Amis, einen jungen, erfolglosen Schriftsteller,

413 Arthur Bradley and Andrew Tate, The New Atheist Novel: Fiction, Philosophy and Polemic after 9/11 (London: Continuum, 2010), 1. Vgl. beispielsweise ebd.: „From Belfast, through Belgrade, Beirut, Bombay and Bethlehem all the way to contemporary Baghdad, Christopher Hitchens is convinced of one fact: ,religion kills’.” 414 Vgl. Bradley and Tate, The New Atheist Novel, 14-5: „However, we also find much in the New Atheist novel that is ignorant, disturbing and – particularly in its treatment of Islam even repugnant. What other word could we use, for example, to describe Martin Amis’s casual dismissal of approximately 1.5 billion people as lacking in curiosity? […] Perhaps The New Atheist Novel will have been worth writing if it succeeds, not in convincing the reader one way or another of its own importance, but simply in provoking an increasingly urgent debate about the quality of our public intellectual discourse on religion.” 415 Vgl. Amarnath Amarasingam, „Introduction: What is the New Atheism?”, in: Religion and the New Atheism: A Critical Appraisal (Leiden: Brill, 2010), 1-10; 2. 416 Vgl. zur literarischen Konzeption des deus absconditus: „If there had been a creator, his second act would have been to disappear.” (John Fowles, „The Godgame“, in: The Aristos (London: Triad/Panther, 1984 [1964]), 18-9; 18)

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Plagiator und Wortdieb als Teil der narrativen Welt vorstellt.417 In der Rolle des erfahrenen Ratgebers geht die Figur Martin Amis auf Self ein und bietet eine Gegenfolie der Normalität zu all den schäbig-schillernden, narzisstisch-exzentrischen Figuren in Money. Trotz seines Auftretens als moralische Instanz, die Self mit seiner Pornographiesucht und seinem Alkoholismus konfrontiert, bleibt er ein talentierter, wenn nicht der talentierteste Trickbetrüger im Roman.418 Die Fusion von Amis‘ Autorenstimme mit den Stimmen der Erzählinstanzen seiner Werke verkörpert ein wiederholtes Charakteristikum seines Erzähltons: Postmodernist authors (if they can exist as ,authors’) reside somewhere inside the text, assuming no authority and functioning more like message-carriers, perhaps not even good ones. London Fields’ Samson Young claims to be an ,author’ offering an objective account for the reader’s interpretation: ,I can’t make anything up. It just isn’t in me. Man, am I a reliable narrator’ (78). But there is also Mark Asprey, the literary executor who may be the author, and the mysterious M.A. at the front of the book who may be Mark Asprey or Martin Amis. ,Martin Amis’ or Martin Amis may be the author of Money; and both the narrator and the Prince character, who may or may not be one in the same, are authorial candidates for Other People. In short, the position of the author in Amis’ works is as unclear as the amount of control the ,author’ wields over the prose.419

Die Figur Martin Amis tritt nicht als Antagonist von Self in Erscheinung, sondern illustriert eine Doppelgängerfigur im Roman.420 Auf die Frage, ob Amis sich selbst als Figur inszeniere, um eine Distanzierung zum Protagonisten herzustellen, erläutert er in einem Interview mit John Haffenden die Lebendigkeit und Labilität seiner Figuren, denen er sich als Autor,figur‘ in vielen seiner Werke auf narrativer Ebene annähert: I was wondering whether I did put ‚me‘ in there because I was so terrified of people thinking that I was John Self. But actually I’ve been hanging around the wings of my novels, so awkwardly sometimes, like the guest at the banquet, that I thought I might jolly well be in there at last. Also, every character in this book dupes the narrator, and yet I am the one who has actually done it all

417 Annegret Maack, „,Writing Moral Fiction in a Moral Vacuum’: Ian McEwan’s and Martin Amis’s Fictional Worlds“, in: Literature and Theodicy, ed. Freiburg and Gruss, 485-99; 494. Vgl. auch: „Readers familiar with recent developments in British literature will notice something of the so-called ,Martian‘ school of bizarrely figurative expressiveness, a characteristic use of the English language that has been suggestively compared to the ,metaphysical‘ style of the late sixteenth and early seventeenth centuries. […] [I]n devising a voice for John Self, the extra-fictional Martin Amis has […] quite explicitly chosen to use his own, a voice that is clearly recognizable from his own other published fiction.” (Richard Todd, „British Postmodern Fiction”, in: Exploring Postmodernism: Selected Papers Presented at a Workshop on Postmodernism at the XIth International Comparative Literature Congress, Paris, 20-24 August 1985, ed. Matei Calinescu and Douwe Fokkema (Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 1987), 123-37; 135) 418 Vgl. Gavin Keulks, Father and Son, 178. 419 Dern, Martians, Monsters and Madonna, 19. Vgl. zur Dekonstruktion der auktorialen Erzählinstanz in London Fields auch: „This is a true story but I can’t believe it’s really happening. It’s a murder story, too. I can’t believe my luck. And a love story (I think), of all strange things, so late in the century, so late in the goddamned day. This is the story of a murder. It hasn’t happened yet. But it will. (It had better.) I know the murderer, I know the murderee. I know the time, I know the place. I know the motive (her motive) and I know the means. I know who will be the foil, the fool, the poor foal, also utterly destroyed. And I couldn’t stop them, don’t think, even if I wanted to. The girl will die. It’s what she always wanted. You can‘t stop people, once they start creating. What a gift. This page is briefly stained by my tears of gratitude. Novelists don’t usually have it so good, do they, when something real happens (something unified, dramatic and pretty saleable), and they just write it down?” (LF, 1) 420 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 96.

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to him: I’ve always been very conscious of that, and it is perhaps an index of how alive and unstable my characters are to me.”421

Einen viel diskutierten Beitrag zur Atheismus- und Glaubensdebatte liefert Amis mit The Second Plane, einer Sammlung von Texten die als militanter Beitrag zum neuen Atheismus die Auswirkung islamistischen Terrors in den Fokus essayistischer und fiktionaler Auseinandersetzung rückt: It is with Amis that we encounter the most militant ideological form: The Second Plane (2008), his recent collection of essays on 9/11, has provoked a storm of protest for its critique of Islam. Like his friend Ian McEwan, Amis attempts to pit literature over and against the forces of religious extremism and, in particular, ,Islamist’ terror. On the one hand, the literary imagination stands for freedom, originality and independence of mind. On the other, the Islamist imagery is consistently depicted as dependent, circular and cliché-ridden. For Amis, then, the New Atheist novel comes to resemble what we might almost call an ,aesthetic’ front in the War against Terror: the ideological struggle between literature and religion is subtly transformed into the clash of civilizations between East and West.422

Die Paradoxie von Amis’ Kampf gegen Klischees ist in The Second Plane durch die Befangenheit des Autors selbst zu erkennen. Der Drang, sich von überholten Denkstrukturen der breiten Masse abzusetzen und mit verbaler Geschicklichkeit rhetorisch gegen die Bildung und das Bestehen von Stereotypen durch die Suche einer neuen Normativität anzukämpfen, verliert in der Sammlung fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte, die sich mit dem Thema der Terroranschläge auf das World Trade Center beschäftigen, an Relevanz: „To resort to a cliché, a stock formulation or habitual response, he argues, is to pass up an opportunity to think or feel for oneself.”423 Das Brechen mit Klischees und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung erweisen sich für Amis‘ Literatur als zentrale Anliegen, jedoch ist es genau das Verharren in stereotypisierenden Gewohnheiten und populistischen Gemeinplätzen, das den Umgang mit Religion, im Besonderen mit dem Islam, in The Second Plane nachhaltig prägt: „On Sept. 10, 2001, nobody in America seemed to know anything about Islam. On Sept. 12, 2001, everybody seemed to know everything about Islam.”424 Leon Wieseltiers New York Times-Artikel versucht, Amis’ moralisches Anliegen innerhalb seines persönlichen literarischen „Anti-Terror-Programms” in den Kontext der überdimensionalen 9/11-Debatte einzuordnen: „Amis enjoys the moral element in contempt, and he is splendidly unperturbed by the prospect of giving offense.”425

421 John Haffenden, „Martin Amis”, in: Novelists in Interview, ed. John Haffenden (London: Methuen, 1985), 1-24; zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 61-6; 63. 422 Bradley and Tate, The New Atheist Novel, 12. 423 Bradley and Tate, The New Atheist Novel, 38. 424 Leon Wieseltier, „The Catastrophist”, The New York Times (27.04.2008), (zuletzt besucht am 08.09.2014). 425 Ebd.

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Amis eröffnet The Second Plane mit einem gleichnamigen Artikel, der am 18. September 2001 in The Guardian erschien. Die Unmittelbarkeit sowie der Modus der direkten Reaktion auf die Ereignisse sind dem Artikel in seinem impulsiv-überwältigten Ton so stark anzumerken, dass dieser weitaus emotionalere und vor allem irrationalere Momente aufweist, als die von Amis später verfassten Abhandlungen zur Terrorismusdebatte.426 Die distinktive Bedeutung des zweiten, in die Twin Towers des World Trade Center gesteuerten Flugzeugs kommt für Amis durch einen Moment des Schocks zustande, den er in den einleitenden Sätzen des Artikels mit fast epiphanem Potential beschreibt: „It was the advent of the second plane, sharking in low over the Statue of Liberty: that was the defining moment. Until then, America thought she was witnessing nothing more serious than the worst aviation disaster in history; now she had a sense of the fantastic vehemence ranged against her.“ (SP, 3)427 Die Bildlichkeit und Ästhetik des Grauens, die eine neue Dimension der Chiffre vom „Schiffbruch mit Zuschauern“ und des Voyeurismus von Leid evoziert und durch den Einsturz des World Trade Centers als Metapher der Erniedrigung Amerikas in die Geschichte einging,428 erkennt Amis als Moment der Apotheose der Postmoderne, einem Augenblick der verklärenden Vergöttlichung: If the architect of this destruction was Osama bin Laden, who is a qualified engineer, then he would certainly know something about the stress equations of the World Trade Center. He would also know something about the effects of ignited fuel: at 500°C (a third of the temperature actually attained), steel loses 90 per cent of its strength. He must have anticipated that one or both of the towers would collapse. But no visionary cinematic genius could hope to recreate the majestic abjection of that double surrender, with the scale of the buildings conferring its own slow motion. It was well understood that an edifice so demonstrably comprised of concrete and steel would also become an unforgettable metaphor. This moment was the apotheosis of the postmodern era – the era of images and perceptions. (SP, 4-5)

Amis konstatiert für die Gebäude des World Trade Centers die Eigenschaft, durch ihren Einsturz zu einer eindringlichen, unvergesslichen Metapher und zu einem wirkungsvollen Schlussbild des

426 Amis richtet seinen Blick in The Second Plane auf drei Perspektiven, die der Opfer, Täter und Zuschauer und zieht den Begriff des „Artenbewusstseins“ heran, um seine ethnizitäten- und religionenübergreifende Reaktion auf die Menschheit an sich zu definieren: „Our best destiny, as planetary cohabitants, is the development of what has been called ‚species consciousness‘, something over and above nationalisms, blocs, religions, ethnicities. During this week of incredulous misery, I have been trying to apply such a consciousness, and such a sensibility. Thinking of the victims, the perpetrators, and the near future, I felt species grief, then species shame, then species fear.” (SP, 9-10) 427 Vgl. dazu auch: „Now the second aircraft, and the terror revealed – the terror doubled, or squared. We speak of ,plane rage’ but it was the plane itself that was in frenzy, one felt, as it gunned and steadied and then smeared itself into the South Tower.” (SP, 6) Vgl. zur Paradoxie der Destruktionssymbolik auch Peter Sedgwick, „9/11”, in: Cultural Theory, ed. Edgar und Sedgwick, 227-31; 228: „The symbolic power of the images of collision with the south tower is connected in no small way with this fact. The towers, icons of Western global power, were destroyed by the use of machines that themselves stand as representatives of the same global economic and industrial interests. The aeroplane, which like the telecommunications industry has served to shrink geographical space, and with it cultural and political space, has brought with it not merely convenience of travel between distant (and for the vast majority in the West hitherto almost unreachable) destinations but also an increased sense of vulnerability and, in turn, instability.” 428 Vgl. zum Voyeurismus von Leid auch Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979) und Susan Sontag, Regarding the Pain of Others (New York: Picador, 2003).

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Postmodernen zu avancieren. Erkennbar wird eine Paradoxie der Verherrlichung des Postmodernen durch die pervertierte Interpretation der menschenverachtenden Ereignisse des 11. September als Höhepunkt entarteter postmoderner Bilder und Wahrnehmungen. Die symbolische Kraft der in sich kollabierenden und sich gleichzeitig gewaltsam dekonstruierenden Bauwerke beschreibt Amis vor der Kulisse einer filmischen Szenerie. Das Zusteuern eines Flugzeuges auf ein Gebäude ist kein ungewöhnlicher Anblick, kann aber auch ohne erkennbare Gefahr den Betrachter in eine plötzliche Starre versetzen und als ein Moment des Sublimen die menschliche Auffassungsgabe überfordern: „We all have watched aeroplanes approach, or seem to approach, a large building. We tense ourselves as the supposed impact nears, even though we are sure that this is a parallax illusion, and that the plane will cruise grandly on.” (SP, 6) Aspekte des Terrors, Horrors und Grauens erreichen eine neue Qualität und haben nichts mehr gemein mit einem gruseligen Nervenkitzel, der in Form von gothic tales und crime fiction generisch manifestiert wird oder einer im Sinne E.A. Poes zelebrierten Form des Spuks, sondern basieren auf abgrundtiefer Demütigung und Verachtung. Solch tiefgreifende Effekte des Sublimen können für den Rezipienten oder Zuschauer nur durch das Einleiten der stärksten emotionalen Reaktionen herbeigeführt werden: „Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.”429 Die Auswirkungen von Schmerz auf Körper und Psyche übersteigen in ihrem Effekt jegliches Gefühl von Freude, das durch lebhafte Imagination und das sinnlichste Körpergefühl erlebt werden kann. Durch das Motiv des Todes wird die Idee des bloßen Schmerzes überschritten.430 Der Effekt des Sublimen kommt durch die Machtmetapher, Ikonographie und Symbolik des Attentats zustande, aber auch durch die Leichtigkeit, mit der die Entführer die Maschinen in die Twin Towers zu steuern vermochten. Das überwältigende Medieninteresse und die überproportionierte Medienpräsenz tragen außerdem zu einem sublimen Effekt für den Rezipienten bei:431 What has contributed to making the phrase ,9/11’ so richly symbolic (especially in the minds of many in the West) is the detailed media coverage of the events of that day as they unfolded in New York. […] The power of this symbolism, along with subsequent events that arose in the aftermath of 11 September, probably stands as the fulfillment of the attackers’ highest hopes. An icon of the industrial, financial and cultural might of capitalist America was transformed into rubble in a matter of hours and thereby subsumed and rendered open to reinterpretation within an iconography framed by the upsurgent power of religious fundamentalist will. It was not merely

429 Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Sublime and Beautiful (Abingdon: Routledge, 2008), 39. 430 Vgl. ebd., 39. 431 Vgl. Sedgwick, „9/11”, in: Cultural Theory, ed. Edgar and Sedgwick, 227. Vgl. auch Noam Chomskys Ansatz zu den Ereignissen um 9/11: „[T]he horrifiying events of 11 September 2001 must be understood as an expression of deeply felt grievances over several decades of American foreign policy.” (Ebd., 229)

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the suicidal ruthlessness of the attackers that was especially chilling, but also the ease with which the attacks were perpetrated using aircraft bound on internal flights in the USA.432

Den Medien kommt in ihrer Darstellung der 9/11-Thematik und im potenzierten Ausmaß der Berichterstattung unbestreitbar eine besondere Rolle im Hinblick auf die Attentate zu, die zwangsläufig lebhafte Bilder der Schreckensszenarien der Anschläge abruft. Die Paradoxie des medialen Effekts offenbart sich in der Inszenierung des Grauens, die als Folge schauderhafter Schreckensbilder eine betroffene Rührseligkeit der Rezipienten hervorrufen kann. In The Second Plane thematisiert Amis die Devianz von normativen Glaubensrichtungen, die das paradoxe Fundament terroristischer Verbrechen bildet. Er schreibt den Selbstmordattentätern Lebensmüdigkeit und die paradoxe Verachtung von Leben und Tod gleichermaßen als Alleinstellungsmerkmal zu: Terror always has its roots in hysteria and psychotic insecurity; still, we should know our enemy. The firefighters were not afraid to die for an idea. But the suicide killers belong in a different psychic category, and their battle effectiveness has, on our side, no equivalent. Clearly, they have contempt for life. Equally clearly, they have contempt for death. (SP, 7)433

Die Referenz auf den heldenhaften Einsatz der Feuerwehr greift Amis erneut in seiner 2006 veröffentlichten Kurzgeschichte „The Last Days of Muhammad Atta“ auf und erschwert auch hier die Unterscheidung zwischen Erzählstimme und der Stimme des Autors. Die Distanz des neutralen, deskriptiven Erzählers in der Rolle des Beobachters bricht er zugunsten einer spürbar emotionalen Involvierung auf: Perhaps the closest equivalent, or analogy, the West could field was the firefighters. Muhammad Atta had studied architecture and engineering. The fire that would be created by 20,000 gallons of jet fuel, he knew, could not be fought: the steel frame of the tower would buckle; the walls, which were not intended to be weight-bearing, would collapse, one on to the other; and down it would all come. The fire could not be fought, but there would be firefighters. They were called the ,bravest’, accurately, in his view; and, as the bravest, they took on a certain responsibility. The firefighters were saying, every day: ,Who’s going to do it, if we don’t? If the bravest don’t, who else is going to risk death to save the lives of strangers?’ (SP, 117)

Amis‘ nicht-fiktionale Texte zu den Ereignissen des 11. Septembers basieren auf einer Diskrepanz zwischen literarischem Anspruch und subjektiven Ausführungen. Die Mentalität des Paradoxen, die Amis in seinen fiktionalen Texten einsetzt, um gegen veraltete, überholte Denkstrukturen anzuschreiben, kann er in seine persönlichen Abhandlungen nicht integrieren. Er wird zum Opfer der von ihm selbst so kontinuierlich vorgeführten verkrusteten Denkklischees und entwickelt eine stark kritisierte politische Argumentation. Die sonst so prononciert eingesetzte Doppeldeutigkeit verblasst zur puren Doppelzüngigkeit und Amis‘ essayistische Auseinandersetzung mit dem

432 Ebd., 227-8. 433 Es wird nicht deutlich differenziert, wen Amis mit „unsere Seite” adressiert, vermutlich bezieht er sich verallgemeinernd auf den Westen, Nicht-Terroristen oder Anti-Islamisten. Mars-Jones erkennt in der überraschenden Problematik des Tons eine zu persönliche und zu verallgemeinernde Autorenstimme in Amis’ nicht-fiktionalen Texten (vgl. Mars-Jones, „Anti-Dad”).

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Thema Terrorismus lässt ihn paradoxerweise als bigotten Fürsprecher eines ,rechten Glaubens‘ erscheinen, der keine Zwischenräume des Vagen, Subversiven oder Pluralistischen zulässt und sich als personifizierte Karikatur der eigenen Doppelmoral abwertet. Im ersten Teil von „The Age of Horrorism“, einem Artikel, den Amis 2006 für The Guardian verfasste, grenzt er sich vom Osten durch westliche Moralvorstellungen und Wertesysteme ab und spricht sich in diesem Zusammenhang für die Rechte von Frauen aus: I would have liked to have said it then, and I would like to say it now: all men are my brothers. But all men are not my brothers. Why? Because all women are my sisters. And the brother who denies the rights of his sister: that brother is not my brother. […] Religion is a sensitive ground, as well it might be. […] Today, in the West, there are no good excuses for religious belief – unless we think that ignorance, reaction and sentimentality are good excuses. This is of course not so in the East, where, we acknowledge, almost every living citizen in many huge and populous countries is intimately defined by religious belief. The excuses, here, are very persuasive; and we duly accept that ,faith’ – recently and almost endearingly defined as ,the desire for the approval of supernatural beings’ – is a world-historical force and a world-historical actor. All religions, unsurprisingly, have their terrorists, Christian, Jewish, Hindu, even Buddhist. But we are not hearing from those religions. We are hearing from Islam.434

Amis erkennt die Vollstrecker des „militanten Islams“ als Frauen- und Aufklärungsfeinde und meint in ihrer Doktrin die Verschmelzung stereotypisierender Antworten, Klischees und übernommener, unreflektierter Formulierungen zu entlarven.435 Er sieht die von ihm als überholt eingestufte Ausübung von Religion im Westen lediglich durch Gefühle der Ignoranz, Sentimentalität oder als Reaktion legitimierbar.436 Durch diese festgefahren erscheinende Wahrnehmung blockiert er die Denkansätze, die Momente des Widerspruchs aufweisen, zu Gunsten einer einseitigen Argumentation. Die versöhnliche Tendenz am Ende des Zitats, durch die Amis die zunächst nur auf den islamischen Glauben angewandte Religionskritik auf die anderen Weltreligionen ausweitet, verliert bereits im nächsten Absatz des Artikels an Wirkung. Amis versucht, den Propheten Mohammed als ehrenvolle Figur der Weltgeschichte zu charakterisieren, die jeglichen Respekt verdiene und historisch ihresgleichen suche. Er beendet seine Digression über den Propheten mit den Worten: „Naturally we respect Muhammad. But we do not respect Muhammad Atta.“437 Amis argumentiert hochgradig populistisch, denn die von ihm herbeigeführte, blasphemisch aufgeladene Analogie verkommt zu Gunsten einer pointierten

434 Martin Amis, „The Age of Horrorism”, The Guardian (10.09.2006), (zuletzt besucht am 08.09.2014). Vgl. zu Amis’ Auffassung des Frauenbilds in Christentum und Islam auch Prinzessin Victorias Affinität zum Islam in Yellow Dog: „But think of the agonies that Western women go through because of their looks. The constant worries and comparisons. It’s forced on you too. This stupid vanity is forced on you. What bliss it would be not to have to think about it ever again. Oh, the privacy of it!” (YD, 154) 435 Vgl. SP, 19. Hier siedelt Amis auch das Fundament großer literarischer Topoi der Weltliteratur an: „This is the thrust of one of the greatest novels ever written, Ulysses, in which Joyce identifies Roman Catholicism, and anti- Semitism, as fossilisations of dead prose and dead thought.” (SP, 19) 436 Vgl. zum amerikanischen Sentimentalismus und 9/11 im amerikanischen Roman auch Till Werkmeister, Domestic Nation: Der sentimentale Diskurs US-amerikanischer Romane zum elften September 2001 (Berlin: LIT, 2013). 437 Amis, „The Age of Horrorism”.

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Phrase zur opportunistischen Verbalattacke gegen den Islam an sich. Das Ziel dieser missglückten Formulierung bleibt unklar und lässt den Leser mit vielen Fragen zurück: So, to repeat, we respect Islam – the donor of countless benefits to mankind, and the possessor of a thrilling history. But Islamism? No, we can hardly be asked to respect a creedal wave that calls for our own elimination. More, we regard the Great Leap Backwards as a tragic development in Islam’s story, and now in ours. Naturally we respect Islam. But we do not respect Islamism, just as we respect Muhammad and do not respect Muhammad Atta.438

Das Nebeneinanderstellen von Islam und Islamismus signalisiert in der parallelen Analogie sowie bereits in der Terminologie eine problematische Herangehensweise des Autors, da der Begriff „Islamismus“ den Begriff „Islam“ beinhaltet und somit eine Verbindung der Termini konnotiert, die vor dem Hintergrund der Bedeutungskonstitution der Kategorien irreführend und unangebracht erscheint. Das Aufeinandertreffen von Kategorien wie Islam und Islamismus, dem Propheten Mohammed und dem Selbstmordattentäter Muhammad Atta in einem Satz, in einer Zeile, erweckt den Eindruck eines blasphemischen Grundtenors.439 Der Vergleich bleibt in Ermangelung einer sinnvollen Argumentation oberflächlich und lässt eine intensive und unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Thema vermissen, denn Amis erklärt Islamismus gewissermaßen zum bösen Stiefbruder des Islams und versteht sich selbst als Sprachrohr des Westens oder moralische Instanz der Nicht-Islamisten. Es entsteht der Eindruck, er distanziere sich in seinen Texten zu 9/11 von seiner abweichenden, opponenten Schreibweise und fällt dieser in seinem gescheiterten Versuch einer wertfreien Diskussion darüber hinaus zum Opfer. Den Titel seines Aufsatzes „The Age of Horrorism“ erklärt er vor dem Hintergrund eines islamistischen Terrorismus folgendermaßen: When you’re on your sleigh going through Siberia and you hear a wolf howl, that is fear or concern. When the wolf is pounding after your vehicle, then that’s terror, and horror is when the wolf is actually there. I think Islamism has turned up the dial of terror. This is an ideology that has freed itself from reason and it is feeding on death.440

Die Skala des Terrors sieht Amis durch die islamistische Ideologie erweitert, da diese – weit abgelegen von den Pfaden der Vernunft und mit dem Fokus auf den Tod – als bedrohliches

438 Ebd. 439 Amis entfacht durch seine Herangehensweise ein mediales Inferno, auf das vielseitig reagiert wurde – nicht zuletzt in einer öffentlichen Debatte mit seinem Kollegen Terry Eagleton, der Amis islamophobes Gedankengut unterstellte. Ein Parallelbeispiel zu Amis‘ eifernder Kritik gegen den Islam in der Folge des Skandals um Rushdies The Satanic Verses liefert Fay Weldons harsche Kritik am Koran: „The Koran is food for no-thought. It is not a poem on which society can be safely or sensibly based. It gives weapons and strength to the thought-police – and the thought-police are easily set marching and they frighten … You can build a decent society around the Bible … but the Koran? No.” (Richard Webster, A Brief History of Blasphemy: Liberalism, Censorship and The Satanic Verses (Southwold: The Orwell Press, 1990), 43) 440 Dwight Garner, „Inside the List”, The New York Times (14.01.2007), (zuletzt besucht am 08.09.2014). Vgl. dazu auch in Yellow Dog: „,You are being chased by a wild beast which you already fear,’ he went on. ,That fear turns to terror as the chase begins. And that terror turns to horror when the chase ends. Horror is when it’s upon you, when it’s actually there.’” (YD, 151)

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Denksystem eine neue Dimension von Terror prägt. In „The Voice of the Lonely Crowd“ erkennt Amis den 11. September als Symbol der Irrationalität und Tag der Ent-Aufklärung:441 September was a day of de-Enlightenment. Politics stood revealed as a veritable Walpurgis night of the irrational. And such old, old stuff. The conflicts we now face or fear involve opposed geographical arenas, but also opposed centuries or even millennia. It is a landscape of ferocious anachronisms: nuclear jihad on the Indian subcontinent; the medieval agonism of Islam; the Bronze Age blunderings of the Middle East. (SP, 13)

Amis sieht nicht nur die Basis des Terrorismus als eine der Aufklärung gegenläufige, diesen Standpunkt erweitert er auf das Konzept von Religion an sich, dem der realistische Bezug und das wirklichkeitsnahe Fundament fehlt: To be clear: an ideology is a belief system with an inadequate basis in reality; a religion is a belief system with no basis in reality whatever. Religious belief is without reason and without dignity, and its record is near-universally dreadful. It is straightforward – and never mind, for now, about plagues and famines: if God existed, and if he cared for humankind, he would never have given us religion.” (SP, 14)442

Amis reflektiert in „The Voice of the Lonely Crowd“ in einem essayistischen Programm der Reminiszenz auch die eigenen prägenden Kindheitsmomente, die seine schon früh gefestigte Einstellung zum Glauben beeinflussten: In my house, it would please me to claim, God just never came up. But that’s not quite true. Later – we were now in Cambridge – my father spent a day with Yevgeny Yevtushenko, during which there was the following exchange. YY: ,You atheist?’ KA: ,Well, yes, but it’s more that I hate him.’ (SP, 15)443

Dawkins bringt in The God Delusion eine ebenso eindeutige, wenn auch detailliertere Aversion gegenüber einer Gottesfigur zum Ausdruck, wenn er diese als ungerechten, unbarmherzigen, abgrundtief menschenverachtenden Tyrann und als Inbegriff des Bösen charakterisiert: The God of the Old Testament is arguably the most unpleasant character in all fiction: jealous and proud of it; a petty, unjust, unforgiving control-freak; a vindictive, bloodthirsty ethnic cleanser; a misogynistic, homophobic, racist, infanticidal, genocidal, filicidal, pestilential, megalomaniacal, sadomasochistic, capriciously malevolent bully.444

441 Die Paradoxie der Stimme der einsamen Menschenmenge symbolisiert die Stimme der Religion als einen Monolog, der die Bestätigung eines Chors anstrebt: „And the voice of religion, to reposition a phrase often used by that great critic, the Reverend Northrop Frye, is ‚the voice of the lonely crowd‘. It is a monologue that seeks the validation of a chorus.” (SP, 16) 442 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die intertextuelle Referenz auf House of Meetings: „You will recall my ‚proof‘, framed in the autumn of 2001, on the non-existence of God, and how pleased I was with it. ,Never mind, for now, about famine, flood, pestilence, and war: if God really cared about us, he would never have given us religion.’ But this loose syllogism is easily exploded, and all questions of theodicy simply disappear – if God is a Russian.” (HM, 74) 443 Vgl. auch den einleitenden Satz in Julian Barnes’ Nothing To Be Frightened Of als das Pendant zu Kingsley Amis’ Positionierung: „I don’t believe in God, but I miss Him.“ (Julian Barnes, Nothing To Be Frightened Of (London: Jonathan Cape, 2008), 1) 444 Richard Dawkins, The God Delusion (London: Transworld, 2006), 51.

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Weitaus weniger radikal stellt sich Amis‘ eigene atheistische Positionierung dar. Früh deklariert er sich selbst zum Atheisten, eine Position, die er sich im Laufe der Jahre zu überdenken genötigt sieht:445 And in the home, when things went wrong, there was a certain amount of hating God, who was informally known as BHQ, or Bastards’ Headquarters. At Cambridgeshire High School for Boys I gave a speech in which I rejected all faith as an affront to common sense. I was an atheist, and I was twelve: it seemed open-and-shut. I had not yet pondered Kant’s rather lenient remark about the crooked timber of humanity, out of which nothing straight is ever built. Nor was I aware that the soul had legitimate needs. (SP, 15)

Amis kategorisiert sich später aufgrund des irrationalen Wesens des Atheismus in „The Voice of the Lonely Crowd“ als Agnostiker: „Much more recently I reclassified myself as an agnostic, or left-agnostic or weak-agnostic; in any event, not quite an atheist. Because atheism, it turns out, isn’t strictly rational either.” (SP, 15) Emotionale Kälte, das Bild des Erfrorenseins, physische Gewalt und Grausamkeit sowie die häufig eingenommene Täterperspektive des Erzählers verstärken einen grenzüberschreitenden Charakter von Amis‘ Literatur. Historische Ereignisse, die oft durch die von Opfern durchlebten Grausamkeiten aufgegriffen werden und die den Leser vor allem durch den Aspekt der Empathie in die historisch-fiktiven Welten befördern, lässt Amis über den Blickwinkel des Bösen auf den Leser wirken. Die Gulag-Thematik in House of Meetings, die Thematisierung des Holocaust in Time’s Arrow oder die Auseinandersetzung mit den Terroranschlägen auf das World Trade Center in „The Last Days of Muhammad Atta“ stellen die gefühlsmäßige Erstarrung und kaum darstellbare Brutalität der Protagonisten besonders eindringlich zur Schau. In seiner Kurzgeschichte „The Last Days of Muhammad Atta” aus The Second Plane versucht Amis die letzten Tage und Stunden des Selbstmordattentäters Muhammad Atta literarisch nachzuempfinden. In die Quere kommt ihm dabei der äußerst westlich zentrierte Ansatz von Subjektivität, den er den Figuren aufzuerlegen versucht: In both „In the Palace of the End” and „The Last Days of Muhammad Atta,” Amis forces Western subjectivity onto extreme versions of Islamist characters; by doing so, he goes a step farther […] in advocating the universalism of Western thought. Amis’s move here is intensely colonial; by imposing what he sees as the „truth” of the Western experience onto Islamist characters, he violently excludes the possibilities of other cultural or intellectual perspectives. […] Amis’s stories, however, are powerful examples where one tradition is affirmed over all the other possible modes of being.446

445 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Funktion des atheistischen Taufpaten oder„ungodparent”, die Christopher Hitchens seinen Freunden Amis und Rushdie übertragen hat: „He met Hitch and Carol’s daughter, Laura Antonia, for the first time and was asked to be an ,ungodparent’. He agreed at once. With him and Martin Amis as ungodly mentors, he thought, the little girl had no chance.” (Rushdie, Joseph Anton, 402) 446 Brandon Kempner, „,Blow the World Back Together’: Literary Nostalgia, 9/11, and Terrorism in Seamus Heaney, Chris Cleave, and Martin Amis”, in: From Solidarity to Schisms: 9/11 and After in Fiction and Film from Outside the US, ed. Cara Cilano (Amsterdam, NY: Editions Rodopi, 2009), 53-74; 68. Edward Said liefert für die Themen Zentrum und Peripherie bezüglich kultureller Normativität und Devianz in seiner Abhandlung Orientalism

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Die soziopolitischen Entwicklungen der letzten Dekade fordern gewiss eine Redefinition dessen, was als westliche Auffassung des Orients verstanden wurde, die nun neue Konnotationen inkludiert und durch die Ereignisse des 11. Septembers eine wesentliche Prägung erfährt: [T]he idea of European identity as a superior one in comparison with all the non-European peoples and cultures. There is in addition the hegemony of European ideas about the Orient, themselves reiterating European superiority over Oriental backwardness, usually overriding the possibility that a more independent, or more skeptical, thinker might have had different views on the matter.447

Die angebliche „Rückständigkeit der orientalischen Welt“ gegenüber dem Fortschrittshabitus des Westens analysiert Amis im Kontext der Terroranschläge von 9/11. Er sieht sexuelle Unterdrückung und Verwirrung als Basis einer islamistischen Ideologie, die im Hass auf die westliche Welt kulminiert und als Antriebskraft der Terrorattentate aufgrund der Betonung von moralischer Superiorität ihres Glaubens gilt und folglich eine quälende sexuelle Unterdrückung impliziert. Die unterdrückten Sexualphantasien können nur innerhalb des westlichen Wertesystems ausgelebt werden und hinterlassen einen auf Unterdrückung fundierten Minderwertigkeitskomplex, der in seiner ausgeprägtesten Form des Perversen im Anschlag auf die phallischen Twin Towers mündet.448 In The Second Plane positioniert sich Amis klar gegen islamistisches Gedankengut und betitelt sich im Zuge der Zurückweisung islamophober Tendenzen als Anti-Islamisten: I was once asked: ,Are you an Islamophobe?’ And the answer is no. What I am is an Islamismophobe, or better say an anti-Islamist, because a phobia is an irrational fear, and it is not irrational to fear something that says it wants to kill you. The more general enemy, of course, is extremism. What has extremism ever done for anyone? Where are its gifts to humanity? Where are its works? (SP, x)

In dem Essay „September 11“ analysiert Amis die Abbreviation der Terroranschläge des 11. Septembers als „9/11“, die auf einem metonymischen Ansatz basiert. „September 11“ bezeichnet nicht nur die Anschläge des 11. September, sondern alle Ereignisse, die im Zusammenhang mit den Anschlägen im Jahr 2001 geschehen sind: […] the name for what happened on September 11, 2001, is ‚September 11‘. In fact, ‚September‘ alone may eventually prove adequate – just as every Russian, ninety years on, knows exactly what is meant by ‚October‘. But the naming of September 11, that day, that event, naturally fell to America. And America came up with something pithier: ,9/11’. (SP, 195)449

Interpretationsstrategien, die eine Alternative zur auf Einseitigkeit und Unterdrückung basierenden Kulturkritik bietet. (Eberhard Kreutzer, „Said, Edward W.“, in: MLL, hg. Nünning, 590-1; 590) 447 Edward W. Said, Orientalism: Western Conceptions of the Orient (London: Penguin Books, 1995), 7. 448 Vgl. John R. Bradley, Behind the Veil of Vice: The Business and Culture of Sex in the Middle East (New York: Palgrave Macmillan, 2010), 4. 449 Vgl. dazu auch in The Second Plane: „They are inconsistent, over there, on the matter of abbreviation. For example, they would rather say ,FWD’ than ,four-wheel drive’, even though the supposed contraction adds two syllables (and let’s not forget that worldwide fatuity, ,www’, which cuts three syllables down to nine). On the whole, though, if a phrase is constantly on American lips, then Americans will seek to shorten it. Why knock yourself out saying ,Jennifer Lopez’ when you can save precious time with ,J-Lo’? And if you want to include ,Ben Affleck’ in

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Amis kritisiert die Reduzierung der terroristischen Verbrechen auf eine eingängige Zahlenkombination als moralisch unangemessenen Bruch des Dekorums, durch den Einzelschicksale numerologisch inszeniert und zu einer pointierten Begrifflichkeit degradiert werden: I don’t really care which way round they go: my principal objection to the numbers is that they are numbers. The solecism, that is to say, is not grammatical but moral-aesthetic – an offence against decorum; and decorum means ,seemliness’, which comes from soemr, ,fitting’, and soema, ,to honour’. 9/11, 7/7: who or what decided that particular acts of slaughter, particular whirlwinds of plasma and body parts, in which a random sample of the innocent is killed, maimed or otherwise crippled in body and mind, deserve a numerical shorthand? Whom does this ,honour’? What makes this ,fitting’? So far as I am aware, no one has offered the only imaginable rationale: that these numerals, after all, are Arabic. (SP, 197)450

The Second Plane wirft die Frage nach der moralischen Verantwortung des Autors als Teil der westlichen Gesellschaft, die politisch, kulturell, aber vor allem emotional und psychologisch nach 9/11 stark traumatisiert erscheint, auf.451 Doch wie fruchtbar ist der auktoriale Versuch, in Psychen zu blicken, die entgegen jeglichen menschlichen Instinkts Mord und Suizid als Antwort auf einen Zustand der Unterdrückung verstehen? Die Paradoxie liegt im subjektiven Ansatz von The Second Plane begraben, denn Klischees und Stereotype werden nicht aufgebrochen und ironisch vorgeführt, sondern paradoxerweise verfestigt. Die emotionale Anteilnahme ist in keinem anderen Werk von Amis spürbarer und am eindringlichsten erscheint die gefühlsmäßige Beteiligung in den Schriften, die als direkte Reaktion auf die Terroranschläge veröffentlicht wurden. Weniger offensichtlich, aber dennoch unbestreitbar, ist die auktoriale Intervention in den fiktiven Erzählungen der Sammlung, die unter dem Deckmantel eines distanziert-neutralen, beschreibend-beobachtenden Erzählers Momente ironischer Kommentierung und die Andeutung moralischer Ansprüche der Autorenstimme erkennen lässt. In den letzten Zeilen von „The Last Days of Muhammad Atta” drängt sich Amis‘ Eingreifen in den Erzählfluss förmlich auf: And then the argument assembled all by itself. The joy of killing was proportional to the value of what was destroyed. But that value was something a killer could never see and never gauge. And where was the joy he thought he had felt – where was that joy, that itch, that paltry tingle? Yes, how gravely he had underestimated it. How very gravely he had underestimated life. His own he your sentence, there is the thrifty ,Bennifer’, giving a dividend of five syllables (as does the cineast’s code for Brad Pitt and Angelina Jolie, ,Brangelina’). 9/11 is a couple of syllables shorter than September 11, and is to be warmly congratulated on the score. Of course, no one refers to Independence Day as ,7/4’ – or to Halloween as ,10/31’ or to Christmas as ,12/25’ – but such anniversaries are hardly the theme of year-round discussion. Further to recommend it, I suppose, 9/11 sounds snappy and contemporary and wised-up, like ,24/7’. True, there is the unfortunate resemblance to ,911’, the national phone number for the emergency sevices [sic] (the equivalent of our 999), but this distraction pales before 9/11’s triumphant and undeniable brevity.” (SP, 195-6) 450 Vgl. dazu auch: „Meanwhile, in Great Britain, nearly all our politicians, historians, journalists, novelists, scientists, poets, and philosophers, many of them deeply anti-American, have swallowed the blithe and lifeless Americanism, and go on doggedly and goonishly referring to September 11 as November 9. Why? For the LCD reason: everyone does it because everyone does it; it is the equivalent of a verbal high five.” (SP, 197) 451 Zum Motiv des Traumas in der Literatur vgl. auch Other People’s Pain, ed. Martin Modlinger and Philipp Sonntag (Oxford: Peter Lang, 2011).

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had hated, and had wished away; but see how long it was taking to absent itself – and with what helpless grief was he watching it go, imperturbable in its beauty and its power. Even as his flesh fried and his blood boiled, there was life, kissing its fingertips. Then it echoed out, and ended. (SP, 124)

Die Erzählperspektive der Kurzgeschichte weist einen Mangel an Konsequenz und mehrfache Störungen des Leseflusses auf, wenn sich über der bewusst distanzierten Erzählstimme immer wieder die Autorenstimme bemerkbar macht und mit Werturteilen, abstrahiertem Reflektieren und ironischen Kommentaren verbal den Zeigefinger erhebt. Die Verschmelzung von Autoren- und Erzählerstimme, die einen aufdringlichen Autor impliziert, scheint Amis aus vielen seiner Texte nicht auszuklammern im Stande zu sein.452 Neben der über weite Strecken des Textes im Protokollstil formulierenden Erzählstimme, die am der Kurzgeschichte vorangestellten Auszug aus dem 9/11 Comissions Report orientiert ist und die sich den Attentaten immer wieder aus der Perspektive der Reflektorfigur Muhammad Attas annähert, gibt der Text sporadisch Amis‘ persönliche und subjektive Auseinandersetzung mit der Thematik wieder. Er erkennt ein paradoxes Zusammenspiel von Terror und Langeweile, wie es in der Check-in-Szene am Flughafen in den Reflektionen über die Konsequenzen von Terrorismus zum Ausdruck gebracht wird: „Whatever else terrorism had achieved in the past few decades, it had certainly brought about a net increase in world boredom. […] It was appropriate, perhaps, and not paradoxical, that terror should also sharply promote its most obvious opposite. Boredom.”453 (SP, 108) Da es sich beim Protagonisten Muhammad Atta um eine reale, historische Person handelt, fusionieren die Ebenen von Faktizität und Fiktionalität bei dem Versuch des Einblicks in dessen Psyche. Amis beschreibt ihn als hasserfüllt gegenüber Musik und Lachen, als Individualisten mit zwei Abschlüssen in Architektur, der exzellente Englisch- und Deutschkenntnisse vorweisen kann. Er ist nicht dem Glauben verhaftet, sondern ein Abtrünniger, der noch nie in seinem Leben seine wahre Meinung zu äußern im Stande war. Besonders eindringlich findet eine Charakterisierung über Körperlichkeit statt, insbesondere über Körperflüssigkeiten. Der Bereich des Skatologischen durchzieht das Gesamtwerk Amis‘ als Mittel des satirischen Angriffs: „Throughout Amis‘ work, there is a consistent return to matters of the body – to defecation, to skin conditions, to hair loss, deteriorating teeth and impotence – and many of Amis‘ male characters endure humiliation and disgust at their own, and others‘ (mostly women’s) corporeality.“454

452 Vgl. Tredell, The Fiction of Martin Amis, 55: „[T]he author who appears as a voice, perhaps even as a character, in his own text, as one ‚Martin Amis‘ does in Money.” 453 Vgl. dazu auch: „Terror and boredom are very old friends, as one-time residents of Russia (and other countries) will uneasily recall. The other face of the coin of Islamist terror is boredom – the nullity of the non-conversation we are having with the dependent mind. It is a mind with which we share no discourse.” (Author’s Note, SP, x) 454 Martin Randall, 9/11 and the Literature of Terror (Edinburgh: Edinburgh University Press, 2011), 46. Giles Coldstreams Phobie vor dem Verlust der Zähne in Dead Babies oder John Selfs und Tod T. Friendlys Impotenz in

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Die Geschichte über die letzten Tage und Stunden des Selbstmordattentäters ergründet den paradoxalen Charakter des Freitods. Suizid stellt eine Sonderform paradoxen Handelns dar, da es sich um einen Akt unwiderruflichen Ausmaßes handelt, der die Selbstauslöschung zur Folge hat und dem instinktiven Überlebenstrieb des Menschen entgegenwirkt: Cases of suicide intensified the poignancy of the general problem death presented; suicide, death by one’s own hand, was a self-referential act of annihilation, a decision to undo, to unmake, to eliminate one’s self by one’s own act. Suicide is the paradox of self-contradiction at its irrevocable extremity […]. The act of self-cancellation that suicide is, deals with ends, rather than with beginnings. On the whole, suicide tends to be an escape from worldly situations too grave to be endured, a release of the self from the indentures of responsibility and pain. […] Sometimes also suicide is the result of a self-disgust so intense that one can only reduce the hopeless self to not-being, a kind of self-punishment in which a man acts as his own judge[.]455

Die Sünde des Selbstmords zu verzeihen, ist eine Paradoxie in sich, die Drastik dieser Sünde liegt in der Konsequenz, dass die Möglichkeit der Reue nicht gegeben ist.456 In „The Last Days of Muhammad Atta“ stellt sich eine Dopplung des paradoxen Potentials des Suizids ein, da der Aspekt der Selbstauslöschung im suizidalen Akt nur eine untergeordnete Funktion erfüllt. Selbstmord wird als Mittel einer Inszenierung von Terror und Grausamkeit als uneinschätzbarer Akt und als Steigerung von Gewalt und Mord eingesetzt. Muhammad Atta zitiert im Gespräch mit einem Imam die Äußerungen des Propheten Mohammeds zur Thematik des Freitods: „Whoever kills himself with a blade will be tormented with that blade in the fires of Hell… He who throws himself off a mountain and kills himself will throw himself downward into the fires of Hell for ever and ever… Whoever kills himself in any way in this world will be tormented in that way in Hell.” (SP, 110) Die Hintergründe des Selbstmordattentats stellen sich in der Kurzgeschichte fernab religiöser Fragestellungen und Überzeugungen mit dem Fokus auf den „Kerngrund“ gerichtet dar, ein Begriff, der wiederholt eingesetzt wird, um die nicht-politische, nicht-religiöse Zuwendung Attas zum Tod, der Besinnungslosigkeit und dem Vergessen zu begründen. Die Selbstmordattentate im Dienste von religiösem Fanatismus in „The Last Days of Muhammad Atta“ definieren sich paradoxerweise als verlockendste Option einer Generation: „Muhammad Atta was not religious; he was not even especially political. He had allied himself with the militants because jihad was, by many magnitudes, the most charismatic idea of his generation.” (SP, 101) Diese Paradoxie wird auf die Spitze getrieben, wenn die Beweggründe einer unter Gruppenzwang vollzogenen Selbstmordreihe die Thematik des (Frei-)Todes bagatellisieren:

Money und Time’s Arrow sind nur wenige Beispiele für die Inszenierung einer auf körperlichen Verfall basierten Maskulinität bei Amis. 455 Colie, Paradoxia Epidemica, 486. 456 Vgl. zur Paradoxie der Selbstmordthematik auch Jean Améry, Hand an sich legen: Diskurs über den Freitod (Stuttgart: Klett-Cotta, 1976).

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A peer group piously competitive about suicide, he had concluded, was a very powerful thing, and the West had no equivalent to it. A peer group for whom death was not death – and life was not life either. Yet an inversion so extreme, he thought, would quickly become decadent: synagogues, nightclubs, nurseries, sunset homes. Transgression, by its nature, was helter-skelter: it had no choice but to escalate. And the thing would start to be over in a generation, as everyone slowly and incredulously intuited it[.] (SP, 116-7)

Die Paradoxie, eine Form von Macht in der kompletten Selbstauslöschung zu erkennen, verdeutlicht den antirationalen Kern fundamentalistischer Religionsphilosophien. Die extreme Inversion gebräuchlicher Auffassungen vom Leben und Sterben führt laut Amis zur zwangsläufigen Ausuferung der terroristischen Wirkung. In den Anmerkungen des Verfassers in The Second Plane interpretiert Amis die Kleidung islamistischer Radikaler als Inbegriff einer Vorstellung von Maskulinität: „Geopolitics may not be my natural subject, but masculinity is. And have we ever seen the male idea in such outrageous garb as the robes, combat fatigues, suits and ties, jeans, tracksuits, and medics’ smocks of the Islamic radical?” (Author’s Note, SP, x) Die als ,Uniform des Maskulinen‘ beschriebene Kleidung beruht auf klassifizierenden Genderstereotypen, die von Amis‘ fiktionaler Auseinandersetzung mit der Paradoxie von Geschlechterkategorien stark abweichen.

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7. „It’s like putting a Band-Aid on a cancer”: Paradoxie der Geschlechterrollen

Ein erhöhter Paradoxiegehalt ist in Amis‘ Gesamtwerk in der Verschmelzung und Inversion von Geschlechterrollen messbar, die im Dienste eines rewriting-Programms durch dekonstruktivistische Verfahren traditionelle Konventionen zu überwinden versuchen. Dennoch werden Amis‘ Texte immer wieder zur Zielscheibe kritischer Vorwürfe der Misogynie, des Sexismus und der Pornographie und die darin entworfenen Frauenbilder aus feministischer Sicht wiederholt in Frage gestellt.457 Amis entwirft narrative Welten, in denen den Leser überspitzte Figuren erwarten, die oft cartoonartig als ein Zerrbild der Realität erscheinen.458 Ein Überschuss an Testosteron, oft gepaart mit exzessiver Zügellosigkeit und der Bereitschaft zum Tabubruch, gilt für seine fast ausschließlich männlichen Protagonisten (mit der Ausnahme der Protagonistin Mary Lamb/Amy Hide in Other People und Mike Hoolihan in Night Train) häufig als Eintrittskarte in das ‚Amisland‘. Die Abwendung von stereotypen Geschlechterrollen steht im Dienste eines verkehrten Körper- und Weltverständnisses und verfolgt das Ziel, Konventionen zeitgenössischer gender-Kategorien für den Leser zunächst aufzudecken, um sie dann unmittelbar anschließend zu durchbrechen. Amis reiht sich mit der Stornierung konventioneller Geschlechterstrukturen in eine Tradition von Schriftstellern wie Angela Carter, Jeanette Winterson und Michèle Roberts ein, die durch die Inversion und Revision von Geschlechterrollen den Diskurs der Verschmelzung von Genderkategorien innerhalb der englischen Literatur vorangetrieben haben.459 Eine besondere Nähe zu Jonathan Swifts häufig als misogyn rezipiertem Frauenbild, vor allem in Anlehnung an dessen skatologische Lyrik, gibt gleichzeitig Aufschluss über die satirische Intention bei Amis.

457 In The War Against Cliché (2002) räumt Amis eine generelle Existenz sexistischer (und korrelierender rassistischer) Impulse ein: „Feminists have often claimed a moral equivalence for sexual and racial prejudice. There are certain affinities; and one or two of these affinities are mildly, and paradoxically, encouraging. Sexism is like racism: we all feel such impulses. Our parents feel them more strongly than we feel them. Our children, we hope, will feel them less strongly than we feel them. People don’t change or improve much, but they do evolve. It is very slow.” (Martin Amis, The War Against Cliché: Essays and Reviews 1971-2000 (London: Vintage, 2002), 9; im Folgenden WAC) Amis selbst hat sich als Kritiker unter anderem mit dem Frauenbild und den Frauenfiguren in der Zuckerman- Trilogy von Philip Roth auseinandergesetzt (vgl. dazu „Philip Roth: No Satisfaction“ in Martin Amis, The Moronic Inferno and Other Visits to America (London: Vintage, 2006 [1986]), ab 37; im Folgenden MI). 458 Vgl. zum stereotypen Frauenbild in London Fields: „They wanted the female form shaped and framed, packaged and gift-wrapped, stylized, cartoonified, and looking, for a moment at least, illusorily pure. They wanted the white lie of virginity. Men were so simple.” (LF, 71) 459 Vgl. auch die Verschmelzung von Gendergrenzen im Werk von Oscar Wilde, die in der Figur des Dandys, beispielsweise Lord Henry in The Picture of Dorian Gray (1890) als personifiziertem Paradox kulminiert. Für eine Einführung zu Wildes Werk vgl. auch Norbert Kohl, Oscar Wilde: Das literarische Werk zwischen Provokation und Anpassung (Heidelberg: Carl Winter, 1980). Als Inbegriff modernistischen Denkens prägt Virginia Woolfs Generalangriff auf Kategorien des Allgemeingültigen das Konzept des Androgynen, das seine Kulmination in dem geschlechterübergreifenden Roman Orlando (1928) findet und für die literarische Entwicklung hinsichtlich der Infragestellung und Auflösung traditioneller Geschlechterideen eine tragende Rolle spielt. Für eine detaillierte Studie der Werke Carters und Roberts vor dem Hintergrund eines feministischen Ansatzes vgl. Susanne Gruss, The Pleasure of the Feminist Text: Reading Michèle Roberts and Angela Carter (Amsterdam, NY: Editions Rodopi, 2009).

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Nicht selten wird auch ihm der Vorwurf der Misogynie gemacht.460 Swifts Einfluss ist am Beispiel der Figur Rachel, dem Objekt der Begierde in The Rachel Papers, zu erkennen, die vom Protagonisten Charles Highway idealisiert, glorifiziert und verehrt wird. Highway ist eine Art moderner petrarkistischer Liebhaber, der angetrieben vom Vorsatz, vor seinem 20. Lebensjahr eine ältere Frau zu verführen, hochmotiviert ist, die vermeintlich Unerreichbare für sich zu gewinnen. Schnell folgen der Erkenntnisschock und ein Desillusionierungsprogramm – Charles wird nicht nur mit dem plötzlichen Auftreten post-pubertärer Hautunreinheiten, sondern auch mit Rachels getragener Wäsche konfrontiert – die den Protagonisten wieder auf den Boden der Tatsachen befördern und sich für ihn zur Verkörperung von Ovids Idee einer Remedia Amoris, einer Anleitung für das Überwinden von Liebeskummer kondensieren. Die pornographisch skizzierte femme fatale Nicola Six in London Fields (1989), die körperlich explizit und detailliert beschriebene, stark sexualisierte Version des „Mädchens von nebenan“ Selina Street aus Money (1984) und die auf ein einzelnes Körperteil degradierte Sexgöttin Gloria Beautyman in The Pregnant Widow (2010) verbindet vor allem die grotesk überzogene Darstellung physischer Charakteristika: weisen Amis’ Figuren noch in einigen Werken die schlichte Inversion von Geschlechterrollen oder die Tendenz zur Darstellung des Androgynen auf, so erweitert sich das genderspezifische Paradoxiepotential in anderen Werken zum sexuellen Tabubruch, der sexuellen Grenzüberschreitung, zum sexuellen Fetisch oder Zwang und gipfelt letztlich in einer Überdehnung zum Pornographischen.461 Inwieweit die Programmatik der Pornographie bei Amis durch die Brille eines männlichen Blickes geschildert wird, soll am Beispiel einer, traditionelle Vorstellungen von sexueller Norm und Perversion invertierenden Auswahl von Texten analysiert werden:462

460 Vgl. in Bezug auf das Motiv der Misogynie auch Florian Kläger, „Something Nasty in the Bookshop: The Feminisation of Fiction in Martin Amis‘s ,Gynocratic‘ Novels“, Anglistik 24.4 (2013): 89-100; 98: „Amis’s earlier novels were heavily criticised for their alleged sexism, when they could also be considered ‚feminist‘ insofar as they satirically expose misogyny. […] In the more recent novels the author’s criticism of essentialised masculinity has become more explicit, requiring a less active participation from the reader to bring out the gynocratic import of the text.” In einem Interview in The Guardian distanziert sich Amis erneut vom Vorwurf des Sexismus, indem er sich als Verfechter der Herrschaft von Frauen bezeichnet: „He has been accused of misogyny in the past, but told the Richmond Book Now festival audience he was a feminist himself. ,Women can’t rise far enough to suit me,’ he said. ,I’m a gynocrat – I’d like rule by women.’” (Alison Flood, „Martin Amis says new novel will get him ,in trouble with the feminists’”, The Guardian (20.11.2009), (zuletzt besucht am 08.09.2014) 461 Vgl. dazu insbesondere die Kurzgeschichte „Let Me Count The Times“ in Heavy Water and Other Stories. 462 Die Idee des „männlichen Blicks” (male gaze) ist aus dem in den 70er Jahren geprägten Terminus aus dem Bereich der Psychoanalyse und Semiotik in Bezug auf die filmische Darstellung entstanden. Der dezidiert männliche Blick wird immer als Werkzeug eines phallogozentristischen Darstellungsmodus eingesetzt und versteht sich insbesondere aus literar- und kunsthistorischer Perspektive als Instrument institutionalisierter Gewalt gegen Frauen (vgl. Ellen Draper, „Gaze“, in: Encyclopedia of Feminist Literary Theory, ed. Elizabeth Kowaleski Wallace (London: Routledge, 2009 [1996]), 176-8; 176-7). Ebd., 177: „Thus Hollywood cinema’s objectification and fetishization of women was not accidental, nor even simply ideologically determined, but was rather a necessary condition of the way in which the classical cinema makes meaning.”

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In most of his fiction, Amis writes as a male, mainly about male characters, addressing an implied male reader, and largely drawing on male literary sources. It is hardly surprising that his work has attracted considerable feminist criticism – varying between angry accusations of misogyny, pornography, and sexism to sophisticated readings detecting unconscious gender bias. Amis attributes his treatment of sexual relations to the age in which he lives.463

Durch seine selbsternannte (prä)feministische Ausrichtung legitimiert er das Zusammenspiel einer grenzüberschreitenden Literatur – die nicht nur gelegentlich mit Tabubrüchen spielt, sondern sich diese ständig zu eigen macht und wiederholt alltägliche Liebesszenarien durch pornographische Fantasiewelten ersetzt – mit dem gleichzeitigen Anspruch auf feministische Deutung und erzeugt auf dieser Ebene vor der Folie seines Gesamtwerks eine weitere, vielleicht die drastischste Dimension des Paradoxen.464 Gendermerkmale basieren neben grundlegenden Einflüssen von Werten und Normen, Traditionen, kulturellen Konventionen, soziopolitischen Systemen und patriarchalen Strukturen auch auf stereotypen, klischeebildenden Auffassungen von Gender, die sich vom biologischen, natürlichen Geschlecht unterscheiden und einen durch erhöhte Kontextabhängigkeit initiierten Konstruktcharakter besitzen:465 If one „is“ a woman, that is surely not all one is; the term fails to be exhaustive, not because a pregendered „person” transcends the specific paraphernalia of its gender, but because gender is not always constituted coherently or consistently in different historical contexts, and because gender intersects with racial, class, ethnic, sexual, and regional modalities of discursively constituted identities. As a result, it becomes impossible to separate out „gender” from the political and cultural intersections in which it is invariably produced and maintained.466

Die Perzeption von Geschlechterrollen kann somit lediglich unter Berücksichtigung kultureller und sozialer Faktoren interpretiert werden. Der Bereich der – durch das Überschreiten und Verschwimmen ontologischer Geschlechtergrenzen – invertierten oder aufgelösten Geschlechterrollen wird durch das Motiv der Androgynität und Transsexualität als paradoxe Verschmelzung von Geschlechtermerkmalen und durch Elemente von camp und cross-dressing bei Amis literarisch ins Bild gesetzt.467 Zusätzlich manifestiert sich das Paradoxe im Zusammenspiel aus sozio-kulturellen Einflüssen der sexuellen Revolution der 1970er Jahre und

463 Finney, Martin Amis, 139. 464 Vgl. ebd., 141. 465 Die Problematik einer universalisierenden Terminologie stellt laut Judith Butler ein „Unbehagen der Geschlechter” dar. 466 Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (New York: Routledge, 2007 [1990]), 4-5. 467 Vgl. dazu auch Kate Chedgzoy, „Cross-Dressing“, in: Encyclopedia of Feminist Literary Theory, ed. Kowaleski Wallace, 94-5 und Ursula Jung, „Camp”, in: Metzler Lexikon Gender Studies, hg. Kroll, 46; 46: „Begriff, den Susan Sontag 1964 mit ihren ,Notes on ,Camp’’ in Umlauf gebracht hat; Stilrichtung, die sich durch exzessive Theatralik, Künstlichkeit und Humor auszeichnet und Gemeinsamkeiten mit der Kitsch- und Konsumkultur aufweist. Obwohl es lesbischen C[amp] gibt (butch-femme) ist C[amp] enger mit der Schwulenkultur (Schwulenbewegung) verbunden, bezeichnet C[amp] doch einen diskursiven Modus, der ursprünglich (von Oscar Wilde) bis in die 1970er Jahre dazu diente, sich durch effeminierte Stimmlage, Gestik, Redeweise und Kleidung (cross-dressing) als Schwuler anderen Schwulen gegenüber zu erkennen zu geben.“ Vgl. auch die paradoxe Überwindung von camp in Dead Babies als veraltet, überholt und dem aktuellen Zeitalter der sexuellen Liberalisierung nicht mehr entsprechend: „,All that camp and unisex and crap,‘ said Andy: ,dead babies now. When I was a kid they were doing all that. All a bluff set up by the queers. It’s a pain in the arse.’” (DB, 169)

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einer Programmatik des Feminismus, das – wie sich in der Analyse der beiden für diese Thematik zentralen Romane, Dead Babies und The Pregnant Widow zeigen wird – im Kern eine wesentliche, aber auch unüberwindbare Paradoxie beherbergt.468 So zeigt Amis in The Pregnant Widow neben der Etablierung neuer Geschlechterrollen den damit verbundenen Zwang zur Hinterfragung und Redefinition traditioneller geschlechterspezifischer Zuordnungen sowie die Folgen des durch die Revolution ausgelösten sexuellen Traumas. Die Thematisierung des weiblichen Körpers vor dem Hintergrund pornographischer Darstellungen ist zudem paradox grundiert. Die häufig grenzüberschreitend und zum Tabubruch neigende „Ästhetik des Hässlichen“,469 die sich durch das Konfrontieren des Lesers mit Angriffen auf eine vermeintliche sexuelle Norm, eine Faszination des Bösen und der Tendenz zur Brutalität manifestiert, dient als Waffe gegen kleinbürgerliche Heuchelei und Kritik an einer im Überfluss (Pornographie) konsumierenden, oberflächlichen Gesellschaft. Sexueller Tabubruch findet durch Themen wie sexuelle Gewalt und Machtausübung, notorische Zwänge und emotional betäubte, auf ihre rohen Instinkte reduzierte Figuren, die durch alltägliche Sexualität keine Befriedigung mehr erlangen können, statt. John Self, der Protagonist in Money und eine Art wandelnde Metapher postmoderner Konsum- und Pornosucht, verbringt – gefangen in der Pornographie des Alltags – seine Zeit mit der Suche nach willkürlichem Sex und erfährt trotz ausgeprägten Sexuallebens keine eigentliche Lustbefriedigung. Dass die auf der Ebene des Literalsinns stattfindende Suche nach Sex und berauschenden Substanzen als Allegorie der Suche nach sich selbst – wie der sprechende Name John Self nahelegt – dechiffriert werden kann, zeigt sich im Laufe des Romans an der Entwicklung des Protagonisten. Auch im Roman Dead Babies wird das Ausleben von sexuellen Orgien einer Gruppe junger Freunde zum Symptom für die Entfernung des Individuums von sich selbst und seiner Umgebung und veranschaulicht eindringlich, wie paradoxerweise (körperliche) Nähe zwangsläufig zur seelischen Distanz führt und den direkten Weg ins Solipsistische ebnet.

7.1 The Pregnant Widow und die Paradoxie der sexuellen Revolution Die Handlungen der Romane Dead Babies und The Pregnant Widow entfaltet Amis inmitten der turbulenten Entwicklungen der sexuellen Revolution der 1970er Jahre. Beide Werke beschreiben eine Gruppe junger Menschen, die – relativ isoliert vom Rest der Welt (Appleseed Rectory in Dead Babies und ein abgelegenes Ferienhaus in der Toskana in Anlehnung an Boccaccios

468 In den Werken Dead Babies, Money oder The Pregnant Widow ist bereits durch die Wahl des Titels eine groß angelegte Metapher paradoxer Strukturen erkennbar. 469 Vgl. für einen Überblick zum Motiv der „Ästhetik des Hässlichen“ auch Heiner F. Klemme, Michael Pauen und Marie-Luise Raters, hg., Im Schatten des Schönen: Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten (Bielefeld: Aisthesis, 2006) und Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen (Leipzig: Reclam, 1990).

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Decamerone in The Pregnant Widow) – versuchen, gegen eine allgemeine, anstrengend- existenzielle Langeweile durch sexuelle Freiheit, frei ausgelebte, zelebrierte Polygamie und das Betreten verschiedenster tabuisierter Bereiche sexueller Phantasien anzukämpfen. Ein wesentlicher Unterschied besteht dabei darin, dass zwischen den Veröffentlichungen der beiden Romane 35 Jahre liegen. Dead Babies entstand inmitten der sexuellen Revolution (zuerst veröffentlicht 1975), ist gewissermaßen aus diesem Zeitgeist neuer sexueller Freiheiten geboren und spiegelt die Auswirkungen der hart erkämpften sexuellen Gelassenheit einer ganzen Generation wider, während The Pregnant Widow die Entwicklungen der Siebziger Jahre retrospektiv beleuchtet. Beide Romane sind mit pornographischen Elementen angereichert, die im Dienste satirischen Schreibens als Schocktherapie den vielversprechenden, durch neu etablierte Geschlechter- und Sexualnormen herbeigeführten, vermeintlich epiphanen Moment der sexuellen Erleuchtung, als blendendes, den Blick trübendes Irrlicht der sexuellen Revolution entlarven und das infolgedessen entstandene Traumatisierungsprogramm einer ganzen Generation illuminieren. Dead Babies zielt durch das hyperbolische Übertreten sexueller Tabus auf Schockwirkung, Ekel und Abscheu beim Leser ab, der satirische Auftrag ist allgegenwärtig spürbar. Auch die Inversion von Geschlechterrollen stellt eine Paradoxie zur Konventionalität und Normativität zeitgenössischer Genderkategorien dar. Obwohl Amis in beiden Romanen den ihm eigenen, zynischen und humoristischen Sprachstil zelebriert und gerade durch Epigramme und Aphorismen im Bereich der Geschlechterrollen und Sexualität starke Tendenzen zum Absurden und Skurrilen aufzeigt, erschließt sich der Modus an einigen wenigen, daher umso eindringlicheren Stellen, als melancholisch. Die Funktion der Paradoxie als Umwertungsprogramm traditioneller Konventionen legt Amis in der Inversion der Sexualnorm dar. Darüber hinaus definiert sich die Darstellung sexueller Eskapaden über eine erhöhte Tendenz zum Obszönen und sexuell Anzüglichen. Eine Rückbesinnung auf die Aspekte des Natürlichen und Ungekünstelten wird zu Gunsten einer erhöhten Artifizialität und exzessiv-hemmungslosen Übersteigerung sexueller Handlungen stets vermieden. Mit auf Schock und Aversion gegründeten sexuellen Tabubrüchen zieht das Vulgäre und sexuell Anstößige in Amis‘ Werk ein.470 In einem Alter, in dem viele Teenager die eigene Sexualität erst entdecken, schwört Andy Adorno in Dead Babies infolge eines Offenbarungsmoments seinen sexuellen Abenteuern bereits ab.471

470 Vgl. Finney, Martin Amis, 40. 471 Vgl. DB, 199: „An early developer, he started not sleeping with girls at the age of seventeen. Intense, confusing, sudden, strange – it was a revelation to him. ,Well. We’re sort of talking and stuff. I get the scotch out and so on. She’s nude, I’m nude […]. And then, well, Christ, it just sort of … happened. I didn’t fuck her. […] I tell you, when I went to the bathroom to lose the scotch, I hadda practically stand on my head if I wanted to piss in the can and not up my own fuckin nose.”

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Vor dem Hintergrund der sexuellen Revolution fallen Freundschaften und Liebesbeziehungen in The Pregnant Widow wie auch in Dead Babies paradoxen Grenzüberschreitungen zum Opfer. Einerseits definieren sich diese Verbindungen gemäß des sexuell befreiten Zeitgeists als offene Beziehungen, gleichzeitig durchlaufen sie jedoch selbst die unvermeidbaren Implikationen freier Liebe: Eifersucht, Betrug und Misstrauen sind in den Romanen an der Tagesordnung. Diese Begleiterscheinungen der Polygamie unterliegen einer Verschiebung aus dem paradoxen Bereich der Randgebiete der Gesellschaft in die soziale Mitte. Die Umkehrung von Moralvorstellungen und Sexualnormen zeigt sich deutlich als die Umwertung der Paradoxie zur Orthodoxie. Das neu deklarierte interne Wertesystem erschließt sich aus dieser absoluten Verkehrung der traditionellen Sexual- und Gendernormen von der monogamen zur freien Form der Liebe.472 Gloria Beautymans paradoxe Erkenntnis, die Herausforderung des weiblichen Geschlechts hinsichtlich der Entwicklungen der sexuellen Revolution läge in der Überwindung des Würgreflexes,473 lässt den von Amis in vielen Interviews benannten feministischen Ansatz des Romans nicht einwandfrei erkennen, eher verweist diese Äußerung auf die Gratwanderung zwischen dem Vorsatz, einen literarischen Beitrag zum Thema Feminismus zu leisten und der Reduzierung der sexuellen Revolution auf den Aufruf zur Ausübung (emotions-) freier Liebe.474 Die bereits im Titel des Romans angelegte Paradoxie, das Motiv der schwangeren Witwe, wird zum Symbol des kulturellen Wandels und Übergangscharakters der sexuellen Revolution und verweist auf den Aspekt der Fruchtbarkeit als Inbegriff von Weiblichkeit und Vitalität. Das Bild der schwangeren Witwe als Personifizierung des Paradoxen symbolisiert die Vereinigung zweier voneinander getrennter Ebenen, von Leben und Tod, durch entstehendes Leben im Mutterleib bei gleichzeitiger Verlusterfahrung und zeitigt ein paradoxes Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Absenz, zwischen dem was ist und was war, was kommt und was geht:475 Die Spannung des Übergangs und des Verfalls (wo das Alte oder das Ideal noch vor aller Augen steht, aber nicht mehr realisierbar ist) findet seinen adäquaten Ausdruck im Paradoxon. Dieses

472 Vgl. dazu auch den aus den Implikationen ihrer offenen Beziehung resultierenden Disput der Figuren Andy und Diana in Dead Babies: „,Jesus. Did I grouse when you fucked that actor while I was in Amsterdam? When you fucked Bruce Howard after that party – did I beef?’ […] ,What about you? You fuck girls you don’t even want to fuck.’ ,How the fuck do I know I want to fuck them till I fuck them? Be reasonable, woman. And anyway, so fucking what? Diana, it makes me sick to hear this sort of talk in this house. Christ, you think you’re living with civilized people and then someone springs this sort of crap on you. […] You think you know someone – you respect them as decent, genuine human beings – then you find they’ve still got these sick anxieties about something as trivial as – Now, Diana, you just, you just hear me out here. Nobody’s getting away with that kind of dead babies when I’m living in this house. I’m fucked if I’m going to get leant on with this trashy talk – ‘” (DB, 94-5) 473 „That’s the challenge now facing womankind […]. Rising above the retch reflex.” (PW, 341) 474 Vgl. dazu auch in Dead Babies: „But love can’t mean anything any more. That’s hippie talk. Love’s through. Love’s all fucked up.“ (DB, 137) 475 Den Titel übernimmt Amis von Alexander Herzen: „Amis has explained that the title refers to the difficult birth of feminism, adapting the Russian thinker Alexander Herzen’s description of the aftermath of revolution, which would leave not a newborn child, but a pregnant widow.” (Finney, Martin Amis, 34)

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führt einerseits althergebrachte Vorstellungen schnell und schmerzlos ad absurdum und läßt doch zugleich nostalgische Erinnerungen an das Vergangene wach werden.476

Das Motiv des Paradoxen kann als Symptom für Übergangs- und Krisenzeiten auftreten und durch das Verhältnis vom Gegenwärtigen zum Vergangenen als ein Wechselspiel aus dem Verfall des Ideals und der resultierenden Orientierungslosigkeit verstanden werden.477 Die Paradoxie verfestigt sich im Titel des Romans in Form des grotesken schwangeren Körpers, der sein verstörendes Element aus der Tatsache bezieht, zwei Körper in einem zu beherbergen, den gebärenden und den ungeborenen Körper:478 „This is the pregnant and begetting body, or at least a body ready for conception and fertilization, the stress being laid on the phallus or the genital organs. From one body a new body always emerges in some form or other.“479 Amis sieht die Herausforderung der sexuellen Revolution in der Suche des weiblichen Geschlechts nach neuen Orientierungsmustern, um konventionelle Geschlechterrollen zu überwinden: „The sex revolution wasn’t a bad thing. In fact it was a cornucopia of opportunity. But it is a massive project to rethink an entire gender, and behaving like men was the only role model women had. The sex wasn’t in their nature.”480 Zentral ist in der Forschung der gender studies der Wandel eines auf Anatomie basierenden biologischen Determinismus zum Konstruktivismus wahrzunehmen, dessen Ansatz Geschlecht nicht als angeboren, sondern kulturell konstruiert versteht.481 Die Sexualisierung und Anatomisierung des weiblichen Körpers sind prägende Charakteristika eines neuen Zeitgeists, der vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels zwischen traditionellen Geschlechternormen und der Loslösung von Weiblichkeit aus verkrusteten Sexualklischees als literarisches Motiv inszeniert wird.482 Amis‘ Darstellungsmodus von Weiblichkeit lässt eine Anatomisierung, Sezierung und Objektivierung des weiblichen Körpers sowie Tendenzen zur Fetischisierung aus der Perspektive des dezidiert männlichen Blicks erkennen. Den Vorwurf der Misogynie weist er jedoch auch für The Pregnant Widow obligatorisch zurück.483 Der Roman schildert die Diskrepanz von Jugend, Schönheit, Vitalität und Alter(n) und erklärt das sexuelle Trauma zur Nachwehe der sexuellen Revolution, verursacht durch die Abgrenzung von einer konservativen Elterngeneration, den Wechsel von Sexualpartnern und das

476 Omasreiter, Oscar Wilde: Epigone, Ästhet und wit, 24. 477 Vgl. Ebd. 478 Vgl. Bakhtin, Rabelais and His World, 26. 479 Ebd. 480 Camilla Long, „Martin Amis and the Sex War”, The Sunday Times (24.01.2010), (zuletzt besucht am 08.09.2014). 481 Vgl. Elena Kilian, „Weiblich/Weiblichkeit“, in: Metzler Lexikon Gender Studies, hg. Kroll, 399-400; 399. 482 Vgl. PW, 158: „First it was all moral patterning. And felt life. Then it was all drugs and fucks. Now it’s all tits and arses.” 483 „What a job of animosity, to hate half the universe.” (Long, „Martin Amis and the Sex War”)

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offene Ausleben vorehelicher Sexualität.484 Der Aspekt des Alterns entlarvt in The Pregnant Widow die abgrundtiefe Kehrseite der sexuellen Revolution und definiert sich vor dem Hintergrund der implizierten Schattenseiten über die Motive des sexuellen Traumas, der elegischen Klage über den Verlust der Jugend und die Folgen der angeblichen sexuellen Freiheit, deren emotionale Fesseln erst retrospektiv entschlüsselt werden. In Dead Babies werden diese drastischen Folgen der neugewonnenen Freiheit von Celias Stiefvater mit der Erkenntnis eines fehlgeschlagenen Liberalisierungsauftrags quittiert: I’ve always thought that fucking was a godsend for us oldsters and a bane for you youngsters who came up with the idea in the first place. Bloody marvellous! All these people suddenly willing to do it, and no guilt! That was the really new thing for us. […] Well, our sexual natures were formed, so we could never suffer from anything worse than ennui. I think that’s why we let you do this to yourselves. To liberate us. But you lot, lovey, you free-libbers … You thought you’d get free. You didn’t get free. (DB, 175)

Die sexuelle Revolution setzt sich primär zum Ziel, die zu dieser Zeit noch extreme Form der sexuellen Unterdrückung zu entlarven und durch ein Liberalisierungsprogramm zu überwinden. Das Eindringen in den Bereich der Intimsphäre hat zur Folge, dass der bisher private Umgang mit Sexualität zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion wird. Das Konzept der freien Liebe wird dabei als Pendant zur traditionellen Vorstellung von Ehe und Familie etabliert und alten Konventionen als Fortschrittsmetapher entgegengesetzt. Soziokulturell verbinden sich mit dem Programm der sexuellen Revolution auch andere Forderungen nach Liberalisierung von Sexualität, wie der Aspekt der selbstbestimmten Empfängnisverhütung durch die Antibabypille. Der Eindruck eines emanzipatorischen Ansatzes wird vor allem durch die Befürwortung von außerehelicher Sexualität, der Auseinandersetzung mit Homosexualität und sexueller Aufklärung erweckt.485 Allerdings unterlagen die durch die sexuelle Revolution implizierten sozialen Veränderungen auch der Kritik von Teilen der Frauenbewegung, die in Einzelaspekten eine Stärkung männlicher Herrschaft wahrnahm (z.B. Pornographie). Die nun auch Frauen zugesprochene sexuelle Lust wurde als unterdrückt wahrgenommen, da sie an die Erfüllung männlichen Begehrens gebunden blieb. Michel Foucault bezweifelte den revolutionären Anspruch der s[exuellen] R[evolution] und deutete sie als integralen Bestandteil diskursiver Machtmechanismen.486

484 Das Thema Alter und Altern wird analog zur Debatte über die sexuelle Revolution in die Handlung eingebettet und entfaltet sich narratologisch in den Passagen der Retrospektive auf die Ereignisse der 70er Jahre, die durch eine zusätzliche Erzählebene des gegenwärtigen Lebens des Protagonisten erweitert wird. 485 Vgl. Kirsten Prinz, „Sexuelle Revolution“, in: Metzler Lexikon Gender Studies, hg. Kroll, 361-2; 361-2. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die intertextuelle Referenz auf die erste Strophe des Gedichts von Philip Larkin „Annus Mirabilis“, das den Beginn der sexuellen Revolution zwischen dem Verbot von D.H. Lawrences Roman Lady Chatterley’s Lover (1928), der aufgrund seines als explizit pornographisch rezipierten Inhalts in der Darstellung einer soziale Klassen überwindenden Affäre, einem für Lawrence typischen Motiv (vgl. Hans Ulrich Seeber, „Die modernistische Revolution um 1910“, in: Englische Literaturgeschichte, hg. Seeber, 338-59; 358) und der Veröffentlichung des ersten Beatles-Albums Please Please Me kontextualisiert: „Sexual intercourse began/ In 1963/ (Which was rather late for me) –/ Between the end of the Chatterley ban/ And the Beatles’ first LP./ Philip Larkin, ,Annus Mirabilis’ (formerly ,History’), Cover Magazine, February 1968.” (PW, 7) 486 Prinz, „Sexuelle Revolution“, in: Metzler Lexikon Gender Studies, hg. Kroll, 362.

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Die Ära der sexuellen Revolution wird in The Pregnant Widow als „Me Decade” und „She Decade” kategorisiert, die Amis von den Begriffen und Phasen der „We Decade” und „He Decade” abgrenzt: The Me Decade wasn’t called the Me Decade until 1976. In the summer of 1970 they were only six months into it; but they could all be pretty sure that the 1970s was going to be a me decade. This was because all decades were now me decades. There has never been anything that could possibly be called a you decade: technically speaking, you decades (back in the feudal night) would have been known as thou decades. The 1940s was probably the last we decade. And all decades, until 1970, were undeniably he decades. So the Me Decade was the Me Decade, right enough – a new intensity of self-absorption. But the Me Decade was also and unquestionably the She Decade. (PW, 59)

Der Überfluss an Möglichkeiten und der Fokus auf pure Körperlichkeit führen für die Figuren gleichzeitig auch zur Qual der Wahl, öffnen im Sinne einer Musilschen Idee vom Leben im Konjunktiv neue sexuelle Wirklichkeiten und Möglichkeiten und redefinieren Sexualnormen im Zuge einer Korrektur von Genderkonzepten.487 Wenn außer- und vor allem prä-ehelicher Sex mit einer einzigen Frau möglich ist, so ist er wiederum mit allen anderen möglich. Diese neu offenbarte Dimension sexueller Freiheit lässt in den 70er Jahren nicht nur eine neue Genderdebatte entflammen, sondern auch einen Generationenkonflikt durch die Überholung traditioneller Rollen entstehen: The first clause in the revolutionary manifesto went as follows: There will be sex before marriage. Sex before marriage, for almost everyone. And not only with the person you were going to get married to. It was very simple, everyone knew it, everyone had seen it coming for years. In certain quarters, though, sex before marriage was a distressing development. Who was distressed by it? Those for whom there had not been sex before marriage. Now they were saying

487 Vgl. den durch die „Utopie des Konjunktivs“ beschriebenen Zustand der permanenten Unbeständigkeit der vermeintlich gegebenen Ordnung in Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Robert Musil, Gesammelte Werke. Essays und Reden. Bd. 1., hg. Adolf Frisé (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978), 250: „[D]iese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist.“ Vgl. im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten und dem daraus entstandenen inneren Konflikt des Protagonisten Keith Nearing auch PW, 134-9: „He had acquired some understanding of it, by now – this business of making passes at girls. You were alone in a room with the wanted one. And then two futures formed. The first future, the future of inertia and inaction, was already grossly familiar: it was just like the present. It was the devil you knew. The second future was the devil you knew nothing about. And it was a giant, with legs as tall as steeples, and arms as thick as masts, and eyes that beamed and burned like gruesome jewels. It was your body that decided. And he was always awaiting its instructions. On the thick-rugged floor he sat with the wanted one, and as each game reached its climax they both rose to their knees, with their faces only separated by their breath. […] When the binary moment came, and you chose between two futures, and you chose the unknown, and acted, something mysterious had to happen first. The wanted one, far from becoming more intensely herself, had to become generic. The body parts, the this and the that of her, had to retreat, and lose outline and individuality. She had to be everywoman, everygirl. And Scheherazade just wouldn’t do that.” Vgl. dazu auch Clint Smokers Besuch eines Escort-Services und die damit verbundene Professionalisierung dieser Idee in Yellow Dog, die eine auf sexueller Lustbefriedigung basierende „Utopie des Konjunktivs” als paradoxe Bagatellisierung von Musils Konzept erkennen lässt: „When you entered an escort agency for the first time and were received by the madamic coordinatrix: she gave you the ,brochure’ and left you alone with it – and that was power. In that plump album each smile, each cleavage. Each towering beehive represented different futures which, nevertheless, and on varying pay-scales, all promised the same outcome.” (YD, 113)

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to themselves, So suddenly there will be sex before marriage? On what basis, then, was I told that there will not be sex before marriage? (PW, 112)

The Pregnant Widow setzt sich zum Ziel, neben der Etablierung neuer sexueller Freiheiten auch eine tiefgreifende soziale Verwurzelung im Rahmen des historischen Kontexts deutlich zu machen.488 Amis beschreibt die sexuelle Revolution als eine Zeit des Übergangs, des sexuellen und sozialen Umbruchs, demzufolge auch als sexuelle Krisenzeit, in der Paradoxien geradezu fluktuieren. Geschildert wird eine Mentalität, die neue Räume für sexuelle Freizügigkeit, Grenzüberschreitungen und Tabubrüche schafft und eine Neubestimmung von Kategorien wie Perversion, sexuelle Norm, Pietät, Doppelmoral und Heuchelei einfordert. Eine Phase des Schwebezustands, der Verabschiedung alter Zeiten und des Lobgesangs an eine neue Ära der sexuellen Liberalisierung bilden Teile des paradoxen Kerns: „What do you do in a revolution? This. You grieve for what goes, you grant what stays, you greet what comes.” (PW, 381) Da der Roman – anders als etwa Dead Babies – die sexuelle Revolution auch rückblickend beurteilt – werden für den Leser auch die Folgen und eine abstrahierende Auseinandersetzung mit der Thematik freigelegt. Der Paralogismus der sexuellen Befreiung als generellem Liberalisierungsprogramm schlägt sich in seiner paradoxen Wirkung im Aspekt der sexuellen Demütigung und dem daraus resultierenden sexuellen Trauma nieder.489 Vor allem durch die Figur des im 21. Jahrhundert lebenden und gealterten Protagonisten Keith Nearing und dessen Stieftochter Silvia werden theoretische Fragestellungen bezüglich der Entwicklung des Feminismus im 20. Jahrhundert in den Roman integriert.490 Amis gelingt in dem 2010 erschienenen Roman die Aufarbeitung des Themas vor allem über seine Darstellung der Subversivität der sexuellen Revolution. Eingebettet in den kulturellen Kontext der Zeit, findet die Haupthandlung im Jahr 1970 statt. Auf einer Burg in der Toskana verbringt eine Gruppe junger Erwachsener ihren gemeinsamen Sommerurlaub, eine Zeitspanne von einigen Wochen, die den Figuren neben einer Art sexuellen Erwachens und der Konzentration auf Körper und Körperlichkeit, auch die Vorzüge von Promiskuität und anderen sexuellen Abenteuern

488 Vgl. dazu auch Flannery Dean, „Let’s Talk About Sex”, CBC News (14.05.2010), (zuletzt besucht am 08.09.2014): „The Pregnant Widow attempts to sort out the effects of one ,erotically decisive’ summer in Italy for Keith Nearing, an Oxford undergrad who aims to join in on all the fun – conscience be damned. A kind of Midsummer Night’s Sex Comedy with a subtle moral thrust, The Pregnant Widow doesn’t just sink its teeth into the luxury of sexual liberty – it tries to make it comprehensible as a historical moment.” 489 Auch in Dead Babies läuft die sexuelle Befreiung einem generellen Freiheitsprogramm entgegen: die Verheißungen der sexuellen Revolution offenbaren den Protagonisten im Roman düstere Schattenseiten der Melancholie und Traurigkeit, die in der grauen Benebelung der Sinne und Wahrnehmungen, der eigentlich exzessiven und rauschhaften Grundstimmung in Dead Babies gegenüberstehen: „,I’m getting street sadness!’ […] ,The fuck, Giles,’ said Andy, still flappable, ,sometimes you’re like a fuckin chick. Like a fuckin chick.’ ,Make the grey go away!’ said Giles. ,Make it, make it!’ ,Give him something. Quickly,’ said Lucy. ,Here,’ said Marvell. ,Try this.’” (DB, 111) 490 Vgl. Kläger, „Something Nasty in the Bookshop: The Feminisation of Fiction in Martin Amis's ,Gynocratic’ Novels”, 97.

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näherbringt.491 Mit von der Partie sind der Protagonist des Romans Keith Nearing, angehender Literaturkritiker und Erforscher des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität sowie der Geschichte des englischen Romans, sein Freund Kenrik, der schwule Bekannte Whittaker, dessen amouröse Affäre Amen, der reiche Sohn eines Käsefabrikanten Adriano, Jorquil, auf dessen Anwesen die jungen Freunde verweilen, die unscheinbare und mit Selbstzweifeln hadernde Lily (Keiths Freundin), deren gute, und vor allem gut aussehende Freundin Scheherazade (Keiths Objekt der Begierde), die sexuell aufgeschlossene Rita (aka „The Dog“), die verschleierte Ruaa, die adoptierte Conchita, Scheherazades Mutter Oona sowie Gloria Beautyman, die Keith in diesem Sommer die Kunst der freien Liebe näherbringt. Wiederholt tauchen zudem Fragmente aus dem Leben von Keiths Geschwistern Nicholas und Violet auf. Die im Roman mehrmals erwähnte Politisierung symbolträchtiger Kleidungsstücke wird zur Metapher der sexuellen Revolution, einer Zeit der „sexuellen Echolalie”, der unreflektierten Nachahmung der als en vogue empfundenen sexuellen Verhaltensweisen und Geschlechternormen:492 „,Echolalia. The meaningless repetition of what others say and do. Sexual echolalia. Pansy slept with you for one reason. Because if she didn’t, Rita would sneer her for not acting like a man.” (PW, 369) Sexuelle Freizügigkeit basiert im Roman nicht nur auf der Neubewertung weiblicher Lust, sondern auch auf sexuellem Gruppenzwang, der durch eine Verstärkung der Idee, die eigene Sexualität vorehelich auszuleben, gekennzeichnet ist und damit das Ziel der sexuellen Befreiung nur im Ansatz erreicht. Viele der Figuren bleiben mit einschlägigen psychischen Problemen oder gar aus der sexuellen Revolution resultierenden Traumata sich selbst überlassen.493 Als traumatisch kann sich zukünftig das, was im Roman als „unsichtbare Tinte“ beschrieben und erst in den Konsequenzen der sexuellen Revolution erkennbar wird, herausstellen: The second item of business on the revolutionary manifesto ran as follows: Women, also, have carnal appetites. Immemorially true, and now of course inalienably obvious. But it took a while for this proposition to be absorbed. In the no-sex-before-marriage community, the doctrine was that good girls didn’t do it for lust – and bad girls didn’t do it for lust either (they did it for fleeting leverage or for simple gain, or out of a soiled and cobwebbed lunacy). And some of the young ones themselves never quite came to sober terms with it, with female lust. Kenrik, Rita, and others, as we shall soon discover. There will be sex before marriage. Women, also, have carnal appetites. So far, so good. But there were other clauses in the manifesto, some of them written in fine print or invisible ink. (PW, 167-8)

491 Vgl. dazu in PW, 119: „,Among fruits I’m a freak. I want monogamous cohabitation. […] A quiet dinner. Sex every other night. And Amen – Amen says you should never even think of sleeping with anyone twice. So, as you see, our views subtly diverge.’” 492 Gemeint ist hier die mehrfach erwähnte „politicization of bras and pants“ (PW, 369). 493 „Still, it was also occurring to him that he and Adriano were caught in the same contradiction: they were retro- grade, they were counter-revolutionary. Under the old regime, love preceded sex; it wasn’t that way round any more.” (PW, 138)

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Die sexuelle Revolution fordert trotz des liberalisierenden Ansatzes ihren Tribut, Verwundbarkeit der Seele und Symptome des Traumatischen sind als Kehrseite der Revolution zu beobachten und verstärken die in einigen Figuren angelegten Selbstzweifel. Lilys ohnehin niedriges Selbstbewusstsein wird dadurch intensiviert, immer im Schatten der vollbusigen, schönen besten Freundin Scheherazade zu stehen und Perfektion als Anspruch an den eigenen Körper, das eigene Spiegelbild, einzufordern. Wie auch für Keiths Schwester Violet kommt es paradoxerweise für Lily zu einer Umkehrung der scheinbar progressiven Vorzüge der sexuellen Revolution, und das Manifest sexueller Liberalisierung wird zur Geburtsstätte eines pessimistischen Haderns mit dem eigenen Körper und eines niedrigen Selbstwertgefühls.494 Wie auch in The Rachel Papers verändert sich das Frauenbild im Laufe der Handlung und degradiert die überhöhte, idealisierte Scheherazade, auf die Nearing seine sexuellen Phantasien projizieren kann, zu einem realen Mädchen mit alltäglichen Makeln und Selbstzweifeln. Die Schattenseiten der Revolution sind neben Keiths Trauma auch in der Vermischung der ontologischen Grenzen vom gewaltsamen und freiwilligen Liebesakt zu sehen. Keiths sexuelle Beziehung zu seiner ehemaligen Freundin Pansy war geprägt von weiblicher Passivität und Widerwillen, obwohl diese den ‚Liebes’akt über sich ergehen ließ: „,It was sort of rape, in a way.‘ ‚No.‘ This accusation had of course already been levelled at him. By the superego: by the voice of conscience, and culture – by the voices of the fathers and the presences of the mothers. ,No. I suppose I was just poncing off the spirit of the times. That’s all.’” (PW, 360)495 Zu Beginn des Romans wird außerdem die Geschichte der Sizilianerin Franca Viola geschildert, die nach der direkten Zurückweisung eines Verehrers vergewaltigt wird und ihren Peiniger zum Zweck der Wiederherstellung der Familienehre heiraten soll: „But kidnap and rape, in Sicily, provided the alternative route to confetti and wedding bells.“ (PW, 15) Der Fall von Franca Viola ist ein Beispiel im Roman, das tatsächliche weibliche Unabhängigkeit, die Loslösung aus sozialen und

494 Vgl. dazu auch in PW, 136: „The only link he could find between his two sisters was low self-esteem. Lily loved Keith, or so she said; but Lily didn‘t love Lily. And perhaps that was what girls would be needing, in the new order – a strenuous narcissism.” Vgl. dazu auch Dianas Definition ihres Selbstwerts über Sexualität in Dead Babies: „For Diana, sex was not a fleshy concern: it was a dial in the machinery of her self-regard, a salute to her clothes sense, applause for her exercises, a hat tipped to her dieting, the required compliment to her hairdresser, the means socially to measure against others. […] [S]exual lassitude and disgust seemed to be everywhere among the young, and two- night stands were becoming a rarity. The Party, the man, the dinner, the flat, the fuck, the taxi, the scalding bath. Besides being good exercise in itself Diana found that it helped her to eat less. She would get out of bed the next morning and complete her callisthenics programme with fresh verve.” (DB, 81-2) 495 Die Inszenierung weiblicher Viktimisierung durch das Rollenspiel, an dem Keith und Scheherazade beteiligt sind, kommt in der Referenz auf Dracula und Vampirismus, der Paradoxie der Ästhetik des Morbiden, der Verbindung von eros und thanatos und dem Ausloten der Täter- und Opferrolle zum Tragen (vgl. auch Freud, „Jenseits des Lustprinzips (1920)”, in: Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften). Vgl. PW, 205: „So he was pretending to be Dracula (his hands were vampirically raised and tensed), and she was pretending to be his victim (her hands were clasped in obeisance or prayer), and he was moving in on her, and she was backing off and even half sat herself on the curved lid of a wooden trunk, and their faces were level, eye to eye and breath to breath. And now they were given a ticket of entry to another genre […] where everything was allowed. He looked down the length of her: the stretched gaps between her buttons were mouths of smiling flesh. From throat to thigh, it was all before him.”

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sexuellen Geschlechterkonventionen sowie die Überwindung eines auf veralteten Strukturen basierenden übermächtigen Patriarchats aufzeigt: „But Franca didn’t go to the church. She went to the police station in Palermo. And then it was national news. Incredible girl. Her people still wanted her to marry the rapist. So did the village, so did the islanders, so did half the mainland. But she didn’t. She pressed charges.” (PW, 15)

7.2 Paradoxie des weiblichen Körpers Die in Dead Babies beschriebene Body Bar in Santa Barbara treibt die Paradoxie des weiblichen Körpers auf eine Ebene grotesker Verschmelzungen und Grenzüberschreitung, der Tabubruch wird in der Verfeinerung von Cocktails mit zu Eiswürfeln konzentrierten Körperflüssigkeiten inszeniert.496 Die Reduzierung auf korporale mit Ekel verbundene Ausscheidungen, die zwar als Teil des Selbst, aber auch vom Selbst getrennt bestehen, verkörpern die Kulmination des Abjekten.497 Was sich in der Darstellung des grotesken weiblichen Körpers widerspiegelt, ist ein um den Aspekt der Devianz einer Körpernorm formiertes paradoxes Differenzprogramm. Die mit distinktiven Charakteristika wie Paradoxie und Hyperbolik herbeigeführte Verzerrung und Übersteigerung der Realität avanciert nicht selten zur vollkommenen Entstellung. Amis besetzt Bakhtins Rubrik der Kategorien des grotesken Körpers neu, wenn er nicht den Mund als Zentrum grotesker Gesichtszüge inszeniert, sondern den Fokus auf primäre und sekundäre Geschlechtsorgane verlagert. Laut Bakhtin wird das Gesicht auf den alle anderen Gesichtszüge dominierenden, klaffenden Mund reduziert und dient lediglich als eine Art Ummantelung des als tiefer Abgrund verstandenen Mundes.498 Die Paradoxie des grotesken Körpers ist auch in dessen Entstehungscharakter, der ihn immer im Prozess des Entstehens verharren lässt, fragmentarisiert und nie vollkommen zeigt, verankert. Er entsteht und bildet sich permanent und kreiert im Prozess der Entstehung einen neuen Körper: „[…] grotesque imagery constructs what we might call a double body. In the endless chain of bodily life it retains the parts in which one link joins the other, in which the life of one body is born from the death of the preceding, older one.”499 Elemente der Übertreibung und Hyperbolik exemplifizieren in The Pregnant Widow ein Umwertungsprogramm der Begriffe Norm und Groteske, das im Dienste einer Befreiung aus dem Korsett gängiger Geschlechterkonventionen die Devianz zur Norm erhebt und vice versa:

496 „The waiters and waitresses are nude, natch – and you get fucked there for the cover charge. But you hear the gimmicks? You can have cuntcubes in your drinks, I mean it.“ (DB, 170) The Body Bar bietet diverse „Getränke” mit körperlichen Ingredienzen variabler Provenienz an: „Real juice in the cubes. They got… yeah, they got tit soda, cock cocktails, pit popsicles.” (DB, 170) 497 Vgl. zu Julia Kristevas Terminologie des Abjekten auch Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection, trans. Leon S. Roudiez (New York: Columbia University Press, 1982). 498 Vgl. Bakhtin, Rabelais and His World, 317. 499 Ebd., 318.

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Some literary and cultural critics suggest that the ‚normative‘ is denied in the grotesque insofar as the extreme, the decadent, the excessive and the bizarre are the ‚real‘ of the text. Other critics argue that a vital component of grotesque representations are the distinctions between the ,normal’ and the ,abnormal’; or, to put this another way, the grotesque illustrates how the normal is defined in relation to the abnormal. But to consider these distinctions, or even categories, as mutually exclusive, or as binary oppositions, would be misleading. For to understand grotesquerie in all its complexity we must acknowledge that it provokes two key questions: ,what is normal?’ and, by extension, ,what is abnormal?’500

Das Normative wird in der Groteske zugunsten des Extremen, Dekadenten, Exzessiven und Bizarren storniert, die Basis grotesker Darstellungen jedoch bildet die Definition des Normalen über das Abnormale, die die Bereiche des Normalen und Abnormalen als miteinander korrelierend, nicht gegenseitig ausschließend versteht. Die Auflösung fester Kategorien vollzieht die Groteske in der Fusion der verschwommenen Grenzen des Normalen und Abnormalen und annulliert in dieser Grenzüberschreitung allgemeingültige Unterscheidungen.501 Die in grotesken Figuren bezüglich der Kategorien „normal/abnormal“, „innen/außen“ sowie „intern/extern“ angelegte Auflösung von Grenzen, zieht eine Grenzüberschreitung von Positionen zweier Extreme, die ineinander übergehen, nach sich,502 wie die trickster-Figur Johnny in Dead Babies, die sich als bösartiges, misanthropisches Double und alter ego der Identifikationsfigur Quentin Villiers in den Roman einschreibt.503 Die Rubrik des Normalen stellt ideengeschichtlich eine Herausforderung dar, kann sie doch nur im Zuge einer gleichzeitigen Etablierung eines Inferioritätsprinzips entstehen.504 In der Darstellung des weiblichen Körpers kann die Groteske eingesetzt werden, um den Stellenwert und die Beschaffenheit traditioneller Schönheitsattribute aufzubrechen. Die Groteske wird, wie die Paradoxie, zum Symptom eines Zeitalters der Krise, manifestiert sich als Angriff auf das allgemein Anerkannte und benutzt den Aspekt des Humors zur Entlarvung gesellschaftlicher und kultureller Missstände. Die für den Begriff der Groteske so charakteristische, durch die verzerrende Überdehnung der Realität zustande kommende Verbindung von Komik und Tragik, zwingt den Rezipienten zur Auseinandersetzung und Hinterfragung lang etablierter, aber überholter Denkstrukturen und versucht diese dadurch aufzubrechen. Die für die Groteske typische grenzüberschreitende Darstellung einer Verschmelzung von Mensch, Tier und Pflanze wird durch die Figur Rita in The Pregnant Widow zum Leben erweckt. In Bezug auf die

500 Justin D. Edwards and Rune Graulund, Grotesque (New York: Routledge, 2013), 8. 501 Vgl. ebd., 9. 502 Vgl. ebd. 503 Vgl. zur trickster-Figur in Dead Babies auch Kapitel 4.1 ab Seite 58 in dieser Arbeit. 504 Vgl. Edwards and Graulund, Grotesque, 9: „Territories will not be bounded as clear-cut divisions are dissolved. This erasure of common distinctions speaks to debates over stigmatization and normalcy, what it means to exist outside the norm, and what the norm is. After all, we must remember that normalization is a powerful discourse for control and institutionalization, for dominant institutions sanction certain forms of ,normalcy’, and this always comes at the expense of others, which are constituted by contrast as abnormal, inferior or even shameful.” (Ebd.)

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Darstellung des weiblichen Körpers kann der Modus des Grotesken eine Abweichung vom traditionellen Schönheitskatalog und ein Kontrastprogramm zu gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit und Schönheit versinnbildlichen, das sich als postmoderne Redefinition des blazon mit dem zentralen Fokus auf primären und sekundären Geschlechtsorganen offenbart. Die Objektivierung und Reduzierung von Weiblichkeit und Schönheit manifestiert sich in der Abwendung von einem holistischen Frauenbild zu einer Ästhetik des Fragmentierten und Bruchstückartigen:505 As opposed to the sleek, proportionate, and hermetic classical body, the grotesque body overflows, protrudes, ruptures, and secretes; it is a body of transgression and change, always unfinished. Such protean, bodily images resist not only traditional images of classical beauty, but also the assumed permanency of established social orders – two recurrent subjects that feminism itself tries to dispute.506

In The Pregnant Widow werden groteske Merkmale des weiblichen Körpers durch verschiedene Darstellungsmodi angereichert. Amis kreiert eine Selektion aus karikiert anmutenden, grotesk verformten, reale Dimensionen ins Unermessliche überdehnenden, androgynen oder bis zur Unkenntlichkeit verschleierten weiblichen Körpern. Die hübsche Scheherazade imponiert demzufolge mit zwei guten Argumenten, Gloria Beautyman beeindruckt mit ihrem sowohl von männlichen als auch weiblichen Figuren im Roman viel diskutierten „farcenhaften Hinterteil“, Ritas Körper erfährt über den Spitznamen „The Dog“ einen Enthumanisierungsprozess und wird über das Oszillieren zwischen klassischen Geschlechtergrenzen definiert, während Ruaa durch die Verschleierung ihres Körpers die Gegenfolie zur modernen, westlichen Frau als Kontrastprogramm zur sexuellen Revolution personifiziert.507 Eine Nähe zum Bereich der Collage oder Karikatur mit der Tendenz zur Grenzüberschreitung und entgegen jedem festen Regelsystem illustriert den paradoxen Kern der Fragmentarisierung des weiblichen Körpers: Initially defined as a composite or collage, the grotesque body can also be anatomically uniform yet disproportionate, as in caricature. When applied to literature and other styles of art, the grotesque denotes that which is nonconventional, disordered, transgressive, or heavily embellished. It has been both praised and condemned by artists and critics although it lacks, as a descriptive term, any intrinsic positive or pejorative meaning. The most common criticisms of the grotesque have been levied by proponents of a classical style that represents a monolithic ,Truth’ and singular ,Nature.’508

505 Vgl. Jon Hodge, „Grotesque“, in: Encyclopedia of Feminist Literary Theory, ed. Kowaleski Wallace, 187-8; 187-8. 506 Ebd., 188. 507 Vgl. zum Motiv der weiblichen Dehumanisierung auch die misogyne Objektivierung des weiblichen Körpers aus der Perspektive Gregory Ridings in Success: „Post-coital tears disgust me as thoroughly as do pre-menstrual pimples. And the dreadful things they say. They keep trying to understand you; they keep wanting to talk about proper things; they keep trying to be people. We take it, we talk to them back. We’re not supposed to let on that, for all their many charms, they just aren’t very interesting. Has Terence said anything about my sexual dispositions? No doubt he has. Well, I won’t deny it. If it’s a ,sexual equal’ I want – i.e. a boy, and a boy’s unyielding musculature – then it’s a sexual equal I go ahead and have, rather than a thing with breasts that happens to urinate sitting down.” (S, 18) 508 Hodge, „Grotesque“, in: Encyclopedia of Feminist Literary Theory, ed. Kowaleski Wallace, 188.

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Das Paradoxon des weiblichen Körpers etabliert sich in The Pregnant Widow als Symbol und Symptom des sexuellen Traumas, das den männlichen Identitätskonflikt einer ganzen Generation zutage fördert. Die Darstellung grotesker Größenverhältnisse wird für zwei Figuren im Roman zum Markenzeichen: Scheherazade und Gloria Beautyman, für eine aufgrund ihrer üppigen Brüste, für die andere wegen ihrer imposanten Kehrseite. Das weibliche Ideal sexueller Männerphantasien ist ein Arrangement der jeweiligen fetischierten Körperteile beider Figuren: As Lily, Keith, Scheherazade, Adriano and Gloria walked accross the dusty grey piazza, and down the length of the endless avenue, the young men of Ofanto staged their choreographic referendum on the attractions of the three girls. Here they came again. Drawn like iron filings in obedience to magnets of varying power, the young men squirmed and milled and then divided – with graphic candour – into two columns: one in front of Scheherazade, and one behind Gloria Beautyman. One group walking forward. One group walking backward. And Lily?... I can say that her figure, when it came, turned out to be impeccably symmetrical, not top-heavy, not bottom-heavy – classic, without fetish. (PW, 192)

Das skurrile Bild der vorwärts und rückwärts hinter den jungen Urlaubern die Piazza überquerenden Männer greift versinnbildlichend den zentral transportierten Körperkult auf, der dem weiblichen Körper einen gravierenden Designmangel attestiert. Die Idee einer verqueren Weiblichkeit mit den Brüsten auf der Rückseite, konstituiert sich als groteske Manifestation eines derangierten männlichen Blicks auf den weiblichen Körper: ‚You know,‘ said Keith wildly, ‚you know my tutor Garth, Lily – the poet? He says the female body has a design flaw. He says the tits and the arse should be on the same side.’ ,…Which side?’ Keith thought for a moment. ,I don’t think he’s fussy,’ he said. ‚Though I suppose you’ll tell me he was fussy in the first place. The front. To get the face. It would have to be the front.‘ ‚No, the back, surely,’ said Scheherazade (as Gloria turned and went inside). ,If it was the front, her legs would be pointing the wrong way.’ Lily said, ,She’d walk backward. And the boys in the street – I’m trying to work it out. Which way would they walk?’ (PW, 192-3)

Der groteske Körper protestiert in absurder Weise gegen die vermeintliche Idealität und Normativität des Natürlichen und definiert sich im Gegensatz dazu durch hyperbolische und paradoxe Elemente. Der Topos der Paradoxie des (weiblichen) Körpers kann ikonographisch ut pictura poesis von Whittakers Gemälden abgelesen werden: „The figures in the canvases were all bassackward or inside out, and after a while Keith was asking whether it would be any good if men were sexually rearranged, with the cock and the arse on the same side, and maybe the head wrenched around, too, like Adriano in the Rolls.” (PW, 193) Whittakers Kunst antizipiert die folgenschwere Problematik der Stornierung traditioneller Geschlechterbilder in der Inszenierung ‚verdrehter Körper‘ sowie der Pervertierung natürlicher Körperproportionen, die als Schreckgespenster dargestellter Genderparadoxien gezeichnet werden. Auch die Tendenz zu Statistik und Analyse wird schon auf den ersten Seiten des Romans im Hinblick auf akribische Detailgenauigkeit bezüglich weiblicher Maße deutlich. Körper,

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Körpermaße und Sexualität werden auf Kosten der Degradierung von Emotionalität und Liebe aufgewertet, der weibliche Körper analytisch-mathematisch, rational-logisch erforscht: Lily: 5‘5“, 34-25-34. Scheherazade: 5‘10“, 37-23-33. […] Vital statistics. The phrase originally referred, in studies of society, to births and marriages and deaths; now it meant bust, waist, hips. In the long days and nights of his early adolescence, Keith showed an abnormal interest in vital statistics; and he used to dream them up for his solitary amusement. Although he could never draw (he was all thumbs with a crayon), he could commit figures to paper, women in outline, rendered numerically. And every possible combination, or at least anything remotely humanoid – 35-45-55, for instance, or 60-60-60 – seemed well worth thinking about. 46-47-31, 31-47-46: well worth thinking about. But you were always tugged back, somehow, to the archetype of the hourglass, and once you’d run up against (for instance) 97-3-97, there was nowhere new to go; for a contented hour you might stare at the figure eight, upright, and then on its side; until you drowsily resumed your tearful and tender combinations of the thirties, the twenties, the thirties. Mere digits, mere integers. (PW, 8)

Die Affinität zur Wissenschaftlichkeit und Analyse, die sozialwissenschaftliche Statistiken auf die Anatomie des weiblichen Körpers überträgt, führt Nearing trotz variabler Imaginationsriten sexueller Fetischisierungen zum Archetypus oder Urbild des sanduhrförmigen weiblichen Körpers als buchstäbliches Maß aller Dinge zurück. Die körperliche Groteske zeichnet sich durch die vollkommene Verzerrung der Körpermaße und der damit evozierten Skurrilität und Absurdität des Imaginierten aus. Die imaginierten Frauenkörper weichen von realen Proportionen ab, jede Form, die im weitesten Sinne „humanoid“ erscheint, wird für Nearing zum Inhalt grotesker Sexualphantasien. Das transportierte, von Amis mehrmals deklarierte feministische Credo des Romans läuft dabei allerdings ins Leere, die übermäßige Anatomisierung und Reduzierung des weiblichen Körpers auf Proportionen, bloße Ziffern und Maßeinheiten, auf Körbchengrößen und Hüftumfang reflektiert den im männlichen Blick angelegten Voyeurismus, der die Perzeption der Frauenkörper in ihrem sexistisch verunglimpfenden Sichtfeld entlarvt.509 Den Kontrast zwischen dem traditionellen und aktuellen, aus der sexuellen Revolution geborenen Frauenbild, erkennt Keith Nearing in der modernen Körperlichkeit der Schaufensterpuppen in den Straßen von Montale: In the window there, mannequins of caramelised brown plastic, one of them armless, one of them headless, arranged in attitudes of polite introduction, as if bidding you welcome to the female

509 Sara Mills stellt in ihrem Aufsatz eine feministische Fallanalyse am Beispiel von London Fields vor und definiert generelle sexistische Strukturen im Text: „[L]anguage which presents the female as the ,marked’ form and the male as the ,unmarked’ or neutral form is sexist. Some feminist theorists have focused on the way that female characters are represented as a form of sexism, since they consider that female characters are treated in an altogether different way from male characters. […] Female characters are often described in sexual terms and are reduced to a catalogue of body parts, which the narrator (and the reader) survey in a voyeuristic way. […] Sexism is thus seen as something which can be detected through analysis of language and which somehow resides within the text. It is not necessarily seen as inherent in certain forms, as many critics assume, but it is seen as associated with certain language items, structures in texts or forms of address.” (Sara Mills, „Working With Sexism: What Can Feminist Text Analysis Do?”, in: Twentieth-Century Fiction: From Text to Context, ed. Peter Verdonk and Jean Jacques Weber (London: Routledge, 1995), 206-19; 209-10)

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form. So the historical statement was bluntly stated. The wooden Madonnas on the alleyway corners would eventually be usurped by the plastic ladies of modernity. (PW, 9)510

Diese Apotheose der Artifizialität demonstriert die Profanisierung der christlichen Ikonographie, wenn die moderne weibliche Form an kopflosen Modelpuppen mit fehlenden Gliedmaßen erkannt wird. Der statische, leblose Körper unterstreicht den Verlust von Lebendigkeit sowie die Austauschbarkeit und Entindividualisierung des weiblichen Körpers, der im Zuge der sexuellen Revolution einen Paralyseprozess enthüllt, eine Form des lebendigen Totseins insinuiert und der jungen Generation das permanente Entfremdungsprogramm des Individuums von sich selbst und seiner Umgebung attestiert.511 Der blasphemisch anmutende Kontrast der heiligen Marienbildnisse einerseits und der modernen, jeglicher Substanz entbehrenden Plastikpuppen im Schaufenster andererseits, brennt sich schnell ins Gedächtnis des Lesers ein und spiegelt sich auf paradoxe Weise im Laufe der Handlung in den weiblichen Figuren wider, die als Hüllen ohne Substanz und Kern, Fassaden oder Masken der Weiblichkeit erscheinen, die Körper von Seelen, Körperlichkeit von Herzen und Sexualität von Gefühlen trennen. Die Reduzierung von Lily, Scheherazade, Ruaa, Rita und Gloria Beautyman auf ihre Körper und ihre Sexualität gibt Aufschluss über die Übersexualisierung und Abstumpfung einer ganzen Generation. Die Beschaffenheit der flachen Figuren, die Amis für diese Generation stellvertretend entwirft, zeichnet sich durch einen starken Mangel an emotionaler Tiefe aus. Die Tendenz hin zum Oberflächlichen, zu Exzess und Ekstase, wird durch den weiblichen Körper als Objekt der Begierde und dem männlichen Blick auf genau diesen, erkennbar. Die Idee der idealisierten Frau steht dabei nicht im Vordergrund, lediglich die Darstellung „echter“ Frauen aus Fleisch und Blut sowie deren unterdrückte und daher scheinbar maßlosen sexuellen Bedürfnisse. Als Kontrast zur zunehmenden Textilverarmung der Frauenfiguren im Roman, die sich mehrheitlich nur noch einen halben Bikini leisten wollen, dient die Figur Ruaa, eine islamische Freundin der jungen Clique, die von Kopf bis Fuß in einen dunklen Schleier gehüllt ist, als

510 Körperliche Statistiken sind für Keith vom Zentrum seiner Wahrnehmung zur Abschreckung seiner Seele geworden. Das sexuelle Trauma verstärkt sich dadurch, dass die unaufhaltsame Suche nach der weiblichen Form im Laufe der Jahre und Jahrzehnte nach der kurzen Liaison mit Gloria Beautyman nicht mehr erfüllbar scheint: „In an attempt to alleviate the chronic sexual problems he suffered throughout the 1970s (and throughout the 1980s, and beyond), Keith spent several lunchtimes in a succession of Mayfair escort agencies, where, hovered over by genteel madams, he sat in parlours resembling miniature airport lounges, with stacks of brochures on his lap. The girls, in their hundreds, were attractively photographed, and you could read about their vital statistics and other attributes. He was looking for a certain shape, a certain face. Keith didn’t go through with it in the end.” (PW, 114) 511 Die Erstellung von Keiths Listen mit Informationen zu seinen verflossenen Sexualpartnerinnen verdeutlichen die Mechanisierung und Entfremdung, die Dissoziation von der eigenen Sexualität und der Sexualität der anderen. Die Auflistung seiner Liebhaberinnen und der mit ihnen ausgeübten sexuellen Aktivitäten zeigt den Charakter der Nivellierung und Entindividualisierung des weiblichen Körpers und die damit verbundene emotionale Distanz des Protagonisten. Zwar scheint Keith Nearing mit dem Ansatz von Akribie die Geschichte seiner Sexualität zu archivieren, die Reduzierung der betroffenen Frauen auf ihre Körper, ihre Sexualität und eine im wahrsten Sinne zweideutige „Nummer“ erhebt jedoch den weiblichen Körper zur identitätsstiftenden Instanz. Identität wird nicht über Nearings Geburtsurkunde, sondern im Blick auf die Liste der Archivierung sexueller Aktivität empfunden.

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Gegenfolie zur körperlichen Freizügigkeit: „[H]er sable gown told you only three things about the body there encased: its gender, of course, its height, of course, and, rather more mysteriously, its youth.” (PW, 242) Ruaas Gewand wirkt neben den anderen, halbnackten jungen Frauen fast hyperbolisch wie eine parodistische Karikatur überholter Normen von Keuschheit und Orthodoxie. Doch selbst die zurückhaltende Ruaa soll sich den neuen Einflüssen der sexuellen Freizügigkeit nicht ganz entziehen können und gelegentlich ihren Schleier etwas lockerer binden: „Amen had heard that Ruaa sometimes loosened her veil in the market, disclosing her mouth and her forelock.” (PW, 122) Ganz anders zeigt sich die Figur Rita, genannt „The Dog“,512 und kann am anderen Ende des Spektrums weiblicher Körper als androgyne Karikatur der Geschlechterverschmelzung eingestuft werden.513 Keith und Kenrik vergeben das als theriophiles Paradoxon erscheinende Alias als eine Art Hommage an Ritas Sexualität und Äußerlichkeit im Dienste einer Animalisierungsstrategie ihres Körpers: „,Oh yeah, Rita. I was wondering. What happened to your wiggle? You’ve stopped wiggling. You’ve lost your signature wiggle. Show Lily. Wiggle your arse.‘ Rita wiggled. And she did: she reminded you of a dog – she looked like a dog looks when you put on your overcoat and reach for the lead.” (PW, 219) Die Wahrnehmung von Frauen als Objekt wird durch die sexuelle Revolution begünstigt und zur Kehrseite der Revolution, auch aufgrund einer aus ihr geborenen allgemeinen Akzeptanz der Objektivierung des weiblichen Geschlechts, die für die Relevanz der Konstitution von gender zentral ist: „And he had read that men were beginning to see women as objects. Objects? No. Girls were teemingly alive. Scheherazade: the inseparable sisters who were her breasts, the creatures that dwelt behind her eyes, the great warm beings of her

512 Vgl. vor dem Hintergrund des paradoxen weiblichen Körpers auch die Idee der „Dog-Woman” in Jeanette Wintersons Sexing the Cherry (1989): „Dog-Woman is the exaggeration of everything earthly; she is the grotesque personification of culture’s symbolic connection of nature and woman. […] [H]er size functions as the text’s refusal to acquiesce to culture’s attempt to control the woman’s body. The grotesque female body positions Dog-Woman as the narrator and agent of her own story[.]” (Marilyn R. Farwell, Heterosexual Plots and Lesbian Narratives (New York: New York University Press, 1996), 184) 513 Unter Einbeziehung der Etymologie steht der Terminus Androgynität für Mannweiblichkeit. Vor dem Hintergrund eines platonischen Mythos versinnbildlicht Androgynität die Idee eines Kugelmenschen, der in sich die Verschmelzung von männlichen und weiblichen Prinzipien vereint. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterlag Androgynität noch einer Pathologisierung im Bereich der Sexologie und Psychoanalyse, gerade in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts jedoch verlagert sich diese Vorstellung zu einer Neubewertung des in sich maskuline und feminine Geschlechtereigenschaften vereinenden Individuums. So wurde die Idee von Männlichkeit und Weiblichkeit als zwei heterogene Elemente von einer möglichen Simultaneität beider Geschlechter abgelöst. Im Kontext der Postmoderne kann Androgynität durch das Auflösen bestehender Geschlechterkategorien ein Epochenkennzeichen darstellen. (Vgl. Doris Feldmann und Sabine Schülting, „Androgynität”, in: MLL, hg. Nünning, 18; 18) Vgl. auch die Figur Mike Hoolihan in Night Train: „A few words about my appearance. The physique I inherited from my mother. Way ahead of her time, she had the look now associated with highly politicized feminists. Ma could have played the male villain in a post-nuclear road movie. I copped her voice, too: It has been further deepened by three decades of nicotine abuse.” (NT, 2) Dennoch reiht sich die Protagonistin in Night Train in die Darstellung männlicher Hauptfiguren in Amis‘ Romanen ein, da sie als entfemininisierte, androgyne Erzählerin mit einem deutlich männlichen Erscheinungsbild und Berufsfeld zumindest die konventionelle Vorstellung von Weiblichkeit überwindet (vgl. Mars Jones, „Anti-Dad“).

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thighs.” (PW, 185) Diese Textstelle zeigt die Verdinglichung des weiblichen Körpers, die Scheherazade auf ihre Brüste reduziert und diese personifiziert ins Zentrum ihrer Außenwirkung rückt. Scheherazades Körper nimmt Keith durch den voyeuristischen Blick gleichzeitig wie ein Kunstwerk wahr: And Adriano – he was right too. When he said that Scheherazade was a work of art. In her whole being, in the way she looked, thought, and felt, ingenuous Scheherazade was like a work of art. And the same could not be said of Gloria Beautyman. Because a work of art has no designs on you. It may have its hopes, but a work of art has no designs. (PW, 370)

Nach einer gescheiterten Verabredung mit Scheherazade avanciert Gloria Beautyman für Keith Nearing zum Gegenstand der Besessenheit. Erneut ist es die scheinbare Unerreichbarkeit, durch die sie für ihn zum Objekt der Begierde wird. Nach dem ersten Austausch von Zärtlichkeiten werden die bislang auf Scheherazade gemünzten Phantasien auf Gloria Beautyman projiziert. Nicht nur die Überdimensionalität einzelner Körperteile, vor allem die Einführung in neue Sexualpraktiken, treibt nun Keiths Obsession voran. Der gemeinsame Seitensprung ist für den Tag vereinbart, an dem die anderen Urlauber einen Ruinenbesuch planen, der einen, das Ende der Beziehung von Lily und Keith antizipierenden Wendepunkt darstellt und die einschneidende sexuelle Begegnung mit Gloria Beautyman markiert, die Keith lange Zeit verfolgen wird.514 Die erste Phase der körperlichen Reduzierung und Objektivierung findet nicht nur aus männlicher Perspektive statt, auch Lily und Scheherazade wirken beim Anblick von Gloria Beautymans Körper beeindruckt, und die selbst mit wohlgeformten Brüsten ausgestattete Scheherazade neidet ihrer Nebenbuhlerin die körperliche Perfektion: 515 „,There’s nothing wrong with her tits. They’re almost the prettiest tits I’ve ever seen.‘ ‚Oh are they now. Describe.’ ,You know, like the upper bit of those dessert glasses. For um, parfait. Just full enough to have a touch of heaviness. I wish I had tits like that.’” (PW, 131) Im Sinne eines synekdochischen Motivs als pars pro toto für den weiblichen Körper spiegelt sich die Fetischisierung und Objektivierung in der Inszenierung von Glorias üppigem Gesäß.516 Keiths Fixierung auf und die zynische

514 Das Motiv der Ruinen kann zusätzlich den im Roman zentralen Übergangscharakter symbolisieren. Neben dem Bild der schwangeren Witwe ist auch das Symbol der Ruinen ein auf gesellschaftliche Umbrüche und kulturellen Wandel und Veränderung verweisendes Bild, das als Sinnbild einer kulturellen Krise gelesen werden kann. (Vgl. Stephanie Waldow, „Ruine“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, ed. Günter Butzer und Joachim Jacob (Stuttgart: Metzler, 2012); 355-7; 355) 515 Vgl. auch in PW, 131: „What were they talking about, Lily and Scheherazade? They were talking about Gloria Beautyman’s arse […]. ,It’s so out of proportion,’ Lily resumed, staring at it from under her hand. […] ,Have you ever seen anything that size in a leotard?’ Gloria Beautyman, in a petalled bathing-cap and a slightly furry dark-blue one-piece, was under the pool hut’s external shower: 5’5”, 33-22-37. […] This one-piece of Gloria’s continued on downward for an extra couple of inches, like a not very daring miniskirt; and its awkward modesty, hereabouts, made you think of bathing machines and dipping-stools.” 516 Keith Nearings Wahrnehmung des weiblichen Körpers verlagert sich von einer nostalgischen Perspektive der Emotionalität im Hinblick auf Scheherazade auf einen von Impulsen und Trieben gelenkten sexualisierten Blick auf Gloria Beautymans Körper: „After breakfast they swam, and there was the occasion for a final dark-spectacled glare at the two girls and their bodies, and he undertook it in the spirit of an archivist – to shore up memory. The face and breasts of Scheherazade filled him with grief; and the arse and the legs and the arms and the tits and the omphalos and

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Vivisektion von Glorias Körper verlagern sich im Roman auf ihren Nabel, der als ein weiteres Symbol paradoxer Sexualstrukturen gilt. Die Anatomisierung des weiblichen Körpers verschiebt sich von der Fetischisierung einzelner Attribute auf das Scannen aller primären und sekundären Geschlechtsorgane.517 Der Nabel symbolisiert als Zeichen des Ursprungs und Zentrums eine paradoxe Bildlichkeit, die für Verbindung und Trennung oder Präsenz und Absenz gleichzeitig stehen kann. Außerdem kann der Nabel als Metonymie für Sexualität interpretiert werden und verweist durch die anatomisch zentrale Position auf eine Nähe zu den Geschlechtsorganen und die 518 Verbindung und Trennung von Mutter und Kind.

7.3 Paradoxie der Inversion von Geschlechterrollen In „Gloria Steinem and the Feminist Utopia”, einem Essay aus der Sammlung The Moronic Inferno and Other Visits to America (1986), wirft Amis einen zynischen Blick auf feministische Errungenschaften des letzten Jahrhunderts und auf stereotype Geschlechterrollen.519 Er thematisiert darin distinktive Merkmale von Geschlechterrollen und bestätigt diese durch die Einbeziehung von Steinems äußerlichem Erscheinungsbild. An dieser Stelle führt er – ganz nebenbei – den feministischen Kampf und das Streben nach Gleichstellung der Geschlechter ad absurdum.520 In dem Gespräch mit Steinem stellt Amis die männliche Identität (und Testosteron)

the box of Gloria Beautyman filled him not with feelings so much as a set of impulses. The impulses of the raptor.” (PW, 372) Analog zu Gloria Beautyman findet in Dead Babies die Reduzierung von Roxeannes Körper auf ein einzelnes Körperteil statt: „Except Marvell, who gazed on with complacence, and Giles, who was apparently unconscious, the fearsome glory of Roxeanne’s breasts filled everyone present with utter consternation. They seemed to shoot upwards out of her collar-bones (forming a ledge off which, had it occurred to her to do so, she could have not inconveniently dined), U-turned over symmetrical cup-cake nipples, and repaired to the commodious launching- pad of her rib-cage without marking this junction by so much as a crease.” (DB, 72) 517 Vgl. dazu Anne-Kathrin Braun, „Omphalos“, in: Metzler Lexikon Gender Studies, hg. Kroll, 297; 297: „Omphalos (gr. Nabel), Markierung des ursprünglichen Verlusts der Mutter, steht im Kontrast zu einem von Kastration und Phallus dominierten Subjektbegriff. Luce Irigaray setzte der ödipalen Geschichte der Subjektwerdung die Geschichte einer Aufgabe der Mutter-Kind-Dyade entgegen […], deren Narbe allen drohenden Verletzungen des Ich und allen Bindungen zwischen getrennten Körpern vorausgeht. Elisabeth Bronfen entwickelte diesen Gedanken einer ursprünglichen Verwundung weiter; für sie ist das daraus resultierende Trauma für das Verständnis psychischer Prozesse und phantasmatischer Strukturen wichtiger als das Trauma des Geschlechtsunterschieds oder der Kastrationsdrohung. In Das verknotete Subjekt (1998) zeigt sie, wie die Grundstruktur einer nicht verheilten Wunde filmische, literarische und künstlerische Narrative prägt. Der O[mphalos] bezeichnet dabei die Präsenz des Todes und der Ohnmacht im menschlichen Leben. – Bereits in der gr[iechischen] Mythologie bedeutete der O[mphalos] eine Schnittstelle von Maternität und Mortalität. Als dritten Terminus nennt Bronfen die Materialität, denn der Nabel bezeichnet auch den anatomischen Ort, an dem sich die psychische und physische Spaltung im Körper fixieren läßt.“ 518 Vgl. Thomas Sing, „Nabel“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, ed. Butzer und Jacob, 288; 288. Durch „seine neutrale Schlüsselstelle kann der N[abel] eine Deixis entwickeln, die ihn pars pro parte zu einem Übersprungssymbol werden lässt, das für die verfemten Sexualorgane steht, die er (als […] androgyne […] Markierung zwischen oben/unten = erhaben/niedrig) im Sprachgebrauch substituieren kann.“ (Ebd.) 519 Vgl. Martin Amis, The Moronic Inferno and Other Visits to America (London: Vintage, 2006 [1986]); im Folgenden MI. Vgl. ebd., 159: „And this is her Children’s Crusade in another sense, because ,sex roles’, she believes, ,are in the anthropological, long-term view a primary cause of violence – well, it’s like putting a Band-Aid on a cancer.’” 520 Amis bezieht sich in seinem Essay auch auf Steinems Artikel „If Men Could Menstruate“, der 1978 in der feministischen Zeitschrift Ms. erschienen ist: „Gloria Steinem is the most eloquent and persuasive feminist in America. She is also the most reassuring – i.e. the least frightening, from a male point of view. There are two clear

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als das, von der weiblichen Identität Abweichende, Andere dar:521 „The atmosphere is purposeful, high-moral, sisterly. Pleasant though I found it, I was also aware of my otherness, my testosterone, among all this female calm.” (MI, 157) Dieser Ansatz steht im Dienste einer Überwindung der traditionellen Gendernormativität eines von männlichen Autoren definierten weiblichen Selbst, dessen Konstruktcharakter unter anderem von Simone de Beauvoir in The Second Sex (1949) analysiert wurde.522 Geschlechteridentität definiert Amis paradoxerweise über die Verschiebung männlicher Identität in den Marginalraum sowie die Abweichung von einer weiblichen Mitte. Dennoch wirken die Beschreibungen seines Interviews mit Steinem herablassend,523 wenn er ironisch auf nur eine einzelne „Errungenschaft“ des emanzipatorischen Feldzugs der Frauenbewegung eingeht, nämlich auf die Paradoxie des hart erkämpften einzigen Privilegs, die eigene Rechnung zu übernehmen.524 The Pregnant Widow greift diese Thematik und andere vermeintliche Errungenschaften des Feminismus der sexuellen Revolution der 1970er Jahre auf und weitet sie vor dem Hintergrund von Steinems „feministischer Utopie“ als eine Art Exrapolation zum Trauma aus. Im Gegensatz zum weiblichen Körper, den Amis durch Mechanismen der Maximierung, Hyperbolik und groteske Körperrelationen als Zerrbild der Realität und des Natürlichen erscheinen lässt, wird der männliche Körper in The Pregnant Widow generell über seinen Mangel

reasons for this. Here is one reason: So what would happen if suddenly, magically, men could menstruate and women could not? … Men would brag about how long and how much… Street guys would invent slang (,He’s a three-pad man’) and give fives on the corner with some exchange like, ,Man, you lookin’ good!’ ,Yeah, man, I’m on the rag!’ The humour is not only humour (rare enough in these parts): its satirical accuracy is enlivened by affection. The second reason for her wide appeal can be glimpsed in the photograph on the back cover. (She looks nice, and friendly, and feminine.) In the sort of utopia which Gloria Steinem seriously envisages, neither of these considerations would carry much weight. But we aren’t there yet.“ (MI, 156) 521 Vgl. zur Definition des Anderen Shuchi Kapila, „Other”, in: Encyclopedia of Feminist Literary Theory, ed. Kowaleski Wallace, 296-7; 296: „The genealogy of this word can be traced in disciplines as varied as philosophy, anthropology, and psychoanalysis, and in critical approaches like feminism and postcolonial theory. It is most often used as a figure for sexual and racial difference within a binary structure of thought. Jacques Derrida has persuasively argued that Western metaphysics is based on binary oppositions, a structure that easily subsumes the idea of the self as the stable, normative point of reference, and the other, as constituted by the exclusions of this self. Enlightenment thought in Europe posited the masculine subject as normative and women as the unstable, undefinable other.” Amis überträgt in seinem Essay diese feministische Deklaration der Frau als ‚das Andere‘ auf die eigene männliche Identität und invertiert somit die Kategorien von Norm und Alterität. Für eine detaillierte Abhandlung zum Bereich „Otherness“ vgl. auch Phänomene der Fremdheit – Fremdheit als Phänomen, hg. Simone Broders, Susanne Gruss und Stephanie Waldow (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012). 522 Vgl. dazu auch: „In her book The Second Sex (1949), de Beauvoir asked what is woman, and how is she constructed differently from men? Answer: she is constructed differently by men. The thesis that men write about women to find out more about men has had long-lasting implications, especially the idea that man defines the human, not woman.” (Wilfred L. Guerin et al., A Handbook of Critical Approaches to Literature (Oxford: Oxford University Press, 2005 [1966]), 223) 523 „ […] Then, in 1969, it happened: Ms Steinem ,got’ feminism – and realised she had had it all along.“ (MI, 158) 524„Hadn’t Nora Ephron recently joked that the only thing feminism had given women was the privilege of going dutch?” (MI, 158) Vgl. dazu auch die literarische Inszenierung dieser These in The Pregnant Widow, die im Hinblick auf traditionelle Geschlechterrollen dargestellt wird: „Now here’s an interesting theory. I just had a nice chat with uh, the one with the arse, and she said – Gloria – she said that I never had a hope once Rita started paying for everything. She said women hate men who don’t pay for everything. They even hate you if you go Dutch. Girls can’t help it. Bred in the bone.“ (PW, 224)

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und konkret über das Motiv des männlichen Größenkomplexes definiert:525 „And Keith? Well, he was the same age, and slender (and dark, with a very misleading chin, stubbled, stubborn- looking); and he occupied that much-disputed territory between five foot six and five foot seven.”(PW, 8)526 Analog zu überdimensionierten weiblichen Körperteilen öffnet sich durch die intertextuelle Referenz auf den Roman und Film The Incredible Shrinking Man (1956) die entgegengesetzte Ebene des Paradoxen, die ausgehend vom männlichen Größenkomplex auf das Motiv der Reduzierung (anstatt Maximierung) abzielt und deren Bildlichkeit letztendlich die komplette Selbstauflösung des Ichs suggeriert. Das Schrumpfen von Männlichkeit impliziert offenkundig auch die allmähliche Auflösung des männlichen Glieds und deutet die Folgen des sexuellen Traumas an: „At the end, of course, the incredible shrinking man, having survived the cat and the spider, just gets smaller and smaller, and wanders off – into the cosmos of the subatomic.” (PW, 122) Das Bild der Minimierung und Auflösung von Maskulinität kann als Machtmetapher des weiblichen Geschlechts verstanden werden: „Some say The Incredible Shrinking Man’s an anxiety dream about the American hard-on. Potency. The rise of women.” (PW, 120)527 Amis spielt in The Pregnant Widow mit der Idee von gender als sozialem Konstrukt, das sich auf der Basis des kulturellen und sozio-historischen Kontexts, der dem Erlernen von Sexualität zugrunde liegt, entwickelt. Die dabei stattfindende Einteilung kultureller und sozialer Kategorisierungen von Sexualität in befürwortete, erlaubte und tabuisierte Muster ist unvermeidbar. Diese dem Individuum anerzogenen und vorgelebten sowie von ihm internalisierten Muster unterliegen einem historischen und kulturellen Wandel:528 „It’s in the air

525 Zum Begriff des Mangels vgl. Jacques Lacans Definition, die in verschiedenen Kategorien des Mangels auch die Gleichsetzung von Mangel mit Kastration vornimmt (vgl. Stefan Horlacher, „Mangel“, in: Metzler Lexikon Gender Studies, hg. Kroll, 246-7; 246). Die Frau als Mangel ist in den Studien der Psychoanalyse kein Novum, ebd. 246-7: „Inwieweit sich Freud und Lacan von der anatomischen Differenz der An-/Abwesenheit des Penis lösen und Weiblichkeit in Abhängigkeit von Männlichkeit definieren, ist umstritten. Die Analogie von Penis und Phallus suggeriert zudem, daß die Frau nicht über den Phallus als transzendentalen Signifikanten der symbolischen Ordnung verfügt. Da in einem von der Metaphysik der Präsenz geprägten Denken die Abwesenheit eines Symbols für das weibliche Genital häufig mit M[angel] gleichgesetzt wird, erscheint die Frau als negativ konnotiertes M[angel]wesen[.]“ 526 Vgl. dazu auch in PW, 90: „The bit of his body Keith hated was the bit that wasn’t there. He suffered for his height.” 527 In Yellow Dog wird der männliche Körper noch konkreter als in The Pregnant Widow über seinen Mangel definiert und, um in der Metapher des Incredible Shrinking Man zu bleiben, insbesondere im Motiv des Peniskomplexes: „They didn’t laugh. They said: ,I can’t feel you, Clint. I’m trying, but you’re not there.’” (YD, 169) Ebd.: „[D]own there, Clint had undergone every possible metamorphosis – except growth. There had been temporary, and terrifying, enlargements. But nothing you’d want to keep.” Männliche Komplexe führen auch in Yellow Dog zur Unterdrückung und Entwürdigung der Frauenfiguren. Clints Aufwertung und Maximierung seines Geschlechtsteils kann nur durch die gleichzeitige Herabsetzung des weiblichen Körpers von ihm empfunden werden. Die Vorstellung, dass Jungfrauen durch ihre Unerfahrenheit und körperliche „Unverbrauchtheit“ den sexuellen Akt und die Penetration intensiver wahrnehmen und sexuelle Vergleichsmöglichkeiten fehlen, wertet das eigene maskuline Ego auf: „Clint: never gone that big on the younger bird. But virgins had their points. Bet they felt you more. And they couldn’t tell you were crap at it, having nothing to compare.” (YD, 159) 528 Vgl. Judith Lorber, Paradoxes of Gender (Binghamton: Yale University Press, 1994), 56.

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that girls should act like boys.” (PW, 387)529 Durch die Analogie zur Geschichte des englischen Romans, die in die Handlung eingeflochten ist und eine eigene narrative Ebene darstellt, kommt die Problematisierung genderspezifischer Konzepte der Literaturgeschichte zum Tragen, wie etwa Thomas Hardys Vorstellung der ,Frau mit Vergangenheit‘:530 No, he couldn’t be doing with Thomas Hardy’s fiction – with Tess, with Bathsheba. It sometimes seemed to Keith that the English novel, at least in its first two or three centuries, asked only one question. Will she fall? Will she fall, this woman? What’ll they write about, he wondered, when all women fall? Well, there’ll be new ways of falling. (PW, 340)

Die traditionelle Vorstellung der ,gefallenen Frau‘, die aufgrund ihrer Vergangenheit in die gesellschaftliche Marginalisierung gedrängt wird und außerhalb der sozialen Ordnung eine Existenz in den Zwischenräumen fristet, kann als fleischgewordenes Symptom einer degenerierenden Gesellschaft verstanden werden. Vor dem Hintergrund der sexuellen Revolution kommt es jedoch zu einer Umwertung der ,Frau mit Vergangenheit‘, einer Verschiebung der gesellschaftlichen Peripherie zum Zentrum und dadurch der Erklärung von Paradoxie zu Orthodoxie: „,Why aren’t you normal any more? Your new stunts. The dressing-up and pretending.’ ,But normal’s changing, Lily. Soon all that will be normal.’” (PW, 340) Der neue Blickwinkel auf die ,gefallene Frau’ führt zu einer Revision und Neudefinierung von Geschlechterrollen: „It was already obvious that every hard and demanding adaptation would be falling to the girls. Not the boys – who were all like that anyway. The boys could just go on being boys. It was the girls who had to choose. And ingenuousness was probably over.” (PW, 371) Vordergründig scheint der Fokus auf die Adjustierung weiblicher Geschlechternormen gerichtet zu sein, durch die Interdependenzbeziehung von Femininität und Maskulinität wird letztendlich auch die Weiterentwicklung männlicher Geschlechterkonventionen ausgelöst.531

529 Die Textstelle lässt eine Referenz auf den von Ray Davies geschriebenen Kinks-Titel „Lola” (1970) erkennen, mit dem erstmals die Ebene des Transsexuellen und der Travestie Einzug in die Popmusik hielt und in dem die stereotypisierende Redewendung „boys will be boys“ in ihrer Klischeehaftigkeit zur Zeile „girls will be boys and boys will be girls“ umgemünzt wird. Vgl. dazu in „Lola” die Texstellen: „Well I'm not dumb but I can't understand/ Why she walked like a woman and talked like a man”, „Girls will be boys and boys will be girls/ It's a mixed up muddled up shook up world except for Lola” und „Well I'm not the world’s most masculine man/ But I know what I am and I'm glad I'm a man/ And so is Lola.” 530 Vgl. dazu auch: „If Keith paraphrased Mr Knightley, would Scheherazade realize, at last, that she was in love with him? No, because things were different now. And what had changed? Well, Emma’s colloquy with Miss Bates, on Box Hill, was not about busts and backsides and (by implication) a day of shame at a sex tycoon’s; and as she girded herself for censure, Emma didn’t face Mr Knightley topless; and Gloria was not, or not yet, a spinster. All that, and this. In 1970, you could no longer love subliminally: the conscious mind worked full-time on love or what used to be love. Anyway, why would he censure Scheherazade? On the west terrace she had shown a vulgarity and a sexual vanity, and an ordinariness, that at this point he could only commend.“ (PW, 198) 531 Kläger interpretiert in diesem Zusammenhang den Ansatz in The Pregnant Widow als eine Ironisierung des Genderessenzialismus vor dem Hintergrund der Geschichte des englischen Romans im Hinblick auf das dargelegte Frauenbild: „In its over-dramatisation of Keith’s sexual trauma, The Pregnant Widow is closest to the mock-heroic, although it retains serious undertones. This does not only signal a new, if only slightly, ironised attitude towards gender essentialism, it also establishes a new mode for its contemplation: […] Nearing is a literary man, and once again, his struggle with essentialised notions of gender is negotiated in relation to the history of the English novel.” (Kläger, „Something Nasty in the Bookshop: The Feminisation of Fiction in Martin Amis’s ,Gynocratic’ Novels“,

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Gloria Beautyman entwickelt sich im Laufe der Handlung vom objektivierten, reduzierten Frauentypus, der über die Wirkung auf und Reaktion von anderen Figuren definiert wird, hin zur aktiven, traumatisierenden Regisseurin von Keiths Leben, die in ihrem paradoxen Wesen als Personifizierung der inhärenten Widersprüchlichkeit der sexuellen Revolution verstanden werden kann. Ihr Name – sie ist die einzige Frauenfigur, deren Nachnamen der Leser erfährt – verweist neben der direkten Referenz auf ihr äußeres Erscheinungsbild auch auf ihre Überwindung von Geschlechtergrenzen. Durch Gloria Beautyman wird erneut das Bild der ,Frau mit Vergangenheit‘ aufgegriffen, da sie für die anderen Figuren zunächst über ihren Absturz unter Alkoholeinfluss bei einer Hausparty definiert wird, der sie in einem Anflug völliger Unzurechnungsfähigkeit ohne Unterwäsche zurückließ. Dieser Tag geht als Glorias „Tag der Schande“ in den Anekdotenfundus der Freunde ein. Als Symbol vollkommener Weiblichkeit wahrgenommen – bemerkenswerterweise sowohl aus männlicher als auch weiblicher Perspektive – kann sie neben den markanten Körperrundungen auch mit einer besonders schönen Physiognomie sowie glänzendem, schwarzem Haar aufwarten: „I think she’s an acquired taste. Rather peculiar figure. Jorq’s besotted. He says she’s the best thing out. He calls her Miss Universe. Why is Miss Universe always from Earth?” (PW, 70) Gleich einem Relikt vergangener Zeiten grenzt sie sich in etwas altmodischen Badeanzügen von den anderen sich am Swimmingpool tummelnden Selbstdarstellerinnen ab, da der modische Zeitgeist im Dienste des sexuellen Befreiungsprogramms eigentlich textile Sparmaßnahmen diktiert.532 Die radikale Reduzierung und Objektivierung ihres Körpers kulminiert in der Identifizierung Beautymans mit Männlichkeit und dem männlichen Glied: „Are you secretly a boy? No I’m secretly a cock… In the future every girl will be like me. I’m just ahead of my time.” (PW, 357). Dass sie Keith im Traum als weiblicher Jesus oder „Shesus“ erscheint, deutet symptomatisch auf das Motiv der sexuellen Abhängigkeit hin.533 Sie wird demnach nicht nur als eine Art moderne

96) Vgl. in diesem Zusammenhang auch: „I don’t think I like it – now that girls like it. I liked it better when they didn’t. Or pretended not to.” (PW, 240) In The War Against Cliché definiert Amis in einer Rezension mit dem Titel „Zeus and the Garbage“ die Entwicklungsstufen gendertypischer männlicher Charakteristika durch die Kategorie des neuen Manns oder „New Man“: „From 100,000 BC until, let’s say, 1792 (Mary Wollstonecraft and her Vindication of the Rights of Women), there was, simply, the Man, whose chief characteristic was that he got away with everything. From 1792 until about 1970, there was, in theory anyway, the Enlightened Man, who, while continuing to get away with everything, agreed to meet women for talks about talks which would lead to political concessions. Post-1970, the Enlightened Man became the New Man, who isn’t interested in getting away with anything – who believes, indeed, that the female is not merely equal to the male but is his plain superior. The masculine cultivation of his feminine ,side’ can be seen as a kind of homage to a better and gentler principle. Well, the New Man is becoming an old man, perhaps prematurely, what with all the washing-up he’s done; there he stands in the kitchen, a nappy in one hand, a pack of tarot cards in the other, with his sympathetic pregnancies, his hot flushes and contact pre-menstrual tensions, and with a duped frown on his aging face.” (WAC, 3-4) 532 „Have you decided yet? Whether to get your top brown?” (PW, 67) 533 „Come here in front of the mirror. Yes you can … You know, the vulgar call me Shesus. Because I can raise you from the dead.” (PW, 378)

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Eva,534 die in der Inkarnation des Bösen den Sündenfall herbeiruft, symbolisch in Szene gesetzt, sie wird zudem – wie es ihr Name zu antizipieren vermag – glorifiziert, erhöht und als weibliche göttliche Instanz zur Regisseurin von Keiths Leben erhoben. Die sexuelle Interaktion mit Gloria Beautyman verändert Keith nachhaltig und suggeriert eine Angleichung der Geschlechterrollen. Keith wird zum ,gefallenen Mann‘ und durch die Traumatisierung und das männliche Handeln von Gloria „feminisiert“.535 Geht man von der Korrelation von Maskulinität und Gewalt aus, findet während der 70er Jahre eine Paradoxie der männlichen Viktimisierung durch Frauen statt, die im sexuellen Trauma und Keiths finaler Opferrolle mündet und ihn durch die sexuelle Beziehung stark traumatisiert zurücklässt.536 Gloria Beautyman ist Hauptakteurin der sexuellen Erniedrigung von Keith Nearing, deren Folgen ihn für immer prägen. Sie entfernt sich im Laufe des Romans kontinuierlich von dem von ihr zunächst inkarnierten Motiv der Kalokagathie, nachdem sie konservative Moralvorstellungen vorgibt und sich vehement von der neuen Freizügigkeit und Körperlichkeit durch hochgeschlossene Bademode und Badekappe distanziert. In den Figuren in The Pregnant Widow ist ein konsequenter gender trouble angelegt,537 die Idee des Genderessenzialismus überwindet Amis, wenn sich die weiblichen Figuren im Zuge der Inversion von Geschlechterrollen maskuline Stereotype zu eigen machen. Doch diese im Dienste einer Feminisierung wiederum entstehenden neuen stereotypen und essenzialistischen Ideen weisen eine Tendenz zum Gynokratischen auf und basieren ihrerseits wieder auf essenzialistischen Vorstellungen von Maskulinität und Femininität.538 Die Inversion von Geschlechterstereotypen wird auf der Ebene sexueller Aktivität, als Gegensatz zur sexuellen (weiblichen) Passivität, durch Rita ausgelebt und durch ihre schonungslose Direktheit zum Diskussionsgegenstand der ganzen Gruppe erklärt. Nicht nur verkörpert Rita eine als männlich verstandene Form der sexuellen Freizügigkeit und schlüpft im Geschlechtsakt in die männliche Rolle, auch kommuniziert sie offen ihre Sexualität und inszeniert die weibliche sexuelle Befreiung durch einen in ihrer Imitation männlicher Verhaltensweisen anklingenden Mimikry-Prozess. Die enthumanisierende Degradierung allen Körperlichen leuchtet jedoch ununterbrochen in der

534 Vgl. Brian Finney, „Life and Other Genres: Martin Amis’s The Pregnant Widow”, (zuletzt besucht am 08.09.2014). 535 Vgl. Kläger, „Something Nasty in the Bookshop: The Feminisation of Fiction in Martin Amis’s ,Gynocratic’ Novels“, 96. 536 Vgl. ebd., 95-6. 537 Vgl. ebd., 98. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Butler, Gender Trouble, 8: „Originally intended to dispute the biology-is-destiny formulation the distinction between sex and gender serves the argument that whatever biological intractability sex appears to have, gender is culturally constructed: hence, gender is neither the causal result of sex nor as seemingly fixed as sex. The unity of the subject is thus already potentially contested by the distinction that permits of gender as a multiple interpretation of sex.” 538 Vgl. Kläger, „Something Nasty in the Bookshop: The Feminisation of Fiction in Martin Amis’s ,Gynocratic’ Novels“, 98.

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Gestaltung ihrer Figur für den Leser auf.539 Auch in Dead Babies findet die paradoxe Inversion von Geschlechterrollen im sexuellen Akt statt. Die ménage à trois der Amerikaner findet mit untraditioneller Geschlechterverteilung statt, da der Fokus auf die Befriedigung des weiblichen Körpers gerichtet ist und eine weitere Ebene der sexuellen „Grenzüberschreitung“ veralteter Normen durch die Ausübung des homosexuellen Akts stattfindet.540 Glorias Form der Selbstliebe übersteigt die Dimensionen des Motivs der schwimmenden, ihr eigenes Spiegelbild küssenden Scheherazade: „When she dives, she dives into her own reflection. When she swims, she kisses her own reflection. She works her way up and down the pool, with dipping face, kissing her own reflection.” (PW, 100)541 Die narzisstische Referenz suggeriert einen Wandel im weiblichen Selbstbewusstsein, der sich in letzter Konsequenz als Trugschluss offenbart. Der körperliche culte de moi mit den zahlreichen Referenzen auf den Mythos von Narcissus und Echo stellt sich erst viel später als folgenschwerer Wandel des Inneren nach außen heraus und führt unweigerlich von einem Kult um das Selbst zu einer Entfernung vom Selbst.542 Den bewussten Blick auf ihren nackten Körper quittiert auch Gloria Beautyman mit dem Bekenntnis zur Selbstliebe: „Oh, I love me. Oh I love me so.” (PW, 303) Die sexuelle Revolution hat in der Romanwelt von The Pregnant Widow dazu geführt, dass weibliche Figuren ihr Sexualverhalten dem von männlichen Figuren anzugleichen versuchen: „With the notion of one sex behaving ,like’ the other, the novel goes beyond the notion of essentialism and considers performativity as an alternative to gender identity.”543 Die Performanz von gender verweist auf

539 „You know what she does? She shakes you awake in the middle of the night, and if you’re too tired then she seriously tells you you’re queer. You hate women. Whereas, in fact, she hates women. And she hates men too. Keith. Keith. Imagine shaking Lily awake, and if she doesn’t come accross she’s a dyke. Or a snob. Or frigid. Or religious. No mere guy behaves like that.[‘]“ (PW, 220-1) 540 „,It sounds funny, doesn’t it, darling,‘ she said, ,two men and one girl? Two girls and one man seems more on the cards… but. What do the three of them do?’ ,They do most of it in a chair, I rather gather. Marvell – the little one – sits on Skip’s – the big one’s – lap, thereby impaling himself, and then Roxeanne impales herself frontways on Marvell’s lap, so that she may kiss them both in turn. Frightfully eventful for Marvell, one imagines.’” (DB, 22) 541 Vgl. Yves-Alain , „Narcissus”, in: Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes, ed. Brunel, 867- 71; 867: Der zum ersten Mal in Ovids Metamorphosen auftauchende Mythos des Narziß verkörpert die Paradoxie der Selbstliebe. Narziß ist der Sohn der Flüsse Liriope und Cephissus, der insbesondere über seine Schönheit, aber auch über eine ausgeprägte Form der Hybris definiert wird, in den sich während einer Jagd die von ihm zurückgewiesene Nymphe Echo verliebt. Narziß verfällt beim Anblick im Wasser seinem eigenen Spiegelbild und begehrt sich fortan selbst, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Realisierung der Selbstliebe führt zur Todessehnsucht. Nach seinem Tod verschwindet im Austausch gegen eine Narzisse auf wundersame Weise sein Körper. Vgl. ebd., 871: Symbolisten dechiffrieren den Fehler des Narziß, der gefangen in der Selbstbeobachtung die Schönheit der Natur und des Kosmos nicht wahrnehmen kann und legen den Mythos im Hinblick auf den Konflikt zwischen Identität und Dualität der menschlichen Natur aus. 542 Vgl. Finney, „Life and Other Genres: Martin Amis’s The Pregnant Widow”. Die Begrifflichkeit des culte de moi manifestiert sich auch durch die Figuren der femme fatale, des Dandys und einer generell bestehenden Tendenz zur Androgynie in der Figurendarstellung im Aufbrechen von Geschlechterrollen im Fin de siècle. Eine innere, auf Selbstbeherrschung und Grazie basierende Haltung sowie eine stilbewusste Eigenliebe sind bezeichnend für das Dandytum (vgl. Hans Hinterhäuser, Fin de Siècle: Gestalten und Mythen (München: Fink, 1977), 85). 543 Kläger, „Something Nasty in the Bookshop: The Feminisation of Fiction in Martin Amis’s ,Gynocratic’ Novels“, 95.

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eine Inversion der Geschlechterrollen als neue, eine Generation prägende Sexual- und Gendernorm: [P]erformativity is not a singular act, but a repetition and a ritual, which achieves its effects through its naturalization in the context of a body, understood, in part, as a culturally sustained temporal duration. […] The view that gender is performative sought to show that what we take to be an internal essence of gender is manufactured through a sustained set of acts, posited through the gendered stylization of the body.544

Gloria sieht sich selbst als ihrer Zeit voraus und besteht durch die Identifizierung mit dem anderen Geschlecht auf ihrer Emanzipation. Als Inkarnation des Paradoxen wird sie zunächst nur (durch andere) über ihren Körper definiert und überwindet durch ihre Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung Grenzen von Geschlechterkategorien. Der paradoxe Kern der Figur inskribiert sich in einem wesentlichen Widerspruch ihrer körperlichen Ausstrahlung und sexuellen Wirkung als Sinnbild von Begehren, Fleischeslust und Weiblichkeit und ihrer Faszination auf den homosexuellen Amen. Dieser durchlebt eine sexuelle Sinnkrise beim Anblick von Glorias Körper und kann sich dem Bann ihrer Weiblichkeit nicht entziehen. Die vom Blick auf ihren Körper ausgehenden Bekehrungsgedanken und damit verbundenen heterosexuellen Fantasien stehen im Dienste eines Paradoxieauftrags, der mit der Abkehr von einer homosexuellen Orthodoxie einhergeht und Gloria als ultimatives Objekt der Begierde auf den Olymp der Weiblichkeitsskala befördert: „It’s a love that dare not speak its name.” (PW, 344)545 Diese paradoxe Umkehrung der von Lord Alfred Douglas geprägten Definition von Homosexualität verweist auf den polemischen Charakter von Kategorien wie Orthodoxie und Paradoxie, wenn Geschlechteridentitäten aufgrund der Grenzüberschreitungen und Pluralität von Geschlechternormen nicht mehr klar bestimmbar sind: ,Gloria. He says he’s going straight for Gloria’s arse.‘ ‚…Say again?‘ ,I’ll rephrase that. Amen’s considering going straight – for the sake of Gloria’s arse.’ ,With, uh, does he have ambitions?’ ,No. It’s too exalted for that. He’s considering going straight in the name of Gloria’s arse. To honour Gloria’s arse.’ ,I think I see.’ ,He doesn’t like her face or anything. Or her personality. Or her knack with a pencil. Just her arse.’ (PW, 345)

Die Apotheose des Körperlichen, die radikale Glorifizierung und Aufwertung eines einzelnen Körperteils wird in The Pregnant Widow durch Amens Homosexualität intensiviert. Amen stört sich zwar an Scheherazades Freizügigkeit, wenn diese sich mit freiem Oberkörper sonnen will, ist aber magisch angezogen von Glorias Körperbau. Keith und Whittaker führen den obsessiven, hypnotisierten Blick auf Glorias Glutealregion auf Amens Homosexualität zurück und Keith erkennt im sexuellen Abenteuer mit Gloria Beautyman eine homoerotische Ebene, die über ihr

544 Butler, Gender Trouble, xv. 545 Vgl. Lord Alfred Douglas‘ Gedicht „Two Loves“, in dem er die bekannte Umschreibung von Homosexualität mit der prononcierten Zeile „I am the Love that dare not speak its name“ prägt (vgl. Leslie J. Moran, „Transcripts and Truth: Writing the Trials of Oscar Wilde”, in: Oscar Wilde and Modern Culture: The Making of a Legend, ed. Joseph Bristow (Athens: Ohio University Press, 2008), 234-58; 244).

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Verhalten als Geschlechterkategorien invertierender „sexueller Tomboy“ hinausgeht. Der homosexuelle Subtext schlägt sich in ihrem Nachnamen Beautyman, der paradoxen Überwindung der Geschlechterklassen und der eine misogyne Verzerrung ins Groteske herbeiführenden Identifizierung mit dem männlichen Geschlechtsorgan nieder. Die Kulmination des Homoerotischen stellt Glorias Entrüstung über den als diminuierend und effeminierend empfundenen Begriff „coquette“ (anstatt des Begriffs „cock“) und Keiths Wahrnehmung ihres nackten Körpers als skurrile Inkarnation eines lebensgroßen erigierten Penis dar: His talk with Whittaker had reopened a line of unease – the counter-intuition that his day with Gloria Beautyman was in some sense homoerotic. And the evidence for this was still mounting. First, Gloria was a sexual tomboy: she liked to climb all the trees and get her kneecaps scraped and dirty. Then there was the business (no small matter) of her being a cock. Jorquil had the nerve to call me a coquette, she said with what seemed to be genuine indignation. D’you know what that word means? It’s ridiculous. I’m five foot eight in my spikes. And, so saying, she got off the bed and walked naked from the room; and Keith imagined her buttocks as a pair of gigantic testicles (from L. testiculus, lit. ‘a witness’ – a witness to virility), not oval, but perfectly round, and sloping upward into the hard-on of torso and the helmet of her head. Third, her name: Beautyman. Fourth, and most obviously, there was the beast with one back. Plus the sinister refinement. He had heard and read that women could be masochists. Gloria, though, had no interest in pain. She was not a masochist. But it prompted a question. Could a woman be a misogynist – in bed? (PW, 346-7)

Bakhtin sieht den Phallus als wesentliches Motiv der Groteske, da dieser körperlich aus sich hinauswächst, den eigenen Körper überschreitet und sich als Symbol der grotesken Hyperbolik von ihm loslösen und ein eigenständiges Leben annehmen kann, indem er den Rest des Körpers als sekundär erscheinen lässt.546 Keith Nearings Fetischismus steht auch in Zusammenhang mit Freuds Theorie, die im Fetisch eine Form des Penisersatzes für den Phallus der Mutter erkennt. Der Fetisch entsteht aus der Verweigerungshaltung des Jungen, die Kastration der Mutter zu akzeptieren, da diese auf seine persönliche und durch narzisstische Ängste vertiefte Gefahr des Penisverlusts verweist.547 Glorias Aufforderung zum Sex impliziert die Idee einer sexuell befreiten jungen Frau, die ihr Selbstbild über ihre Wirkung auf andere definiert und Lust und Sensationslust ihrer Begutachter in Bezug auf ihr, alle physischen Normen übersteigerndes Körperteil, zu ihrem Vorteil einsetzt. Dieses Bild der feministischen jungen Frau, die ihren Körper für die eigenen Zwecke benutzt, stellt sich jedoch als Programmatik einer bloßen Pseudoemanzipation heraus und entlarvt eine weitere Facette ihrer paradoxen Persönlichkeit, die als futuristisch und konservativ zugleich in Erscheinung tritt: „,You know, Gloria, you’re old- fashioned. Futuristic, too, but old-fashioned. Living off men. You could be a great dancer.’” (PW, 338)548 Dass sich Gloria Beautyman im Laufe der Handlung als einzige weibliche Figur

546 Vgl. Bakhtin, Rabelais and His World, 317. 547 Vgl. Freud, „Fetischismus”, in: Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften, 329-30. 548 Vgl. dazu auch: „Gloria – you call her the Future, but she’s retrograde. Non-independent. Man-pleasing. God- fearing. You should get a nice terrorist. A feminist with a job who screams at you.” (PW, 426)

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herauskristallisiert, die wiederholt dem – der Idee der sexuellen Revolution direkt entgegengesetzten – konservativen Familienmodell einer Konvenienzehe unterliegt, zeigt ihr persönliches Scheitern an feministischen Grundgedanken. Sie lebt zwar das Ideal des freien weiblichen Körpers und der freien Liebe, versucht sich dadurch auf sexueller Ebene zu verwirklichen, schafft es aber dennoch nicht, sich von einer reinen Körperlichkeit zu emanzipieren und bleibt somit Gefangene ihrer selbstauferlegten Fesseln des eigenen Körpers: And it came to Keith now – her essential peculiarity. She went at it as if the sexual act, in all human history, had never even been suspected of leading to childbirth, as if everyone had immemorially known that it was by other means that you peopled the world. All the ancient colourations of significance and consequence had been bleached from it. (PW, 379-80)

Das Motiv der Maske lässt vor dem Hintergrund invertierter Geschlechterkategorien eine durch Gloria Beautyman dargestellte Relevanz erkennen549 und durch die von ihr immer wieder initiierten Rollenspiele mit Keith Nearing tritt ihre aktive, zielorientierte Rolle zutage.550 Die Maske gewinnt zentrale Symbolkraft als Essenz der Groteske. Als komplexes Motiv der Volkskultur verweist sie auf Veränderung und Reinkarnation, storniert Konformität und symbolisiert Aspekte des Übergangs, der Metamorphose und den Verstoß gegen natürliche Grenzen:551 It contains the playful element of life; it is based on a peculiar interrelation of reality and image, characteristic of the most ancient rituals and spectacles. Of course it would be impossible to exhaust the intricate multiform symbolism of the mask. Let us point out that such manifestations as parodies, caricatures, grimaces, eccentric postures, and comic gestures are per se derived from the mask. It reveals the essence of the grotesque.552

Die Vorliebe für Maskierungen, Verkleidungen und Rollenspiele als sexuelles Aufputschmittel zeigt den tiefsitzenden Drang Gloria Beautymans nach der Loslösung von ihrer in traditionellen Geschlechterkategorien gefangenen weiblichen Identität.553 Aspekte der Rolle, Maske und Pose

549 Masken üben erst in dem Moment des Aufsetzens auf ein Gesicht ihre Funktion aus. Wenn die Maske aufgesetzt ist, kann sie sich einer Bezeichnung als Paradox nicht mehr entziehen, denn sie zeigt, indem sie verbirgt (vgl. Richard Weihe, Die Paradoxie der Maske (München: Wilhelm Fink, 2004), 14). Vgl. ebd., 356: Paradoxerweise handelt es sich bei der Maske um eine Form, die trennt und gleichzeitig verbindet, unterscheidet, während sie genau diese Unterscheidung wieder relativiert. Die Maske führt nicht lediglich zu einer Paradoxie, sie existiert auf einer paradoxen Ebene, denn sie widerspricht in ihrem Dasein der Orthodoxie, die der Maske das Kennzeichen der Differenz zuschreibt: „Man könnte auch sagen, dass das Gesicht die Maske zum Pejorativum macht. Das Gesicht hierarchisiert sein Verhältnis zur Maske, es wird in unserer Vorstellung gegenüber der Maske eindeutig favorisiert. In diesem Punkt ist unser Denken christlich geprägt. Die Maske verhüllt oder verstellt das Gesicht, sie ist das Künstliche, Aufgesetzte und Trügerische, welches das Natürliche, Lebendige und Wahre dem Anblick entzieht. Dieser Logik zufolge wird das nackte Gesicht positiv besetzt und als Ort des Authentischen ausgewiesen.“ (Ebd., 37) 550 Vgl. die Überschrift des Kapitels „Book Six, The Problem of Re-Entry: 1. Elizabeth Bennet in Bed“, PW, 315, in dem Glorias Auffassung der Geschlechterverschmelzung der Pride and Prejudice-Protagonisten Elizabeth Bennet erläutert wird. 551 Vgl. Bakhtin, Rabelais and His World, 39-40. 552 Ebd., 40. 553 Zum Motiv der Maske als Symbol für weibliche sexuelle Befreiung vgl. zum Beispiel Eliza Fowler Haywoods Fantomina; or Love in a Maze (1725). Zum Zusammenhang von Maske und Literatur allgemein vgl. auch Henry Fieldings Ablehnung der Masken in The History of Tom Jones, A Foundling (1749) oder Oscar Wildes Essay „The Truth of Masks“.

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weisen einen ambiguen Doppelcharakter auf, der gleichzeitig auf Identität und Alterität, Präsenz und Absenz verweist, und anhand dessen Gloria Beautyman ihre öffentlich unterdrückte Sexualität, ohne den Verlust ihres Ansehens erneut zu riskieren, in der Affäre mit Keith ausleben kann: Gloria’s voice changed, and once she bared her white teeth in what seemed to be savage indignation, and two or three times, as he lay waiting, she came towards him in some new combination of clothes and roles with a certain smile on her face. As if she had entered into a conspiracy with herself to make him happy. (PW, 380)

Gloria schlüpft immer wieder in verschiedene Rollen, ihre eigene Wahrnehmung von sich als männliches Geschlechtsteil und ihre androgyne Maskerade können vor der Folie eines cross- dressing-Programms gelesen werden, das es ihr ermöglicht, Geschlechtergrenzen nicht nur zu invertieren, sondern gleichzeitig oszillieren zu lassen: Clothes make the man – or the woman; the real cultural significance of this cliché underlies the feminist interest in the practice and representation of cross-dressing. Making a choice to wear clothes that are normally assigned to the other gender exposes how the differences beween male and female persons are socially constructed and maintained, and simultaneously enacts the blurring of such distinctions. The person who cross-dresses can thus be seen as embodying the „third term” that disrupts the binary logic of gender.554

Generell unterliegt die Beurteilung, aber auch die Verurteilung von cross-dressing kulturellen und historischen Gegebenheiten. Bezeichnenderweise jedoch kann in der Perzeption des cross- dressing eine signifikante Unterscheidung festgestellt werden, abhängig davon, in welche Richtung die textile Verwandlung erfolgt. So werden Männer, die sich in Frauenkleider hüllen schnell mit Lächerlichkeit oder schlimmer noch, Perversion assoziiert. Auch wird der Bereich des cross-dressing in vielen Kulturen mit der sexuellen Ausrichtung, insbesondere mit Homosexualität in Verbindung gebracht. Genderidentität und sexuelle Identität werden demzufolge hochgradig und vor allem in direktem Bezug aufeinander konstruiert und miteinander verknüpft.555 In Yellow Dog wird das Motiv des sexuell Anderen auf der Ebene von Geschlechterkategorien als Paradoxie-Prinzip inszeniert. Figuren wie He Zizhen, die transsexuelle Geliebte des eigentlich asexuellen Monarchen Henry symbolisiert ebenso das sexuell Andere wie Kate (k8), die Internetbekanntschaft des Boulevardredakteurs Clint Smoker, die sich am Ende des Romans ebenso als transsexuell herausstellt und Clint seiner Männlichkeit zu berauben droht. Die Begriffe „Transgender“ und „Transsexualität“ bringen neue Aspekte von gender-Paradoxien zum

554 Chedgzoy, „Cross-Dressing“, in: Encyclopedia of Feminist Literary Theory, ed. Kowaleski Wallace, 94-5. 555 Vgl. ebd., 95. Ebd.: „In a literary context, interest in cross-dressing has centered on the early modern period, when the transvestite theater of Shakespeare’s England, and the Restauration theater’s taste for ‚breeches parts‘ (women disguised as men) coincided with an apparent proliferation of ‚real-life‘ cross-dressing; and the period from the late nineteenth century to the present, when the emergence of feminist movements and sub-cultural homosexual identities focused attention on the construction and destabilization of categories of gender and sexual identity.”

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Vorschein und verweisen auf Zwischenräume fester Kategorien und eine durch den paradoxen Zustand der ständigen Transformation bedingte Fragmentiertheit der Identität: What about the notion, suggested by Kate Bornstein, that a transsexual cannot be described by the noun of „woman“ or „man“, but must be approached through active verbs that attest to the constant transformation which „is“ the new identity or, indeed, the „in-betweenness“ that puts the being of gendered identity into question? Although some lesbians argue that butches have nothing to do with „being a man,” others insist that their butchness is or was only a route to a desired status as a man. These paradoxes have surely proliferated in recent years, offering evidence of a kind of gender trouble[.]556

Die Paradoxie des weiblichen Körpers erlangt eine neue Dimension der Devianz von der zeitgenössischen Körpernorm, die über die Doppelgeschlechtigkeit und das komplette Auflösen von Geschlechterstereotypen den Weg einer Geschlechterauflösung sous rature ebnet. Eine Art postmoderne Form eines invertierten blazons wird durch Smokers virtuelle Bekanntschaft k8 im Dienste eines Desillusionierungsprogramms personifiziert, als diese ihre Enttarnung als transsexuell nach langen, ausgiebigen Cyberflirts vollzieht, gerade nachdem Smoker sie als Frau mit Substanz in seiner imaginären Datenbank abgespeichert hat.557 Die Dechiffrierung des zeitgenössischen Internetjargons mit all den dafür typischen Verklausulierungen und Kürzeln, lassen Smoker ebenso zum Opfer seiner eigenen curiositas werden, wie k8s detaillierte, wenn auch wenig wahrheitsgetreue Schilderungen ihres Erscheinungsbildes: „& u ask about my loox. 1st, my figure. l swain was consider8 enough 2 tell me th@ my ,tits were crap’. another ventured the opinion th@ i had ,a crap arse’. […] (no young gentleman has yet proved sufficiently gallant 2 aver th@ i have ,a crap cunt’.) in fact i am inordin8ly proud of my body as it has developed over the years. i’m not a c@walk cutout, nor a mega-boobed 6- queen: just an honest middle-w8. & @25, i’m bloomin’!” (YD, 103)

Die Paradoxie des Cyber-Körpers leuchtet in dem markanten Wesensmerkmal als doppelte Identität und virtuelle Maske auf und definiert sich angesichts der Diskrepanz zwischen Schein und Sein über das Verstecken der realen und Annehmen einer konstruierten Identität. Die Inversion von konventionellen Geschlechterrollen hat sich in zwei Erzählungen aus Amis’ Kurzgeschichtensammlungen besonders eindringlich manifestiert. „Straight Fiction“ aus Heavy Water and Other Stories und „The Little Puppy That Could“ aus Einstein’s Monsters sind aufgrund ihrer inhaltlich-thematischen Auseinandersetzung mit genau dieser Umkehrung als wichtigstem Element exemplarische Texte der breit angelegten Genderparadoxie, in denen die Inversion von Geschlechterrollen zum Kern der Erzählungen avanciert. In Anlehnung an das Genre der moral tale, arbeitet Amis in „The Little Puppy That Could“ mit generisch distinktiven Charakteristika des Märchens und stellt dabei die Umwertung der Patriarchalstrukturen des

556 Butler, Gender Trouble, xii. 557 Vgl. dazu in Yellow Dog Keiths Einschätzung von Internetkontakten, die über seinen Job beim Morning Lark zustande kommen: „What usually emerged (Clint found) was all vanity and shadow, inexistent, incorporeal: unreal mockery. But something told him that ,k’ was a woman of substance.” (YD, 30)

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konventionellen Märchens in den Fokus der Erzählung.558 Wie auch andere postmoderne Kurzgeschichten veranschaulichen, dient die Dekonstruktion etablierter Geschlechterkonzeptionen der herbeigeführten Entlarvung ihrer Eindimensionalität. Die Kurzgeschichte „The Little Puppy That Could“, deren Titel eine intertextuelle Referenz und Parodie auf die Kindergeschichte „The Little Engine That Could“ erkennen lässt, hat sich einer Systemreferenz verschrieben, die den antiken Mythos der Andromeda aufgreift und ihn in einer Form des rewriting jenes mythologischen Stoffs einer feministischen Neuinterpretation erscheinen lässt.559 Die im Originaltext implizierten Geschlechterrollen erfahren eine radikale Inversion der patriarchalischen Strukturen und kulminieren in einer phantastisch-paradox anmutenden, von Frauen regierten Welt, die Ideen der Gynokratie literarisch ins Bild setzen. Schon der sprechende Name Andromeda – was so viel wie „Frau mit dem Verstand eines Mannes“ bedeutet – verweist im klassischen Mythos auf die Inversion der Genderkategorien.560 Die weibliche Passivität des Mythos wird in „The Little Puppy That Could“ im Dienste einer vollkommenen Genderumwertung durch eine radikale Deformation und Verzerrung realer Geschlechterkonventionen im Text aufgegriffen und kreiert eine Welt, die einer Märchen-Parodie gleichkommt: […] Amis imagines a post-holocaustal future where the sexual status quo has been deformed and distorted along with everything else. Men have become interchangeable – Tim and Tam and Tom – subject to the rule of monstrous matriarchs who, horribly, demand to be pleasured. Now that fertility is a scarce commodity, the world is held to ransom by a womb and not a penis. The women are given names (Keithette, Clivonne, Kevinia) whose ludicrousness may be meant to derive from the supposed laughter-quotient of the male names on which they are based, but there is a definite edge of hysteria to the humour. What seems to bring out the rancor which the comedy disguises, at least from its author, is the very idea of women with male privileges.561

Nicht nur das Regieren der Matriarchen, auch die Degradierung und die, schon an den Figurennamen erkennbare, Austauschbarkeit des männlichen Geschlechts, tragen zur Etablierung der „Idee von Frauen mit männlichen Privilegien“ bei. Die Bewegung einer phallogozentristischen Gesellschaft hin zu einer gynokratischen verkörpert den geschlechterspezifischen Kern der Kurzgeschichte. In medias res befördert Amis den Leser in eine dystopische, futuristische Welt, in der Phantastik und Elemente des Märchens auf ein dekonstruktivistisches Programm des

558 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Angela Carters Kurzgeschichtensammlung The Bloody Chamber, in der ein rewriting altbekannter Märchen herangezogen wird, um diese im Dienste eines postmodern-feministischen Ansatzes zu dekonstruieren. 559 Vgl. Finney, Martin Amis, 68. 560 Vgl. dazu auch Harold C. Knutson, „Andromeda”, in: Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes, ed. Brunel, 61-8; 61: Andromeda, die Tochter von Cepheus und Cassiopeia, wird für die Hybris ihrer Mutter bestraft, indem sie nackt an einen Felsen am Meer gebunden wird. Cassiopeia bezeichnete ihre Tochter und sich selbst als hübscher als die Nymphen Nereids, die bei Poseidon klagten. Dieser holte ein Seemonster an die Küste und zwang Cepheus, seine eigene Tochter als Futter freizugeben. Als Perseus Andromeda an den Felsen gebunden erblickt, verliebt er sich in ihr Aussehen und befreit sie, nicht ohne sich vorher die Ehe und gemeinsame Rückkehr nach Griechenland versprechen zu lassen. Obwohl Andromeda Agenor versprochen war, heiratete sie Perseus. Agenor jedoch störte die Zeremonie, um die ihm versprochene Braut einzufordern. Perseus konnte durch den Kopf der Medusa seinen Gegner zu Stein verwandeln. 561 Adam Mars-Jones, Venus Envy (London: Chatto & Windus, 1990), 12.

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literarischen rewritings verweisen.562 Er etabliert zu diesem Zweck das Verschwimmen von Gattungsgrenzen und reichert seine Erzählung mit einem mythologischen Bezug an. Die Anlehnung des Erzählmodus an generische Formen des Märchens wird zwar aufgegriffen, gleichzeitig unterliegt sie aber einer konsequenten Überwindung. Eine ausgeprägte Strukturiertheit des Textes sowie eine dem Text inhärente Moral lassen durch das Aufbrechen traditioneller Patriarchatsstrukturen den Text als Anti-Märchen erscheinen. Andromeda personifiziert das Auflösen und die Suspendierung patriarchalischer Strukturen, wenn sie sich von der weiblichen Version eines Männernamens – wie ihn die meisten Dorfbewohnerinnen tragen (etwa Keithette, Clivonne oder Kevinia) – trennt und sich anschließend selbst umtauft, um fortan nicht mehr ,Briana‘, sondern ,Andromeda‘ genannt zu werden.563 Außerdem adoptiert sie gegen den Willen der anderen Dorfbewohner einen kleinen Welpen, der zum Inbegriff eines domestizierten Tieres mit einer Fixierung auf das junge Mädchen wird.564 Andromeda verkörpert für den Welpen eine Beschützerfigur, eine Konstante und einen Orientierungspunkt sowie einen Kontrapunkt zu dem Biest, das im Dorf sein Unwesen treibt und für das einmal wöchentlich Dorfbewohner geopfert werden müssen. Das Motiv der Matriarchen erhebt sich zum symbolischen Emblem der von Amis gezeichneten feministischen Märchenwelt. Die darin angelegte Idee einer Gynäkokratie, mit diversen, das Matriarchat aufrechterhaltenden „Ersatz-Ehemännern“,565 die marginalisiert und isoliert in ihrem eigenen Ghetto ihr Dasein in der sozialen Ächtung zu fristen verdammt sind, komplementiert die Aufwertung und Verehrung des Weiblichen und die gleichzeitig darin angelegte Degradierung alles Männlichen.566 Amis entwirft eine Welt, in der Frauen als natürliche

562 Vgl. auch Vladimir Propp, Theory and History of Folklore, trans. Ariadna Y. Martin and Richard P. Martin (Manchester: Manchester University Press, 1984). 563 Vgl. zum Motiv der Selbsttaufe auch: „,Why do I put up with her?’ Keithette began. ‚Answer me, Tom. Please answer me. Where did it come from? Right from the start she never gave me a moment’s peace. Why can’t she be like any other little girl. Why? Why? That’s right. I’ll pack you off to live with the children. Or the Queers! Where did you find it? Now you listen to me, Andromeda. Andromeda, indeed. Her own name’s not good enough for her. She has to go and call herself Andromeda![‘]” (EM, 98) 564 Vgl. Rachel Falconer, „Bakhtin’s Chronotope and the Contemporary Short Story”, South Atlantic Quarterly 97.3-4 (1998): 699-732, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 87-96; 93. 565 Vgl. zur Thematik der Ersatz-Ehemänner die räumliche Ausgrenzung und Isolierung des hier schwachen Geschlechts, das in eine Art „Männerghetto“ verbannt wird. Der Text suggeriert die Vereinheitlichung und Entindividualisierung des männlichen Geschlechts: „On his last sortie the dog had forced his way into the spare- husband compound and selected his victim from the sixteen men who huddled there. In the skirmish three spare husbands had been wounded or nicked by the dog’s teeth and claws. By Moanday afternoon they had swelled outlandishly in the belly and sprouted coarse hair on their backs and buttocks. All three died during the night, in speechless horror. On Woundsday it was reported that seven spare husbands who had merely come into contact with the dog’s coat had developed cutaneous conditions of incredible virulence; they too passed away, in a frothing nightmare of serpigo and yaws. By Fireday the remaining five men – who had done no more than smell the dog’s breath – checked out with toxic shock.” (EM, 105) 566 Vgl. dazu auch: „Well, Andromeda was slowly eating breakfast with Keithette and Tom, her mother and ,father’. In the silence the sun played subatomic ball with the moody motes of dust. Both Andromeda and Tom were eyeing Keithette a little warily. No one had spoken with any freedom that morning, because Keithette had yet to select and announce her moodday. There were seven to choose from […]: Shunday, Moanday, Tearsday, Woundsday, Thirstday,

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Führungsfiguren innerhalb der sozialen Ordnung der Dorfgemeinschaft agieren: „They [the villagers] looked for authority, and what did they find? The natural leaders were, of course, the women with the loudest voices and the strongest personalities; and if you think Keithette is redoubtable enough, you should check out Clivonne – or Kevinia!” (EM, 101) Die finale Metamorphose des Welpen zu einem schönen Jungen findet nach einem Kampf zwischen ihm und der Bestie statt, bei dem er in den Flammen umkommt. Am Abend, als Andromeda um den Vierbeiner trauert, klopft es am Fenster ihres Kinderzimmers, und das transformierte Tier zeigt sich in Gestalt eines Jungen: The boy stood there, against the swirl of stars, his body still marked by the claws and the flames. She reached up to touch the tears in his human eyes. […] His arms were strong and warlike as he turned and led her into the cool night. They stood together on the hilltop and gazed down at their new world. (EM, 113)

Die Wiederherstellung des Normativen am Ende der Erzählung revidiert die Funktion des Paradoxen im Dienste eines feministischen Schreibens, da die geschlechterspezifische Orthodoxie reinstalliert wird und leitet eine Devianz vom ansonsten streng durchexerzierten Programm der Inversion von Geschlechterrollen ein. In der 1995 für den Esquire veröffentlichten Kurzgeschichte „Straight Fiction“ implementiert Amis in einer ausgereiften Drastik und hartnäckigen Konsequenz invertierte Sexualkonventionen und konstruiert auf wenig subtile Weise eine drakonische ‚Paradoxierung des Orthodoxen‘. Heterosexuelle befinden sich in der Welt von „Straight Fiction“ in der Minderheit und existieren als Opfer sozialer Ausgrenzung am Rande der Gesellschaft: Of course you saw it all the time these days (downtown, anyway), straights kissing in public, on the lips and everything – open mouthed, even with tongues, like a demonstration. Cleve was only thirty-eight but in his lifetime people used to go to fucking jail for doing that. Or for doing what that portended. (HW, 196)

In einer homosexuellen Utopie, in der Heterosexualität strafrechtlich verfolgt und mit Gefängnisstrafen geahndet wird, in der die Christopher Street entlang der Grenze zum „Heterosexuellenviertel“ der Stadt verläuft, in der Boutiquen Namen wie „Marquis de Suede on Madison“ oder „See You Latex, Alligator on Fifth“ tragen und bevorzugt Gurkensandwiches verspeist werden – man könnte vermuten in Anlehnung an Wildes The Importance of Being Earnest (1895) –, trifft der homosexuelle Cleve in einem Café auf die faszinierende Cressida, die der sexuellen Minderheit der Heterosexuellen angehört. Die invertierte Welt von „Straight

Fireday, Shatterday.” (EM, 97) Nachdem Keithette durch ein ausführliches Wellness-Programm von Tom beruhigt wird, erlaubt sie Andromeda, ihr neues Haustier zu behalten: „It took many hours of supplication, many Blametakes and Faultfinds, and much work for Tom on the mat, over the tub and in the sack, great play being made with the hot towels and cold compresses, the back-scratchers and ski-loofahs, not to mention all the hair stroking, neck-nuzzling and breast-kissing – plus the tireless and tearful pleas of tiny Andromeda – but in the end Keithette was pretty well won over to the little puppy’s presence, a presence that was understood to be temporary, contingent, multiprovisoed. Naturally, the ruling could be reversed at a single snap of Keithette’s brawny red fingers.” (EM, 98)

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Fiction“ ist ein Universum voller orthodoxierter Paradoxien und paradoxierter Orthodoxien.567 Der allmählich als heterosexuell entlarvte Schauspieler Burton Else – dem der Verlust von Fans und Rollen droht, wenn seine sexuelle Orientierung der Öffentlichkeit bekannt wird – verkörpert neben Cressida ein weiteres Beispiel eines verdrehten Normbegriffs: „Cleve tried to sleep. He found he was still brooding about Burton Else – brooding woundedly, self-pityingly, about Burton Else. Because the guy just seemed so normal.” (HW, 202) Im Buchladen stillen Analysen der „Straight Studies” und eine Auswahl an „Straight Fiction“ die Neugierde Homosexueller hinsichtlich heterosexueller Orientierung: „There was straight fiction too: careworn, dirty-realist, kitchen-sink. The only straight novel that rang any kind of bell with Cleve was called Breeders.” (HW, 199) Die Etablierung des Begriffs „straight” als analog zum Begriff „gay” wie er in westlichen Kulturräumen geprägt ist, zeigt die Verschiebung von Orthodoxie und Paradoxie auf der Ebene invertierter Sprachentwicklungen: „Jesus, is nothing sacred? Christ, where do they get off calling themselves straight? They take a fine old English word and fuck it up for the rest of us.” (HW, 201) Eine Zeitungsannonce in The New York Review of Books für eine explizit heterosexuelle Kreuzfahrt von Philadelphia nach Maine unterstützt ebenso die Idee der Ausgrenzung wie die Betonung der heterosexuellen Nachrichten und des in San Francisco gefeierten „Straight Freedom Day“.568 Das Bild der eine Polonaise bildenden männlichen Fruchtfliegen, die biologische Instinkte der Fortpflanzung gegen das Vergnügen an gleichgeschlechtlicher Sexualität durch ein Experiment der Neutralisierung des „Heterogens“ tauschen, dient der Ausweitung der homosexuellen Omnipräsenz in „Straight Fiction“:569 ,This stuff about the straight gene,’ said Cleve. ,They did an experiment on fruit flies? It’s so cute they’re called fruit flies. Now. Fruit flies are superstraight. They breed like crazy – a new generation every two weeks. In this experiment they neutralized the straight gene. And guess what. Usually, in the culture jar, the boy and girl fruit flies would be busy reproducing. Instead the boys all went off together and formed a conga line.’ (HW, 200)

In „Straight Fiction“ müssen sich Heterosexuelle als „Fortpflanzer” oder „Befruchter” beleidigen lassen, werden zum Objekt sozialer Ächtung und in den Marginalbereich der Gesellschaft zu einer

567 Vgl. dazu auch: „There was an aerial shot of the Straight Freedom Day Parade, in the Mission District, led by the Straight Freedom Day Marching Band. In cutaways, men and women of reassuringly – indeed, depressingly – earnest demeanour talked about straight concerns, straight demands, straight goals. Straight leaders and activists were coming to terms with their newfound political clout as the most important single voting bloc in a city where two in five adults were straight. The whole community. They had straight green-grocers, straight bank tellers, straight mailmen. They even had straight cops.” (HW, 204) 568 „On the TV: more straight news. The straight thing – it was kind of amazing. You got through life hardly giving it a second thought and then, suddenly, everywhere you looked… Hey: Here was a big item about Straight Freedom Day, as celebrated in San Francisco, ,the straight capital of the world’.” (HW, 204) 569 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Thematisierung von Homosexualität, Heterosexualität und Bisexualität in Dead Babies: „Marvell laughed uproariously. ‚Would you – would you honestly claim to be a ‚heterosexual‘? ,There are two sorts of bisexual,’ said Quentin. ,Homosexuals and ugly heterosexuals.’ ,Yeah, well I’m a fuckin heterosexual,’ said Andy. ,Andy: by saying that you realize you’re limiting your relationships to a mere half of the human race?’ ,Babies, babies. That’s hippie talk, boy.’ ,You truly want to limit yourself in this way?’ ,Yeah,’ said Andy.” (DB, 170)

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Art Subkultur verbannt.570 Invertierte Propagandametaphern in Zeitschriften konstatieren eine Welle der „Hetero-Seuche“ und erinnern in ihrer Ästhetik des Krankhaften, der Tendenz zur Pathologisierung und zum körperlichen Verfall an Konzepte einer sozialdarwinistischen Rassenhygiene. In Cleves vormals konservativer Einstellung vollzieht sich ein Wandel, der aus der neuen Verbindung zu Cressida entsteht: „He found he no longer laughed when friends cracked straight jokes. How many straights does it take to change a lightbulb?” (HW, 207) Heterosexuelle Verbindungen versetzen die Figuren in „Straight Fiction“ in einen Schockzustand, seine Freunde Irv und Orv erklären sich Cleves plötzliche Beziehung zu Cressida als ein aus den Sehnsüchten einer midlife crisis entstandenes Sexualexperiment: „‚Maybe it’s some kind of midlife thing. A rush of blood. He’ll be back.’ […] ,Get this. He says it’s not her tits and ass he ,admires’. It’s her wrists. It’s her collarbone.’ ,That really does sound straight.’” (HW, 220-1) Von seinen homosexuellen Freunden wird Cleve belächelt, wenn er entgegen machistischer Klischees den Fokus seiner körperlichen Anziehung anstatt auf Cressidas Brüste auf ihr Handgelenk richtet. Heterosexualität wird in „Straight Fiction“ als alternativer, von den Figuren wiederholt in Frage gestellter und diskriminierter Lebensentwurf vorgestellt und Cleves spontane sexuelle Flexibilität der Subkategorie der situationsbezogenen Heterosexualität zugeschrieben.571 Amis flicht eine intertextuelle Referenz auf Jane Austens Pride and Prejudice (1813) ein, ein Roman, der in „Straight Fiction“ durch die Propagierung heterosexueller Liebe von der homosexuellen Mehrheit als Minoritätenliteratur bewertet und dessen Handlungsstrang von Cleve als rewriting-Kommentar imaginiert wird: „[E]very time I read it I’m on the edge of my seat, rooting for Elizabeth and Mr Darcy. You know – will Elizabeth finally make it with Charlotte Lucas? Will Mr Darcy finally get it on with Mr Bingley? I mean, I know everything’s going to turn out fine. But I still suffer. It’s ridiculous.” (HW, 208) Der Titel „Straight Fiction“ verweist auf die Fiktionalität einer Welt, die die Normativität von Homosexualität anerkennt. Ebenso wie in „The Little Puppy That Could“ entwirft Amis einen Raum, der inferiorisierende Alteritätsstrukturen nicht aufzulösen im Stande ist, sondern lediglich einer Neuausrichtung unterzieht, so dass stereotypisierende Klischees in beiden Erzählungen im Zentrum der narrativen Welt verharren. Die Inversion der Geschlechterrollen vollzieht er dabei im

570 Cressidas Schwangerschaft wird in „Straight Fiction” zum Symbol der heterosexuellen Marginalisierung: „Cleve looked, but everybody looked at Cressida, whose sexual destiny, every day, was more and more candidly manifest. No need to out Cressida, not now… They didn’t talk about it. They talked about books. But as he escorted her from the Idle Hour, west, to the brink of Christopher Street, he noticed how people stared and pointed and whispered. Oh, Cleve knew what they were saying (he’d said such things himself, and not so long ago): reproducer, carrier, bearer, spawner, swarmer. On Greenwich Avenue, one time, an old woman called him a fertilizer. So they weren’t just staring at Cressida: they thought Cleve was straight.” (HW, 213) 571 Vgl. dazu auch Kicos feindliche Reaktion: „,Take them to Madagascar. That’s what they need.’ ,Come on, Kico. Stop this ugly shit.[…]’ ,So you think they okay. They the same.’ ,Not the same, but they have lives to live. More than that, you could say it’s a tough call. Being straight.’ ,They sick, men.’” (HW, 204-5)

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Dienste eines feministischen rewriting Programms, das gegen konventionelle Konzepte von gender und sexueller Normativität anzuschreiben versucht. Die Paradoxie der Geschlechterrollen findet ihre groteske Überspitzung in der Inszenierung pornographischer Welten. Die Weichen für die Pornographisierung der Gesellschaft werden auch in Errungenschaften der sexuellen Revolution sichtbar, die zu einer rapiden Entwicklung und Ausweitung der Pornographiebranche beigetragen hat.572 Bei Amis bildet die Paradoxie der Interdependenz zwischen sexueller Revolution und Pornographie eine weitere Steigerung invertierter Sexualnormen.

572 Vgl. Helen E. Longino, „Pornography, Oppression, and Freedom: A Closer Look”, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Laura Lederer (New York: William Morrow and Company, Inc., 1980), 40-54; 40: „The much-touted sexual revolution of the 1960’s and 1970’s not only freed various modes of sexual behavior from the constraints of social disapproval, but also made possible a flood of pornographic material. According to figures provided by WAVPM (Women Against Violence in Pornography and Media), the number of pornographic magazines available at newsstands has grown from zero in 1953 to forty in 1977, while sales of pornographic films in Los Angeles alone have grown from $15 million in 1969 to $85 million in 1976.”

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8. „Banish porno, and you banish all the world”: Paradoxie und Pornographie

Der Sexualpsychologe Christoph Joseph Ahlers formuliert in einem Interview für das Zeit Magazin eine Bestandsaufnahme der Tendenzen zeitgenössischer Pornographie. Das Forschungsgebiet der Sexualwissenschaft befindet sich momentan in einer ganz eigenen Ära des Postmodernen: Es ist zurzeit en vogue, als Sexualwissenschaftler zu sagen, anything goes, alles easy, Porno- Kompetenz und so weiter. Ich komme mir daher selbst ein bisschen vatikanisch vor, wenn ich sage, wir befinden uns hier in einem weltweiten Feldversuch ohne Ethikkommission. 300 Millionen Menschen rufen pro Monat die Sexseiten des YouPorn-Imperiums auf. Und da sprechen wir ja noch von Standardpornografie.573

Die Betonung der Absenz von ethischer Kontrolle im Bereich des Pornographischen stellt einen wesentlichen Faktor in der Untersuchung des gesellschaftlichen, durch die sexuelle Revolution initiierten Wandels dar. In The Pregnant Widow wird Pornographie vor dem Hintergrund der sexuellen Revolution als Vermarktung der Loslösung von Sexualität von der Ebene des Gefühls definiert: „A topic sentence. Pornographic sex is a kind of sex that can be described. Which told you something, he felt, about pornography, and about sex. During Keith’s time, sex divorced itself from feeling. Pornography was the industrialisation of that rift.” (PW, 461) Amis hat es sich zum literarischen Programm gemacht, den Leser mit skandalös- provokanten Geschichten zu schockieren, düstere, bedrohliche Welten zu öffnen und diese mit einem fragwürdigen Figureninventar auszustatten, das dem Rezipienten dennoch empathische Momente abringen kann. Immer wieder wird der Leser mitgenommen in satirische Welten, die in ihrer Subversivität und multidimensionalen Widersprüchlichkeit zentrale literarische sowie kulturelle und soziale Fragestellungen mit eindringlicher Vehemenz aufgreifen. Der Entwurf einer abgrundtiefen Zerrissenheit, einer Kulminierung der menschlichen Krise mit dem Blick auf eine degenerierende Welt, die mit konventionellen Denkmustern nicht mehr nachvollziehbar zu sein scheint, fordert den Leser häufig zur Auseinandersetzung mit der Paradoxie soziokultureller Fragen der Gegenwart heraus. Eine wichtige Dimension des paradoxen Potentials in Amis‘ Gesamtwerk liegt in der Symbiose von Feminismus und Pornographie, zwei Seiten derselben Medaille, die Amis paradoxerweise durch den Akt der Verschmelzung dechiffrierbar machen will. Er selbst distanziert sich vom Bereich des pornographischen Schreibens und sieht den wesentlichen Faktor für die Klassifizierung pornographischer Literatur in der möglichen sexuellen Erregung des Autors:

573 Heike Faller, „Vom Himmel auf Erden: Wissen wir wirklich alles über Sex? Ein Gespräch mit dem Sexualpsychologen Christoph Joseph Ahlers“, Zeit Magazin 18 (2013): 24-32; 32.

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I think the feminists have got a very strong argument against pornography, but I don’t think it’s a civil-rights issue. Many women take pornography as an organized attack but it isn’t that: it’s just a nasty way of making money for all the people who are in it […]. There are certainly one or two pornographic scenes in Money, and they’re there for the effect they have on the narrator: he has no resistance to pornography, or to any other bad thing. It’s very easy for me to decide that I don’t write pornography, because I’m sure that one of the definitions of pornography would have to be that the creator of pornography is excited by it, and I’m not excited by anything except by how I’m going to arrange the words. All definitions, by the way, would have to include the element of money.574

Im Vorwort zu The War Against Cliché bestimmt Amis die Funktion des Schreibens durch folgende Quintessenz: „To idealize: all writing is a campaign against cliché. Not just clichés of the pen but clichés of the mind and clichés of the heart.” (WAC, xv) Amis sieht die Aufgabe von Literatur im rationalen Aufbrechen von und der Kampfansage an geistige Klischees, überholte Ideen, veraltete Weltbilder und – um es mit der in The Advancement of Learning (1605) benutzten Baconschen Bildlichkeit der Idole zu umschreiben – verstaubte Spinnweben des Geistes, die als Träger einer docta ignorantia unvermeidbare Erkenntnisfehler induzieren.575 Paradoxien erweisen sich in diesem Zusammenhang als Waffe gegen gesellschaftlich intrinsische Denkmuster, sie werden als Werkzeug im Dienste der Entlarvung geistiger Klischees funktionalisiert und stützen gleichzeitig eine neue Dimension der Ungewissheit eines grundlegenden Skeptizismus. Ihre verstörende Natur konfrontiert den Leser mit der Infragestellung utilitaristischer Aspekte und den Grenzen der Idee des angeblich Selbstverständlichen oder Allgemeingültigen, das sich aus kulturellen und sozialen Normen, Wertvorstellungen und Konventionen zusammensetzt.

8.1 Eine Bestandsaufnahme der Pornographie: Pornoland und die literarische Inszenierung in Yellow Dog Die literarische Auseinandersetzung mit pornographischen Inhalten geht bei Amis weit über den Zweck der Unterhaltung und Sensationslust des Lesers hinaus. Die Dechiffrierung der Motivation pornographischer Darstellungen ergibt sich aus der Lektüre seines 2001 entstandenen Essays „A Rough Trade“, der gemeinsam mit Stefano De Luigis Photographien in dem Bildband Pornoland (2004) veröffentlicht wurde. Verschiedenste Momentaufnahmen der amerikanischen Pornoindustrie bedienen den Leser und Betrachter mit Fragmenten und Splittern aus einer Welt, die trotz oder gerade aufgrund ihrer animalisch anmutenden Rohheit und brutalen Banalität eine gewisse Faszination auszuüben vermag. Amis setzt die absurd-extreme Ausbreitung von Pornographie in Relation zu anderen Wirtschaftssektoren; die Schlussfolgerung bleibt entschieden

574 Haffenden, „Martin Amis”, in: Novelists in Interview, ed. Haffenden, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 64. 575 Vgl. für einen Überblick zu Bacons Idolenlehre Francis Bacon, The Advancement of Learning, ed. William Aldis Wright (London: Macmillan, 1868) und Wolfgang Krohn, Francis Bacon (München: C.H. Beck, 1987), 93-107.

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simpel, man hat es mit einem Mega-Imperium, einer regelrechten Super-Macht und Über- Industrie zu tun, einer allgegenwärtigen und permanent verfügbaren Form von ,Pornopotenz‘ sozusagen, die die gegenwärtige kulturelle Entwicklung der Vereinigten Staaten maßgeblich beeinflusst.576 Die dunklen Abgründe der Pornoindustrie schlagen sich in einer der Gesellschaft injizierten Überdosis an Omni-Potenz nieder, die aufgrund ihrer sedierenden Wirkung die pornoorientierte Masseninfizierung zum Ausgangspunkt kultureller Degeneration werden lässt.577 Bezeichnenderweise ist Pornographie nicht nur weiter verbreitet und mehr genutzt als jegliche andere Form von Kultur, sondern auch eingebettet in eine Industrie, die in einer übersexualisierten Welt fast den Status von Normalität und den Anschein eines Alltagsprogramms erlangt, aber dennoch, und hier öffnet sich eine weitere Ebene des kulturellen Paradoxons, wie eine Subkultur wahrgenommen wird. Die Etablierung von Pornographie als eigenständigem Sektor des kulturellen Programms ist gewiss kein Novum, aber mediale Veränderungen haben in den letzten Jahrzehnten eine Verharmlosung und Ästhetisierung von Pornographie zu verantworten. Die aktuell verbreitete Form von Pornographie wird immer tabubrechender und grenzüberschreitender inszeniert und erklärt die kontinuierlich ansteigende Verrohung gesellschaftlich getragener Sexualnormen und ein gewandeltes Bewusstsein für Sexualität.578 Die breite Masse nutzt Pornographie als Entertainment und erhebt pornographische Medien – und damit ist nicht etwa der Schulmädchenreport (1970) aus den Siebzigern gemeint, sondern explizite hardcore-Pornographie – zur salonfähigen, als massentauglich wahrgenommenen Unterhaltung. Im Zeitalter von YouPorn ist somit der buchstäbliche Höhepunkt der Übersexualisierung im Bereich der sozialen Medien unweigerlich erreicht. Amis widerlegt in Pornoland die Auffassung der auch innerhalb der

576 Andrea Dworkin weist schon im Jahr 1981 in ihrer Abhandlung Pornography: Men Possessing Women auf die fragwürdig kommerzielle Entwicklung pornographischen Materials und der erleichterten Zugänglichkeit zu pornographischen Inhalten hin. Der Einzug des Pornographischen in die Sphäre des Domestischen und die Etablierung im Alltäglichen wird in Anbetracht der derzeitigen Verbreitung und Verfügbarkeit als Grundlage für eine ansteigende Pornographisierung des Alltags herangezogen (vgl. Andrea Dworkin, Pornography: Men Possessing Women (London: The Women’s Press, 1981), 201). 577 „Whatever porno is, whatever porno does, you may regret it, but you cannot reject it. To paraphrase Falstaff: banish porno, and you banish all the world.” (Martin Amis and Giovanni de Luigi, Pornoland (London: Thames and Hudson, 2004), 7; im Folgenden P) 578 Schon im Vorwort zu Pornotopia kommentieren die Herausgeber die ansteigende Transparenz des Pornographiebetriebs und die Verschiebung aus der Marginalzone des kulturellen Angebots in Richtung des kulturellen Zentrums: „Pornographie ist nicht mehr wie in vergangenen Zeiten und noch bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hinein eine kaum sichtbare und weitgehend ignorierte Begleiterscheinung des Kulturbetriebs. Sie drängt sich in den Vordergrund unseres Lebens; sie verlangt ungestüm nach Anerkennung und Etablierung in unserer Welt; sie beansprucht, Kunst und Wissenschaft zu sein, ein Fanal der Freiheit von allen möglichen Zwängen, ja geradezu ein Hort der Menschlichkeit in einer unmenschlichen Gesellschaft.“ (Edgar Mertner und Herbert Mainusch, Pornotopia: Das Obszöne und die Pornographie in der literarischen Landschaft (Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, 1970), 6)

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Pornoindustrie gerne benutzten Phrase des mainstream porn, in dem er explizit auf den Kontrast von Pornographie und Massenkompatibilität verweist:579 In any case, porno is littered – porno is heaped – with the deaths of feelings. Every time a porno star opens a megastore, or advertises a line of perfume, or does a walk-on in a TV show, porno people start saying that porno is ,mainstream’, that porno is hip, that porno is cool. Is masturbation hip? It doesn’t feel hip. And it doesn’t look hip either: you don’t see anyone doing it. Porno can never be mainstream, partly because if the contrarian nature of the form. For Porno to become mainstream, human beings would have to change. (P, 16)580

Dass Amis bei seinen Überlegungen auf die Idee einer mit Pornographie im Konflikt stehenden universellen condition humaine eingeht, unterstreicht die im pornographischen Akt angelegte Diskrepanz zwischen Natürlichem und Künstlichem.581 Äußerste Formen der Artifizialität von Performanz und Inszenierung sollen den Liebesakt im Angesicht seiner natürlichsten und intimsten Form simulieren, offenbaren aber im Kern das dieser Verbindung heterogener Bereiche innewohnende conceit, auf dem die paradoxe Dimension des Pornographischen basiert. Ihre nonkonformistische Form lässt Pornographie daher in einem stark marginalisierten Raum verharren, da es nicht dem Wesen des Menschen entspricht, Pornographie die Stelle der Orthodoxie zukommen zu lassen. Der Klappentext von Pornoland, jenem konstruierten Raum, für den Amis mit „A Rough Trade“ eine Art Soziogramm, eine Sozialstudie des Gewerbes und dessen Darstellern entwirft, ordnet diesen allegorisierbaren Ort als einen Raum der Perversion und eine pervertierte Parallelwelt ein:

579 Gängige Begriffe der Verniedlichung von Pornographie, wie ‚Porno‘ oder ‚Porn‘ zeigen, inwieweit sich der Bereich des Pornographischen einen Platz in der Unterhaltungsbranche und den Medien gesichert hat, institutionalisierten Charakter angenommen hat und als Resultat daraus fester Bestandteil der Gegenwartskultur geworden ist (vgl. Longino, „Pornography, Oppression, and Freedom: A Closer Look”, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Lederer, 47-8): „Its acceptance by the mass media, whatever the motivation, means a cultural endorsement of its message.“ (Ebd., 48) Demzufolge wirkt nicht allein pornographisches Material, sondern auch die soziale Akzeptanz oder Toleranz derart degradierender, dehumanisierender Darstellungen von Frauen gesellschaftlich schädigend (vgl. ebd.). Generell zeigte sich lange eine verharmlosende Form von Sprache in pornographischen Schriften, auch mit der Absicht, die Anstößigkeit und Derbheit im Dienste einer Verfeinerung von Sprache zu reduzieren und Inhalte möglichst abstrakt, idealisiert und wenig konkret zu fassen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt hier ein Wandel hin zu konkreteren, extremeren Inhalten ein (vgl. Mertner und Mainusch, Pornotopia, 110): „In ihren historischen Erzeugnissen sprach die Pornographie, die etwas auf sich hielt, die Sprache des gehobenen Bürgertums; im 18. Jahrhundert paßte sie sich sogar der sentimentalen Mode an. Bei einer Reihe neuerer Pornographien läßt sich das heute noch beobachten. Mit Vorliebe bediente sie sich, wie übrigens auch die Liebesdichtung, eines religiösen Vokabulars, nicht zuletzt um ihre feste Verwurzelung in der bürgerlichen Welt zu unterstreichen.“ (Ebd.) 580 Vgl. dazu auch in Yellow Dog, 237: „,You mean you say you don’t watch pornography. […] You’re just a generation out – you’re still obliged to disapprove of it. It’ll take a while, but pornography is heading for the mainstream. The industry, now, is always saying how respectable it is.[’]” Amis etabliert in Yellow Dog eine dystopische Zukunft, in der zeitgenössische, in Pornoland adressierte Standards längst überholt sind und eine Redefinition der Kategorien Sexualnorm und Perversion stattgefunden hat. 581 Als Grundbedingung für den pornographischen Effekt kann eine Art der Humorlosigkeit verstanden werden, die nur durch das Element des Artifiziellen funktioniert: „,They go together, don’t they – porno and puns? It couldn’t be otherwise. Because humourlessness is the lifeblood of porno. One genuine smile, and everything would disappear.’” (YD, 270)

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A land where sex is simulated, evoked, glorified, supercharged in the extreme, a land where everything is about the body, in its possible and perverse sexual combinations […]. This is Pornoland, a strange, parallel world where pornographic films are churned out on a daily basis.

Michel Foucault sieht Utopien als nicht lokal konkret und definierbar und als Gegensatz zum realen Raum innerhalb einer Gesellschaft, die entweder deren Perfektionierung oder Kehrseite symbolisch repräsentieren sollen. Heterotopien versteht er als Gegensatz zu Utopien und geographisch existente, reale Orte, aber gleichzeitig Räume, die in die Gesellschaft „hineingezeichnet“ sind,582 als „Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“583 Pornoland symbolisiert als Ort der Antiidylle und paradoxer Perversion das Kontrastprogramm eines locus amoenus, oder einer gesellschaftlichen Utopie, nimmt heterotopischen Charakter an und erschafft dadurch eine abstrakte Ebene für die Analyse der Pornoindustrie mit ihr inhärenten Regeln und Wertesystemen. Die Welt sexueller Frivolitäten, harmloser Schmuddelheftchen und einschläfernder Softpornos skizziert Amis schon lange vor der Veröffentlichung von Pornoland in den essayistischen Kulturanlysen über die Zeitschrift Playboy, deren Herausgeber Hugh Hefner und dessen Spielgefährtinnen, den playmates.584 In den kulturellen Studien beschreibt Amis die sich in den Alltag einschleichende Übersexualisierung der Massen, mit all ihrem Testosteron, Silikon, Lack-und-Leder-Fetisch, Sonnenbank-Flair, der Hommage an Artifizialität und der Aufwertung alles Unnatürlichen, frei nach dem Motto der zeitgenössischen XXL-Konsumkultur „je größer, desto besser“. Mit Pornoland nähern sich die Herausgeber jedoch einem anderen, weitaus problematischeren Milieu an, einem, das mit kokettierend aufreizender und bürgerliche Werte provozierender Freizügigkeit nicht viel gemein hat, dem Reich der hardcore-Pornographie. Diese öffnet eine Welt, in der Anzüglichkeit zu abgrundtiefer Anstößigkeit und Frivolität zur drastischen Verrohung gesellschaftlicher Werte umgemünzt wird. Zentrale Angriffspunkte stellen aus feministischer Sicht die fast immer männliche Perspektive pornographischer Darstellungen und deren Fokus auf die Befriedigung sexueller Männerphantasien dar. Aus dem einseitigen Blickwinkel von Pornographie resultiert die Forderung einer Verschiebung weiblicher Sexualität aus den Randgebieten des Pornographischen ins Zentrum sowie die Etablierung von weiblichen

582 Vgl. Michel Foucault, „Andere Räume“, übers. Walter Seitter, in: Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter (Leipzig: Reclam, 1990), 34-46; 38-9. 583 Ebd., 39. 584 Vgl. dazu in The Moronic Inferno den Essay „In Hefnerland“, in dem sich Amis mit dem Lebenswandel von Hugh Hefner auseinandersetzt.

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Pornographen, um eine Neubestimmung von Pornographie frei von misogynen Inhalten anhand neuer, am explizit weiblichen Blick orientierter, Darstellungsformen und Bilder zu erlangen, aber auch den Bezug auf distinktive emotionale Beziehungen und eine engere Verknüpfung zum soziokulturellen Kontext herzustellen.585 Obwohl Pornographie auch eine mit der Akzeptanz sexueller Unterdrückung einhergehende weibliche Rhetorik des Schweigens erkennen lässt, kann der exponentiellen Ausbreitung von Pornographie ein paradoxerweise auf ihr basierender weiblicher Widerstand gegen männliche Gewalt zugestanden werden.586 Im Sinne der Paradoxie des „beredten Schweigens“ betont die Verbindung zum Mythos der Philomela wiederum die gegenseitige Abhängigkeit von weiblicher Unterdrückung und männlicher sexueller Gewalt.587 Der Regisseur John Stagliano, den Amis im Rahmen der Recherchen zu Pornoland interviewt, offenbart einen Einblick in die paradoxe Verwurzelung der Geschlechterrollen in der Pornofilmindustrie. Frauenfiguren sollen für den Mann immer und überall verfügbar sein, sich ihm hingeben, unterwerfen und Lust befriedigen, sich erniedrigen und in weibliche Klischees zwängen lassen, dadurch Geschlechterstereotype bestätigen und sich aus der Perspektive eines männlichen Blicks abbilden lassen. Gleichzeitig sollen sie selbst Testosteron ausschütten, Phantasien erfüllen, allzeit bereit sein, sexuelle Gier und Begierde ausstrahlen und die Rolle der männerverschleißenden Nymphomanin verkörpern. Die feministische Kritik zeichnet sich vor dem Hintergrund standardisierter pornographischer Geschlechterrollen deutlich ab: Let us embark by considering the persistence and power of pornography. Its place at the pinnacle of the sexist iconography of insatiable male sexual activity and ubiquitous female sexual availability is obvious in most of its manifestations. Pictures, movies, texts, all deliver up ,his’ tirelessly active, rock-solid penis, ,her’ slavishly desiring, wide-open cunt. […] In pornographic fantasy women are available, and women are satisfied. Men can passively consume them, hallucinating their own active engagement.588

585 Vgl. Lynne Segal, Slow Motion: Changing Masculinities, Changing Men (New Brunswick: Rutgers University Press, 1995 [1990]), 230. 586 Vgl. ebd., 227. Segal grenzt sich von Dworkins Ansatz der Korrelation von Pornographie und weiblicher Unterdrückung ab. Ebd.: „Violence against women long predates the explosion of commercial pornography, and historically and geographically exhibits little or no relation with its incidence and consumption. Indeed, contrary to Dworkin’s picture, in which pornography silences women and teaches us that we must tolerate sexual assault and physical violation, it is precisely since the 1970s, and the explosion of pornography in the West, that women have been most vociferously – and successfully – objecting to men’s violence against them.” 587 Für eine detaillierte Studie zum Philomela-Mythos in der Literatur vgl. Lena Behmenburg, Philomela: Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters (Berlin: de Gruyter, 2009). 588 Segal, Slow Motion: Changing Masculinities, Changing Men, 217-8. Dworkin formuliert diesen Gedanken noch drastischer: „The word pornography does not have any other meaning than the one cited here, the graphic depiction of the lowest whores. Whores exist to serve men sexually. Whores exist only within a framework of male sexual domination. Indeed outside that framework the notion of whores would be absurd and the usage of women as whores would be impossible.” (Dworkin, Pornography: Men Possessing Women, 200) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Argumentation bezüglich der inszenierten Geschlechterrollen der Pornographie in Mertner und Mainusch, Pornotopia, 120: „Nach der Meinung der meisten Kritiker ist die Pornographie ein Gebilde, das von Männern für Männer geschrieben ist. Demzufolge lebt die Pornographie aus der Fiktion der unerschöpflichen Potenz des Mannes und der unermüdlichen Hingabebereitschaft der Frau.“ Auch Carter identifiziert diese Inszenierung der

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Das Klischee der idealen Frauenrolle im zeitgenössischen amerikanischen Pornofilm wird durch ein Frauenbild bedient, das in einer Vereinigung der Geschlechterdifferenzen sowohl konventionell „weibliche“ Attribute als auch „männliche“ Züge in sich trägt und entlarvt sich in der Metaphorik des bereits erwähnten Testosteron im weiblichen pornographischen Körper in seiner paradoxen Natur selbst.589 Die Beliebtheitsskala der in den Filmen ausgeübten Sexualpraktiken spiegelt eine unübersehbare Form der sozialen Misogynie wider, wenn der heterosexuelle Akt und somit im weitesteten Sinne auch das weibliche Geschlechtsorgan überflüssig gemacht werden. Die in „A Rough Trade“ erwähnte „Pussies Are Bullshit“-Parole geht explizit mit weiblicher sexueller Unterdrückung einher: die Abwertung des weiblichen Geschlechtsorgans und die im kontinuierlich ansteigenden Fokus auf Analverkehr zu erkennende männliche Dominanz reflektiert die Unterdrückung der Frau im pornographischen Sexualakt.590 Eine weitere Ebene des pornographischen Paradoxons suggeriert die Verbindung von Lust und Schmerz, von Sex und roher Gewalt, die auch medial wachsenden Zuspruch findet. Die Tendenz zur tabubrechenden Kombination aus Lust und Schmerz und die Darstellung von brachialer Gewalt, jenseits der seicht-sadomasochistischen Fifty Shades of Grey-Gewässer,591 wird auch von Stagliano zur Bestätigung inhaltlicher Tendenzen der Pornofilmindustrie herangezogen, wenn er über den Darsteller Rocco und dessen Umgang mit inszenierter Gewalt am Set von Filmproduktionen berichtet: „I was the first to shoot Rocco. Together we evolved toward rougher stuff. He started to spit on girls. A strong male-dominant thing, with women being pushed to their limit. It looks like violence but it’s not. I mean, pleasure and pain are the same thing, right?” (P, 1-

Geschlechterrollen, sie erkennt in The Sadeian Woman in der Kunst des Graffiti eine Form ikonographisch ins Bild gesetzter Pornographie: „In the stylisation of graffiti, the prick is always presented erect, in an alert attitude of enquiry or curiosity or affirmation; it points upwards, it asserts. The hole is open, an inert space, like a mouth waiting to be filled. From the elementary iconography may be derived the whole metaphysic of sexual differences – man aspires; woman has no other function but to exist, waiting. The male is positive, an exclamation mark. Woman is negative. Between her legs lies nothing but zero, the sign for nothing, that only becomes something when the male principle fills it with meaning.” (Angela Carter, The Sadeian Woman: An Exercise in Cultural History (London: Virago, 2006), 4) 589 „,You want guys who […] make the girls look more… virile.’ Virile of course, means manly; but once again Stagliano is using the King’s English. You want the girls to show you ,their testosterone’.” (P, 1) Vgl. dazu die intertextuelle Referenz auf „A Rough Trade“ in Yellow Dog: „Immediately there was an overwhelming emphasis on male-female sodomy. The rallying cry was Pussies Are Bullshit. They’d sign off with it on the phone: ,Pussies Are Bullshit!’ One director said, ,With anal, the actress’s personality comes out.’ Oh sure: her personality. They talked about female virility, female testosterone.” (YD, 269) Der Topos der männlichen Frauen oder „virile women” verkörpert ein literarhistorisches Motiv, das insbesondere in Figuren wie Amazonen und Walküren zu finden ist. In der griechischen Mythologie wurden die Amazonen als barbarische Feinde der Männerwelt und der Ehe wahrgenommen: „They too embody the martial virtues that are usually the preserve of men. The popular imagination was so struck by them that it instinctively gave them the supernatural attributes of wings, and connected them to Odin, though this certainly represents a development of the way in which they were originally depicted. The rather fraught prestige of these creatures who transgress our sexual categories has never faded, to the extent that Woman has always been felt to be the Other, the holder of powers that, normally, are not supposed to belong to her.” (Régis Boyer, „Virile Women”, in: Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes, ed. Brunel, 1159-62; 1159-60) 590 Vgl. Finney, Martin Amis, 140. 591 E.L. James trug mit dem Bestseller Fifty Shades of Grey (London: Arrow Books, 2012 [2011]) maßgeblich zur aktuellen Entwicklung einer Etablierung der Sadomasochismus-Kultur im Bereich des Kommerziellen bei.

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2) Die Gleichsetzung von Lust und Schmerz symbolisiert die für Pornographie typische Verschmelzung ontologischer Grenzen und storniert gängige Sexualnormen durch die pervertierte Verknüpfung zweier heterogener Gefühlsbereiche.592 Amis erkennt in „A Rough Trade“ Pornographie als Emblem der Verbindung von eros und thanatos: „[P]orno, it seems, is a parody of love. It therefore addresses itself to love’s opposite, which are hate and death.”(P, 14)593 Das in Pornoland angelegte essayistische Denkangebot offeriert bei der Absteckung des untersuchten Gegenstandsbereichs eine auf etymologischen Erklärungen basierende Definition von Pornographie, dem Schreiben über Prostituierte: „In etymological terms pornography is what I’m doing: I’m writing about whores.” (P, 10) Gloria Steinems ausführlichere Definition soll als Grundlage für den Pornographiebegriff herangezogen werden, da darin die zentrale Differenzierung der Konzepte von Erotik und Pornographie erkennbar ist: After all, ,erotica’ is rooted in ,eros’ or passionate love, and thus in the idea of positive choice, free will, the yearning for a particular person. (Interestingly, the definition of erotica leaves open the question of gender.) ,Pornography’ begins with a root ,porno,’ meaning ,prostitution’ or ,female captives,’ thus letting us know that the subject is not mutual love, or love at all, but domination and violence against women. (Though, of course, homosexual pornography may imitate this violence by putting a man in the ,feminine’ role of victim.) It ends with a root ,graphos,’ meaning ,writing about’ or ,description of,’ which puts still more distance between subject and object, and replaces a spontaneous yearning for closeness with objectification and voyeurism.594

Der distinktive Unterschied zur Erotik liegt in der Absenz der freien Entscheidung und dem Element der weiblichen Unterdrückung und Ausübung roher Gewalt. Die durch das Schreiben implizierte Distanz zwischen Subjekt und Objekt wird durch den voyeuristischen, objektivierenden Blick wiederum verringert. In Pornoland wird die etymologische Definition von Pornographie auch von der Darstellerin Chloe aufgegriffen, die Amis für seine Recherchen in ihrem Arbeitsalltag begleitet. In ihrer naiv reflektierten Selbsteinschätzung lässt sie eine Referenz auf Steinems Definition erkennen:

592 Als Urheber dieser Algolagnie gilt seit Ende des Fin de siècle der Marquis de Sade. Vgl. Mertner und Mainusch, Pornotopia, 118: „Sade hat lange Zeit auf die Entwicklung der Pornographie nur geringen Einfluß ausgeübt, bis er am Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Auftauchen seines verloren geglaubten Werkes Die 120 Tage von Sodom von der neuen Sexualwissenschaft als Entdecker der Algolagnie, der Verbindung von Wollust und Schmerz, gepriesen wurde. Die Propagierung und Präparierung Sades für einen Platz unter den großen Geistern seiner Zeit oder aller Zeiten fällt mit einer Entwicklung der Pornographie zusammen, angesichts derer alle bisherigen Definitionsversuche als Verharmlosung erscheinen müssen und schon deswegen eher zur Vernebelung als zur Klärung des Phänomens beitragen.“ Vgl. zur Verbindung von Sexualität und Schmerz die Werke des Marquis de Sade, Die 120 Tage von Sodom (1785), Justine (1791) und Juliette (1797). 593 Vgl. dazu auch in London Fields: „Keith wouldn’t kill for love. He wouldn’t cross the road, he wouldn’t swerve the car for love. Nicola raised her eyes to heaven at the thought of what this would involve her in sexually. And in earnest truth she had always felt that love in some form would be present at her death.” (LF, 72) 594 Gloria Steinem, „Erotica and Pornography: A Clear and Present Difference“, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Lederer, 35-9; 37. Vgl. dazu auch in The Moronic Inferno, 157: „Even the commonsensical Ms Steinem believes that pornography is the ,propaganda’ of ,anti-woman warfare’, sensing conspiracy rather than mere weakness and chaotic venality. In the hot-and-cold hostilities between the sexes, there is still plenty of paranoia on either side.”

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Chloe was unforgettable. I won’t forget the way she said this (she said it with sorrowful resolve): ,We’re prostitutes. […] There are differences. You can choose your partners, and they’re tested for Aids – you won’t get your john to do that. But we’re prostitutes: we exchange sex for money.’ ,You’ve thought this through.’ ,I looked it up in the dictionary and that’s what it says.’ (P, 10)

Im Rahmen seiner Recherchen zu Pornoland interviewte Amis verschiedene Produzenten und Darsteller, hielt sich am Set von Filmproduktionen auf und analysierte pornographisches Filmmaterial. Die moralischen Grenzen, die durch Pornographie zunehmend überschritten werden, definieren sich in erster Linie über ihre Rezeption. Amis beschreibt den Pornographieeffekt, hinterfragt den Umgang mit Wertvorstellungen und sozialen Normen sowie die Art, wie diese wiederum durch Pornographie in Frage und auf den Kopf gestellt werden. Jegliche Form pervertierter sexueller Neigung wird irgendwann durch Pornographie illustriert. Die Konsequenzen für den Rezipienten in seiner direkten Auseinandersetzung mit der Lust an pervertierter Sexualität, implizieren immer auch einen Angriff auf die Unversehrtheit der menschlichen Seele, transportieren aber in erster Linie die Idee einer „polymorphen Perversion“: Gore Vidal once said that the only danger in watching pornography is that it might make you want to watch more pornography; it might make you want to do nothing else but watch pornography. There is, I contend, another danger. As I sampled some extreme productions on the VCR in my hotel room, I kept worrying about something. I kept worrying that I’d like it. Porno services the ,polymorphous perverse’: the near-infinite chaos of human desire. If you harbor a perversity, then sooner or later porno will identify it. You’d better hope that this doesn’t happen while you’re watching a film about a coprophagic pigfarmer – or an undertaker. (P, 10-1)

Amis‘ Studie über die US-amerikanische Pornoindustrie zwängt dem Leser die Beachtung von Aspekten der Doppelmoral, Heuchelei und einer stark in der sozialen Mittelschicht angelegten Prüderie förmlich auf, Themenkomplexe und Fragestellungen, die vor allem auch im viktorianischen England Gegenstand des Sexualdiskurses waren.595 Die Unterscheidung, die Amis in seinem Essay bezüglich Prostitution und Pornographie trifft, wartet mit einer starken Bildlichkeit auf, er sieht die Darstellerin Chloe als zeitgenössische Gladiatorin, die sich aktiv aus ihrem Dasein als gefangene Sklavin und Abhängige befreien kann.596 Die Gladiatoren-Metapher greift Amis auch in Yellow Dog in der Beschreibung von Little Hollywood, dem Mekka der amerikanischen Pornoindustrie auf: Working is what they’re doing and that’s why they look so old: old in the eyes. Is pornography just filmed prostitution or is it something more gladiatorial? Those hospitalic condoms: they don’t keep them on at the end. And the face has holes in it. […] Gladiators: were slaves. But

595 Vgl. in diesem Zusammenhang auch William Actons Schrift The Functions and Disorders of the Reproductive Organs aus dem Jahr 1857, in der die Funktionen und Krankheiten der Geschlechtsorgane in Form eines Aufklärungsbuchs thematisiert und der Körper und Sexualität in einem mechanistischen Ansatz erklärt werden (vgl. Mertner und Mainusch, Pornotopia, 113). 596 „No, Chloe, you are not a prostitute, not quite. Prostitution is the oldest profession. And porno is the newest profession. You are more like a gladiator: a contemporary gladiator. Of course, the gladiators were slaves – but some of them won their freedom. And you, I think, will win yours.” (P, 16)

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could win their freedom. What exactly has happened to you? he asked himself. Slave, thou hast slain me. Villain, take my purse. If ever thou wilt thrive, bury my body. (YD, 259)597

Der historische Wandel der Begriffe und Gegenstandsbereiche der Paradoxie und der Pornographie potenziert deren subversives Element gleichermaßen. Zudem wurden der Pornographie im Laufe ihrer historischen Entwicklung verschiedene Funktionen zugeschrieben, wie sexuelle Stimulierung, didaktische Absichten, Belehrung und Unterhaltung.598 Das Paradoxiepotential der Pornographie ist auch in der grotesken Verzerrung der Wirklichkeit im inszenierten Liebesakt, in Aspekten ihrer wesenhaften Isolierung und Entkontextualisierung, der Absenz von Konsequenzen und der Distanzierung vom Individuum zu erkennen.599 Die paradoxe Unterscheidung zwischen Pornographie und dem obszönen literarischen Kunstwerk scheint auf der Basis rezeptionsästhetischer Überlegungen insbesondere dort sinnvoll, wo das obszöne Kunstwerk einen gesellschaftskritischen Anspruch erhebt und zur expliziten „Lebenskritik“, zu einer anstrengenden, unbequemen Auseinandersetzung wird, während Pornographie durch das außer Acht lassen dieser Aspekte auf das komplette Gegenteil abzielt.600 Auch der Widerspruch zwischen dem Anspruch, die pornographische Sphäre möglichst realitätsnah nachahmen zu wollen, und der gleichzeitigen Einbettung in einen Kontext des Utopischen, fast Phantastischen, nährt die Geisteshaltung des Paradoxen, wie sie in so vielen Facetten innerhalb der Pornographie aufzudecken ist.601 Die Legitimationsstrategie für Pornographie ist die vermeintliche Abbildung dessen, was sonst aufgrund sozialer Zwänge und

597 Vgl. Oswalds letzte Worte in Shakespeares King Lear: „Slave, thou hast slain me. Villain, take my purse. If ever thou wilt thrive, bury my body[.]“ (William Shakespeare, King Lear, R.A. Foakes, ed. (London: The Arden Shakespeare, 2005), 346) 598 Vgl. Mertner und Mainusch, Pornotopia, 116. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rezeption von John Clelands Fanny Hill (1749): „Schon Clelands Fanny Hill, bürgerlich wie sich das Buch dem Leser empfiehlt, konnte nicht mehr ohne lesbische Liebe, Flagellantismus und sogar die – allerdings mit Abscheu genannte – Homosexualität auskommen.“ (Ebd., 118) 599 Vgl. ebd., 119. 600 Vgl. ebd., 88-9. Ebd.: „Sie stellt die geraden Linien nicht in Frage, sondern zieht sie nach; denn sie will durch nichts Krummes in ihrem Ziel, Lust zu wecken und die Illusion der Triebbefriedigung vorzugaukeln, gestört werden. Sie verlangt nicht vergrößerte geistige Anstrengung, sie will entspannen. Sie lebt geradezu von der Verleugnung und Tabuisierung des Geistigen. Sie nährt das Wunschdenken und sie verhindert das Denken. Sie erweckt nicht, sie schläfert ein. Sie öffnet dem Leser nicht die Augen für eine böse Wirklichkeit, sie gaukelt ihm eine heile Welt vor, ein Schlaraffenland des Genusses. Das obszöne Kunstwerk macht gerade diejenigen Herrschaftsstrukturen problematisch, die am ehesten ungefragt hingenommen werden; die Pornographie festigt diese Strukturen, ja sie wird zum Instrument, Herrschaft auszuüben.“ 601 Vgl. ebd.,101. Ebd: „Ähnlich wie das didaktische Werk, so meint der englische Schriftsteller Anthony Burgess, ist die Pornographie auf Reize abgestellt und enthält zumindest Aufforderungen, die unmittelbar in die Lebenswirklichkeit umgesetzt zu werden beanspruchen. Daß diese unbestrittene Wirkungsabsicht im Widerspruch zu dem utopisch-phantastischen Charakter steht, der die Grenzen der physischen Realität notorisch unberücksichtigt läßt, ist nur eins von vielen Paradoxa, die zu ihrem Wesen gehören. Als stereotyper Rechtfertigungsgrund für ihre Existenz wird von ihr selbst und von ihren Verfechtern, insbesondere den Druckern und Verlegern, ihr Wahrheitscharakter im Sinne der Übereinstimmung mit den sonst verschwiegenen Fakten der Realität vorgebracht, obwohl nichts irrealer sein kann als die totale Reduktion der Welt auf das Sexuelle. Sie weckt Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann; sie verschreibt sich dem Vergnügen, ohne vergnüglich zu sein, weil sie den Leser rücksichtslos seiner Freiheit beraubt und in die Zwangsjacke des Triebes zu drängen sucht.“

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Tabus in den Hintergrund des öffentlichen Sexualdiskurses verbannt wird. Unter dem Deckmantel des Tabubruchs zugunsten einer verlorenen Realitätsnähe vermittelt Pornographie die Idee einer Sexualisierung der Welt oder „Reduktion der Welt auf das Sexuelle“. Ein weiterer Wesenszug des Pornographischen ist der Darstellungsmodus des Grotesken in der Entkontextualisierung des pornographischen Stoffs, der keinen ehrlichen Realitätsbezug zuzulassen vermag. Die eigentliche, in der Pornographie verwurzelte, Absicht und Zweckorientiertheit derselben als Konsumartikel und Genussmittel leitet jedoch zwangsläufig einen Abstumpfungsprozess ein.602 Der Reiz der Pornographie verringert sich, je mehr Gewöhnung daran stattfindet:603 „Die Feststellung, daß die Gewöhnung den Reiz vermindert, gehört zu den Allgemeinplätzen. Ein Gegenstand, dessen wesentlicher Bestandteil Reiz ist, muß entweder nach einer Intensivierung dieses Reizes trachten, oder er hört auf zu existieren.“604 Diese Erkenntnis einer pornographischen, immer auch entropischen Abwärtsspirale, die mit zunehmend groteskeren Mitteln der Grenzüberschreitung arbeiten muss, um eine konstante Erhaltung des Reizes zu erreichen, zeigt die Kehrseite und den bitteren Beigeschmack einer auf Rationalität und Logik angelegten Aufklärungsideologie, die sich selbst exponentiell multiplizieren muss, um in ihrer so charakteristischen Intensität bestehen zu können. Amis schrieb 1973 unter dem Pseudonym Bruno Holbrook den Artikel „Coming in Handy“, der sich mit der Sexindustrie Londons auseinandersetzt und „Fleshpots“, eine Studie zeitgenössischer Sexzeitschriften für die Wochenzeitung New Statesman.605 Er antizipiert in seiner ethischen Einstufung pornographischer Zeitschriften die Kernthematik des einige Jahre später erscheinenden Romans Money: A Suicide Note, indem er auf die kapitalistische Basis der Pornoindustrie hinweist: „The only moralistic line one can take against these magazines is that they are malum per se: they cheapen and dehumanize; although they may not be corrupting, they are corrupt[.]”606 Yellow Dog kann als literarische Inszenierung der in Pornoland veröffentlichten Analysen von Amis gelesen werden: In the case of Yellow Dog, the representations of the tabloid press, pornography, and a gangster’s memoirs are all shown to be grotesque distortions. Both postmodernism and the novel might be considered as forms of oppositional discourse, introducing alternatives to conventional forms of representation, but postmodernism is the oppositional discourse of unbelief as it recognizes the fictitious nature of what purports to be real. In Yellow Dog Amis deliberately exaggerates the distorted world of pornography and the tabloid press to show that what these new grand narratives present to us are fictitious constructs, convincingly realistic and coherent, perhaps, but before which reality recedes and is absent. In these discourses reality has been subjected by, and

602 Vgl. ebd., 102. 603 Ebd., 110. 604 Ebd., 110-1. 605 Vgl. Finney, Martin Amis, 139. 606 Ebd., 139-40.

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derives from totalizing fantasies which invade, distort, and deform a reality for which some, including Amis, still feel a certain nostalgia.607

Die Pornoindustrie wird in Yellow Dog als Mikrokosmos mit ganz eigenen internen Regelwerken und Wertesystemen dargestellt. Die Isolation von der Außenwelt wird als literarische Umsetzung von Pornoland in dem mikrokosmischen Schauplatz von Little Hollywood inszeniert. In der Manier eines pervertierten Simulacrum-Motivs ahmt Little Hollywood einen realen Mikrokosmos nach, der in seiner paradoxen Fixierung auf Perversion Konstruktcharakter besitzt. Als satirische Adaptation der in Pornoland dargestellten pornographischen Parallelwelt, verlagert Amis den letzten Teil der Handlung in Yellow Dog auf den Raum des San Sebastiano Valley, wo er die Figuren Xan Meo und Clint Smoker zu Performanz- und Recherchezwecken die Pornoindustrie in Little Hollywood erkunden lässt.608 Little Hollywood symbolisiert die Form der Entartung und Degeneration im Bereich der Pornoindustrie und den auf Grenzüberschreitung und Tabubruch basierenden Normenverfall. Als marginalisierter, dezentrierter Raum führt der zunächst etablierte Normenpluralismus in der Verschmelzung und Übertretung von Grenzen und Sexualtabus zu einem buchstäblichen Normenkollaps. Die dadurch implizierte Auflösung von Sexualnormen vermag die Paradoxie in der misanthropischen Ausrichtung des Pseudo-Lebendigen und -Vitalen, des vermeintlich natürlichen, auf den menschlichen Trieb reduzierten, pornographischen Effekts, darzustellen. Paradoxerweise straft die Kombination aus Wertfreiheit und ritualisierter, mechanisierter Sexualität jegliche Lebendigkeit des pornographischen Akts Lügen und lässt die Darsteller als groteske Karikaturen echter Liebender, als leere Hüllen und leblose Körper ohne Substanz, die als Zerrbild der Idee des lebendigen Totseins inszeniert werden, auf der Bildfläche erscheinen. Die auf Unnatürlichkeit basierende Glorifizierung des Künstlichen ist erheblicher Bestandteil dieser paradoxen Überdehnung der zeitgenössischen Sexualnormen. Little Hollywood wird als eine Art Parallelgesellschaft und als das Andere literarisch inszeniert und vom ursprünglichen Erzählschauplatz in Yellow Dog abgegrenzt.609 Trotz intensivster Formen vollen Körpereinsatzes bleibt der pornographische Akt ein mühsam vorgeführter und kraftloser Darstellungsmodus, da er nur auf der Grundlage von Artifizialität, fernab allem Natürlichen, stattfinden kann. Die Form des in der pornographischen Inszenierung verankerten lebendigen Totseins geht Hand in Hand mit dem Aspekt der Mechanisierung des pornographischen Körpers und der Abkehr vom natürlichen Impuls, von Passion und Emotion im Zusammenhang mit Sexualität. Auch der wahrhaft nicht erregende Akt der Schauspielanalyse der Darsteller erweist sich als paradox, wenn Pornographie als etwas Alltägliches, Routineartiges zum

607 Brian Crews, „Martin Amis and the Postmodern Grotesque”, The Modern Language Review 105.3 (2010): 641-59; 642. 608 Vgl. Finney, Martin Amis, 64. 609 Vgl. die in Yellow Dog benutzten Begriffe des „Pornotown“ oder „Othertown” (YD, 250).

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Inhalt rationaler, analytischer Reflektionen wird und dadurch die eigentlich in ihr angelegte Tendenz einer emotionalen, impulsiven, nicht logisch erklär- oder kontrollierbaren, auf Empfindsamkeit basierenden, sexuellen Interaktion im Keim erstickt. Die Umkehrung der Norm erfolgt über die Fixierung der Pornodarsteller auf die Qualität der Abbildung der Realität, die Darstellung, ihr Schauspiel und die gleichzeitige Abwendung vom pornographischen Akt: „Porno- people aren’t like non-porno-people. When we watch porno, we fast-forward through the sex to get to the acting. Now that’s true perversity.“ (YD, 235) Die Inversion von Sexualnorm und Perversion im Dienste des grenzüberschreitenden, pornographischen Tabubruchs und die Abwendung von konventionellen Sexualkategorien zugunsten einer „Ästhetik des Hässlichen“ liegen im Zentrum des paradoxen Wesens der Pornographie. Als morbide Schattenseite der Pornoindustrie beschreibt Amis sowohl in „A Rough Trade“ als auch in Yellow Dog das Oxymoron des HIV-Tests als Arbeitserlaubnis für die Branche: Recently, in the industry, there was an actor, Randy Rivers, who kept faking his HIV-clearence – in industry terms his work permit; and he infected five actresses. As this unfolded, various violent people went looking for Randy. They all found him and they all let him be. The explanation she heard was that Randy’s condition and circumstances could in no way be worsened: there was nothing to fuck up. (YD, 238-9)610

Die bittere Statistik der Opfer sexueller Gewalt unter den Darstellerinnen, auf die in Yellow Dog verwiesen wird, antizipiert Amis schon in „A Rough Trade“.611 Die Figur Cora – selbst ein Opfer sexueller Misshandlung – gibt den paradoxalen Teufelskreis aus Pornographie und sexueller Gewalt zu erkennen: „It was once a cliché, and is now a fallacy – but why do girls make blue movies? Because they were raped by their fathers. Between the age of six and nine, inclusive, my father raped me once a day.” (YD, 235) Die perverse Grausamkeit des sexuellen Missbrauchs bringt Cora zutage, indem sie Xan Meo hilfreiche Hinweise zur Umsetzung seiner inzestuösen Phantasien gibt. Anstatt sich mit dessen Tochter Billie zu solidarisieren, leistet sie eine paradoxe Form der Hilfestellung und entwickelt sich zu einer Art vice figure, die vom Opfer zur Mittäterin transformiert: „,You know, if you wanted to sexualize your relationship with your daughter – she’d go along with it. What else can she do? She can’t do otherwise. When it comes to Daddy, little girls are certainties.[’]” (YD, 244) Die Verbindung zur pervertierten Überdehnung eines

610 Vgl. dazu auch in „A Rough Trade”: „If you’re a porno performer, your latest HIV test is your work permit. Two years ago the actor Marc Wallice started to become evasive about his work permit. He was using an out-of-town health centre and seemed to be fudging his results. By the time he was found out, Wallice’s condition was fulminant. He infected six actresses.” (P, 12) 611 „If you’re going to be a porno star, what do you need? It’s pretty clear by now. You need to be an exhibitionist. You need to have a ferocious sex drive. You need to suffer from nostalgie de la boue (literally ,mud nostalgia’: a childish, even babyish delight in bodily functions and wastes). And – probably – you need damage in your past. You also need to be humourless. Chloe is not humourless. When she talked to me she was like someone peeping over a wall demarcating two different worlds, telling me stories about the other side.” (P, 8) Die Aspekte der traumatisierten Vergangenheit und der Humorlosigkeit als häufige Prämisse für die Tätigkeit des Pornodarstellers formuliert Amis auch in Yellow Dog.

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Elektrakomplexes, zeigt die Paradoxie der sexuellen Perversion auch auf der Ebene sexueller Gewalt. Ein weiterer Aspekt des Pornographie-Paradoxons ist in der über Pornographie erreichbaren vermeintlichen Nähe zum weiblichen Geschlecht zu erkennen, diese entpuppt sich jedoch als Dissoziationsmittel der Geschlechter: „Each night, as he entered the Borgesian metropolis of electronic pornography – with its infinites, its immortalities – Clint was, in a sense, travelling towards women. But he was also travelling away from them. And the distance was getting greater all the time.” (YD, 74) Eine Parallele und direkte intertextuelle Referenz auf „A Rough Trade” lässt Yellow Dog im Bereich der Rezeptionsästhetik erkennen. Die Bedeutung der voyeuristischen und körperlichen Reaktion wird als getrennt von (oder zumindest schwer vereinbar mit) Moralvorstellungen wahrgenommen, die Lust und Verstand sowie Körper und Geist gleichermaßen in ihrer paradoxen Diskrepanz aufzeigen. In Yellow Dog zeigt sich diese Diskrepanz in der pädophilen Liebe von König Henrys Assistenten zu Prinzessin Victoria, die Faszination Clint Smokers für k8 und die inzestuösen Gedanken Xan Meos. Die moralische Be- und Verurteilung von Pornographie entwickelt sich in der Wahrnehmung Xan Meos als Symptom posttraumatischer Bewusstseinsstörungen zur absoluten Apotheose von Pornographie: „He did watch pornography, now, in the status quo after. Previously he quite liked it when he saw it but also disapproved of it; now, he liked it a lot and approved of it, assented to it, blessed it.” (YD, 237) Allerdings kann dieser Wandel des pornographischen Bewusstseins aufgrund des Gedächtnisverlusts den erwünschten Zweck nicht mehr erfüllen und degradiert sich daher selbst zum substanzlosen Zeitvertreib, der eine ansonsten deutlich markierte Zielorientiertheit des Pornographischen ablöst: „And yet it was no help to him, in his altered state. Because even pornography needed your memory; and there were things wrong with his memory.” (YD, 237) Die Obszönifizierung des Alltäglichen manifestiert sich zwar auf besonders eindringliche Weise in der Darstellung von Pornoland und Little Hollywood, wird aber auch zu Beginn des Romans in der metaphorischen Beschreibung des Himmels und der sexualisierten Darstellung von Kondensstreifen antizipiert: „Dusk was now falling; but the firmament was majestically bright; and the contrails of the more distant aeroplanes were like incandescent spermatozoa, sent out to fertilise the universe.” (YD, 8) Die Konsequenz der Tendenz zum Obszönen zeichnet sich im gesellschaftlich kollektiven Verlust von Schamgefühl als Kontrastprogramm zur sexuellen Prüderie und im von Foucault in Sexualität und Wahrheit analysierten Schweigen über Sexualität ab.612 Foucault bezieht sich in der Darstellung der viktorianischen, auf Untersagung, Nicht-

612 Vgl. YD, 12: „Yes, and that was part of it, the obscenification: loss of pudeur.” Vgl. dazu auch Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit: Erster Band: Der Wille zum Wissen, übers. Ulrich Raulff und Walter Seitter (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983), 11: Foucault geht im ersten Teil seiner mehrere Bände umfassenden Abhandlung Sexualität

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Existenz und Schweigen basierenden Sexualität auf die gleiche Doppelmoral, die schon Wilde als Heuchelei entlarvte, und definiert die historische Entwicklung von Sexualität, abgesehen von Freuds Theorien der Psychoanalyse, als „Chronik einer zunehmenden Unterdrückung.“613 Die Befreiung der Verbindung von Macht, Wissen und Sexualität kann nur aus der Überwindung von konstituierten Gesetzen und Verboten sowie einer Neubestimmung der Machtmechanismen gewonnen werden:614 Wenn der Sex unterdrückt wird, wenn er dem Verbot, der Nichtexistenz und dem Schweigen ausgeliefert ist, so hat schon die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen, etwas von einer entschlossenen Überschreitung. Wer diese Sprache spricht, entzieht sich bis zu einem gewissen Punkt der Macht, er kehrt das Gesetz um und antizipiert ein kleines Stück der künftigen Freiheit. Daher der feierliche Ernst, mit dem man heute vom Sex spricht.615

Ein „feierlicher Ernst“ ist bei Amis‘ Analyse der Pornoindustrie freilich nicht abzulesen, eher zeigen das essayistische Denkangebot Pornoland und die satirische Umsetzung in Yellow Dog die Überschreitung konventioneller Grenzen und das Eindringen in den Bereich des Alltäglichen. Die ersten Sätze in „A Rough Trade“ beschreiben die Umgebung des Anwesens von Regisseur John Stagliano als symbolisch für eine Pornographisierung des Alltags: We were stepping out of the porno home – on to the porno patio with its porno pool. This was Malibu. Down the slope and beyond the road lay the Pacific Ocean; but the Staglianos have no access to its porno shore, in the evening they can watch the porno sunset with its porno pink and mauve and blood-orange, and then linger awhile, perhaps, under a porno moon. (P, 1)616

Die Manifestierung einer ,Pornomanie der Alltäglichkeit‘ liefert in Yellow Dog die Zeitschrift The Morning Lark, die sich über belanglose, auf Sex und Sensation gemünzte Inhalte definiert und einen Querschnitt der Gesellschaft in ihrer äußersten Form der Verrohung und Abstumpfung liefert.617 In Yellow Dog formuliert Amis die auch in Lionel Asbo allgegenwärtige „Obszönifikation des Alltäglichen“ als eine Ebene der paradoxen Herausforderung des Sittenkodex vor dem Spiegel einer zeitgenössischen Überflussgesellschaft:618

und Wahrheit „Wir Viktorianer“ auf die Geschichte von Sexualität ein und stellt dem alle sexuellen Orthodoxien zu überwinden versuchenden 19. Jahrhundert die Auffassung von Sexualität in früheren Jahrhunderten als offener, freier und vorurteilsbefreiter gegenüber: „Die Codes für das Rohe, Obszöne oder Unanständige waren recht locker, verglichen mit denen des 19. Jahrhunderts. […] Dem lichten Tag sollte eine rasche Dämmerung folgen, endend in den monotonen Nächten des viktorianischen Bürgertums. Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich Schweigen. […] Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz. Es setzt sich als Modell durch, es stellt die Norm auf und verfügt über die Wahrheit, es bewahrt das Recht zu sprechen, indem es sich das Prinzip des Geheimnisses vorbehält. […] Wo aber das Unfruchtbare weiterbestehen und sich zu offen zeigen sollte, erhält es den Status des Anormalen und unterliegt dessen Sanktionen.“ (Ebd.) 613 Vgl. ebd., 12. 614 Vgl. ebd., 12-3. 615 Ebd., 14. 616 Der „porno“ Sonnenuntergang kennzeichnet auch die Erzählkulisse in Yellow Dog: „In the west a garish, indeed a porno sunset had established itself.” (YD, 12) 617 Die sensationsfreudigen Mitarbeiter adressieren ihre Leser wenig liebevoll als „wanker“. 618 „[T]he obscenification of everyday life.” (YD, 11)

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The notions of ‚pornification‘ and ‚sexualization‘ capture the growing sense of Western societies as saturated by sexual representations and discourses, and in which pornography has become increasingly influential, permeating mainstream media and contemporary culture. Porn stars have emerged as best-selling authors and celebrities; a ,porno chic’ aesthetic can be seen in fashion, music videos, and advertising; and practices once associated with the sex industry – for example lap dancing and pole dancing – have become newly respectable, promoted as a regular feature of corporate entertainment or recreational activity.619

8.2 Pornographisierung des Alltags in Money Amis versteht sich selbst als Autor mit feministischem Auftrag, den er mit Money: A Suicide Note vollends erfüllt haben will.620 Money ist aber auch der Inbegriff des Romans der 80er Jahre, der Protagonist John Self eine Art Sinnbild des kapitalistischen Zeitgeistes: In many ways Money is the archetypal 1980s novel. The central character, John Self, is willing to sell what remains of his soul if only he can receive the immediate gratifications that consumer culture offers. Excess is what the culture teasingly offers, if you have the money to pay for it, and excess – of booze, drugs, sex and food – is what Self craves. […] Money is subtitled A Suicide Note, and the suicide is that of a culture. Steeped in Amis’s deeply ambivalent reactions to America – at once ,moronic inferno’ and epicenter of all that is energetic and vibrant – the story of John Self’s crisscrossing of the Atlantic in search of funding for his film, and of his ultimate downfall at the hands of those more in tune with the Zeitgeist and with the almost mystical, underpinning influence of money, becomes a grotesquely comic voyage into a world that both fascinates and disgusts the writer.621

Die Ebene des Paradoxen in Money ist vielschichtig. Insbesondere die Verknüpfung von Sex und Geld spielt eine wichtige Rolle und hilft Amis, den kapitalistischen, destruktiven Zeitgeist der Thatcher-Ära darzustellen und mit extremer Überdehnung der Wirklichkeit und düsterer Komik der Lächerlichkeit preiszugeben.622 Self wird dem Leser als ein dauerhaft vom Jetlag geplagter, postmoderner Antiheld vorgestellt, der gehetzt von Stripclubs und Spirituosenläden zu zwielichtigen Spielhallen und Spelunken zieht, dabei ununterbrochen pornographischer Reizüberflutung ausgesetzt ist und konstantem Tinnitus anheimfällt.623 Dieses Symptom ersetzt

619 Rosalind Gill, „Postfeminist Sexual Culture”, in: The Routledge Companion to Media and Gender, ed. Cynthia Carter, Linda Steiner and Lisa McLaughlin (Abingdon: Routledge, 2014), 589-99; 589. 620 Vgl. Emma Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 55-70; 56. Vgl. zur Sexismus-Debatte auch Keulks, Father and Son, 179: „Money is certainly an aggressive text, which readers with tender sensibilities should probably avoid; underneath John Self’s sexist veneer, however, the novel’s thematic grammar is declaratively feminist […] and overly programmatic, as Martin noted.“ 621 Rennison, Contemporary British Novelists, 8-9. 622 Vgl. zur kulturellen Entropie und Kapitalismuskritik: „Money is the only thing we have in common. […] Dollar bills, pound notes, they’re suicide notes. Money is a suicide note” (M, 116) und “It all came down to money. […] You just cannot beat the money conspiracy. You can only join it” (M, 288). 623 Self ist nicht nur Antiheld, sondern kann auch als besonders paradoxe Gegenversion des Dandys begriffen werden, der zwar gleichermaßen schockierende Wirkung auf die Bourgeoisie erzielt, gleichzeitig jedoch die Sünde weniger im Geiste als im realen Alltag auslebt. Vgl. dazu Wilde über seine Anziehung zum Paradoxen in der Form des „Perversen” vor dem Hintergrund des kulturellen und historischen Wandels von Paradoxien: „I let myself be lured into long spells of senseless and sensual ease. I amused myself with being a flâneur, a dandy, a man of fashion. I surrounded myself with the smaller natured and the meaner minds. I became the spendthrift of my own genius, and to

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als akustisches Pendant zu Selfs Seelenzustand Wohlklang durch den Lärm chaotischer Stimmenvielfalt und hält ihn in einer hallenden und schallenden Echokammer grotesker Verzerrungen von Stimmen, dissonanter Missklänge und andauernder Kakophonie gefangen: Im Roman Money: A Suicide Note (1984) ist auch die männliche Hauptfigur John Self ein derart dezentriertes, fremdbestimmtes Ich, in diesem Fall vor allem das Produkt kapitalistischer Setzungen. Self diagnostiziert seine Situation als „Tinnitus“, ein Rauschen vieler Stimmen im Ohr, die von außen zu kommen, aber ihn dennoch zu konstituieren scheinen. Sein ich spürt er als bloße Leere.624

Paradoxerweise zeigt sich in der Umkehrung des Topos des „beredten Schweigens“ in Selfs Tinnitus die für Money so typische Ebene der Reizüberflutung als Sinnbild des Überflusses, der Stimmenvielfalt oder Polyphonie der kulturellen Mentalität. Self, seines Zeichens Geschäftsmann und Delinquent, verliert während eines transatlantischen Deliriums, das ihn scheinbar ziellos durch die Straßen Londons und New Yorks wandeln lässt, den Überblick über dubiose Geldgeschäfte und durchlebt im Laufe des Romans aufgrund seiner eigenen, mit dem Gesetz in Konflikt stehenden Machenschaften und den Ausbootungsversuchen involvierter korrupter Geschäftspartner den finanziellen und sozialen Absturz. Sein kapitalistisch geprägter Charakter bringt ihn zu finanziellem Ruhm und bedingt gleichzeitig seinen Niedergang. Er verkörpert, wie sein Name suggeriert, als egozentrischer Jedermann einen Prototyp und Sinnbild seiner Zeit, in der Geld Moral, Pornographie Liebe und sinnlose Gewalt Empathie ersetzen. Gegen die Sinnlosigkeit und Stumpfheit des Lebens kämpft er mit gekaufter Ekstase, extremem Frauenverschleiß und der Flucht in den Alkoholrausch und Drogenexzess an. Eine tiefsitzende, durch Pornographie kompensierte Langeweile und Hoffnungslosigkeit färbt den grundlegenden Tenor in Money.625 Die im Roman inszenierte, an die düstere, entropische Fin-de-siècle-Mentalität erinnernde Szenerie, suggeriert eine Atmosphäre des Dekadenten und Apokalyptischen.626 Self inkarniert eine Art Galionsfigur der von Maßlosigkeit und Reizüberflutung geprägten Überflussgesellschaft der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts.

waste an eternal youth gave me a curious joy. Tired of being on the heights I deliberately went to the depths in the search of new sensations. What the paradox was to me in the sphere of thought, perversity became to me in the sphere of passion.” (Oeser, Wilde in Prison, 61-2) Obwohl Self keinesfalls als Inkarnation des bios theoretikos verstanden werden kann, verkörpert er eine Art postmoderne Version einer wandelnden Paradoxie vor dem Hintergrund einer kapitalistischen Überflussgesellschaft in der pervertierten Überdehnung und grotesken Verzerrung der Realität, vor deren Kulisse er ebenso zwischen Provokation und Anpassung changiert. 624 Ina Schabert, Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts: Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung (Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2006), 344. 625 „There’s nothing to do and no one to do nothing with.” (M, 64) Vgl. zur Verknüpfung von Pornographie und Langeweile außerdem: „What can a grown male do alone at night in Manhattan, except go in search of trouble or pornography?” (M, 24) 626 „[I]t is an entropic postmodern allegory that endorses no truth, upholds no transcendent value. In keeping with his postmodern leanings, Martin does not prescribe utopian formulations of gender, capitalistic, and political relations. Such oversimplification falls outside his literary radar. […] I contend that it is precisely this interpretative plurality, this divided rhetoric, that makes Martin’s work so revolutionary, not simply in a feminist context, but in a much larger and more important generic context as well.” (Keulks, Father and Son, 183)

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Pornographie etabliert sich als Bestandteil zeitgenössischer Realität und wird durch Self mit der unerfüllten Sehnsucht nach sexueller Erfüllung als aufputschendes Suchtmittel missbraucht, das lediglich das Gefühl emotionaler Leere potenziert: „Why do they happen to me, these numb, flushed, unanswerable, these pornographic things? Well, I guess if you’re a pornographic person, then pornographic things happen to you.” (M, 187) In Money wird Pornographie zur Überlebensphilosophie, allerdings variieren die Distanz von Erzähler oder impliziertem Autor zum pornographischen Stoff und der Grad der Identifizierung mit den Protagonisten nicht unerheblich:627 „Where critics differ is in their assessment of how successfully Amis’s narrators or implied authors have distanced themselves from the pornography-obsessed protagonists. This becomes especially problematical when the protagonist is also the narrator, as is the case with Money.”628 Die Ebene des Pornographischen basiert in Money außerdem auf kapitalistischen Strukturen, auf dem für Self alltäglichen Aspekt von käuflicher Liebe, den er über seine Kontakte zu Prostituierten und Striptease-Tänzerinnen auslebt und der aus der Ebene des wirtschaftlichen Sektors – im Hinblick auf Selfs Umgang mit und Verhalten von Bettgefährtin Selina Street – in die domestische Sphäre übertritt. Zu Beginn des Romans liefert er dem Leser einen Merkmalskatalog seiner Freundin und damit auch den bitteren Vorgeschmack eines misogynen Frauenbilds, das Selina und die anderen käuflichen Frauenfiguren im Roman pornographisiert erscheinen lässt.629 Selina personifiziert den, dem kapitalistischen Zeitgeist entsprechenden, finanziell abhängigen, aber auch „geldgeilen“ Frauentypus, den sich Self zu seinem Zeitvertreib zu Nutze macht. Die Gegenfolie zu Selina Street verkörpert Martina Twain, die ihn als einzige Figur im Roman mit der hohen Kultur in Berührung bringt und ihn jenseits seiner exzessiven, triebgesteuerten und auf rohe Instinkte reduzierten konstanten Flucht in den Rausch und die Ekstase in seiner Menschlichkeit und Empfindsamkeit tief berührt. Der Schauplatz in Money ist neben London der zentrale und schnelllebige Stadtteil Manhattan, der über eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Lust- und Konsumbefriedigung definiert wird.630 New York ermöglicht Self die eigene Aufwertung der nationalen Identität und eine Neuinszenierung seines Selbstbilds: „Over there you can look all fucked-up and shot-eyed and everyone thinks you’re just talented and European.” (M, 65) Er selbst handelt meist als geldgieriger, pornosüchtiger Prolet, der sich auf mysteriöse Weise einen Weg als dubioser

627 Vgl. Finney, Martin Amis, 140. 628 Ebd. 629 Vgl. dazu in Keulks’ Kapitel „Chauvinism, Feminism, and Misogyny“ in Father and Son, 164: „Like his father – albeit with different methods – Martin is an archeologist of shifting sensibilities, a diagnostician of contemporary social mores who refuses to temper his dark treatments of modern decay, whether they occur within men or women.” 630 Vgl. Korn, „Frazzled Yob-Gene Lag-Jag“, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 55: „[M]idtown, fastfood, fastbuck, fastfuck Manhattan“.

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Entrepreneur geebnet und bisher seinen Unterhalt mit Werbefilmen bestritten hat, bis er von Fielding Goodney als Regisseur für den abwechselnd als Good Money und Bad Money betitelten Film engagiert wird. Die Verbindung von monetärer Besessenheit und Pornographie zeigt sich als Symptom des Motivs der Korruption:631 […] and Self’s the man (‚Self’s the Man‘ is the title of a poem by Philip Larkin) who is wholly corrupted by money, who wholly corrupts money and with money, who is lifted and eventually dropped… by money, bad money driving out good in a moral Gresham’s Law [bad money drives out good]. This is the significance of the novel’s (and Self’s) recurring concern with the pornographic: not corruption by sex, but the corruption of sex by money.632

Die Figur John Self wird erst in ihrer drastischen Abhängigkeit vom 20. Jahrhundert verstanden, mit all den Neuerungen und Veränderungen, die der Roman zum Ausdruck bringt. Er selbst versteht sich gar als Repräsentant des 20. Jahrhunderts, obwohl er als abgestumpfter, ungebildeter Konsument entworfen wird.633 Diese Klassifizierung erfolgt insbesondere über die Identifikation mit Pornographie, die als charakteristisches Symptom der Zeit die kapitalistische Grundstimmung der 80er Jahre als Nährboden für ihre Expansion erkennt: „That idea – of pornography as the ‚pervasive symbol and characteristic industry of a fallen world‘, as the marker of the ‚twentieth century‘ – is never more evident than in Money.”634 In einem Gegenentwurf zum Perspektiven erweiternden, peripatetischen Spaziergang irrt Self scheinbar wahllos in den Wirren des Großstadtdschungels umher und begegnet dem Leser dabei als maximale Gegenversion eines polytropen, weltgewandten und versierten Polyhistors. Körperliche Bewegung löst für Self auch keine geistige Dynamik aus, eher dreht er sich entwicklungs- und orientierungslos im Kreis pornographischer Alltäglichkeit und kann den Ausbruch aus seiner kapitalistisch- pornographischen Routine nur kurzfristig realisieren. Er bleibt trotz des kurz aufblitzenden, allerdings zwielichtig epiphanen Erleuchtungsmoments hinsichtlich seiner eigenen, außerhalb des pornographischen Akts handlungsgehemmten, passiven Verfassung während der Beziehung mit Martina Twain Gefangener seiner selbst. Sämtliche eskapistischen Versuche der Paralyse seines Alltags durch Alkohol, Sex und Drogen zu entkommen müssen zum Scheitern verurteilt bleiben.

631 Vgl. ebd., 56. 632 Ebd. 633 Vgl. Haffenden, „Martin Amis”, in: Novelists in Interview, ed. Haffenden, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 63: „I do mean him to be a consumer, and he is consumed by consumerism, as all mere consumers are. I also mean him to be stupefied by having watched too much television – his life is without sustenance of any kind – and that is why he is so fooled by everyone; he never knows what is going on. He has this lazy non-effort response which is whished on you by television – and by reading a shitty newspaper. Those are his two sources of information about the planet.” Vgl. in diesem Zusammenhang auch ebd., 63-4, Amis‘ starke Ablehnungshaltung gegenüber der kapitalistischen Ideologie: „I have strong moral views, and they are very much directed at things like money and acquisition. I think money is the central deformity in life, as Saul Bellow says, it’s one of the evils that has cheerfully survived identification as an evil. Money doesn’t mind if we say it’s evil, it goes from strength to strength. It’s a fiction, an addiction, and a tacit conspiracy that we have all agreed to go along with.” 634 Kaye Mitchell, „Self-Abuse: The Pornography of Postmodern Life in Money”, Textual Practice 26.1 (2012): 79- 97; 81.

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Self ist durch die Ebene der Lustbefriedigung durch Konsum und den Fokus auf die eigene, dem Kapitalismus tief verfallene Geisteshaltung stark gezeichnet. Money kann als Manifestation von „Ladlit“ kategorisiert werden, einem Genre, das Aspekte von Klasse und Genderstereotypen zutage treten lässt: „[…] British lads are obsessed with class distinctions and divisions. Not gentlemen, but not yobs, they defiantly practice the rituals of the working class while aspiring to something better – better education, better jobs, better women.”635 Selfs Sexualität zeichnet sich durch die Präferenz der Masturbation, der buchstäblichen

‚Selbst’befriedigung aus, die im englischen Begriff „handjob” auf eindringliche Weise die Ebene der Sexualisierung und die für „Ladlit“ zentrale Klassenthematik verknüpft.636 Für Self ist Kapital das Sprungbrett zum Überwinden von Klassenunterschieden, und er erhofft sich von der herrschenden Schicht als ihresgleichen angenommen zu werden, macht sich dadurch jedoch angreifbar und wird zur Zielscheibe für Fieldings Betrug. Die Mentalität der Arbeiterklasse wird bei Amis durch Sexismus geprägt und führt zur Darstellung klassenspezifischer Vorurteile und Stereotype.637 Selfs Entmachtungs- und Entkörperlichungsprogramm des weiblichen Geschlechts entlarvt die sexistischen Knüpfpunkte eines pornographischen Frauenbilds und die auf männlicher Superiorität gegründete Objektivierung von Frauen gleichermaßen. Selfs Frauenbild erscheint dem Leser als eine deckungsgleiche Version der Frauen in den Pornofilmen, die er im Übermaß konsumiert. Aufgrund des kapitalistischen Blicks auf die weiblichen Figuren stellt sich für Self lediglich die Frage nach der Kategorisierung ,Hure‘ oder ,Nicht-Hure‘ (oder auch ,gekauft‘ oder ,nicht-gekauft‘) und er macht sich den Topos der Opposition der Heiligen und Hure materialistisch zu eigen.638 Money zeichnet ein düsteres Bild der Straßenprostitution und trotz Selfs Anflug von Empathie bleibt die misogyne Degradierung der käuflichen Frauen aus dem Blickwinkel männlicher Dominanz insbesondere in der binären Opposition zur nicht käuflichen Frau zu begreifen: Whores having been introduced to my neighbourhood, whore-murdering has too. Three weeks ago a girl was found strangled in a stolen car. The day before yesterday a girl was found knifed

635 Elaine Showalter, „Ladlit”, in: On Modern British Fiction, ed. Zachary Leader (Oxford: Oxford University Press, 2002), 60-76; 61. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Tew genannte Tendenz zur Darstellung von männlichen Figuren der „Arbeiterklasse”: „However pluralistic the novel becomes, issues of ideological representation and authenticity are suggested by such a relationship. These are intricate and detailed exegetical tasks, and an awareness of the issues of class and economic stratifications is essential to unraveling or deconstructing Amis’s aesthetic rendering of masculinity. Questions of literary masculinity are too easily framed in simplistic terms masquerading as gendered rhetoric.” (Philip Tew, „Martin Amis and Late-twentieth-century Working-class Masculinity: Money and London Fields“, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 71-86; 79) 636 Vgl. Showalter, „Ladlit”, in: On Modern British Fiction, ed. Leader, 70. Ebd: „For him, the handjob […] is the ideal form of lad eroticism, combining the dehuminization of sex with a form of work.“ 637 Vgl. Laura L. Doan, „Sexy Greedy Is the Late Eighties: Power Systems in Amis’s Money and Churchill’s Serious Money”, Minnesota Review 34.5 (1990): 69-80; 73-4. 638 Vgl. ebd., 74-5.

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in a hotel basement. Yet still they do business in the dusty squares. That is the business, isn’t it, paid risk, paid fear? The johns, the tricks, they must like and value the nerves, the fear. They give good money. Ah the poor girls – you feel for them. […] I said, ‚Hey, I hear one of you lot copped it the other day‘ – not the best choice of words, perhaps, but kindly, worriedly meant, with urgent fellow-feeling. They turned away, in the manner of non-whores at parties or nightclubs, with civic distaste. (M, 232)

Die distinktive Kategorisierung von ,Hure‘ versus ,Nicht-Hure‘ definiert Selfs Frauenbild als paradoxe Verschiebung von Zentrum und Marginalität, indem er als orthodoxen Frauentypus die Kategorie der „Hure“ ins normative Zentrum rückt, von der er die Kategorie der „Nicht-Hure“ als dezentriert, verschoben und marginalisiert abweichen lässt. In seiner Welt manifestiert die käufliche Frau die Geschlechternorm, während Martina Twain als Gegenpol eine Abweichung dieser Norm verkörpert. Genau wie Prostituierte dienen auch Darstellerinnen pornographischer Phantasien lediglich der Befriedigung männlicher Lust und dem Stillen eines männlichen Verlangens und ermöglichen die Ausweitung der Perspektive des männlichen Blicks auf den weiblichen Körper mit einer Tendenz zur extremen Übersexualisierung, die die Art der Darstellung nur auf einer absurd-paradoxen Ebene der Skurrilität erfolgen lässt:639 The female characters of contemporary pornography also exist to provide pleasure to males, but in the pornographic context no pretense is made to regard them as parties to a contractual arrangement. Rather, the anonymity of these characters makes each an Everywoman, thus suggesting not only that all women are appropriate subjects for the enactment of the most bizarre and demeaning male sexual fantasies, but also that this is their primary purpose.640

Die durch Anonymität die Gestalt einer Durchschnittsfrau annehmenden, pornographisch inszenierten weiblichen Körper sollen die Funktion von Pornographie im Dienste einer generellen sexuellen Erniedrigung und männlicher Lustbefriedigung rechtfertigen und die Unterdrückung der Frau als deren vordergründige Bestimmung suggerieren. Als Konsequenz geht daraus die Übertragung der Pornographisierung auf alle Frauen hervor, denn die in Pornofilmen etablierten weiblichen Geschlechterstereotype können im Zuge einer Loslösung aus dem inszenierten, artifiziellen Kontext auf reale Frauen projiziert werden. Auch Self genügt der bloße Reiz seiner Sexualpartnerinnen nicht, der Geschlechtsverkehr wird für ihn zum paradoxen Akt der im Ansatz mise en abyme-artig eine doppelte Ebene der Sexualität erzeugt, wenn Self neben der realen Frau aus Fleisch und Blut immer auch seine Phantasie derselben Frau abrufen muss, um einen Zustand der Erregung zu erlangen: „The distorting and dehumanizing effects of pornography are epitomized by Self’s preference for fantasy over reality, which creates his need to fantasize about the very woman with whom he is having sex.“641

639 Vgl. Longino, „Pornography, Oppression, and Freedom: A Closer Look”, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Lederer, 45. 640 Ebd. 641 Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 58.

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Pornographie leitet für Self zwar einen Entfremdungsprozess ein, der zur Grundlage der dissoziativen Positionierung zu seiner Umgebung wird, die von ihm konsumierten Massen an Pornographie schärfen jedoch gleichzeitig seinen Sinn für seine Mitmenschen und befreien ihn scheinbar aus dem Zustand der Isolierung.642 Im Gegensatz zur Erotik, die auf einer auf den Zuschauer aufgrund der dargestellten Sensualität ansteckend wirkenden Lust basiert, etabliert Pornographie die Darstellung von Degradierung und Dominanz, von Gewalt, Täter und Opfer, Erniedrigung und Unterdrückung. Pornographie fordert eine Identifizierung mit Täter oder Opfer ein und stellt immer ein unausgewogenes Machtverhältnis dar:643 „Perhaps one could simply say that erotica is about sexuality, but pornography is about power and sex-as-weapon – in the same way we have come to understand that rape is about violence, and not really about sexuality at all.“644 Auch in Money bedient sich Self der Waffe der sexuellen Gewalt als Mittel von Macht und Dominanz. In seiner Pornographiesucht liegt nicht nur eine sexistische Programmatik begründet, Pornographie wird außerdem als Hilfsmittel für das Ausleben von Sexualität benötigt.645 Self selbst beschreibt seine Hobbys als „tendenziell pornographisch“ und erklärt seine Vorliebe der genannten „handjobs“ wiederum durch die ihm eigene Geiz- und Konsummentalität: Watching television is one of my main interests, one of my chief skills. Video films are another accomplishment of mine: diabolism, carnage, soft core. I realize, when I can bear to think about it, that all my hobbies are pornographic in tendency. The element of lone gratification is bluntly stressed. Fast food, sex shows, space games, slot machines, video nasties, nude mags, drink, pubs, fighting, television, handjobs. I’ve got a hunch about these handjobs, or about their exhausting frequency. I need that human touch. There’s no human here so I do it myself. At least handjobs are free, complimentary, with no cash attaching. (M, 67)646

642 „As Self notes, the incursion of the disempowered into the spheres of power is based on reclaiming the legitimacy of their own identities. Self’s insight is inspired by the incredible variety of pornography he continually consumes, which, based on the laws of supply and demand, reflects both the diversity of humankind and the objectification of women. Here, ironically, pornography – a form of representation hardly notable for its conspicuous concern for the individual – expands Self’s awareness of others. Class is noticeably absent from the list because, unlike the boundaries of gender, race or sexual preference, Self believes that class barriers can be breached by the acquisition of great sums of money.” (Dern, Martians, Monsters and Madonna, 72-3) 643 Vgl. Steinem, „Erotica and Pornography: A Clear and Present Difference“, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Lederer, 37. 644 Ebd., 38. 645 Vgl. auch die Pornographiesucht Keith Whiteheads in Dead Babies, die ihn aufgrund des kalten Entzugs in eine kaum überwindbare Identitätskrise stürzt. Pornographie, die konkreteste Verbindung zu Sexualität für Keith, wird ebenso zerstört wie sein Gefühl des Selbst: „Sex for its own sake is his primary concern, and when the infamous ‚Johnny‘ destroys his pornographic pictures, Whitehead is duly upset.“ (Dern, Martians, Monsters and Madonna, 68) Vgl. auch: „He wondered how the photographs could most unobtrusively be destroyed. He started to cry. A whole way of life was coming to an end for Keith Whitehead.” (DB, 143) Der Verlust des Selbst durch Entziehung von Pornographie zeigt die eindimensionale Identifizierung Whiteheads über sein sexuelles Selbst (vgl. Dern, Martians, Monsters and Madonna, 68). 646 Vgl. in Money: „Besides, pornography is habit-forming, you know…I am a pornography addict, for instance, with a three-mag-a-week and at-least-one-movie habit to sustain. That’s why I need all this money. I’ve got all these chicks to support.” (M, 42) Vgl. dazu auch die Funktion von Pornographie als Ersatz für menschliche Zuneigung, Bestätigung und Nähe in Success: „Naturally, I gave pornography a whirl, gave pornography a pretty thorough outing (in a consultative capacity, as it were). I spent practically half my wages on nude magazines. I went to bed in a great glistening sea of those law-breaking bestiaries. But who were all these people? I don’t know them, they don’t like me, we won’t meet, that won’t work. Plus I couldn’t get a bonk, which didn’t help.” (S, 103)

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Pornographie ist das zentrale Konsummodell, aus dem alle anderen Formen des Konsums hervorgehen.647 Allerdings scheinen Selfs Hobbies weniger aufgrund der Suche nach Befriedigung und fortwährender Erfüllung „pornographisch“ zu sein, als aufgrund ihrer eindringlichen Unmittelbarkeit und omnipräsenten Verfügbarkeit sowie des kurzlebigen Reizes, des flüchtigen Vergnügens, des den verfallenden Körper partiell wiederbelebenden ekstatischen Effekts sowie ihrem Beitrag zum kapitalistischen Geldwechsel, auf dessen Basis sie sich konstituieren.648 Self erkennt Aspekte einer künstlich erzwungenen, konstruierten, auf sexuelle Grundtriebe fixierten pornographischen Utopie.649 Feministische Kritik bezieht sich häufig auf die durch Pornographie genährte Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, sieht darin einen Auslöser verherrlichter Gewalt gegen Frauen und erkennt Pornographie als Gewaltakt gegen den weiblichen Körper.650 Die beiden zentralen Frauenfiguren im Roman – Selina Street und Martina Twain – personifizieren den Gegensatz von Heiliger und Hure: „Martina tries to redeem Self; Selina continues to exhaust him. In other words, Selina is an houri, a lamia, a succubus to Self. By contrast, Martina is an angel, savior, and redeemer.”651 Der sprechende Name Selina Street verweist auf die soziale Herkunft Selinas, die im Straßenmilieu zu Hause und mit einer gewissen „Straßen-Intelligenz“ ausgestattet ist, die Figur Martina Twain wird ihr als kultiviert und belesen entgegengesetzt. Selinas Nachname beinhaltet außerdem eine Anspielung auf das Gewerbe der Prostitution.652 Self definiert seine Freundin in erster Linie über ihre Unterdrückung durch das männliche Geschlecht. Er kreidet Selina an, sich zu provokativ zu kleiden und wirft ihr einen Mangel an Verantwortung in Bezug auf ihre eigene Sicherheit vor.653 Die Provokation des Lesers

647 Vgl. Mitchell, „Self-Abuse: The Pornography of Postmodern Life in Money”, 80. Ebd.: „[I]t is the model of consumption on which all others are based: lurid, spectacular, excessive, fetishistic, addictive, but also shameful and (literally) self-abusive.” Mitchell interpretiert Money als Emblem einer „kulturellen Pornifikation” (vgl. ebd., 91). 648 Vgl. ebd., 81 zur Verknüpfung von Pornographie und Geld in Money: „I don’t know how to define pornography – but money is in the picture somewhere.” (M, 315) 649 Vgl. M, 236: „Selina, she’s like a girl in a men’s magazine. She probably is a girl in a men’s magazine: there are so many these days, it’s hard to keep tabs on them all. Normal girls, they aren’t like the girls in the pornographic magazines. Here’s a little-known fact: The girls in the pornographic magazines aren’t like the girls in the pornographic magazines either. That’s the thing about pornography, that’s the thing about men – they’re always giving you the wrong ideas about women. No girls are like the girls in the men’s magazines, not even Selina, not even the girls in the men’s magazines. I’ve checked out one or two of them and I know. It transpires that everyone has their human shape, their human form. But try telling pornography that. Try telling men. How did I get to discover this little-known fact? How did I get to check out one or two of the chicks in the pornographic magazines? Well how do you think? Money – that’s right.” 650 Vgl. Segal, Slow Motion: Changing Masculinities, Changing Men, 221. 651 Keulks, Father and Son, 180. 652 Vgl. Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 58. Vgl. auch Korn, „Frazzled Yob-Gene Lag-Jag“, zitiert nach The Fiction of Martin Amis, ed. Tredell, 56: „[S]treetsmart, bedsmart, with her brothel underwear and pornographic games[.]” 653 „I have talked to Selina about the way she looks. I have brought to her notice the intimate connections between rape and her summer wardrobe. She laughs about it. She seems flushed, pleased. […] In addition to rape, Selina is frightened of mice, spiders, dogs, toadstools, cancer, mastectomy, chipped mugs, ghost stories, visions, portents, fortune tellers, astrology columns, deep water, fires, floods, thrush, poverty, lightning, ectopic pregnancy, rust, hospitals, driving, swimming, flying and ageing.” (M, 15)

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ist in der Inversion von Opfer- und Täterrolle angelegt, wenn Selina durch ihre aktive Entscheidung für eine freizügige Sommergarderobe in die Eigenverantwortung für sexuelle Anzüglichkeiten gezogen wird. Obwohl sie Angst vor sexueller Gewalt hat, fordert sie diese laut Self durch die Zurschaustellung ihres kaum bekleideten Körpers heraus. Selfs sexistisches Frauenbild setzt Amis gezielt als Instrument zur Entlarvung gesellschaftlicher Scheinheiligkeit und Heuchelei ein.654 Obwohl gekaufte Liebe und entwürdigende Sexualpraktiken in Money gang und gäbe sind, so gibt es eine Textstelle, die auf skurrile Weise und vor dem Hintergrund rezeptionsästhetischer Aspekte die der Pornographie inhärente Ambiguität aufzeigt. Selfs „Vergewaltigung“ von Selina, durch die Pornographie primär durch den Aspekt der Erniedrigung einer der am sexuellen Akt beteiligten Personen entsteht,655 symbolisiert auf drastische Weise die Verschiebung konventioneller Sexualstandards und erhebt den Moment des sexuellen Tabubruchs zur paradoxen Inszenierung sexueller Gewalt: What makes a work a work of pornography, then, is not simply its representation of degrading and abusive sexual encounters, but its implicit, if not explicit, approval and recommendation of sexual behavior that is immoral, i.e., that physically or psychologically violates the personhood of one of the participants. Pornography, then, is verbal or pictorial material which represents or describes sexual behavior that is degrading or abusive to one or more of the participants in such a way as to endorse the degradation.656

Nachdem sich Selina Selfs körperlichen Annäherungsversuchen über einen langen Zeitraum hinweg entzieht und sie ihn trotz wiederholten Bettelns um sexuelle Zuneigung kontinuierlich ignoriert, plant Self seine Lustbefriedigung aktiv einzufordern und gewaltsam herbeizuführen. Die Vergewaltigung(sversuche) an Selina sind prägnante Textstellen für die Interpretation der Korrelation von Pornographie und Gewalt in Money: So then I tried to rape her. In all honesty I have to confess that it wasn’t a very distinguished effort. I’m new at this and generally out of shape. For instance, I wasted a lot of time attempting to control her hands. Obviously the proper way to rape girls it [sic] to get the leg question sorted out and take the odd slap in the face as part of the deal. Here’s another tip: undress before the action starts. It was while I had Selina’s forearms in my right hand and the belt-clasp in my left that she caught me a good one with the bony fist of her knee. I took it right in the join of my splayed and aching tackle. Whew, that was a good one, I thought, as my back hit the deck. Arched and winded, I lay there with the lampshade in my face. I felt I was slowly turning green from the toes up. Then at last I crawled next door like a knackered alligator and roared for many

654 Vgl. dazu auch die Paradoxie der Untreue in Money: „In my experience, the thing about girls is – you never know. No you never do. Even if you actually catch them, redhanded – bent triple upside down in mid-air over the headboard, say, and brushing their teeth with your best friend’s dick – you never know. She’ll deny it, indignantly. She’ll believe it, too. She’ll hold the dick there, like a mike, and tell you that it isn’t so. I have been faithful to Selina Street for over a year, God damn it. Yes I have. I keep trying not to be, but it never works out. I can’t find anyone to be unfaithful to her with. They don’t want what I have to offer. They want commitment and candour and sympathy and trust and all the other things I seem to be really short of. They are past the point where they’ll go to bed with somebody just for the hell of it.” (M, 15) 655 Vgl. Longino, „Pornography, Oppression, and Freedom: A Closer Look”, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Lederer, 43. 656 Ebd.

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moons into the wind tunnel of the can. That really was a good one, I thought, as I ate an apple in the kitchen[.] (M, 250)

In Money findet mit der Tendenz zum Absurden eine Trivialisierung und Bagatellisierung ernster Themen und eine gleichzeitige Aufwertung von Nichtigkeiten im Dienste einer Entlarvung des kapitalistischen Paradigmas statt, das durch die Verrohung und Pornographisierung des Alltags einen unaufhaltsamen linearen Werteverfall antizipiert. Die Beiläufigkeit, mit der Self von seinem Versuch der Vergewaltigung berichtet, weist den Charakter einer Gebrauchsanweisung mit Instruktionen zur effektiven und effizienten Vorgehensweise beim Ausüben sexueller Übergriffe auf. Die Szene liest sich wie eine Anleitung und erlangt dadurch einen auf Ironie und Skurrilität angelegten und auf starken Widerstand stoßenden, paradoxen Effekt.657 Die Nähe zur Erzähltechnik eines Erlebnisberichts und die slapstickartig beschriebenen Elemente des Bizarren suggerieren eine paradoxe Form der ironischen Distanz zwischen Leser und Geschehen, aber insbesondere zwischen Täter und Geschehen, wenn Self von seiner verbesserten Geschicklichkeit und Erektionsstörung berichtet:658 Then I tried to rape her again. In terms of pure technique, of rape knowhow, my second bid was a definite improvement on my first. Different class, really. This time I came at her from behind in a writhing, wriggling rush. The element of surprise took a more central role here, because Selina was fast asleep at the time. You don’t get much more surprisable than that. Having learnt the night’s lessons, I did the rape-smart thing: I flattened her body and prised her legs apart with my own in a reverse-tweezer action. It worked, too. Fabulous, I said to myself. She’s utterly at my mercy. Brilliant. All I need now is a hard-on… With her free hand Selina clawed at my side and gave my rug the odd crackling wrench. […] Selina herself brought an end to the impasse. She suddenly found her range and gave me a colossal sock on the check with the tensed chisel of her elbow – deep in my upper west side, where that rickety tooth is still living, is still hanging out. I hit the deck even harder this time, but soon stumbled swearing into the kitchen. This rape lark, I concluded, over painkillers and scotch, it’s seriously overrated. How do rapists cope with it all? (M, 251)659

657 Vgl. Amis’ Einschätzung der Verbindung von Komik und Grauen in Komödien: „Comedies are full of things that shouldn’t really be in comedies, like rape and murder and child abuse, real sin and evil. A comic novelist, of course, doesn’t work things out with the strictness of the tragic writer; he doesn’t reward and punish and convert. All he can do with these evils is laugh them off stage. There are some things, though, that can’t be laughed off the stage.” (Christopher Bigsby, ed., Writers in Conversation (Norwich: Arthur Miller, 2000), zitiert nach Tew, „Martin Amis and Late-twentieth-century Working-class Masculinity: Money and London Fields“, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 78) 658 Vgl. Amis, Money, 257. Im Kontrast dazu illustriert Amis in Dead Babies im Zeichen des dem Roman innewohnenden abgrundtiefen satirischen Modus anhand der Vice-Figur Andy Adorno das Phantombild eines Sexualverbrechers, der – anders als im Fall Selfs – angetrieben von Animosität und Abscheu sexuelle Unterdrückung und Gewalt auf dem Fundament einer misanthropischen Grundhaltung ausübt. Vgl. dazu: „[…] Andy stood up, toyed momentarily with the idea of kicking Mitzi or raping Serena, looked round for more things to smash, saw nothing, and so contented himself with upending the table, spitting on the carpet, and breaking the lock of the front door as he left.” (DB, 39) Vgl. dazu auch die Paradoxie der Verknüpfung von Gewalt und Sexualität, wenn Andy seine auf dessen Bestätigung angewiesene Freundin Diana körperlich ablehnt: „You don’t fuck me any more. You don’t even hit me.” (DB, 169) 659 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Larkins Gedicht „Deceptions”, das den Täter einer Vergewaltigung als eine Art anderes „Opfer“ zeigt, wenn dieser nach dem Akt der vermeintlichen Lustbefriedigung und Machtausübung unbefriedigt zurückbleibt (vgl. Philip Larkin, Philip Larkin Poems: Selected by Martin Amis (London: Faber and Faber, 2011)).

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Selfs Praktiken der sexuellen Gewalt werden in einer Art und Weise dargestellt, die den Rezipienten zu einem milderen Urteil über den Täter verleiten soll, da dieser über seine selbst- ironische und emotional labile Verfassung im Bilde ist.660 Auch die Opferreaktion unterliegt nicht typischen „Rollenklischees“ , bedenkt man, dass Selina nach dem sexuellen Übergriff nicht die Konsequenz der Trennung oder strafrechtlichen Verfolgung in Erwägung zieht, sondern aufgrund der finanziellen Vorteile weiterhin mit Self verbunden bleibt. Die finanzielle Abhängigkeit Selinas erschließt sich für Self als Mittel der Machtausübung und bildet weiterhin das Fundament einer auf Geld basierenden Konvenienz-Beziehung: „[…] and the thrilling proof, so rich in pornography, that she does all this not for passion, not for comfort, far less for love, the proof that she does all this for money…I love it. I love her…I love her corruption.” (M, 37) Feministische Kritik kreidet Pornographie die Degradierung und Unterdrückung von Frauen sowie das Bereitstellen eines Nährbodens für ein männliches Empfinden von Superiorität an, das durch Pornographie noch gesteigert wird und das in einem Zusammenhang mit der Bereitschaft zur Ausübung sexueller Gewalt stehen kann.661 In Money jedoch enttarnt sich Selina Street als manipulierende Instanz, die auch als Spiegelbild Selfs in die Handlung eingebettet wird: „[…] Selina Street operates as both manipulator and mirror for John Self: she feeds his desires and reflects to him the image of woman he seeks – the image of consumeristic commodification common in pornography.”662 Die finanzielle Abhängigkeit und damit einhergehende Demütigung Selinas erlauben Self jedoch die kontinuierliche Fortführung eines Erniedrigungsprogramms.663 Angela Carter analysiert in The Sadeian Woman (1979) die Interdependenz von Sexualität und finanzieller Abhängigkeit. Im Fokus Carters steht dabei die Frage nach ökonomischen Faktoren, Abhängigkeiten sexueller und finanzieller Natur und dem Eheversprechen als Vertrag oder Abkommen, die einen gravierenden Konfliktpunkt in den als eheliche Pflichten vorgegebenen

660 Vgl. Keulks, Father and Son, 176-7. 661 Vgl. Longino, „Pornography, Oppression, and Freedom: A Closer Look”, in: Take Back the Night: Women on Pornography, ed. Lederer, 47. Vgl. ebd.: „The very intimate nature of sexuality which makes pornography so corrosive also protects it from explicit public discussion. The consequent lack of any explicit social disavowal of the pornographic image of women enables this image to continue fostering sexist attitudes even as the society publicly proclaims its (as yet timid) commitment to sexual equality.” Dabei stellt sich auch die Frage nach einer kausalen Relation von expliziten Darstellungen weiblicher Degradierung und Entwürdigung in der Pornographie zu Straftaten im Bereich sexueller Gewalt gegen Frauen (vgl. ebd.). Vgl. in diesem Kontext auch Parker, „,Money Makes the Man‘: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 59, die Money aufgrund der bewussten Inszenierung des Themas der männlichen Machtausübung und weiblichen Unterdrückung über Sexualität nicht als pornographisch einschätzt. 662 Keulks, Father and Son, 182. 663 „[…] I want you to listen to this and I want you to listen good. While I’m away you young lady are going to behave. Do you read me, Selina? No more shit! You’re on the payroll now and you damn well do as I say, God damn it.” (M, 89) Vgl. in diesem Zusammenhang Segal, Slow Motion: Changing Masculinities, Changing Men, 231: „Romantic fiction, written by and for women, not only eroticises men’s sexual power, but economic power in general, while glamorizing women’s social and sexual subordination to men. Feminists need to admit, rather than deny, that at present many standard images of pornography do arouse women as well as men.”

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sexuellen Verbindlichkeiten erkennt.664 Selina übernimmt in der Beziehung zu Self eine analoge Rolle zu den Prostituierten, die Self im Laufe der Handlung aufsucht. Sie lässt sich für sexuelle Handlungen bezahlen, benutzt ihren Körper als Währung und setzt ihn – wie unschwer an ihrer Reaktion auf Selfs Einrichtung eines gemeinsamen Kontos zu erkennen ist – als Belohnungs- und Bestrafungsinstrument ein.665 Selina übt eine Form von Macht auf Self aus, indem sie ihn zum erpressbaren Opfer ihrer Manipulation umfunktioniert und Selfs Interesse an Selina nimmt generell zu, je emotional distanzierter sie sich verhält: „So she’s ovulating, the bitch, I thought. Now the deal here is – this normally makes her hot, which normally makes me cold. When she’s cold – that’s what makes me hot. But I was hot. And she was cold. Yes, she’s turned the tables on me yet again, little Selina.” (M, 232) Das im Roman thematisierte Motiv von Selfs Impotenz ist als Symptom seines kurzlebigen Ausbruchs aus der gewohnten, auf Pornographie ausgerichteten Umgebung zu verstehen. Die Verfälschung von weiblicher Sexualität, die durch Pornographie suggeriert wird, schlägt sich paradoxerweise in Selfs Impotenz im Umgang mit Martina Twain, der einzigen Frauenfigur außerhalb der pornographischen Sphäre nieder.666 Eine Verschiebung des patriarchalen Modells der Maskulinität ergibt sich aus dem Aspekt der Impotenz als Teil der Darstellung von Maskulinität, die sich als Angriff auf patriarchale Strukturen und die soziale Ordnung im Dienste eines postmodernen Machtdiskurses (und –verlustes) literarisch manifestiert.667 Im Dissoziationsprogramm und der solipsistischen Entwicklung Selfs zeigt sich die totale Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft: „Self is addicted to sex and relates to women only as sexual objects, but the novel exposes how thoroughly pornography and prostitution impoverish human relations.”668 Die Worte „I need that human touch” muten in diesem Kontext

664 Vgl. Carter, The Sadeian Woman, 10. Ebd.: „If one sexual partner is economically dependent on the other, then the question of sexual coercion, of contractual obligation, raises its ugly head in the very abode of love and inevitably colours the nature of the sexual expression of affection. The marriage bed is a particularly delusive refuge from the world because all wives of necessity fuck by contract. Prostitutes are at least decently paid on the nail and boast fewer illusions about a hireling status that has no veneer of social acceptability, but their services are suffering a decline in demand now that other women have invaded their territory in their own search for a newly acknowledged sexual pleasure. In this period, promiscuous abandon may seem the only type of free exchange.” 665 „The day before last, however, I decided to open a joint bank account. I filled out the forms, coldly supervised by the watchful, sharp-shouldered Selina. That morning she went to bed in black stockings, tasseled garter belt, satin thong, silk bolero, muslin gloves, belly necklace and gold choker. I made a real pig of myself, I have to admit. An hour and a half later she turned to me, with one leg still hooked over the headboard, and said, ,Do it, anywhere, anything.’ Things had unquestionably improved, what with all this new dignity and self-respect about the place.” (M, 86) 666 Vgl. Finney, Martin Amis, 143. 667 Vgl. Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 58. 668 Ebd.

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zwar überspitzt ironisch an, weisen aber als Konsequenz einer Desillusionierungsstrategie wiederholt auf Selfs Vereinsamung hin.669 Das sich vor allem im Hinblick auf genderspezifische Fragen als hochgradig paradox herauskristallisierende Wesen des Protagonisten verkörpert eine Diskrepanz der Geschlechterstereotype. Self realisiert das verzerrte und verschobene Frauenbild, das Pornographie der Männerwelt suggeriert,670 gleichzeitig unterliegt er als pornosüchtiger Konsument in radikaler Weise den damit einhergehenden Inferiorisierungsmechanismen des weiblichen Körpers durch Pornographie. Self – wie sein sprechender Name bereits erkennen lässt – kann als Ideenträger und Universalmensch des kapitalistischen Zeitgeistes verstanden werden. Er avanciert im Laufe des Romans zu einer Art l’homme moyen sensuel und unterliegt der Entfremdung zu seiner Natur durch Pornographie. Diese Art der Dissoziation führt wiederum zu einer erhöhten Form der Melancholie und des Sentimentalen.671 Die pornographische Effekthascherei demaskiert sich allmählich als groß angelegte postkoitale Depression, transformiert das pornographische Lebensgefühl zur melancholischen Gemütsverfassung und legt die Verschiebung von Macht zu Ohnmacht offen. Es folgen die elegische Klage und die Sehnsucht nach etwas Verlorenem oder – wie im Fall Selfs – nie Besessenem. Durch die sich im Handlungsverlauf entwickelnde Sentimentalität entsteht ein direkter Kontrast zu Selfs früherer Lebensführung, der sich als Moment der Genese der Paradoxie offenbart. Eine entleerte, aktionslose Aktivität lässt ihn mit sich ,selbst‘ allein und wirft ihn buchstäblich auf sich ‚selbst‘ zurück. Durch seine kurzlebige Beziehung mit Martina Twain werden die emotionalen Grundbedürfnisse Selfs zwar an die Oberfläche seines Bewusstseins transportiert, können aber niemals befriedigt werden. Seine Rückkehr zu Selina Street antizipiert Selfs Übergang aus der Abwärtsspirale in den freien Fall des sozialen Absturzes und postuliert gleichzeitig einen Siegeszug des Misogynen.672 Für Self, dessen Suchtpotential ohnehin suffizient ausgeschöpft ist,

669 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: „I miss the human touch but I can survive its withdrawal, I can butch it out, and maybe soon the warmth will return.” (M, 235) 670 Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 58. 671 Melancholie erklärt sich etymologisch als Schwarzgalligkeit, wird zuerst im Corpus Hippocraticum erwähnt und steht in der Humoralpathologie für einen der vier Körpersäfte, später auch für das von diesem Saft dominierte Temperament. Im Christentum als Mönchskrankheit und acedia interpretiert, unterläuft das Melancholische den Prozess einer Bedeutungsverdüsterung, der den Zustand der acedia zu einer der sieben Todsünden erklärt. Die zeitgenössische Psychiatrie erkennt den Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der Depression. Literarhistorisch ist eine gewisse Aufwertung des Melancholiebegriffs, die vor allem in ihrer Verbindung mit dem Bereich des Kreativen und Produktiven sowie der Verknüpfung mit dem Elegischen und der Empfindsamkeit, begründet ist, unverkennbar (vgl. Ulrich Horstmann, „Melancholie“, in: MLL, ed. Nünning, 439-40; 439-40). Für eine genauere Abhandlung zum Wesen der Melancholie und der literarhistorischen Relevanz vgl. auch Ulrich Horstmann, Der Lange Schatten der Melancholie (Essen: Die Blaue Eule, 1985) und Lutz Walther, hg., Melancholie (Leipzig: Reclam, 1999). 672 Vgl. dazu in Keulks, Father and Son, 180: „Self’s choice of Selina over Martina toward the end of the novel represents the melancholy triumph of misogyny, and Self loses everything as a result.”

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verlagert sich lediglich die Ebene der Sucht: Vergnügungssucht wird zur Sehnsucht und letztendlich zur Todessehnsucht umfunktionalisiert. Die royale Hochzeit von Prinz Charles und Lady Diana, die als Korrektiv zur verkommenen modernen Gesellschaft als Symbol für Ordnung, Tradition, Konvention und Regelhaftigkeit in einer fragmentarisch wahrgenommenen Realität sinnstiftend wirken soll, lässt Self – entgegen seiner Natur – tief bewegt zurück: She is nineteen years old, just starting out. There she goes now, gathering herself into the carriage while the horses stamp. All England dances. I looked at Martin again and – I swear, I promise – I saw a grey tear glint in those heavy eyes. Love and marriage. The horses ticking down the long slide. After a while he dropped a toilet roll on to my lap. ,Do you want a cup of tea?’ I heard him ask. ,Or an aspirin. Or a Serafim? Don’t be embarrassed. It was very moving in its way.‘ (M, 263)

Self macht sich zunächst über die royale Hochzeit lustig, wird aber währenddessen von Sentimentalität und Traurigkeit übermannt und muss von der Figur Martin Amis getröstet werden.673 Diese Textstelle lässt zwischen dem Leser und Protagonisten ein zartes Band entstehen und kreiert – aufgrund der in der Szene transportierten gefühlsbetonten Vehemenz – eine emotionale Verbindung, die an rührseliger Empfindsamkeit kaum zu übertreffen ist. Eine melancholisch anmutende Sensibilität wird als Symptom der aus dem Lot geratenen Konsumkultur sichtbar und entlarvt die grotesk-verzerrte Verschiebung der zur Pornographie überdehnten Realität in ihrem paradoxen Kern des erhöhten Maßes an Impressionen, Empfindungen und sentimentalen Emotionen. Sentimentalität durchbricht die vordergründige Oberflächlichkeit Selfs und verleiht ihm in der Konservierung einer Momentaufnahme emotionale Tiefe, ohne den Protagonisten ins Weinerlich-Pathetische abdriften zu lassen. Der Leser wird nach seitenlanger Darstellung sexueller Praktiken, ausführlichen Beschreibungen einzelner Körperteile und erschöpfenden Masturbationsmetaphern, dem auf Langeweile und Gleichgültigkeit basierenden Drogenrausch und dem Kampf gegen die lähmende Ausbreitung von ennui, mit einem Moment der Emotionalität konfrontiert, der als Kontrastprogramm zur fast konstanten pornographischen und tabubrechenden Berieselung mitten ins Herz trifft. Der oft unsympathisch, sexistisch und egozentrisch auftretende Protagonist erreicht somit inmitten der an ihm exerzierten Machomechanismen, die auf eine schnelle Befriedigung ausgerichtet sind, einen Moment der Verletzlichkeit. Dieser Moment manifestiert sich in der Beziehung zu Martina Twain – und noch stärker – zu deren Hund Shadow und zwingt ihn zu einem Minimum an Humanität und Verantwortungsgefühl. Die Ebene der Reflektion, die in den meisten sexuell motivierten Szenen in Money für den Leser zum Vorschein kommt und von Self häufig ausführlich ausgekostet wird, kennzeichnet eine

673 Vgl. Showalter, „Ladlit”, in: On Modern British Fiction, ed. Leader, 69.

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bestimmte Positionierung des Protagonisten bezüglich seiner Selbstwahrnehmung, aber vor allem dient diese der Darstellung einer gesellschaftlichen Marginalstellung, in der sich Self stark verhaftet sieht. Ein Zustand der Isolation, der den direkten Weg in einen Solipsismus ebnet und einen im Kern seines Wesens von Gott und der Welt verlassenen Protagonisten zeigt, versinnbildlicht Selfs sinnlose Existenz, aus der er lediglich durch regelmäßige Befriedigung des Sexualtriebs und ein kurzfristiges Überwinden der Taubheit und Benebelung seiner emotionalen Paralyse ausbrechen kann. Im Kern intensiviert jedoch der Überdruss an Sex und Lustbefriedigung den Zustand der seelischen Lähmung. Das Routineartige, Mechanische, Abgeklärte der Sexualität drängt Self aus der Ebene des Rausches und der Ekstase und zwingt ihn direkt in die unvermeidliche Vereinsamung.674 Die geistig-seelische Paralyse und die Stagnation Selfs werden von ihm selbst erkannt: „That’s my life: repetition, repetition.” (M, 25). Gefangen in einer Art Totenstarre, aus deren Perspektive er wahrnimmt, wie die zyklische Struktur seines Alltags durch Momente des Ekstatischen kurzfristig unterbrochen werden kann, wird er immer wieder auf die Ebene des Stillstands befördert. Der echte John Self wirkt fast wie eine groteske Verzerrung der Figur, die in der Beziehung zu Martina Twain zum Vorschein kommt. Es wird ein vorübergehender Paradigmenwechsel herbeigeführt, Self wechselt vom pornographischen, fetischistischen Machismo-Modus auf eine Ebene empfindsamer, zwischenmenschlicher Verbindung.675 Eine weitere Facette seiner Entwicklung zeigt sich in der Beziehung zu dem Hund Shadow. Martina Twain nimmt den herrenlosen Hund fürsorglich bei sich auf, so wie sie sich auch Selfs annimmt. Ohnehin lassen Shadow und Self viele Parallelen in ihrer Beziehung zu Martina Twain erkennen, und auch der Name des Hundes verweist auf die für Amis‘ Literatur charakteristische Inszenierung von Doppelgängern. Shadow versinnbildlicht die Allegorie des Straßenköters, der ein schönes Zuhause bekommt, domestiziert wird, aber gleichzeitig den Freiheitsdrang und die Rohheit des wilden Tiers nie überwinden kann. Hin und hergerissen zwischen zwei Welten, neugierig auf die neue Welt, frustriert über den Verlust der alten, zeichnet sich bei Shadow und Self dennoch eine gleichermaßen positive Entwicklung ab.676 Fürsorge und Empathie werden für Self erst in der Entwicklung eines Verantwortungsgefühls für Shadow greifbar. Als der Vierbeiner eines Tages unauffindbar ist, erlebt Self die Intensität von Verlustängsten.677 Als einzige Figur im Roman,

674 Vgl. dazu auch Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 58: „Underlining pornography’s antithetical relationship to eroticism, Self’s sexual escapades are passionless. His description of sex is impersonal and mechanical.” 675 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 91. 676 Vgl. ebd., 90-1. 677 „At first I felt, Christ, let’s just find the little bastard – then at least I get a lie-down and a drink. For a while I even developed the idea that it would do me no harm if Shadow left the picture after all. But now as I staggered at speed through the grid I had a dire certainty that my fate was closely bound up with the dog’s, that with Shadow gone I too

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deren Beziehung zu Self nicht ausschließlich auf materieller Ebene basiert und nicht durch emotionale oder sexuelle Abhängigkeiten geprägt ist, stellt Martina Twain die einzige Frau in Selfs Leben dar, mit der ihn kein auf Pornographie begründetes Verhältnis verbindet:678 „Initially, Self has no way at all of relating to Martina; outside the language of pornography, women have no identity for him.“679 Da Self Frauen außerhalb von Pornographie keine Identität zuzugestehen vermag, führt die aufkeimende Liaison mit Martina Twain zur emotionalen Verwirrung: „She’s in my head. How did she get in there? She’s in my head, along with all the crackle and traffic.[…] Oh, I must fight that, I must resist it, whatever it is. I’m in no kind of shape for the love police. Money, I must put money round me, more money, soon. I must be safe.” (M, 222) An dieser Stelle sublimiert Self Geld zum Allheilmittel gegen Emotionen, die sich durch sein betäubtes Bewusstsein langsam einen Weg zum Zentrum seiner Wahrnehmung bahnen. Als er Martina Eintritt in seine Herzkammer gewährt, wird seine beträchtliche, emotionale Entwicklung – gerade im direkten Kontrast zu den durch Obszönität und Gewalt geprägten sexuellen Eskapaden mit Selina – anhand der anrührenden Blumenmetapher,680 über die er sich mit einer beinahe vertrockneten Pflanze vergleicht, die langsam ihre Blüten wieder aufrichten kann, symbolisch manifestiert: I stripped and joined her in the linen. We kissed, we embraced, and I know I’m a slow one and a dull dog but at last I saw what her nakedness was saying, I saw its plain content, which was – Here, I lay it all before you. Yes, gently does it, I thought, with these violent hands … And in the morning, as I awoke, Christ (and don’t laugh – no, don’t laugh), I felt like a flower: a little parched, of course, a little gone in the neck, and with no real life to come, perhaps, only sham life, bowl life, easing its petals and lifting its head to start feeding on the day. (M, 336)

Diese Szene suggeriert dem Leser eine paradoxe Umkehrung von Selfs Lebenswandel. Als regelmäßiger und treuer Besucher von diversen Stripclubs, vollzieht er im Zuge seiner paradoxen Transformation selbst einen Seelenstriptease. Als Folge des übermäßigen Pornographiekonsums would be back on Twenty-Third Street among the human canines. […] I found him on Twenty-First Street […]. His collar, his collar was gone. One hour in the jungle and Shadow had already been mugged, ripped off – stripped of all he had, no-named. Now he turned to me with incurious eyes, and looked away dully. He was about to tiptoe off into the rush of the Avenue but I barked his name with all the power left in my lungs, and he turned again, with effort, and came towards me low across the curb, shoulders bunched in extreme surrender, the abject maximum. I didn’t hit him. I seized his scruff. I carried him home. Martina was waiting on the stoop. She hadn’t wept before but she wept now. And as she thanked me and held my hand to her face I thought – she really loves him, it, she loves Shadow, this dog.” (M, 337-8) 678 Vgl. Diedrick, Understanding Martin Amis, 90-1. 679 Ebd., 91. 680 Traditionell symbolisiert das Bild der Blume in literarischen Texten häufig die weibliche Schönheit, die Vergänglichkeit und Verletzbarkeit dieser Schönheit sowie den männlichen Wunsch, die Blume zu pflücken. Das Symbol der Blume als Bild für weibliche sexuelle Unschuld und Jungfräulichkeit innerhalb vieler Kulturen manifestiert sich in weiblichen Vornamen, bei Amis durch die Figuren Pansy, Violet und Lily, Keith Nearings Freundinnen und Schwester in The Pregnant Widow, die einen paradoxen Bezug auf die traditionelle Konnotation suggerieren, da sie für eine andere Form der Geschlechterrollen stellvertretend sind (vgl. Michael Ferber, A Dictionary of Literary Symbols (Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 75). Selfs symbolische Beschreibung seiner eigenen seelischen Konstitution verdeutlicht die Verkehrung traditioneller Geschlechterrollen und trägt vor diesem Hintergrund zur Betonung der breit angelegten Geschlechterparadoxie in Amis‘ Werk bei.

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offenbart sich die allmähliche Entwicklung von Selfs Impotenz,681 die – wie so häufig in Amis‘ Romanen – als Sinnbild eines körperlichen und moralischen Verfalls, die Degeneration und Pervertierung in ihrem äußersten Kontrast zur Orthodoxie und gesellschaftlichen Konvention anzeigt.682 Das Motiv der Impotenz symbolisiert die drastischste Ausprägung des Aspekts von Selfs aktionsloser Aktivität.

681 Vgl. Parker, „,Money Makes the Man’: Gender and Sexuality in Martin Amis’s Money”, in: Martin Amis: Postmodernism and Beyond, ed. Keulks, 58. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: „You may have noticed that apart from the odd momentary lapse I’ve managed to quit swearing. I’ve started stopping doing other things too. All my addictions stand doomed on death row: swearing, fighting, hitting women, smoking, drinking, fast food, pornography, gambling and handjobs – they all cower in the corner now, waiting on the long walk. You know why. It’s the new- deal me … Stopping swearing is obviously the easiest. That was no problem. I don’t miss fighting or hitting women either. As for smoking, well, each time I light up I ask myself, Do you really need this cigarette? So far, the answer has always been yes, but these are early days. Similarly when you are a hard drinker it is very hard to stop drinking. Stopping drinking is going to be a problem, I can tell. Fast food: the rule here is that I confine myself to one blowout every twenty-four hours, except on the special days when I’m feeling particularly hungry. […] Now the handjob factor. All my life I’ve asked around, and this is my conclusion: everybody does it. Girls do it. Vicars do it. I do it. You do it. (Yes, you do it, and how old are you? Pull yourself together, man. Come on, sis, it’s time to retire.) I’m quitting. Are you? […] I’m pretty sure I can flush the junk out of my life. I kicked swearing with no sweat, after all. Who needs these bad habits: I mean, what are they for? […] The only trouble is – and here, perhaps, we see the root of my problem – the only trouble is, I can’t be fucked.” (M, 293-4) 682 Vgl. dazu die Protagonisten in Time’s Arrow und der Kurzgeschichte „Let Me Count The Times“ in Heavy Water and Other Stories: Tabubruch kann durch Serie und Sequenz abgemildert werden und durch groteske Züge eine skurrile Komik erlangen. In „Let Me Count The Times“ definiert Vernon Sexualität mit seiner Frau über Statistiken, Zahlen und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Als er nach zehnjähriger Ehe während einer Geschäftsreise die Welt der Selbstliebe für sich entdeckt, beginnt er seine Frau mit sich selbst zu betrügen. Anfangs über Sexualphantasien, die nur auf seine Frau gemünzt sind, später auf ihren gesamten Bekanntenkreis. Aufgrund seiner Ablehnung von pornographischen Zeitschriften, masturbiert er sich vor dem Hintergrund eines Intertextualitätsprogramms durch verschiedenste Stationen der Literaturgeschichte (vgl. HW, 86: „Pamela had her points, but Clarissa was the one who turned out to be the true cot-artist of the oevre“). Vernons übertriebene Besessenheit vom eigenen Körper führt letztendlich zu seiner unüberwindbaren Impotenz.

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9. Fazit

„A sense of humour is a serious business; and it isn’t funny, not having one.” (WAC, 363) Im Werk von Amis ist die sprachliche Ebene maßgeblich durch Paradoxien in Form von Wortspielen, Aphorismen, Oxymora und conceits geprägt, die als symptomatisch für Amis‘ Literatur verstanden werden können und ein unterhaltsames Spiel mit Sprache, das amüsiert und erheitert, gleichzeitig aber auf ein kognitives, die harmlose Erscheinung überwindendes Denkexperiment verweist, darstellen. Dieses ist nicht frei von verbaler Aggression und kann für den Rezipienten besonders verstörend wirken. Paradoxie wirkt in der drastischsten Form bei Amis normenkollabierend und -auslöschend und entlarvt entgegen jeden Verstandes, jeden rationalen Denkens als Form eines Sinnstiftungsversuchs Kategorien der Normativität durch deren Verkehrung ins direkte Gegenteil als archaisch und mechanisiert. Die chaotische Welt, in die Amis seine Figuren einschreibt, bietet weder Halt noch Antworten, sondern bereitet Unbehagen und wirft Fragen auf. Eine auf Abschluss angelegte Erzählwelt bleibt verwehrt und wird durch eine Schlachtfeldkulisse ersetzt, vor deren Hintergrund Paradoxien zur Munition werden. Die damit einhergehende „pervertierte, provokative Logik“ entsteht aus dem Widerstand gegen ein angeblich rechtmäßiges Denken: Épater les bien-pensants (outraging the righteous, appalling the politically correct) could happily serve as the watchword of Martin Amis’s own novels and a key to their perverse, provocative logic. The strategy is to espouse the despicable standpoint of the least enlightened and exemplary members of the human community, and proceed to promote their version of things with an energy and conviction which presuppose its self-evidence. The adopted stance slyly assumes the implied reader’s assent to what is offered, after all, as no more than the plainest common sense or, at worst, an undeluded realism.683

Das Werk von Amis gründet auf einem breiten Spektrum des Paradoxen auf unterschiedlichen Ebenen. Als rhetorische Stilfigur protestiert die Paradoxie auf humoristische Weise mit einem sarkastisch-ironischen Grundton gegen eine orthodoxe Sprachform, als Zeiterscheinung und Geisteshaltung rebelliert sie gegen die Idee von Normativität, die sie anhand ihres Appells zur Inversion geläufiger Denkstrukturen zu diffamieren versucht. Das Paradoxe ist bei Amis in unterschiedlichste Formen, Strukturen und Gestalten gekleidet. Das Motiv der Dopplungen stellt ein immer wiederkehrendes, zentrales Bild dar, das besonders prononciert in der Figur des Doppelgängers in Erscheinung tritt. In vielen Romanen ist die Darstellung von Antagonisten, die sich im Laufe der Handlung als Doppelgängerfiguren herausstellen, zu erkennen. Schizophrene Figuren und deren alter ego, die Figur „Martin Amis“,

683 Ryan, „Sex, Violence and Complicity: Martin Amis and Ian McEwan”, in: An Introduction to Contemporary Fiction, ed. Mengham, 207.

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die als Doppelgänger des Autors eingesetzt wird oder die Spaltung von Körper und Psyche zeichnen das Dopplungsverfahren in Amis‘ Literatur aus. Die generische Manifestation des Paradoxen kann aus der ausgeprägten Tendenz zur Satire und Groteske abgeleitet werden, die beide mit dem Mittel der Paradoxie in der Lage sind, gesellschaftliche Missstände aufzudecken, zu verspotteten und das Element des Komischen zum Zweck der Kritik als Waffe einzusetzen. In Dead Babies werden traditionelle, aber überholte Normen als starre Denkstrukturen entlarvt. Die Paradoxie der sexuellen Revolution, die sowohl in Dead Babies als auch in The Pregnant Widow ein zentrales Motiv darstellt, entfaltet sich in einer „orgiastischen Betäubung“ der Figuren, deren exzessives Ausmaß derart eskaliert, dass es unter Aufkommen eines Moments der Depression vollends kollabieren muss. Der mit maßlosem Drogenkonsum einhergehende Kontrollverlust der Figuren bereitet zwar den Weg in Sphären des Rausches, die paradoxe Degradierung des Menschen zum ausschließlich sexuellen Wesen jedoch verweist in Dead Babies auf die Schattenseiten sexueller Liberalisierung. Die Figuren können durch das Übermaß an Sexualität keine Befriedigung mehr erlangen und enden in einem Zustand mentaler Erschöpfung. Die Nebenwirkungen polygamer Beziehungsgeflechte und das Modell der freien Liebe verschieben sich aus der paradoxen Marginalzone der Gesellschaft ins soziale Zentrum, die Inversion von Moralvorstellungen und Sexualnormen induziert eine Umbewertung der Paradoxie zur Orthodoxie. Auf eine Wiederherstellung der sozialen Ordnung wartet der Leser zugunsten eines auf dem Motiv des Doppelgängers basierenden paradoxen Spannungsverhältnisses vergeblich. Die trickster-Figur symbolisiert die Fleischwerdung des Paradoxen durch die Existenz zwischen festen Kategorien. Das für den trickster bezeichnende Merkmal der Grenzüberschreitung führt einen ständigen Wandel zwischen den Kategorien des Orthodoxen und Paradoxen, der Norm und deren Devianz herbei und lässt ihn als Verkörperung von Ambiguität, Duplizität und Widerspruch zum wandelnden Paradoxon avancieren. Die Verbindung von Paradoxie und Ironie bündelt Amis in der Figur Lionel Asbo, einer grotesken Karikatur eines talentfreien, bemitleidenswerten Medienkonstrukts. Mit Asbo kreiert Amis eine paradoxe Figur, die ironisch anmutend als Personifikation des Grotesken jeglicher Norm widerspricht und sich ihrem Beharren innerhalb einer Anti-Norm – im Vergleich zu vielen anderen Figuren in Amis‘ Romanen – dennoch nicht bewusst ist. Die paradoxe Milieustudie kann als Groteske interpretiert werden, die durch das Element der Deformation von Realität und die Verbindung zum Absurden vor dem Hintergrund einer Abweichung sämtlicher Normvorstellungen die „Paradoxie des Orthodoxen“ sichtbar macht. Die Groteske rückt aus der Peripherie ins Zentrum und Asbo aus der Außenseiterposition in der dargestellten Welt Distons an die Stelle der gesellschaftlichen Norm. Die entschiedene Vehemenz der Darstellung einer

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gesellschaftlichen Verarmung zeigt sich in Lionel Asbo vor dem Entwurf einer Kulisse der Paradoxie in der deutlichen Überwindung des Normativen. Die formale Paradoxie der Antichronologie im Holocaust-Roman Time’s Arrow stellt eine pervertierte Verquickung von Form und Inhalt dar, die mit dem Mittel des Formexperiments versucht, im „moralfreien Raum“ von Auschwitz ethische Konsequenzen des Genozids zu vermitteln. Die antichronologische Handlung in Time’s Arrow setzt Ursache-Wirkungs-Prinzipien durchgängig außer Kraft und stellt eine Welt dar, in der Kategorien von Logik und Anti-Logik im Dienste der Wiederherstellung von Sinnhaftigkeit aufgehoben werden. Die Erzählsituation bereitet den Leser auf die Thematik des Holocaust vor und stellt weitaus mehr dar als ein Spiel mit Lesererwartungen, ein Formexperiment oder eine Illusionsdurchbrechung. Sie wird darüber hinaus zum Katalysator der paradoxen Struktur des Romans und transportiert den zentralen Gedanken der Pervertierung allen Natürlichen, durch den in Time’s Arrow Holocaustverbrechen Sinn in einer ansonsten konsequent sinnentleerten Welt zugeschrieben wird. Die Strategie der radikalen Pervertierung des Orthodoxen steht im Dienste der Entlarvung unergründlicher menschlicher Perversion. Die „sentimentale Reise nach Auschwitz“, das wohl eindringlichste paradoxe Oxymoron in Amis‘ Literatur, entlarvt die abgründigen Tiefen historisch-manifestierter Misanthropie. Die Katastrophe des Genozids impliziert ein erschüttertes Weltbild, das auf einem negativen Menschenbild gegründet ist und inszeniert die Umkehrung von Zeit und das Zurückspulen von Geschichte als zentrales desiderium des Romans. Die Verbindung des Holocaust mit Aspekten des Sentimentalen storniert orthodoxe Kategorien und verweist auf das zentrale conceit in Time’s Arrow, das durch den antichronologischen Aufbau Perversion potenziert. In The Second Plane komprimiert Amis durch essayistische Abhandlungen und literarische Inszenierungen zu 9/11 Atheismus-Paradoxien, die er im Dienste einer Dekonstruktion von Religion und fundamentalistischen Religionsphilosophien entwirft. Der subjektive Ansatz von The Second Plane, der Klischees nicht mehr aufbricht und entwurzelt, führt – ganz im Gegensatz zu Amis‘ literarischer Inszenierung von Denkklischees – zur Bestätigung verengter Blickwinkel und gefestigter Stereotype. Die emotionale Anteilnahme wird für den Rezipienten niemals spürbarer als in der Essay-, Artikel- und Kurzgeschichtensammlung, am eindringlichsten erscheint die gefühlsmäßige Verwicklung in den Texten, die als direkte Reaktion auf die Terroranschläge veröffentlicht wurden. Die in Amis‘ fiktionalen Texten erkennbare Geisteshaltung der Paradoxie, die ihm als Strategie des Aufbrechens überholter Denkstrukturen dient, ist innerhalb der nicht- fiktionalen Abhandlungen zur Terrorismusdebatte nicht lokalisierbar, er wird zum Opfer der verkrusteten Denkklischees, deren Entlarvung ansonsten sein literarisches Programm prägt. Der

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Akt des Freitods wird in „The Last Days of Muhammad Atta“ zum paradoxen Markenzeichen der Selbstmordattentäter und spiegelt die Interpretation des Massenselbstmords im Namen von Religion als Metapher der Macht und Paradoxie des Glaubens wider. Die Paradoxie der sexuellen Revolution wird in The Pregnant Widow erneut aufgegriffen und sowohl über die Paradoxie des grotesken weiblichen Körpers als auch die Abwendung von stereotypen Geschlechterrollen demonstriert, die im Dienste eines invertierten Körper- und Weltverständnisses das Paradoxe in den Bereich des Rechtmäßigen verlagern sowie Konventionen traditioneller gender-Kategorien sichtbar machen und durchbrechen. Die Paradoxie übernimmt die Funktion eines radikalen Umwertungsprogramms des alten Wertekanons durch die Inversion der vorherrschenden Sexualnorm. Sexualität wird auf die erhöhte Tendenz zum Obszönen und Anzüglichen reduziert und negiert das Natürliche und Ungekünstelte zu Gunsten einer zunehmenden Artifizialität und tabubrechenden Grenzüberschreitung. Die Sezierung des grotesken weiblichen Körpers prägt den in The Pregnant Widow dargestellten Zeitgeist der sexuellen Revolution, der einen Paradigmenwechsel von traditionellen Geschlechternormen zur Ablösung überholter Sexualklischees herbeiführt. Das Normative weicht dabei dem Extremen und Bizarren, das „Abnormale“ definiert und storniert das „Normale“ zugleich. Als Symptom des sexuellen Traumas zeitigt das Paradoxon des weiblichen Körpers einen auf den Entwicklungen der sexuellen Revolution basierenden männlichen Identitätskonflikt. Die Paradoxie im Auftrag der Inversion von Geschlechterrollen lässt im Motiv der Minimierung und Auflösung von Maskulinität eine Machtmetapher des weiblichen Geschlechts erkennen. Die bloße Anpassung der weiblichen Figuren an das Sexualverhalten männlicher Figuren wird durch die Devianz von zeitgenössischen Körpernormen überwunden und transformiert zum Bild der Doppelgeschlechtigkeit durch das radikale Auflösen von Geschlechterstereotypen. Die Kurzgeschichte „The Little Puppy That Could“ bietet in einer Form des rewriting eine feministische Neuinterpretation mythologischen Materials, während „Straight Fiction“ den Entwurf einer homosexuellen Utopie vorstellt, die Kategorien von normativer und abweichender Sexualität verschwimmen lässt und das vermeintlich Paradoxe zum Zentrum des Orthodoxen erhebt. Die Paradoxie der Geschlechterrollen zeigt Amis auch in der Inszenierung pornographischer Welten. Der paradoxe pornographische Akt demonstriert trotz übertrieben aktiver Körperlichkeit eine mühsame, saftlose Darbietung, die auf der Basis von Artifizialität das Natürliche storniert und verweist als Form des lebendigen Totseins auf eine mechanisierte Art der Sexualität, die den natürlichen Impuls überwindet. Die Paradoxie des Pornographischen manifestiert sich in Money vor dem Hintergrund kapitalistischer Strukturen, die in Selfs Abhängigkeit von käuflicher Liebe

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und der dadurch implizierten Osmose der Grenzen des wirtschaftlichen Sektors und des domestischen Raums erkennbar werden. Pornographie wird in Money zur Desillusionierungsstrategie und mündet in Selfs Absturz in die vollkommene Vereinsamung. Die mit Pornographie einhergehende Sensationslust muss sich ins Unermessliche steigern und kollabiert in letzter Konsequenz inmitten des Prozesses einer vermeintlich linearen Luststeigerung. Die Folge des Zusammenbruchs pornographischer Superlative führt unweigerlich in die Sphäre des Depressiven und lässt das pornographische Lebensgefühl zur sinnsuchenden Melancholie verkommen. Die tiefe Trauer über etwas Verlorenes prägt die elegische Klage des auf sich selbst zurückgeworfenen Individuums und die Paradoxie einer aktionslosen Aktivität kristallisiert sich als Folge der pornographischen Betäubung heraus. Emotionale Grundbedürfnisse werden an die Oberfläche des Bewusstseins getrieben, können jedoch in Money nicht befriedigt werden und lassen den Protagonisten in einer seelischen Totenstarre verharren. Amis‘ Gesamtwerk kann als ein einziges Paradoxon gelesen werden, da es invertierte, absurd-groteske, auf den Kopf gestellte Welten vorstellt, durch die er gesellschaftskritisch gegen erstarrte Denkkonzepte und Konventionen anzuschreiben versucht. Klischees werden der Lächerlichkeit preisgegeben und mit paradoxen Techniken exterminiert, die ihnen eine Form der Nonkonformität und des Subversiven überstülpen. Amis‘ Texte können als Konglomerat paradoxer Strukturen eine Lebensmetapher der Paradoxie freilegen, die als Denkanstoß und Denkangebot, Waffe, Angriff auf die Vernunft des Lesers oder gar als Gewaltakt gegen den Leser verstanden werden kann. Als ein Umwertungsprogramm von Werten, ein Medium der Kritik, Puzzle oder Rätsel hält die Paradoxie als omnipräsenter Begleiter Einzug in die Literatur Amis‘. Die Bedeutung von Paradoxie für die literarische Postmoderne führt zu einer Verrückung des Zentrums und der Marginalpositionen. In den Kategorien Rasse, Klasse, gender, sexuelle Orientierung und Ethnizität überwindet die Zentrierung des Marginalen die Idee von Kultur als „homogenem Monolith“ mit einem mittelständischen, männlichen, heterosexuellen, weißen und westlichen Zentrum. Auch als Kategorie des entfremdeten Anderen, das auf binären Oppositionen basiert, die Hierarchien verschleiern und das einer Idee der Differenz mit dem Fokus auf dezentrierter Gemeinschaft (anstatt zentrierter Gleichheit) weicht, ist die Paradoxie der Postmoderne dekodierbar.684 Im Werk von Amis inskribiert sich die Zentrierung des Marginalen als neue, von der Orthodoxie abweichende Mitte im wesentlichen Strukturelement des Paradoxen und stiftet Bedeutung, indem Sinn aufgelöst wird. Das Paradigma der Paradoxie wird zum

684 Vgl. Hutcheon, A Poetics of Postmodernism, 12.

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Beschleuniger einer verzweifelten Auflehnungsgebärde gegen das Normative und prägt Amis‘ Literatur essenziell.685

685 Der Protagonist Charles Highway in The Rachel Papers erkennt die Unbeständigkeit von Paradoxie und Orthodoxie am Beispiel des Generationenkonflikts in den 1970er Jahren: „After all, was not the non-conformity of yesterday the conformity of today? Were not these young people as orthodox, in their very different way, as the orthodoxy they purported to be subverting?” (RP, 128) John Self hingegen wird in Money zum Sprachrohr zahlreicher von Amis entwickelter Figuren, deren hedonistische Sehnsucht nach einer „guten Zeit” und belanglosem Zeitvertreib sich entgegen jeglicher Form des Orthodoxen und im Verlangen nach exzessiver Sinnesbetäubung niederschlägt: „Boy, I wish someone had taught me self-discipline – when I was young, when you learn things without really trying. They could have taught me pride, dignity, and French too, while they were at it… I sit around trying to teach myself self-discipline. I can’t be doing with it, though (it just isn’t enough fun, self-discipline), and I always end up going out for a good time instead.” (M, 73)

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