Erlebniswelten

Herausgegeben von W. Gebhardt, Koblenz-Landau R. Hitzler, Dortmund F. Liebl, Berlin In allen Gesellschaft en (zu allen Zeiten und allerorten) werden irgendwelche kulturellen Rahmenbedingungen des Erlebens vorproduziert und vororganisiert, die den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnis- qualitäten in Aussicht stellen: ritualisierte Erlebnisprogramme in bedeutungs- trächtigen Erlebnisräumen zu sinngeladenen Erlebniszeiten für symbolische Erlebnisgemeinschaft en. Der Eintritt in dergestalt zugleich ‚besonderte’ und sozial approbierte Erlebniswelten soll die Relevanzstrukturen der alltäglichen Wirklichkeit – zumindest partiell und in der Regel vorübergehend – aufh eben, zur mentalen (Neu-)Orientierung und sozialen (Selbst-)Verortung veranlassen und dergestalt typischerweise mittelbar dazu beitragen, gesellschaft liche Voll- zugs- und Verkehrsformen zu erproben oder zu bestätigen. Erlebniswelten können also sowohl der ‚Zerstreuung’ dienen als auch ‚Fluchtmöglich keiten’ bereitstellen. Sie können aber auch ‚Visionen’ eröff nen. Und sie können ebenso ,(Um-)Erziehung’ bezwecken. Ihre empirischen Erschei- nungsweisen und Ausdrucksformen sind dementsprechend vielfältig: Sie reichen von ‚unterhaltsamen’ Medienformaten über Shopping Malls und Erlebnisparks bis zu Extremsport- und Abenteuerreise-Angeboten, von alternativen und exklusiven Lebensformen wie Kloster- und Geheimgesellschaft en über Science Centers, Schützenclubs, Gesangsvereine, Jugendszenen und Hoch-, Avantgarde- und Trivialkultur-Ereignisse bis hin zu ‚Zwangserlebniswelten’ wie Gefängnisse, Pfl egeheime und psychiatrische Anstalten. Die Reihe ‚Erlebniswelten’ versammelt – sowohl gegenwartsbezogene als auch historische – materiale Studien, die sich der Beschreibung und Analyse solcher ‚herausgehobener’ sozialer Konstruktionen widmen.

Herausgegeben von Winfried Gebhardt Franz Liebl Universität Koblenz-Landau Universität der Künste Berlin [email protected] [email protected]

Ronald Hitzler TU Dortmund [email protected] Peter A. Berger • Klaus Hock Thomas Klie (Hrsg.)

Religionshybride

Religion in posttraditionalen Kontexten Herausgeber Dr. Peter A. Berger Dr. Klaus Hock Dr. Th omas Klie Universität Rostock, Deutschland

ISBN 978-3-531-19577-3 ISBN 978-3-531-19578-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-19578-0

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Lektorat: Dr. Andreas Beierwaltes, Daniel Hawig

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Religionshybride – Zur Einführung ...... 7 Peter A. Berger / Klaus Hock / Thomas Klie Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften ...... 47 Reiner Keller

Religion

Die Vermehrung der Religionshybride ...... 65 Arnaud Liszka Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts und die Entkonturierung der religiösen Landschaft ...... 89 Winfried Gebhardt Alternative Heilverfahren als Religionshybride ...... 107 Dorothea Lüddeckens Religion, Spiritualität und die Popularität ...... 121 Hubert Knoblauch

Symbolische Orte

Heimweh nach einer besseren Welt – Die Kraft der Wiederverzauberung an symbolischen Orten ...... 135 Arnaud Liszka Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit – Zum Beispiel die Prignitz ...... 151 Julia Gabler / Andreas Willisch Raumpioniere. Lichter im Nirgendwo, Parallelwelten in der Peripherie oder Retter des ländlichen Raums? ...... 167 Peter Dehne 6 Inhalt

„Intentionale Gemeinschaften“ – Experimentierorte einer religionshybriden, „spirituellen“ Kultur? ...... 187 Iris Kunze

Performanz

Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene .... 203 Thomas Käckenmeister Posttraditionale Vergemeinschaftungen durch religiöse Efferveszenzen – Über den Katholischen Weltjugendtag in Köln und das Fusion Festival in Lärz ...... 217 Babette Kirchner Die Wieder- Er¿ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen ...... 231 Yvonne Niekrenz „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ – Posttraditionale Vergemeinschaftung und religiöse Produktivität in einer evangelikalen Gebetsbewegung ...... 243 Sebastian Schüler

Zum Forschungsprojekt „Religionshybride“

Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg- Vorpommerns ...... 269 Marlen Schröder

Abschließende Überlegungen zum Transformationsprozess von Religion in der abendländischen Moderne

Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen ...... 285 Hans-Georg Soeffner

Angaben zu den Autoren ...... 305 Religionshybride – Zur Einführung Peter A. Berger / Klaus Hock / Thomas Klie

Gegenstand des von den Herausgebern dieses Bandes gemeinsam verantworteten Forschungsvorhabens sind als „religionshybrid“ charakterisierte Ausdrucksgestal- ten transzendenzbezogener Sinnproduktion und ihrer Vergemeinschaftungsfor- men, wie sie sich vornehmlich im Kontext dreier in den Blick genommener Phä- nomenbereiche zeigen: in Kirchbauvereinen, Gutshausver einen und alternativen Gemeinschaften. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit sich um bestimm- te symbolische Orte im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns (Dorfkir- chen, Gutshäuser, ehemalige LPG-Anlagen u. a.) kulturelle Szenen herausbilden und dabei mehr oder weniger konkret transzendenzbezogene Sinngebungen frei- setzen, die als hybride Formen religionsaf¿ner, religionsäTuivalenter oder explizit religiöser Szenen beschrieben werden könnten. In den Blick kommen vor allem Formen posttraditionaler Vergemeinschaftung und Vernetzung, alltagsästhetische Form gebungen, Festkultur und „Events“ (z. B. Hoffeste), Wert haltun gen und Mo- tive. Dieser Gegenstandsbereich wird auf die Muster subjektiver Sinngebungen und die Logik einer gemeinsam geteilten performativen Praxis hin befragt, ohne die Konsistenz einer positiven Religion vorauszusetzen. Zu untersuchen sind da- bei religiöse Sinnsichten, die nicht bzw. nicht mehr im Zentrum der kulturellen Wahrnehmung ste hen und sich in bestimmte Szenen verlagern bzw. dort neu er- wachsen. Der Workshop1, aus dem dieser Band entstanden ist, diente nicht nur dazu, das Design des Forschungsprojekts vorzustellen und erste, vorläu¿ge Er- gebnisse zu präsentieren. Zugleich sollte er Expertinnen und Experten, die aus der Perspektive unterschiedlichster Disziplinen in verwandten Forschungsfel- dern oder an ähnlichen Fragestellungen arbeiten und in projektrelevanten theore- tischen oder methodologischen Diskussionen engagiert sind, Gelegenheit geben, sich mit ihren Beiträgen in kritischer Weise zu unserem Vorhaben zu positionie- ren. Dies ist, so viel lässt sich bereits jetzt mit Sicherheit sagen, gelungen. Anzu- merken ist dazu allerdings, dass wir bereits vor der genannten Veranstaltung in internen Diskussionen einige konzeptionelle und theoretische Grund annahmen

1 Workshop „Religionshybride – Religionsproduktivität posttraditionaler Gemeinschaften?, Rostock, 24./25. Februar 2012.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 8 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie in Frage zu stellen begannen, die dem anfänglichen Forschungsdesign zugrunde lagen. Wenn wir im Folgenden vornehmlich den Ausgangspunkt unseres Vorha- bens nachzeichnen, um von dort aus den Bogen zu den hier versammelten Bei- trägen zu spannen, ist also in Rechnung zu stellen, dass wir uns in einem „work in progress“ be¿nden. Dessen Dynamik zeichnet sich insbesondere in den Bei- trägen unserer Projektmitarbeiter/innen ab, so dass diese Hinführung offene En- den haben muss, die einerseits den Anschluss an die hier versammelten Beiträge gewährleisten sollen, andererseits jedoch bereits Anknüpfungspunkte zur wei- terführenden Arbeit bieten.

1. Ausgangspunkt und gemeinsamer Horizont: die Performanz des Kulturellen Der ländliche Raum in Mecklenburg-Vorpommern ist häu¿g als Problemfeld Ge- genstand öffentlicher Diskussionen: Bevölkerungsrückgang, Veränderungen in der demographischen Struktur (sinkender Anteil junger Menschen, insbesondere junger Frauen), Abwanderung Tuali¿zierter Arbeitskräfte, Wohnungsleerstand, mangelnde Infrastruktur, Arbeitslosigkeit, Verfall von Kirchen, Schlössern, Guts- häusern etc. Doch diese Wahrnehmung blendet gewichtige Dimensionen der ge- sellschaftlichen und kulturellen Realität aus, die in gegenläu¿gen Prozessen zum Ausdruck kommen, und auf die den Blick zu richten sich durchaus lohnt: Sozi- ale Gemeinschaften, die den ländlichen Raum beleben und junge Menschen in die Region bringen bzw. dort halten, die Gebäude vor dem Verfall bewahren und renovieren und die sich selbst versorgen, ein Gewerbe aufbauen oder Arbeits- plätze schaffen. Diese Gemeinschaften ¿nden sich besonders häu¿g als Kirch- bauvereine, als Vereine, die sich der Renovierung, Erhaltung und Nutzung herr- schaftlicher Häuser (Guts häu ser, aber auch Schlösser2, Burgen3, Herrenhäuser4 und Parkanlagen5) widmen, sowie als Gruppierungen, die häu¿g ebenfalls leer- stehende Gebäude renovieren und sich zumeist selbst als alternative, ökologi- sche oder naturreligiöse Lebensgemeinschaften6 betrachten. All diese Gemein- schaften sind insofern von Interesse, als sich ihre jeweiligen „Raumnahmen“ mit spezi¿schen Sinngebungen verbinden, die über ein alltägliches Verständnis von „Sinn“ hinausgehen – was vorläu¿g mit dem Begriff des „Hybriden“ markiert

2 Z. B. Kultur und Förderverein Schloss Bothmer e.V. (www.schloss-bothmer.de). 3 Z. B. Kultur 7ransit 96 e.V. (www.burg-klempenow.de). 4 Z. B. Vorpommern Künstlerhaus e.V. (www.kuenstlerhaus-vorpommern.de). 5 Z. B. Förderverein Dammereezer Park e.V. (www.dammereez.de). 6 Z. B. die Lebensgemeinschaft in Klein Jasedow (www.kleinjasedow-familie.de/news/index. html). Religionshybride – Zur Einführung 9 werden soll. Im Zentrum unseres interdisziplinären Vorhabens steht entsprechend die Frage, inwieweit sich um bestimmte symbolische Orte im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns (Dorfkirchen, Gutshäuser, ehemalige LPG-Anlagen u. a.) eine in diesem Sinne „hybride“ Kultur religionsaf¿ner, religionsäTuivalenter oder explizit religiöser Gemeinschaften unterhalb der Schwelle nicht nur kirch- licher, sondern generell religiöser Institutionalisierung im Sinne fortgeschritten verfestigter oder gar etablierter Struktur- und Organisationsformen gebildet hat.

1.1 Symbolische Orte Das Projekt „Religionshybride“7 blickt auf Kirchbauvereine8, Gutshausvereine und alternative Ge meinschaften. Die Ausgangshypothese ist, dass diese drei sehr unterschied lichen, aber im Blick auf ihre Performanz eng miteinander verwand- ten Gruppierungen posttraditionale Gemeinschaften darstellen. Gemeinsam ist ihnen neben den posttraditionalen Charakteristika (Nicht-Exklusi vität, frei ge- wählte Mitgliedschaft, ästhetische Motivation, rituelle Vergemeinschaftung) vor allem die räumliche Orientierung an einem symbolischen Ort. Die kollektive Inanspruchnahme von Raum bildet eine „Klammer“ für sozi- al- und religionswissenschaftliche Befunde, denn die dabei anfallenden Raumord- nungen korrelieren mit den Geltungsansprüchen der jeweiligen Akteure. Wie das, was sich baulich sedimentiert hat, „bespielt“ und gestaltet wird, verdankt sich – so die 7hese – einer gemeinsamen Programmatik, wie sie z. B. in einer Vereins- satzung greifbar ist oder sich implizit an bestimmten Praktiken und Produkten ablesen lässt. De¿niert man Raum als „das vom Menschen jeweils in Gleichzei- tigkeit wahrgenommene Nebeneinander von Dingen inklusive den diesem Ne- beneinander zugehörigen Möglichkeitsbedingungen“ (Jooß 2005: 25), dann fal-

7 DFG-Projekt „Religionshybride“ an der Universität Rostock (KL 1294/4-1); Prof. Dr. Peter Berger/Makrosoziologie; Prof. Dr. Klaus Hock/Religionsgeschichte, Religion und Gesellschaft; Prof. Dr. 7homas Klie/Praktische 7heologie. 8 Kirchbauvereine in Ostdeutschland verbinden mit den Kirchbau ver einen in Westdeutsch land kaum mehr als der gemeinsame Gattungsbegriff und der Umstand, dass sich beide an ein Sa- kralgebäude anlagern. Ostdeutsche Kirchbauvereine verdanken sich (1.) zeitgeschichtlich der sog. „Wende“. Ihre Ent stehung ist (2.) ein sozialer ReÀex auf die Wahrnehmung einer Àächen- deckenden kirchenbaulichen Verwahrlosung; und anders als in den alten Bundesländern haben diese Vereine in den neuen Bundesländern (3.) weni ger die Aufgabe einer religionspraktischen Op timierung des Inte rieurs (neue Orgel bzw. Restaurierung von Kunstgegenständen), vielmehr sind hier elementare Fragen der Bauerhaltung und Nutzung durch verschiedene Akteure zu beant worten. Das kameralistische System der kirchlichen Mittelverwaltung greift hier nur unzureichend, die Mittel werden an der Basis generiert. – Aufgrund dieser besonderen Gene- se und dem Umstand, dass sich hier oft mehr sog. „Konfessionslose“ als Kirchenmitglieder engagieren, sind Kirchbauvereine in Ostdeutschland durchaus auch zu den posttraditionalen Gemeinschaften zu zählen. 10 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie len bei Fragen nach dem Raum ästhetische, hermeneutische und pragmatische Aspekte sozialen Handeln in eins.

„… Ja, Ziel ist einmal auch, es sind ganz viele. Ziel ist einmal, dieses Kloster ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, der Bürger Rehnas als auch der Gäste. Dass es etwas Besonderes ist, dass es ein Kulturerbe ist, das es zu bewahren gilt – jetzt, heute und in Zukunft – das man nicht achtlos liegen lassen kann. Sondern man muss die ganzen Facetten rund ums Kloster, wie ge- sagt: Leben im Kloster, Glauben, alles was dazugehört, Klostergarten, den Menschen bewusst machen und ihnen das nahebringen. Das ist also ein Ziel. Wir verfolgen damit auch touristi- sche Ziele, damit wir mehr Geld bekommen. Kirche war ja früher auch ein Wirtschaftsfaktor.“9

Sätze wie die hier zitierten10 belegen, wie sehr die performative Praxis von den Protagonisten der zu untersuchenden Gruppe in den weiteren sozialen und öko- nomischen Horizont eingezeichnet wird. Als „symbolische Orte“ gelten Räum- lichkeiten, denen über die Bespielung durch eine Gruppe von Akteuren eine be- sondere Bedeutung zugeschrieben wird bzw. die in ihrer Geschichte als regional anerkannte Bedeutungsträger fungiert haben. Alte (Dorf-)Kirchen11 und Guts- häuser beziehen ihre Symbolkraft aus den AnmutungsTualitäten der Architektur und der von ihr geprägten Umgebung, wobei die fortdauernde sakrale Nutzung bzw. der aristokratische Kontext (in Mecklenburg bis 1945) wichtige Aspekte der Raumwahrnehmung sind. Als Resultat einer ebenso funktionalen wie kontingen- ten Anordnung ist die Bedeutung eines Raumes immer auch kulturell vermittelt. Dies gilt umso mehr bei den Orten, die von sog. alternativen Gemeinschaften ge- nutzt und bewohnt werden (z. B. alte LPG-Gebäude), denn hier muss eine für den Ort signi¿kante „Aura“ allererst durch die Nutzung hergestellt werden. Über diese relationale Bestimmung ist die 7heorie symbolischer Orte direkt anschlussfähig an das analytische Instrumentarium der Raumsoziologie Marti- na Löws, die sich auf die den Raum prozessual konstituierenden Syntheseleis- tungen bezieht (Löw 2001). Denn die raumsoziologische Perspektive auf die mit der Wahrnehmung von bedeutsamen Räumlichkeiten verbundenen An ordnungs- prozes se unterscheidet zwischen dem Positionieren symbolischer Markie rungen („Spacing“) und den Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozes sen, über die Räume konstituiert werden („Syn these leistung“). „Im alltäglichen Han- deln der Konstitution von Raum existiert eine Gleichzeitigkeit der Syntheseleistun- gen und des Spacing, da Handeln immer prozesshaft ist. 7atsächlich ist das Bau- en, Errichten oder Platzieren, also das Spacing, ohne Syntheseleistung, das heißt ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Men-

9 Klosterverein /Mecklenburg, 7elefoninterview/Pretest 3/2007 vom 13.04.2007. 10 Aus einem Interview aus der Vorbereitungsphase dieses Projekts im Jahre 2007. 11 Wolfgang Grünberg und Alexander Hörner sprechen im Blick auf die großen Backsteinkirchen im Ostseeraum von „Symbolkirchen“ (vgl. Grünberg/Hörner 2008). Religionshybride – Zur Einführung 11 schen zu Räumen, nicht möglich.“ (Löw 2001: 159) Die Syntheseleistung kann als Abstraktionsleistung auch ohne reale Spacings erfolgen, z. B. wenn von „Kirche“ oder „Gutshaus“ die Rede ist und implizit ein auratischer Ort dazu imaginiert wird, der – möglicherweise – neu „bespielt“ werden kann. Folgt man diesem An- satz, dann ist z. B. die 7opologie der Predigt einzuzeichnen in das Dreieck zwi- schen dem jeweiligen materiellen Substrat (Gebäude), den sich dort anlagernden Handlungs- bzw. Verhaltensmustern (Veranstal tungen) sowie den symbolischen Repräsentationen, die das Bespielen des Ortes jeweils motivieren und struktu- rieren (Programmatik und Zeichenrepertoire einer Gruppe).

1.2 Religion und Performanz Religion ist ein Kulturphänomen. Wenn sich das individuelle und kollektive Ver- halten zum Unver füg baren artikuliert12, geschieht dies immer in den Formen der umgebenden Kultur. Eine „reine“ Religion bzw. eine hermetische Kultur sind ab- strakte Konstrukte ohne Anhalt an empirischer Wirklichkeit. Religiöse Praktiken oder transzendenzbezogene Sinnentwürfe vollziehen sich nicht nach Maßgabe dogmatischer Normen. Vielmehr ist die Herausbildung wie die Erosion religiöser Sinn gebungen eingelagert in kontingente kulturelle 7ransformationsprozesse.13 In ihnen gewinnen mehr oder weniger dauerhafte Vergemeinschaftungs-, aber auch Vergesellschaftungsformen Gestalt; ehedem kulturprägende Konfessionen transformieren sich zunehmend in das, was wir vorläu¿g als religiöse Hybri- de bezeichnen. Neben dem institutionellen Erosionsprozess großkirchlicher Re- ligionspraxis ¿nden sich dabei auch Formen einer spät modernen Religionspro- duktivität. In allen Stadien dieser komplexen und reziproken 7ransformationen äußert sich Sinn.14 Es gibt keine sinnvolle Lebensäußerung ohne Performanz. In der (Alltags-)Kultur eingelagerte Gewissheitskom mu ni kationen treten gewisser- maßen an die OberÀäche, werden aber z. 7. auch neu produziert.15 Fragt man also nach der möglicherweise religiösen Pragmatik des Handelns, wie es exemplarisch in diesem Forschungsprojekt intendiert ist, so muss sich das wissenschaftliche Interesse primär auf die Er schei nungs formen richten, in denen die in den Blick genommenen Sinnsichten gruppen- bzw. vereinsspezi¿sch dargestellt oder „per-

12 In Anlehnung an die Religionsde¿nition von Friedrich Kambartel zit. n. Lübbe 1986: 149. 13 Exemplarisch aus der Fülle der Literatur vgl. Gräb 2006; Wagner 1999; 7raupe 1999; Berger 1999; Kenis 2008; Noss 2008: 21-27; Knoblauch 2009. 14 Als eine für dieses Forschungsprojekt operationalisierbare De¿nition von „Sinn“ dient eine formale Bestimmung: Sinn ist „die Vermutung eines Zusammenhangs im unvermeidlichen Übergang von Wollen, Handeln und Vollbringen“ (Korsch/Charbonnier 2008: 11). 15 Auch Wohlrab-Sahr räumt ein, dass die „grundlegende 7ranszendierungskapazität des Menschen […] potentiell religionsproduktiv“ ist. (Wohlrab-Sahr et al. 2009: 265). 12 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie formiert“ werden. Die Frage nach der Produktion von Sinngebung – und im spe- zi¿scheren Fall: von religiöser Sinngebung mit ihrem mehr oder weniger expli- ziten 7ranszendenzbezug – ist eine Frage nach deren Performanz.16 Die Tuali¿zierte Wahrnehmung religiöser und religionsaf¿ner Formen im Übergangsbereich von Kultur und Religion – bzw. im Kontext des Übergangsbe- reichs von nicht-religiöser zu religiöser Sinnproduktion – ist in mehrfacher Hin- sicht auf die Performanz der zu untersuchenden Phänomene verwiesen. Dies gilt zunächst für den hier vorausgesetzten Religions- und Kulturbegriff, für die Er- scheinungsformen des zu untersuchenden Gegenstands, aber auch grundsätzlich für die Form-Inhalt-Relation im Verständnis von religiös konnotiertem Handeln. Exemplarisch kommt dies zum Ausdruck in dieser Interview-Passage:

„Dann … haben wir mal vor zwei Jahren … eine Reihe Fioretti nach Franz von Assisi gespielt, Musikalisches und 7extliches gespielt, in verschiedenen kleinen Kirchen gemacht. Das war eine wunderschöne Aktion. … Die Gemeinde hat Blumen mitgebracht – das war sehr schön. Und wir haben einfach musiziert. … Und da haben wir gesagt, so, jetzt machen wir diese Rei- he, wir machen nicht nur Aktivitäten hier, sondern gehen in diese kleinen Kapellen und Kir- chen und haben dort mit dem Motto ‚Franziskus‘ – deswegen auch Fioretti – das als Aufhänger benutzt, um dann jeweils zu einem 7hema eine Mischung aus Musik, 7ext und 7änzerinnen, die dann in der Kirche die mitgebrachten Blumen gefangen hatten, das waren wunderschöne Berge, die die Kirche geschmückt haben, standen Tuasi die dahinter.“17

Wissenschaftliche Per formativitätskonzepte reÀektieren auf Wirklichkeit und Funktion medialer Ver körperungs bedingungen; sie reÀektieren auf die Signi- ¿kanz dessen, was sich zeigt. Hier pro¿tiert die empirische Religions forschung in der Praktischen 7heologie, der Religions wissenschaft und der (Religions-) Soziologie vom performa tive turn in den Kulturwissenschaften.18 Die Deutung

16 Epistemisch und semantisch ist hier zwischen Performanz (als eher konkretem Handlungsbegriff) und Performativität (als eher abstraktem ReÀexionsbegriff) zu unterscheiden. Der theoretisch weitere Performativitätsbegriff referenziert die Gestaltbedingungen von Performanzen – der theoretisch engere Performanzbegriff steht für die theatrale Präsentation. Performanz beschreibt die darstellerische Durchführung, das also, was die Ritualtheorie und die Sozialanthropologie nach der GestaltTualität ritueller Dynamik fragen lässt. Performanz impliziert Aspekte der Herstellung und der Darstellung, des Produzierens und des Präsentiertwerdens. Performativität wird durch vollzogene Performanz allererst generiert. (vgl. Mersch 2002). 17 Kulturgut Dönkendorf/Mecklenburg, 7elefoninterview/Pretest 4/2007 vom 4.5.2007. – In den legendenhaften 7exten der Fioretti kommen religiöses Sujet und mittelalterliche Lyrik zusammen. Das Ensemble des Kulturguts Dönkendorf re-inszeniert diese Melange unter den Bedingungen einer fast vollständig entinstitutionalisierten Christentumspraxis in Mecklenburg als eine kultur-religiöse Performance in Dorfkirchen aus der Umgebung des „Kulturgutes“. 18 Eine Übersicht gibt Uwe Wirth (Wirth 2002); in theatertheoretischer Perspektive vgl. Fisch- er-Lichte/Kolesch (1998). – Sprachliches Indiz des sog. performative turn ist die Umcodierung des 1955 durch John Austin formulierten Neologismus von einem 7erminus technicus der Sprechakt theorie zu ei nem umbrella term in nerhalb der die Kultur thematisierenden Wissen- schaften. Mit der enormen Weitung seiner Semantik steht der Performanz-Begriff nun nicht Religionshybride – Zur Einführung 13 von Performanz-Phäno menen bildet dort schon seit längerer Zeit die epistemi- sche Klammer, über die die Formenvielfalt kultureller Lebens äuße rungen in eine fruchtbare inter- und transdisziplinäre Perspektive einrückt. Grundlage da- für ist das veränderte Verständnis von Kul tur. Nachdem bis in die späten 1980er Jahre der Vorstellungs zusam men hang „Kultur als 7ext“ dominierte, rückt seit- her „Kultur als Performanz“ in den Fokus.19 Damit weiten sich insofern Gegen- standsbereiche und Forschungshinsichten, als nun nicht mehr nur textförmige Objektivationen thematisch werden, sondern auch – im weitesten Sinne – ereig- nisförmige Phänomene. Die kulturwissenschaftliche 7exthermeneutik wird zur Kultur- und Religionshermeneutik. Die performative Akzentverschiebung eröffnet der Religionsforschung inter- und transdisziplinäre Zugänge. Sie erleichtert die methodische Verständigung und trägt nicht zuletzt dem Umstand Rechnung, dass der gemeinsame Gegenstand gewis- sermaßen in sich theatral verfasst ist. Religiöse Praxis in spät- bzw. nachchrist- lichen Kontexten äußert sich weniger in der Auseinandersetzung mit 7exten (Le- xis), als in einem davon weitgehend unbestimmten „Verhalten-Zu“ (Praxis). Sie legitimiert sich kaum noch über die Normativität von 7exten. Vielmehr äußert sie sich über die pragmatische Ästhetik20 pluraler Sinngebungen, die ihre Gene- se jedoch häu¿g nicht mehr aus sich heraus tradieren (können). Oft werden die religiösen Motive, denen sich diese Ästhetiken verdanken, nicht mehr gewusst. Als zu deutender Zeichenzusammenhang sind daher auch all die Aktivitäten von hoher Signi¿kanz, die kommunikativ nicht intendiert sind. Berühren diese Prag- matiken den Bereich letzter Sinngebungen, ist die religiöse Dimension erreicht. Mit der Verschiebung des Fokus vom 7extcharakter zum Ereig nischarakter von Kultur und Religion weitet sich auch die Semantik des Performanz begriffs. Der universalprag matische Anspruch, den Austin seinerzeit erhob (Langshaw Austin 1972), wird in eine universal theatralische Betrachtungs weise moduliert (Performativität) (Wirth 2002: 39). Die performative Wende innerhalb der Kul- tur- und Sozialwissenschaften fokussiert auf die Handlungsvollzüge und die so- zialen Dynamiken, deren innere Logik und Plausibilitätsstrukturen, die die jewei- ligen kulturellen Erei gnisse überhaupt erst konstituieren. Im wissenschaftlichen

mehr nur für die willentliche Ausführung eines Sprechaktes, er signi¿ziert auch die Insze- nierung sinnhafter Handlungen sowie die Gestaltwerdung normativer Vorgaben. Die Kategorie der Performanz hat also eine funktionale und eine eher phänomenale Semantik. Gemeinsamer Nenner innerhalb des epistemisch besetzten Wortfeldes „Performativität“ ist, dass es hierbei weniger um ein „Dahinterliegendes“ als um das phänomenale Geschehen selbst, weniger um die Struktur als um einen Prozess, weniger um 7exte und 7exturen als um die Herstellung von Wirklichkeit geht. 19 Vgl. hierzu auch den kulturtheoretischen Ansatz von Karl H. Hörning (Höming/Reuter 2004). 20 Zum Begriff der „pragmatischen Ästhetik“ vgl. Knoblauch (1998: 305-324). 14 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie

Diskurs werden damit so unter schiedliche Disziplinen wie Ritualfor schung (7ur- ner 1988; Köpping/Rao 2008) und Kulturwissenschaft (Duttlinger 2003; Oster 2008; ùiray 2009), Rhetorik (Posselt 2005) und Psychoanalyse (PÀichthofer 2008), Soziologie (Haas 2005; Willems/Jurga 1998; Wulf et al. 2001) und (Praktische) 7heologie (Klie 2008a; Klie/Leonhard 2008; Dressler et al. 2012), philosophische 7heatralitäts forschung (Krämer 2004; Gronau 2008) und Religionswissenschaft (Bell 2004: 205-220. LaMothe 2004; dies. 2005: 101-133; vgl. a. Lee 2005: 5-16) aufeinander abbildbar. Performanz wird zu einem heuristischen Instrument, um die Wirkungen und Anmutungen, die von einer Handlungsfolge ausgehen, zu Tuali¿zieren. Über den Zeichencharakter des Performati ven werden interdiszip- linäre Vergleichsstudien möglich. Diffuse Interaktionsformen können als Emer- genz von Bedeutung verstanden und Perspekti venwechsel methodisch operatio- nalisiert werden. Bei der Indienstnahme des Performanzbegriffs zeichnen sich derzeit drei 7endenzen ab (Wirth 2002: 42): 1. die Theatralisierung21, bei der auf die Schnitt- stelle zwischen Programmatik und Performanz reÀektiert wird, 2. die Iteralisie- rung, bei der Zitations- und 7ransformationsprozesse in den Blick kommen und 3. die Medialisierung, bei der es um die Verkörperungsbedingungen bestimm- ter Codes geht. Bei der Erforschung von Religionshybriden sind alle drei Aspekte von Per- formanz von Bedeutung: In der Außendarstellung von Vereinen bzw. von Ge- meinschaften anlässlich der Generierung ¿nanzieller Ressourcen durch Kon- zerte, Pressegespräche und Ausstellungen treten der Selbstanspruch und dessen Darstellung auf der „Bühne“ des jeweils bespielten Raumes möglicherweise in charakteristischer Weise auseinander. Dass im Phänomenbereich religiöser Hyb- ridbildungen mit einer Sinnbricolage zu rechnen ist, bei der Sinnsurrogate zitiert und umgeformt werden, bildet die Initialüberlegung dieses Forschungsprojekts; und schließlich fungiert in dieser Sichtweise die Inszenierung des gemeinschaft- lichen Zusammenlebens bzw. der vereinsförmigen Interaktion als ein vermitt- lungssteuerndes Dispositiv.22 Dabei sind die Darsteller immer auch zugleich das Publikum ihrer selbst, wie das angeführte Beispiel der „Performance“ der Klein Jasedower Lebensgemeinschaft (s. u.) zeigt.

21 S. u. die Szenographie der Performance der Gruppe in Klein Jasedow. 22 Dies ist eines der Ergebnisse der jüngsten Studie von Wohlrab-Sahr. Sie erhebt in ihren Interviews zur ostdeutschen Generationendynamik einen Motivkomplex, der sich in einem „positive(n) Rekurs auf Gemeinschaftlichkeit und Solidarität“ zeigt. Bisweilen kann sich dieser Motivkomplex bis „zum Anspruch einer auf Gemeinschaft basierten Gesellschaft“ steigern. (Wohlrab-Sahr et al. 2009: 267). Religionshybride – Zur Einführung 15

Im folgenden Interview-Ausschnitt deutet sich eine Programmatik an, bei der die drei genannten Performanz-Aspekte zum 7ragen kommen. Als zentrales Motiv wird das topologisch angemessene Bespielen des historischen Gutshauses genannt (7heatralisierung). Diese spezi¿sche „Nutzungsidee“ verweist auf über- geordnete Sinnkonstrukte; das Gesamtkunstwerk soll zum Katalysator wer den für die Konstitution von Lebenssinn (Iteralisierung). Inszeniert werden soll eine „Parallelwelt“, die die vor¿ndlichen kulturellen Codes im Modus künstlerischer Darstellung kontrastiert.

„… Unser Anspruch Tuasi wäre DenkmalpÀege, wo man seine Nutzungsidee dem Haus an- passt. Dass man so viel als möglich vom historischen Bestand, in den meisten Fällen sind’s ja Kulturdenkmale, erhält. Und so ist es so, dass bei uns im Verein Denkmal p Àeger sind, die sind Restauratoren, Kunsthistoriker, Archäologen und aber auch Leute, die Tuasi nur sich da- für interessieren, also das sind Maler, das sind Künstler anderer Richtungen, das sind Leu- te, die sind Kriminologen, Sonderschulpädagogen. Im Allgemeinen haben wir natürlich ei- nen Anspruch der DenkmalpÀege und das mit sehr, sehr hohen Engagement zu machen und auch mit sehr viel Fachkompetenz. Wir rekonstruieren ja größtenteils selber und wir eignen uns selber die 7echniken an. Und der andere Anspruch ist, Kunst und Kultur zu machen. … Wir machen die Parallelwelt. Im Grundvertrauen für uns, für Leute, die unseres Geistes sind, wenn ich das mal so frech sagen darf, einfach ein Begegnungsort von Leuten, die bestimmte Sachen vom Leben wollen und alles haben, nämlich noch Fragen.“23

Die Sinnhorizonte, die in ästhetischen Operationen beansprucht werden, kon- kretisieren sich jeweils situations- und bereichsspezi¿sch. Religionshybride brin- gen immer ein zugleich räumlich wie zeitlich bestimmtes Verhältnis zum Aus- druck. Alleinstellungsmerkmal des hier abgegrenzten Phänomenbereichs ist dessen Zentrierung um ganz bestimmte symbolische Orte24 im ländlichen Raum Mecklenburg-Vor pom merns (Dorfkirchen, Guts häuser, ehe malige LPG-Anlagen u. a.). An diesen symbolischen Orten etablieren die zu untersuchenden posttra- ditionalen Gemeinschaften – dies haben Pretests und Begehungen gezeigt – eine charakteristische Fest- und Eventkultur (z. B. Hoffeste, Kirchweihfeste25, Kon-

23 Künstlerhaus Heinrichsruh/Vorpommern, 7elefoninterview/Pretest 5/2007 vom 06.05.2007. – Eine analoge Argumentationsstruktur macht auch Wohlrab-Sahr in den Interviews aus, „in denen auf Religion als kulturelles Gut und in ästhetisierender Weise Bezug genommen wird“. Für einen 7eil der Befragten spiele „weniger die dogmatische oder spirituelle Dimension eine Rolle …, als dass religiöse 7exte und Rituale in ihrer ästhetischen Form betrachtet und in Zu- sammenhang mit eigenen kulturell-ästhetischen Präferenzen gebracht werden.“ (Wohlrab-Sahr et al. 2009: 231). 24 Wohlrab-Sahr spricht in diesem Zusammenhang von einer „Suche nach Räumen der Authen- tizität“. (Wohlrab-Sahr et al. 2009: 294ff). 25 Kirchbauverein Bad Sülze/Vorpommern, 7elefoninterview/Pretest 9/07 vom 13.05.2007: „So wie ich eingangs erwähnte, ist es z. B. das ‚Fest unterm Turm’. Das ist, mit der Kirchturmre- novierung ist das ins Leben gerufen worden. Oder auch ‚Musik unterm Turm’, je nachdem, was wir für Musik µranbekommen. Auf jeden Fall ¿ndet einmal, gleich zu Anfang des Sommers, 16 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie zerte, Ausstellungen, Work shops26). Darüber wird der jeweils bespielte Raum zeitlich verdichtet. Diese raum-zeitliche Spezi¿k lässt die projektbezogene Ope- rationalisierung des kultursoziologischen Konzepts der Szene analytisch funk- tional erscheinen.27

1.3 Performative Programmatik – erste Eindrücke In Pretests (insgesamt zehn 7elefoninter views28) wurden als zentrale Motive für das Engagement in den Kirchbau- und Gutshausvereinen genannt: geschichtliches Bewusstsein, kulturelles Gedächtnis und soziale Identität. Hieraus ergibt sich fol- gendes Bild: Mit der Heterogenität der Vereinsmitglieder verändern sich die Nut- zungskonzepte; die sich jeweils anlagernden Szenen konstituieren eine überaus Àuide Relation von Kultur und Religion (Schäfer-Streckenbach 2007). In Landow/ Rügen ist eine „Kultur- und Wegekirche“ entstanden29; in Barkow/Plau am See ist aus der mittelalterlichen Dorfkirche ein hochmoderner Multifunktionsraum geschaf fen worden – er soll die erste „Flusspaddler-Kir che“ Deutschlands werden30; in /Schwerin entsteht eine Art Hochzeitskirche31; in Federow/Müritzkreis ist eine „Hör spielkirche“ eingerichtet worden32; in Pantlitz/Ribnitz-Damgarten

ein ‚Fest unter dem Turm’ statt mit Musik unterm Turm eben, wo wir dann Kirchführungen anbieten, es gibt Bratwurst und Getränke usw. Wir haben immer ‘ne Musik dabei, die uns dann unterhält und das ist schon das dritte Jahr mittlerweile jetzt zur Tradition geworden. Also – das ist wirklich das Fest, das durch den Förderverein ins Leben gerufen wurde und eben Bestand hat.“ 26 Gutshausverein Hermannshagen/Mecklenburg, 7elefoninterview/Pretest 8/2007 vom 12.5.2007: „Klassisch [ist] die Sommerbaustelle, die Sommerbaustelle ist eine ganz klassische, schon mittlerweile im achten Jahr also wirken wir da eifrig. Da laden wir viele, viele Menschen ein wie Vereinsmitglieder, wie auch Menschen, die im weitesten Sinne irgendwie davon gehört haben – dem Verein näher stehen oder entfernter –, aber dann für vierzehn Tage, drei Wochen hier vor Ort leben und im Projekt arbeiten. Ganz konkret handwerklich tun.“ 27 Hitzler zeichnet dieses Konzept in eine sozialwissenschaftliche Perspektive ein, „die versucht, den Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens dadurch auf die Spur zu kommen, dass sie dieses als einen ständigen Strom wechselseitiger Inszenierungen begreift, dem ein analytisch fassbarer Komplex dramaturgischer Leistungen zugrunde liegt“. (Hitzler 1998: 94). 28 Interviewt wurden anhand eines Leitfadens jeweils die Vorsitzenden folgender Kirchbau- und Gutshausvereine: Kirchbauvereine in Kölzow, Bad Sülze, Rehna, Bibow, Landow und Barkow; die Gutshausvereine in Heinrichsruh, Hermanshagen und Dönkendorf sowie der Synagogen- verein Güstrow (alle in Mecklenburg-Vorpommern). 29 http://www.kirchelandow.de/. 30 http://www.kirche-barkow.de/. 31 http://www.denkmalschutz.de/dorfkirche_bibow.html. 32 http://www.hoerspielkirche.de/. Religionshybride – Zur Einführung 17 gibt es eine „Radfahrer-Kirche“ 33; in Rosow/Odertal ist eine „Gedächtniskirche“ für die deutsch-polnische Ge schichte entstanden.34 Diese Neu- und Umnutzungen symbolischer Räumlichkeiten durch ein im weitesten Sinne kulturell motiviertes Kollektiv zeigt sich auch – allerdings in sehr viel geringerer Anzahl – bei den für Mecklenburg-Vorpommern typischen Guts- hausvereinen. Die in der frühen DDR-Zeit enteigneten Gutshäuser wurden nach 1989 nur zu einem geringen 7eil ihren ursprünglichen Besitzern übergeben. Viel- fach haben sich dort Initiativen gegründet, die diese geprägten Lokalitäten neu in Gebrauch nehmen. Hier ¿ndet sich eine bunte Gemengelage kultureller, öko- logischer und esoterischer Aktivitäten. Zum 7eil wurden auch alte LPG-Stand- orte übernom men. In den Vergemeinschaftungen, z. B. „Hof Ulenkrug“35, „Klein Jasedow“36, „Freiraum e.V. Wagen burg“ 37 performieren sich Szenen an symbo- lischen Orten.

2. Raum, Religion, Performanz in den Fachdiskursen Quer zu dem oben skizzierten gemeinsamen Horizont der Performanz des Kul- turellen stehen fach wissenschaftliche Perspektiven, die das gemeinsame Vorha- ben sowohl in ihre unterschiedlichen Di mensionen ausdifferenzieren als auch aufeinander beziehen. Die folgenden Anmerkungen rekurrieren nochmals auf den Ausgangspunkt des Projekts, indem die jeweilige Verortung innerhalb fach- wissenschaftlicher Diskurse thematisiert wird, wie sie sich zu Beginn des Vor- habens dargestellt hat. Welche Modi¿kationen sich inzwischen andeuten, wird eher fragmentarisch zwischen den Zeilen aufgezeigt.

2.1 Raum und Performanz Der praktisch-theologische Raumdiskurs ist bestimmt durch die Frage nach der Bedeutung des Sakralraums. Kirchengebäude werden vor allem dann thematisch, wenn es um die 7opologie liturgischer Vollzüge geht (Klie 2008b: 27-40; Kopp 2011; Erne/Schüz 2010). Die Literatur zum 7hema war hier lange Zeit durch die dogmatische Vorgabe geprägt, das gottesdienstliche Geschehen als raumunabhän- gige Größe zu denken (vgl. dazu Klie 2003b: 269ff). Luthers Raumkonzept sah

33 http://www.kirche-ahrenshagen.de/pantlitz/index.html. 34 http://www.rosow.de/index.html. 35 http://www.keimblatt.de/ulenkrug/ulenkrug.html. 36 http://www.kleinjasedow-familie.de/about/index.html. 37 https://www.facebook.com/pages/Alt-Ungnade/288684864723. 18 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie bspw. vor, dem Versammlungs ort „extra usum“38 keinerlei religiöse Bedeutung zuzumessen. Wo die Möglichkeit zur aktiven Verkündi gung nicht mehr gegeben schien – etwa durch eine nicht mehr vorhandene Gemeinde – rät Luther, die Kir- che „ab(zu)brechen“ wie man auch mit anderen funktionslos gewordenen Häu- sern verfährt.39 Die Darstellung des Evangeliums, nicht aber deren funktionaler „Umraum“ gilt evangelisch als geheiligt. Die architektonische Formgebung dient also lediglich dazu, religiöse Inszenierungen formal zu gewährleisten oder ihnen durch ihre Gestal tung funktional zu entsprechen. Kirchgebäude sind – im Unter- schied zur katholischen 7radition – evangelisch-theolo gisch keine heiligen Räume. Zum Gegenstand praktisch-theologischer 7heo riebildung ist der Raum aspekt religiöser Praxis – abgesehen von einzelnen Entwürfen aus dem Umfeld der litur- gischen Bewegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts – erst im Rahmen der phä- nomenologischen Orientierung in den 1990er Jahren geworden (vgl. dazu Erne 2007: 5-13).40 Nach ihrer 7heoriestatur lassen sich derzeit innerhalb der Prakti- schen 7heologie vier Raumdiskurse voneinander unterscheiden: der semiotische (Volp 1992; 1994; Nißlmüller/Volp 1998), der sozialwissenschaftlich-phäno meno- lo gi sche (Failing/Heimbrock 1998; Bürgel 1995), der mystago gisch-phänome- no logische (Josuttis 1991; Umbach 2005) und der kirchenpädagogische (Degen/ Hansen 1998; Goecke-Seischab/Ohlemacher 1998; Klie 2003a; Neumann/Röse- ner 2003; Rupp 2008). In allen diesen Diskursen nehmen Perfor manzphänomene einen prominenten Rang ein. Das pragmatische Raumverständnis in nerhalb des Protestantismus äußert sich nicht nur im Blick auf den architektonischen (Sakral-)Raum, sondern auch hinsichtlich des liturgisch bzw. religiös dar gestellten Raums. Fragen nach der religiösen 7opologie richten sich einerseits auf die Deutung des euklidischen „Container“-Raums mit konstanter 7iefenschärfe und andererseits auf den situ- ativ synthetisierten Inszenierungsraum. Failing unterscheidet zwischen „Behält- nissen“ und „Verhältnissen“ (vgl. Failing/Heimbrock 1998: 99; vgl. a. Jooß 2005) und hebt damit den Konstrukt-Charakter und die Relativität menschlicher Ord- nungsbemühungen hervor. Quer durch alle Diskurse steht die praktisch-theologi- sche Raumkategorie im Spannungsfeld von Gegenstand, Repräsentation und In- terpretation. Raum ist immer auch bereits gedeuteter und über die Deutung auch in Anspruch genommener Raum (Sigrist 2010).

38 FC (Formula concordiae), SD (solida declaratio) VII. 39 WA 10/I/1, 252, 18-20: Kirchenpostille [1522]. 40 Eine analoge Wiederentdeckung des Raumes vollzog sich auch in den Sozialwissenschaften. Die „Raumblindheit“ der relevanten Gesellschaftswissenschaften, die Dieter Läpple in seinem viel zitierten „Essay über den Raum“ 1991 konstatiert, ist mit dem spatial turn einer geschärften Aufmerksamkeit für die 7opologie kultureller Vollzüge gewichen (vgl. Läpple 1991: 157-207). Religionshybride – Zur Einführung 19

Raum über den Vollzug zu deuten und in Anspruch zu nehmen, ist theolo- gisch im Bereich der Got tesdienst-7heorie rubriziert. So ist in der protestantischen Liturgik die Kategorie der Inszenierung mittlerweile fest etabliert (Meyer-Blanck 1997a; 1997b: 2-16; Roth 2006; Friedrich 2001; Plüss 2007). In den entsprechen- den Arbeiten stehen der Aufführungs charak ter religiöser Gewissheitskommuni- kation und damit die Kategorien „Dramaturgie“, „Rolle“ und „7hea tralität“ im Vordergrund. Der Logik nicht-gottesdienstlicher Szenen widmet sich auch eine stark kulturtheoretisch orientierte Forschungsrichtung innerhalb der Praktischen 7heo logie. Hier reicht der Bogen von der Medientheorie (Gräb 2002) über die Festtheorie (Morgenroth 2003) bis hin zur materiellen Kultur religiös codierter Gegenstände (Mädler 2006). Im Zentrum stehen hierbei die performativen Über- gänge zwi schen Kultur und Religion sowie die Gestalt medialer Vollzüge, unter denen sich eine religionsaf¿ne Deutung des Alltags vollzieht. In jüngster Zeit wer den, vor allem durch den Rückgang der Kirchenmit- gliedschaft und das zeitgleiche Abschmelzen kirchlicher Ressourcen, vermehrt Fragen nach einer al ternativen Nut zung thematisch (Gräb 2003: 96-108; Scherz 2005; Erne 2012). Vor allem in den neuen Bundesländern, wo sich die Kir chenmit- gliedschaft 20 Jahre nach der friedlichen Revolution auf etwa 18-20% eingepen- delt hat, stellt sich das Problem einer adä Tuaten Erhaltung und „Bespielung“ des traditionell hohen Bestands an Kirchbauten (vor allem Dorfkirchen). Im meck- lenburgischen Landesteil kommen rein statistisch etwa 300 Gemeindeglieder auf ein Kirchgebäude, in Vorpom mern sind es etwa 200. Hierbei gerät die Arbeit der etwa 160 Kirchbauvereine (Schieder 2006: 440-453) in den Blick41. Anders als in den alten Bundesländern haben diese Ver- eine in Ostdeutschland weni ger die Funktion, die Restauration religiöser Kunst- gegenstände ¿nanziell zu ermöglichen, hier stehen vielmehr aufgrund der ange- spannten Finanzlage der Landeskirchen und der maroden Bausubstanz Fragen der Bauerhaltung und -nutzung im Vordergrund. Nur rund 200 der insgesamt 660 mecklenburgischen Kirchen sind vollständig saniert. Modelle von Mehrfachnut- zung (Keller/Vogel 2008; Fisch 2008), einer Raumverdichtung (Beratungsstel- le für Gestaltung von Gottesdiensten 1999), einer Umwidmung zur Kulturkirche (vgl. Schäfer-Streckenbach 2007) werden hier in diesem Kulturraum unter ho- hem Entscheidungs- und Handlungsdruck entwickelt. Vielfach ergeben sich die handlungsleitenden Konzepte erst im Prozess. „Das Schaffen eigener institutio- nalisierter (An)Ordnungen ist ein zur Dominanzkultur gegenläu¿ges Geschehen“

41 Die Zahlen ergeben sich aus unseren Pretests und der eigenen Erhebung in Mecklenburg-Vor- pommern: den 216 Kirchbauvereinen stehen 78 Gutshausvereine und 22 alternative Gemein- schaften gegenüber. 20 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie

(Löw 2001: 227); da für die Bewältigung dieser Aufgaben kaum Routinen zur Verfügung stehen, haben die selbstverständlichen Raumnahmen z. B. der Kirch- bauvereine, Gutshausvereine und alternativen Gemeinschaften durchaus eine ge- genkulturelle Qualität. Obwohl der institutionelle EinÀuss der beiden Großkirchen, in Norddeutsch- land vor allem der evangelischen Kirche, kontinuierlich zurückging, bleiben die vorhandenen Kirchbauten für die (Dorf-)Be wohner weiterhin wichtige symboli- sche Orientierungs mar ken und potenzielle Versammlungsorte bzw. -anlässe. Sie sind dies auch und gerade für Konfessi onslose, die sich in sehr hohem Maße und mit großer Selbstverständlichkeit in diesen Vereinen engagieren. Anders als die großen stadtbildprägenden „Symbolkir chen“42 im Ostseeraum liegen die kleinen Dorfkirchen und ihre z. 7. innovativen Nutzungs optionen noch nicht im Wahrneh- mungshorizont der Praktischen 7heologie. Eine Ausnahme bildet hier das 2004 begonnene und 2007 wieder aufgenommene Forschungsprojekt „Kirchbauverei- ne“ an der Universität Halle-Wittenberg.43 Dort stehen jedoch nicht die Formen der Nutzung im Mittelpunkt, sondern die Mitgliedschaftsstruktur (Kirchenmit- gliedschaftsforschung). Die Vereine werden im Hallenser Projekt als eine andere Form des Engagements im kirchlichen Umfeld betrachtet, insofern sie gegenüber den Kirchengemeinden eigenständig und im Verhältnis zu klassischen Gestalten kirchlicher Mitarbeit neuartig sind. Die alternative Nutzung von Kirchgebäuden, auch von Kirchen, die jenseits der großen Städte im ländlichen Raum Orientierungsmarken bilden, hat jedoch nicht nur eine identitätsstiftende Funktion, sie erfüllt auch für Nichtortsansässige (Klie 2012: 110-118), vor allem 7ouristen, eine wichtige Vergewisserungsfunkti- on. Man ¿ndet regionale Christentumsgeschichte vor, kann den Raum für inne- re Einkehr nutzen oder sich ggf. über die Mehrfachnutzung informieren. Auch „Flaneure“ (Zygmunt Bauman) haben Anteil an einer Àuiden bzw. hybriden Re- ligionskultur. Die religionsaf¿ne Nutzung der für Mecklenburg-Vorpommern (wie auch für Branden burg und Sachsen-Anhalt) typischen Guts- und Herrenhäuser44 als spezi- ¿sche Lebens- und Kulturform ist bislang in der Literatur noch kaum reÀektiert worden. Diese nordostdeutsche Ortstypik kennt, wie Renate de Veer hervorhebt, „in ähnlicher Quantität und Vielgestaltigkeit keine europäischen Parallelen“ (de

42 Vgl. das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Symbolkirchen in religiösen und politischen Umbrüchen im Ostseeraum“ (2004-2007; gefördert durch Mittel der VW-Stiftung), das jetzt in einer bilanzierenden Publikation vorliegt (Grünberg et al. 2008). 43 www.theologie.uni-halle.de/st/tanner/kirchbauvereine/159100_159115/ – Publikationen sind bislang aus dem Umfeld dieses Projekts noch nicht greifbar. 44 Eine detaillierte Aufstellung ¿ndet sich in de Veer (2006). Religionshybride – Zur Einführung 21

Veer 2006: 25). Obwohl die „Lebensform Gut“ als kulturelle Größe in Ostdeutsch- land nach 1945 sein Ende fand und die vorhandenen Gebäude in der DDR-Zeit in aller Regel umgenutzt wurden (als Sitz einer Landwirtschaftlichen Produktions- genossenschaft/LPG, als Schule, Kulturhaus oder Erholungs- bzw. Altenheim), blieb die Bauform selbst architektonisch und ortsbildprägend fast Àächendeckend erhalten – und sei es in Form von bewussten dem Verfall preisgegebenen Ruinen. Der neuerliche Umbruch nach 1990 brachte eine deutliche 7ransformation im Blick auf die Nutzung und Baugestaltung. Die 7ypik als symbolisches Gebäude setzte unter den nun wiederum veränderten sozio-kulturellen Bedingungen vielfältige Umcodierungen in Gang. Neben dem touristi schen Umbau in Wellness-Hotels oder Reiterhöfe sowie der Rückgabe an die ehema ligen Besitzer siedelten sich in etlichen dieser Anlagen auch alternative Gemein schaften an, die durch ihre Ak- tivitäten diese Räumlichkeiten zu neuem Leben er weckten. Wenn in dem Forschungsprojekt „Religionshybride“ die Arbeit der Kirch- bauvereine syn optisch den Gutshausvereinen und alternativen Gemeinschaften45 gegenübergestellt wird, dann beschreitet die interdisziplinäre Forschung sowohl empirisch wie auch religionstheore tisch Neuland. Während sich die Kirchbau- und Gutshausvereine als rechtsförmige Vereine konstituiert haben und metho- disch entsprechend identi¿zierbar sind, gilt dies nicht in gleichem Maße für die naturgemäß fragileren alternativen Gemeinschaften.

2.2 Religionshybride Aus religionswissenschaftlicher Perspektive stellte sich zunächst die Aufgabe, zwei Diskussionsstränge zu berücksichtigen und aufeinander zu beziehen: Die Auseinan der setzung mit der Säkularisierungsthese (im Sinne der Behauptung des Bedeutungsverlustes oder zumindest -rückgangs von Religion in der Moderne) und die Beschäftigung mit der Frage des Verhältnisses von Religion und Kultur. Die Entwicklung von der feudalistisch-ständischen über die bürgerliche hin zur funktional differenzierten Freizeit-, Erlebnis- und Lebensstilgesell schaft (Rich- ter 2005; Schul ze 1992) in Mitteleuropa mar kiert nicht nur politische und öko- nomische Umwälzungen. Sie verweist auch auf Differenzierungen in den Sinn- ge bungen, in denen kollektive Weltbilder und Glau bensvorstel lun gen zer fallen zugunsten einer Wertschätzung stärker individualisierter kultureller Erfahrungen. Die im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor als kulturpessimistischer Erosions-

45 Exemplarisch für die Erforschung alternativer Gemeinschaften in Nordostdeutschland vgl. Segert/Zierke (2001). 7rotz der religiösen Anspielung in der 7itelformulierung wird in dieser Publikation an keiner Stelle auf religiöse bzw. religionsaf¿ne Motivlagen und Sinngebungen eingegangen. 22 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie code wirksame Sä kula ri sie rung gestaltet sich aus dieser Perspektive als ein um- fassender Transformations pro zess (Wagner 1999; Berger 1990). 7heoretisch reÀektiert wurde diese Entwicklung zunächst in Gestalt der Säkularisierungs these Max Webers (Weber 1920).46 Obgleich der darin angeleg- te Konnex von Säkularisierung und Modernisierung in jüngerer Zeit mehrfach in die Kritik geriet47, wird ein solcher Zusam men hang von anderen nach wie vor als zutreffend erachtet (so z. B. Bruce 2002). Aus heuristischen Gründen schien es uns ratsam, in dieser Frage Vorfestlegungen zu vermeiden, zumal die Mo- dernisierungsthematik für das Forschungs vorhaben nur mittelbar von Bedeutung ist. Deshalb wurde und wird im Rahmen des Projekts weder auf eine Säkularisie- rungsthese rekurriert, die von einer unmittelbaren Verknüpfung von Modernisie- rung und Säkularisierung ausgeht, noch sollte an solche 7heorien angeschlossen werden, die in ihrem Gegenentwurf zur traditionellen Säkula risierungs these die Omnipräsenz des Religiösen behaupten.48 Insofern ist positiv – jedoch zugleich kritisch – an Überlegungen anzuknüp- fen, die an einer differenzierten Weiterführung des Säkularisierungsparadigmas interessiert sind (Pollack 2003; aktualisiert in ders. 2009) und bspw. von einer „7ransformation“ der Religion in Richtung „Popularisierung“ und „Subjektivie- rung“ ausgehen (so jüngst insbes. Knoblauch 2009). Dies erlaubt es einerseits, in unterschiedlichen Kontexten und je nach analytischem Instrumentarium einen tatsächlichen Bedeutungsverlust von Religion konstatieren zu können, ohne die Möglichkeiten der modi¿zierten Kontinuität, des Gestaltwandels, der „Wieder- kehr“ oder Neuformung von Religion aus dem Blick zu verlieren, und anderer- seits Spuren des Religiösen nachzuforschen, ohne a priori das Vorhandensein ei- ner „unsichtbaren“ Religion unterstellen zu müssen. In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise zunächst zu unterscheiden zwischen a) der Ausdifferenzie- rung von 7eilsystemen wie Wirtschaft, Politik, Recht und Religion, b) Individuali- sierungs pro zessen von Religion und c) dem tatsächlichen Bedeutungsverlust von Religion – und dann danach zu fragen, wie sich diese Aspekte nicht nur zu Säku- larisierung und Modernisierung, sondern auch zueinander verhalten. Als Prob- lemanzeige wäre in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass zumindest über die Punkte a) und c) mit ihrem Verständnis von Religion als ausdifferen-

46 Eine gute Übersicht ¿ndet sich in von Braun et al. 2007, vgl. dort insbes. den begriffsgeschicht- lichen Überblick von Richard Schröder; s. a. Joas/Wiegandt 2007. 47 Stellvertretend sei hier nur verwiesen auf Casanova 1994; Stark/Finke 2000; Iannaccone 1997: 350-364. 48 So insbes. in Gestalt der 7hese von der „unsichtbar“ gewordenen Religion, die in Gestalt individueller Religiosität den Bedeutungsverlust von Religion kompensiert habe. Vgl. insbes. Luckmann (1991), der den Aspekt der Individualisierung und Privatisierung hervorhebt, sowie Berger (1969). Religionshybride – Zur Einführung 23 ziertem 7eilsystem bzw. ihrer – dieses Verständnis voraussetzenden – Annahme des graduellen Verschwindens von Religion (Vor-)Festlegungen getroffen wer- den, die sich insofern als problematisch erweisen könnten, als implizit eine apri- orische Differenz von Religion und Nicht-Re li giösem angenommen würde – was freilich erst noch zu erweisen wäre. Diese Bedenken hintangestellt stecken für das Vorhaben selbst zunächst folgende allgemeine Annahmen den Rahmen ab: Religion unterliegt in der spä- ten Moderne einer komplexen Umformung. So ist neben ihrem institutionenpo- litischen Bedeutungsverlust – namentlich in (ehemals) volkskirchlich geprägten mitteleuropäischen Kontexten und ihren herkömmlichen Ausdrucksformen – so- wohl ein Gestaltwandel zu erkennen (ihr Rückzug in die Pri vatheit individueller Lebensentwürfe) als auch eine Neuformung zu konstatieren. Hier bei (re-)kon¿- guriert sich Religion in neuen Formen bzw. transformiert sich in der Weise, dass sie in mehr oder weniger alle gesellschaftlichen Bereiche hinein „übersetzbar“ wird. Im ostdeutschen postsozialistischen und „forciert“ säkularisierten Kontext scheint der erstgenannte 7ransformationsmodus zumindest auf den ersten Blick leichter identi¿zierbar: Religion zeigt sich in sozialen Nischen und kulturellen Gestalten (z. B. in der ostdeutschen Jugendweihe), ohne jedoch den gesamtgesell- schaftlichen Bedeutungsverlust von Religion kompen sieren zu können. Das Interesse des Forschungsvorhabens richtet sich insbesondere auf die er- wähnten Neuformungs- und „Nischen“-Prozesse, die nicht selten Hand in Hand gehen. Im Mittelpunkt stehen dabei religiöse Sinnsichten, die nicht bzw. nicht mehr im Zentrum der kulturellen Wahrnehmung ste hen und sich in bestimmte Szenen verlagern oder dort neu erwachsen. Sie befreien sich dabei von aller kon- fessionellen Dogmatik bzw. bleiben auf Distanz zu kirchlich-dogma tischen Kon- ventionen, um sich an auratischen Orten und in religionsaf¿nen Szenen als all- tagsästhetische Episoden neu zu materialisieren – in jenen Formen, die wir unter dem Begriff der Religionshybride in den Blick nehmen wollen. Hierbei ist anzumerken, dass der Begriff der Religionshybride bislang kaum eingeführt ist. Religionswissenschaftliche Ansätze der Rezeption des Hybridi- tätsbegriffs bezie hen sich auf ein Verständnis von Hybridität, das im Kontext postkolonialer Diskurse „die Schaffung einer neuen, ‚dritten Kultur‘ durch kul- turelle 7ranslationsprozesse und das Legitimieren und Aussondern von Wissens- und Bildbeständen“ (Koch 2006: 4) beschreibt.49 Sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart zeigt sich vor diesem Hintergrund nicht nur „pluralistisch“,

49 Auch im i. e. S. soziologisch-sozialwissenschaftlichen Globalisierungsdiskurs kommt der Vor- stellung von „Hybriden“, kulturellen Misch- und Zwischenformen oder vom „Melange-Effekt“ eine zunehmende Bedeutung zu (vgl. z. B. Breidenbach/Zukrigl 2000; Nederveen Pieterse 1998: 87-124; Wimmer 2002: 77-94). 24 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie sondern eben auch „religionshybrid“ (so bspw. Kippenberg/von Stuckrad 2003: 145-162) – wobei allerdings immer noch genauer zu bestimmen bliebe, was mit der Kategorie des Religionshybriden erfasst werden soll – und wir jedenfalls nicht von vornherein davon ausgehen, damit schon einen neuen „7ypus“ des Religiösen ausgemacht zu haben. „Hybrid“ bezieht sich in diesem strikten Sinne zunächst „nur“ auf ein „dazwischen“, das eben noch keine feste Form hat – und vielleicht auch nie haben wird. Im Rahmen des Projekts setzten wir genau deshalb mit Überlegungen ein, den Begriff „Religionshybride“ einer seits weiter, andererseits enger zu fassen und damit Ausdrucksformen an der Schnittstelle von Religion und Kultur zu beschrei- ben. So sollte auf der einen Seite eine möglichst breite Vielfalt sowohl funktio- nal als auch inhaltlich religiös konnotierter oder auch nur assoziativ relationierter Phänomene in den Blick kommen, während auf der anderen Seite zugleich eine gewisse kategoriale Schärfung intendiert war, um eine genauere Identi¿kation dieser Phänomene zu ermöglichen. Dazu schien es in einem ersten Schritt notwen- dig, das Verhältnis von Kultur und Religion genauer zu bestimmen. Dass sich hier besondere Probleme und Aporien auftun würden, zeichnete sich schon bald ab. Die Frage des Verhältnisses von Religion und Kultur hat die Debatte über das Selbstverständnis der Religionswissenschaft von Beginn an begleitet. Dies geschah zunächst implizit und mittelbar, so etwa im Rahmen der Kontroversen um das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, oder durch den konstitutiven Beitrag der Kulturanthropo- logie für die Konstituierung der Religionswis senschaft als eigenständiger Diszi- plin, und wird manifest im Zuge des Cultural turn in den 1980er Jahren, der sich bereits zuvor angedeutet hatte.50 Mit dessen weitgehender Anerkennung und der darin implizierten Hinwendung zu einem kulturwissenschaftlichen Paradigma hat sich die Mehr zahl der Religionswissenschaftler/-innen von einem Verständ- nis von Religion als Kategorie sui generis verabschiedet. Da bei sind jedoch eine Reihe neuer Probleme entstanden – unter anderem namentlich das der Gefahr ei- ner völligen AuÀösung der zentralen Bezugskategorie „Religion“ im Zuge der Fo- kussierung auf den noch diffuseren Begriff der „Kultur“. Beispielsweise ist vor dem Hintergrund religionswissenschaftlicher Forschung im interreligiösen und in- terkulturellen Bereich ein Verständnis, das Religion lediglich als einen 7eilaspekt von Kultur bestimmt, als letztlich statisches Modell zu kritisieren, mit dem das 7ranskulturationspotenzial von Religion(en) nicht zur Kenntnis genommen wird. Grundsätzlich ist die Beziehung zwischen Religion und Kultur also als Va- riable zu bestimmen, die unterschiedliche Formen annimmt; die Schnittstellen

50 Insbes. in Verbindung gebracht mit dem Aufsatz von Geertz (1966: 1-46). Religionshybride – Zur Einführung 25 zwischen beiden bzw. die Übergänge von Religion und Kultur werden selbst zum Forschungsgegen stand, wobei jedoch weder Kultur noch Religion in essentialis- tischen Kategorien zu beschreiben sind (Wirz et al. 2003: 9). Allerdings ist damit das Problem einer vorgängigen Essentialisierung von Kultur und Religion noch nicht aus der Welt geschafft, genauer: Durch die Konstruktion einer Differenz von Religion und Kultur werden apriorische Essentialisierungsprozesse in Gang gesetzt, die mit der Kategorie der Religionshybride lediglich verdeckt wären. 7at- sächlich setzt an dieser Stelle auch eine fundamentale und bedenkenswerte Kritik am Konzept der Religionshybride ein. Ohne auf diese Problematik an dieser Stelle weiter einzugehen, ist immerhin festzustellen, dass sich insbesondere zur Erfas- sung jener Phänomene, die mit der Kategorie der Religionshybriden als möglicher Ausdrucksform spätmoderner Religionspraxis erfasst werden sollen, weder ein substantieller Religionsbegriff eignet (der würde durch apriorische Bestimmun- gen inhaltlicher Art den synkretistischen Charakter dieser Phänomene dogma- tisch unterlaufen), noch ein rein funktionaler Religionsbegriff (der würde durch generalisierende Bezugnahmen auf ein abstraktes Zweckgerechtes die besonde- ren Merkmale konkreten religiösen Denkens und Handelns aus blenden). Funkti- onal im Sinne des Gegenstandsbereichs ist demgegen über ein 7heo riezugriff, der Religion als einen spezi¿schen Typus sinnhaften sozialen Handelns – vielleicht im Modus der „Vergemeinschaftung“ – be schreibbar macht. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um Übergänge zwischen „Kultur“ und „Re- ligion“ zu identi¿zieren; vielmehr wäre weiter zu explizieren, worin die Spezi¿ka religiösen Denkens und Handelns gegenüber kulturellem Denken und Handeln bestehen – unter Ausblendung der Frage, ob und inwieweit diese Differenzierung möglich und notwendig ist. Hier liegt es nahe, an den Entwürfen von Pollack und Riesebrodt anzuknüpfen, die sowohl über die Dichotomie von funktionalem und substanziellem Religionsbegriff hinausführen als auch Anstöße für eine weiter- gehende, zur Durchführung der Untersuchung notwendige Konkretisierung und Operationalisierung des Religionsbegriffs geben (Pollack 2003: 52; Riesebrodt 2007). Dabei ist der Religionsbegriff einerseits durch einen hohen Grad der Ab- straktheit verallgemeine rungsfähig zu halten, andererseits so konkret zu bestim- men, dass damit spezi¿sche Inhalte erfasst werden können. Hierzu hat Pollack mit seinem idealtypischen Schema, das unterschiedliche Religionsformen nach ihrem Bestimmungsgrad auf einer x-Achse (Immanenz – 7ranszendenz) und nach ih- rem Umgang mit Kontingenzerfahrungen auf einer y-Achse (Konsistenz – Kon- tingenz) in Beziehung setzt, ein grundlegendes Modell entwickelt, das eine erste Strukturierung für die Übergänge Religion – Nicht-Religion und Religion – Kul- tur erlaubt (Pollack 2003: 52; vgl. ders. 2009: 105ff.). „Religion“ versteht er in 26 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie diesem Zusammenhang als menschliche Kontingenzbewältigung in Form einer 7ranszendierung der Lebenswelt (Abstraktion), die zugleich auf die Vergegenwär- tigung der 7ranszendenz in spezi¿schen Gestaltungen innerhalb dieser Lebens- welt drängt (Konkretion). Die 7rennschärfe zwischen Religion und Nicht-Religi- on gewinnt Pollack daraus, dass er zwischen „religiösen Bezugsproblemen“ und „religiösen Problemlösungen“ unterscheidet: Zwar zeigt „auch schon das Auftau- chen der religiösen Frage ein Bedürfnis an, das für religiöse Antworten offen ist und zu deren Akzeptanz hinführen kann. Um Religion im strengen Sinn handelt es sich freilich erst dann, wenn dieses religiöse Bedürfnis auch durch die spezi- ¿sch religiösen Sinnformen befriedigt wird“ (Pollack 2009: 280). Im Rahmen des Projekts ist allerdings insbesondere bei den ins Auge ge- fassten drei Gemeinschaftsformen (Kirchbauvereine, Gutshausvereine und alter- native Gemeinschaften) darauf zu achten, dass nicht nur jene „spezi¿sch religi- ösen Sinnformen“ in den Blick kommen, die mit einem Raster von Indikatoren erfasst werden, das sich vornehmlich an Dimensionen traditioneller Religiositäts- formen orientiert – also an Kategorien von „Kirchlichkeit“ oder außerkirchlicher Religiosität innerhalb des „marktüblichen“ Spektrums von Reinkarnationsglau- be, Astrologie, Yoga etc., die letztlich inhaltlich bereits festgelegt sind. Während Pollack in seinen Untersuchungen dazu tendiert, Indikatoren zu bevorzugen, die „Religion“ vornehmlich in Gestalt expliziter Glaubens aus sagen, Routinen oder Bindungen identi¿zieren (Glaube an Gott, Kirchgang, konfessionelle Zugehörig- keit), besteht die Herausforderung im Rahmen des Projekts darin, jenseits dieser traditionell verbürgten Indikatoren religiöse Sinnformen aufzuspüren, die „durch den Akt der Überschreitung der verfügbaren Lebenswelt sowie durch die gleich- zeitige Bezugnahme auf diese Lebenswelt gekennzeichnet“ (Pollack 2009: 279) sind und damit wohl eine religiöse Antwort auf die Kontingenzproblematik ge- ben, diese jedoch nicht unbedingt in inhaltlich festgelegte Formen gießen, son- dern diffus bleiben oder teilweise diese in esoterische Formen transformieren (vgl. dazu insbes. Knoblauch 2009). An dieser Stelle mag die Anknüpfung an Riesebrodts Entwurf weiterhelfen, der Religion als „Komplex religiöser Praktiken, die auf der Prämisse der Exis- tenz in der Regel unsichtbarer persön licher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen“ (Riesebrodt 2007) de¿niert – wenngleich in dieser Bestimmung von Religion die Balance zwischen einem funktionalistischen und einem substan- tialistischen Religionsbegriff zugunsten des Letzteren kippt und Riesebrodt bei der Konkretisierung seines Ansatzes einen in spezi¿scher Weise religiös konno- tierten Begriff – das „Heil“, mit dessen Stiftung und Sicherung Religion befasst sei – privilegiert, was die Gefahr einer Vorfestlegung auf spezi¿sche inhaltliche Religionshybride – Zur Einführung 27

Bestimmungen in sich birgt. Der Übergang zwischen „Kultur“ und „Religion“ wird bei Riesebrodt durch die Differenzierung zwischen religiösen 7raditionen und deren Aneignung in Gestalt von Religiosität einerseits und eben jenen religi- ösen Praktiken andererseits markiert. Damit rückt der „Cultus“ in das Zentrum seiner Religionstheorie: „Die Bedeutung der Religionen entfaltet sich weniger in theologischen Diskursen als vielmehr im Akt des Vollzugs.“ (Riesebrodt 2007: 13) Wenngleich Riesebrodt eine weitere Entfaltung seines Ansatzes nicht inten- diert hat und sich im Rahmen seiner Religionstheorie auch keine Begriffe wie „Performanz“, „Performativität“, „performativ“ o. ä. ¿nden, eröffnet eine solche Bestimmung von Religion den Blick auf „Perfor manz“ als gemeinsamen Hori- zont des interdisziplinären Forschungsvorhabens. Im Lichte der vorstehenden Überlegungen soll als vorläu¿ge Arbeitsde¿ni- tion folgendes Religionsverständnis zugrunde gelegt werden: Religion ist der Vollzug komplexer Praktiken mit dem Ziel der Kontingenz- bewältigung mittels Transzendierung der alltäglichen Lebenswelt („Kultur“) bei gleichzeitiger Vergegenwärtigung der Transzendenz in Gestalt religiö- ser Sinnformen, die zum bestimmenden Orientierungspunkt der Performanz sinnhaften Handelns werden. Das Besondere der hier als „Religionshybride“ bezeichneten Phänomene besteht darin, dass sie nicht einfach apriorisch als („rein“) religiös oder („nur“) kultu- rell kategorisiert werden, sondern in einem offenen Feld changieren und somit die Performativität sinnhaften Handelns zwischen religiösen und nichtreligiö- sen Sinnformen oszillieren kann. Differenzen und Zuordnungen sind dabei nicht gegeben, sondern werden – und das ist für unseren Zugriff in theoretischer wie methodischer Hinsicht zentral – gruppen- und vereinsspezi¿sch ausgehandelt. 28 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie

Tabelle 1: Religionshybride Konsistenz ÆÅ Kontingenz Religionshybride explizit religiös explizit religiös 7yp A 7yp B religionsäTuivalent religionsaf¿n religiöse Routine: religiöse Vitalität: religiöse Performanz religiös gedeutete ohne Deutung Performanz

religionszitative/ religionsanaloge religionsreferentielle Performanz Performanz

Pragmatismus: religiöse Suche: nichtreligiös gedeutete deutungsoffene Performanz Performanz Æ Å Transzendenz

explizit explizit

Immanenz religionslos religionsoffen

Um das gesamte Spektrum zwischen seinen beiden Extremen – explizit religi- ös bzw. explizit religionslos – erfassen zu können, wird am Pollackschen Modell angeknüpft, das durch die Achsen Konsistenz/Kontingenz und 7ranszendenz/ Immanenz den Bestimmungsgrad unterschiedlicher Religionsformen mit ihrem Kontingenzzulassungsgrad korreliert und somit zu einem idealtypischen Sche- ma führt, in dem einerseits nicht a priori eine religiöse Struktur unterstellt wird und andererseits eine substantialistische Engführung vermieden ist. Im Rahmen des beantragten Projekts gilt die besondere Aufmerksamkeit jenem „religionshy- briden“ Bereich, der sich nochmals in einen religionsaf¿nen und einen religions- äquivalenten differenzieren lässt: Im ersten Fall haben wir es mit einer zitativen Bezugnahme auf explizit Religiöses zu tun, in der sich inhaltlich bestimmbare Referenzen identi¿zieren lassen, im zweiten Fall mit einer strukturellen Analo- gie, in der lediglich funktionale Bezüge aufweisbar sind. Das Pollacksche Achsenmodell wird dabei gespreizt und um ein Mittelfeld des Religionshybriden erweitert. Hinzu kommt, dass nicht religiöse Fragen/Ant- worten (s. o. Lexis), sondern Performanzen (s. o. Deixis) in den Fokus rücken: Religionshybride – Zur Einführung 29

Die Frage, ob und inwieweit die Deutungen von Performanzen 7ranszendenz- bezüge erkennen lassen, wird als heuristisches Raster eingespielt, um im diffu- sen Feld des Religionshybriden erste Orientierungen zu ¿nden. Dabei ist nicht nur zwischen Selbstdeutung (Innenperspektive) und Fremddeutung (Außenper- spektive) zu differenzieren, sondern insbesondere zwischen funktionalen und substanziellen Bezügen. Gibt es beispielsweise im Falle der Deutung bestimm- ter Performanzen eine inhaltliche Referenz auf Religiöses, wären wir im Bereich des Religionsaf¿nen; bleibt die Deutung „transzendenzleer“, so dass bestenfalls eine strukturelle Analogie, eine Entsprechung in der „7echnik“ der performati- ven Praxis ohne inhaltliche Bezüge auf Religiöses vermutet werden darf, wären wir im Bereich des ReligionsäTuivalenten. Vornehmlich der erste Fall ist für das Projekt von besonderem Interesse: Haben wir es hier mit Performanzen zu tun, die Religiöses generieren? Lassen sich gar elementare Formen einer „Religions- produktivität“ feststellen?

2.3 Posttraditionale Vergemeinschaftungen auf dem Lande Zur Vermeidung eines essentialistischen Verständnisses, das glaubt, ohne Han- delnde oder „Akteure“ auskommen zu können, bietet sich für die Beschreibung und Analyse dieser Hybridbildungen von Religion und Kultur aus soziologischer Sicht vor allem das im Rahmen der neueren soziologischen Milieu- und Lebens- stilforschung entwickelte Konzept der posttraditionalen Gemeinschaften an. Vier Merkmale kennzeichnen posttraditionale Gemeinschaf ten (Hitzler 1998: 81-89): 1. Nicht-Exklu sivität, 2. frei gewählte Mitgliedschaft, 3. ästhetische Motivation, 4. Vergemeinschaftung durch Events und Riten. Posttraditionale Gemeinschaften entstehen dabei nicht aus vorgängigen gemein samen Lebenslagen bzw. (politisch, kulturell oder religiös) vorgegebenen, (Tuasi-)ständischen Zuge hö rigkeiten. Viel- mehr verstehen sich Akteure selbst als zugehörig, wobei „zugehörig“ sich u. a. im Sinne von „Performanz“ auf Perioden kürzerer oder längerer Anwesenheit51 an bestimmten Orten oder Plätzen, die bewusst (auf-)gesucht werden, beziehen kann. Insbesondere den zu den post traditionalen Gemeinschaften zählenden Ju- gendszenen bzw. den jugendkulturellen „Events“ wird dabei ein eher geringer Verbindlichkeitsgrad und VerpÀichtungscharakter, d. h. auch niedrige Ein- bzw. Austrittsschwellen, zugeschrieben. Sie sind nicht prinzipiell selektiv und exklu- dierend strukturiert bzw. nicht auf exklusive 7eilhabe hin angelegt, sondern kön- nen am besten als „thematisch fokussierte, vergemeinschaftende Erlebnis- und

51 Zur Dialektik von An- und Abwesenheit vgl. Berger 1995: 99-111. 30 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie

Selbststilisierungsräume“ (Hitzler, Vortrag Mai 2002, Manuskript)52 – oder um die hier gewählte 7erminologie nochmals aufzunehmen: als „Performanzräume“ (d. h. Räume, in denen „performiert“ wird und zugleich „Räume“, die sich in der Performanz erst bilden) begriffen werden.53 Posttraditionale Gemeinschaften haben ihre eigenen von den Mitgliedern gemeinsam geteilten kulturellen Werte und ästhetischen Standards. Im Unterschied zu „klas sischen“ Vergemeinschaf- tungsformen der „bürgerlichen Kultur“ (Zirkel und Salons, Freund schaftsclubs, Logen, Gesellschaften, Bünde und Vereine), in deren 7radition sie nichtsdesto- weniger stehen können, treten posttraditionale Gemein schaften freilich weniger mit dem Anspruch auf, „durch die Setzung von allgemein gültigen Werten als Sinnvermittlungsagenturen zu wirken“. Überdeckt wird dieser Anspruch insbe- sondere bei Szenen von „primär ästhetisch de¿nierten Lebensstilen“, womit sie „Brutstätten ‚ästhetischer Gemeinschaften‘“ und „performances“, in denen sich die Gemeinschaft selbst inszeniert und zugleich konstituiert, darstellen (vgl. Ro- nald Hitzler 2002). Der Aufschwung, den die soziologische Milieu- und Lebensstilforschung seit den späten 1980er Jahren erfuhr (vgl. Berger/Hradil et al. 1990: 3-25; Ber- ger 1994: 137-149; Berger 1995: 445-458; Berger 1994: 249-264), steht in en- gem Zusammenhang mit der von Ulrich Beck 1983 erstmals formulierten 7hese von der Individualisierung von Lebenslagen, Lebensformen und Lebenswegen (Beck 1983: 35-74; Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Beck 2001: 3-6; Beck 2007: 659-705; Berger 1996; Junge 2002)54: Neben der Herauslösung aus histo- risch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herr- schafts- und Versorgungszusammenhänge („Freisetzungsdimension“) und dem Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glau- ben und leitende Normen („Entzauberungsdimension“) wird darin zugleich, je- doch in der Rezeption seltener gesehen, auf neue Arten der sozialen Einbindung („Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension“) verwiesen (Beck 1986: 206), die in- sofern als „nachtraditional“ oder „posttraditional“ (vgl. Giddens 1983: 445-485) verstanden werden können, als sie weder auf traditionale Gemeinschaften/Grup- pen wie Familien oder Stände noch auf „moderne“, in 7eilen aber noch durchaus Tuasi-ständische „Großgruppen“ wie Klassen und Schichten aufruhen, sondern in ihnen vor allem ähnliche Lebensziele, ähnliche Wertorientierungen und Welt- bilder (auch religiöser Art) sowie ähnliche ästhetische Ausdrucksformen als Zen-

52 Vgl. dazu mit explizitem Bezug auf Religion – hier: den Weltjugendtag 2005 – auch Gebhardt et al. 2007. 53 Zahlreiche, immer wieder aktualisierte Beispiele für (Analysen von) Jugendszenen ¿nden sich bspw. auf http://www.jugendszenen.com. 54 Zum aktuellen Diskussionsstand vgl. Berger/Hitzler (2010). Religionshybride – Zur Einführung 31 tren von Vergemeinschaftung und „posttraditionalen Gemeinschaften“ (Hitzler et al. 2008) gelten können. Formen posttraditionaler Vergemeinschaftung wer- den dann eben v. a. in (Jugend-)Szenen (Hitzler 2008: 55-72), aber auch in virtual communities (Deterding 2008: 115-131), brand communities (Pfadenhauer 2008: 214-227) und „ästhetischen Augenblicksgemeinschaften“ (Junge 2008: 189-201) oder anderen, eher kurzfristigen Gesellungsfor men55 gesehen. Auffällig dabei ist, dass als „Ort“ solcher posttraditionaler Vergemeinschaftungen und einer da- mit häu¿g assoziierten kulturellen „Kreativität“ mit schöner Regelmäßigkeit die „Stadt“ bzw. die Kultur- und Sozialform der „Urbanität“ gesehen, mit strukturell ähnlichen Phänomenen „auf dem Lande“ aber kaum gerechnet wird.56 Der aus der 7heatersprache entnommene Begriff der Szene (vgl. dazu auch Willems 2009) betont die performative Dimension posttraditionaler Vergemein- schaftungsprozesse, ist daher anschlussfähig für den oben skizzierten performa- tive turn, hält jedoch im Unterschied zu manchen kulturwissenschaftlichen Über- treibungen an einer (Rück-)Bindung des Performativen an Akteure, ihre Motive und Relationen fest. Vor dem Hintergrund der Individualisierungsthese hat dazu Gerhard Schulze in seiner „Erlebnisgesellschaft“ bspw. schon zu Beginn der 1990er Jahre eine „7heorie der Szene“ vorgelegt (Schulze 1992: 459-494): Sze- nen werden dort aus der Idee des „Publikums“, das sich durch einen „gleichzei- tigen Konsum eines bestimmten Erlebnisangebots“ abgrenzen lässt, entwickelt und folgendermaßen de¿niert: „Szenen sind Orte, wo alltagsästhetische Sche- mata in einer gemeinsamen Aufführung der Beteiligten auf die Bühne gebracht werden. Jeder ist gleichzeitig Zuschauer und Darsteller. Alle de¿nieren einander vor, welche Zeichen zum semiologischen Vorrat eines alltagsästhetischen Sche- mas gehören.“ (Schulze 1992: 466) Eine Szene konstituiert sich danach als „Netzwerk von Publika“, die sich um die „partielle Identität“ von Personen, von typischen Orten, von „Events“57 oder „performances“ und von Inhalten gruppieren. Bezogen auf eine „großstädtische Szenenstruktur“ werden Szenen dort begriffen als „Vernetzung lokaler Publika“ und bei Schulze in „Hochkulturszene“, „neue Kulturszene“, „Kulturladenszene“, „Kneipenszene“, „Sportszene“ und „Volksfestszene“ unterschieden (Schulze 1992: 471).58 Einordnen ließen sich hier aber durchaus auch jene „Szenen“ oder „Mili-

55 Wozu dann neben sportlichen Großereignissen etwa auch Kirchentage oder Weltjugendtage zählen können (vgl. Gebhardt et al. 2007). 56 Als ein aktuelles Beispiel dafür siehe etwa Reckwitz 2012. 57 Zu einem im Unterschied zu „Szenen“ vor allem auf kurzfristige Gesellungsformen zielenden, soziologischen Konzept von „Events“ vgl. Gebhardt et al. 2000. 58 Empirische Referenz für Gerhard Schulze ist die westdeutsche Stadt Nürnberg im Jahre 1985; allerdings erwiesen sich seine Konzepte und Vorgehensweisen auch zur Analyse der 32 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie eus“, die in der neueren, angloamerikanischen Diskussion etwa als „Symbolana- lytiker“ (Reich 1996; Koppetsch 2011: 407-433) oder als „Kulturkreative“ (Rin- ke 2005: 54-56; Florida 2002; Ray/Anderson 2000) bezeichnet, jedoch ebenfalls eher in städtischen Milieus als auf dem Lande vermutet werden59. Weiterentwi- ckelt und verallgemeinert wurde das Konzept der Szene im deutschen Sprach- raum vor allem von Hitzler u. a. (Hitzler et al. 2005: 20-30): Szenen sind danach Tuer zu bisherigen Gesellungsformen und großen gesellschaftlichen Institutionen liegende Gesinnungsgemeinschaften, thematisch fokussierte soziale Netzwerke bzw. kommunikative und interaktive 7eilzeit-Gesellungsformen (daher auch die Verwendung des Event-Begriffs). Sie dienen der sozialen Verortung, haben ihre eigene Kultur und typische 7reffpunkte, sind Netzwerke von Gruppen und bil- den vororganisierte Erfahrungsräume. Szenen sind jedoch zugleich dynamische und labile Gebilde, die sich häu¿g auch um „Organisationseliten“ herum struk- turieren. Szenen, die mehrere Orte übergreifen und eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweisen, entstehen dabei aus sozialen Gruppen, die durch Personen und deren Interaktionen miteinander vernetzt werden, und können in sich nach „Kern“ („Or- ganisationselite“) und „Peripherien“ bzw. nach „Organisatoren“ (vgl. dazu bspw. auch Pfadenhauer 2008) und „Publikum“ gegliedert werden, womit sich das Sze- nekonzept unter der Perspektive der „Vernetzung“ auch der neueren Netzwerk- forschung annähert (vgl. Franzen/Freitag 2007; Hollstein/Straus 2006; Holzer 2006; Jansen 2003; Lüdicke/Diewald 2007; Stegbauer 2008). Folgt man also Hitz- ler, lässt sich Szene verstehen als ein „Netzwerk von Personen“, die „bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und diese Gemeinsamkeiten interaktiv stabilisieren und perpetuieren“. An diesem Verständnis von Szene ist nun im Kontext der vorliegenden Fragestellung vor al- lem bemerkenswert, dass sie die Inszenierung von (posttraditionaler) Gemein- schaft um ihrer selbst und um des Erlebens von Gemeinschaft (u. a. in „Events“) willen, in den Mittelpunkt stellt: Szenen sind „Orte“, an denen „sich Kulturen alltagsweltlich erfahren lassen und an denen Zugehörigkeiten inszeniert werden können“ (Hitzler 2002) – und an denen, wie man in der hier gewählten 7ermino- logie fortfahren könnte, die Zugehörigkeiten dargestellt oder „performiert“ wer- den und sich in diesem „Performieren“ konstituieren. Die Soziologie hat ihre empirischen Untersuchungen posttraditionaler Gemein- schaften, Szenen und Events nun in den vergangenen 20 Jahren – verständlicher-

Milieustruktur einer ostdeutschen Großstadt (Chemnitz) Mitte der 1990er Jahre als fruchtbar (vgl. Lechner 1998: 257-274; Lechner 2003). 59 Als Gegenposition zu dieser „Urbanitäts¿xiertheit“ siehe in einer ersten Veröffentlichung aus dem Projekt Berger et al. 2013. Anschlüsse dafür ¿nden sich u. a. auch in Leuchte 2011. Religionshybride – Zur Einführung 33 weise – vor allem auf den urbanen Raum60 und auf den Bereich der Jugendszenen konzentriert. Die Stadt gilt als der soziale Raum, in dem Individualisierungspro- zesse am weitesten fortgeschritten sind und in dem sich neue Formen der Verge- meinschaftung herausgebildet haben. Erst in den letzten Jahren entstand in der deutschsprachigen Soziologie ein – zögerliches – Interesse an Individualisie- rungsprozessen im ländlichen Raum (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 2002). Bislang existieren aber nur „anekdotische Evidenzen für Phänomene einer ländlichen […] Individualisierung“ (Liebl/Nicolai 2008: 253). Empirische Studien über Indivi- dualisierungsprozesse und die Entstehung posttraditionaler Gemeinschaften im ländlichen Raum sind rar, so dass die Erforschung von Prozessen der Szenebil- dung und posttraditionaler Vergemeinschaftung im ländlichen Raum hier auch jenseits der religionswissenschaftlichen und praktisch-theologischen Fragestel- lungen eine Forschungslücke füllen kann.61 Liebl und Nicolai zeigen in ihrer Un- tersuchung einer dörÀichen Gemeinde in Ostfriesland, dass sich auch in dieser ländlichen Gemeinde „die Vergemeinschaftungsformen gegenüber den vormals traditionalen Mustern ausdifferenziert haben“ und für die Bewohner „ein vielfäl- tiges, facettenreiches Gefüge von spezi¿schen Interessensplattformen offen[steht], für die sie sich ganz bewusst entscheiden, in denen sie leben und die sie ausge- stalten“ (Liebl/Nicolai 2008: 263, unsere Hervorhebung). Die Gemeinschaften ha- ben Ähnlichkeit zu urbanen Szenen, rekurrieren aber dennoch „auf das traditi- onelle und institutionalisierte Gerüst von Vereinen und Vereinigungen. Insofern ¿nden wir auf dem Lande posttraditionale Vergemeinschaftungen im Gewande traditionaler Gesellungen […]“ (Liebl/Nicolai 2008: 263). Der Befund, dass die- se posttraditionalen Vergemeinschaftungen auf dem Lande sich weiterhin in der traditionellen, modernen Form der Vereine organisieren, kann nicht darüber hin- wegtäuschen, dass diese neuen Vergemeinschaftungen wesentlich offener und Àu- ider sind und sich beständig entlang neu entstehender „Special-Interests“ ausdif- ferenzieren und damit „Erlebnisräume [schaffen], die […] individualisiert sind, aber nicht unbedingt als metropolitane Surrogate fungieren“ (Liebl/Nicolai 2008: 263). Diese besondere Form posttraditionaler Vergemeinschaftungen auf dem Lan- de, die auf Vereine rekurrieren, stellt die Frage nach der Abgrenzung zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften, werden doch Vereine für gewöhnlich eher als Form der Vergesellschaftung betrachtet, der ein (wert- oder zweck-)rational motivierter Interessenausgleich oder eine rational motivierte Interessenverbin- dung zugrunde liegt (vgl. Weber 2009: 21ff). Die Forschung von Liebl und Nico-

60 Ganz in der 7radition der Großstadtsoziologie eines Georg Simmel vgl. Georg Simmel 1903/1957: 227-242. 61 Auch im neuesten, thematisch einschlägigen Sammelband ¿ndet sich nur ein einziger kurzer Aufsatz dazu (vgl. Liebl/Nicolai 2008: 263ff). 34 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie lai hingegen zeigt, dass vereinsförmig organisierte Gruppierungen auf dem Lan- de jedoch durchaus Charakteristika von (posttraditionalen) Gemeinschaften, wie z. B. ein subjektives Zusammengehörigkeitsgefühl, eine ästhetische Motivierung, Freiwilligkeit des Dazugehörens, Nicht-Exklusivität und eine Vergemeinschaf- tung durch Events aufweisen. Auf weitergehende Prozesse der Vergemeinschaf- tung, die freilich nicht auf Ko-Präsenz, sondern auch auf Formen digital-medi- aler Vernetzung verweisen, deuten auch erste Zwischenergebnisse des Projekts zu „Kulturkreativen im ländlichen Raum“ (Berger et al. 2013) hin, die noch wei- ter vertieft werden sollen. Wie bereits betont, wissen wir wenig über posttraditionale Gesellungsfor- men im ländlichen Raum, vermuten aber auf Grundlage erster Voruntersuchun- gen, dass es sich gerade bei Kirchbauvereinen und Gutshausvereinen um postt- raditionale Gemeinschaften im ländlichen Raum handeln könnte, die ästhetisch motiviert sind und ihre Mitglieder durch Events binden. So beschäftigen sich beide Gruppierungen mit dem Aufbau und Erhalt alter Gebäude und versuchen diese durch Veranstaltungen zu beleben. Dabei handelt es sich bei den Kirch- bauvereinen nicht um durch kirchliche Institutionen gegründete oder geförderte Zusammenschlüsse, sondern sowohl bei den Kirchbau- als auch bei den Gutsh- ausvereinen um aus dem Engagement Einzelner für bestimmte Gebäude hervor- gegangene lokale Vereinigungen. Die von den Vereinen durchgeführten Veran- staltungen changieren häu¿g zwischen religiösem und kulturellem Anspruch (z. B. ein klassisches Konzert in einer Kirche oder Kirchenmusik in einem Gutshaus, s. o.). Gruppierungen, die wir als alternative Gemeinschaften bezeichnen, bil- den einen signi¿kanten Kontrast zu den Kirchbau- und Gutshausvereinen. Auch sie beschäftigen sich mit dem Aufbau und Erhalt alter Gebäude und beleben den ländlichen Raum in Ostdeutschland, sind jedoch nicht vereinsförmig organisiert, sondern durch ein subjektives Zusammengehörigkeitsgefühl gebunden und be- trachten sich als Lebensgemeinschaft oder Familie.62 Auch bei ihnen können reli- giöse oder spirituelle Motive eine Rolle spielen, wobei hier der Begriff der Szene vor allem die performativen, auf „Events“ und „Performances“ bezogenen As- pekte der sich dort nicht nur zeigenden Sinngebungen, sondern zugleich erzeug- ten Sinngehalte zu erfassen vermag. Wie sich dabei in posttraditionalen Gemeinschaften „Religionshybride“ bilden können – beispielsweise in Form einer Wieder- und Neu-Er¿ndung von (Buß-)- Ritualen, die insofern „demonstrativ“ und selbstinszenierend sind, als sie einen sich in diesem Falle auch noch selbst darstellenden „Organisator“ und ein Publi-

62 www.kleinjasedow-familie.de. Religionshybride – Zur Einführung 35 kum (und damit zumindest die Grundelemente einer „Szene“) voraussetzen – lässt sich u. E. gut an der im folgenden beschriebenen „Performance“63 demonstrieren:

Die Performance Drei Männer stellen einen großen Gong auf. Es ist Nacht. – „Ich hab mich jetzt lang vorbereitet auf diese Performance, die dauert insgesamt 41 Stun- den. Pirna ist ein Städtchen südlich von Dresden und hier ist in den Jahren ‘40 und ‘41 in dem Gebäude, vor dem ich hier stehe, ein unfassbares Verbre- chen passiert, im Rahmen des Euthanasieprogramms der Naziherrschaft sind hier 14.751 namentlich bekannte Menschen zu Tode gekommen, indem sie ver- gast wurden und einzeln verbrannt. Und so ist diese Performance entstanden als Idee, dass es für jeden einzelnen dieser Getöteten einen Gongschlag gibt, einen bewusst gesetzten Gongschlag. Das sind dann 14.751 Gongschläge.“ Die Performance beginnt. Um den Gong stehen brennende Kerzen. Einer der Männer schlägt den Gong. – „Es dauert ungefähr 10 Sekunden bis man einen Anschlag gemacht hat, davon wieder zurückgeht, den Gong klingen hört und neu anschlagen kann. Ich will diese Zeit hier permanent da sein, das permanent auch tun. Ich werd‘ nicht essen, ich hoffe, ich muss auch nichts trinken. Einfach um mich selber auf den Weg zu machen, diesen Menschen zu begegnen, die damals so gestorben sind und vielleicht etwas von ihrer Per- sönlichkeit, von ihrer Substanz wenigstens symbolisch wiederzugewinnen.“ Es wird hell. Man sieht, dass Mitglieder der Lebensgemeinschaft, auf dem Gras sitzend und liegend, in Decken eingewickelt, die Performance beglei- ten. Später begleiten einige von ihnen die Performance musikalisch. – „Da kam mir einfach als Motiv in den Sinn, etwas zu tun, was sozusagen an die Grenze dessen geht, was man aushält oder ertragen kann. Als Bild habe ich immer vor mir gesehen, Menschen, die Appell stehen. Die also in Reih und Glied anzutreten haben, nicht wissen, wie lange das dauert. Die sind ja zum Teil in den Konzentrationslagern einen Tag oder zwei Tage lang gestanden und wer umgefallen ist, war halt dem Tod geweiht. Und da hab ich mir im- mer die Frage gestellt: Hätte ich das geschafft? Hätt’ ich überlebt? Hätte ich in so einer Situation die Kraft gehabt, durchzuhalten?“

63 Dies ist die Szenographie eines Ausschnitts aus dem Dokumentar¿lm: Die Siedler. Am Arsch der Welt. Ein dokumentarischer Western im deutschen Osten, von Claus Strigel, Film im Auftrag von Radio Bremen, 2004, DVD und bezieht sich auf die „Klein Jasedower Lebensgemein- schaft“: 16 Personen sind 1998 gemeinsam aus der Schweiz nach Klein Jasedow/Vorpommern gezogen, um dort zusammen zu leben. Sie haben mehrere Grundstücke in der halb verfallenen Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaft (LPG) gekauft und restaurieren die Gebäude (siehe: http://www.kleinjasedow-familie.de). 36 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie

„Ja das sind schon spannende Grenzen. Körperlich, aber auch psychisch. Und ich hab versucht das hochzurechnen, also ich kann mir vorstellen, die- se 41 Stunden es auszuhalten, es durchzustehen. Ist noch mal was anderes, weil irgendwann ist der Körper an einem Punkt, wo der Körper schlichtweg nicht mehr will. Ich fürchte den Moment auch bisschen, weiß auch nicht, was ich tun werde oder wie ich darüber hinweg komm’.“ – „Es geht hier nicht um einen Rekordversuch, sondern ich weiß einfach, dass es einen inneren Einsatz braucht und den möchte ich leisten. Und ich hoffe auch, dass ich ihn leisten kann. Also ich werde einen Weg ¿nden, diese Strecke zurückzulegen, auch wenn ich jetzt noch nicht genau weiß wie und aus welcher Quelle ich die Kraft sauge, das zu schaffen.“ Die anderen Personen der Lebensgemeinschaft sitzen auf Klappstühlen im Hintergrund und sehen zu. Es wird wieder dunkel, der Mann nickt immer wieder kurz ein; es wird wieder hell, zeitweise wird der Gongspieler musi- kalisch begleitet. Die letzten beiden Schläge setzt er ganz langsam und be- wusst. Jetzt zeigt der Filmausschnitt auch „Zuschauer“ im Hintergrund, die nicht zur Lebensgemeinschaft gehören.

3. Das Projekt „Religionshybride“ und dieser Band Ziel des Forschungsvorhabens ist also die Beantwortung der Frage, ob und in- wieweit sich um bestimmte symbolische Orte wie Dorfkirchen und Guthäuser im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns im Projekt als „Religionshybri- de“ bezeichnete Phänomene bzw. explizit religiöse Ausdrucksformen und Verge- meinschaftungen neu gebildet haben. Zu diesem Zweck werden auf der Grundlage Tualitativer In terviews und Tuantitativer Erhebungen am Beispiel von Kirchbau- vereinen, Guts hausvereinen und alternativen Gemeinschaften die vorhandenen Gemeinschafts- und Funktionsformen analysiert sowie die jeweiligen Motivati- onslagen erkundet (Intentions analyse). Vor diesem Hintergrund wurde die fol- gende Forschungshypothese formuliert: Die sich an bestimmten symbolischen Orten anlagernden Aktivitäten von Kirchbau-, Gutshausvereinen und alternativen Gemeinschaften konstituie- ren sich in je spezi¿schen Sze nen, in deren Performanz, Engagement und ge- meinsam geteilter Mission sich lebens weltliche in transzendente Sinngebun- gen transformieren (können). Religionshybride – Zur Einführung 37

Zur Operationalisierung des Projekts wurden insbesondere folgende Forschungs- fragen relevant: ƒ Welche kulturellen Formen ¿nden in Kirchbauvereinen, Gutshausvereinen und alternativen Gemeinschaften Gestalt, und an welchen Kristallisations- punkten lagern sich diese Formen an – eher an traditionell religiösen („tra- ditionell“ im Sinne von herkömmlicherweise als religiös verstandenen) oder an nicht-religiösen? Welche Interpretations- und Deutungsbezüge lassen sich in dieser Hinsicht fest stellen? ƒ Wie gestalten sich die Übergänge von religiösen und nicht-religiösen Szenen und Events? Welche religiösen Hybridformen sind in diesen Übergängen beschreib- und typisierbar? ƒ Welche Rolle spielt der jüngere zeitgeschichtliche Kontext (DDR) für das Zustandekommen dieser Hybridformen? Unter welchen Bedingungen per- formiert sich im Resonanzbereich eines spätmodernen, post-christlichen, nach-sozialisti schen Protestantismus ein vereinsförmig formatiertes religiöses Residuum? Inwieweit transformiert sich hier gar ein (in der DDR ideologisch aufgeladener) „Kollektiv“-Gedanke als Vergemeinschaftung ins Religiöse? ƒ Was sind die Motivationsstrukturen, Interaktionsformen und Vernetzungen, unter de nen sich hier eine transkonfessionelle Szene organisiert und legitimiert? Welche KonÀiktlinien und Differenzen ergeben sich zur kirchlich-institutio- nalisierten Christentumspraxis? In welchem Verhältnis stehen Gemeinwohl-/ Gemeinwesenorientierung zur Exklusivität der Gruppe bzw. des Vereins? Neben der Erweiterung religionskulturellen Wissens werden auch Ergebnisse er- wartet, die unter gesellschaftspolitischen Aspekten bedeutsam sind. Sie haben nicht das gleiche Gewicht wie die oben genannten Ziele, aber sie sollen in diesem Zu- sammenhang nicht unerwähnt bleiben: Geburtenrückgang, hohe Wanderungsver- luste und infolgedessen eine Verschiebung des Altersaufbaus in Richtung höherer Jahrgänge, Ausdünnung der Infrastruktur in Folge leerer öffentlicher Kassen und zurückgehender Fördergelder. Zunehmende Hochaltrigkeit mit entsprechendem PÀege- und Betreuungsbedarf sowie eine zunehmende Entleerung ganzer Regi- onen zeigen schon jetzt in vielen ländlichen Gegenden Mecklenburg-Vorpom- merns ihre Wirkung. Wenn aber nach und nach der öffentliche Raum in seinen institu tionalisierten Gestalten – Poststellen, Polizeistationen, Schulen, Kirchen – sozial un sichtbar wird und zudem fehlende Arbeitsplätze und Freizeitangebote für viele bloß noch den Rückzug ins Private möglich erscheinen lassen, kommt es zu einer manife sten Erosion nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der sozialen und kulturellen Infrastruktur. Damit droht ein Verschwinden von Orten 38 Peter A. Berger / Klaus Hock / 7homas Klie der Begegnung und Kommuni kation, an denen bürgerschaftliches Engagement erst möglich und soziales Miteinan der gelebt, erlebt und erlernt werden kann. Wie bereits oben erwähnt, sind durch interne Diskussionen innerhalb des Projektteams, dann aber auch nochmals angestoßen und vertieft durch die Bei- träge auf dem Workshop, die größtenteils auch dieser Veröffentlichung zugrunde liegen, wichtige Anregungen aufgekommen, die nicht nur in die konkrete Arbeit Eingang gefunden haben und weiter ¿nden werden, sondern durch ihre grundle- genden Anfragen nochmals wichtige Impulse zur Nachjustierung des Projetde- signs gegeben haben. Dieser Prozess der selbstkritischen Nachjustierung ist mo- mentan noch im Gange und spiegelt sich zumindest ansatzweise in den Beträgen der Projektmitarbeiter Arnaud Liszka (S. 65-87, S. 135-150), 7homas Käcken- meister (S. 203-216) und Marlen Schröder (S. 269-281) wider. Von besonderer Be- deutung in diesem Zusammenhang ist die kritische Anfrage Hubert Knoblauchs an die differenztheoretische Fundierung der konzeptionellen Ausrichtung unse- res Vorhabens. Die konstruktive Aufnahme dieser Kritik muss allerdings nicht notwendigerweise dazu führen, Fragestellung und Forschungshypothese – und damit tatsächlich das Gesamtdesign – des Vorhabens grundlegend zu revidieren und eine fundamentale Neuausrichtung vorzunehmen. Beispielsweise wäre zu fragen, ob der Kategorie der Hybridität tatsächlich durchgängig und apriorisch eine differenztheoretische Vorstellung zugrunde liegen muss. Verwendungszu- sammenhänge des Begriffs der Hybridität beispielsweise in postkolonialen 7he- oriedebatten lassen durchaus weitergehende Interpretationen zu, insbesondere (negativ) im Falle der Kritik an der Konzeption vorgegebener Entitäten oder (po- sitiv) mit Blick darauf, dass, falls überhaupt von „Identitäten“ die Rede ist, die- se nur als transitorische Größen erfasst werden, so etwa bereits bei Stuart Hall (Hall 1994: 30). Denkbar wäre zudem, die von verschiedener Seite annoncierten Probleme und Aporien hinsichtlich Begriff und Sache der „Religionshybride“ so anzugehen, dass der Begriff „Religionshybride“ nicht zur Kategorisierung be- stimmter Phänomene in Anschlag gebracht wird, sondern lediglich als deskripti- ver Begriff zur Rekonstruktion des auf der Ebene der Akteure von diesen selbst reÀexiv artikulierten Umgangs mit – oftmals als Gegensätze interpretierten – Ambivalenzen (wie zum Beispiel Religion vs. Kultur), wie dies Sebastian Schüler in seinem Beitrag zu diesem Band vorgeschlagen hat. Die weitergehende Frage, ob und inwieweit der Begriff Religionshybride sich daran anknüpfend perspek- tivisch dazu eignen könnte, die von uns untersuchten Performanzen und Sinnge- bungen dann auch als eine bestimmte Ausdrucksform spätmoderner Religiosität zu bestimmen, wäre damit zumindest offengehalten. Religionshybride – Zur Einführung 39

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„Man vergisst es zu oft, aber ihrer Etymologie nach, und jenseits der moralistischen Konnotationen, die man ihr allzu häu¿g zuschreibt, ent- wickelt sich die Ethik (ethos) doch von einem ‚Ort‘ aus, sie ist deswegen Ausdruck einer Situierung. Sie besteht darin, sich an einen gegebenen Ort und an die Gemeinschaft zu gewöhnen, sich daran anzupassen. Das bedarf einer spezi¿schen Form der Energie.“ (Maffesoli 2012a: 191)

„In diesem Sinne [als Form des Undifferenzierten, Anm. RK] kommt dem Volk ein mythischer, religiöser Status zu. Es handelt sich um etwas Gegebenes, das uns helfen kann, die Kraft und die Ef¿zienz des ‚Zuge- hörigkeitsgefühls‘ zu verstehen, welche die verschiedenen heutigen Ag- gregationen charakterisieren. Denn selbst wenn es kein Bewusstsein dieser religiösen Dimension gibt, a fortiori selbst wenn eine solche nicht als solche benannt wird, gibt es in diesen Gemeinschaften eine spezi¿- sche Selbstgenügsamkeit, wie sie allen Gruppierungen eignet, die einen gemeinsamen Glauben teilen. Der Fanatismus ist nur eine übersteigerte und karikierte Form einer solchen Sachlage.“ (Maffesoli 2012a: 192)

Der folgende Beitrag erläutert und diskutiert einige 7hesen des französischen Soziologen Michel Maffesoli zur „postmodernen Sozialität“. Maffesoli entwi- ckelte seit Ende der 1970er Jahre eine philosophisch, soziologisch und kulturwis- senschaftlich inspirierte Diagnostik gegenwärtiger Erscheinungsformen der Ver- gemeinschaftung, die er offensiv gegen die gängigen soziologischen Deutungen der Gegenwart setzt. Vielfach berührt diese Diagnostik das, was im Zusammen- hang des vorliegenden Bandes als „Religionshybride“ oder auch als „posttraditi- onale Gemeinschaften“ bezeichnet wird. Gewiss sind seine Analysen gerade in Kreisen der französischen Soziologie hoch umstritten; ihre stilistische Form ori- entiert sich zunehmend am kulturhistorischen Essay, keineswegs an soziologi- scher 7heoriebildung oder detaillierter empirischer Studie. Dennoch nehmen sie schon sehr früh und in origineller Weise Phänomene des „Homo Eroticus“ und des „Homo Festivus“ (vgl. zu beidem Maffesoli 2012a; 2012b) in den Blick, wel- che die Soziologie zunehmend beschäftigen. Maffesolis 7hesen und Provokatio- nen verweisen dabei auf das grundsätzliche Gegenstandsverhältnis der Soziologie, die ja über ihre Beschreibungen der Gesellschaften zugleich das Selbstverständnis dieser Gesellschaften prägt. Soziologie ist insofern immer mehr als bloße Ana- lyse. Und die Frage, was von Soziologien als relevant behandelt und damit in die

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 48 Reiner Keller

Ebene der Gesellschaftsbeschreibung übersetzt wird, ist keineswegs ‚unschul- dig‘. Denn in die Auswahl der 7hemen und ihrer Konzeptualisierung – bspw. in eine Betonung rationalen, zweckgerichteten Handelns, in den Akzent auf Arbeit und Organisation – Àießen notwendig implizite Relevanzbestimmungen ein, also Annahmen und Entscheidungen darüber, was als wichtig, untersuchenswert usw. zu gelten hat. Der Gegenstand dieser Disziplin (Gesellschaften) ist für vielfältige und Àexible Interpretationen offen und die Vielzahl der Gesellschaftsdiagnosen der letzten Jahrzehnte (Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsge- sellschaft, Beschleunigungsgesellschaft, Organisationsgesellschaft…) bildet die- ses Grundproblem zuverlässig ab. Maffesoli schlägt also eine vornehmlich ande- re Akzentuierung des soziologischen Blicks vor und gelangt von da aus zu einer anderen Beschreibung gesellschaftlicher Entwicklungen. Das soll im Folgenden näher erläutert werden.

1. Orgiasmus als Form postmoderner Sozialität Maffesoli verknüpft in seinen Analysen zwei Klassiker der Soziologie. So spielt erstens die Durkheimsche Religionssoziologie eine zentrale Rolle, in der Durk- heim das Wesen der sozialen Bindung (und auch der 7ranszendenz) aus rausch- haften Kollektiverfahrungen heraus begründet. Der zweite Klassiker ist Georg Simmel. Sein Begriff der ‚sozialen Form‘ (bzw. der Formen der Vergesellschaf- tung) dient als heuristisches Instrumentarium, mit dessen Hilfe unterschiedlichs- te Kulturphänomene aufeinander bezogen, verglichen, aber auch unterschieden werden können. Die Formen der Vergesellschaftung, das sind all die Arten und Weisen, in denen und durch die Menschen miteinander in Beziehung treten. Die Orgie bzw. der Orgiasmus bezeichnen eine solche Form – weit jenseits einer se- xuellen Konnotation stehen sie für Zusammenkünfte, in denen ein gemeinsames Erleben oder Fühlen im Moment des Zusammenseins im Vordergrund der Er- fahrungen steht, unabhängig davon, worauf es sich richtet – ganz so, wie man neben sexuellen Orgien auch von Konsumorgien, Fressorgien oder Gewaltorgi- en sprechen kann. Es sind die Maßstäbe des Zweckrationalen, die dabei aufgeho- ben werden, die nicht mehr zu existieren scheinen für den Moment des Erlebens. Durkheim hatte in den „Elementaren Formen des religiösen Lebens“ die Orgien und orgiastischen Erfahrungen der Corrobbori-Feste der australischen Aborigines als die soziale Ursituation der Vergemeinschaftung beschrieben und zugleich darauf hingewiesen, dass die Erfahrung „kollektiver Erregung“ (effer- vescence) auch in modernen Gesellschaften keineswegs verschwunden sei, son- dern einen notwendigen und unabdingbaren Bestandteil der sozialen Bindungen Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 49 darstelle, der sich zudem überall beobachten lasse. Er gibt in seinem klassischen Werk intensive Schilderungen der kollektiven Erregung:

„Die Zerstreuung, in der die Gesellschaft lebt, macht das Leben vollends gleichförmig, schlep- pend und farblos. Aber wenn ein corrobbori statt¿ndet, dann ist alles anders. […] Sind die In- dividuen einmal versammelt, so entlädt sich auf Grund dieses 7atbestands eine Art Elektri- zität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewußtsein eines jeden wider, das den äußeren Eindrü- cken weit geöffnet ist. Jedes Bewußtsein ¿ndet sein Echo in den anderen. […] Und da diese starken und entfesselten Leidenschaften nach außen drängen, ergeben sich allenthalben nur heftige Gesten, Schreie, wahrhaftes Heulen, ohrenbetäubendes Lärmen jeder Art, was wie- derum dazu beiträgt, den Zustand zu verstärken, den sie ausdrücken. […] In diesem gärenden sozialen Milieu und aus dieser Gärung selbst scheint also die religiöse Idee geboren worden zu sein.“ (Durkheim 1984a: 296ff)

Maffesoli greift dieses Moment auf und richtet seinen Blick auf die kleinen und größeren Erscheinungsformen solcher Erregungen in der Gegenwart. Das kann der sich selbst genügende Kaffeeklatsch ebenso sein wie eine Kneipenrunde nach Feierabend, die samstägliche Party, der Rave oder das Mitschreien im Fußball- stadion – nicht nur, ja bei weitem nicht im Vordergrund stehend: die sexuelle Or- gie. Das zweckfreie Zirkulieren der Sprache, das Plaudern, Scherzen, anstecken- de Lachen, Dahinreden zum Zeitvertreib sind Beispiele punktueller Ekstasen im Alltagsleben, Ausdruck einer „dionysischen Aura“ oder „Stimmung“, welche per- manent an den Gefühlsbanden des Zwischenmenschlichen weben:

„Die anwesenden Leute waren schon sehr interessant anzusehen, gelfrisierte Jungs mit Le- derjacken, Mädchen mit merkwürdigen, aber tollen Kleidern, – irgendwie eine explosive At- mosphäre. Man spürte es, da, schräg unten im Bauch. Dann ging es endlich los: 7he Rattles mit Achim Reichel begannen. […] Die Beatles, in klassischem Out¿t mit schwarzen Anzügen, erschienen zum Schluss und spielten 30 Minuten. Doch diese halbe Stunde veränderte mein Leben; denn sie stellte alles auf den Kopf, erweiterte mein Erlebnisspektrum um mehrere Di- mensionen, weckte Emotionen, die ich nie wieder los wurde.

Es war ein Urknall, eine Erschütterung, eine Explosion, ein Erdbeben gar, eine persönliche Weltneuerschaffung. Kreischende Mädchen, rockende Jungen – Men- schen ohne Kontrolle! Gefühlsausbrüche der extremen Art, ekstatisches Verhal- ten bis zur Bewusstlosigkeit, Mädchen, die außer sich waren. Alles tanzte, schrie, manche tobten, bis sie um¿elen und weggetragen wurden. Die Ordnungskräfte und die Polizei waren ständig im Einsatz. Von der Musik verstand man wenig, denn während des gesamten Auftrittes dominierte sehr helles, schrilles Kreischen die akustische Szenerie. […] Aber diese Atmosphäre – die Bässe, die Lautstärke, die Hitze, der Geruch, – das alles war neu, aufregend und völlig anders, als sämtli- che vorangegangenen Erfahrungen. 50 Reiner Keller

[…] Ich wusste nun, was es hieß, ungezügelte Emotionen zuzulassen und sie auszuleben.“1

Auch andere soziologische Klassiker haben die Bedeutung der sinnlichen Emp- ¿ndungen und Erfahrungen für den Prozess der religiösen Vergemeinschaftung gesehen. Max Weber verwies in seiner Religionssoziologie auf die Bedeutung von Stimulanzien (Musik, Alkohol, 7abak), des Rausches, der Ekstasen und Or- gien für die außeralltägliche Erfahrung des Religiösen (Weber 1985: 246 [1922]; 325). Freilich handelt es sich nach Weber dabei um ein eher situatives Erleben:

„Dem Laien ist die Ekstase nur als Gelegenheitserscheinung zugänglich. Die soziale Form, in der dies geschieht, die Orgie als die urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung, […] ist ein Gelegenheitshandeln. […] Der Laie kennt die Ekstase nur als einen gegenüber den Be- dürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch. […]“ (Weber 1985: 246)

Georg Simmel, der ebenfalls im Hinblick auf die religiöse Communitas die Rolle der Orgie erwähnt (Simmel 1906), sah in dem Vermögen der Menschen, wechsel- seitige Emp¿ndungen hervorzurufen, die Grundvoraussetzung des sozialen Bandes:

„Was fortwährend an physischen und seelischen Berührungen, an gegenseitiger Erregung von Lust und Leid, an Gesprächen und Schweigen, an gemeinsamen und antagonistischen Inter- essiertheiten vor sich geht – das erst macht die wunderbare Unzerreißbarkeit der Gesellschaft aus, das Flukturieren ihres Lebens.“ (Simmel 1992: 34)

Und Karl Mannheim sprach im Anschluss an Ernst Bloch von der Bedeutung or- giastischer Energiefreisetzungen für die utopischen Bewegungen der Neuzeit. Nichts sei „irriger, als von der ‚Ideengeschichte‘ her erfassen zu wollen, was hier geschah: Nicht ,Ideen‘ trieben diese Menschen zur Revolution, den wahren Ausbruch bedingten ekstatisch-orgiastische Energien.“ (Mannheim 1969: 184ff) Durkheim betonte, dass vergleichbare Zustände kollektiver Erregung auch in modernen Gesellschaften entstehen. Unter anderem ließe sich nur so der blu- tige Verlauf der Französischen Revolution angemessen verstehen, ja jede Partei- versammlung, die ihre Mitglieder mobilisieren wolle, müsse um die Freisetzung ähnlicher Energien bemüht sein:

„Innerhalb einer Ansammlung, die eine gemeinsame Leidenschaft erregt, haben wir Gefühle und sind zu Akten fähig, deren wir unfähig sind, wenn wir auf unsere Kräfte allein angewie- sen sind.“ (Durkheim 1984a: 289; vgl. ebd.ff)

1 So schildert eine Frau heute in einem Web-Blog rückblickend ihr Erleben eines Beatles-Konzerts 1966 in München, zit. nach: campodecriptana.de/blog/2005/06/25/194.html [Zugriff vom 14.08.2007]. Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 51

Und das ist nicht nur eine 7hese seines Spätwerkes, sondern tatsächlich bereits in den harten „Regeln der soziologischen Methode“ eine der beiden Haupterschei- nungsformen sozialer 7atsachen. Neben den Institutionen

„weisen auch andere Erscheinungen, die nicht in diesen kristallisierten Formen auftreten, die- selbe Gegenständlichkeit und dieselbe Gewalt über das Individuum auf. Es sind dies die soge- nannten sozialen Strömungen. So entstehen im Verlaufe einer Versammlung die großen Aus- brüche des Enthusiasmus, der Entrüstung und des Mitleids nicht im Sonderbewußtsein des Einzelnen. Sie treten an jeden der 7eilnehmer von außen heran und sind imstande, sie auch wi- der ihren Willen fortzureißen. […] Sobald sich die Versammlung aufgelöst hat, die EinÀüsse der Masse nicht mehr auf uns wirken und wir uns allein mit uns selbst ¿nden, erscheinen uns die Gefühlszustände, die wir durchgemacht haben, als etwas Fremdes, worin wir uns selbst nicht mehr erkennen. Wir erfahren dann, dass wir sie eher erlitten als selbst gemacht haben. Manchmal schaudert uns auch, so unvereinbar waren sie mit unserer Natur. […] Das gilt nicht nur von vorübergehenden Eruptionen. Es lässt sich auch von den dauerhafteren Meinungsströ- mungen behaupten, die sich ohne Unterlaß um uns herum entwickeln, sei es in der gesamten Ausdehnung der Gesellschaft, sei es in engeren Kreisen, auf dem Gebiete der Politik, der Re- ligion und der Literatur.“ (Durkheim 1984b: 107f)

Feste, Feiern, Events, wie Winfried Gebhardt (1987, 2000) schreibt, oder der „Schatten des Dionysos“, wie es in der Anfang der 1980er Jahre erschienenen kulturgeschichtlichen „Soziologie des Orgiasmus“ (Maffesoli 1986) heißt, ¿n- den sich überall in der globalen Menschheitsgeschichte. Die europäische Mo- derne, nach Weber ganz im Zeichen der protestantischen Ethik, des Bürokraten- tums und des Rationalismus stehend, hat diese Momente der Sozialität jedoch weitgehend unterdrückt. Dagegen skizziert er nun das Gemälde einer neuerlich heraufziehenden barocken Welt, in der das Spiel der Sinne und Emotionen, das- jenige mit OberÀächen und Erscheinungsformen, mit Identi¿kationen und Kor- respondenzen zwischen Natur und Kultur in den Vordergrund tritt, durchzogen von KonÀikten, Spannungen, Gegensätzlichkeiten, die sich gewaltsam entladen können. Die Moderne war die historische Epoche des Rationalismus, des Pro- jektdenkens, der utopischen Energie rationaler Gesellschaftsgestaltung, der dis- ziplinierenden prometheischen Arbeits- und Fortschrittseuphorie, der homoge- nisierenden bzw. totalisierenden – und das vitale Leben erstickenden – formalen, politischen und bürokratisch-institutionellen Macht sowie des gesellschaftlichen Individualismus und der Suche nach authentischer Identität. Der Zusammenhalt des Sozialen wird hier als rationales Projekt der beständigen Verbesserung gestal- tet. Diese Moderne erfahre etwa seit den 1950er Jahren einen Prozess der Sätti- gung, der in vitalistisch-lebensphilosophischer Interpretation als gleichsam sich von selbst erzwingende Rückkehr des gesellschaftlich Verdrängten interpretiert wird. Es ist die produktive, den sozialen Gruppen und Gemeinschaften entsprin- gende Macht und Kraft der „puissance“, der „Souveränität“ (Georges Bataille) 52 Reiner Keller einer Sozialität, die aus Gemeinschaftserfahrungen und kollektiven Erregungen entspringt. Genau diese Erscheinungsform der Macht höhlt die alte, promethei- sche Ordnung der Moderne aus, ganz ähnlich wie die Bergarbeiter den stabilen Boden aushöhlen. Die nachfolgende 7abelle macht die von Maffesoli skizzierten Merkmale von moderner und postmoderner Ordnung deutlich.2 Einige wichtige Elemente sollen im Anschluss erläutert werden.

Tabelle 1: Die Grundstruktur des Gesellschaftsverständnisses

Moderne Postmoderne Grundmerkmal das Soziale die Sozialität emblematische, Prometheus Dionysos archetypische Figur 7yp des Imaginären Lichtregime Nachtregime Lebensführung Arbeitsethik, Produktivität Hedonismus, unproduktive Verausgabung Machtform in festen Strukturen organisierte zerstörende und erschaffende Macht (pouvoir) Kollektivmacht (puissance) gesellschaftlicher mechanische Solidarität organische Solidarität Zusammenhalt rationale Organisation kollektive Erregungszustände (Orgiasmus); gefühlte Zugehörigkeit (aisthesis, soziale ,Kœenesthesie‘); ,unterirdische Zentralität‘ Distanz-/Vertragsbeziehung Nah-/Gefühlsbeziehungen (Proxemie) Vergesellschaftung temporäre Vergemeinschaftung in Stämmen (Neo-7ribalismus) Wertesystem Moral Deontologie (Situationsethik; aisthesis) Monotheismus Polytheismus der Werte Weltbeziehung Ökonomie Ökologie Leitvorstellungen Homogenisierung konÀiktreiche Heterogenisierung Einheit Einheitlichkeit Zukunftsprojekt: Fortschritt, Genuss der vergänglichen Gegenwart, Optimierung Schicksal, 7ragik der Existenz religiöse oder rationalistische innerweltliche, immanente 7ranszendenz 7ranszendenz Geschichte und Drama Zyklische Wiederkehr und 7ragödie Rationalismus, Logik Gefühle, das Imaginäre

2 Entnommen aus Keller 2006: 34. Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 53

Moderne Postmoderne Menschenbild Individuum/Individualismus Individuation, Einzigartigkeit, aber Pluralität im Einzelnen (Person) eindeutige Identität Maskenspiel, strukturelle Falschheit (duplicité), wechselnde Identi¿kationen und Fusionen feste Funktion in der Gesellschaft existenzielles Nomadentum; temporäre Rollen korrespondierende positivistisch od. phänomenologisch-beschreibend, Soziologien marxistisch-kritisch, aus der geteilten Erfahrung heraus Beobachtung von außen/oben (Metanoia) (Paranoia) objektivistisch, abstrahierend und relativistisch, einfühlend und verstehend, erklärend, beweisend hinweisend Benennung und Begriff ,weiche‘ Ideen und Interpretationsvorschläge (notion) 7rennung und Klassi¿kation Verbindung (Konjunktion) der (entweder/oder) Gegensätze (sowohl als auch) (coïncidentia oppositorum)

2. Postmoderne Stammes-Kultur: Sozialität im Zeichen der „aisthesis“ Was zuvor als dionysisches Moment in kleinen Nischen des Alltagslebens niste- te, wird nun zum dominierenden Strukturierungsmodus des Sozialen. Die Mög- lichkeit eines solchen Gestaltwandels sozialer Morphologie bietet die Vergemein- schaftung in sozialen Figurationen, für die Maffesoli (1995 [1988]) die Metapher des „(Neo)-Stammes“ wählt, um die „Gefühlsgrundlagen“ des Zusammenschlus- ses zu betonen. Er setzt ihn damit sowohl ab von den soziologischen Kategorien der „Gruppe“ und der Organisation wie von denjenigen der „Gemeinschaft“ und der „Gesellschaft“. Seine Bedeutung reicht auch über diejenige der „Szene“ hin- aus, denn er kann sich ebenso auf durch räumliche Nähe konstituierte Straßen- nachbarschaften oder die Jugendbanden der Pariser Vorstädte beziehen wie auf die Clubkulturen der Großstadtnächte. Die Rede von ‚Neo-Stämmen‘ folgt eher der Weberschen Idee der religiösen Formen der Vergemeinschaftung. Merkmale der „Gemeinde“ sind ihr vorüberge- hender Charakter, die wechselnde Zusammensetzung, der Bezug zum Lokalen, die Abwesenheit stringenter formaler Organisationselemente und ihre Veralltäg- lichung (vgl. Weber 1985: 275ff). An die Stelle des Gesellschaftsvertrages tritt die konÀiktreiche und bewegliche Architektur eines vielfach zergliederten, sich beständig neu arrangierenden Netzes von Stammesbildungen und organischen 54 Reiner Keller

Solidaritäten. In einer Art „gesellschaftlichem Laboratorium“ (Maffesoli 1997: 55) entsteht eine lose, konÀiktreiche Netzwerklandschaft der Gemeinschaften auf Zeit, zwischen denen die Individuen zirkulieren. Die Metapher des Stammes macht deutlich, dass es nicht um zweckorien- tierte Gruppenbildungen geht bzw. dass vertragliche Ziele und Zwecke nicht im Vordergrund stehen, sondern die geteilten Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle. Neben der organischen Solidarität existiert innerhalb der Stammesgemeinschaft ein komplexes, archaisches Gefüge von Ritualen, Zwängen und VerpÀichtungen für die Mitglieder, dem diese sich für die Zeit ihrer 7eilnahme unterwerfen müs- sen. Der wesentliche Unterschied zum ethnologischen Stammesverständnis liegt darin, dass dort die Stammesmitgliedschaft totalen Charakter hat, es also keine Alternative dazu gibt, allenfalls um den Preis der dauerhaften Ausstoßung aus so- zialen Bindungen. In postmodernen Gesellschaften dagegen sind Stammeszuge- hörigkeiten Àüchtig, Ergebnisse von Wahlentscheidungen und Af¿nitäten nomadi- sierender Individuen. Diese Dahintreibenden verfolgen jedoch weder das Projekt eines rationalen Abwägens noch die Suche nach authentischer Identität, sondern verankern sich in sukzessiven identi¿katorischen Prozessen als Personen im an- tiken Sinne der Maske – um ein postmodernes Stammestotem: eine Ikone des Starsystems, einen mystischen Ort, eine orgiastische Erfahrung, ein Kult-Objekt. Der Zusammenhalt der Stammes-Gemeinde entsteht aus aisthetischen Erfah- rungen, einer daraus rührenden situativen, deontologischen Ethik und den spe- zi¿schen Gewohnheiten, Ritualen, Sitten und Gebräuchen, in denen sie sich von anderen unterscheidet. Hier verwandelt sich die physische Nähe, das gemeinsame Erleben, in Religion, d. h. im Wortsinne von ‚religare‘: in Verbindung („reliance“, Boll de Bal 1985, 1996). Die Multiplikation von Stammes-Bildungen beruht auf einem „Geist der Religion“, ist in diesem Sinne ephemere, religiöse Aggregation um einen symbolischen Kern: „Die so verstandene Religion ist die Matrix allen sozialen Lebens.“ (Maffesoli 1988: 62). Religionshybride Aktivitäten und Grup- penbildungen sollten deswegen nicht durch ihr ,Projekt‘ rationalistisch fehlinter- pretiert werden. Vielmehr bietet das, was getan wird (die Renovierung eines Ge- bäudes, die Organisation von Veranstaltungen) nur den legitimen Vorwand für das Erleben von ,Zusammen-Sein‘. Die erwähnten Elemente der (gleichsam religiösen Stammes-)Vergemein- schaftung sind Ausdruck eines Kollektivierungsprozesses; sie entstehen nicht auf vertraglicher Grundlage, sondern aus der entindividualisierenden Erfahrung der Gemeinschaftserlebnisse. So baden die Individuen in einer ästhetischen „Aura“ (Walter Benjamin), in Gemeinschaftsstimmungen, in denen die herkömmliche Subjekt-Objekt-7rennung aufgehoben ist. Dieser Prozess verläuft über symboli- Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 55 sche Kristallisationen, über die Versammlung um ein ‚Stammestotem‘, das die Gemeinschaftserfahrung anregt und symbolisiert. Zunehmend zählen die Stim- mung, die Atmosphäre oder das „Feeling“, wenn es um die soziale Wahrnehmung und Beschreibung von Situationen geht. Die Ästhetik des gemeinsamen Erlebens und Fühlens wird zur Grundlage einer spezi¿schen ethischen Erfahrung im proxemischen Nahbereich, in der Lo- kalität der Kontakte. Die Gemeinde verlangt von ihren Mitgliedern Konformis- mus; sie garantiert dafür wechselseitige Solidarbeziehungen innerhalb der Grup- pe. Dieses situative und situierte Gruppenethos, die Deontologie (Maffesoli 2007) entwickelt sich aus den Beziehungen der Partizipation an einem gemeinsamen und damit geteilten realen oder symbolischen 7erritorium. Die Vergemeinschaftung im Stamm beruht auf dem Gefühlsversprechen, der Möglichkeit zu kollektiver Erfahrung, zum Ausstieg aus der individuali- sierten Selbstkontrolle und –Verantwortlichkeit der alltäglichen Lebensführung. Das strukturelle fragmentierte neo-tribale Netz der postmodernen Kon¿guration schafft Nischen bzw. symbolische 7erritorien für punktuelle Gruppenbildungen im Inneren größerer Gesamtheiten, konstituiert lokale Ethiken gegen das jeweils „Andere“ und gegen das „Außen“, ohne dies in die herkömmlichen Repräsenta- tionsweisen des Politischen zu übersetzen. Inwieweit ein solcher Stamm über längere Zeit besteht oder gar auf Dauer gestellt wird, ändert sich mit den konkreten Erscheinungsformen. Gleichwohl sind damit nicht alle Merkmale traditioneller Stammeskulturen verschwunden: Auch Neo-Stämme stabilisieren sich über Rituale, Kultobjekte und kultisch-ekstatische Handlungen, über Zeichen der Zugehörigkeit (die Vereinsfarben, die Kleidung, das 7attoo, der Haarschnitt, der Button) oder wechselseitige VerpÀichtungen. Sie verlangen Konformismus, die Einhaltung der Spielregeln, sie können bestimm- te Kompetenzen erfordern und mitunter Stammeskriege heraufbeschwören. Im Kern geht es jedoch um das Gefühl, die kollektive Erregung und die Leidenschaf- ten, die durch die Stammestreffen befriedigt werden. Die aisthesis ist nicht auf die kleineren tribalistischen Figurationen eingeschränkt, sondern sie kann auch die Erfahrungsmodalitäten größerer Kollektive strukturieren, wie nicht nur der organisierte Rausch der nationalsozialistischen Spektakel der 1930er Jahre, son- dern in anderer Form eben auch der deutsche 7aumel und Rausch der Fußball- weltmeisterschaften (insbesondere im Jahre 2006) anzeigt. 56 Reiner Keller

3. Homo Aistheticus: Die Logik der Fusion „Hier also ist die Hypothese: Es gibt einen nicht unterdrückbaren und machtvollen Hedonis- mus des Alltäglichen, der jeglichem Leben in Gesellschaft zugrunde liegt und dieses trägt. In gewisser Weise eine anthropologische Struktur. In manchen Epochen wird dieser Hedo- nismus marginalisiert und spielt eine subalterne Rolle; in anderen dagegen wird er zum an- erkannten, diskreten oder geheimen Dreh- und Angelpunkt der Ordnung des gesamten so- zialen Lebens. […] Kurz gesagt, das soziale Band wird ein Band der Gefühle. So entwickelt sich eine Seinsweise (éthos), wo das, was mit anderen gemeinsam empfunden wird, vorran- gig wird. Genau diesen Zusammenhang bezeichne ich mit dem Ausdruck ,Ethik des Ästhe- tischen‘. […] Ganz entschieden scheint der Ausdruck Ästhetik (aisthésis), das gemeinsame Emp¿nden, das beste Mittel, um den ,Konsensus‘ zu benennen, der sich vor unseren Augen entwickelt, und der auf geteilten Gefühlen oder heftigen Emp¿ndungen beruht: Cum-sensu- alis. […] In dieser Hinsicht eröffnet die Postmoderne eine Form sozialer Solidarität, die nicht mehr rational ,vertraglich‘de¿niert ist, sondern die sich im Gegenteil aus einem komplexen Prozess der Anziehungen und Abstoßungen, der Emotionen und Leidenschaften aufbaut.“ (Maffesoli 1990: 13ff)

Die neo-tribale Vernetzung ergibt sich zwar aus Prozessen einer individuellen Wahl oder Entscheidung. Insoweit lässt sich von einer „Wahl-Sozialität“ („soci- alité élective“) sprechen (Maffesoli 1988: 110ff). Doch diese Wahl ist ihrerseits von den kollektiven Stimmungen, Gefühlslagen, Moden, vom postmodernen, ba- rocken „Stil des Lebens“ oder der „Barockisierung der Welt“ abhängig (Maffe- soli 1990: 151ff). Ihr läge nichts ferner als die Selbstverwirklichung im Sinne der Aufklärung oder der authentizitätsorientierten kommunitären Suchprojekte – es handelt sich durch und durch um ästhetische Identi¿kation, also um Identi¿kati- on auf der Grundlage gemeinsam erfahrener Gefühlszustände und Leidenschaf- ten in den verschiedensten sozialen Feldern (Maffesoli 1990: 239ff; 1992: 254ff). Während das moderne, freie und gleiche Individuum sich mit anderen in ei- ner Vertragsbeziehung assoziiert und spezi¿sche Funktionen damit verbindet, spielt die Person eine Rolle in einem organischen Ganzen, mehr noch: Die Per- son ist wesentlich heterogen, sie schlüpft in eine Vielzahl von solchen Rollen, in wechselnde Masken, die ihr die temporäre 7eilnahme an Gruppenprozessen er- lauben – den seriösen Anzug im Unternehmen, das Heavy Metal Out¿t in der MotorradcliTue, die Lederkluft im Sado-Maso-Club. Der Begriff der Maske ist hier metaphorisch gemeint: Die Masken-Funktion kann bspw. durch Kleidung, 7attoos, Chat-Pseudonyme, Frisuren, Gestik usw. erfüllt werden, die allesamt ei- nem je spezi¿schen Code der „Eingeweihten“ folgen. Eingebettet in die neo-tri- bale Gruppenkultur handeln nicht die Individuen, sondern über das Kollektiv- gedächtnis, bspw. in Gestalt der wechselnden Moden, agiert „Es“, wo das „Ich“ noch der Illusion der Selbstbestimmtheit anhängt (vgl. Maffesoli 2012b): Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 57

„So bringt die Identi¿kation zum Ausdruck, dass die Person aus einer Serie von Schichten besteht, die seTuenziell gelebt werden oder die sogar gleichzeitig und in Konkurrenz zuein- ander gelebt werden können. Diese Schichtung ruft all die Stammesgebiete hervor, die von den verschiedenen zeitgenössischen Stämmen besetzt sind. In einem zugleich einfachen und komplexen Schema begründet jedes dieser Elemente (Person, Stamm, 7erritorium) die ande- ren und alle wirken aufeinander ein.“ (Maffesoli 1990: 266)

Diese „Logik der Fusion“, der deindividualisierenden, zugespitzten Verbindung, prägt – so Maffesoli – den Stil der nachmodernen Sozialbeziehungen. Letztere bilden natürlich auch weiterhin zweckrationale Assoziationen, aber weitaus be- deutsamer (auch für solche zweckbezogenen Zusammenschlüsse) werden Ver- bindungen, die auf affektiven Erfahrungen beruhen. Sie beanspruchen nicht die vollständige und authentische Präsenz der Individuen füreinander, sondern sind „taktile, Àüchtige Begegnungen“, die das erfordern, was Alfred Schütz (1972 [1951]: 132 u. 145) in seinem Aufsatz über „Gemeinsam Musizieren“ beschreibt als das „wechselseitige Sich-aufeinander-einstimmen“. Maffesoli bezeichnet ge- nau diesen Prozess mit dem Ausdruck des „ästhetischen Paradigmas“, dem auch eine zeitgemäße Soziologie Rechnung zu tragen habe. Im Neo-7ribalismus konstituiert sich die Materialität des Zusammen-Seins im dynamischen Hin und Her zwischen Masse und Gruppe. Im Anschluss an und Verallgemeinerung von Max Scheler und dessen „Einfühlungs-7heorie der Sym- pathie“ (Scheler 1973 [1923]) spricht er von „diffusen Gefühlserfahrungen“ („né- buleuse affectuelle“; Maffesoli 1988: 93), die den postmodernen Masken-Spielen zugrunde liegen. Die Lust an Sinneserfahrungen, am Leidenschaftlichen, am ge- steigerten Gefühlserleben (Maffesoli 1990: 59ff), aber auch an der beruhigenden Vergewisserung des Gemeinsamen etwa einer 7radition oder einer Vorliebe wird zum antreibenden Moment der Àüchtigen Vergemeinschaftungen. Die Masken lie- fern die dafür notwendige OberÀäche, unter der keine Authentizität mehr erkannt werden kann und muss – der äußerliche Anschein, die äußere Erscheinung wird zum 7räger dieser Erfahrungsweisen des Sozialen. Diese Erscheinungen bilden einen oberÀächlichen „Schaum der 7age“ (Boris Vian), unter dem in den dadurch verborgenen Höhlungen Sozialität entsteht (Maffesoli 1990: 103ff). Dies ist der wesentliche Unterschied zur „7yrannei der Intimität“ (Richard Sennett) in der US-amerikanischen Hippiekultur am Anfang der 1970er Jahre. Gleichzeitig er- möglichen die „Äußerlichkeiten“ durch ihren Symbolcharakter die Partizipation an einem gemeinsamen Spiel, bei dem jeder Spieler und Zuschauer zugleich ist: Für den Antrieb dieser seriellen Existenzweise der neo-tribalen Erfahrungen ist die dynamische Energie des Imaginären oder der „imaginalen Welt“ (Henri Corbin) unverzichtbar, d. h. all der Vorstellungs-, Symbol- und BilderÀuten, die das Alltagsleben durchziehen (Maffesoli 1990: 111; 1993: 119ff). Das Bildliche 58 Reiner Keller interessiert hier nicht als die von Jean Baudrillard diagnostizierte hyperreale All- gegenwart der Simulakren, sondern als 7räger von Gefühlen und Vergemeinschaf- tungserfahrungen, unabhängig von den je spezi¿schen Inhalten:

„Die wesentliche Funktion, die man heute den Bildern zugestehen kann, ist die, die zum Hei- ligen führt. Es ist frappierend zu sehen, wie außerhalb aller Doktrinen und ohne jegliche Or- ganisation ein ,Glaube ohne Dogma‘ existiert, oder vielmehr eine ganze Reihe von ,Glauben ohne Dogma‘, die am besten die Wiederverzauberung der Welt zum Ausdruck bringen […]. Ich habe davon gesprochen, dass die Religiösität das gesamte soziale Leben kontaminiert. Es geht tatsächlich nicht mehr um den religiösen Bereich stricto sensu, sondern um all diese ,ana- logen‘ Religionen, die der Sport, die Musikkonzerte, die patriotischen Versammlungen oder sogar die Konsummöglichkeiten sein können. In jedem dieser Fälle, und man könnte die Lis- te beliebig verlängern, entsteht die ,Verbindung‘ [reliance] um Bilder herum, die man mit an- deren teilt.“ (Maffesoli 1993: 147)

Dieser allgemeine Vitalismus des Imaginären, der in seinen Ausprägungen durch- aus von sozialstrukturellen Merkmalen wie Generationenlagen, beruÀichen Mili- eus oder verfügbaren ökonomischen Ressourcen beeinÀusst wird, heftet sich an spezi¿sche, auf romantische 7raditionen rekurrierende Erfahrungen der Natur (etwa in der Naturkostbewegung) oder des Raumes (wie bspw. bei Fußballare- nen), an die durch Branding und Images bestimmten Kult-Objekte der Massen- konsumgesellschaft (z. B. bestimmte MP3-Player, Computer- oder Autotypen) und der Massenmedien mit ihren diversen Musik-, Film- und Fernsehstars und deren Fangemeinden. Im Neo-7ribalismus sind die Orte und Anlässe der Versamm- lung in Gestalt einer symbolischen Besetzung von realen und imaginären Räu- men zentral. Das lässt sich exemplarisch am Beispiel der Stadt Paris illustrieren:

„So könnte man beispielsweise sagen, dass diese Megapolis aus einer Abfolge von ,Ruh- mes-Orten‘ im religiösen Sinn des Ausdrucks besteht, an denen verschiedene Kulte mit star- ken ästhetisch-ethischen Anteilen zelebriert werden. Das sind Kulte des Körpers, des Sexus, der Bilder, der Freundschaft, des ,Zusammen Essens‘, des Sports. Die Liste lässt sich beliebig erweitern. Der gemeinsame Nenner ist der Ort, an dem der Kult vollzogen wird. Wie an ande- rer Stelle gezeigt, wird hier der Ort zum Band [Wortspiel im Französischen: „le lieu devenant lien“; Anm. d. Verf.] […]. Eine Zelebrierung, die dem Religiösen seine ursprüngliche Bedeu- tung des Verbindenden [reliance] gibt: Das kann eine Feier des 7echnischen (das Museum La Villette, die Videothek von Paris), des Künstlerischen (Beaubourg), des Spielerisch-Erotischen (La Palace), des Konsums (die Hallen), des Sportlichen (der Parc des Princes, Roland-Garros), der Musik (Bercy), des Religiösen (Notre-Dame), der Intellektualität (das große Amphitheater der Sorbonne), des Politischen (Versailles) oder der gemeinsamen Erinnerung (die Arche de la Défense) usw. sein. Das alles sind solche Ruhmes-Orte, an denen sich die Banalität des Alltags labt, entweder direkt oder durch das zwischengeschaltete Fernsehen.“ (Maffesoli 1990: 214f)

Die geteilte räumliche Nähe und die gemeinsam gelebten „ewigen Augenblicke“ schaffen die Basis für die Wir-Beziehungen. Der Raum ist nicht nur physikali- Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 59 sches Faktum, sondern ein imaginär besetzter Bereich, der Stabilität im Fluss der Ereignisse garantiert, die Gruppenerfahrungen als sedimentierte Spuren trägt, die verschiedensten Kommunikationsprozesse in den Gruppen und das gemeinsame Leben des Schicksals gestattet:

„Was immer auch im Einzelnen das betreffende 7erritorium oder der Inhalt der Zuneigung sein mag: kulturelle Interessen, sexuelle Vorlieben, bestimmte Vorstellungen von Kleidung, religiöse Vorstellungen, intellektuelle Motivationen, politische Engagements. Man könnte die Aggregationsträger nach Belieben multiplizieren, aber sie können alle von den beiden Polen Raum/Symbol aus umschrieben werden.“ (Maffesoli 1988: 166)

Die Zirkulation der Individuen zwischen den Stämmen folgt einer zentripetalen und zentrifugalen Logik, einer Mischung aus beständiger Anbindung und Frei-Las- sung. Daher wirken die Vergemeinschaftungen instabil, sie bestehen nicht notwen- dig aus denselben Personen, sondern im Kommen und Gehen der verschiedenen Maskenträger. Gleichzeitig sind die Individuen nicht die rationalen Organisato- ren ihrer Existenz, sondern ständig Re-agierende, die von zufälligen Begegnun- gen zu zufälligen Begegnungen getrieben werden. Auf makrogesellschaftlicher Ebene erscheint Maffesoli das postmoderne „Netzwerk der Netzwerke“ als ein fragiles, polyzentrisches Gewebe, eine stochastische, komplexe und nicht inten- dierte Strukturbildung, die neben den institutionalisierten systemischen Verge- sellschaftungsmodi besteht – ein „Raum kaleidoskopischer Figuren mit wechseln- den und unterschiedlichsten Konturen.“ (Maffesoli 1988: 181) Diese postmoderne Kultur ist schließlich eine konÀiktträchtige, heteroge- ne Kultur der Differenz. Die angesprochenen Phänomene verweisen keineswegs auf eine befreiende Logik der Überschreitung im Sinne Batailles, eher auf ein konÀiktuelles und amoralisches Arrangement des Widersprüchlichen. Der Grad der Offenheit gegenüber dem Heterogenen, dem Anderen, wird damit zum Maß- stab der Postmoderne als einer Epoche des neuerlichen „Polytheismus der Wer- te“ (Maffesoli 1988: 129ff). Ein solcher Polytheismus ist für Maffesoli eine tief verwurzelte populäre Einstellung gegenüber der Welt, die sich unter der OberÀä- che des christlichen Monotheismus erhalten habe. Er ist keineswegs harmonisch, sondern schließt Antagonismen als „coincidentia oppositorum“ ein: Die Stämme kommunizieren durch die zwischen ihnen bestehenden Spannungen und Kon- Àikte. Potenziell könne sich dabei ein heterogenes Gleichgewicht der sich „be- kämpfenden Leidenschaften“ herstellen, doch gleichzeitig lauert auch die Gewalt, der Rassismus, die Unterdrückung des Anderen: „Fanatismus liegt in der Luft“. (Maffesoli 1993: 210) Die Ausländerfeindlichkeit und eine spezi¿sch kosmopoli- tische Großstadtkultur existieren als emotionale Phänomene nebeneinander. Die eigentliche Gefahr liegt für Maffesoli hier in den unterschiedlichsten Versuchen 60 Reiner Keller einer politischen Mobilisierung und Finalisierung von Ausgrenzungen der An- deren, etwa in Gestalt nationalistischer oder fundamentalistischer Bewegungen, die sich der Unterdrückung von Differenz verschreiben.

4. Ausblicke Maffesolis zugespitzte Deutung einer aisthetischen Postmoderne legt eine Lesart gesellschaftlicher Phänomene vor, die Tuer zu üblichen Spezialsoziologien und Gegenstandsbereichen auf der sinnlichen Qualität des Erlebens als wesentliche Grundlage von Sozialität besteht. Das ermöglicht entsprechende Untersuchun- gen sehr heterogener Gesellungsformen und verspricht durchaus, weiße Flecken der soziologischen Weltvermessung zu beseitigen. Insoweit können daraus für die Analyse religionshybrider Konstellationen zahlreiche Anregungen gewonnen werden, die es weiter auszutesten gilt. Gleichwohl erzeugt die von ihm gewähl- te Abstraktionshöhe und Stilisierung der Diagnose auch einige Probleme. Zum einen reihen sie sich ein in eine kulturwissenschaftliche 7radition der allgemei- nen Vermessung dionysischer Erscheinungen, der es zunehmend schwerer fällt, diesem Feld neue und originelle Aspekte abzugewinnen (z. B. Ehrenreich 2006). Hinzu kommt das Problem eines gleichsam subsumtionslogischen Vorgehens, das Phänomene mit dem Ziel in den Blick nimmt, entsprechende Konturen der Postmoderne-Diagnose nachzuweisen oder in der Analyse konkreter Phänome- ne nicht über die theoretisch bereits entwickelten Elemente dieser Diagnose hin- aus gelangt. Dieses Schicksal teilt sie freilich mit anderen Gegenwartsdiagnosen. Originell ist dabei gewiss die Verbindung von Durkheimscher und Simmelscher Soziologie. Hier ¿ndet eine produktive Nutzung klassischer Ideen und Konzepte statt, d. h. eine analytisch-diagnostische Anwendung, die sich von der häu¿gen zitierenden Berufung auf Klassiker unterscheidet. Darin liegt eine interessante Möglichkeit der Erneuerung der Simmelschen Soziologie zur Erschließung der eben bei Leibe nicht nur rationalen Grundlage moderner Sozialität. Den diagnostischen Gehalt der Neotribalismus-7hese schätze ich allerdings deutlich kritischer ein. Vielleicht ist eine solche Behauptung in ihrer Anlage un- besehen einem „kurzen 7raum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) ver- haftet, der die neo-tribalen und hedonistisch-orgiastischen 7endenzen, aber auch die seit Mitte der 1980er Jahre beschriebenen ‚barbarischen Stammesbildungen‘ in den düster-tristen Vorstädten unserer Metropolen in ihrer gesellschaftsstruk- turierenden Bedeutung überinterpretiert. Sicherlich haben Zeitdiagnosen das Recht zur „einseitigen Steigerung“ (Max Weber) und Stilisierung von Phänomenen, und gewiss liefern die Diskussionen Über religionshybride Gefühls- und Glaubensgemeinschaften 61 um Wertewandel, neuen Hedonismus, auch die Entwicklung der „eventualisier- ten“ Festkultur und die gesellschaftliche Generalisierung jugendkultureller Phä- nomene Indizien für seine 7hese der Morgendämmerung eines „postindividualis- tischen Zeitalters“ (Walter 2005). Die gegenwärtigen 7endenzen der allgemeinen Ökonomisierung und Kolonialisierung der Arbeits- und Sozialbeziehungen – be- schrieben als „Àexibler Mensch“ (Richard Sennett), „Arbeitskraftunternehmer“ (Gerhard Voss/Hans Pongratz) oder „unternehmerisches Selbst“ (Ulrich Bröck- ling) – künden jedoch, so ließe sich im Gegenzug behaupten, umgekehrt gera- de vom Gegenteil, von der Rückkehr einer spezi¿sch ökonomisch totalisierten Neo-Moderne. Mit Edgar Morin (2006) ist weniger von einer Ablösung als von einer komplexen Beziehung zwischen Individualismus, gesellschaftlichen Kont- rollstrukturen der Selbstdisziplinierung und vergemeinschaftendem 7ribalismus in den Sozialbeziehungen der Gegenwart auszugehen, deren postmoderne Quali- tät noch kaum beurteilt werden kann.

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Das Projekt „Religionshybride“ untersucht die Möglichkeit der Produktion au- ßerkirchlicher und impliziter Religion an symbolischen Orten wie Kirchge- bäuden und Gutshäusern im hoch-säkularisierten ostdeutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Um näher bestimmen zu können, was der Begriff „Religionshybride“ konkret bedeutet – ein Begriff, der im doppelten Sinn von formaler und inhaltlicher Hybridbildung von Religion angewendet werden kann –, muss der Begriff der Religion selbst erläutert werden. Dabei geht es nicht da- rum, eine weitere Etage auf dem ohnehin schon zu hohen „7urm von Babel der Religionsde¿nitionen“ (Lambert 1991) zu bauen, sondern auf bestehende De¿- nitionen zurückzugreifen. Zu diesem Zweck soll insbesondere an Detlef Pollack und an Danièle Hervieu-Léger angeknüpft werden. Beide Autoren sind u. a. auf- grund ihrer Erforschung anderer konfessioneller Prägungen zwar sehr unter- schiedlicher Auffassung darüber, wie außerkirchliche Religiosität zu bewerten ist. Dennoch ist ihnen der Anspruch gemeinsam, eine funktionale De¿nition der Religion substantiell einzuschränken. Detlef Pollack entwickelt dafür eine Reli- gionsde¿nition Luhmannscher Prägung, die das Kernproblem funktionaler De¿- nitionen, nämlich die Behauptung der „Unentbehrlichkeit von Religion“ (Pollack 1993: 52), zu lösen versucht. Danièle Hervieu-Léger liefert auf der Grundlage einer „Soziologie des Bastelns“ (Bastide 1970) Analysen der 7ransformations- prozesse der Religion in der Gegenwart, unter besonderer Berücksichtigung der „nicht als religiös deklarierten sozialen Praktiken, die in einem verdünnten, par- tiellen Zustand religiöse Züge zeigen“ (Hervieu-Léger in Carlier 1996: 64). Da- raus leitet sie eine Religionsde¿nition her, die sich als ein Mittelweg zwischen einer engen substantiellen De¿nition und der weiten funktionalen De¿nition von 7homas Luckmann versteht.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 66 Arnaud Liszka

1. Von der unbestimmten Religiosität der Gegenwart Beim Übergang von einer modernen zu einer posttraditionalen1, möglicherweise auch postsäkularen Gesellschaft (Habermas 2001 und 2008) treten die Prozesse der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung, die die Grundlage der Sä- kularisierung als gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne gebildet haben, in Spannung zu gegenläu¿gen Prozessen der Wiederer- ¿ndung von 7raditionen und der Wiedervergemeinschaftung in Form affektiver Wahlgemeinschaften (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). „Jenseits der Moderne“ be¿ndet sich Religion, mehr noch in der Moderne, in einem 7ransformationspro- zess, der durch „Entgrenzung, Grenzvermischung und Grenzverwischung“2 zwi- schen den religiösen und anderen Systemen der Gesellschaft sowie durch Medi- atisierung, Eventisierung und Umformung als Bestandteil der „Populärkultur“ (Knoblauch 2009) gekennzeichnet ist. Ein konkretes Bild der Reichweite der grundlegenden 7ransformationspro- zesse von Religion im Übergang zu einer posttraditionalen Gesellschaft zeigt zum Beispiel der reformierte 7heologe Maurice Baumann mit einer empirischen Un- tersuchung über das Weihnachtsritual in der Schweiz (Baumann/Hauri 2008). Er zeichnet dabei den Grundriss einer postmodernen Religiosität, die viel mehr als die Vorgabe der institutionalisierten Religion, in diesem konkreten Fall der ka- tholischen und reformierten ehemaligen Volkskirchen und ihrer akademischen 7heologien, maßgebend für die konkrete Gestaltung dieses Rituals ist. Es handelt sich dabei um eine „unbestimmte Religiosität“ (Baumann/Hauri 2008: 51), eine entkirchlichte, „fast […] a-religiöse Religiosität“ (Baumann/Hau- ri 2008: 62), bei der das „spezi¿sch Religiöse aus der kollektiven Handlung her- vorkommt“ (Baumann/Hauri 2008: 53) – auch wenn sie, wie im Fall der „weih- nachtlichen Religiosität“, noch „mit christlich-traditionellen Symbolen, Figuren und Bräuchen gestaltet“ sein mag (Baumann/Hauri 2008: 55). Die postmoderne unbestimmte Religiosität „bildet eine nebelhafte und verschwommene Grösse, die sich überhaupt nicht konzeptuell, sondern eher affektiv und emotional entwickelt. Sie ist keine individuelle Angelegenheit. Sie geht aus der Gruppe hervor. Sie ist mit einer geteilten Intimität verbunden; wird mit Zugehörigkeitsgefühl buchsta- biert. Sie vertritt keine Botschaft und ist ein spontanes Produkt einer Gemein-

1 Im Folgenden wird nach Ronald Hitzler der Begriff „posttraditional“ verwendet, um den Prozess des Übergangs westlicher Gesellschaften von der klassischen ersten zu einer „anderen“ zweiten Moderne zu bezeichnen (Ulrich Beck), ohne sich auf die soziologische Debatte einzulassen, ob diese „andere“ Moderne noch eine „Spätmoderne“ (Anthony Giddens) oder bereits eine „Postmoderne“ (Zygmunt Bauman, Michel Maffesoli) ist. 2 So die Diagnose von Matthias Junge über die Entdifferenzierungsprozesse spezialisierter gesellschaftlicher Systeme in der „anderen“ Moderne (vgl. Hitzler et al. 2008: 189). Die Vermehrung der Religionshybride 67 schaft. Sie entsteht dort, wo eine gemeinsame rituelle Praxis Personen und Ge- nerationen verbindet“ (Baumann/Hauri 2008: 55). Maurice Baumann entwickelt seine 7heorie der unbestimmten Religiosität aus drei miteinander verwandten Quellen, die auch für die Erfassung von Religi- onshybriden grundlegend sind: aus der Alltagssoziologie von Michel Maffesoli, aus der sogenannten „Religiologie“ – der Tuebecischen Religionssoziologie nach Denis Jeffrey und Guy Ménard – und aus der Religionssoziologie des Bastelns von Danièle Hervieu-Léger und Françoise Champion. Baumann übernimmt von Maffesoli die Leitideen der Existenz einer lokal bezogenen „Urreligiosität“ (Bau- mann 2008: 60) als Grundelement des „archaischen Vitalismus“ posttraditionaler Gemeinschaften bzw. postmoderner Stämme3 und der 7rennung zwischen Religi- osität und institutionalisierter Religion. Diese 7rennung selbst stammt von Georg Simmel, der zwischen einer Dogmen und Institutionen umfassenden objektiven Religion und subjektiver Religiosität als „eine[r] Form, in der die menschliche Seele lebt und sich das Dasein erfaßt“ (Simmel, zitiert nach Krech 2002: 27), streng differenziert. Darüber hinaus teilt Baumann mit Maffesoli das Verständ- nis von Postmoderne als „Zerfall der großen Erzählungen“ (Lyotard 1986: 54), nach dem Ende der traditionellen religiösen Erzählungen auch als Ende der rati- onalistischen Erzählung der Moderne. Anders als bei Lyotard ist diese Entwick- lung bei Maffesoli nicht als Verschwinden dieser großen Erzählungen samt dem Verlust „der Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung“ (Lyotard 1986: 121) zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um ein Abbröckeln, einen Prozess der Auf- lösung dieser Erzählungen in einzelne Fragmente. Die „Religiologie“ basiert auf einem Verständnis der Moderne bzw. der für das Verhältnis zwischen Moderne und Religion spezi¿schen Form der Säkulari- sierung als „Verschiebungen der Erfahrung des Heiligen“ (Jeffrey 1998: 65-79) weg von der institutionalisierten Religion hin zu neuen Formen außerkirchlicher Religiosität. Im Mittelpunkt der Religiologie liegt die 7heorie des „wilden Hei- ligen“ von Roger Bastide, wonach das Heilige „stets auf der Suche nach neuen Formen ist, in denen es sich verkörpern kann“ und somit den „7od der etablierten Götter“ überlebt (Bastide 1975/deutsche Übersetzung von Astrid Reuter in Reu- ter 2000: 331). Danièle Hervieu-Léger und Françoise Champion verfolgen auch gewissermaßen die Anregung Bastides, die Religionssoziologie weg von der Kir- chensoziologie zu einer „Soziologie des Bastelns“ (Bastide 1970) von Sinnsys- temen weiterzuentwickeln. Der Begriff des Bastelns selbst stammt von Claude Lévi-Strauss und veranschaulicht als Hauptmerkmal des „wilden Denkens“ die

3 Im Anschluss an Maffesoli versteht Baumann die gegenwärtige Form der Familien – und nicht nur der Patchworkfamilien – als eine posttraditionale affektive Gemeinschaft. 68 Arnaud Liszka spontane menschliche Fähigkeit, auf der Grundlage der eigenen Lebenserfahrung und unter der Bedingung der Wiederverwendung der Elemente früherer Mythen an der Entstehung neuer mythischer Erzählungen mitzuwirken (Lévi-Strauss 1962). Bastide erläutert den Grundriss dieser Soziologie des Bastelns im Spannungsver- hältnis zwischen der 7heorie des kollektiven Gedächtnisses nach Maurice Halb- wachs4 und der 7heorie des Bastelns nach Claude Lévi-Strauss. Das Basteln dient dazu, durch die Er¿ndung neuer Erzählungen die „Lücken des kollektiven Ge- dächtnisses“ (Bastide 1970: 100) zu schließen. Von zentraler Bedeutung ist da- bei für Bastide die Unterscheidung zwischen zwei 7ypen des Imaginären: das auf die Aufbewahrung der Vergangenheit ausgerichtete „reproduzierende Imaginä- re“, das in der Gestalt des kollektiven Gedächtnisses zum Ausdruck kommt; und das auf die Aneignung einer selbstbestimmten Zukunft ausgerichtete „kreative Imaginäre“, das unter Wiederverwendung einzelner Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses in einer neuen Anordnung Utopien er¿ndet. Roger Bastide sieht die Grundsteinlegung dieser Soziologie des Bastelns, noch bevor Lévi-Strauss den Begriff des Bastelns überhaupt entwickelte, in einer Buchkritik von Marcel Mauss über „Der fetischistische Animismus der Schwar- zen von Bahia“ von Nina Rodrigues. Er selbst verdeutlicht den Grundriss dieser Soziologie am Beispiel afroamerikanischer Kulturen im Anschluss an sein Haupt- werk über „Die afrikanischen Religionen in Brasilien“ (1960). Die besondere Re- levanz afroamerikanischer Kulturen für die Erforschung der Prozesse des Bas- telns liegt für ihn darin begründet, dass sie gerade aus „einem Gefühl der Leere angesichts der Lücken des kollektiven Gedächtnisses“ (Bastide 1970: 100), die die Sklaverei als radikalste Form von Kolonisierung hinterlassen hat, und der exis- tentiellen Notwendigkeit, diese Lücken zu füllen, entstanden sind. Die postmoderne unbestimmte Religiosität, deren Grundriss Baumann zeich- net, ist in der Perspektive einer Soziologie des Bastelns mehr als eine Art Zwi- schenstufe im Übergangsprozess von der bestimmten institutionalisierten Religion in eine gleichgültige Areligiosität. So ist die Weihnachtsreligiosität ohne weitere Bindung zur christlichen Religion als die entkonfessionalisierte Wiederverwen- dung von „Symbolen, Figuren und Bräuche[n]“ (Baumann 2008: 55) keine Areli- giosität, die aus familiären und/oder ästhetischen Gründen aus Anlass des Weih- nachtsfests plötzlich inkonseTuent wird. Mit dem Konzept des Religionshybriden soll versucht werden, die Dichotomie zwischen Areligiosität und institutionali- sierter Religion zu verlassen, um jenseits der kirchlichen Formung der Religiosi-

4 Maurice Halbwachs bestimmt als kollektives Gedächtnis die spezi¿sche Überlieferung von gemeinsamen Erinnerungen, die die kollektive Identität einer bestimmten Gruppe sichert, da die individuelle Aneignung dieser spezi¿schen Erinnerungen die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bedingt (Halbwachs 1991). Die Vermehrung der Religionshybride 69 tät zur bestimmten Religion nach weiteren Formungen zu suchen, die den Prozess der Religionsproduktivität in einer – in Ostdeutschland deutlichen – postkonfes- sionellen Gegenwart zumindest ansatzweise aufrecht erhält, eben ohne diesen Prozess in eine bestimmte konfessionelle Richtung zu lenken.

2. Von der „religionshybriden“ Kultur der Gegenwart Die Nähe zwischen der Erfahrung der Kolonisierung und dem Basteln neuer Sinnsysteme liegt dem Begriff „Religionshybride“ zugrunde, der in direkter An- lehnung an postkoloniale Diskurse durch Anne Koch im Zusammenhang einer Analyse des Harry-Potter-Phänomens in der deutschen Religionswissenschaft eingeführt wurde (Koch 2006). Koch bezeichnet die Gegenwart als in religiöser Hinsicht nicht nur pluralistisch, sondern hybrid. Sie versteht dabei unter Hybri- dität die Erschaffung einer „dritten“ gemischten Kultur, die sich im Prozess der ungleichen Begegnung der dominanten Kultur der Kolonisierenden und der do- minierten Kultur der Kolonisierten herausgebildet hat. Diese „,dritte‘ gemischte Kultur“ markiert zugleich das Scheitern des Bemühens der Kolonisierenden, den Kolonisierten die dominante Kultur aufzwingen, indem diese „dritte Kultur“ un- ter Wiederverwendung von Elementen der dominierten Kultur eine nur scheinbare Anpassung an die dominante Kultur ermöglicht. In diesem Sinne ist die Gegen- wart für Koch nicht durch einen weltanschaulichen Pluralismus gekennzeichnet, der die Rivalität konkurrierender religiöser und rationalistischer Überzeugungs- systeme ausgleicht, sondern durch exakt diese „Schaffung einer neuen, ,dritten‘ Kultur“ (Koch 2006: 4), innerhalb welcher die unterschiedlichsten religiösen und rationalistischen Überzeugungssysteme „koexistieren und interagieren“ (ebd.) und somit zur Entstehung neuer, aus heterogenen Elementen gebastelter Welt- sichten beitragen. Die Harry-Potter-Saga gilt für Koch als erfolgreiches Beispiel der künstlerischen Erschaffung einer hybriden Überzeugungswelt „an den Naht- stellen mehrerer Weltbilder“ (ebd.). Ähnlich wie im Fall der postkolonialen hy- briden Kulturen markiert die Entstehung einer solchen religionshybriden Kultur das Scheitern der rationalistischen Weltsicht, sich als das unbestrittene dominan- te Überzeugungssystem der posttraditionalen, für Koch deshalb „nachaufkläre- rischen Gesellschaft“ (ebd.) durchzusetzen. Sie ermöglicht stattdessen die Ver- breitung selbsternannter spiritueller Weltsichten, die sich heterogener Elemente esoterischer und außereuropäischer religiöser 7raditionen bedienen und für eine Verschiebung der Grenzen zwischen Religion und anderen Bereichen der Gesell- schaft sorgen. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen religiöser und postkolonia- ler Hybridität ist, dass die erschaffene „dritte“ Kultur es ermöglicht, „Bewohner 70 Arnaud Liszka zweier Welten zu sein“ (ebd.) – und damit im Falle der religiösen Hybridität die Anforderungen der säkularen, rationalistisch strukturierten Alltagswelt soweit wie nötig zu erfüllen und gleichzeitig einer weiteren „Rationalität an[zu]hängen, die mit einem kritischen Rationalismus und seinen Axiomen nichts zu tun hat“ (ebd.). Die „religionshybride“ Kultur der Gegenwart scheint sich aber von einer hybriden postkolonialen Kultur dadurch grundlegend zu unterscheiden, dass sie nicht nur Elemente beider Kulturen wiederverwendet, die sie vereint, sondern zu- erst und in hohem Maße Elemente weiterer fremder Kulturen verwendet, insbe- sondere fernöstliche Kosmologien und von ihnen geprägte Leibesübungen und Heiltherapien (Yoga, 7aijiTuan, Qigong bzw. Reiki, Prana). Eine Erklärung die- ses Prozesses der Schaffung einer religionshybriden Kultur jenseits der Begren- zung der dafür verwendeten Elemente auf die Ressourcen europäischer Kultu- ren liefert Philippe Descola (Descola 2005). Er zeigt, dass dieser Prozess nicht nur eine Begegnung und Vermischung unterschiedlicher Weltsichten ist, sondern grundlegender ein „Clash der Ontologien“, ein Aufeinandertreffen unterschied- licher Modi der Weltdeutung, die als Matrix der jeweiligen religiösen oder ratio- nalistischen Weltsichten die kollektiven und individuellen Erfahrungen struktu- rieren, aus welchen diese Weltbilder entstehen. Die Herausbildung der Moderne bedeutet für Descola nämlich die Durch- setzung einer bestimmten Ontologie als einziger legitimer Modus der Weltdeu- tung in der westlichen Gesellschaft, nämlich der Ontologie des Naturalismus in der Form des modernen europäischen Rationalismus. Der Naturalismus hat die von der Antike bis zur Renaissance dominante Ontologie des Analogismus – die Deutung der Welt als eine hierarchisierende „Kette des Seins“ von der unbeleb- ten Natur bis zu den höchsten Geistwesen – zwar aus den öffentlichen Bereichen der Gesellschaft verdrängt, aber nicht besiegt. Um auf 7homas Luckmann anzu- spielen, die anderen Ontologien, neben dem Analogismus auch der Animismus und der 7otemismus, sind nur unsichtbar geworden in dem Sinne, dass sie ille- gitim, in der Öffentlichkeit unaussprechbar geworden sind. Dennoch stehen sie modernen Menschen weiterhin zur Verfügung, um die Welt zu deuten. Restbe- stände des Analogismus, wie u. a. der Glaube an die Astrologie, sind in der pri- vaten Lebenswelt erhalten geblieben. Descola zeigt weiter, dass der Sieg des Rationalismus ein Pyrrhus-Sieg war. Der Rationalismus war in seiner „Entzauberung der Welt“ so gründlich, dass er sich selbst entzaubert hat, an seiner eigenen Rationalität zu zweifeln begann und somit in eine schwere Sinnkrise geraten ist. Seit etwa 1968 ist es sichtbar, wie die anderen Ontologien wieder aus der Illegitimität, aus der Verbannung in das Pri- vate herauskommen. Die Wieder-Erstarkung des Analogismus ¿ndet insbeson- Die Vermehrung der Religionshybride 71 dere im Modus einer „Veröstlichung des Westens“ statt. Die wachsende Beliebt- heit fernöstlicher Weisheitslehren und so genannter alternativer Naturmedizin, die Verbreitung des New-Age und des Glaubens an Reinkarnation sind nur schein- bar eine wirkliche Alternative zu den traditionellen europäischen religiösen Ele- menten, die in die Moderne hinein vor allem durch das katholische und das or- thodoxe Christentum gerettet worden sind. Sie stellen vielmehr eine verwandte Alternative dar, eine Alternative innerhalb analogistisch geprägter Weltsichten. In einem geringen Maße sieht Descola auch in der Ökologie, vor allem in der 7iefenökologie – einer in den 1970er Jahren entstandenen und besonders in Skandinavien, Deutschland und den USA vertretenen Ausrichtung der Umwelt- bewegung, die die Erde als lebendigen Organismus ansieht, von einer Verbunden- heit und gegenseitigen Abhängigkeit aller menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen ausgeht und sich von der Ökosophie, einer auf die Überwindung des Dualismus zwischen Kultur und Natur zielenden Philosophie, in den verschie- densten Formen selbst-genannter Öko- bzw. „Gaia“-Spiritualität weiter entfal- ten kann – Anzeichen der Vermischung des Naturalismus mit der auf einer inne- ren, seelischen Verwandtschaft trotz äußerer, physikalischer Unterschiedlichkeit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen basierten Ontologie des Animismus.

3. Von der Vermehrung der Quasi-Objekte Eine zentrale 7hese von Descola ist, dass die sogenannte „große 7rennung“ zwi- schen Natur und Kultur eine Er¿ndung des modernen Rationalismus ist. Diese 7hese wurde von Bruno Latour aufgenommen und in den Mittelpunkt der Ak- teur-Netzwerk-7heorie gestellt. Daraus leitet Latour seine Kritik der Moderne als einer theoretischen Selbstbeschreibung einer ausdifferenzierten Gesellschaft ab, die auf einer radikalen Dichotomie beruht, die Dichotomie von Natur und Kul- tur, genauer die Dichotomie von nicht-menschlichen Objekten und menschlichen Subjekten. Im Gegensatz zur Gesellschaft ist der Mensch für Latour „nicht mo- dern geworden“5 (Latour 1991; 1997) und lebt weiterhin in einer Welt voller „Hy- bride“, voller „Mischwesen aus Göttlichem, Menschlichem und Natürlichem“ (Latour 1997: 62), die in die ausdifferenzierten Kategorien der Moderne nicht einzuordnen sind. Latour stellt somit eine Diskrepanz zwischen moderner Ge- sellschaft und nicht-modernen Menschen fest, die in der Frage der Existenz der „Quasi-Objekte“ ihren Ursprung ¿ndet. Unter „Quasi-Objekten“ versteht Latour

5 „Nicht modern“ bezeichnet für Latour einen selektiven Umgang mit den Vor- und Nachteilen der Moderne, der sich von „anti-modern“ als Ablehnung der gesamten Moderne strikt abgrenzt. 72 Arnaud Liszka nach dem Philosophen Michel Serres Objekte, die eine „7ranssubstantation des Seins in eine Beziehung“ (Serres 1980: 408) vom – möglicherweise wertlosen – Objekt zum Quasi-Subjekt vollziehen. So wie ein Ball während eines Ballspiels zum Mittelpunkt der Handlung der Spieler wird, die für die Dauer des Spiels zu einer Mannschaft werden, ermöglichen Quasi-Objekte durch ihre Bewegung und ihre Weiterreichung den Prozess des Überschreitens der Grenzen des Individu- ums und der Einordnung in ein Kollektiv. Bevor Latour die 7heorie der Quasi-Objekte von Serres in den Mittelpunkt der Akteur-Netzwerk-7heorie stellte, fand sie bereit die Aufmerksamkeit von Ni- klas Luhmann, der sie als Ausgangspunkt für die Herausbildung von Religion ansah.6 Luhmann versteht die Unterscheidung von Immanenz und 7ranszendenz als den modernen Code der Religion. Es handelt sich dabei um das Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses. In den „Frühfassungen von Religion“ (Luh- mann 2000a: 87) bestand der Code lediglich in der „Unterscheidung von Nähe und Ferne oder von Himmel und Erde“ (Luhmann 2000a: 81). Diese Un- terscheidung ist für Luhmann eine „Realitätsverdoppelung“, die „irgendwelche Dinge oder Ereignisse […] aus der gewöhnlichen Welt“ herausnimmt und „mit einer besonderen ,Aura‘“ (Luhmann 2000a: 58) ausstattet. Es handelt sich also um eine „Realitätsunterscheidung“ (Luhmann 2000a: 79), eine „Unterscheidung zwischen Realität und Imagination“, die sich der „Quasi-Objekte […] im Sinne von Michel Serres“ (Luhmann 2000a: 60) als Medium zwischen dem „eigentlich Realen [und der] imaginären, nicht unmittelbar zugänglichen Welt“ (Luhmann 2000a: 79) bedient. Die Fortdauer von materiellen bzw. nicht gänzlich entmaterialisierten Qua- si-Objekten in die moderne Gesellschaft hinein ist, wenn sie in einem religiö- sen Sinn gedeutet wird, aus der Sicht des Rationalismus ein Ausdruck von „Feti- schismus“ (Latour 2009). Aufgrund dieser vernichtenden Abwertung sind solche Quasi-Objekte wie beispielsweise ein von einem Kollektiv als „heilig“ angesehe- ner Ort – oder wie im Fall des „Camino“ nach Santiago de Compostella der Weg dahin – für die Religionsproduktivität gemäß den Anforderungen der legitimen

6 Während Latour eine Vermehrung der Hybride bzw. Quasi-Objekte in der Gegenwart feststellt, sind Quasi-Objekte für Luhmann vor allem für tribale, schriftlose Gesellschaften kennzeich- nend, die damit das Problem der Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses lösen. In diesen Gesellschaften sind die Quasi-Objekte Riten, Feste und Mythen – Inszenierungen, die die spezielle Funktion erfüllen, „die Operationen des Systems […] mit Gedächtnis zu versorgen“ (Luhmann 1997: 265). Daran anschließend war die besondere Art des kollektiven Gedächtnisses dieser Gesellschaften ein „topographisches Gedächtnis, [das] Orte, darunter Bauten“, insbe- sondere „heilige Plätze oder 7empel […] als Szenen für wiederholbares Handeln“ bereithielt (Luhmann 1997: 265f). Für Serres hingegen verweisen Quasi-Objekte nicht auf archaische Gesellschaften, sondern prägen insbesondere die römische Kultur (Serres 1983). Die Vermehrung der Religionshybride 73

Ontologie der Moderne nicht mehr relevant. Allerdings haben Sie dadurch ihre Eignung für die Religionsproduktivität nicht zwangsläu¿g verloren. Sie stehen nur noch für die Produktion von religiösen Formen zur Verfügung, die von den Anforderungen der Moderne an Religion abweichen. Die Vermehrung solcher ab- weichender Formen wird Descola zufolge durch die Sinnkrise des Rationalismus und die wachsende Anziehungskraft der weiteren Modi der Weltdeutung geför- dert. Diesen abweichenden Formen wird dennoch aufgrund ihrer Nicht-Überein- stimmung mit den Anforderungen der Moderne an Religion die Anerkennung als religiös weiterhin verwehrt.

4. Vom Bedarf eines nicht-dualistischen Verständnisses von Religion Im Rahmen des historischen Entwicklungsprozesses der Religion erfolgte Luh- mann zufolge eine Radikalisierung der Unterscheidung mit der Herausbildung einer abstrakten Vorstellung von der 7ranszendenz als „[dem] andere[n] der Im- manenz“ (Pollack 2003: 80), die eine Abwertung der abweichenden Formen ein- schloss. Mit dieser Radikalisierung ging eine Entmaterialisierung der religiösen Quasi-Objekte – also ihre 7ransformation von sichtbaren zu unsichtbaren Dingen7 – einher, bis hin zur „Er¿ndung des Quasi-Objektes ,Seele‘“ (Luhmann 2000a: 256). In diesem Prozess wurde die „alte Unterscheidung“ zwischen vertraut und unvertraut, nah und fern „weiterhin praktiziert, aber sie [wurde] überformt durch eine sehr viel radikalere Unterscheidung […], die Doppelbewertung als immanent und als transzendent“ (Luhmann 2000a: 62f). Luhmann sieht aber gleichzeitig ein, dass dieser Prozess der Radikalisierung der Unterscheidung und der Entmaterialiserung der religiösen Quasi-Objekte als Folge der Er¿ndung und Verbreitung des „subjektiven Individualismus“ in der modernen Gesellschaft vor „einer grundlegenden Revolutionierung des Codes der Religion“ steht, die

„auf semantischer Ebene als Umsturz (Nihilismus usw.) registriert wird. Nicht, dass die Code- werte Immanenz/7ranszendenz aufgegeben werden und damit die Erkennbarkeit von Religion verloren geht. Aber die Besetzungen dieser Werte, ihre Verbindungen zur Welt werden um- gedreht. Die 7ranszendenz liegt jetzt nicht mehr in der Ferne (zu der man sich letztlich auch gleichgültig verhalten kann), nicht mehr im ,Himmel droben‘. Sie ¿ndet sich jetzt in der Un- ergründlichkeit des jeweils eigenen Selbst, des Ich. Damit wird die christliche Dogmatik mit ihrer Vorstellung eines personalen Gottes Schwierigkeiten haben, und dies könnte die gegen- wärtige Attraktivität des Buddhismus erklären […] Ungeachtet aller Probleme des Kontinu-

7 Der Begriff Quasi-Objekt ist für Luhmann grundsätzlich nicht auf künstliche Objekte im Sin- ne von Artefakten zu beschränken, sondern lässt sich „selbstverständlich auf Quasi-Objekte anderer Art, vor allem auf Opfer und auf Riten, ausdehnen“ (Luhmann 2000b: 42). 74 Arnaud Liszka

ierens der verschiedenen religionsdogmatischen Positionen wird man registrieren müssen, dass in der modernen Welt die Ferne ein wenig überzeugender Ort für 7ranszendenz ist und dass statt dessen die Ungewißheit zunimmt, in der das einzelne Individuum zu erfahren sucht, was es selbst ist oder was, wie man sagt, seine ,Identität‘ ausmacht.“ (Luhmann 2000a: 111f)

Latour ist radikaler und stellt in der Gegenwart ein Ende der Gültigkeit der „Ga- rantien der Moderne“ fest, darunter die Garantie der Verbannung Gottes aus der Welt, die mit der Übernahme der augustinischen Auffassung der radikalen 7ran- szendenz Gottes erst durch Reformation und Aufklärung mithilfe der Er¿ndung der reinen Immanenz als Gegenüber dieser radikalen 7ranszendenz wirklich vollzogen wurde (Latour 1997: 50-57). Die radikale Unterscheidung zwischen Immanenz und 7ranszendenz gehört für Latour nicht nur zu einer bestimmten Auffassung von Religion, die in der westlichen Moderne zum allgemeingültigen Religionsverständnis avancierte. Sie ist darüber hinaus die Er¿ndung, die stets dazu dient, richtige Religion von Aberglauben zu unterscheiden, und andere For- men der Religion als die dominante mit dem Vorwurf des Fetischismus zu dele- gitimieren (Latour 1997; 2009). Nun hat diese moderne Er¿ndung Latour zufolge ihre Überzeugungskraft auf Menschen verloren, weil sie „nicht modern gewor- den“ sind und auf materielle Quasi-Objekte nicht verzichten können, die ihnen eine Verwurzelung in der Welt ermöglichen. Hubert Knoblauch gelangt zu der gleichen Schlussfolgerung, wenn er auf- fordert, die binäre Unterscheidung von Immanenz und 7ranszendenz aufzugeben, da sie „der Vielfalt der Religionen und der Bandbreite des Religiösen“ (Knob- lauch 2009: 54) nicht gerecht wird. Statt auf einer binären Codierung zu behar- ren, schlägt Knoblauch deshalb vor, die substantielle Bestimmung der Religion aus einer „nicht-binären Vorstellung der 7ranszendenz“ (Knoblauch 2009: 55), nämlich aus dem Prozess eines 7ranszendierens der Alltagswelt herzuleiten. Die- ser Schritt führt dazu, in der Nachfolge der 7heorie der „unsichtbaren Religion“ von 7homas Luckmann Abstand von der 7heorie der Säkularisierung zu neh- men und stattdessen die Spuren der 7ransformation der Religion zu verfolgen. In einer solchen Perspektive scheint eine Religionstheorie wie die von Ni- klas Luhmann überholt, die von einer Säkularisierung der Gesellschaft ausgeht,8 auch wenn unter Säkularisierung ausdrücklich die verschwindende Bedeutung

8 Im Rahmen des Prozesses der Differenzierung der Gesellschaft bilden sich für Luhmann Subsysteme, die eine bestimmte Funktion erfüllen, indem sie ein bestimmtes Problem lösen: ihr Bezugsproblem. Zu diesem Zweck verfügt ein Subsystem über einen bestimmten Code, der eine Unterscheidung zwischen Lösung und Nicht-Lösung ermöglicht, wie im Fall des Subsystems Wissenschaft die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr. Der Code der Religion ist die Unterscheidung von Immanenz und 7ranszendenz. Er besitzt eine universelle Gültigkeit und unterscheidet das religiöse System von anderen Subsystemen, die über andere Codes verfügen. Die Vermehrung der Religionshybride 75 des Subsystems Religion als „notwendige[r] Vermittlungsinstanz, […] die die Beziehung aller gesellschaftlichen Aktivitäten zu einem Gesamtsinn herstellt“, verstanden wird. Auf einer individuellen Ebene gibt es für Luhmann in der mo- dernen Gesellschaft trotz der Säkularisierung weiterhin „durchaus Religion […] und vielleicht sogar mit einer Intensität und mit Ansprüchen, die sich in älteren Gesellschaftsformationen nicht oder nur gekoppelt an Askese, an „Austritt“ aus der Gesellschaft ¿nden“ (Luhmann 2000a: 125). Da er das Problem der Kontin- genz als Bezugsproblem der Religion versteht – nämlich als die Frage, „weshalb nicht alles so ist, wie man es gerne haben möchte“ (Luhmann 2000a: 122) – bleibt das religiöse Bezugsproblem für ihn „unausweichlich“ (Pollack 2009: 295). Der Prozess der Säkularisierung bedeutet dann, dass sich im Laufe der Modernisie- rung der Gesellschaft Religion zu einem schlechtangepassten Funktionssystem entwickelt hat, das die Möglichkeit funktionaler ÄTuivalenzen zulassen musste.

5. Von der Anerkennung des Nicht-Religiösen Ein für das Verständnis des „Religionshybriden“ zentrales Element ist das Religi- onsmodell von Detlef Pollack. Pollack bestimmt im Anschluss an Luhmann das Problem der Kontingenz als Bezugsproblem der Religion, lehnt jedoch die An- nahme der „Unvermeidbarkeit“ (Pollack 2009: 297) dieses Problems strikt ab. Er führt eine doppelte Einschränkung des religiösen Bezugsproblems ein: Religion bietet erstens „nur eine Problemlösung unter anderen“ (Pollack 2003: 48) für ein Bezugsproblem, das zweitens nicht universell ist und auch nicht zwingend gelöst werden muss. Kontingenz ist für Pollack ein Begriff, der „historisch und sozi- al variabel“ (Pollack 2009: 296) ist. Ein Bedarf an Bewältigung der Kontingenz hängt von den besonderen Rahmenbedingungen einer bestimmten Gesellschaft ab. Gerade moderne Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass einerseits ein Zusammenhang von „hohem Kontingenzbewusstsein“ und „niedrigem Kon- tingenzerleben“ besteht, dass aber andererseits „immer weniger [Menschen] da- von überzeugt sind, dass Kontingenz sich bewältigen lässt“ (Pollack 2009: 303). Pollack veranschaulicht sein Religionsmodell, indem er vier Idealtypen von Religion bzw. Nichtreligion in einer Kreuztabelle anhand der Dichotomien 7ran- szendenz/Immanenz und Konsistenz/Kontingenz, die jeweils den Code und die Funktion der Religion darstellen, einzeichnet (Pollack 2003: 52). 76 Arnaud Liszka

Tabelle 1: Religionsmodell nach Detlef Pollack

Konsistenz Kontingenz 7ranszendenz Religiöse Routine Vitale Religiosität Immanenz Pragmatismus Religiöse Suche

Religion im eigentlichen Sinne erscheint in diesem Modell nur in der Form der vi- talen Religiosität, die die „Erfahrung der Fraglichkeit des Lebens [mit] dem Ver- trauen in die Gültigkeit religiöser Inhalte und Formen“ (Pollack 2003: 51f) ver- bindet, wobei religiös weitestgehend mit kirchlich assoziiert wird. Unter religiöser Routine versteht Pollack eine „orthodoxierte, ritualisierte routinierte“ Form von Religion, die sich als „Areligiosität in der Kirche“ (Pollack 2003: 51) bezeichnen lässt, unter religiöser Suche die verschiedensten Formen außerkirchlicher Reli- giosität. Während Pragmatismus eine eindeutige Abkehr von Religion bezeich- net, sind religiöse Routine und religiöse Suche zwei unterschiedliche Formen, die „zwar zur Religion hinführen [können], […] aber noch nicht Religion“ (ebd.) sind. Diese Abgrenzung vitaler Religion von ritualisierter und außerkirchlicher Religion erfolgt bei Pollack in Auseinandersetzung mit der von Grace Davie und Danièle Hervieu-Léger vertretenen 7hese der Entkirchlichung, wonach vitale Re- ligion in der modernen Gesellschaft dazu neigt, sich von der kirchlichen Religion zu entfernen und sich als außerkirchliche Religion zu verfestigen (Pollack 2009: 44-59; Davie/Hervieu-Léger 1996). Mit der Unterscheidung zwischen religiöser Routine und vitaler Religiosität folgte Pollack einerseits ihrer Annahme, dass die insbesondere für die skandinavischen Gesellschaften typische Form des „belon- ging without believing“ (Riss 1996: 119), der formalen Kirchenmitgliedschaft ohne Identi¿kation mit Glaubensinhalten, insofern keine Religion mehr darstellt, als damit „die Unterscheidung zwischen prinzipieller Mitgliedschaft und aktiver Religiosität“ (Davie 1996: 179) vollzogen wurde. Anderseits stellt auch die für die britische Gesellschaft typische Form des „believing without belonging“ (Da- vie 1994), der aktiven außerkirchlichen Religiösitat – zusätzlich oder alternativ zu einer passiven Mitgliedschaft in der anglikanischen oder der schottischen Kir- che – für Pollack keine Religion mehr dar. Anders als Davie und Hervieu-Léger sieht er zusammen mit Gerd Pickel in dieser – für sie ohnehin Tuantitativ nicht sehr relevanten – Entwicklung keine Neubildung von an die Rahmenbedingun- gen moderner Gesellschaft angepasster Religion, sondern lediglich einen Zwi- schenstand im Prozess des Übergangs von Religion hin zur Nichtreligion bzw. des Verschwindens von Religion (Pollack/Pickel 2003; Pickel 2010). Die Vermehrung der Religionshybride 77

6. Vom freien Basteln oder von der Erschaffung symbolischer Sinnwelten Im Unterschied zu Pollack fordert Hubert Knoblauch angesichts des gegenwärti- gen 7ransformationsprozesses der Religion die Unterscheidung zwischen Imma- nenz und 7ranszendenz zugunsten eines nicht-dualistischen Verständnisses von Religion als 7ranszendieren der Alltagswelt aufzugeben. Ein möglicher Lösungs- ansatz, um unter Berücksichtigung des Einwurfs Knoblauchs an einer solchen 7y- pologie weiterzuarbeiten, ergibt sich aus der Weiterentwicklung des Weberschen Begriffs von der „Hinterwelt“. Max Weber bestimmt die Entstehung von Religi- on als den Vollzug einer „scheinbar einfachen Abstraktion“: die Vorstellung von „außeralltäglichen Kräften“, die „ein nicht im Alltagssinn greifbares, sondern ein regelmäßig nur durch Vermittlung von Symbolen und Bedeutungen zugäng- liches hinterweltliches Dasein“ führen und in der Alltagswelt direkt wirken, in- dem sie sich „hinter dem Verhalten [besonderer, von ihnen als charismatisch Tua- li¿zierter] Naturobjekte, Artefakte, 7iere, Menschen“ verbergen und dadurch ihr Verhalten „irgendwie“ bestimmen (Weber 1980: 246-247). Dieser Vollzug einer Unterscheidung zwischen Alltags- und Hinterwelt ist auch für Luhmann die „religiöse Form“ (Luhmann 2000a: 87) der Einteilung der Welt. Dem Religionsverständnis Webers in diesem Punkt folgend stimmt Luh- mann mit Hartmann 7yrell überein, dass „soziales Handeln […] dann religiös heißen [darf], wenn an den Orientierungen des oder der Handelnden eine Sinn- schicht mitgegeben ist, die auf Extraempirisches, auf eine bedeutungsvolle Hin- terwelt verweist, und wenn das Handeln dem in seinem Ablauf auf irgendeine Art, zunächst symbolisch, Rechnung trägt.“ (7yrell, zitiert in Luhmann 2000a: 87) Die Unterscheidung zwischen Alltags- und Hinterwelt erhält für Weber den Charakter einer konseTuenten binären Unterscheidung jenseits der Möglichkeit, in der Alltagswelt über die Wirkung der außeralltäglichen Kräfte zu bestimmen, erst mit der radikalen Ausdifferenzierung zwischen Magie und Religion „im Ju- dentum, Islam und Protestantismus“ durch die Vorstellung eines „überweltlichen Gottes“ (Weber 1980: 257). Weber stellt jedoch dabei fest, dass auch monotheis- tische Religionen diese Unterscheidung9 nie radikal durchführen können, da sie ganz ohne magische Elemente – wie das Gebet – nicht auskommen.10 Der Rekurs

9 Pierre Bourdieu zufolge spiegelt diese Unterscheidung zwischen Religion und Magie vor allem ein Machtverhältnis innerhalb des religiösen Felds wider: Dadurch wird die Macht der Priesterklasse kaschiert, zu bestimmen, welche religiösen Praktiken legitim sind (Bourdieu 2011: 51-53). Dies führt zu einer Gleichsetzung von Religion mit dominanter Religion und zur Diffamierung der sogenannten Volksfrömmigkeit (Hervieu-Léger 1987: 127-137). 10 „Man kann diejenigen Formen der Beziehungen zu den übersinnlichen Gewalten, die sich als Bitte, Opfer, Verehrung äußern, als ,Religion‘ und ,Kultus‘, von der ,Zauberei‘ als dem magischen Zwange scheiden und dementsprechend als ,Götter‘ diejenigen Wesen bezeichnen, 78 Arnaud Liszka auf den Begriff der Hinterwelt birgt also die Chance in sich, jenseits einer binä- ren Unterscheidung gegenüber der Alltagswelt in einer dynamischen Perspektive auf den Prozess des 7ranszendierens der Alltagswelt durch die Erschaffung ei- ner symbolischen Hinterwelt, die mit der Verfestigung zur Religion Gegenstand eines Sonderwissens über Unsichtbares wird, hinzuweisen. Dieser Ansatz wird von Hervieu-Léger verfolgt und weiter konkretisiert. Die substantielle Bestim- mung der Religion ist für sie die Erschaffung einer Glaubenslinie durch die auf eine vorgestellte Zukunft gerichtete selektive Vergegenwärtigung kollektiver Er- innerung, oder anders gesagt: durch die Aktualisierung oder Er¿ndung des Son- derwissens über eine auf die Gestaltung der Alltagswelt wirkende Hinterwelt. Die Erschaffung einer religiösen Hinterwelt ist in dieser Perspektive nur eine Möglichkeit des 7ranszendierens der Alltagswelt unter anderen. Eine Hinterwelt ist hier nach Peter L. Berger und 7homas Luckmann eine symbolische Sinnwelt, die jenseits der Alltagserfahrungen die Alltagswelt mit Sinn ausstattet und sie als unhinterfragbar gültige Weltordnung legitimiert (Berger/Luckmann 2001; Luck- mann 1991). Dafür stehen sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Sinnwelten zur Verfügung. Hervieu-Léger macht am Beispiel der Religionisierung der Ausstei- gerbewegung aus der industriellen Gesellschaft in den 1970er Jahren, (Hervieu/ Léger 1983) darauf aufmerksam, dass eine Hinterwelt nicht von vornherein als religiöse Sinnwelt zur Verfügung stehen muss. Diese kann sich auch allmählich aus einer nicht-religiösen Sinnwelt herausbilden, ähnlich dem Prozess, der, auf primitive Gesellschaft bezogen, von Weber als die „Entstehung ,übersinnlicher‘ Mächte“ skizziert wurde (Weber 1980: 247). Ein Prozess der individuellen oder gruppenbezogenen Erschaffung von Sinnwelten ¿ndet Hervieu-Léger zufolge in der hochmodernen Gesellschaft deshalb statt, da der 1968 radikal vollzogene Bruch der Moderne mit der 7radition dazu führte, dass gerade religiöse Sinnwel- ten nicht mehr kulturell, vor allem nicht mehr familiär tradiert werden, sondern stets neu angeeignet werden müssen. Da Sinnwelten nicht mehr als historisch ge- formte und kulturell tradierte Sinnsysteme ererbt sind, können sie aus Elementen verschiedener Sinnsysteme gebastelt werden. Françoise Champion zufolge sind diese traditionellen religiösen Sinnsysteme unter dem Druck der Modernisierung implodiert und haben „Scherben von Religion“ hinterlassen (Champion 2003:

welche religiös verehrt und gebeten, als ,Dämonen‘ diejenigen, welche magisch gezwungen und gebannt werden. Die Scheidung ist fast nirgends restlos durchführbar, denn auch das Ritual des in diesem Sinn ,religiösen‘ Kultus enthält fast überall massenhafte magische Bestandtei- le. Und die historische Entwicklung jener Scheidung ist sehr oft einfach so erfolgt, dass bei Unterdrückung eines Kultes durch eine weltliche oder priesterliche Gewalt zugunsten einer neuen Religion die alten Götter als ,Dämonen‘ fortexistieren.“ (Weber 1980: 259). Die Vermehrung der Religionshybride 79

178).11 Diese religiösen Grundelemente, wie der Glaube an die Existenz außerall- täglicher Kräfte oder an eine unsichtbare Welt „hinter der sichtbaren“ (Champi- on 2003: 179), stehen frei zur Verfügung für das Basteln neuer Sinnsysteme, die wie das „New Age“ bereits deutlich jenseits oder wie die katholische charisma- tische Erneuerung nur noch scheinbar innerhalb eines traditionellen religiösen Sinnsystems stehen. Monika Wohlrab-Sahr zeigt, wie im Falle Ost-Deutschlands „das ,erfolgreiche‘ Experiment [der] forcierten Säkularisierung“ der DDR (Wohl- rab-Sahr et al. 2009: 14) nicht nur zur Distanz der Mehrheit der Bevölkerung von Kirchen und institutionalisierter Religion geführt hat, sondern gleichzeitig auch zur Entstehung – wenngleich oft „inkonsistenter“ (Wohlrab-Sahr et al. 2009: 350) – Formen moderner Religiosität, bis hin zur Entstehung „nicht völlig inhaltsleerer“ Formen „agnostischer Spiritualität“ (Wohlrab-Sahr et al. 2009: 212), geführt hat. Hervieu-Léger, Champion und Wohlrab-Sahr stellen nicht nur die Existenz synkretistischer, aus Elementen verschiedener religiöser Sinnsysteme gebilde- ter, Hinterwelten fest, sondern eröffnen die Frage nach der Existenz teil-religiö- ser Hinterwelten. Das können Sinnwelten sein, die aus Elementen religiöser und nicht-religiöser Sinnsysteme gebildet werden oder auch solche Sinnwelten, in de- nen der Prozess der Bildung einer religiösen aus einer nicht-religiösen bzw. der AuÀösung einer religiösen in eine nicht-religiöse Sinnwelt nicht abgeschlossen ist, sondern sich in einem Zwischenstand verdichtet hat. Dieser Perspektivenwechsel führt im Hinblick auf eine schematische Dar- stellung als Religionsmodell dazu, die Dichotomie Immanenz/7ranszendenz durch eine Achse zu ersetzen, auf welche die Möglichkeiten des 7ranszendierens der Alltagswelt durch die Erschaffung einer Sinnwelt in der Spannung zwischen den Polen expliziter Religion und expliziter Nicht-Religion graduell eingetragen werden können. Es entsteht dabei als weitere Verdichtung auf dieser Achse eine Ebene zwischen Religion und Nicht-Religion, in der „Religionsaf¿nität“ als ei- genständige Kategorie erfasst werden kann. Mithilfe dieser Ebene kann die Ka- tegorie Pollacks der religiösen Suche zwischen religiöser Suche als außerkirchli- che Religiosität und offener Suche als Suche nach einer explizit nicht-religiösen Lösung des Kontingenzproblems differenziert werden.

11 Das Bildnis der „Scherben von Religion“ (éclats de religion) schließt an das Bildnis des „ge- platzten Christentums“ (Christianisme éclaté) von Michel de Certeau an (Certeau/Domenach 1974). Für Certeau ist das Christentum in der modernen Gesellschaft bzw. der Katholizismus in Frankreich unter dem Druck der Modernisierung in dem Sinne geplatzt, dass eine 7rennung zwischen Glauben und Kultur stattgefunden hat, die einerseits zu einer „Exkulturation“ des Katholizismus aus der Gesellschaft (Hervieu-Léger 2003), andererseits zu einer Verstreuung der Bestandteile der katholischen Kultur in die säkulare Kultur hinein, die sie jenseits einer gläubigen Beziehung zum Christentum als Folklore-Elemente einverleibt, führt. 80 Arnaud Liszka

Tabelle 2: Erweitertes Religionsmodell 1 7ranszendieren der Alltagswelt mithilfe der: Konsistenz Kontingenz Erschaffung einer religiösen Sinnwelt (Hinterwelt) Religiöse Routine Vitale Religiosität Erschaffung einer teil-religiösen Sinnwelt Religionsaf¿nität Religiöse Suche Erschaffung einer nicht-religiösen Sinnwelt Pragmatismus Offene Suche

7. Von der Sakralisierung und der Desakralisierung Eine Besonderheit der Religion gegenüber anderen Systemen der Gesellschaft liegt Luhmann zufolge darin, dass sie nicht nur eine Bewältigung ihres Bezugs- problems leisten, sondern gleichzeitig ihr Bezugsproblem selbst schaffen soll. Die religiöse Lösung des Kontingenzproblems liegt nicht ausschließlich in der Her- stellung von konsistenten Sinnformen. Sie muss gleichzeitig den Bezug zwischen den Sinnfragen der Menschen und den religiösen Antworten erstellen. Anders gesagt: Eine religiöse Antwort muss zuerst das Verständnis dafür erzeugen, dass die Fragen, die Menschen bewegen, religiöse Sinnfragen sind. Religion muss folg- lich nicht nur die Bewältigung von Kontingenz bzw. die Produktion von Konsis- tenz leisten, sondern immer auch die Produktion von Kontingenz als Infragestel- lung der Konsistenz leisten. Das Spezi¿sche einer religiösen Antwort liegt also darin, dass die Antwort eine spezi¿sche religiöse Form annimmt, nämlich dass sie eine Unterscheidung zwischen dem „was ist“ und dem „was sein sollte“ bzw. „was sein wird“ einführt. Diese Unterscheidung entspricht nach Danièle Hervieu-Léger dem „utopi- schen Denken“12 als religionsspezi¿scher Form des Denkens – zumindest für die von der griechischen Philosophie mitgeprägte okzidentale Religion. Auch Luh- mann verweist auf die zunehmende Bedeutung des utopischen Denkens für die Religion infolge der Verlagerung ihres „Schwerpunktes“ von der Sakralisierung hin zur De-Sakralisierung (Luhmann 2000a: 127). Als Folge des Bruchs zwischen Religion und 7radition im Sinne der Sakralisierung einer für unabänderlich er- klärten Vergangenheit (Luhmann 2000a: 128) wirkt das „Referieren auf 7ran- szendenz“ (Luhmann 2000a: 109) nicht mehr nur ausschließlich „beruhigend“, sondern potentiell auch „beunruhigend“ (ebd.). Es zeigt sich in der Ambivalenz

12 Utopie im Sinne Max Horkheimers ist „die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll“ (Horkheimer 1930: 86). Utopisches Denken ist eine Art des Denkens, die von dem „7raum von der ,wahren‘ und gerechten Lebensordnung“ geleitet wird (Horkheimer 1930: 6). Die Vermehrung der Religionshybride 81 von Sakralisierung und De-Sakralisierung, mit dem Ergebnis, dass die moder- ne Funktion der Religion darin besteht – in den Worten Pollacks –, „alles Imma- nente in ein anderes Licht zu setzen und ihm einen anderen Sinn zu geben“ (Pol- lack 2003: 65). Diese Ambivalenz der Religion lässt sich nach Volkhard Krech als doppeltes Potential erfassen – als ideologisches und als „utopisches Potenti- al“ (Krech 2011: 162), das außerhalb des Subsystems Religion jeweils auch ein- zeln nutzbar ist.13 Der Rekurs auf eine religiös bestimmte 7ranszendenz kann so einerseits als Sakralisierung erfolgen, um Kontingenz „mit einer Aura des Un- hinterfragbaren und Unverfügbaren auszustatten“; anderseits als De-Sakralisie- rung, um „Verfestigungen aufzubrechen“ (Krech 2011: 162). Diese konstitutive Ambivalenz von Religion führt nach Krech dazu, Religion gleichzeitig „als Kul- tur und als Anti-Kultur“ (Krech 2011: 162) anzuerkennen. Religion weist damit eine „große Nähe“ zur Kunst auf, wenngleich Kunst „in einem stärkeren Maße 7raditionsbrüche und Innovationen“ (Krech 2011: 223) erzeugt. Bezogen auf die schematische Darstellung eines Religionsmodells führt die Aktualisierung der Funktion unter Berücksichtigung der Gleichzeitigkeit der Be- wältigung von Kontingenz (Sakralisierung) und der Infragestellung von Konsis- tenz (De-Sakralisierung) dazu, die Dichotomie Konsistenz/Kontingenz durch ein Spannungsverhältnis zwischen Sakralisierung und De-Sakralisierung zu ersetzen. In diesem Modell wird durch die Spannung zwischen Sakralisierung und De-Sa- kralisierung ein Raum eröffnet, in dem auf der Ebene der expliziten Religion vi- tale Religiosität einzutragen ist. Auf der Ebene der expliziten Nicht-Religion sind in diesem Raum Formen von funktionaler ÄTuivalenz zu Religion einzutragen, die als sogenannte „säkulare Religionen“ in Erscheinung treten, da sie zwar eine religiöse Form annehmen, jedoch jeglichen Bezug zu einer religiös bestimmten 7ranszendenz strikt ablehnen. Dieser Zwischenraum kennzeichnet also eine Art des 7ranszendierens der Alltagswelt, die unabhängig von ihrer inhaltlichen Be- stimmung eine religiöse Form annimmt. In diesem Raum werden zugleich Kon- tingenz und Konsistenz produziert, wobei sich die produzierten Sinnformen auf existentiell relevante Sinnfragen beziehen. Dieser Raum steht zwischen zwei wei- teren Räumen, in denen jeweils nur ein Übermaß an Sinnformen bzw. an Sinn- fragen produziert wird. Auf der Ebene der expliziten Nicht-Religion können in diesen Räumen die Formen von Pragmatismus bzw. offener Suche eingetragen werden; auf der Ebene der expliziten Religion die Formen von religiöser Routine bzw. „religiösem ,Wildwuchs‘“ (Pollack 2003: 52), wie neue religiöse Bewegun-

13 Eine einseitige Nutzung des ideologischen Potenzials der Religion liegt für Krech bei Sakra- lisierungsprozessen vor, „in denen sich primär anders als religiös bestimmte Bereiche mit religiösen Elementen auÀaden“ (Krech 2011: 162). 82 Arnaud Liszka gen und Gruppierungen. Auf der Zwischenebene der Religionsaf¿nität ermög- licht diese Spannung eine Ausdifferenzierung zwischen routinierten Formen, vi- talen Formen und Formen der religiösen Suche.

Tabelle 3: Erweitertes Religionsmodell 2 Sakralisierung Sakralisierung und De-Sakralisierung De-Sakralisierung Erschaffung einer Religiöse Routine Vitale Religiosität Religiöser Wildwuchs religiösen Sinnwelt Erschaffung einer Routinierte Vitale Religiöse Suche teil-religiösen Sinnwelt Religionsaf¿nität Religionsaf¿nität Erschaffung einer Pragmatismus ReligionsäTuivalenz Offene Suche nicht-religiösen Sinnwelt

8. Von der Religion als Erinnerungskommunikation Das Konzept „Religionshybride“ weist auf die Erschaffung von Sinnwelten als Ergebnis eines Prozesses des Bastelns hin, in dem einzelne religiöse Grundele- mente in größeren Sinnsystemen neu zusammengefügt werden. Er verweist ins- besondere auf diejenigen Sinnsysteme, die trotz der Wiederverwendung religiöser Elemente nicht als explizit religiöse Sinnsysteme wahrgenommen und dement- sprechend weder von den Kirchen als Konkurrenz noch von den Gruppen, die sie teilen, als Alternative zur institutionalisierten Religion anerkannt werden, also gerade auch auf solche Sinnwelten, die nicht als Formen „populärer Spirituali- tät“ (Knoblauch 2010) angesehen werden können. Maurice Baumann hat die „unbestimmte Religiosität“ der Gegenwart im An- schluss an Michel Maffesoli als eine lokal bezogene Urreligiosität beschrieben. Diese zunächst rein formale Religiosität, die objektive Religion weder voraus- setzt noch prinzipiell ausschließt, kann sich durch die kollektive Zuschreibung eines „Genius loci“ (Geistes des Ortes) durch posttraditionale Gemeinschaften an die affektiv besetzten Orte ihrer rituellen Vergemeinschaftung zu einer „Religi- on des Bodens“ (Maffesoli 1998: 227-245; 2002: 226-239) verdichten – Maffesoli zufolge ähnlich dem von Peter Brown beschriebenen Prozess der Herausbildung des Christentums in der Spätantike aus der Vielzahl der Kultstätten lokaler Hei- liger (Brown 1981; 1982), denn „bevor sie zu einer 7heologie oder sogar zu einer bestimmten Moral wird, ist Religion vor allem ein Ort“ (Maffesoli 1998: 231). Die Vermehrung der Religionshybride 83

Die Beschreibung der postmodernen Religiosität beschränkt sich also nicht auf die Feststellung der Verbreitung einer „diffusen und schwebenden Religiosität“ (Champion 1993), sondern verweist vor allem auf einen grundlegenden Wandel der Funktion der Religion in der Gegenwart zurück zu der Funktion, die sie in der Spätantike für die entstehenden christlichen Gemeinschaften gehabt haben mag. Demzufolge steht die Sinnfrage nicht mehr allein im Zentrum der Funkti- on der Religion, denn die Sinnfrage ist unter den Bedingungen posttraditionaler Gesellschaft nicht mehr an eine verbindliche Weltauslegung gekoppelt, sondern wird an die Identitätsfrage rückgebunden. So liegt für Werner Gephardt die re- levante Funktion der Religion in der Gegenwart in der Identitätsstiftung durch Gedächtnissicherung (Gephardt 2011). Indem sie durch die selektierende Bewah- rung von Erinnerungen an die Vergangenheit „Gedächtnisketten“ (Hervieu-Lé- ger 1993/2000) bereitstellt, um die Gegenwart zu transzendieren, leistet Religion die „Zurechnung [des Individuums] an eine imaginäre vergangene und zukünf- tige Gemeinschaft“ (Gephardt 2011: 47). Auch für Latour hat sich Religion in der Moderne von der Wissenschaft getrennt und steht nur noch selten für die Erklä- rung der Komplexität der Welt, die Erklärung des „Fernen“ vom Atom bis zum Kosmos zur Verfügung. Religion ist im Gegenteil für das zuständig geworden, was die Wissenschaft nicht erfassen kann: die Überwindung der Unerreichbar- keit des „Nahen“, die Anerkennung von Mitmenschen als Nächste statt als Fremde über den Augenblick hinaus (Latour 2004). Die gegenwärtige Funktion der Reli- gion besteht folglich primär in der „Erzeugung von Personen, die einander nahe- gekommen sind, weil eine Form der 7emporalität sie erfasst hat, die […] von der Gegenwart ausgehend Vergangenheit und Zukunft umfasst“ (Latour 2011: 218). Mit einem ähnlichen Verständnis ihrer Funktion14 bestimmt Klaus Eder, dass Religion „es erlaubt, […] in einer mit anderen geteilten Erinnerung zu le- ben (Eder 2002:332), indem sie einen symbolischen Raum für „kollektive Sinn- suche“ zur Verfügung stellt: einen „heiligen“ Raum, „in dem sich eine Gemein- schaft erkennt und anerkennt“ (ebd.). Die existentielle Relevanz dieser Leistung liegt darin begründet, dass die Moderne „ihre problematischste Grundlage“ in der De¿nition einer “mit einer modernen Gesellschaft kompatiblen kollektiven Identität“ hat (Eder 2000: 81):

„Wenn die Suche nach individueller Identität nicht als Substitut für kollektive Identität reicht, dann führt die Reise in die individualisierte Identität wieder zurück zur Frage nach der kol- lektiven Identität der so hochgradig individualisierten Gesellschaft. Die Geister der Vergan- genheit kehren in dem Maße zurück, wie Identitätspolitik das Hier und Jetzt individualisierter

14 „Die Leistung von Religion ist, mit Hilfe eines Bezugs auf Nichtsagbares eine Verbindung der Gegenwart mit einer Vergangenheit und einer möglichen Zukunft herzustellen.“ (Eder 2002: 332). 84 Arnaud Liszka

Existenz zum 7hema macht. In dem Maße wie sie individuelle Identität sucht und gefunden zu haben glaubt, eröffnet sie ein Feld identitärer Erinnerungsarbeit.“ (Eder 2000: 81)

Eder erklärt damit eine Zunahme religiöser Kommunikation, die gerade außer- halb des Systems Religion statt¿ndet und durch einen entsprechenden Bedarf seitens posttraditionaler Vergemeinschaftungsformen oder sozialer Bewegungen vorangetrieben wird. Diese Entwicklung ist eine direkte Folge der Säkularisie- rung, die Erinnerungskommunikation als Kommunikation über kollektiv geteil- te Erinnerungen in einerseits institutionalisierte politische Kommunikation und andererseits nicht-institutionalisierte lebensweltliche Kommunikation getrennt hat. Dabei wurde Erinnerungskommunikation als konstitutive Leistung von Re- ligion für Prozesse der Wiedervergemeinschaftung frei zur Verfügung gestellt. Hervieu-Léger schärft diese aktualisierte Fassung der Funktion von Religi- on, indem sie religiöse Kommunikation und Erinnerungskommunikation diffe- renziert. Die Funktion der Religion in einer posttraditionalen Gesellschaft besteht für sie darin, das Individuum in eine bestimmte, religionsspezi¿sche Form von Vergemeinschaftung einzubinden, nämlich in eine Wahl-Bruderschaft, die das Hier-und-Jetzt transzendiert. Somit hebt Hervieu-Léger nicht nur im Anschluss an Max Weber die besondere Bedeutung der Ethik der Brüderlichkeit für Religi- on hervor, sondern verweist auch auf eine bestimmte religionsspezi¿sche Form des Umgangs mit dem kollektiven Gedächtnis. Dieser Annahme folgend besteht das Hauptziel religiöser Erinnerungskommunikation darin, gemeinsamer Ahnen zu gedenken bzw. diese zu er¿nden, um das Brüder-Sein-Wollen15 innerhalb ei- ner nicht-organischen Gemeinschaft zu festigen.16 Im Hinblick auf das utopische Denken als spezi¿sche Form des religiösen Denkens ist religiöse Kommunikation für Hervieu-Léger nicht eine Erinnerungs- kommunikation, die zu einer Sakralisierung der Vergangenheit führt, sondern eine Kommunikation, die auf die Sakralisierung utopischer Vorstellungen zielt. Moderne religiöse Kommunikation ist insofern reÀexiv, als sie gezielt Elemente aus der Vergangenheit hervorhebt, die der Legitimierung der Zukunftsvorstel- lungen dienen und somit eine „Glaubenslinie“ erschaffen. Das religiöse Paradox der Moderne besteht darin, dass die Säkularisierung durch die Schwächung der

15 “What is speci¿c here resides in the fact that the relationship to the chain of belief is constructed […] from the Tuality of the emotive relationship pertaining between members of a similar group. It is not recognition of common ancestry that determines the relationship between brothers, but the experience of brotherhood justifying the invention of common ancestry.” (Hervieu-Léger 2000: 149-150). 16 Religiöse Erinnerungskommunikation unterscheidet sich dadurch von einer politischen oder zivil-religiösen Erinnerungskommunikation, die auf eine Sakralisierung des Staats, der Nation, der Kultur o. ä. zielt. Die Vermehrung der Religionshybride 85

Kirchen als traditionelle Kontrollinstanzen der Erinnerungskommunikation ei- nerseits die Möglichkeiten für die Produktion von Religion gerade außerhalb des religiösen Systems fördert, andererseits jedoch die Potentiale der 7radierung von Religion erheblich schwächt.17 Hervieu-Léger spezi¿ziert diese funktionalistische De¿nition von Religion über Erinnerungskommunikation weiter durch den Verweis auf den Bedarf einer religiösen Form. Sie bestimmt die religiöse Form mithilfe von vier Dimensionen, die – je nach religiöser Ausprägung – mit unterschiedlicher Intensität vorhanden sein müssen: eine kulturelle, eine affektive, eine vergemeinschaftende und eine normative Dimension (Hervieu-Léger 2004). Mit dem Übergang zu einer postt- raditionalen Gesellschaft gewinnt die kulturelle Dimension unter Rückgriff auf ein kollektives Gedächtnis, auf gemeinsame Erinnerungen, zwar an zentraler Be- deutung, um die historisch reale oder gerade erfundene temporale 7iefe der Glau- benslinie zu verfestigen. Dennoch müssen auch die drei anderen Dimensionen vor- handen sein. Ansonsten löst sich Religion in eine hybride Form auf bzw. be¿ndet sich als „Religion im Entstehen“ im Zustand der Potentialität bzw. der Hybridität.

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17 “7he utopian dynamic for religious innovation today is barely capable of countering the col- lapse of memory whose effect, both in the sphere of traditional religion and in society as a whole (especially in the political arena), is the loss of plausibility in collective reference to a chain of belief” (Hervieu-Léger 2000: 149). 86 Arnaud Liszka

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Geht es um die Frage nach dem Schicksal der Religion in spätmodernen westli- chen Gesellschaften, konkurrieren zwei sich widersprechende Diagnosen mitei- nander. Die eine Diagnose wird als Säkularisierungshypothese bezeichnet und geht von einem akzelerierenden, also ständig wachsenden Rückgang der Religi- on in allen modernen Gesellschaften aus. Die andere Diagnose spricht von ei- ner Renaissance der Religion und behauptet entweder ein wiedererstarktes (auch mediales) Interesse an Religion oder sogar eine ‚Wiederverzauberung der Welt‘. Beide Diagnosen haben irgendwie recht und irgendwie unrecht. Das ist so, weil ihnen ein jeweils unterschiedlicher Religionsbegriff und wohl auch ein jeweils unterschiedliches Religionsverständnis zugrunde liegen. Die Säkularisierungshypothese fußt auf einem engen, in der europäischen Religionsgeschichte verwurzelten Religionsbegriff, für den Religion weitgehend identisch ist mit institutionalisierter, also vor allem kirchlich verfasster Religion. Dementsprechend stützt sich die Säkularisierungshypothese auch im Kern auf den in fast allen modernen Gesellschaften zu beobachtenden Rückgang der Kir- chenmitglieder, der Gottesdienstbesucher, der Zahl der 7aufen, der kirchlichen Heiraten und des Glaubens an einen persönlichen Gott. Laut Angaben der Kir- chen haben 2010 in Deutschland 145.250 Mitglieder die evangelischen Kirchen und 181.193 Mitglieder die katholische Kirche verlassen. (vgl. Mehr Katholiken als Protestanten verlassen die Kirche 2012.) Die Zahl der evangelischen und katho- lischen Kirchenmitglieder bezogen auf die Gesamtbevölkerung liegt in der Bun- desrepublik jeweils schon unter 30%, die Zahl der Konfessionslosen schon deut- lich über 30%. Laut einer Allensbach-Umfrage hält sich weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung, nämlich 48%, für religiös, in den Großstädten liegt der Anteil bei 40%, in den neuen Bundesländern bei 23%. Bei der Gruppe der Unter-30-Jährigen ist es nur noch ein Drittel (vgl. Hefty 2012). Nimmt man diese Zahlen ernst, so scheint die Säkularisierungshypothese durchaus plausibel zu sein. Die 7hese von der Renaissance der Religion geht – wenn sie mehr meint als die wachsende politische Bedeutung der Religion in islamischen Ländern, in Is-

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 90 Winfried Gebhardt rael oder auch in den USA – in der Regel von einem weiten Religionsbegriff aus, der – zumeist in Anlehnung an 7homas Luckmanns 7heorie der ‚unsichtbaren Religion‘ (Luckmann 1991) – Religion gleichsetzt mit ‚Sinn¿ndung‘ und ‚Sinn- stiftung‘ gleich welcher Art. Religion bezeichnet dann jede Form von ‚Weltan- schauung‘ oder ‚symbolischer Sinnwelt‘ – angefangen bei ‚klassischen‘ Religi- onen über die vielfältigen Formen politischer Ideologien des Nationalismus, des Sozialismus, des Liberalismus und des Faschismus, des Positivismus und anderer Spielarten des Szientismus, bis hin zu den mannigfaltigen Ausprägungen jenes vielfältigen und heterogenen Phänomenbereichs, der heute als ‚Esoterik‘ oder als ‚alternative Spiritualität‘ bezeichnet wird. Selbst Phänomenen wie einer exzes- siven Fußballbegeisterung, ordalen 7rendsportarten, dem Wellness-7rend, dem 7echno-7anz oder einer populärwissenschaftlich verbrämten Science-Fiction-Be- geisterung werden dann ‚religiöse Qualitäten‘ zugesprochen – eine Sichtweise, auf die sich auch viele 7heologen in ihrer scheinbar unstillbaren Sehnsucht, überall etwas ‚Religiöses‘ ¿nden zu wollen, einlassen (vgl. exemplarisch Boelderl et al. 2005). Ein solch weites Religionsverständnis lässt sich natürlich ungleich schwerer Tuanti¿zieren und messen. Im Religionsmonitor der Bertelmann-Stiftung wurde dies auf der Basis des Messmodells von Stephan Huber (2003) ansatzweise ver- sucht, indem beispielsweise nicht nur nach dem Glauben an einen persönlichen Gott, sondern auch nach dem Glauben an etwas Göttliches, an eine übernatürli- che Kraft oder Energie, an ein Gefühl des ‚Mit-allem-eins-Seins‘ gefragt wur- de. Dementsprechend stieg – im Vergleich mit den Allensbach-Daten – die Zahl der ‚Religiösen‘ in der Bundesrepublik Deutschland von 48% auf 70%. Ähnliche Zahlen gibt es auch aus anderen westlichen Ländern (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2008). Wenn man dieses weite Religionsverständnis akzeptiert, dann scheint auch die 7hese von einer Renaissance der Religion nachvollziehbar. Man könnte jetzt (wieder einmal) eine Debatte über den ‚richtigen‘ Religi- onsbegriff und über die ‚richtige‘ Art beginnen, Religion und Religiosität empi- risch zu erfassen und zu messen. Doch dies scheint kaum sinnvoll zu sein. Die- se Debatte gibt es schon sehr lange und sie hat zu keinen greifbaren Ergebnissen geführt, weil die Protagonisten beider Seiten von unterschiedlichen und letztend- lich unvereinbaren Denkvoraussetzungen ausgehen (vgl. Engelbrecht 2004). Ich wähle deshalb hier einen anderen, abstrakteren Zugang zur Problematik einer sachadäTuaten religiösen Gegenwartsdiagnose, der unabhängig von einer Ent- scheidung für oder gegen einen engen oder weiten Religionsbegriff Ergebnisse verspricht. Dies ist die Analyse von Entwicklungen, die als die Selbstermächti- gung des religiösen Subjekts und – daraus folgend – als die Entkonturierung der religiösen Landschaft bezeichnet werden können. Eine solche Analyse verlangt Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 91 auch deshalb keine explizite Entscheidung für einen bestimmten Religionsbegriff, weil sich die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts sowohl bei Kirchenmit- gliedern als auch bei Nicht-Kirchenmitgliedern – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – beobachten lässt.

1. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts Individualisierungsprozesse sind – weitgehend unbestritten – ein charakteris- tisches Kennzeichen moderner und sich modernisierender Gesellschaften. Sie führen allerdings nicht dazu – wie es beispielsweise die englische Religionsso- ziologin Grace Davie (1994) in ihrem berühmten Statement ‚Believing without Belonging‘ behauptete –, dass sich spätmoderne Menschen immer mehr als rein ‚autonome Subjekte‘ denken. Das Bedürfnis nach ‚Belonging‘, also nach Zuge- hörigkeit, Anerkennung und Gemeinschaftserleben bleibt auch unter den Bedin- gungen der Individualisierung und Privatisierung bestehen – auch weil es, worauf schon Helmuth Plessner aufmerksam machte (vgl. Plessner 2002), anthropologisch in der ‚leib-seelischen Konstitution des Menschen‘ verankert scheint. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Religion. Neue Formen der Gemeinschaftsbildung sind in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens beobachtbar: von rela- tiv dauerhaften sozialen Netzwerken bis hin zu rein situativen Flash-Mobs (vgl. Hitzler et al. 2008). Für den Bereich der Religion gilt dies aber ganz besonders. Religion ist ohne Gemeinschaft nicht vorstellbar, wie auch immer Gemeinschaft aussehen mag. Zwar ist es richtig, dass Individualisierungsprozesse – wenn auch in unterschiedlichen graduellen Abstufungen – zu einer akzelerierenden Subjekt- zentrierung, zu einer ‚doppelten Subjektivierung‘ des Religiösen führen, wie Hu- bert Knoblauch (2009: 265) sagt, die im Übrigen schon daran erkennbar ist, dass die Menschen immer weniger von ihrer Religion, und immer mehr von ihrer Spi- ritualität reden, weil Spiritualität in ihren Augen etwas markiert, das sich allein im Inneren des eigenen Selbst ereignet. Ebenso ist es aber auch richtig, dass diese akzelerierende Subjektzentrierung die Entstehung einer kollektiven ‚geistig-see- lischen Haltung‘ (7heodor Geiger)1 und eines ‚inneren Habitus‘ (Max Weber)2

1 Zum Begriff der Mentalität als ‚geistig-seelischer Disposition‘, der in seiner soziologischen Relevanz bis heute unterschätzt wird, vgl. Geiger 1987: 77ff; Sellin 1987; Gebhardt 1993. 2 Der Begriff des Habitus wird heute in aller Regel auf Pierre Bourdieu zurückgeführt. Hier ist nur daran zu erinnern, dass schon Max Weber diesen Begriff benutzte und zwar dazu, um näher zu erläutern, was er mit dem Begriff ‚Geist‘ des Kapitalismus in seinem berühmten Werk über die Protestantische Ethik meint. Nachdem er ihn im so genannten „Anti-kritischen Schlusswort“ zum ersten Mal de¿nierte, benutzte er ihn konstant weiter in seinen weiteren religionssoziologischen Arbeiten und differenzierte ihn in seinen Studien über den Hinduismus 92 Winfried Gebhardt zur Folge hat, die sich – zusammenfassend – als die ‚Selbstermächtigung des re- ligiösen Subjekts‘3 begrifÀich fassen lassen und die wesentlich bestimmt sind a) durch die unbedingte Behauptung von ‚Autonomie‘, ‚Souveränität‘ und ‚Eigen- kompetenz‘ in allen religiösen Fragen, also durch den ‚Glauben‘ an die eigene Fä- higkeit, es nicht nur besser zu wissen, sondern auch zu können – und zwar egal, auf welchem Gebiet: der Lehre, der Seelsorge, der Liturgie oder der individuellen religiösen Praxis, b) damit korrespondierend durch einen ausgeprägten ‚anti-ins- titutionellen Affekt‘, also ein grundsätzliches, oftmals im Gestus der Empörung vorgetragenes Misstrauen in die professionelle ‚Führungs‘-Kraft von religiösen Institutionen, insbesondere der Kirchen und ihren 7heologien, und c) durch eine diffuse Hoffnung, dass sich daraus eine Form neuer, ‚besserer‘, weil ‚freierer‘ So- zialität entwickeln könne. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts verweigert sich der Unter- werfung unter die normativen Vorgaben der institutionalisierten Religion und dem Machtanspruch ihrer Führer und stellt die ‚eigene religiöse Kompetenz‘, die man sich oft mühevoll unter Einsatz beträchtlicher (auch ¿nanzieller) Mittel erarbeitet hat, in den Mittelpunkt. Es ist der Einzelne, der seinen eigenen Weg hin zu ‚Gott‘ (oder einer ‚göttlichen Kraft‘) zu ¿nden hat – und der Weg, der dahin führt, ist ein individueller und autonomer Weg und zudem ein Weg, der nie abgeschlossen sein kann. Wohin es geht, wird man sehen, wenn man dort ist. Dementsprechend heißt es auch: Der Weg ist das Ziel. Wahrheit gibt es nicht mehr, es gibt nur noch Wahrheiten. Feste Überzeugungen werden – ganz in der anarchistischen 7radi- tion Max Stirners – als Gefängnisse interpretiert, die der persönlichen Entwick-

und Buddhismus noch einmal aus in die Unterscheidung von ‚innerem‘ und ‚äußerem‘ Habitus. Ohne an dieser Stelle auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Weber und Bourdieu eingehen zu können und ohne die spannende Frage zu diskutieren, ob Bourdieu, der Weber eingehend studierte, seinen Habitus-Begriff kannte, soll doch betont werden, dass Habitus für Weber einen zu erreichenden Zustand beschreibt, der der individuellen Leistung der kogni- tiven und emotionalen Aneignung bedarf, und nicht ein System verinnerlichter Muster, die dem Menschen von seiner sozio-kulturellen Umwelt aufgedrückt werden wie bei Bourdieu. Wenn überhaupt, dann entspricht der Habitus-Begriff Bourdieus wohl nur dem, was Weber als äußeren Habitus bezeichnet (vgl. Weber 1978: 284; Weber 1972: 170 u. 185). 3 Selbstermächtigungsprozesse sind nicht auf den Bereich der Religion beschränkt, sondern ‚nagen‘ an der Legitimität fast aller Institutionen (von Regierungen, Parteien, Gewerkschaf- ten bis hin zu Ehe und Familie, Wissenschaft und Universitäten). Für den Bereich Ehe und Familie hat Eva Illouz (2011) diese Entwicklung schön beschrieben. Auch neue, netzwerkartig organisierte Vergemeinschaftungsformen, wie die occupy-Bewegung oder die Piratenpartei, gründen sich auf das Prinzip der Selbstermächtigung und verkünden ‚sexy Ziellosigkeit‘ als Programm. – Im Bereich der Religion breiten sie sich allerdings geradezu inÀationär aus, auch weil die religiösen Institutionen ihren (auch moralischen) EinÀuss auf die Lebensführungspraxis nicht mehr geltend machen können. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 93 lung als Hindernisse im Weg stehen4. Anschaulich präsentiert wird dieser ‚inne- re Habitus‘ in einem Gedicht, das auf vielen Esoterik-Homepages im Internet zu ¿nden ist und deshalb als so etwas wie eine ‚dogmatische‘ und damit auch pro- grammatische Kernaussage sogenannter ‚alternativer Spiritualität‘ gelten kann.

Auf wessen Erlaubnis wartest du?

Es gibt niemanden, der mehr Autorität in deinem Leben hat als du. Nicht deine Eltern, nicht deine Freunde, nicht dein Ehepartner, nicht einmal Gott.

Oft warten wir und wünschen uns, dass jemand anders unsere Wahl unterstützt, anstatt dass wir uns erlauben, jetzt unserer Leidenschaft zu folgen.

Der Göttliche Schöpfer im Innern kann nur von DEINER Erlaubnis frei gesetzt werden.

Niemand sonst hält dich zurück. (Jean Tinder)

Die in diesem Gedicht vermittelte Botschaft beschreibt den Habitus der Selbster- mächtigung in Reinform und Radikalität, der – ähnlich wie die Stirnersche Lehre vom ‚Einzigen und seinem Eigentum‘ – als solcher nur als Ideologie formulier- bar ist und aufgrund der unhintergehbaren Sozialität des Menschen nicht oder nur äußerst bedingt in die unmittelbare Lebenspraxis überführt werden kann. Mit der Inanspruchnahme von Eigenkompetenz und der Ablehnung von insti- tutionell verankerter Autorität ist dementsprechend auch nicht notwendig das Ende religiöser Gemeinschaftserfahrung eingeläutet. Denn der im Habitus der Selbstermächtigung verdichtete ‚anti-institutionelle Affekt‘ richtet sich nicht ge- gen das Erlebnis von Gemeinschaft, Anerkennung und Zugehörigkeit, sondern

4 „Solange auch nur eine Institution noch besteht, welche der Einzelne nicht auÀösen darf, ist die Eigenheit und Selbstangehörigkeit Meiner noch sehr fern“ (Stirner 1845/2009: 221). Zur Aktualität Stirners, auch zu seiner wieder verstärkten Rezeption in der Diskussion um eine neue politische Ethik vgl. Wolf 2010. 94 Winfried Gebhardt ausschließlich gegen eine vorgegebene, hierarchisch strukturierte und gesteuer- te, auf Befehl, Gehorsam und Unterordnung gebaute und mit dem Anspruch auf ‚Ewigkeit‘ ausgestattete Gemeinschaft. Und als solche werden Kirchen und Kir- chengemeinden heute in spätmodernen, aber auch schon in sich modernisieren- den Gesellschaften wahrgenommen und dementsprechend beurteilt. Dies gilt sowohl für die protestantische als auch für die katholische und orthodoxe Kir- che und ihre Gemeinden, wenn auch in graduellen Abstufungen. Die Sehnsucht nach religiösen Gemeinschaftserfahrungen sucht sich deshalb immer mehr und immer schneller einen neuen, oftmals weniger verbindlichen und weniger dauer- haften Ausdruck – einen Ausdruck, der die Haltung der Selbstermächtigung des Anderen grundsätzlich nicht nur akzeptiert, sondern sogar bejaht, der zulässt, dass jeder seinen ‚eigenen Weg‘ in Glaubensfragen ¿nden muss, sich aber dar- über freut und es genießt, wenn ein Stück des Weges gemeinsam mit Anderen, die dem gleichen oder zumindest einem ähnlichen religiösen 7ypus angehören, begangen werden kann5. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts ist ein kollektives Phänomen und führt zu neuen Formen der Kollektivität, allerdings zu solchen, die mit den herkömmlichen Begriffen und Kategorien von Kirche und Kirchlichkeit nicht mehr zu fassen sind. Diese Selbstermächtigung des religiösen Subjekts, die sich – wie oben schon angedeutet – vor allem im 7rend der ‚Spiritualisierung‘ Ausdruck verschafft, ver- weigert sich vor allem der Unterwerfung unter die normativen Vorgaben der ins- titutionalisierten Religion und dem Machtanspruch ihrer Führer. Nur aus der be- wusst vollzogenen Frontstellung gegen die ‚Institution Kirche‘ erklärt sich ihre Antriebskraft und Attraktivität. Spiritualisierung richtet sich zum einen gegen eine als starr und lebensfremd empfundene (Universitäts-) 7heologie und Dogma- tik. In der einen (häu¿geren) Variante vertritt sie eine ich-zentrierte ‚Spaß- und Freude-Religion‘, in deren Mittelpunkt ‚individuelles Wohlbehagen‘ steht und die sich gegen ‚lebensfeindliche‘ und ‚lustfeindliche‘ Lehren und Praktiken der ‚ins- titutionalisierten Religion‘ richtet. Dementsprechend spielen hier auch die klassi- schen Fragen der Religion wie Schuld, Sühne, Sünde, Gerechtigkeit, Vergebung, Gehorsam oder die Erklärung des ‚Bösen‘ nur eine unbedeutende Rolle. Die an- dere (weniger häu¿gere) Variante vertritt ein traditionales, vormodernes und de- zidiert anti-individuelles Religionsmodell, das der ‚institutionalisierten Religion‘ vorwirft, sich schon allzu sehr mit der Moderne eingelassen und Zugeständnisse an den ‚Zeitgeist‘ gemacht zu haben, und die Rückkehr zu den alten Werten und

5 Zur Konstruktion und Bedeutung von Individualitätsschablonen, 7ypen¿ndung und sogenannten 7ypen¿ndungstests, die gerade für die ‚alternative Spiritualität‘ von großer Relevanz sind, man denke beispielsweise nur an die Attraktivität des ‚Enneagramms‘, vgl. Bochinger et al. 2009: 121ff; Prisching 2009: 87ff; Prisching 2010. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 95

Normen fordert, teilweise auch versucht, diese wieder in revitalisierten traditio- nalen Gemeinschaftsformen zu leben. Die Entscheidung, dabei auf seine ‚Indivi- dualität‘ zu verzichten, wird allerdings – vielleicht ein für unsere Zeit typisches Paradoxon – als individuelle, autonome Entscheidung verkündet und behauptet. Zum anderen richtet sich Spiritualisierung gegen die Parzellierung der religiösen Erfahrung, gegen die Dominanz der Vernunft und des Wortes als einzig legitime Quelle religiöser Erkenntnis – hat also einen dezidiert ‚anti-intellektuellen‘ Zug. Gesucht wird hingegen nach ‚ganzheitlichen‘, ‚authentischen‘, ‚echten‘ Erfahrun- gen des ‚Göttlichen‘ – was in der Regel entweder zur Orientierung an ‚pantheis- tischen‘, ‚naturreligiösen‘ Vorstellungsmodellen oder zur geforderten Rückkehr zu den sogenannten ‚Ursprungswahrheiten‘ oder aber – auch dies ist zu beobach- ten – zur Kombination von beidem führt. Wer sich die soziale Deutungshoheit über seine Spiritualität ausschließlich selbst zuspricht, der setzt sich ganz selbstverständlich auch in Opposition zu den of¿ziellen Lehren und Praktiken der Kirchen und ihrer 7heologien. Allerdings variiert dieses Sich-in-Opposition-Setzen zu den Kirchen und der ‚anti-institu- tionelle Affekt‘ changiert zwischen den Polen einer generellen Institutionenab- lehnung und einer eher moderaten, reformorientierten Institutionenkritik, die die gegenwärtige Praxis der Kirchen und ihrer 7heologien angreift, nicht aber die Institutionen als solche. Wie stark das Sich-in-Opposition-Setzen im Einzelnen auch aussehen mag, die grundsätzlichen Kritikpunkte sind immer die gleichen. Die Abgrenzungen gegenüber den Kirchen und ihren 7heologien werden dabei mit Hilfe der folgenden drei Entgegensetzungen vorgenommen: a) ‚eng‘ versus ‚weit‘, b) ‚angstvoll‘ versus ‚mutig‘, und c) ‚tot‘ versus ‚lebendig‘6. a) Mit Hilfe der Entgegensetzung von ‚eng‘ versus ‚weit‘ wird vor allem die Struktur und die Praxis der etablierten Kirchen kritisiert. Die Charakterisierung der eigenen Spiritualität als ‚weit‘ und die Beschreibung der kirchlichen Praxis als ‚eng‘ gehört zu den Standardargumenten, wenn es darum geht, das eigene Selbst- verständnis zu umreißen. Dabei richtet sich die Metapher ‚eng‘ in durchgängig kirchenkritischer Absicht 1.) gegen das Kirchenrecht und die dogmatische Rigo- rosität des kirchlichen ‚Lehramts‘, das den Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben und was sie zu glauben haben, 2.) gegen die hierarchischen – ‚blinden‘ Gehorsam einfordernden – Kirchenstrukturen, und 3.) gegen eine – als langwei- lig und ‚überritualisiert‘ wahrgenommene – Standardliturgie, der die spirituelle 7iefe fehle. Allen drei Kritikpunkten, die in der Regel als ‚Anklagen‘ formuliert

6 Beispiele für diese Art von Entgegensetzungen und ihre entsprechenden argumentativen Begründungen ¿nden sich in Bochinger et al. 2009: 92-118. 96 Winfried Gebhardt werden, stellt man die eigene ‚Offenheit‘, ‚7oleranz‘ und ‚Kreativität‘ gegenüber und fasst diesen Habitus unter der Chiffre ‚weit‘ zusammen. b) Eine zweite Entgegensetzung, die gerne benutzt wird, um seine eigene Spiritualität gegen die ‚Religion‘ der Kirchen abzugrenzen und positiv zu pro¿- lieren, ist die von ‚angstvoll‘ versus ‚mutig‘. Anders als die zuerst behandelte Di- chotomie von ‚eng‘ versus ‚weit‘, die inhaltlich über mehrere thematische Felder streut, ist die Entgegensetzung von ‚angstvoll‘ versus ‚mutig‘ thematisch eindeuti- ger fokussiert. Die Charakterisierung der kirchlichen Praxis als ‚angstvoll‘ meint dabei natürlich nicht, dass die Kirchen und ihre Amtsträger ‚ängstlich‘ agierten, sondern eher das Gegenteil, nämlich dass die Kirchen in ihrer Lehre und der dar- aus resultierenden Praxis ‚Angst‘ verbreiteten und darauf ihre Autorität stützten. Dadurch erzeugten sie ein ‚angstvolles‘ Verhalten der Kirchenmitglieder, die ihr Frömmigkeitsleben an den kirchlichen Vorgaben orientieren. Mit dem Prädikat ‚mutig‘ wird hingegen das eigene Verhalten belegt, also die 7atsache beschrieben, dass man die ‚Kraft‘ gefunden habe, sich aus diesen ‚Angststrukturen‘ zu befrei- en, sich ‚freizuschaufeln‘ und den Prozess des ‚Mündigwerdens‘ erfolgreich absol- viert zu haben. Diese Quali¿zierung der ‚Religion der Kirchen‘ als ‚angsterzeu- gend‘ und ‚angstgestützt‘ wird in der Regel mit zwei Vorwürfen begründet. Der eine Vorwurf wird wesentlich aus der Kirchengeschichte abgeleitet und richtet sich gegen die kirchliche ‚Intoleranz‘ und die ‚gewaltsamen Methoden‘, die eingesetzt wurden, um die Menschen ‚unmündig‘ zu halten und Abweichler zu disziplinie- ren, beziehungsweise zu nihilieren. Demgegenüber wird die eigene 7oleranz und Friedfertigkeit betont. Der andere Vorwurf ist grundsätzlicherer Natur und rich- tet sich gegen die kirchlichen Lehren von der ‚Sündhaftigkeit‘ des Menschen und dem damit verbundenen Menschenbild, das dem eigenen, auf den Selbstwert und die Individualität jedes Menschen zielenden Weltbild fundamental widerspricht. c) Mit Hilfe der Entgegensetzung von ‚tot‘ versus ‚lebendig‘ (oder von ‚Wüs- te‘ und ‚Oase‘) wird schließlich die ‚platonisch versaute‘ Wort- und 7heologie- zentriertheit der kirchlich-spirituellen Praxis kritisiert, der man sein ‚ganzheitli- ches‘, ‚Körper, Seele und Geist‘ integrierendes Spiritualitätskonzept entgegenhält. Hier werden zum einen ‚De¿zite‘ in der kirchlichen spirituellen Praxis beklagt, der man die eigenen körper-, sinnen- und gefühlszentrierten Spiritualitätsformen (von der Erdmeditation über die tibetische Klangschalenmassage und den liturgi- schen 7anz bis hin zur mystischen Lichtmeditation) gegenüberstellt, zum anderen aber auch die ‚Lebensferne‘ und ‚kommunikative Unfähigkeit‘ des Kirchenper- sonals, die dann mit der kommunikativen Lebendigkeit und der Zugewandtheit zu den individuellen Lebensproblemen der Menschen in den eigenen Veranstal- tungen konfrontiert werden. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 97

2. Die Entkonturierung der religiösen Landschaft Diese – um es noch einmal zu betonen – graduell variierende Selbstermächti- gung des religiösen Subjekts hat nun mehrere, insbesondere für die Kirchen und ihre 7heologien nicht zu unterschätzende Folgen, die unter dem Leitbegriff der Entkonturierung der religiösen Landschaft zusammengefasst werden können. Die erste Folge besteht darin, dass sich bisher gültige und klar konturierte konfessionelle Grenzziehungen immer mehr verwischen und dass sich unter Kir- chenmitgliedern, aber auch unter Nicht-Kirchenmitgliedern spezi¿sche Deutungs- muster ausbreiten, die als ‚trivialisierter Laienökumenismus‘ bezeichnet werden können – wobei mit 7rivialisierung nur gemeint ist, dass sich ein theoriegesättig- ter, hochkomplexer Begriff wie der der Ökumene zunehmend theorieferne, rein lebensweltlich orientierte Ausdrucksformen sucht. Denn es ist insbesondere der eigentümliche Anti-Intellektualismus, der, gepaart mit der Sehnsucht nach ganz- heitlichen und deshalb authentischen spirituellen Erfahrungen, zu einer generel- len Abwertung der konfessionell geführten und konfessionell de¿nierten Recht- gläubigkeitsdiskurse führt und damit die theologisch befestigten konfessionellen Grenzen zwischen den christlichen Kirchen, aber auch darüber hinaus, angreift und in letzter KonseTuenz auch auÀöst. Der ,trivialisierte Ökumenismus‘ vieler religiös interessierter Laien richtet sich primär gegen die konfessionelle ‚Aufsplitterung‘ des Christentums. Oftmals liegen einer solchen Sichtweise eigene, als durchaus schmerzhaft empfundene Diskriminierungserfahrungen zugrunde. Noch deutlicher als solche biographi- schen Erfahrungen sind es allerdings die gegenwärtigen Probleme konfessions- verschiedener Ehe- oder Lebenspartner, insbesondere mit der Praxis der katho- lischen Kirche Protestanten den Zugang zur Kommunion zu verwehren, die erst Unverständnis und dann Widerspruch hervorrufen. Dieses Nicht-mehr-nachvoll- ziehen-Können der konfessionellen Unterschiede, insbesondere wenn es mit kon- kreten Verweigerungserfahrungen verbunden ist, führt dann oftmals dazu, den Kirchen insgesamt, und nicht nur – wie man in diesem Fall denken könnte – der katholischen Kirche, ‚Weltfremdheit‘ oder eine ‚bornierte Rechthaberei‘ zu un- terstellen, die an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen vorbei gehe. Doch der ,trivialisierte Ökumenismus‘ bleibt nicht beim Gedanken der ‚christ- lichen Ökumene‘ stehen, beschreibt also mehr als den in der Religionssoziologie schon öfters konstatierten 7atbestand der akzelerierenden Entkonfessionalisie- rung des Christentums (vgl. Ebertz 1998). Er schließt – jedenfalls in seiner ide- altypischen Reinform – alle spirituell fundierten, auch die auf den ersten Blick säkularen Weisheitslehren wie etwa die Psychoanalyse und die Philosophie mit ein. Man geht von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Religionen und aller 98 Winfried Gebhardt

Weisheitslehren aus. ,Wahrheit‘ tritt – so die Anschauung – in unterschiedlicher Gestalt auf. Propheten gibt es, wie es oftmals heißt, eben viele. Sie mögen sich in ihren Lehren unterscheiden, der Kern aber, den Menschen zu sich selbst und zu seiner eigentlichen Bestimmung zu bringen, bleibt immer und überall der glei- che. Gott wird zunehmend religionslos, zumindest aber konfessionslos gedacht. Die zweite Folge besteht in einer Schwächung, wenn nicht sogar in einer Auf- lösung der kirchlichen Gemeindestrukturen, die im Extremfall bis hin zur Schlie- ßung von Kirchengemeinden und der Veräußerung kirchlicher Gebäude reichen kann. Zwar bestehen die bisherigen Organisationsstrukturen der Kirchen (Par- ochial-, Dekanats-, Synodal-, Diözesanstrukturen, Vereins- und Verbandsstruk- turen etc.), aber auch anderer Formen ‚institutionalisierter Religion‘ (traditionale Kultgemeinschaften), in der Regel weiter fort, werden aber zunehmend von reli- giös interessierten Personen als ‚geistlos‘, ‚beengend‘, ‚kalt‘, ‚distanziert‘ und ‚un- persönlich‘ erlebt und beurteilt. Im subjektiven Emp¿nden vieler religiös Interes- sierter herrscht die Meinung vor, dass die ‚bürokratisierten‘ oder in ‚7raditionen erstarrten‘ Strukturen der ‚institutionalisierten‘ Religion den ‚religiösen Geist‘, die ‚Spiritualität‘ abgetötet haben. Immer öfter ist das Verlangen zu hören, man müsse sich ‚mündig machen‘, sich befreien aus den ‚einengenden Strukturen‘ in- stitutionalisierter Unmündigkeit und Unselbständigkeit. Dementsprechend sind neue Organisationsformen des Religiösen zu beobachten. Diese neuen Organisa- tionsformen lassen sich als ‚posttraditionale Gemeinschaften‘ im Allgemeinen, als ‚Szenen‘ im Besonderen bezeichnen7. Szenen sind Gruppen von Menschen, die für eine gewisse Zeit ein gemeinsames Interesse teilen und deswegen zu be- stimmten Zeiten und an bestimmten Orten zusammenkommen. Im religiösen Feld gruppieren sich Szenen oftmals um ‚charismatische‘, manchmal auch nur um hin- reichend ‚prominente‘ Personen. Der ‚etwas besondere Seelsorger und Prediger‘, zu dem die Leute in den Sonntagsgottesdienst, zum Freitagsgebet oder zu medial inszenierten religiösen Großveranstaltungen von weither anreisen, sprengt ebenso die herkömmlichen Sozialformen von Religion und gründet religiöse Szenen wie neu entstehende religiöse oder auch nur religioide Bewegungen und Kultgemein- schaften, die in der Regel überregional, wenn nicht sogar global orientiert sind. Menschen aber, die sich in religiöse Szenen begeben, sind am Leben ihrer Her- kunftsgemeinde kaum mehr interessiert. Denn im Vergleich zu herkömmlichen religiösen Sozialformen sind religiöse Szenen weitaus offener, in ihrem Normie-

7 Der Begriff der ‚posttraditionalen Vergemeinschaftung‘ wurde von Ronald Hitzler unter Rückgriff auf Michel Maffesolis 7heorie der Neotribalisierung und Zygmunt Baumans Ambivalenztheorie entwickelt (vgl. Hitzler 1998). Die Szene ist nur eine, wenn auch eine bestimmende, Form der posttraditionalen Vergemeinschaftung unter anderen. Zum Begriff der Szene vgl. Hitzler/Niederbacher 2010; Schulze 1992: 459-494. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 99 rungsanspruch unverbindlicher und im Weltdeutungsanspruch individualistischer. In Szenen kann man seine je individuellen und aktuellen religiösen Bedürfnisse befriedigen, ohne sich dauerhaft binden zu müssen. Dementsprechend hoch ist die Zahl der Neugründungen von religiösen Szenen sowohl innerhalb als auch außerhalb der etablierten Kirchen und die FluktuationsTuote zwischen ihnen8. Die dritte Folge hängt eng mit dem Prozess der Verszenung zusammen und lässt sich als 7rend hin zu einer akzelerierenden Eventisierung von Religion be- zeichnen. Dies gilt vor allem deshalb, weil locker und offen organisierte Szenen nur auf sogenannten ‚Events‘9 ihr zur Aufrechterhaltung der ‚Gemeinschaft‘ not- wendiges Wir-Gefühl aktualisieren, herstellen und intensivieren können. Events sind Veranstaltungsformen, die – perfekt organisiert und zumeist monothematisch zentriert – unterschiedlichste Erlebnisinhalte und Erlebnisformen zu einem nach primär ästhetischen Kriterien konstruierten Ganzen zusammenbinden. In einer sich zunehmend differenzierenden, ja partikularisierenden Welt scheinen Events eine der wenigen Möglichkeiten zu sein, die es noch erlauben, die Erfahrung von ‚Einheit‘, ‚Ganzheit‘ und ‚Authentizität‘ zu machen, weil sie Erlebnisformen an- bieten, die nicht nur den Intellekt, sondern alle Sinne ansprechen. Gerade in den letzten Jahren kann eine sprunghafte Zunahme von religiösen Events und religa- ren, situativen Event-Vergemeinschaftungen beobachtet werden: die Diözesan- jugendfestivals ‚Jugend + Kirche + X‘, die katholischen Weltjugendtage mit dem ‚Superpapst als Pop-Star‘, die europäischen Jugendtreffen von 7aizé, die Missi- onsdiscos der evangelikalen Pro-Christ-Bewegung, das sich vor allem in Asi- en, Afrika, Nord- und Südamerika ausbreitende Phänomen christlicher (oftmals evangelikal geprägter) ‚Mega-Churches‘, Esoterikmesen mit christlich-mikrobi- otischem Unterhaltungsprogramm, aber auch die medial inszenierten Großver- anstaltungen su¿scher Gemeinschaften im islamischen Raum locken Zehn- wenn nicht Hunderttausende von Besuchern an. Einiges scheint dafür zu sprechen, dass der ‚religiöse Event‘ in seiner typischen Kombination von traditionellen (nicht nur christlichen) religiösen Inhalten und Ritualen und populärkulturell geprägten Un- terhaltungsprogrammen als zeitgemäße Ausdrucksform religiöser Erfahrung und

8 Ich neige dazu, die Neuen Geistlichen Gemeinschaften auch der Kategorie der Szenen zuzu- ordnen, obwohl viele von ihnen sich durchaus eine feste und weitgehend verbindliche Struktur geben. Das entscheidende Argument dafür ¿ndet sich in der Beobachtung, dass die Entschei- dung, seine ‚Individualität‘ aufzugeben und sich einer Gemeinschaft unterzuordnen, eben als ‚individuelle Entscheidung‘ interpretiert und so auch gewertet wird – eine Entscheidung, die zudem grundsätzlich revidierbar erscheint. Vgl. dazu: Bochinger et al. 2009: 121ff. 9 Zur 7heorie des Events vgl. Gebhardt 2000; Gebhardt 2010a. Zum Begriff und Phänomen der situativen Event-Vergemeinschaftung vgl. Gebhardt 2008; Keller 2008, sowie als exemplari- sches Beispiel für spätmoderne religiöse Events: Forschungskonsortium WJ7 2006. 100 Winfried Gebhardt religiösen Erlebens weiter an Bedeutung gewinnen und damit die ‚klassische‘ Kir- chengemeinde als Zentrum gelebter Religion ersetzen wird. Die vierte Folge kann als Diffusion oder Entgrenzung des ‚Heiligen‘ be- zeichnet werden. Das Heilige lässt sich begrifÀich und konzeptuell nur schwer fassen. Sucht man nach dem gemeinsamen Kern unterschiedlichster religionswis- senschaftlicher und soziologischer Bestimmungsversuche, wie sie in Rudolf Ot- tos 7heorie des Numinosen (Otto 1971), in Max Webers 7heorie des Charisma (Weber 1976: 245ff) oder auch in Walter Benjamins Aura-Konzeption (Benjamin 1972) vorliegen, so ¿ndet man ihn in der grundsätzlichen ‚Unverfügbarkeit‘, ‚Un- verstehbarkeit‘ und ‚Unantastbarkeit‘ dessen, was als ‚heilig‘ gelten soll. Das ‚Hei- lige‘ umschreibt außeralltägliche, weil an jeweils besonderen Objekten oder Per- sonen hängende Erfahrungen, denen jeweils spezi¿sche, nicht jedem zugängliche Kräfte oder Qualitäten zugesprochen werden. Diese Erfahrungen sind im Kern emotional, manchmal sogar enthusiastisch und ekstatisch bestimmt und können gleichermaßen Angst- und Glücksgefühle auslösen. Viel mehr lässt sich über das Wesen des Heiligen aus der Perspektive empirischer Wissenschaften kaum sagen. Alle historischen Religionen haben nun versucht, diesem Heiligen eine fass- bare und konturierte Gestalt zu geben, eine Gestalt, die dem ‚Unbegreifbaren‘ einen Namen und ein Gesicht gegeben hat, und es deshalb – soweit überhaupt möglich – verstehbar und nachvollziehbar und bis zu einem gewissen Grad auch kontrollierbar und beeinÀussbar gemacht hat. Dies wurde vor allem dadurch er- reicht, dass es in ‚Heiligen Schriften‘ mit jeweils spezi¿schen, unverwechselba- ren Inhalten gefüllt, an ‚Heilige Orte‘ gebunden und in ‚Heilige Zeiten‘ eingeteilt wurde. Die Begegnung mit dem Heiligen wurde so begrenzt und in inhaltlich prä- zisierte, dogmatisch und rituell abgesicherte Formen gegossen und damit gleich- zeitig ‚gesichert‘ und ‚entschärft‘. Ein Bereich des ‚Sakralen‘ stand nun einem Bereich des ‚Profanen‘ gegenüber. Zwar war diese 7rennung und vor allem ihre Aufrechterhaltung nicht immer leicht, weil es ein scheinbar universelles Bedürf- nis danach zu geben scheint, auch den Alltag der Menschen zu heiligen. Viele Praktiken, Riten und Zeremonien aus dem Arsenal insbesondere der sogenann- ten ‚Volksfrömmigkeit‘ oder ‚popularen Religion‘ (vgl. für den katholischen Be- reich Ebertz/Schultheis 1986) legen Zeugnis dafür ab: das Segnen von Pferden, Äckern, Häusern oder Autos, prächtig geschnitzte Hausaltäre, bunt bemalte Mar- terl, Ikonen oder goldene Christopherus-Plaketten. Doch immer haben die Ver- treter der Kirchen darauf geachtet, dass die Grenzen zwischen dem Profanen und dem Sakralen irgendwie noch sichtbar blieben. Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 101

Heute ist die Situation anders. Die für jede Religion konstitutive 7rennung von ‚heilig‘ und ‚profan‘ gerät unter Druck. Das Sakrale wird profanisiert10, in die alltägliche Lebenswelt der Menschen hineingeholt und jederzeit (und für jeder- mann) geistig wie körperlich erlebbar gemacht. Das Profane wird sakralisiert11, alltägliche Lebensbereiche und Gegenstände werden mysti¿ziert und mit dem außeralltäglichen Hauch des Exzeptionellen, des ganz Besonderen aufgeladen. Diese Entwicklungen lassen das ‚Heilige‘ wieder zu einer geheimnisvollen und letztlich unbegreifbaren und deshalb letztendlich auch unkontrollierbaren Macht werden – mit Angst besetzt, aber auch voll der Sehnsucht nach Glück. Doch ist dies nur eine Dimension der Diffusion oder Entgrenzung des Heiligen. Die an- dere Dimension liegt in seiner zunehmenden Austauschbarkeit, die sich aus der (wahrgenommenen) Vielfalt religiöser Angebote in spätmodernen Gesellschaf- ten ergibt. Wolfgang Eßbach hat diesen 7atbestand wie folgt formuliert: „Denn so verbreitet der Wunsch nach einem Unantastbaren auch sein mag, so laut der Ruf nach einer Wiederkehr des Heiligen auch schallen mag, welche Prädikate soll das neue Göttliche haben? Jede positive Prädikation, die auftritt, jeder neue Ka-

10 Die Weltjugendtage der katholischen Kirche sind ein schönes Beispiel für die Entstehung neuer, populärer Sinn- und Erlebniswelten, in denen nicht nur unterschiedliche 7raditionen des Heiligen spielerisch miteinander kombiniert und popkulturell ‚aufgestylt‘ werden, sondern eben auch aus der bisher abgegrenzten Welt des Sakralen herausgelöst und auf den Bereich des Alltags übertragen und hier insbesondere an die eigene, auch körperliche Erfahrung geknüpft werden. Der gegenwärtig überall grassierende Körperkult, exemplarisch festzuma- chen an Pietá-7atoos, Jesus-Brandings, knappen 7-Shirts mit dem Papstporträt oder coolen Sprüchen, die Sakralisierung der Sexualität und das Verlangen danach, das ‚Göttliche‘ nicht nur intellektuell zu begreifen, sondern ganzheitlich zu spüren, exemplarisch festzumachen an der Hochkonjunktur von Kerzen-, Duft- und Salbungsgottesdiensten, an liturgischen oder meditativen 7änzen und Liedchoreographien zu Sakropop-Klängen – sie alle stehen für die für unsere Zeit wohl typische Suche nach dem ‚entgrenzten Heiligen‘, das den Alltag erfüllt (vgl. Forschungskonsortium WJ7 2006). 11 Das Prädikat des Heiligen wird heute in inÀationärer Weise fast allem und jedem zugesprochen, der auch nur ansatzweise aus dem Rahmen des Normalen fällt. Hollywood-Stars und -sternchen á la Brad Pitt oder Angelina Jolie, wie Kometen aufsteigende und wieder verschwindende Po- pensembles wie die Spice Girls, die No Angels oder die Söhne Mannheims, Sporthelden wie 7iger Woods (vor seinem Ehebruch), Michael Schumacher oder Jan Ulrich (vor Bekanntwerden seiner Doping-Karriere), aber auch angesagte Konsumartikel wie Energy-Drinks (Red Bull verleiht Flügel), Multifunktionshandys, luxuriöse Kultartikel wie spartanische Gucci-7äschchen oder knallrote Ferrari-Boliden, interaktive soziale Netzwerke wie Facebook oder Xing – ihnen allen wird attestiert, sie seien etwas Außergewöhnliches, Charismatisches, Heiliges und deshalb Verehrungswürdiges. In den sexistischen Video-Clips amerikanischer Hip-Hop-Sänger wird der „Holy Butt“ verherrlicht, in pseudointellektuellen Jugend- und Esoterikszenen wird über die heiligende Kraft des Bauchnabel- und Brustwarzenpiercings philosophiert, und nicht nur pubertierende Bübchen preisen in SMS-Botschaften die „Heiligen Möpse“ ihrer neu eroberten Samstagabendbekanntschaft. Das Heilige wird aus der Welt des Göttlichen in die körperliche Welt des Alltags transferiert, wird eingebettet in die ganz normalen Erlebniswelten einer globalisierten, medial vorproduzierten Populärkultur. (vgl. Gebhardt 2010b). 102 Winfried Gebhardt techismus, der geschrieben wird, jedes Charisma, das anfällt, würde vermutlich als nicht einigungsfähig verworfen werden. Wenn es ums Heilige geht, möchte jeder doch gerne mitreden. Was restituierbar ist, ist allenfalls das leere Heilige. Und ich denke, darum geht es: Ein Heiliges soll sein, aber ein leeres“ (Eßbach 2011: 189). Eßbachs Diagnose überzeugt. Mit der Selbstermächtigung des reli- giösen Subjekts wird jedes Heilige zum Unikat, austauschbar und je nach Belie- ben wählbar. Das konturierte Heilige wandelt sich zum ‚leeren Heiligen‘, das nur noch den Rahmen vorgibt, aber von jedem nach Bedarf mit subjektiv sinnvollen, ästhetisch ansprechenden und wohltuenden Inhalten gefüllt werden darf.

3. Schlussbemerkung: Die Wiederkehr des Polytheismus? Religion und Religiosität be¿nden sich gegenwärtig weltweit in einem umfassen- den und in seinen KonseTuenzen letztendlich noch kaum einschätzbaren 7rans- formationsprozess12, der – je nachdem aus welcher Perspektive er beobachtet wird – entweder als ‚Selbstermächtigung des religiösen Subjekts‘ oder als ‚Deinstituti- onalisierung‘ traditionaler Sozialformen von Religion beschrieben werden kann, der aber auf jeden Fall zu einer ‚Entkonturierung‘ der religiösen Landschaft führt. In einer solchen lassen sich dann die seltsamsten Vermischungen und Verknüp- fungen unterschiedlichster religiöser und religider 7raditionsbestände beobachten. Ehemals christlich konturierte ‚heilige Orte‘ und ‚heilige Zeiten‘ werden okku- piert und mit ‚neuem‘, oftmals konkurrierendem ‚Sinn‘ ausgestattet. Bekennen- de Atheisten setzen sich dann für die Rettung alter Kirchengebäude als ‚spiritu- ellen‘ Kulturguts ein. Anhänger Aleister Crowelys feiern ihre ‚Hexenhochzeiten‘ in Klosterruinen auf ‚heiligem Grund‘. 7raditionelle Pilgerwege werden zur Su- che nach dem „eigenen Gott“ (Beck 2008) benutzt. Mitglieder der christlichen Kirchen treffen sich an (angeblich) keltischen oder germanischen Kultstätten zu ‚Lichtmeditationen‘ und ‚Heilungsritualen‘. Gothics wandeln auf den Spuren der Hildegard von Bingen und politische Aktivistinnen wie Pussy Riot provozieren mit einem Punk-Gebet in orthodoxen Kathedralen. ‚Heilige Schriften‘ gelten nicht länger als exklusiv und exkludierend, ihr Wahrheitsanspruch wird relativiert. Sie gelten als ‚irgendwie‘ gleichwertig und ihre Inhalte werden frei interpretiert und beliebig kombiniert. Mohammed, Jesus und der Dalai Lama gelten nicht länger als ‚göttlich‘ oder ‚gottgesandt‘, sondern als gleichberechtigte Weisheitslehrer. ‚Auf-

12 Vgl. zur religionssoziologischen und religionswissenschaftlichen Diagnose der 7ransformation der Religion im Allgemeinen z. B. (Luckmann 1991; Hitzler 1999; Gross 2006; Beck 2008; Knoblauch 2009; Lüddeckens/Walthert 2010). Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts 103 erstehung‘ wird als ‚Inkarnation‘ gedeutet und ‚Inkarnation‘ als ,Auferstehung‘. Die Grenzen verschwimmen und die Konturen lösen sich auf. Für die Religionssoziologie – aber nicht nur für sie – bedeutet diese 7rans- formation der Religion, sich – sowohl was ihren Begriffsapparat als auch ihr Methodenarsenal betrifft – neu orientieren zu müssen. Augenscheinlich ist, um mit Max Weber zu sprechen, das Licht der großen Kulturprobleme wieder ein- mal weitergezogen. Jetzt gilt es auch für die Religionssoziologie, „ihren Stand- ort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens“ (Weber 1973: 214) zu blicken, um das neu Entste- hende in seiner Kulturbedeutung angemessen erkennen zu können. Die religiö- se Gegenwartskultur ist sowohl geprägt durch eine ‚grenzenlose‘ und unverbun- dene Vielfalt religiöser Erfahrungs- und Deutungsangebote als auch von neuen, netzwerkartigen religiösen Vergemeinschaftungsformen. Diese treten allerdings kaum mehr als Konkurrenten auf, sondern bilden einen Pool der Möglichkeiten, aus dem der ‚spätmoderne‘ Mensch das entnehmen kann, was ihm in seiner je- weiligen lebensgeschichtlichen Situation als angemessen erscheint. Schon John Stuart Mill war der Überzeugung, dass der Glaube an viele Götter den Menschen sehr viel näher liege als der Glaube an den einen Gott. Und schon Max Weber er- wartete, dass die „alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönli- cher Mächte“, wieder ihren Gräbern entsteigen, um ihren „ewigen Kampf“ unter- einander von neuem zu beginnen (Weber 1973: 605; vgl. dazu auch Graf 2004: 9). Die Herrschaft des Monotheismus scheint sich dem Ende zuzuneigen. Jetzt gilt es, diese neuen ‚Glaubenswirklichkeiten‘ zu verstehen und begrifÀich neu zu fassen.

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1. Einleitung Die großen Kirchen, aber auch die sogenannten „Sekten“ verzeichnen seit eini- gen Jahren sinkende Mitgliederzahlen. Von letzteren haben sich viele, die noch vor wenigen Jahrzehnten wissenschaftliche und massenmediale Aufmerksam- keit genossen, ganz aufgelöst. Verschwunden sind sie jedoch keineswegs. Viel- mehr hat sich die Form von Religion, die mit ihnen verbunden ist, gewandelt und korrespondiert mit dem bereits von 7önnies beobachteten Wandel sozialer Be- ziehungen, welche in gemeinschaftlicher Form ab- und in gesellschaftlicher zu- nehmen (7önnies 1931: 191). Religiöse Formen, die aus neuen religiösen Gemein- schaften stammen, sind in viele Bereiche diffundiert, die von gesellschaftlichem Handeln bestimmt sind und sich als „Àuide“ Religionen bezeichnen lassen (vgl. Lüddeckens/Walthert 2010; Walthert 2012). Diese Formen sind nicht auf eine Ge- meinschaft, die allumfassende Ansprüche stellt, ausgerichtet, sondern auf spe- zi¿sche Ziele. Bindung wird nur innerhalb einzelner Ausschnitte des sozialen Lebens und nur für eine begrenzte Zeit gefordert, und religiöse Angebote sind hier spezi¿sche Waren, die gegen Geld gekauft werden. Ein Untersuchungsfeld, an dem dies exemplarisch aufgezeigt werden kann, sind Alternative Heilverfah- ren1, 7herapie- und Wellnessangebote, die religiöse Referenzen aufweisen. An- gebote und Nachfragen wachsen auf dem Feld von Ayurveda, Yoga, Kinesiolo- gie oder 7raditioneller Chinesischer Medizin. Diese Angebote sind, so die 7hese dieses Beitrages, im Kontext weiterer Prozesse zu verstehen: zunächst im Kon- text der funktionalen Differenzierung in modernen Gesellschaften, welche auch eine Differenzierung von Medizin und Religion bedeutet, wie sie sich in der mo- dernen akademischen Medizin2 zeigt. Dann im Kontext der für die Medizin da-

1 Zur Bezeichnung nicht akademischer Heilverfahren ¿nden sich verschiedene 7ermini, am gebräuchlichsten sind die Begriffe Komplementärmedizin und Alternative Medizin, seltener Naturmedizin, Ganzheitliche oder Integrative Medizin. Dieses Feld lässt sich am ehesten über seine Semantik, wie z. B. die Rede von „Ganzheitlichkeit“ fassen (vgl. Andritzky 1999). 2 Gemeint ist hier die so genannte „Schulmedizin“, im Angloamerikanischen ist auch von „biomedicine“ die Rede.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 108 Dorothea Lüddeckens mit eng verbundenen „Medikalisierung“ (vgl. z. B. Conrad 2007), im Laufe derer die akademische Medizin eine beherrschende Stellung im Bereich der Kranken- behandlung einnahm und schließlich das 7hema Gesundheit über mehrere 7eil- systeme der Gesellschaft hinweg hohe Relevanz erlangte (vgl. hierzu z. B. Bauch 1996; Lüddeckens 2012). Im Folgenden soll zunächst geklärt werden, inwiefern Alternative Heilverfahren als religiös bezeichnet werden können und bestimmte Sinnangebote bieten.3 Anschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern sie zudem als „Religionshybride“ beschrieben werden könnten, womit auch deutlich wird, inwiefern sie im Kontext gesellschaftlicher Differenzierung stehen. Dabei werden v. a. die Klassische Homöopathie4 und Reiki als zwei sehr unterschiedli- che Fallbeispiele dienen.

2. Die religiösen Aspekte Alternativer Heilverfahren Als Religion lässt sich, folgt man Danièle Hervieu-Léger, ein Glaube bezeich- nen, der sich mit der Referenz auf eine kontinuierliche 7radition legitimiert und aus drei Elementen besteht:

“[…] the expression of believing, the memory of continuity, and the legitimizing reference to an authorized version of such memory, that is to say to a tradition” (Hervieu-Léger 2000: 97).

Dabei handelt es sich um einen Glauben an Überzeugungen, die nicht auf empiri- schem Nachweis beruhen, sondern darauf basieren, dass sie der individuellen Er- fahrung Kohärenz und Bedeutung verleihen (Hervieu-Léger 2000: 84; vgl. auch Hervieu-Léger 1999: 73ff). Die Konzeption einer Erinnerung an eine Kontinuität der Überlieferung steht in direktem Zusammenhang mit einer immer wieder erfolgenden Rückbesinnung auf die Vergangenheit, „which gives meaning to the present and contains the fu- ture“ (Hervieu-Léger 2000: 125). Vergangenheit und Gegenwart werden über das miteinander verbunden, was von Hervieu-Léger als „7radition“ bezeichnet wird, über Praktiken, Vorstellungen und materielle Gegenstände etc., die mit dem Ver- weis auf die Vergangenheit akzeptiert werden (vgl. Hervieu-Léger 2000: 83, 87).

3 Sowohl parallel als auch als Reaktion auf Differenzierungsprozesse sind auch Entdifferenzie- rungsprozesse zu beobachten (vgl. Lüddeckens 2012). 4 Für zahlreiche Anregungen und Hinweise im Hinblick auf dieses Fallbeispiel danke ich Simona P¿ster sehr. Alternative Heilverfahren als Religionshybride 109

2.1 Homöopathie Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer und bis in die Gegenwart die entscheidende Referenz innerhalb der Klassischen Homöopathie, schrieb 1842 in seiner Vorrede zur 6. AuÀage seines „Organon[s] der Heilkunst“: „[…] die Ho- möopathik [ist] eine ganz einfache, sich stets in ihren Grundsätzen so wie in ih- rem Verfahren gleichbleibende Heilkunst“ (2002: 13). Die Klassische Homöopathie versteht sich bis heute über Kontinuität. Selbst wenn Erneuerung vorgesehen ist, ist nicht innovative Weiterentwicklung das Gü- tekriterium, sondern die angemessene Übereinstimmung mit Hahnemann.5 „Un- veränderlichkeit“ gilt hier als Qualitätsmerkmal der Homöopathie, die ihr im Ge- gensatz zur naturwissenschaftlichen Medizin zukomme, so z. B. (Breu 2004: 24). Der „ächte“ Homöopath (Hahnemann 2002: 174) steht in Kontinuität zur Lehre und Praxis Hahnemanns, dessen Schriften der „Grundstein zur Verbreitung der Homöopathie“ sind (Breu 2004: 4). Auch die mit dieser Praxis verbundenen Überzeugungen lassen sich als reli- giöse beschreiben (vgl. auch Jeserich 2010). So ist für Hahnemann eine homöopa- thische Arznei eine immaterielle, „geistartige“, nur durch Erfahrung nachweisba- re Substanz als Mittel zu höherem Zweck des individuellen Daseins (Hahnemann 2002: 29, 66, 72; vgl. auch Breu 2004: 18). Auch der Glaube an die Wirksamkeit entsprechender Medikationen wird über Erfahrung, nicht über naturwissenschaft- liche Methoden hergestellt.6 Ebenso kann auch die die Krankheit überhaupt erst verursachende „geistartige (dynamische) Verstimmung“ (Hahnemann 2002: 12) der sogenannten „Lebenskraft“ nicht „gesehen“, ihre Wirkung aber erfahren werden (Hahnemann 2002: 56). „Die Erfahrung spricht für das homöopathische Prinzip.“ Eine wissenschaftliche Erklärung ist demnach „zweitrangig“ (Classen 2002: 79).7

5 Vgl. auch Breus Betonung, dass Hahnemanns Arzneimittellehrbuch heute noch unverändert Gültigkeit beanspruchen könne (vgl. Breu 2004: 13). Das heißt allerdings nicht, dass es sich bei der Homöopathie, oder auch nur der Klassischen Homöopathie, um ein einheitliches, sich nicht veränderndes System handeln würde. Vgl. zur Geschichte der Homöopathie: Jütte 1996: 179-221. 6 Bei der bis heute nicht mit naturwissenschaftlich anerkannten Verfahren erwiesenen Wirk- samkeit von Homöopathie muss bedacht werden, dass sich das Verständnis der Klassischen Homöopathie von Diagnose und Wirkung medizinischer Behandlungen nicht mit den Auf- fassungen deckt, welche den wissenschaftlichen Kontrollmethoden zugrundeliegen (vgl. Breu 2004: 15; vgl. hierzu: Frank 2004: 105f). 7 Auch Breu sieht in der mangelnden wissenschaftlichen Plausibilität der Homöopathie keine Probleme (vgl. Breu 2004: 8, 15, 18), da Plausibilität von ihm über Erfahrung hergestellt wird, welche höher als die wissenschaftlichen Erklärungsansätze einzuschätzen ist (vgl. Breu 2004: 11f). Interessant ist allerdings, dass in Übereinstimmung mit den z. B. von Hammer (2001) festgestellten Plausibilisierungsstrategien in der Esoterik gleichwohl von Breu die Überein- stimmung mit Wissenschaft behauptet wird bzw. Versuche unternommen werden, Aspekte 110 Dorothea Lüddeckens

2.2 Reiki Nahezu alle AutorInnen von Reiki-Handbüchern, gleich welcher Schule, stellen ihren Ausführungen zur 7heorie und Praxis des Reiki eine der Varianten8 des Gründungsmythos um Mikao Usui (1865-1926)9 voran und geben an, inwiefern sie selbst am „Ende“ der Kette der Überlieferungen (chain of memory) zu veror- ten sind (so z. B. Lübeck et. al. 2009). Zwar wird von Praktizierenden des Rei- ki eine Weiterentwicklung oft vorgesehen und erwünscht, wie in der Homöopa- thie aber gibt es auch im Reiki einen Diskurs, was als das „wahre Reiki“ gelten darf, und der Praxis des Gründers wird eine herausragende Stellung eingeräumt (Petter 2009a: 32ff). 7ypisch für die Praxis im Hinblick auf die Autorisation der Ausführenden ist das Lernen bei einer/m LehrerIn und die Weitergabe bestimm- ter „Grade“ durch „Einweihungen“. In diesen Ritualen werden den SchülerIn- nen Symbole und Mantren vermittelt und der „Energiekanal“, durch welchen die universelle Lebensenergie „Reiki“ Àießt, wird gereinigt bzw. geöffnet (vgl. z. B. Rand 2009: 64ff). Die religiöse Semantik zeigt sich insbesondere auch in der Rede von der „göttlichen Energie“ und den Anschlüssen v. a. an die Heilungswunder Jesu oder an buddhistische 7raditionen, wobei Reiki im Selbstverständnis oft als „spiri- tuell“ bezeichnet wird.10 Zunehmend ¿nden sich auch Versuche, Lehre, Praxis und vor allem Wirksamkeit naturwissenschaftlich zu bestätigen (vgl. Albane- se 1990: 186-190; vgl. z. B. Bronwen/Frans Stiene 2008: 209ff), die Legitimati- on verläuft jedoch in der emischen Literatur über den Anschluss an andere Sys- teme, wie die Chakrenlehre und vor allem über „Erfahrung“: So schreibt z. B. Dieckmann: „Die Erkenntnisse müssen zur Erfahrung werden“ (2008: 13). Und Rand begründet seine Ansicht, dass es sich bei „Reiki um eine besondere Heil- energie handelt“, damit, dass HeilerInnen hier andere „Schwingungen emp¿nden als bei den heilenden Energien, die sie bereits vorher anwendeten“ (Rand 2009: 66). 7ypisch für viele Reiki-Handbücher sind dementsprechend auch die zahlrei- chen „Erfahrungsberichte“. Mit diesen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass hinsichtlich der Art der Relevanz von 7radition, Glaube und Erfahrung Homöopathie und Reiki,

der Homöopathie mit naturwissenschaftlichen Konzepten zu erklären (vgl. Hammer 2004: 11, 17; vgl. auch Hahnemann 2002: 80). 8 Vgl. hierzu auch Dehn 2002. Für eine Auseinandersetzung aus emischer Perspektive vgl. Klatt 2001. 9 Für die Lebensdaten Usuis bestehen verschiedene Überlieferungen. 10 Vgl. z. B. Lübeck (2009: 105f), der das „Usui-System“ als „spirituellen Weg für jeden“ be- zeichnet. Alternative Heilverfahren als Religionshybride 111 wie viele andere Alternative Heilverfahren auch, im Sinne Hervieu-Légers, als „religiös“ bezeichnet werden können.

3. Sinnangebote Alternativer Heilverfahren Mit der zunehmenden naturwissenschaftlichen Orientierung der Medizin dis- tanzierte sie sich von religiösen Deutungs- und Erklärungsmustern, ohne neue über den unmittelbaren medizinischen Handlungszusammenhang hinauswei- sende Sinnangebote zu entwickeln. Dies steht im Kontext der funktionalen Dif- ferenzierung in modernen Gesellschaften. Krankheit wird in einer ausdifferen- zierten Gesellschaft zu einem ökonomischen 7hema für die Krankenkassen, zu einem pÀegerischen für die PÀegekräfte und zu einem medizinischen 7hema für die ÄrztInnen. Innerhalb der akademischen Medizin ist Krankheit ein auf soma- tische Symptome ausgerichteter Aspekt, der durch den differenzierten Blick und die spezi¿sche Interaktion zu behandeln ist. Diese spezi¿sche 7hematisierung deckt sich jedoch zum einen nicht mit der Perspektive der betroffenen PatientIn- nen, die sich als „Einheit“ sehen. Zum andern ist die Krankheit für die Kranken selbst eine sie unmittelbar körperlich betreffende und bedrohende Größe, die zu ihnen selbst gehört und die sie in der Regel zugleich bekämpfen möchten. In dieser Konstellation scheint der Bedarf an Sinngebung größer als in anderen Lebenskon- texten zu sein. Die akademische Medizin verweigert sich jedoch an dieser Stelle, sie verfügt über keine Sinnangebote, die über die unmittelbar medizinische Seite hinausgehen.11 Umfassenderer Sinn im Hinblick auf die eigene Erkrankung wird hingegen von Alternativen Heilverfahren angeboten.12

3.1 Homöopathie Die „Lebenskraft“, deren Störung nach homöopathischem Verständnis die Ursa- che von Krankheit darstellt, soll durch die Behandlung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Um dies zu ermöglichen, erheben HomöopathInnen individu- elle Krankheitsbilder, das heißt die Symptome der PatientInnen werden nicht in eine normierte Diagnose überführt, sondern als individuelle, einmalige Kombi- nationen dargestellt (Breu 2004: 22-24). Darauf basierend wird dann eine indivi- duelle 7herapie angestrebt (Breu 2004: 31ff). Diese Praxis, die im Idealfall unter

11 Die Fachrichtungen Psychiatrie und Psychosomatik sind hier in gewisser Weise Ausnahmen, aber von allen medizinischen Fachrichtungen auch am meisten durch die Geisteswissenschaften geprägt. 12 Wie für die Untersuchungen von Motivationen Alternative Heilverfahren genutzt werden können, zeigt Jeserich (2010). 112 Dorothea Lüddeckens anderem eine sehr detaillierte, zeitaufwändige Anamnese erfordert, bietet den PatientInnen neben der therapeutischen Zuwendung auch die Rückmeldung, als Person und in ihrem Kranksein als Individuum wahrgenommen zu werden. Die Wertschätzung des Individuums wird dementsprechend z. B. auch von Breu wie- derholt betont (Breu 2004: 22f, 29, 32). Eine homöopathische Behandlung dient der Krankenheilung, soll aber zu- gleich auch dem Erreichen des persönlichen Lebenszieles dienen (Breu 2004: 27, 32, 37). Letzteres mag vielen PatientInnen weniger deutlich werden, das Label, eine „ganzheitliche“ Methode zu sein, ist jedoch von entscheidender Bedeutung. „Ganzheitlichkeit“ wird in der Homöopathie u. a. über die umfassende Anamne- se hergestellt, indem nicht nur somatische Symptome erhoben werden, sondern auch Vorlieben und Abneigungen, Stimmungen, Kindheitserlebnisse und 7räume.

3.2 Reiki ReikilehrerInnen bieten vor allem über die Rede von der „universellen Lebensenergie“13, die oft auch als göttliche Energie bezeichnet wird, ein „ganz- heitliches“ Konzept von Sinnbezug an. Krankheiten werden auf Blockaden zu- rückgeführt, z. B. auf Ki, das in die falsche Richtung Àießt (vgl. z. B. Rand 2009: 62). Geheilt wird nicht nur der Körper, vielmehr kann es auch um die „Heilung der Vergangenheit“, die Stärkung von „Selbstannahme“ und „Selbstvertrauen“ der PatientInnen gehen (vgl. Dieckmann 2008: 12). Ray bezeichnet Reiki als „eine machtvolle und doch sanfte, eine subtile und doch sehr präzise Kunst und Wissenschaft zur Wiederherstellung erschöpfter Energie und zur Harmonisierung der natürlichen Energie in uns, wodurch Hei- lung, Wohlbe¿nden, Ganzheit, höheres Bewusstsein und letztendlich unsere Er- leuchtung gefördert werden“ (1997: 24).14 Dabei beschränkt sich der mit Reiki verbundene Sinn nicht nur auf die Hei- lung von Körper und Geist einzelner Menschen, 7iere oder PÀanzen, sondern letztlich geht es um mehr: Im „wechselseitigen Austausch liegt das höchste Ziel in der Verständigung zwischen Menschen, Nationen und den oben genannten Faktoren, die die Natur unseres geliebten Planeten betreffen“ (Petter 2009b: 7). Für die meisten EmpfängerInnen von Reiki dürften allerdings weniger diese Konzeptionen als vielmehr die religiöse Semantik den Anschluss an Sinnangebo- te ermöglichen. Als Heilmittel wird göttliche Energie angeboten, weißes Licht, das Selbstheilungskräfte stärkt und innere Blockaden löst und die Heilungsuchen-

13 Im Englischen „universal life-force energy“. 14 Für Ray, wie auch für andere Reiki-MeisterInnen lässt sich eine große Nähe zum New Age bzw. zur Esoterik feststellen (vgl. hier auch Albanese 1990: 186-190; 2000: 36-37). Alternative Heilverfahren als Religionshybride 113 den so nicht in einen Kontext von technischen Apparaten oder chemischen Arz- neien, sondern in den Kontext einer zeitlich und räumlich universalen positiven Lebenskraft stellt. Hinzu kommt, dass Reiki, je nach Variante, mit christlichen, buddhistischen oder auch Elementen aus der Esoterik verbunden werden kann.

4. Alternative Heilverfahren als „Religionshybride“ Problematisch scheint der Begriff „Religionshybride“ u. a. insofern, weil zu fra- gen wäre, welche religiösen 7raditionen, Bewegungen etc. denn nicht hybrid sein sollten. Wird, wie es im religionswissenschaftlichen Umfeld oft der Fall ist, Hyb- ridität als etwas verstanden, was sich aus Elementen verschiedener Herkunft zu- sammensetzt (ähnlich hier dem Synkretismusbegriff), dann sind Religionen im- mer hybride Gestalten. Dennoch soll im Folgenden über eine Differenzierung des Hybriditätsbegriffes der Versuch unternommen werden, bestimmte Beobachtun- gen im Feld Alternativer Heilverfahren fassen zu können.15 Prominent eingeführt wurde der Begriff der Hybridität im Hinblick auf Kul- turen von Bhabha, der allerdings von einem anderen Kontext her denkt, als es für das hier vorliegende Feld der Fall ist. Bhabha fragt: Wie „funktioniert [man] als Handelnder, wenn die eigene Möglichkeit zu handeln eingeschränkt ist, etwa weil man ausgeschlossen ist und unterdrückt wird?“ Und er antwortet selbst da- rauf: „Ich denke, selbst in dieser Position des Underdogs gibt es Möglichkeiten, die auferlegten kulturellen Autoritäten umzudrehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen. Dadurch werden die Symbole der Autorität hybridisiert und etwas Eigenes daraus gemacht. Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Ver- mischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet ist.“16 So wie „Bhabhas Wendungen des Begriffs der Hybridität […] als Denk¿gu- ren gelesen werden [können], über die sich die Widerständigkeit und die Hand- lungsfähigkeit der Kolonisierten gegenüber dem Anspruch der KolonisatorInnen auf kulturelle Autorität theoretisieren und diskursivieren lassen“ (Babka und Pos- selt 2012: 13f), so können sie dazu anregen, alternative Heilverfahren als wider- ständige Reaktion auf die akademische Medizin und den Anspruch von Autori- tät ihrer medizinischen Spezialisten zu verstehen.17

15 Hybridität ist häu¿g in den Kontext von Kulturtransfer bzw. Globalisierung gestellt worden. Auch dieser Aspekt ist für viele Alternative Heilverfahren in hohem Maße relevant, wäre jedoch eine eigene Studie wert (vgl. u. a. Frank/Stollberg 2004a). 16 Zitiert bei: Babka und Posselt 2012: 13. 17 Dabei ist das Verhältnis von Alternativen Heilverfahren und akademischer Medizin komplex: Zum einen ist auch Letztere zum 7eil als Reaktion auf Erstere zu verstehen: So wurde die 114 Dorothea Lüddeckens

Hier soll Folgendes mit dem Begriff der Hybridität verbunden werden: (1) Widerständigkeit gegen einen Anspruch auf Autorität, als Reaktion auf einge- schränkte Möglichkeiten, aus der (2) eine Praxis der „Selbstermächtigung“ ent- steht, die Raum zum Handeln schafft und (3) selektive Aneignungen aus dem herrschenden System vornimmt. Hinzu kommt ein Aspekt, den Koch, die eben- falls die postkoloniale Debatte aufgreift, einer „hybriden Welt“ zuspricht: (4) die umgesetzte Möglichkeit, zwischen „Parallelwelten“ zu wechseln (2006: 3). Bis in das 19. Jhd. hinein trat das rollenspezi¿sche „Sonderwissen“ von Ärz- ten nicht als einheitliches Wissen eines spezi¿schen Berufsstandes auf. So wähl- ten PatientInnen mit dem betreffenden Arzt auch ein spezi¿sches Wissen und da- mit eine spezi¿sche 7heorie und entsprechende Heilpraktiken. Dies hat sich mit der Professionalisierung und der damit einhergehenden Dominanz der ÄrztInnen gegenüber ihren PatientInnen geändert. Letztere sehen sich einem bis zu einem gewissen Grad vereinheitlichten System gegenüber, das v. a. über Anerkennung und Geld über regulierende Macht verfügt (vgl. Lachmund 1987: 354). Entschei- dungen gegen das System sind mit höheren Kosten im Hinblick auf Begründungs- zwänge und Finanzen verbunden. Und je dominanter die Rolle des Arztes in der De¿nition des/r Kranken als Krankem/r, der Krankheit und des Verhältnisses zwischen Arzt und PatientIn wurde, umso mehr wurde die Rolle des/r Kranken eine passive und untergeordnete (Jewson 1976: 627f).18 Mit alternativen Heilverfahren eröffnet sich für PatientInnen nicht nur eine Freiheit zu wählen, sondern auch die Freiheit sich gegen das herrschende Sys- tem zu entscheiden.19 Hier kann an den Begriff der „Selbstermächtigung“ angeschlossen wer- den20, der sich interessanterweise auch auf der semantischen emischen Ebene wieder¿ndet.21

Homöopathie in den USA im 19. Jhd. zum Auslöser der Konzeption einer medizinischen Or- thodoxie (vgl. Warner 1998). Zum anderen produziert das Angebot alternativer Heilverfahren zum 7eil auch erst den Bedarf. 18 Vgl. Lachmund 1987: 356. Der Patient wird abhängig von einem Wissen, das er nicht durch- schaut und das aufgrund seiner Abstraktheit auch gar nicht mehr an seine lebensweltlichen Orientierungen anschlussfähig ist. 19 Dies gilt auch dann, wenn, wie in der Schweiz, einige alternativmedizinische Heilverfahren Tua Verfassung in das Medizinsystem integriert sind. Die Wahrnehmung, dass es sich hierbei dennoch um Alternativen zur anerkannten naturwissenschaftlichen akademischen Medizin handelt, bleibt weiterhin bestehen. 20 Für die Anregung, den Begriff der Selbstermächtigung näher in den Fokus zu nehmen, dan- ke ich Winfried Gebhardt, Clemens Albrecht, Christian Geulen und Wolf-Andreas Liebert. Gebhardt et al. stellen den Begriff im Hinblick auf Religion u. a. in den Zusammenhang des Kombinierens verschiedener widersprüchlicher religiöser Vorstellungen und Praktiken aus unterschiedlichen 7raditionen 2005. 21 Vgl. z. B.: http://www.premtameer.at/ [Zugriff vom 22.10.2012]. Alternative Heilverfahren als Religionshybride 115

Auf der strukturellen Ebene zeigt sich, dass die Entscheidung, nicht den vom Kontext vermeintlich (oder tatsächlich) vorgegebenen Erwartungen zu entsprechen und sich einer alternativen Heilmethode zuzuwenden, als eine „selbstermächti- gende“ Entscheidung aufgefasst werden kann: selbstermächtigend gegenüber ei- ner Institution, einer gesellschaftlich vorgegebenen Handlungsanweisung, dem Anspruch ärztlicher Autorität und einem Nicht-Angebot von über die Empirie hi- nausweisenden Sinnbezügen der an den Naturwissenschaften orientierten Me- dizin. Mit dieser Entscheidung ist die Behauptung eigener Kompetenz und eige- nen Handlungsvermögens verbunden.22 Semantisch ¿ndet sich dies z. B. in dem Sprechen über „Selbstheilungskräfte“, die die Kompetenz zu Heilen vom ärztli- chen Spezialisten auf die PatientIn selbst überführt.23 Der eigene Körper ist da- mit nicht mehr (allein) von der ärztlichen Praxis abhängig, sondern verfügt selbst über Heilungsmacht. Auf der Seite der Praktizierenden wiederum kann über Al- ternative Heilverfahren Heilungsmacht erlangt werden, welche einigen Akteuren aufgrund der professionellen Grenzen sonst nicht zukäme.24 Auch in der Praxis Alternativer Heilverfahren ¿nden sich Ausbildungszer- ti¿kate, Rezeptblöcke mit Kopfzeilen und die Betonung von akademischen 7i- teln.25 Vor allem aber die Praxis, die Referenz der akademischen Medizin, die Naturwissenschaften, strategisch und selektiv als Legitimations¿gur zu über- nehmen, lässt sich als eine Hybridisierung von „Symbolen der Autorität“ deuten. Die Modelle des Verständnisses von Krankheit und Heilung von akademi- scher Medizin und alternativen Heilverfahren widersprechen sich grundlegend (vgl. z. B. Bock 1993). Demnach kann sowohl bei Praktizierenden wie auch Pa- tientInnen immer dann, wenn parallel akademische und Alternative Heilverfah-

22 Eine „aktive Kundenorientierung der Patienten“ kann z. B. für Patienten, die anschließend Ayurveda oder Akupunktur nutzen, für die Prozesse vor der Behandlung festgestellt werden (vgl. Frank/Stollberg 2004b). Zu Differenzieren sind hier aber die Phase der Behandlung und die Forderungen nach einer patientenorientierten Medizin bzw. der Bedarf von PatientInnen, tatsächlich in diese Prozesse einbezogen zu werden. 23 Unter der Überschrift „Healing Ourselves“ schrieb Ferguson 1980: “One major arena, health care, has already begun to experience wrenching change. […] Here we can see what happens when consumers begin to withdraw legitimacy from an authoritarian institution” (Ferguson 1980: 241). Hinzu kommt bei vielen Heilverfahren die Betonung verschiedener Varianten des „Positiven Denkens“: „Die Botschaft lautet: ‚Ich bin der ‚Boss‘. Ich kann meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen verändern“ (Dieckmann 2008: 12). 24 Die Praxis Alternativer Heilverfahren ist nicht an die ärztliche Profession gebunden. 25 Auffallend ist dies z. B. im Fall von „Dr.“ Usui und „Dr.“ Kinslow (Quantenheilung), die beide in der emischen Literatur fast durchgängig mit 7itel genannt werden. Auffällig ist dies zum einen, weil in beiden Fällen die Herkunft des 7itels höchst unklar ist, zum andern aber weil seine Nennung auch in unüblichen Kontexten fällt, wie z. B. auf Buchtitelseiten. 116 Dorothea Lüddeckens ren angewendet werden, von einer hybriden Praxis gesprochen werden.26 Auch die Anwendung und zum 7eil z. B. von Reiki-Meistern propagierte Kombinati- on mit anderen Alternativen Heilverfahren verweist auf eine hybride Praxis (so z. B. Lübeck 2000: 33).

5. Schlussfolgerungen Alternative Heilverfahren können als Religionshybride aufgefasst werden, die ge- sellschaftlichen Normen, Autoritäten und Institutionen mit der Figur der Selbster- mächtigung, hybridisierten Symbolen der Autorität und der Möglichkeit zwischen Parallelwelten zu wechseln, widerstehen. Zugleich sind diese Religionshybride Ausdruck zweier Entwicklungen: Zum einen ist die zunehmende Akzeptanz Alternativer Heilverfahren im Rahmen gesellschaftlicher Differenzierung zu verstehen, innerhalb derer die akademische Medizin auf weitergehende Sinnangebote und religiöse Referenzen verzichtet hat. Alternative Heilverfahren bieten dies, und ihre Akzeptanz kann zudem als Widerständigkeit gegenüber der wachsenden Macht und Autorität der akademischen Medizin begriffen werden. Zugleich sind sie nicht nur als Gegen- part, sondern vielmehr als 7eil der Medikalisierung zu verstehen, insofern ge- rade auch ihre zunehmende Akzeptanz die steigende gesellschaftliche Relevanz des 7hemas „Gesundheit“ deutlich macht. Zum andern stehen sie im Kontext eines Abnehmens gemeinschaftlicher und Zunehmens gesellschaftlicher Formen im religiösen Feld. Bull hat in einem Aufsatz von 1989 gezeigt, dass die beiden Prozesse des „transfer of supernatural claims from established churches to new religious movements, and the transfer of moral authority from institutions with a religious orientation to those with a medical orientation“ (1990: 259) bei religiösen Gemeinschaften wie den Sieben- ten 7ags Adventisten aufs engste miteinander verbunden sind. Bull meinte, es sei fruchtbar, weitere Neue religiöse Gemeinschaften im Licht der Medikalisierungs- hypothese zu untersuchen. Daran anschließend kann nun gesagt werden, dass die Zunahme gesellschaftlicher Formen im religiösen Feld ebenfalls mit der Beob- achtung einer zunehmenden Medikalisierung zusammengesehen werden sollte:

26 Jedenfalls dann, wenn auf Seite der Praktizierenden z. B. nicht nur aus ökonomischen Motiven beide Heilverfahren angeboten werden, sondern auch jeweils inhaltliche Zustimmung erfahren. Allerdings muss bedacht werden, dass Alternative Heilverfahren für PatientInnen in der Regel weniger über die damit aus Sicht der AnbieterInnen zusammenhängenden Konzepte als über die Praxis an Relevanz gewinnen. Alternative Heilverfahren als Religionshybride 117

In der steigenden Bedeutung Alternativer Heilverfahren mit religiösen Referen- zen zeigt sich die Verbindung dieser Entwicklungen.

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1. Einleitung Auch wenn der folgende Beitrag in einem Sammelband auftritt, der den 7itel „Re- ligionshybride“ trägt, so darf er keineswegs als eine Stütze der 7hese verstanden werden, die der 7itel impliziert. Während die ebenso unscharfe Charakterisierung der Religion als „Àuid“, wie sie von Lüddeckens und Walthert (2010) vorgeschlagen wurde, wenigstens die Unbestimmtheit der neueren sozialen Formen der Religion hervorhebt, wirkt der Begriff des Hybrids bzw. der Hybridität der Vorstellung, die ich mit dem Begriff der populären Religion vorgeschlagen (und in den Diskussi- onen der diesem Buch zugrundeliegenden Veranstaltung auch sehr entschieden vertreten) habe, geradezu diametral entgegen. In der kulturwissenschaftlichen De- batte bezeichnet er jene Mischformen in der Begegnung unterschiedlicher Kul- turen, die sich aus den unterschiedenen Elementen der verschiedenen Kulturen zusammensetzen (Brah und Coombes 2000; Spielmann 2010). Hybridität beruht auf einer differenztheoretischen Vorstellung, die die andere Kultur als so unter- schiedlich ansieht, wie die „xenologische“ Differenz zwischen dem Eigenen und dem ganz Anderen. Auch wenn man daran zweifeln kann, ob diese Vorstellung tatsächlich für die interkulturelle Kommunikation zutrifft, so macht der Begriff der Hybridität mit Blick auf die Betrachtung der eigenen Kultur eine doch sehr einseitige Unterstellung: Hybridität unterstellt nämlich a priori, dass etwas aus zwei getrennten Bereichen gebildet wird. Mit Blick auf Religion wird unterstellt, dass sie, im Verhältnis zur Gesellschaft, einen eigenständigen Bereich bildet, des- sen Abgegrenztheit erst die Voraussetzung des Denkens von Hybriden darstellt. Ich habe keine Zweifel, dass diese Vorstellung insbesondere von den reli- giösen Institutionen gerne geteilt wird, die sich auf Religion spezialisiert haben, denn damit ist ihr Jurisdiktionsbereich sozusagen soziologisch legitimiert. Es soll auch nicht bezweifelt werden, dass es soziologische 7heorien gibt, die diese Vorstellung stützen, wie etwa die (ebenso auf Differenzierung bauenden) 7heori- en Parsonscher oder Luhmannscher Prägung (Luhmann 2000). Gleichwohl muss

1 Ich danke Regine Herbrik für wichtige Hinweise.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 122 Hubert Knoblauch man betonen, dass gerade diese 7heorien nicht nur viele Probleme bereiten, wenn es um die Beschreibung und Erklärung von religiösen Phänomenen geht, die ge- rade jenen of¿ziell anerkannten Jurisdiktionsbereich bei weitem überschreiten. Vor allem aber neigen sie dazu, die Position der institutionellen gesellschaftlichen Akteure einzunehmen, die ein Interesse an der Einhaltung der Grenzen haben. Gegen solche differenzierungstheoretischen Vorstellungen, die Religion auf einen eigenen Systembereich oder wenigstens auf eine von der Gesellschaft unter- schiedene „Kultur“ eingrenzen wollen, wurden religionssoziologische Konzepte formuliert, die der Religion eine viel breitere gesellschaftliche Bedeutung einräu- men. So hat schon Weber (1986, 1904) in seiner klassischen Protestantismusthese gezeigt, wie religiöse Vorstellungen konstitutiv zur Entwicklung der Wirtschaft oder der Wissenschaft beitragen. Die gesellschaftliche Bedeutung des Religiö- sen wurde vielleicht in der radikalsten Weise von Berger und Luckmann (1963) formuliert. Sie vertreten die Auffassung, dass Religiöses nicht substantiell vom Nicht-religiösen geschieden werden kann. Vielmehr stellt die Religion lediglich eine besondere und nicht-universale Ausprägung allgemeinerer weltanschaulicher Orientierungen dar, die sie unter dem Begriff des Wissens subsumieren. Luck- mann (1967; 1991) hat diese Vorstellung auf den Begriff der „unsichtbaren Religi- on“ gebracht: Religion lasse sich in der gesamten Gesellschaft ¿nden, Gesellschaft ohne Religion sei gar nicht denkbar. Der aus seiner späteren Sicht etwas irrefüh- rende Begriff des Unsichtbaren2 soll keineswegs implizieren, Religion sei unter der OberÀäche der Gesellschaft verborgen; er weist lediglich darauf hin, dass sie nicht und nicht hauptsächlich die institutionell spezi¿schen Formen der („funk- tional differenzierten“) Religion annehmen muss: So können vermeintlich säku- lare, politische Ideologien des 19. Jahrhunderts, wie Luckmanns Lehrer Löwith (1953) zeigte, die Funktion von Heilsreligionen übernehmen und Charisma kann nicht nur in der Politik auftreten, sondern auch in der Wirtschaft (Biggart 1989). Während der Begriff der Unsichtbarkeit die Annahme nahelegt, dass der religiöse Charakter außerhalb des „Systems der Religion“ nicht als religiös er- kennbar sei, plädiere ich mit der 7hese der „populären Religion“ für die neue „Sichtbarkeit der Religion“ (Knoblauch 1997; Knoblauch 2009): Religion ist kei- neswegs auf den institutionellen Bereich als religiös ausgewiesene Institutionen beschränkt, sondern durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft – Medizin, Wis- senschaft, Kunst etc. Dabei soll unter Religion hier keineswegs nur eine (häu- ¿g fälschlicherweise mit Luckmanns Begriff verbundene) allgemeine und diffu- se Vorstellung der 7ranszendenz verstanden werden, die sich mehr oder weniger

2 Luckmann (2010) selbst betont, dass er die metaphorischen Assoziationen des „Unsichtbaren“ für irreführend hält. Religion, Spiritualität und die Popularität 123 mit allem deckt, was „Sinn“ hat. Die Religion, und auch die populäre Religion, beziehen sich auf diejenigen Aspekte des Sinns, die mit den großen 7ranszenden- zen (Luckmann 1991), mit dem Jenseits, dem Unerklärlichen und Kontingenten und (unter anderem) dem Göttlichen zu tun haben. Für seine soziale Bedeutung ist entscheidend, dass das Religiöse, gerade weil es sich durch 7ranszendenz aus- zeichnet, sozial sichtbar gemacht werden muss – und dies geschieht in Form von Kommunikation und ihren sozialen Institutionen. Deswegen ist auch jede Verän- derung der gesellschaftlichen Strukturen der Kommunikation (also genauer ge- sagt: der Institutionalisierungen kommunikativen Handelns3) mit einer Verände- rung der Religion verbunden. Die 7hese der populären Religion bezeichnet eine solche grundlegende Ver- änderung. Sie beinhaltet, dass die Form der Religion, die für die moderne Indus- triegesellschaft (und die von Anfang an mit ihr verbundenen Diagnosen der „Sä- kularisierung“) typisch war, einem ebenso starken Wandel unterworfen ist wie die mittlerweile „postindustrielle“, „postmoderne“, „postsoziale“ Gesellschaft selbst. Dabei geht es mir hier nicht hauptsächlich um eine Gesellschaftsdiagnose. Viel- mehr möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, was „das Populäre“ bedeutet, wenn man es mit Blick auf die gegenwärtigen empirischen Formen der Religion bestimmt. Weil ich allerdings der oben formulierten Auffassung bin, dass sich Religion gerade nicht von der Gesellschaft abtrennen lässt, kann die Beantwor- tung dieser Frage auch zur Analyse der Gesamtgesellschaft wesentlich beitragen. Im Hauptteil dieses Beitrags möchte ich mich auf die Herausstellung mehrerer Merkmale dessen konzentrieren, was ich als das Populäre der Religion bezeichne. Das Populäre soll also ein analytischer Begriff sein, den ich sowohl vor dem Hin- tergrund bestehender begrifÀich-theoretischer Vorschläge wie auch empirischer Entwicklungen (auf die ich der Kürze wegen mit anderen Publikationen verwei- sen muss) zu bestimmen suche, um abschließend die gesellschaftliche Umstel- lung der Religion von Sakralität auf 7ranszendenz wenigstens anzuschneiden.

2. Aspekte des Populären Obwohl das „Populäre“ vor allem mit den „Cultural Studies“ in den Mittelpunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt ist und obwohl (oder gerade weil) das Populäre auch ein beliebter Gegenstand intellektueller Diskurse ist, musste ich in meiner Arbeit an der „Populären Religion“ feststellen, dass der Begriff ei- ner entschiedenen Revision bedarf. Vor der Kontrastfolie der bekannteren bishe-

3 Das hier vorausgesetzte Konzept des „kommunikativen Handelns“ lehnt sich sowohl an Schütz und Luckmann wie auch an Habermas an; es ¿ndet sich erläutert etwa in Knoblauch (2012). 124 Hubert Knoblauch rigen theoretischen Konzepte möchte ich deswegen auf die neuen Aspekte des Populären hinweisen. Seine wesentliche Prägung hat der Begriff einmal aus der kritischen 7heo- rie erfahren, die das Populäre als ein Produkt der „Kulturindustrie“ ansieht: Die Anwendung der rationalen und entfremdenden Methoden auf die Produktion von sinnhaften Gütern der Kultur ist verbunden mit einer Standardisierung, VerÀa- chung und Irreführung (als „falschem Bewusstsein“) auf der Seite der Konsumen- ten, der auf der Seite der „bewusstseinsindustriellen“ Produzenten Gewinnmaxi- mierung und manipulative 7echniken gegenüberstehen (Kausch 1988). Religion und auch ihre „okkulten“ Formen (wie etwa die von Adorno (1957) untersuchte Astrologie) dienen hier lediglich als Verbrämung eines eigentlich von der ratio- nalisierten Industrie fremdgesteuerten Lebens. Dieses Konzept des Populären geht auch in die Cultural Studies ein, die dar- an jedoch wesentliche Änderungen vornehmen (Winter/Mikos 1999). Für die Cul- tural Studies ist Kultur ebenso 7eil der ökonomischen Produktion, trägt aber zur „Aufrechterhaltung der dominanten Ideologie“ (Fiske 2001: 28) bei. Allerdings werden diese Bedeutungen von den Rezipienten keineswegs einfach übernom- men, sondern sozusagen sozial ge¿ltert. Sie werden durch die in den jeweiligen sozialen Klassen bestehenden Praktiken auf je besondere Weise angeeignet. Die- se Praxis der Aneignung führt dazu, dass Formen des „populären Wissen“ ent- stehen, die zwar auf das „of¿zielle“ Wissen bezogen bleiben, gleichwohl einige andere Aspekte aufweisen: Sie neigen zum Skeptizismus, zur Erfahrungsgebun- denheit und zur Betonung körperlicher Performanz. Dass die neueren Arbeiten der Cultural Studiesnicht mehr nur soziale Klassen als Subjekte der Aneignungs- prozesse ansehen, sondern auch die Kreativität von Handelnden zulassen (War- neken 2006), ist eine Ausweitung, die für meine 7hese der Spiritualität von be- sonderer Bedeutung ist. In der 7at ist die von den Cultural Studies hervorgehobene Rolle der Öko- nomie für die Religion schon von Luckmann (1967) erkannt worden, der betont, dass die institutionelle Religion zunehmend einem „Marktmodell“ folge. Dabei ist die religionssoziologische 7hese der Marktorientierung stark von amerikani- schen „liberalen“ Positionen bestimmt (Knoblauch 2006). In der 7at scheint sich die Entwicklung eines freien religiösen Marktes zunächst in den USA abzuspielen. Doch über die global verteilten Medien der Kommunikation ¿ndet dieser Markt allmählich auch Zugang zu dem vergleichsweise geschlossenen religiösen Feld europäischer Gesellschaften. Denn im Grunde stellt der Siegeszug verschiedens- ter religiöser Bewegungen der Jugendreligionen der sechziger und siebziger Jah- re, des New Age und des Fundamentalismus seit den achtziger Jahren bis hin zu Religion, Spiritualität und die Popularität 125

Scientology in den neunziger Jahren des letzten Jhds. einen Import von markto- rientierten Religionen dar. Diese Marktorientierung hat seit einiger Zeit auch die deutschen Kirchen erreicht, die sich sowohl hinsichtlich ihres „Managements“ wie auch ihres „Marketings“ zunehmend an einem Markt orientieren. Zunehmend zeichnet sich auch bei den hiesigen Kirchenmitgliedern eine entsprechende Kun- denorientierung ab; im außerkirchlichen Bereich wird Religiöses und Spirituelles ohnehin schon seit langem in Form von Dienstleistungen angeboten (Hero 2008). Die Marktorientierung ist zweifellos ein zentrales Merkmal der populären Re- ligion. Wie die Cultural Studies ihren Blick hauptsächlich auf die Medien richten und wie auch im „liberalen“ Modell Märkte vor allem durch Informationen über „Angebote“ reguliert werden, sind auch Medien der Kommunikation für die Po- pularität entscheidend. In der 7at wurde auf die Rolle der Medien für die Religion schon lange hingewiesen. Folgt man etwa den amerikanischen Massenkommu- nikationsforschern Gerbner und Conolly (1978), so sind die Massenmedien eine „neue Religion“, ja „die neue Staatsreligion der Postmoderne“. Diese Bedeutung der Massenmedien wird im Begriff der „Electronic Church“ gefasst (Hoover 1988), die nicht nur die Repräsentation der Religion in diesen Medien, sondern vor al- lem die Nutzung der Medien für die Verbreitung religiöser Inhalte im Blick hat. Das Besondere des vorgeschlagenen Begriffes der populären Religion wird deutlich, wenn man sich klar darüber wird, dass die bisherigen 7heorien der Po- pulärreligion (ausführlich nutzt nur Possomai 2005 diesen Begriff4) ausschließ- lich an den Massenmedien orientiert sind. Dagegen zeichnet sich die populäre Religion insbesondere durch die prinzipielle Möglichkeit der individuellen Nut- zung interaktiver digitaler Medien aus, die eine besondere Form der Mediatisie- rung – auch der Mediatisierung der Religion (Hepp/Krönert 2009) – mit sich füh- ren: So monopolistisch die technische Infrastruktur der digitalen Medien durch die Vorherrschaft einiger Konzerne (Google, Microsoft, Facebook etc.) auch sein mag (Castells 2009), so werden doch die Inhalte und damit das von ihnen ver- mittelte – auch religiöse – Wissen relativ wenig vorstrukturiert und bleiben ver- gleichsweise frei zugänglich.5 Wie die Kommunikation für das Soziale konstitutiv ist, hat diese Umstellung der technischen Kommunikationsstrukturen und der damit verbundenen Formen der Wissensvermittlung massive Folgen für die Gesellschaft und natürlich auch

4 Der Begriff „popular“ wird in den angelsächsischen Arbeiten sonst weitgehend im Sinne des deutschen „volkstümlich“ bzw. „popular“ verwendet, das ich unten noch ansprechen werde. 5 Man sollte dabei beachten, dass der Zugang weltweit freisteht, so dass die Globalisierung der Inhalte – also die globale Zugänglichkeit des religiösen Wissens – ein Nebeneffekt dieser Um- stellung der Kommunikation von Massenmedien auf interaktive Kommunikationstechnologien ist. 126 Hubert Knoblauch die Religion. Sie führt, grob gesagt, dazu, dass die auf Religion spezialisierten Institutionen nicht mehr sozusagen „monopolartig“ das religiöse Wissen verwal- ten. Neben die hierzulande monopolistisch wirkenden kirchlichen Organisatio- nen und die von ihnen beeinÀussten – wie auch die besonders in der Bundesre- publik sehr bedeutenden, gegen sie eingestellten (Hannig 2010) – Massenmedien treten zunehmend netzwerkartig organisierte Strukturen. In dem Maße, in dem sich die kirchlichen Organisationen auf diese Strukturen einlassen, ergibt sich auch eine Form der „Inklusion“. Neben die Mitglieder lokal organisierter „Ge- meinden“ oder zentral verwalteter (und über Massenmedien informierter) „Kli- enten“ treten Nutzer, die sich über die besondere Weise des von ihnen selbst ver- walteten „Access“ de¿nieren (Hero 2008). Auch wenn die Adressierung der „Nutzer“ durch die technischen Systeme als eine Form der „Individualisierung“ erscheinen mag, so zeigt sich doch, dass diese Form der Kommunikation ebenso wie der mit ihr verbundene Marktme- chanismus vielmehr eine Form der „Subjektivität“ voraussetzt, die im mindesten Fall als Instanz des Wählens zwischen Angeboten, meistens jedoch als Quelle von Handlungs-„Kreativität“ und Erfahrungen auftritt. Dies zeigt sich sehr deutlich an der Subjektivierung religiöser 7hemen, die allgemein unter den Begriff der Spiritualität gefasst werden kann (Knoblauch 2009). Der empirische Beleg, dass die subjektive Erfahrung der 7ranszendenz zu einem zentralen Merkmal gegen- wärtiger Religiosität geworden ist, muss hier recht knapp erbracht werden. Im Rahmen einer internationalen Umfrage, in deren Rahmen 21.000 Menschen in 19 Ländern befragt wurden, wurden neben „theistischen“ religiösen Erfahrun- gen auch spirituelle „pantheistische“ Erfahrungen erhoben/abgefragt. In beiden Fällen zeigte sich eine enorme Anzahl positiver Antworten der Respondenten. Während weltweit durchschnittlich 75% eine theistische Erfahrung berichteten, waren es durchschnittlich fast 80%, die mindestens eine spirituelle „pantheisti- sche“ Erfahrung gemacht hatten. Die „Spiritualität“, die von vielen Säkularisie- rungstheoretikern als randständig angesehen wird, ist zu einem enorm verbrei- teten Phänomen geworden (Knoblauch/Graff 2009). Dieses Indiz für die Verbreitung der Spiritualität weist zugleich auf einen weiteren Aspekt ihrer Popularität hin. Popularität bezeichnet die (vermutlich be- sondere Milieus und Klassen übergreifende) gesellschaftsweite Verbreitung ei- ner Handlung, eines Wissens oder einer Objektivierung. Gerade mit Blick auf die Religion muss dabei auf die neue Struktur dieser gesellschaftlichen Verbrei- tung hingewiesen werden, die mit dem Begriff des „Populären“ bezeichnet wird. Denn der Begriff der populären Religion muss unterschieden werden von dem, was als volkstümliche oder populare Religion bezeichnet wird. Darunter verstehen Religion, Spiritualität und die Popularität 127

Ebertz und Schultheis (1986: 25) „spezi¿sche Kon¿gurationen religiöser Vorstel- lungen und Praktiken (…), die sich infolge einer Monopolisierung der De¿nition von und Verfügung über ,Heilsgüter‘ (…) bei den von der De¿nition von und Ver- fügung über diese Heilsgüter Ausgeschlossenen herausbilden. Der sich in diesem Wechselspiel von sozialer Schließung und Ausschließung bzw. Monopolisierung und Enteignung manifestierende Prozess repräsentiert somit die sozio-histori- sche Voraussetzung und Ausgangslage für die Entwicklung popularer Religiosi- tät.“ In Anlehnung an Bourdieu (der nicht nur Parallelen zu den Cultural Studies aufweist, sondern mittlerweile auch in der Europäischen Kulturwissenschaft zu den Klassikern zählt) betrachten sie die populare Religiosität als etwas, was sich gegen das absetzt, was durch die Amtskirche, den Klerus und religiöse Organi- sationen monopolisiert wurde, also als „heterodox“. Genau aber das unterschei- det die populare von der populären Religion. Die populäre Religion beschränkt sich nicht auf den Jurisdiktionsbereich religiöser Experten; vielmehr haben die- se keine besondere De¿nitionsmacht über die Inhalte der populären Religion. Es handelt sich dabei auch nicht hauptsächlich um populistische Formen eines aufs Populäre zugeschnittenen Expertenwissens. Vielmehr sind die Nicht-Experten selbst potentielle und häu¿g auch faktische Produzenten des religiösen Wissens. Da sich Wissen in der Kommunikation ausdrückt, zeigt sich auch Tualita- tiv, dass sich die lange durch die christlichen Organisationen beherrschte religi- öse Kommunikation entgrenzt und Formen der populären Kommunikation an- nimmt. Diese Entgrenzung drückt sich etwa in religiösen Veranstaltungen aus, die zunehmend das Format populärer Events annehmen (mit einer Fokussierung auf „subjektive“ Anliegen, wie etwa der verbreiteten Passagereligiosität bei Ge- burten, Hochzeiten oder Bestattungen). Sie drückt sich auch in der Übernahme populärer musikalischer, künstlerischer und architektonischer Stile aus, die so- zusagen übergangslos adaptiert werden. Die Entgrenzung beschränkt sich keineswegs nur auf die Formen der Kom- munikation, sondern erstreckt sich, wie angedeutet, auch auf ihre Inhalte (die oh- nehin von den Formen abhängen). Einen detaillierten Beleg dafür habe ich am Beispiel der Nahtoderfahrung vorgelegt – einer hierzulande lange christlich co- diert kommunizierten Erfahrung, die jedoch in den letzten Jahrzehnten vor allem in der Pop- und populären Kommunikation vermittelt wurde (Knoblauch 1999). Die Entgrenzung geht aber auch in die andere Richtung, also in die Kirchen hi- nein: So haben Gebhardt, Engelbrecht und Bochinger (2005) die Vorstellungen und Praktiken von Kirchenmitgliedern sowie kirchlichen Mitarbeitern und Pries- tern erfragt. Ihr erstaunliches Ergebnis besteht darin, dass sich gerade im Zent- 128 Hubert Knoblauch rum der organisierten Religion, in den christlichen Kerngemeinden, die verschie- densten nicht-christlichen spirituellen Vorstellungen und Praktiken ¿nden lassen. Einen Tuantitativen Hinweis dafür bietet wiederum die erwähnte Studie „Religionsmonitor“. Wenn wir nämlich die „theistischen“ und „pantheistischen“ 7ranszendenzerfahrungen mit der Frage korrelieren, ob sich die Betroffenen als „religiös“ ansehen, dann zeigt sich ein erstaunlicher Befund: Ein beträchtlicher 7eil der Befragten, die sich als „nicht religiös“ bezeichnen, gibt an, selbst „pan- theistische Erfahrungen“ gemacht zu haben, und sogar „Gotteserfahrungen“ wer- den noch von immerhin einer kleinen Minderheit der Nichtreligiösen angegeben (Knoblauch/Graff 2009). Diese für die populäre Religion typische Entgrenzung der Formen und In- halte religiöser Kommunikation darf nicht als „AuÀösung des religiösen Feldes“ (Bourdieu 1992) missverstanden werden. Vielmehr zeigt sich ihre Bedeutung an dem, was als „Grenzarbeit“ bezeichnet wird (Knoblauch 2009: 77ff). Während sich die Kommunikation entdifferenziert, bemühen sich gerade diejenigen Ins- titutionen, die auf Religion spezialisiert sind und entsprechende Anerkennung erfahren, im Gegenzug um eine „Markierung“ der populären Kommunikation. Die Maßnahmen, die etwa Papst Benedikt bei großen „Events“ vollzieht, zählen ebenso zu diesen „Markierungen“ wie manche vermeintlich „fundamentalisti- schen“ Ausdrucksformen.6 Diese „markierte“ Religiosität widerspricht der po- pulären Religion nicht, sondern reagiert auf sie. Auf einen wichtigen Aspekt des Populären weisen erstaunlicherweise sys- temtheoretische Autoren hin (Huck/Zorn 2007). Erstaunlich ist dies, weil die Systemtheorie ja darauf besteht, dass die gegenwärtige Gesellschaft durch die „funktionale Differenzierung“ ihrer Kommunikation geprägt ist. Deswegen wür- de man erwarten, dass das Populäre als Abweichung oder evolutionärer Restbe- stand gefasst wird oder, nach Stäheli (2007), als Kommunikation, die zwischen den Sub-Systemen – etwa der Religion und der Kunst – vermittelt. Huck und Zorn setzen sich aber mit ihrem Begriff des Populären über diese differenzierungsthe- oretische Begrenzung hinweg und bestimmen ihn als eine Scharnierstelle zwi- schen dem Menschen als (außersozialem) psychischem und organischem System auf der einen Seite und den funktional differenzierten Systembereichen auf der anderen Seite. Das Populäre ist nicht bezogen auf ein spezi¿sches Problem, es ist vielmehr eine auf das Subjekt bezogene gesellschaftliche Kommunikation. Da- mit benennen Huck und Zorn nicht nur einen der oben genannten neuen struk-

6 Zum Papst-Event vgl. Herbrik/Knoblauch (im Druck). Vermutlich lässt sich das vermeintlich islamische „Schleier-Problem“ durch das Konzept der Markierung sehr viel besser verstehen als durch das des „Fundamentalismus“. Religion, Spiritualität und die Popularität 129 turellen Aspekte der populären Kommunikation (den sie allerdings systemtheo- retisch überzeitlich verallgemeinern); sie folgen damit auch einer Diagnose, die man, in einer anderen 7erminologie, als Entgrenzung von Öffentlichkeit und Pri- vatheit (Imhof/Schulz 1998) oder gar als „Post-Privatheit“ bezeichnen kann: „An die Stelle der Öffentlichkeit tritt die Veröffentlichung der Person“ (Han 2012: 59). Mit Blick auf die Religion ist die veränderte Rolle der Öffentlichkeit schon von Casanova (1996) hervorgehoben worden. Auch wenn Casanova (1996) sicher- lich recht hat mit der Beobachtung, dass die religiösen Institutionen 7eil der Öf- fentlichkeit geworden sind (oder, wie man gerade für Deutschland hinzufügen muss, geblieben sind), so muss man jedoch seiner Diagnose nicht folgen, dass diese Entwicklung der 7hese der Privatisierung widerspreche. Vielmehr zeich- net sich die populäre Religion gerade dadurch aus, dass auch die vormals als „pri- vatisiert“ betrachteten religiösen Subjekte selbst handelnde Akteure in der Öf- fentlichkeit geworden sind. Sogar die subjektivsten religiösen Handlungen und Erfahrungen, die noch vor nicht allzu langer Zeit zum Privatesten gehörten und entsprechend tabuisiert waren, können heute leichthin öffentlich gemacht wer- den. Was die Einzelnen glauben, wie sie rituell handeln und was sie (auch) reli- giös erfahren, ist nicht nur vereinzelt als „Veröffentlichung“ verfügbar wie noch vor wenigen Jahren, sondern lässt sich leichthin millionenfach (aber nicht „mas- senkulturell“, wie Luckmann (1988) noch annahm) in der medialen Öffentlich- keit bestaunen: als 7ext, als Bild, als Video oder auch interaktiv in Blogs, Foren (Neumaier 2010) usw.

3. Schluss Die Entwicklungen, die sich an der populären Religion zeigen, betreffen nicht nur die Religion; sie sind Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der nicht nur die westlichen Gesellschaften unterworfen sind. Von dieser 7ransfor- mation ist „die Religion“ nicht nur berührt oder betroffen; als ein wesentlicher Aspekt der Gesellschaft verändert sich die Religion auch mit ihr. Und diese Ver- änderung betrifft nicht nur die gesellschaftlichen Erscheinungsformen, die unter dem 7itel der populären Religion nur umrissen sind. Sie betrifft auch das, was Religion ist: Wenn die Religion bisher auf einem Modell beruhte, das sie sowohl als soziale Institution wie auch als „Sakrales“ in einen Gegensatz zur Gesellschaft und zu dem alltäglichen sozialen Handeln stellte, dann scheint sich jetzt ein Mo- dell durchzusetzen, das Religion in einer Weise beschreibt, die vom Begriff der Spiritualität (derzeit!) offenbar gut gefasst wird: als transzendierender Verweis auf das Andere der Gesellschaft, das ebenso wenig von den Handlungen abge- 130 Hubert Knoblauch koppelt und getrennt ist wie unsere mediatisierte Kommunikation mit potentiell allen Gesellschaftsmitgliedern.7

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7 Es sollte betont werden, dass hier 7ranszendenz nicht von Immanenz kategorial geschieden wird. Für eine ausführlichere Darlegung dieses Begriffes der 7ranszendenz vgl. Knoblauch (2009). Religion, Spiritualität und die Popularität 131

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So leicht und geläu¿g die Anwendung des Begriffes der „symbolischen Orte“ er- scheint – im Spezialfall des Projektes „Religionshybride“ sind Kirchen und Klöster, Burgen und Gutshäuser gemeint, allesamt historische Gebäude, deren Erhaltung aus unterschiedlichen Gründen für eine bestimmte Gruppe von unhinterfragba- rer Bedeutung ist –, umso schwieriger ist es zu bestimmen, was einen geographi- schen Ort zu einem symbolischen Ort macht. Im Grunde kann jeder geographi- sche Ort ein symbolischer Ort sein. Jeder beliebige geographische Ort kann mit einem Überschuss an Bedeutung, die sich nicht allein aus seinen physikalischen, natürlichen oder architektonischen Eigenschaften erschließt, aufgeladen werden. So können im Fall des agrarisch geprägten Bundeslandes Mecklenburg-Vorpom- mern die leer stehenden Gebäude einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenos- senschaft (LPG) sowohl für den Machtmissbrauch und die Misswirtschaft der DDR als auch für volle Beschäftigung und Versorgung im ländlichen Raum und für den einstigen Zusammenhalt einer dörÀichen Gemeinschaft stehen, oder es können eben nur landschaftliche SchandÀecken sein, die es jenseits jeder Gefühls- regung möglichst rasch zu beseitigen gilt. Sicher ist nur, dass die Symbolkraft ei- nes Ortes immer die Sinngebung trägt, die ihm verliehen wird. Die Erfassung und 7ypologisierung symbolischer Orte sind die Kernanliegen der so genannten „Geographie des Imaginären“, die insbesondere in Frankreich, in Kanada und in der Schweiz von Geographen wie Mario Bédard, Bernard De- barbieux, Jér{me Monnet oder Jean-Luc Piveteau vorangetrieben wird. Zur Über- tragung auf geographische Orte liegt ihr die 7heorie des gesellschaftlich Imagi- nären des Philosophen Cornelius Castoriadis zugrunde. Dieser 7heorie zufolge ist das Imaginäre „die symbolische Matrix, innerhalb welcher sich eine Gemein- schaft bildet, dank welcher diese sich schließlich selbst vorstellen kann und sich ihrem Schicksal ergibt“ (Bédard 2008: 527).1 Der Hauptgrund, sich mit der Be-

1 Diese symbolische Matrix entspricht nach Castoriadis der Summe der imaginären Vorstel- lungen, die den Mitgliedern einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, um in einem ständigen kreativen Prozess eine symbolische Ordnung kollektiv neu zu erschaffen (Castoriadis 1984).

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 136 Arnaud Liszka deutung von symbolischen Orten in einer posttraditionalen Gesellschaft im Spie- gel der Erkenntnisse der Geographie der Imaginären zu beschäftigen, ist, dass ihre Vertreter die Auswirkung auf Orte als gegenseitige Prozesse der Säkulari- sierung und der „Wiederverzauberung“ (Maffesoli) berücksichtigen. Dabei gelan- gen sie zu dem Ergebnis, dass bestimmte Orte sich der „Entzauberung der Welt“ entziehen. In diesem theoretischen Rahmen, der von einer Doppelseitigkeit des geographischen Raumes als zugleich physikalischen und symbolischen Raumes ausgeht, ¿ndet ein Anschluss an das Verständnis von „heiligen Orten“ des Reli- gionswissenschaftlers Mircea Eliade statt.

1. Typologie der symbolischen Orte Eine Grundannahme der „Geographie des Imaginären“ ist, dass, obwohl jeder geographische Ort prinzipiell ein symbolischer Ort ist, bestimmte Orte dennoch „symbolischer als andere“ (Monnet 1998) sind. Das heißt, dass die auf einen Ort übertragene symbolische Kraft eine unterschiedlich starke Wirkung je nach Ort selbst besitzt. Diese Hierarchisierung der Orte liegt im Grad ihrer sozialen An- erkennung als Symbole und in der Größe des Kollektivs, für das der Ort bildend und identitätsstiftend wirkt. Vor allem historischen, meist denkmalgeschützten Gebäuden wird der Status eines symbolischen Ortes zugesprochen, da sie als kol- lektives Gedächtnis der Gesellschaft bzw. einer Gemeinschaft fungieren. Solche Orte stellen nicht nur die Frage nach ihrer sozialen Konstruktion als symbolischem Ort, sondern auch die Frage nach der möglichen Dekonstruktion ihrer Symbolge- halte. Einerseits ist ihre symbolische Bedeutung mit einem selektiven Blick auf die Vergangenheit verbunden, also mit einer „Bewertung der Vergangenheit im Hinblick auf eine mögliche Zukunft. Andererseits unterliegt die Neuinterpretation von symbolischen Orten, wie es scheint, auch gewissen Grenzen, ist die Hegemo- nie von bestimmten kollektiven Interpretationen und symbolischen Gehalten nur sehr schwer zu brechen und zu revidieren“ (Monnet 1998). Auf dieser Grundlage systematisiert Mario Bédard die verschiedenen De¿nitionen von Orten, die über die Grenzen der Geographie hinaus auch in der Geschichtswissenschaft und in der Anthropologie zu ¿nden sind, zu einer symbolischen Landkarte. Er erstellt eine 7opologie der Orte, die die jeweiligen Arten von Orten mit einer bestimmten sozialen Funktion versieht, und greift dabei insbesondere auf die Unterscheidung

Der Begriff wurde insbesondere in der Geschichtswissenschaft von Georges Duby (Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus 1986) und JacTues Le Goff (Phantasie und Realität des Mittelalters 1990) benutzt, um die Vorstellungswelten des Mittelalters zu erforschen. Heimweh nach einer besseren Welt 137 zwischen „Orten“ und „Nicht-Orten“ des Anthropologen Marc Augé und auf das Konzept des „Erinnerungsorts“2 des Historikers Pierre Nora zurück. Marc Augé de¿niert anthropologische Orte als Orte, die gleichzeitig identi- tätsbildend, beziehungsstiftend und gedächtnistragend sind. Es sind geographische Orte, an denen sich Kollektive in der Suche „nach den Spuren der unterirdischen oder himmlischen Mächte, der Ahnen oder Geister“ (Augé 1994: 51), die diese Orte bevölkern und beleben, zusammenschließen. Ihnen gegenüber stehen die Nicht-Orte, die nur eine soziale Funktion erfüllen und lediglich auf diese Funktion verweisen, wie beispielsweise ein Einkaufszentrum oder eine Autobahnraststätte. Menschen betreten Nicht-Orte nur als einsame Nutzer ihrer vertraglich geregelten Funktion. Nicht-Orte bieten gleichzeitig Freiheit und Einsamkeit und stiften statt der Erfahrung der 7eilnahme an einem Kollektiv die Erfahrung kollektiver einsa- mer Individualität. Anthropologische Orte und Nicht-Orte sind also zwei gegen- sätzliche Idealtypen, zwischen denen geographische Orte stehen. Auch histori- sche Gebäude stehen in der Spannung zwischen Orten und Nicht-Orten. So wird im Rahmen seiner Funktionalisierung zum historischen Ort durch Musealisie- rung und Inszenierung von Geschichte ein anthropologischer Ort zum Nicht-Ort. Eine solche Spannung zwischen Ort und Nicht-Ort bezogen auf das Nach- erleben der Geschichte ist besonders deutlich in Mecklenburg-Vorpommern an den Orten, an denen so genannte Mittelalterfeste veranstaltet werden. Unter ih- nen bilden Groß Raden und Bäbelin in diesem Spannungsfeld die entgegengesetz- ten Pole im Umgang mit der Geschichte: In Groß Raden wird sich um eine mög- lichst exakte Wiederherstellung des Alltagslebens in einer slawischen Siedlung unter wissenschaftlicher Begleitung bemüht, während in Bäbelin ein unbestimm- tes Mittelalter passend zu der Möglichkeit der festlichen Vergemeinschaftung frei erfunden wird, ohne auf die historische Authentizität zu achten. In Groß Raden fanden Archäologen in den 1970er Jahren Überreste einer slawischen Siedlung des 9. und 10. Jahrhunderts mit 7empelanlage. Anhand der Ergebnisse der Aus- grabungen wurde die Siedlung in den 1980er Jahren als Archäologisches Frei- lichtmuseum wiederaufgebaut. Das Landesmuseum bietet neben den pädagogisch begleiteten Führungen für Schulklassen ein Jahresprogramm mit wissenschaftli- chen Vorträgen in den Räumen des modernen Museumsgebäudes sowie im Rah- men der experimentellen Archäologie so genannte Mittelaltermärkte mit Schau- stellern in historischen Gewändern auf dem Gelände der nachgebauten Siedlung. Zu Ostern 2012 fand ein solcher Markt zum 7hema „Handel, Handwerk, und Le-

2 Pierre Nora verwendet den Begriff „lieu de mémoire“ (Nora 1984-1992), lit. „Gedächtnisort“. Er wurde jedoch in der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem Begriff „Erinnerungsort“ übersetzt (Nora 2005). 138 Arnaud Liszka ben wie vor 1000 Jahren“ und zu P¿ngsten ein weiterer zum 7hema „Starker Re- cken und Handwerker im 7empelort“ statt. In Bäbelin dagegen ¿nden zwei Mal jährlich im Frühling und im Herbst Mittelalterfeste auf einer Festwiese auf dem weitläu¿gen privaten Grundstück des Hauptveranstalters statt. Hier ist eine aus Brettern gezimmerte Holzpalisade aufgestellt, auf welcher mit einer nachgebauten Steinschleuder geschossen wird und vor welcher sich Schausteller in Ritterverkleidung Schaukämpfe liefern. Au- ßerdem bieten eine Holzbühne und Holzstände als mittelalterlicher Marktplatz die räumliche Umrahmung eines zeitlich und geographisch unbestimmten Mit- telalters. Obwohl hier der historischen Authentizität keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet wird, hat sich gerade Bäbelin vor Groß Raden und den verschiedenen Burgen der Region, in denen Vereine ebenfalls Mittelalterfeste veranstalten3, die sich im benannten Spannungsfeld verorten lassen, zum „Mekka für alle Freunde des Mittelalters“4, beziehungsweise für die „gesamte Mittelaltergemeinde“5 von Brandenburg bis zu den Niederlanden entwickelt. Nicht-Orte haben im Rahmen der 7ypologie von Mario Bédard vor allem eine ideologische Funktion als Orte der Anpassung an die Gesellschaftsordnung. Orte haben dagegen drei mögliche Funktionen: 1) die Vermittlung von kollekti- vem Stolz, 2) die Bildung der kollektiven Identität über geteilte Weltanschauung und 3) die Sozialisation in einem Kollektiv. Als Vorstufe zu den symbolischen Or- ten gelten die niedrigen Orte bzw. die Zwischenorte. Sie sind vor allem Orte der Sozialisation und haben keine bestimmte bzw. nur eine schwach herausgebildete symbolische Bedeutung. Als symbolische Orte gelten die Orte des Stolzes und/ oder der Identität. Die höchste Stufe in dieser 7opologie bilden die von Bernard Debarbieux beschriebenen „hohen Orte“6, welche zugleich Orte des Stolzes, der

3 z. B. die Burgfeste in Burg Stargard (Stargarden Burgverein), in Neustadt-Glewe (Förderverein Burg Neustadt-Glewe), in Penzlin (Förderverein Alte Burg), in 7orgelow (Historische Werk- stätte 7orgelow) und in Wesenberg (Burgverein 1995 Wesenberg). 4 Diese Formulierung wurde der Fachzeitschrift „für erlebbare Geschichte“ Karfunkel von den Veranstaltern (Mittelalterhof „Wollmanufakt“) entnommen und wird regelmäßig zur eigenen Werbung für die Veranstaltungen in Bäbelin verwendet; siehe: http://www.wollmanufakt.de [Zugriff vom 10.12.2012]. 5 Die Formulierung ist der Internetseite des „Scott McGlencairn“ (www.mcglencairn.de [Zugriff vom 10.12.2012]) entnommen, der als „Herold“ bei den Mittelalterfesten u. a. in Bäbelin und Rühn regelmäßig auftritt. 6 Der schwer zu übersetzende Begriff „haut lieu“, lit. „hoher Ort“, ist aus dem Begriff „heilige Stätte“ hergeleitet und kann sowohl weiterhin in diesem religiösen Sinn als auch im säkularen Sinn von bedeutendem Ort ohne die religiöse Konnotation von sakralem Ort verwendet werden. Hohe Orte stehen im Gegensatz zu profanen niedrigen Orten. Die Höhe der jeweiligen Orte ist dabei eine Variable des geographischen Imaginären, das einen Ort unter den Bedingungen des historischen Wandels und gruppenspezi¿scher Wahrnehmungen in Verbindung mit kollektiv geteiltem Sinn, Werten und Praktiken stellt (Debarbieux1995c; Augustin et al. 2011). Heimweh nach einer besseren Welt 139

Identität und der Sozialisation sind. Allen voran gehören in dieser symbolischen Landkarte als Orte des Stolzes die Erinnerungsorte nach Pierre Nora. Das sind Orte, die für bestimmte Kollektive deshalb identitätsstiftend wirken, weil sich dort eine gegenwärtige affektive Beziehung zu einer vorgestellten gemeinsamen Vergangenheit zu einem Gemeinschaftsgedächtnis verdichtet. Erinnerungsorte sind allerdings nicht zwangsläu¿g geographische Orte, sondern können auch in der Gestalt von Mythen, historischen Personen und Ereignissen usw. vorkom- men. Das Konzept Noras ist an die 7heorie des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs angelehnt (Halbwachs 1985; 1991), die Geschichte und Ge- dächtnis als zwei grundverschiedene Arten des Bezuges auf Vergangenheit von- einander trennt. Geschichte ist für Halbwachs geschriebene Geschichte, eine ob- jektivierende und aufklärende Bezugnahme auf Ereignisse einer Vergangenheit, die in der Gegenwart nicht mehr wirkt. Sie „beginnt an dem Punkt, an dem die 7radition aufhört“ (Halbwachs 1991: 66). Gedächtnis bezieht sich hingegen auf die gelebte Geschichte eines Kollektivs und wird gruppenspezi¿sch in Prozes- sen der Kommunikation hergestellt. Das kollektive Gedächtnis beschreibt eine selektive Bezugnahme auf die Vergangenheit, die angesichts des Bedarfs nach Bildung und Aufrechterhaltung einer kollektiven Identität in der Gegenwart re- konstruktiv erfolgt. Erst die 7eilnahme an einem kollektiven Gedächtnis ermög- licht mittels der Aneignung einer symbolischen Ordnung die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv. Alle diese De¿nitionen von symbolischen Orten gehen von einer Dichoto- mie mit alltäglichen Orten aus und führen zu einem Verständnis der symboli- schen Orte als sakrale Orte im Sinne der Unterscheidung Durkheims zwischen profan und sakral. Sie stehen außerhalb der profanen, funktional ausdifferenzier- ten Alltagswelt und tragen über eine gemeinsam ritualisierte Praxis zur Bildung und Erhaltung der gemeinsamen Identität eines Kollektivs bei. Ihre Haupteigen- schaft besteht darin, von einem Kollektiv bewusst als Ort seiner Versammlung ausgewählt worden zu sein. Die kollektive Entscheidung für diesen einen Ort führt dazu, dass er in Verbindung zu bestimmten Werten gestellt wird, die aus den besonderen eigenen oder übertragenen Eigenschaften des Ortes voraussehbar sind. Bernard Debarbieux unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Idealtypen von symbolischen Orten, die im Zusammenhang mit einem bestimmten geogra- 140 Arnaud Liszka phischen Raum einen steigenden Grad an symbolischer Bedeutung besitzen: die Wahrzeichen-Orte7, die Gattungsorte8 und die singulären Orte.9 Diese Unterscheidung wird dadurch relativiert, dass Wahrzeichen- und Gat- tungsorte durch einen Prozess der Übertragung weiterer Sinngehalte symbolisch aufgeladen werden können.10 Dieser Prozess erfolgt insbesondere durch den Re- kurs auf ein besonderes, historisch belegtes oder teil-erfundenes Gründungsereig- nis. Wahrzeichen- und Gattungsorte erhalten für das Kollektiv, das seine Identi- tät über dieses Ereignis de¿niert, eine „historische oder legendäre Legitimität“ (Debarbieux 1995a: 18). Unabhängig davon, wie weit es aus der objektiven Ge- schichte oder eher einer Legende entspringt, wird dieses Ereignis aus der „histo- rischen Kontingenz“ (Debarbieux 1995b: 105) herausgenommen und in den „my- thischen Raum“ (Debarbieux 1995b: 108) des Kollektivs integriert.11 Der Verweis auf einen „mythischen Raum“ bildet den Abschluss der graduellen Verschärfung des Begriffes des „hoch gelegenen Ortes“ durch die Annäherung an das Konzept des heiligen Ortes nach Eliade. Ein heiliger Ort nach Eliade setzt allerdings voraus, dass er nicht von einem Kollektiv willkürlich ausgewählt wird, sondern sich selbst einem Kollektiv auf- zwingt, denn Menschen können ihren „heiligen Ort nicht frei wählen, sondern ihn nur suchen und mit Hilfe geheimnisvoller Zeichen ¿nden“ (Eliade 1998: 28).

7 Wahrzeichen-Orte stehen als Symbole für den geographischen Raum, der von einem Kol- lektiv beansprucht wird, beispielsweise der 7urm von Pisa für Italien oder der Eiffelturm für Frankreich. Sie werden nicht aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften, sondern aufgrund einer „spontanen Legitimität“ (Debarbieux 1995a: 18) als symbolische Orte ausgewählt. 8 Gattungsorte, wie beispielsweise Dorfkirchen, sind serienmäßig vorhanden und auf verschiedene geographische Räume verteilt. Sie weisen unabhängig von ihrer konkreten geographischen Ortung die gleichen Eigenschaften auf und besitzen somit eine geringe eigene symbolische Bedeutung. 9 Singuläre Orte dagegen besitzen eine hohe eigene symbolische Bedeutung. Das sind Orte, die eine herausragende natürliche oder architektonische singuläre Eigenschaft aufweisen oder auf ein besonderes Ereignis verweisen, beispielsweise Santiago de Compostela oder 7aizé. Gerade im Fall von 7aizé ist deutlich, dass eine starke Symbolkraft eines singulären Ortes nur auf ein bestimmtes Kollektiv und unabhängig davon wirken kann, ob die Mitglieder dieses Kollektivs Kenntnis von bzw. Bezug zu seiner genauen geographischen Verortung haben. 10 Bei Gattungsorten wird die eigene symbolische Bedeutung dadurch von den neuen Sinngehal- ten überlagert. Die symbolische AuÀadung eines Wahrzeichen- oder Gattungsortes erfolgt oft einerseits durch die AuÀadung mit Symbolen der Verwurzelung, vorzugsweise mit Symbolen wie Bäumen, PÀanzen oder Produkten der agrarischen Kultur, die den Anspruch des Kollektivs auf einen geographischen Raum unterstreichen; anderseits, indem Eigenschaften anderer Arten symbolischer Orte übertragen werden. 11 Der Verweis von Debarbieux auf einen „mythischen Raum“ bildet den Abschluss der graduellen Verschärfung des Begriffes des „haut lieu“ von sozial-sakral nach Durkheim zu religiös-sakral nach Eliade durch die Annäherung an das Konzept des „heiligen Raumes“. Ein heiliger Raum nach Eliade setzt allerdings voraus, dass er nicht von einem Kollektiv ausgewählt wird, sondern sich selbst einem Kollektiv aufzwingt (Eliade 2008). Heimweh nach einer besseren Welt 141

So lautet beispielsweise die Gründungslegende des Zisterzienserklosters zu Bad Doberan im 12. Jahrhundert:

„Nachdem das erste Kloster zerstört war, suchte Fürst Nikolaus von Rostock einen neuen Standort zur Klosterstiftung. Der Ort sollte durch den ersten während der Jagd erlegten Hirsch angezeigt werden. Der Fürst erlegte den Hirsch an hiesiger Stelle, den Mönchen erschien der sump¿ge Ort jedoch als ungeeignet. Da Àog ein Schwan aus dem Dickicht und schrie „dobr, dobr“ (slawisch = gut), welches die Mönche als himmlisches Zeichen deuteten und ihr Klos- ter nun doch hier bauten. „dobr“ Doberan (slawisch = guter Ort).“12

Als moderne Fassung einer solchen Gründungslegende13 kann die Geschichte des Umzugs einer ursprünglich aus Bayern stammenden alternativen Lebensgemein- schaft über die Schweiz in das Dorf Klein Jasedow gelten:

„Die Suche nach dem neuen Lebensort führte uns über einen Artikel im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ in die Gemeinde Pulow an der vorpommerschen Ostseeküste. Der Hinweis auf ein vom Erdboden verschwundenes Dorf […] faszinierte uns derart, daß wir beschlossen, der Gemeinde den Wiederaufbau vorzuschlagen. Wir […] wagten im Juni 1997 den Umzug in das halb verfallene DörÀein Klein Jasedow, das ebenfalls zur Gemeinde Pulow gehört. Inzwischen sind wir längst vollständig überzeugt, genau den richtigen Ort für uns gefunden zu haben“.14

Mit Hilfe von Zeichen, die ihnen geheimnisvoller vorkamen als das zufällige Fin- den eines Zeitschriftartikels im „Spiegel“, fanden auch der Initiator des Gemein- schaftsprojekts „7ollense Lebenspark“ das Schloss Alt-Rehse15 und ein Berliner

12 http://www.muenster-doberan.de/index.php?id=36 [Zugriff vom 10.12.2012]. 13 Die „Gründungslegende“ der Lebensgemeinschaft Klein Jasedow wird insbesondere durch den Dokumentar¿lm „Die Siedler – Am Arsch der Welt“ (2004; Erstausstrahlung am 18.8.2004 in der ARD) des Regisseurs Claus Strigel weiterverbreitet: „Once upon a time in Ostvorpommern: Im Windschatten der neuen deutschen Völkerwan- derung hat sich weit draußen im Osten ein Vakuum gebildet. Wer noch Pläne hatte in diesem Leben, der hat sich aus dem Staub gemacht. Verlassenes Land, Geisterstädte, wie geschaffen für einen Neuanfang. Klein Jasedow, Gemeinde Pulow, im äußersten Nordosten Deutschlands: 1996 ein Ort in AuÀösung. Durch stetigen Wegzug seit der Wende ging die Einwohnerzahl gegen Null. Der Verfall zur „Wüstung“ droht[e]. Eine 16-köp¿ge Lebensgemeinschaft aus dem Süden Deutschlands wird auf das bevorstehende Ende von Klein Jasedow aufmerksam. Einige der Ruinen werden gekauft, der Ort erwacht wieder zum Leben. Seitdem erlebt die Gemeinde eine erstaunliche Blüte: Die Siedler stampfen eine ganze Palette von Projekten aus dem Boden, neue Arbeitsplätze entstehen. Klein Jasedow und mit ihm die ganze Gemeinde Pulow wachsen, während der Rest des Landes schrumpft.“ http://www.siedler-¿lm.de/ueber_den_¿lm.html [Zugriff vom 10.12.2012]. 14 http://www.kleinjasedow-familie.de/history/index.html [Zugriff vom 10.12.2012]. 15 „Und so habe ich vor sieben Jahren begonnen, einen geeigneten Ort dafür zu ¿nden. Dass die richtigen Menschen, dass viele Menschen da mitmachen würden, das wusste ich sowieso, das war klar. Aber ich habe keine Menschen gesucht, sondern eigentlich nur einen Ort, der dafür geeignet ist, die Menschen anzuziehen. […] Wir haben dann Bundeswehrgelände, Klöster, Gutshäuser, alles Mögliche angesehen, und eines 7ages, das hat einige Zeit gedauert, wurde ich auf diesen Ort hier aufmerksam gemacht […] und ich bin hierher gefahren. Also es hieß, da 142 Arnaud Liszka

Regisseur das Gutshaus Klitschendorf, woraufhin er den Verein „Freie Republik Klitschendorf“ zur gemeinschaftlichen Wiederherstellung und kulturellen Nut- zung der Anlage gründete:

„In diesem [verfallenden] Zustand sah Familie Siebler die Anlage erstmals. Zunächst ein Schock. Und trotzdem: ‚Keiner traute es sich bei der Abfahrt auszusprechen‘, sagt Siebler. ‚Doch wir waren uns direkt einig: Das ist es‘, ergänzt seine Frau Anja. ‚Es ist schwer zu be- schreiben, aber die Atmosphäre dort packte uns. Die Ausstrahlung war unglaublich positiv. Es war, als würde das Haus mit uns kommunizieren, als würde es um Hilfe schreien“, versucht Harald Siebler seine Eindrücke in Worte zu fassen.“ (Richter 2012)

2. Räumliche Versuche der Wiederverzauberung Die Dichotomie von Nicht-Orten und Orten bzw. von profanen und sakralen Or- ten ist auch der Ausgangspunkt des Philosophen Michel Foucault, um zu zeigen, dass der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung es nicht vermocht hat, den geographischen Raum vollständig zu desakralisieren, sondern stets darauf angewiesen ist, besondere Orte entstehen zu lassen (Foucault 2001). Somit wirkt die vormoderne 7eilung zwischen sakralen und profanen Orten noch in die mo- derne Gesellschaft hinein. Allerdings sind die besonderen Orte, die dem Prozess der Desakralisierung der Welt widerstehen, an den Rand der modernen Gesell- schaft gedrängt. Auch für Pierre Nora ist die Vermehrung der Erinnerungsorte keine Widerlegung, sondern lediglich eine symptomatische Begleiterscheinung der Rationalisierung der Gesellschaft. Die Rede ist vom „Ende der Gedächtnis- gesellschaft“, in der Institutionen, darunter die Kirchen, „den geregelten Über- gang von der Vergangenheit in die Zukunft gewährleisteten oder angaben, was festzuhalten sei, um die Zukunft vorzubereiten“ (Nora 1990: 11). Erinnerungs- orte verweisen auf den Erfolg der Entzauberung. Sie sind die Überreste der Ge- dächtnisgesellschaft: „Bräuche ohne Brauchtum; Àüchtige Heiligtümer in einer Gesellschaft der Entheiligung; besondere Bindungen in einer Gesellschaft, die alle Besonderheiten schleift; faktische Differenzierungen in einer Gesellschaft, die aus Prinzip nivelliert; Erkennungszeichen und Merkmale einer Gruppenzu- gehörigkeit in einer Gesellschaft, die dazu tendiert, nur noch gleiche und identi- sche Individuen anzuerkennen“ (Nora 1990: 17).

kommst du nicht rein, das ist verschlossen, bewacht, gefährlich und ich bin trotzdem hierher gefahren und das 7or, das militärische 7or vorne, stand, ganz ungewöhnlich, wie ich später erfahren habe, sperrangelweit offen. Ich bin rein gefahren, habe mich umgesehen und habe gesagt, das ist der Ort.“ (Interview mit Bernhard Wallner im Schloss Alt Rehse / 7ollense Lebenspark am 5.5.2011). Heimweh nach einer besseren Welt 143

Im Gegensatz dazu hinterfragt die Geographie des Imaginären die Vermeh- rung der symbolischen Orte als Hinweis auf eine „Neu-Er¿ndung des Ortes“ (De- barbieux 1995c: 110) und zugleich als Anlass und als Rahmen für kollektive Erfah- rungen. Gemeinschaften mit „geringer Größe und starker Identität“ (Debarbieux 1995c: 110) nehmen die von ihnen ausgewählten Orte aus der profanen, funktio- nal ausdifferenzierten Welt heraus. In diesem Sinne de¿niert Jean-Luc Piveteau die Moderne in Bezug auf den geographischen Raum als die Überwindung der Segmentierung der Gesellschaft in lokalen 7erritorien mit eigener symbolischer Bedeutung. Die Säkularisierung erscheint als ein Prozess der Abkoppelung von Raum und Gedächtnis, insbesondere von Raum und religiösem Gedächtnis, der Zurückdrängung der „Sehnsucht“ (Piveteau 1995a: 118) nach sakralen Orten und schließlich der AuÀösung von sakralen Orten. Die Gegenwart ist aber durch die Gleichzeitigkeit dieses Prozesses mit einem Gegenprozess der Suche nach Verwur- zelung und Gedächtnis, der Wiederer¿ndung von Kulturerbe sowie von lokalen und regionalen Identitäten geprägt. Dies kann als „Versuch der Wiederverzaube- rung“ (Piveteau 1995a: 120) gedeutet werden. Debarbieux und Piveteau schließen dabei an Michel Maffesoli an, der mit dem Prozess der Bildung von posttraditi- onalen Gemeinschaften an von ihnen selbst erschaffenen neuen sakralen Orten16 die Bedeutung der Verwurzelung kollektiver Identitäten, auch von hoch Àüchti- gen Identitäten, an konkreten Orten verdeutlicht. Bedeutend sind für Maffesoli im Zeitalter des Raums nicht die fernen politischen Utopien, sondern die nahen locozentrischen Utopien. Das sind „kleine Utopien“, die an konkreten, affektiv stark besetzten und mit anderen geteilten Orten „gebastelt“ werden (Maffesoli 2004: 34). Sie sind Zeichen der zunehmenden Bedeutung einer „Kultur des Zu- sammengehörigkeitsgefühls“ (Maffesoli 2004: 35), die sich an bestimmten geo- graphischen Orten verdichtet. Diese konkreten Orte bilden jene Zwischenräume der modernen Gesellschaft, die sich der Rationalisierung und funktionalen Aus- differenzierung entziehen und auf eine Sättigung der Normalität und der Entzau- berung der Moderne hinweisen. Für Maffesoli ¿ndet in diesen Zwischenräumen eine Wiederverzauberung der Welt in der Form einer „archaischen Rückkehr“ (Maffesoli 2005: 13) der sakralen Orte und der Wiederentdeckung der „Geis- ter der Orte“ (Genius loci) statt. Darunter verbirgt sich nicht der übernatürliche Schutzgeist der antiken römischen Religion, sondern ein Produkt des kollektiven Gedächtnisses, eine Verkörperung dieses Gedächtnisses, die anthropomorphisch beschrieben und mit einem „Geist“ ausgestattet wird (Debarbieux 1993: 7). Mi-

16 Maffesoli überträgt den Begriff des „haut lieu“ auf die orgiastischen Orte der Großstädte, denn „es gibt immer was Sakrales“ an Orten. Auch an Orten der Underground-Kultur ist „das kollektive Gedächtnis […] tief verwurzelt“ (Maffesoli 2005: 11). 144 Arnaud Liszka chael Mayerfeld Bell spricht in diesem Zusammenhang von Geistern als sozialen Konstruktionen, die Erinnerungen nicht mehr anwesender Menschen anzeigen und Verweise auf vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren.17 Symbolische Orte im Verständnis von Mayerfeld Bell entstehen „als soziale Konstruktionen, die sich auf Handlungen körperlich nicht (mehr) an- wesender Personen beziehen“ (Stoetzer 2010: 99).

„We moderns, despite our mechanistic and rationalistic ethos, live in landscapes ¿lled with ghosts. 7he scenes we pass through each day are inhabited, possessed, by spirits we cannot see but whose presence we nevertheless experience. […] Although the cultural language of modernity usually prevents us from speaking about their presence, we constitute a place in large measure by the ghosts we sense inhabit and possess it. 7he meaning of a place, its genuis loci, depends upon the geniuses we locate there. […] Ghosts also help constitute the speci¿ci- ty of historical sites, of the places where we feel we belong and do not belong, of the boundar- ies of possession by which we assign ownership and nativeness. Ghosts of the living and dead alike, of both individual and collective spirits, of both other selves and our own selves, haunt the places of our lives.“ (Mayerfeld Bell 1997: 813)

Der Ort wird dabei Bruno Latour zufolge zum wichtigen, nicht-menschlichen Akteur eines hybriden Kollektivs aus menschlichen und nicht-menschlichen We- sen erhoben (Latour 1998). Gerade in diesem Fall wird eine Beziehung zwischen der symbolischen Bedeutung und dem Erscheinungsbild des Orts hergestellt, die spannungsgeladen wird, wenn sein Erscheinungsbild durch die menschlichen Akteure des Kollektivs als desolat wahrgenommen wird. Dies ist beispielswei- se in dem Dorf Rühn der Fall, wo die Gebäude eines ehemaligen Zisterzienser Nonnenklosters von 1950 bis 1990 als Jugendwerkhof dienten – eine Umschrei- bung für eine straf-ähnliche Anstalt zur kollektiven Umerziehung von angeblich schwererziehbaren Jugendlichen. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde der Jugendwerkhof aufgelöst. Die ehemaligen Klostergebäude blieben zunächst 15 Jahren leer und ¿ngen an zu zerfallen. 2006 boten sie die gespenstische Ku- lisse für die Dreharbeiten zum MDR-Dokumentar¿lm „Schlimmer als Knast“ über das traumatische Schicksal von Jugendlichen in DDR-Jugendwerkhöfen. Der Film fängt mit herbstlichen Aufnahmen der verlassenen und verwitterten Gebäu- des und der Begegnung mit einem ehemaligen Insassen an. Im Laufe des Films werden seine Erfahrungen auf dem Hintergrund weiterer Aufnahmen der baufäl- ligen Gebäude, inklusive der fensterlosen Arrestzellen, erzählt. 2005 wurde vor Ort ein Klosterverein gegründet, mit dem Ziel, die Gebäude zu sanieren und das

17 „We […] experience objects and places as having ghosts. We do so because we experience objects and places socially; we experience them as we do people. 7hrough ghosts, we re-encounter the aura of social life in the aura of place.“ (Mayerfeld Bell 1997: 826). Heimweh nach einer besseren Welt 145 kulturhistorische Erbe des seit der Reformation aufgelösten Nonnenklosters18 zu pÀegen. 2007 veranstaltete der Verein eine Feier anlässlich des 775-jährigen Ju- biläums der Klosteranlage mit Festprogramm. Seitdem erfolgt die Sanierung der Gebäude in kleinen Schritten, begleitet von der Veranstaltung zahlreicher Feste- vents, insbesondere der jährlich statt¿ndenden Kloster- und Adventsmärkte, die mittlerweile jeweils 5.000 Besucher auf die Anlage locken. Im ehemaligen Non- nenkloster fand zuletzt im Oktober 2012 unter Beteiligung von Mitgliedern der Landesregierung das Landeserntefest mit Festgottesdienst, Festumzug und Kon- zerten vor 24.000 Besuchern statt.

3. Profane und heilige Orte Sowohl Michel Foucault als auch die Vertreter der Geographie des Imaginären greifen auf ein Verständnis des geographischen Raumes als eines Tualitativ in- homogenen Raumes zurück, das für Mircea Eliade in religionswissenschaftlicher Perspektive von grundlegender Bedeutung für die Entstehung von Religion ist:

„Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält 7eile, die von den übrigen Tualitativ verschieden sind. […] Es gibt also einen heili- gen, d. h. ‚starken‘, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind. […] Weisen wir sofort da- rauf hin, dass die religiöse Erfahrung der Inhomogenität des Raums eine Urerfahrung dar- stellt, die wir einer ‚Weltgründung‘ gleichsetzen dürfen. Es handelt sich dabei nicht um the- oretische Spekulation, sondern um ein primäres religiöses Erlebnis, das aller ReÀexion über die Welt vorausgeht. Erst dieser im Raum entstandene Bruch ermöglicht die Konstituierung der Welt, denn erst er schafft den ‚festen Punkt‘, die Mittelachse, von der jede künftige Ori- entierung ausgeht. […] In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen, in dem keine Orientierung möglich ist, enthüllt die Hierophanie19 einen absoluten ‚festen Punkt‘, ein ‚Zentrum‘.“ (Eliade 1998: 23)

Eliade geht davon aus, dass die Erfahrung von heiligen Orten zwar vor allem die Erfahrung vormoderner „religiöser Menschen“ ist. Sie ist dennoch modernen „profanen Menschen“ noch zugänglich, weil es auch in einer säkularisierten Ge- sellschaft eine „profane Existenz im Reinzustand nicht gibt“ (Eliade 1998: 24). Gerade die anhaltende Wahrnehmung des geographischen Raumes als Tualitativ inhomogen zeigt: „Bis zu welchem Grade ein Mensch, der sich für ein profanes Leben entschieden hat, die Welt auch entsakralisiert haben mag – es wird ihm nie gelingen, das religiöse Verhalten ganz und gar abzulegen. […] Auch die in stärks-

18 Nach der Reformation wurde die Anlage bis 1756 zu einem evangelischen Damenstift, danach verlor sie ihre religiöse Nutzung. 19 Als „Hierophanie“ bezeichnet Eliade die Erscheinung des Heiligen im Profanen. 146 Arnaud Liszka tem Maße entsakralisierte Existenz [weist] noch Spuren einer religiösen Wertung auf“ (ebd.). Dabei ist die Erfahrung der Inhomogenität des geographischen Rau- mes für Eliade nicht ausschließlich eine Erfahrung von explizit religiösen Orten bzw. von Orten, die als heilig in einem religiösen Sinn bezeichnet werden. Im Ge- genteil ist „das Urerlebnis des heiligen Raumes“ eine Erfahrung die sich graduell „an den 7empel, die Stadt und das Haus knüpfen“ lässt (Eliade 1998: 54). Eliade geht sogar so weit, von den „heiligen Stätten [des] privaten Universums“ (Eliade 1998: 24) zu reden: „die Heimat, die Landschaft der ersten Liebe, eine bestimm- te Straße oder Ecke in der ersten fremdem Stadt, die man in der Jugend besucht hat. Alle diese Orte behalten selbst für den völlig unreligiösen Menschen eine au- ßergewöhnliche, ,einzigartige‘ Bedeutung: sie sind die ‚heiligen Stätten‘ seines privaten Universums, so, als habe sich diesem unreligiösen Menschen eine Rea- lität offenbart, die anderer Art ist als die Realität seiner Alltagsexistenz“ (Eliade 1998: 24). Daraufhin stellt Eliade die Frage, „in welchem Maße“ in einer säkula- risierten Gesellschaft „das ‚Profane‘ selbst ‚heilig‘ werden“ und „den Ausgangs- punkt für eine neue Art von Religion bilden“ kann (Eliade 1998: 9). Grundlegend ist hier die Unterscheidung zwischen heilig und religiös im Sinne von explizit religiös bzw. kirchlich. Ein kirchlicher „Sakralbau“ wie eine Kirche muss nicht zwangsläu¿g ein heiliger Ort sein bzw. als ein solcher Ort wahrgenommen werden. Gerade der Protestantismus stützt sich darauf, dass Kirchgebäude religiöse, aber keine sakralen Räume darstellen, dass sie zwar funktional, aber nicht ontologisch religiöse Räume sind, also dass sie angesichts der religiösen Grunderfahrung der Heiligkeit eines Ortes keine religiösen Orte sind.20 In umgekehrter Richtung mögen funktional profane Räume ontologisch als religiöse Räume anerkannt werden, jenseits einer kirchlichen oder sonstigen explizit religiösen Nutzung. Eliade verknüpft die Unterscheidung zwischen on- tologisch heiligen und profanen Orten bzw. die Aufteilung des geographischen Raumes zwischen bedeutungsvollen Orten und bedeutungslosen Nicht-Orten mit Eigenschaften, die einen heiligen Ort auszeichnen. Demnach hängt die Heilig- keit eines Ortes davon ab, ob er diese Eigenschaften in der Wahrnehmung derer aufweist, die auf der Suche nach einem heiligen Ort sind. Ein erstes Kriterium für die Bestimmung eines heiligen Orts ist für Eliade das Vorhandensein einer Schwelle, die die Grenze zwischen einer profanen und einer heiligen Welt markiert und zugleich ermöglicht, sie zu überTueren. Ein wei- teres Kriterium ist die Anwesenheit von Zeichen der Heiligkeit, durchaus in der

20 Auch im Katholizismus sind seit dem zweiten Vatikanischen Konzil Kirchen keine heiligen Orte per se, sondern sie werden geweiht, als heilig erklärt, weil sie funktional dazu bestimmt sind, als Orte des Gottesdienstes zu dienen. Heimweh nach einer besseren Welt 147 typischen Form einer Erzählung über das Suchen und Finden des Ortes. Bereits dieses Kriterium liegt im Bereich der Heiligung des bewohnten „kleinen Uni- versums“ (Eliade 1998: 60), die vor allem durch symbolische Verweise an einem „Zentrum der Welt“ (Eliade 1998: 36) vollzogen wird. Dieses Zentrum der Welt ist sowohl ein Zentrum zwischen verschiedenen Weltebenen wie Hölle, Erde und Himmel als auch das Zentrum des „vertrauten Raumes“ (Eliade 1998: 42) eines Menschen oder eines Kollektivs, unabhängig davon wie groß dieser geographi- sche Raum ist. Es geht bei der Heiligung des „kleinen Universums“ darum, die „Erschaffung der Welt […], in der man leben will“ (Eliade 1998: 48) selbst zu übernehmen und es nicht dem Zufall oder dem Chaos zu überlassen, und anschlie- ßend die „Verantwortung für [die] Erhaltung und Erneuerung“ (Eliade 1998: 52) dieser „unsere[r] Welt“ (Eliade 1998: 41) auf sich zu nehmen, sie gegen die An- griffe des Chaos zu verteidigen und ihrer immer drohenden „AuÀösung“ (Eliade 1998: 46) entgegenzuwirken. Der heilige Ort liegt im Zentrum und ermöglicht die „Orientierung“ in dieser „unsere[r] Welt“. Mit dem Zerfall des heiligen Orts verfällt auch diese heimische Welt dem Chaos. Eliades Verständnis von heiligen Orten eröffnet jenseits von traditionell re- ligiösen und religiös genutzten Orten die Möglichkeit, Spuren dieses religiösen Grundverhaltens auch in der säkularisierten Gegenwart zu entdecken. Die Spu- ren sind gerade da vorzu¿nden, wo Kollektive sich, wenn auch nur punktuell, zusammenschließen, um die Verantwortung für das Schicksal ihres „vertrauten Raums“ und für die Erhaltung des Ortes, der in ihrer geographischen Mitte steht oder ihr Zentrum symbolisiert, zu übernehmen. Gegenwärtig engagieren sich im hoch säkularisierten und bekennend athe- istisch dominierten Ostdeutschland21 über 1000 Vereine für die Erhaltung von Kirchgebäuden – an der Seite der geschrumpften zuständigen Kirchgemeinden, die sie allein nicht mehr baulich erhalten können. Allein im Bundesland Mecklen- burg-Vorpommern sind es über 220 Vereine, die sich für die Erhaltung – und die meisten auch für die eigene Nutzung – von Kirchgebäuden, vor allem von Dorf- kirchen, engagieren. Werden diese Vereine auf einer Landkarte markiert, so ergibt sich ein Muster, das erst mit einer gewissen Regelmäßigkeit Àächendeckend wird, wenn zusätzlich zu den zahlreichen Kirchbaufördervereinen weitere frei gewählte Kollektive ins Blickfeld kommen. Diese Vereine, Gemeinschaftsprojekte und in- tentionalen alternativen Gemeinschaften beschäftigen sich mit der Erhaltung und Nutzung weiterer, funktional nicht-religiöser Gebäude wie der für die regionale

21 Laut einer vergleichenden Studie der Universität Chicago ist Ostdeutschland vor der 7sche- chischen Republik das weltweit am stärksten atheistisch geprägte Land: 52% der Befragten bekennen sich als Atheisten; 46% geben an, nie an einen Gott, auch nicht an einen „persönlichen Gott“ geglaubt zu haben (Smith 2012). 148 Arnaud Liszka

Kulturlandschaft typischen Gutshäuser. Inwiefern Gutshäuser wie allerdings auch Kirchgebäude, wenn sie als Bestandteil des Kulturerbes angesehen werden, als Zentrum zwischen verschiedenen Weltebenen dienen, ist fraglich. Dennoch eröff- nen sie zumindest ansatzweise den Zugang zu einer weiteren religiösen Grunder- fahrung: der Erfahrung einer Tualitativen Unterscheidung zwischen einer exemp- larischen, mythischen „Zeit des Ursprungs“ (Eliade 1998: 76), die durch Feste in der Gegenwart reaktualisiert wird, und der profanen Zeit der historischen Ereig- nisse. Auch die übrigen Kriterien, die einen heiligen von einem profanen Ort un- terscheiden, scheinen in der entzauberten Gegenwart noch relevant zu sein (siehe Schröder, i. d. Bd.). Selbst in einem tief säkularisierten, „entheiligten“ Bundes- land wie Mecklenburg-Vorpommern ist es möglich, eine symbolische Landkarte zu entwerfen, auf welcher zahlreiche Orte eingezeichnet werden, die den onto- logischen Status von „Nicht-Orten“ überschreiten und für bestimmte Kollekti- ve zu ihren „hoch gelegenen Orten“ werden. Aus „Heimweh“ (Eliade 1998: 60) nach einer idealen Welt abseits der historischen Kontingenz wollen sie zumindest Àüchtig eine kleine vertraute „unsere Welt“ vor Ort erschaffen und verteidigen. Sie ermöglichen somit auch jenseits institutionalisierter Religion das kollektive Erleben einer religiösen Grunderfahrung – oder mit Foucault anders formuliert: einer kollektiven Erfahrung der Wirksamkeit der Leidenschaften und 7räume, die zur Erschaffung Tualitativ andersartiger Räume antreiben. Diese Entstehung solcher Räume ¿ndet Foucault zufolge irgendwo zwischen der Er¿ndung eines orgiastischen Raums der Illusion, wie eines Jahrmarkts mit seiner zyklisch wie- derkehrenden festlichen Zeit, und der Gestaltung eines straff organisierten Raums des Ausgleichs, wie die jesuitischen und puritanischen Siedlungen im Amerika des 17. Jahrhunderts, die versuchten, der unvollkommenen Gesellschaft dieser Zeit perfekte Gemeinschaften gegenüberzustellen, statt. Auch die gegenwärti- gen Versuche, an besonderen symbolischen Orten in Mecklenburg-Vorpommern den geographischen Raum Tualitativ aufzuwerten, be¿nden sich in einer solchen Spaltung zwischen der Wiederer¿ndung von Festen mit Jahrmarkt-Charakter an der Kirche – von der Veranstaltung von „Kirchturmfesten“ als Dorffesten mit besonderem Flair in 7echentin22 bis hin zu der Er¿ndung von Mittelaltermärk- ten an ehemaligen Klosterstätten wie Rehna23 oder Rühn – und der Ansiedlung

22 Der 2001 gegründete Förderverein Dorfkirche 7echentin veranstaltet seit 2002 alle zwei Jahre unter dem Namen „Kirchturmfest“ ein dreitägiges Fest, das am Freitagabend in der Kirche eröffnet und am Sonntag mit einem Festgottesdienst beendet wird, während es am Samstag außerhalb der Kirche statt¿ndet. Das „Kirchturmfest“ ist zugleich Kirchgemeinde-, Vereins- und Dorffest. 23 Der 1999 gegründete Klosterverein Rehna veranstaltet u. a. alle zwei Jahre ein dreitägiges Klosterfest. 2011 kamen bis zu 10.000 Besucher nach Rehna. Heimweh nach einer besseren Welt 149 von alternativen Gemeinschaften, die einen Raum für die Verwirklichung ihrer Utopien gesucht und gefunden haben. So ist beispielweise das Gutshaus von Me- dewege am nördlichen Rand der Landeshauptstadt Schwerin seit der Gründung eines Waldorfkindergartens 1991 das Zentrum einer anthroposophisch gepräg- ten „Verantwortungsgemeinschaft ‚Schön und Gut‘“ geworden. Diese Gemein- schaft vereinigt zugleich eine lose Lebensgemeinschaft von Gleichgesinnten und die verschiedenen Initiativen in den ökologisch-landwirtschaftlichen, handwerk- lichen, heiltherapeutischen und kulturellen Bereichen, die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft ins Leben gerufen worden sind.24

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24 Die Bio-Mühlenbäckerei ist die Hauptsäule der Erzeugergemeinschaft. Gegründet, um die hofeigene Produktion an ökologischem Getreide vor Ort zu verarbeiten, beschäftigt sie zurzeit 45 Mitarbeiter und verfügt über Verkaufs¿lialen bis nach Hamburg. 150 Arnaud Liszka

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Der Artikel widmet sich dem Phänomen der Besiedelung der ländlichen Räume durch Künstler und kulturaf¿ne Leute. Was macht die Attraktivität der vieler- orts verlassenen Dörfer und Landstriche aus, dass hier die Optionen-verwöhnte Mittelschicht ihren Lebensmittelpunkt aufbaut? Wie gelingt ihnen das Bleiben?

1. Künstler1 im ländlichen Raum Man sieht es den Dörfern an. Hier ein Wegweiser zum „Atelier im Grünen“, dort hängen riesige goldene Eier in der Einfahrt, andernorts begrüßt eine Reiter¿gur, die wie aus einem Science Fiction Film entsprungen wirkt, die Besucher und Durchrei- senden. Die Prignitz ist zur wahren Künstlerkolonie avanciert, in deren Dunstkreis Biohöfe, Lehmbaustellen, Kräuterhexen, Gestüte und andere Gelegenheiten zum nachhaltigen Wohlfühlen entstanden sind. Und doch fragt die Pressesprecherin der Stadt Wittenberge, als ich von dem Sozialwissenschaft-Kunst-Projekt erzäh- le, das uns wieder2 in die Prignitz führt: „Welche Künstler? So was gibt es hier?“ Die Unkenntnis ist nicht nur Ausdruck der Distanz von Kleinstädten zu den dörÀichen Gebieten in der Prignitz, sie thematisiert ein strukturelles Missver- ständnis, das in 20 Jahren mehr oder weniger stillschweigender Ko-Existenz ge- wachsen ist. Während die Künstler mit dem Umbau der ländlichen Welt zugange waren und dabei vor allem ihre ästhetische und gestalterische Seite im Auge hat- ten, versuchten die Verwaltungen der Städte Wittenberge, Perleberg oder Pritz- walk von den üppigen Fördergeldern zu pro¿tieren. Sie haben ihre Bedeutung als Arbeitsort verloren, als Fluchtpunkt dienen sie nur noch wenigen und vornehm- lich älteren oder sozial schwachen Leuten. Auf der Suche nach Arbeit, nach Ur-

1 Zur Komplexität des Künstlers als vielfältiger sozialer Figur vgl. Hellmold et al. (2003): Was ist ein Künstler?. 2 Nach dem sozialwissenschaftlichen Projekt in Wittenberge: „Social Capital im Umbruch europäischer Gesellschaften“ von 2007-2010 (vgl. Überleben im Umbruch, 2011).

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 152 Julia Gabler / Andreas Willisch banität und Perspektive spielen Landstädte (vgl. Hannemann 2005) nur noch eine untergeordnete Rolle. Aber auch als Umschlagort, als Schnittstelle von Wirt- schaft und Handwerk sind sie weniger bedeutsam. Erfolgreiche Verwertungs- ketten oder vielmehr förderungsträchtige Regionalentwicklungsstrategien sind gleichfalls überregional organisiert (vgl. Büttner 2010). Die ehemaligen Knoten- punkte der Provinz werden nicht nur administrativ weiter beatmet als Verwal- tungs- oder als zentrale Schulstandorte. Im Städteverbund entstehen „Regionale Wachstumskerne“, die als sichtbare und folgenreiche KonseTuenz europäischer regionaler Entwicklungs- und Planungsprozesse hin zu industriellen Leuchttür- men „von ganz oben“ legitimiert sind. Leider hält allzu oft der „Kern“ nicht, was von ihm erwartet wird. Statt zu wachsen und Leben zu vervielfältigen, saugt er sämtliche Ressourcen in sich auf, vor allem um selbst zu überleben. Von Witten- berge hat mal jemand gesagt, es sei das „Krebsgeschwür der Prignitz“. Die Rol- le einer Stadt im Verhältnis zur Region kann sich enorm verändern: vom Anzie- hungspunkt, vom Orientierungsort, vom geistigen und kulturellen Zentrum hin zu einem Fremdkörper. 7rotzdem: Die „Rationalisierungs¿ktion“ (Schimank 2005) strategischer Zentrumsbildung zu künftigen Wachstumsmotoren büßt ihre Über- zeugungskraft nicht ein. Vielmehr bindet sie Akteure unterschiedlicher Verwal- tungsebenen, Wirtschaftsbranchen und Dienstleistungsunternehmungen immer wieder aufs Neue. Sie verspricht ¿nanzielle Ressourcen, absorbiert Unsicherheit, bringt Zeitgewinn durch die Vorgabe von Handlungskonzepten wie etwa Pro¿l- bildung und Schwerpunktsetzung, Kooperation und Partnerschaften unterschied- licher regionaler Akteure, und wird begleitet von wissenschaftlichen Expertisen, die die Legitimität dieser Verbünde gar nicht erst in Frage stellen3 (Büttner 2010). Die erodierten lebensweltlichen Praktiken des traditionalen Landlebens so- wie eine industrialisierte Landwirtschaft, die längst in die globale Warenket- te eingereiht und kaum mehr auf die 7atkraft der Bevölkerung angewiesen ist, zwingen die Annahmen über ländliche Gemeinschaften und traditionale Konti- nuitäten zu überprüfen. Es reicht nicht aus, nur fragmentierten, verbindungslo- sen Restbeständen einer überkommenen Lebensform auf dem Land das Wort zu reden. Vielmehr ist der Blick auf die Spannungszustände zu richten, die im Wan- del kultureller Räume lebenspraktische Variationen, Umwertungsprozesse und verschiedene AkteurInnenkonstellationen hervorbringen. „Krisen sind immer auch“, mit Ulf Matthiesen gesprochen, „als mögliche Geburtsstätten des Neuen zu begreifen“ (Matthiesen 2004: 98). Das heißt aber auch, dass der Einzug sozia-

3 So z. B. das vom Fachbereich „Regional Governance im Kulturbereich“ der FH Potsdam erar- beitete Kulturkonzept für den Regionalen Wachstumskern Perleberg – Wittenberge – Karstädt. Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit 153 ler Ungleichheiten, Prekarisierungsprozesse und differenzierter Lebenslagen und Lebenswelten wahrscheinlich ist (vgl. Bernt/Liebmann 2013). Das Spektrum der Prozesse gestaltenden Akteure hat sich in den letzten 20 Jahren erweitert. Neben den strategisch ausgerichteten lokalen und regiona- len Bündnissen sind neue Akteure mit Raumansprüchen hinzugekommen. Die postindustrielle Leere hat durch spezi¿sche Abwanderungen zwar einerseits zur Homogenisierung der zurückgebliebenen Bevölkerung geführt, andererseits war sie reizvoll genug, um spezi¿sche Zuwanderungen zu ermöglichen, die bildungs- starke, junge und ökonomisch selbstständige AkteurInnen in die Region führten. Anfang der 1990er Jahre lockte der Potsdamer Künstler Heinz Fürstenberg Ab- solventen der Berliner Kunsthochschulen wie das Künstlerpaar Hans Löwer und Nadja Klaus in die Provinz. Unter dem weiten Prignitzer Horizont öffnete sich ein Kunst(t)raum, der die jungen KünstlerInnen beeindruckte: Workshops, Per- formances und Installationen. Künstlerische Ästhetik auf freiem Feld. Ein Atelier, das vor Großzügigkeit strotzte und sozusagen aus allen Himmelsrichtungen ein- sehbar war und hier in der Provinz ein öffentliches wurde. Der Künstlermythos unnachahmlicher „Schöpferkraft“ (Fastert et al. 2011: 12; von Bismarck 2010: 8) erreichte gesellschaftliche Relevanz und erhielt als produktive Künstlerkritik im „Labor Ostdeutschland“ (Bauer-Volke/Dietzsch 2003) einen gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag. Dort, wo jüngst noch die Schlote Tualmten und die Fließbän- der liefen, war plötzlich Ruhe. Alles möglich. Platz für 7emperament. Ästhetik des Stillstands. Die Künstler waren „die Hoffnungsträger in Sachen kultureller Erneuerung“ (Knobeloch 2003: 214). Mit ihren „außeralltäglichen Gaben“ (von Bismarck 2011: 149) des Ideenreichtums, der Improvisationsfähigkeit, ihrem No- maden- und Bastlertum und nicht zuletzt ihrer Leidensfähigkeit standen sie nun- mehr im Zentrum gesellschaftlicher Anerkennung.

„(…) der [Fürstenberg] wollte immer gerne oder sein Ziel war irgendwie, das Ländliche mit der Kunst zu verbinden. Und das war für uns so `n bisschen albern, weil das irgendwie uns zu wenig Kunst war (…), also uns war es frei genug, aber so im Nachgang und im, also, wenn man jetzt so die Verhältnisse sieht, ist es eigentlich total lustig und ideal gewesen (…).“ (In- terview mit Nadja Klaus)

Der Versuch gegenseitiger Vereinnahmung zielte auf Verbindlichkeiten. Wäh- rend die Künstler mit Bienenbeuten, Stroh und Kuhstall für die ländlichen Mate- rialitäten sensibilisiert und mit üppigen Parks, Schlössern und Adelshäusern zum Bleiben animiert wurden, die ihnen bald darauf sogar als Wohnort angeboten wurden, bestand das künstlerische Angebot darin, der pöbelnden Jugend Kunst- kurse anzubieten, mit minimalen Mitteln und knappen ¿nanziellen Ressourcen alte Häuser wieder instand zu setzen, mit Plastiken und Skulpturen Parks zu be- 154 Julia Gabler / Andreas Willisch stücken und im Sommer mit internationalen Kunstsymposien Leben in die „ster- bende Region“ zu holen. Die Ästhetisierung des Landlebens vollzog sich dann doch viel schwerfälli- ger als in den Wendejahren der Eindruck erweckt wurde. Dass die Künstler selbst auch als Indikatoren für die verbreitete Ratlosigkeit im Umgang mit den Brachen betrachtet werden können, wurde erst mit der Kulturkritik im Rahmen des Initia- tivprojektes „shrinking cities“ um Philipp Oswalt deutlich artikuliert (vgl. Oswalt 2005). Die künstlerische Unabhängigkeit und Autonomie war also von Anfang an doppeldeutig: Sie wurde gesucht und gefunden und durch ¿nanzielle Mittel des Bundes und der EU explizit ermöglicht. Was aber ihre regionale und lokale Verankerung betraf, erhieltsie weder in ihrer spezi¿schen Arbeits- und Lebens- weise noch in ihrer Wirkungskraft die Aufmerksamkeit und strukturelle Einglie- derung, die sie benötigt hätte um als EinÀussfaktor längerfristig strukturgestal- tend sein zu können. Ihre Handlungsspielräume blieben beschränkt und mussten sukzessive erobert werden. Dieser Umstand trug wiederum dazu bei, dass die künstlerische Haltung selbst in Wandlung geriet. Ohne die üppigen überregiona- len Finanzierungen und Bedeutungszuschreibungen musste nun auch die Künst- lerschaft Erdung erfahren. Doch erst einmal fanden sich die Künstler hier jenseits der boomenden Hauptstadt in ihrer sozialräumlichen Position des Grenzgängers und Randstän- digen, des Außenseiters wieder. Das passte zur Selbstwahrnehmung, die hier in aller Öffentlichkeit gesellschaftlichen Widerhall fand. Löwer und Klaus bezogen ein leerstehendes Verwalterhaus, Hinterlassenschaft der Prignitzer Adelsfamilie Gans zu Putlitz4 (Abb. 1) mit weiteren KünstlerInnen. Sie waren es, die aus dem Durchgangshaus, das nach 1945 Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf bot und später landwirtschaftlichen Zwecken diente, ein Wohnhaus machten. Die außeralltägliche, künstlerische Schaffenskraft wurde mit Wohnsitz domestiziert. Aus der Besetzung wurde Besitz, wurde Raumanspruch. Löwer und seine Freundin zäunten das offene Gelände ein, die Dorfjugend, die das leerstehende Haus als 7reffpunkt nutzte, wurde fortan draußen gehalten und den Nachbarn die günstige Tuerfeldein-Route zum Acker abgeschnitten. Mit den Jugendlichen veranstalten die Künstler im Sommer einen Workshop: Der Aus- schluss vom Grundstück sollte nicht als sozialer Ausschluss missverstanden werden.

4 Das Adelsgeschlecht Gans Edle Herren zu Putlitz existiert heute noch und seine Mitglieder haben einiges ihrer ehemaligen Besitztümer wieder „neu-rück-erobert“ (vgl. auch Lange/ Matthiesen 2005: 277). Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit 155

Abbildung 1: Einst Verwalter-, heute Künstlerhaus

Mit dem 7od des Kunstinitiators Fürstenberg Ende der 1990er Jahre stirbt auch die Schaffensfreude: „Da haben wir schon geahnt, dass das die Leute im Landkreis ei- gentlich eher gruselt, was wir da machen“ (Hans Löwer). Die Distanz zwischen den Verwaltungen und den Ansprüchen der KünstlerInnen, gestaltend und handelnd in die Entwicklungen in den Regionen einzugreifen, wird offenbar. Mit moderner Bildhauerei war hier niemand „hinter‘m Ofen“ hervor zu locken. Ein Ausnahme- zustand traf auf die Erfahrung. Nun hieß es, aus der Position des künstlerischen Rückzugs hervorzutreten, und das Leben wurde ein anderes, musste selbst neu er- funden werden. Die erste Etappe bestand in der Bildung von Netzwerken zu den KünstlerkollegInnen in der Region. Mit Kunstforen und runden 7ischen sowie der Zeitschrift nebenstrecke unternahmen sie über mehrere Jahre zahlreiche Versu- che, mit Kulturverantwortlichen ins Gespräch zu kommen, Kooperationen „an- zuleiern“ und Projekte zu initiieren. Das Drängen in den öffentlichen Raum, die Forderungen nach Partizipation und angemessener Vertretung sind bislang in der lokalen Öffentlichkeit kaum von Erfolg gekrönt, aber das unablässige Versuchen und die fortwährende Inangriffnahme zeugen von Dringlichkeiten. Hier rennt man keine offenen 7üren ein. Hier holt man sich Beulen am „stahlharten Gehäuse“ der Provinzverwaltungen und Wirtschaftsapparate in den Städten. Aber der Modus, der zwischen Internetpräsenzen, Ausstellungen und projektbasierten, befristeten, aber hochgradig Àexiblen Kooperationen mit Bildungs- und Gesundheitseinrich- tungen, Landwirten und Wissenschaftlern, Architekten und anderen entfaltet wird, ist ein sich selbstantreibender Motor für Entwicklungsdynamiken. Die fortwäh- rende Kommunikationsbereitschaft und gleichzeitige Selektion von realisierbaren 156 Julia Gabler / Andreas Willisch

Handlungsgelegenheiten wird zum existenzgestaltenden Modus künstlerischer Le- bensweisen. Solche Formen dynamisierter Handlungsgelegenheiten gehen Hand in Hand mit der Wahrnehmung begrenzter künstlerischer Handlungsfelder: Die Pro- vinzrealität erhält Einzug in die Künstlerwelt. Mittelkürzungen verhindern selbst kleine Ausstellungen und im lokalen Wettbewerb um öffentliche Kunstgelder zie- hen die Städter gegenüber den Heimischen den Kürzeren: „Das versteht hier kei- ner, hier braucht uns keiner“, resümiert Hans Löwer das Interesse an seiner künst- lerischen 7ätigkeit in den letzten 20 Jahren. Ohne translokale Wirkungskreise ist die Reichweite der Künstlerausstrahlung beschränkt. Sie reicht kaum über den Gartenzaun, und das regionale Netzwerk ist längst kein befriedigender Adressat, wenn die künstlerische Performance ihre Außeralltäglichkeit eingebüßt hat und selbst zur Routine geworden ist. Löwer hätte also auch seine Koffer packen kön- nen. Warum aber ist er geblieben? Mit Nadja Klaus hat er eine Familie gegründet. Sie und ihre zwei kleinen 7öchter werden bleiben. Nadja Klaus ist mittlerweile nicht ausschließlich Bildhauerin. Sie verdient als Kunsttherapeutin und Kunstleh- rerin den Großteil des knappen Familieneinkommens. Immer auf der Suche nach Konstellationen, in denen sie künstlerisch tätig sein kann. Der Modus ihrer künst- lerischen Arbeit ist aus dem Atelier in die Öffentlichkeit gelangt. Über die Som- mermonate veranstaltet Nadja Klaus in der vom Verfall bedrohten Wassermühle in Wolfshagen die Kunstaktion „Umwandlungsbüro“:

Umwandlungsbüro Das Kunstprojekt lädt interessierte Bürger des Ortes, der Region und auch interessierte Gäste ein, am UMWANDLUNGSBÜRO teilzuhaben. Im Pro- jekt geht es nicht nur um Kunst. Es geht um Mitarbeit und um Veränderung. Kunst ist das Mittel der Aktion, die eine Einladung zum Diskurs über Begriffe wie Gegenstand – Beziehung – Veränderung sichtbar macht. Die künstlerisch-spielerische Arbeitsweise fördert eigene Standpunkte und aktives Handeln. Die Kunstaktion ist für den Ort Wolfshagener Mühle konzipiert und entwickelt worden und beschäftigt sich mit der Frage, wie dieser Ort mit Fantasie und Kreativität angereichert werden kann. Das Projekt UMWANDLUNGSBÜRO ist eine saisonale, per- formative Kunstaktion, die mit einer Ausstellung am Ende der Saison 2011 zu Ende geht. Ob das Projekt in der kommenden Saison wiederbelebt wird, ist zum heutigen Zeitpunkt noch ungeklärt. Quelle: Nadja Klaus Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit 157

Sie lädt die Dorfbewohner ein, alte Möbel mitzubringen und mit der Künstlerin diskutierend, klebend, malend, bauend einen Prozess der Metamorphose zu begin- nen; darüber sich zu verständigen, wie Routinen verloren gehen, woran sich das Unbekannte zu erkennen gibt, wie neue Funktionen entstehen und welche Über- raschungen die Kunst parat hält. Die Aufmerksamkeit, die das Projekt auf sich zieht, tut auch dem Bürgerverein, der für den Erhalt der Wassermühle kämpft, gut. Aber es hat lange gedauert, bis der Kontakt zwischen Verein und Künstlerin zu dieser erst einmal befristeten Aktion geführt hat. Für Klaus ist es alles andere als gewöhnlich, für ihre künstlerische 7ätigkeit das Atelier zu verlassen. Und für den Mühlenverein ist es ganz und gar nicht selbstverständlich, mit einer Künst- lerin zusammen zu arbeiten, denn was Nadja Klaus macht, versteht man nicht so recht. Nadja Klaus interessieren die funktionslos gewordenen Orte der Prignitz. Und der Mühlenverein will hier historische Funktionen erhalten und bewahren, sicherlich auch Identitätsarbeit leisten. Im künstlerischen Dialog vermitteln sich 7eilhabe, Öffentlichkeit, lokale 7hemen und lokale Kooperation. Er ist nur be- fristet zu realisieren, ¿ndet wie gewohnt zeitlich und ¿nanziell prekär statt. Aber Klaus fordert seine Anwesenheit ein, nimmt immer wieder die Herausforderung auf sich, diese fragile Sozialität herzustellen und auszuhandeln.

2. Umbruch und Neue Bürgerlichkeit Ein schönes Beispiel für die regionale Umordnung der ländlichen Gesellschaft in den letzten 20 Jahren ist die unbemerkte, gleichwohl weithin sichtbare Domi- nanz zahlreicher großer und kleiner Windparks. Die energymap5 listet allein für die Prignitz 460 Anlagen mit einer Gesamtleistung von 690 Megawatt. Das ent- spricht in etwa der Leistung eines kleinen konventionellen Kraftwerkblocks und bedeutet in der Summe, dass wesentlich mehr Strom produziert werden kann, als in der Region tatsächlich verbraucht wird. Das Besondere daran ist nicht nur in der habituellen Veränderung der Landschaft zu suchen. Wenn man nachts auf der A 24 Richtung Hamburg zwischen Pritzwalk und Putlitz unterwegs ist, kann man tatsächlich den Eindruck bekommen, wie aus dem Nichts in ein Industriege- biet geraten zu sein. Die aus allen Richtungen blinkenden Windtürme und Licht- reÀexionen von den hektargroßen Photovoltaikanlagen erzeugen den Eindruck von Dichte und Geschäftigkeit, der so ganz anders ist, als das, was man mit den ländlichen und peripherisierten Räumen6 verbindet: Weite, Stille und Leere unter

5 http://www.energymap.info/energieregionen/DE/105/108/554.html [Zugriff vom 07.03.2013]. 6 Zum Prozess der Peripherisierung geographisch zentral gelegener Regionen in Deutschland vgl. Kühn/Weck 2013: 29f. 158 Julia Gabler / Andreas Willisch dem Sternenhimmel. Das Besondere allerdings liegt vielmehr in der konseTuen- ten Weiterführung einer funktionalen und räumlichen Restrukturierung dieser Region, und das verstreute Windkraftwerk stellt nur einen gewissen Endpunkt dieser Entwicklung dar. Dieser neuartige Betrieb funktioniert komplett ohne den beständigen Verbrauch von Arbeitskraft vor Ort – eine Art menschenleere Fabrik wie sie uns jahrzehntelang in Zukunftsvisionen vorschwebte. Nachdem im Zuge industrieller Restrukturierung – auch und besonders der Agrarindustrie, die die Prignitz neben den industriellen Standorten wie Pritzwalk oder Wittenberge be- sonders geprägt hat – an die Stelle großer, das heißt arbeitskraftintensiver Be- triebe, eine Vielzahl kleiner und kleinster, oft aber hochef¿zienter Unternehmen getreten ist, funktioniert die moderne Energieproduktion ganz ohne ständig an- wesende Arbeitskräfte. Das bedeutet, dass das zukunftsfähige Potenzial der Pri- gnitz gegenwärtig nicht in den Fertigkeiten, der Kreativität oder dem Arbeitswil- len der PrignitzerInnen liegt, sondern in der überregional gesteuerten Nutzung einer regional vorhandenen Ressource. Wenn – um beim Beispiel der Windparks zu bleiben – in einem überkom- menen Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung in jedem Windturm eine Kleinunternehmerfamilie wohnte, so lebte diese moderne Windmüllerfamilie recht auskömmlich von den Erträgen des über ihren Wohnräumen produzierten Stroms, sie kauften bei den Nachbarn ein, die Kinder gingen irgendwo in der Nähe zur Schule und die Kleinunternehmer engagierten sich womöglich im Schulver- ein und im Winddorfgemeinderat. Doch diese Windenergiefamilien gibt es nicht. Die Unternehmer, die die Windparks betreiben, wohnen anderswo, bezahlen zum 7eil Steuern in der Region und ihre Nutzungsentgelte den Bodenbesitzern, aber als aktive Akteure der Region treten sie nicht in Erscheinen. Das gesellschaftli- che Potenzial, das mit dem Aufbau dieser neuen Branche entsteht, entfaltet sich nicht nur nicht vor Ort, sondern fehlt am Ende tatsächlich. Die Sozialräume wie die Dörfer und Städte einer Region sind dadurch von den potenten Wirtschafts- räumen dergleichen Region getrennt und auf sich selbst verwiesen. Fragmentie- rung bedeutet die Gleichzeitigkeit von abgekoppelten Dörfern und Sozialräu- men auf der einen, entbettete wirtschaftliche Kreisläufe auf der anderen Seite. Die Folgen dieser globalen Entwicklung sind räumliche Separierung und soziale Spaltung. Das Funktionsgewebe einer Gesellschaft wird durch diesen fragmen- tierenden Umbruch emp¿ndlich gestört. Nicht nur weniger Menschen, Betriebe, Schulen oder Kulturhäuser kennzeichnen diesen Prozess, sondern die soziale Zu- sammensetzung, d. h. die soziale Struktur der Umbruchsgesellschaft verändert sich. So wie die abwesenden Windenergiemüller und ihre Familien, die eben nicht in den Windhäusern wohnen, fehlen im funktionalen Gewebe gerade einer länd- Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit 159 lichen Umbruchsregion auch zahlreiche andere soziale Akteure, die als Moto- ren oder als Stützen für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig wären.

Abbildung 2: Bürgerschaftliches Engagement in Ostdeutschland

Quelle: Prognos AG 2008.

Wer sind heute die 7räger bürgerschaftlichen Engagements, wenn die, die es früher waren, nicht mehr sind? Und was macht überhaupt einen Bewohner einer Klein- stadt oder eines Dorfes zu einem engagierten Bürger im Sinne einer Bürgerge- sellschaft? Was macht den Bäckermeister, Fabrikbesitzer, Ingenieur oder Lehrer von gestern zu einem Bürger seinerzeit? 160 Julia Gabler / Andreas Willisch

Woher sollen die Bürger, die auf ihre Rechnung und durch ihr eigenes En- gagement eine Gesellschaft tragen und verändern, kommen, wenn die Voraus- setzungen so schlecht sind? Die Antworten liegt gewissermaßen im Wesen des bürgerlichen Systems selbst begründet. Seit den „grundlegenden 7ransformationsprozessen im 19. Jahrhundert“ mit ihrer AuÀösung einer ständischen Ordnung und etablierten korporativen Bindun- gen sowie dem Entstehen „neuer sozialer und politischer Handlungseinheiten“ (Hettling 2010: 15) treten immer wieder ungebundene, auf individuelle Selbst- entfaltung und Selbständigkeit bedachte soziale Akteure in den gesellschaftli- chen Raum, die darauf drängen, Gesellschaft anders und vor allem selbst zu or- ganisieren. Dieser bürgerliche Drang zur Selbstorganisation beweist sich immer dann, wenn in Umbruchszeiten neue gesellschaftliche Räume und Möglichkei- ten entstehen. Wie der marktlückensuchende Wirtschaftsbürger als Prototyp des Bürgers schlechthin (Hettling 2010: 15) stöbern bürgerliche Akteure gerade we- gen der latenten Unformiertheit in den Lücken und Nischen der Umbruchsgesell- schaft auf der Suche nach politischer Wirksamkeit und individueller Entfaltung. Für diejenigen, die nach Neuem, nach freier Entfaltung suchen, nach alterna- tiven Positionen und neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens sind Umbruchs- zeiten günstig; für jene, die nach Sicherheit suchen, dagegen schlecht. Insofern eröffnet auch der gegenwärtig statt¿ndende soziale Wandlungsprozess zahlreiche Möglichkeitsräume und schafft sich die Akteure seines Voranschreitens. Natürlich hat sich am Anfang des 21. Jahrhunderts der Kreis der Wirtschafts-, Bildungs- und Kulturbürger verändert und vor allem dank bürgerlicher Freiheits- rechte und der Bildungsrevolution des 20. Jahrhunderts wesentlich erweitert. In den Strukturen freier, wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaften ¿nden bürgerliche Orientierungen auf Bildung, Selbständigkeit bzw. freie Entfaltung und politische Wirksamkeit vielmehr Raum als noch im 19. Jahrhundert. Im Gefüge einer mo- dernen Gesellschaft gibt es zahlreiche Positionen bzw. bürgerliche Akteure vom Groß- und Kleinunternehmer, über Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte bis zu den 1,2 Millionen „Freelancern“. Ihre gemeinsamen Bezugspunkte möglicher Lebens- führung gestalten sich entlang vier Charakteristika: 1) Bildung und Besitz, 2) Eigeninteresse und Gemeinwohlorientierung, 3) Kreativität und Nützlichkeit, 4) Emotion und Vernunft (Hettling 2010: 15) sowie der Unmöglichkeit, daraus ein allgemeingültiges Modell abzuleiten, weil die Kri- tik an Ordnungen immer schon mit eingebaut ist. Dies treibt die „Bürger“ in die Gesellschaft und in den Umbruch. Als Agent der 7ransformation er¿ndet sich Bürgerlichkeit „immer wieder neu, kritisiert sie Gewohntes und generiert immer wieder neue Lebensformen“ (Hettling 2010: 22). Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit 161

Handeln unter Unsicherheit ist also eine notwendige Eigenschaft bürgerlicher Formen von Souveränität. Nur so gelingen die Destabilisierung von Ordnungen und die Erneuerung von Handlungsmöglichkeiten. Und der Künstler im ländli- chen Raum ist nicht länger diejenige Figur, die hier im künstlerischen Rückzug ästhetische Gesellschaftskritik am Rande eines wie auch immer gearteten gesell- schaftlichen Zentrums betreibt, sondern mit seinem durch Besitz manifestierten Raumanspruch, seinem Drängen in die Öffentlichkeit und seiner unternehmeri- schen Suche nach Bündnissen, die seinen gestalterischen und ästhetischen An- sprüchen Genüge tun, Sichtbarkeit erzeugt und zum 7ransformationsagenten par excellence wird, indem ihn konkrete Umordnung beschäftigt. Der Künstler ver- körpert die Extrem¿gur bürgerlicher Handlungsorientierungen in der Postmoder- ne durch die Verkopplung „emphatisch-ästhetischer Subjektivität“, die ihm jeher zugeschrieben wird, mit „Selbstregierung und der systematischen Erarbeitung ei- gener Souveränität“ (Reckwitz 2008: 214). Das Land als Lebensraum mit seinen übersichtlichen Angeboten ist längst nicht mehr nur Hinterland mit Nischen der Selbstgestaltung, es ermöglicht Freiraum in Distanz zu großstädtischer Reizüber- Àutung und Kreativitätsdiskursen. Der Abstand zu den hysterischen Ästhetisie- rungen und dem Kampf künstlerischer Produzenten in den Metropolen kann auf zwei Hektar Land nicht deutlicher sein – paradoxerweise in seiner Entfernung wie in seiner Nähe. In diesem Spannungsfeld muss der geistig-künstlerische Freiraum mit dem physikalischen erst verbunden werden. Sie müssen, wie Nadja Klaus es ausdrückte, „sich alles selbst ausdenken“. Das Riskante, das Ungewohnte der öf- fentlichen Aushandlung von Sichtbarkeiten, neue Formen der Selbstdarstellung sind gleichsam der Ansporn, Unberechenbares in Verlässlichkeit zu überführen und Sicherheiten zum Zwecke der Erweiterung von Handlungsspielräumen immer wieder neu zur Disposition zu stellen. Die Unsicherheit, besonders der ökonomi- schen wie der sozialen Position, zieht sich hin. Sie ist Dauerzustand. Doch in den Bewegungen von Souveränität und Unternehmertum, so prekär sie sind, erfahren sich die Akteure als authentische und gestaltende Subjekte (vgl. Reckwitz 2008). Hans Löwer und Nadja Klaus leben uns anschaulich vor, wie die Anpassung an die Unzuverlässigkeit, das komplexe 7ingeln zwischen Gelegenheitsstruktu- ren, die kommen und gehen, selbst zu den Bedingungen ihres Bleibens transfor- miert sind und sie in ihrer Selbstwahrnehmung als Künstler bestätigen: als Im- provisationsspezialisten, als Kenner existentieller Leidensfähigkeit und Experten des Minimalismus. Ausgeschlossen, sich nur auf eine Variante zu verlassen: vita creativa! Die Beständigkeit des Unbeständigen ist kein wahrloser 7ätigkeitswust, sondern das Spektrum bürgerlicher Orientierungen: Kunstberatung, Kunsttouris- mus, Kinderkunst, Kunststipendien, Kunstkooperation, Ausstellungskunst. Die 162 Julia Gabler / Andreas Willisch

Kunst, hier eine Küche zu zimmern, dort auf einer Lehmbaustelle zu helfen, für die König-Hinz-Performance eine Skulptur herzustellen oder bei archäologischen Ausgrabungen Wissen und Geld verdienen zu können. Hierin zeigt sich nicht nur die Vervielfältigung möglicher 7ätigkeitsbereiche für den Künstler selbst an, son- dern mindestens auch zwei inhaltliche Orientierungen: Es handelt sich um mora- lisch wertvolle 7ätigkeiten, die Solidarität und Gemeinschaftlichkeit begründen und Bindungen herstellen sowie auf Bildungs- und Erziehungsvorstellungen zu- rückgreifen, die einer bürgerlich-ästhetischen Bildungskonzeption entspringen und in der Kombination mit unternehmerischer Selbständigkeit Souveränität und Selbstregierung verkörpern7 (Reckwitz 2008). Der Künstler tritt aus seiner Position als Singulärer, als Einzelgänger und Rand¿gur hinaus in die Sphäre gesellschaftlicher Wahrnehmung und Aushand- lung. Er wird selbst zum Anspruchssubjekt, zum Involvierten – zu jenem Ak- teur, der Involvierung und gesellschaftliche Gestaltung nicht nur beansprucht, sondern sie lebt. Löwer kennt mittlerweile seine Nachbarn. Der Garten hat ein Kräuterbeet und ein Sonnensegel über dem Buddelkasten. Während die Kunstwerke draußen im Scheunenanbau lagern, toben im Haus Löwers 7öchter, Katzen schnurren um die Beine der Besucher, auf dem Herd brüht die Mokka-Kanne frischen Espres- so. Es gibt Bio-Milch und Bio-Käse vom Öko-Bauern ein paar Dörfer weiter. Hin und wieder sind Gäste im „Atelier im Grünen“ und schlafen im Gästezimmer auf einem hohen Bett direkt unterm Fenster mit Blick nach Osten. Der Lebensmit- telpunkt ist eingerichtet. Familiale Routine entlastet und stimuliert auf seltsame Weise. Das Selbstgemachte erscheint selbstverständlich. Das Fluide, das Suchen- de konkretisiert sich. Im Flickwerk der Projekte stabilisiert sich ein Muster an Aktivitäten, welches ihn unverzichtbar werden lässt für die kulturelle und sozi- ale Zukunft der Region. Mit dem Ringen um Formate und Unterstützung kennt Löwer das Umfeld bestens, hat das Atelier als Rückzugsort verlassen und ist an- gekommen in einem Leben auf dem Land, dem es an Herausforderungen, die er schon einst hier suchte, aber die ihrem Inhalt nach deutlich an Kontur gewonnen haben, nicht mangelt. Erfahrungsgesättigt drängt Löwer nun eher als Vertreter einer Gruppe in die Öffentlichkeit, die das gewonnene Selbstverständnis ihrer Arbeits- und Lebensweise nicht länger gegen Kosten-Nutzen-Kalküle verteidi- gen, sondern in ein öffentliches Gespräch bringen will. Welche Plausibilisierun- gen braucht es, um den gewonnenen Wert gesellschaftlich relevant zu behaupten und die Fähigkeit hervorzuheben, den Umständen insofern gerecht zu werden, als

7 Zur „Bürgerlichkeit als hybride Subjektkultur“, die entlang mindestens einer „Doppelstruktur“ von „Moralisierung und Selbstregierung“ praktiziert wird, vgl. Reckwitz 2008: 197ff. Vita creativa oder vom Landleben als Quelle neuer Bürgerlichkeit 163 dass man in ihnen eine offene, immer wieder neue (Aus-)Handlungsfelder schaf- fende und darin verlässliche Lebensgrundlage ¿ndet?8

3. Vom Besetzen zum Experiment: vita creativa – ein bürgerliches Projekt Das Land, die Peripherie, die Provinz ist also mehr als ländliche Romantik wie der Boom von Magazinen wie Landlust, Landliebe oder Landspiegel zeigt. Doch beim genauen Hinsehen entpuppt sich gerade deren Inszenierung eines Landle- bens als ein zutiefst bürgerlicher Lebenszuschnitt. Da rücken die vergessenen Orte, PÀanzen und 7iere wieder nach vorn, verbergen sich in aufwendig sanier- ten Bauernkaten hochmoderne Küchen, da werden alte Rezepte recycelt, 7raum- hochzeiten in Schlössern und Gutshäusern gefeiert. Diese Inszenierungen sind aufwendig und für umsonst nicht zu haben. Aber sie haben so gar nichts mit dem real existierenden Landleben der Agrarfabriken und Windparks, der Maismono- kulturen und „überalterten“ Restsiedlungen zu tun. Die Differenz könnte nicht größer sein. Die bürgerliche Imagination versteht sich als unmittelbare Kritik an den herrschenden Zuständen einer sozial kalten und entfremdeten, umweltzerstö- rerischen Wirtschaftsweise und sie sucht nach dem Schönen und zugleich Nütz- lichen, Erhaltenswerten. Es sind Solitäre, die in einer durchrationalisierten Wirt- schaftswelt und einer scheinbar verlassenen Landschaft Raum für Kunst, Kultur und Schönes behaupten. Die Prignitz wird zur Wahlheimat für diejenigen, die hier Lebensstilent- faltung in einer Postwachstumsgesellschaft vermuten: Platz und Nachhaltigkeit, Minimalismus, Naturnähe. Oft haben diese KünstlerInnen und Kulturschaffen- den Pferde, Schafe oder andere Landtiere in den Stallgebäuden ihrer großzügigen Unterkünfte. Ihr künstlerisches Landleben ist kultiviert und muss nicht existen- ziell aufreibend sein, wie das von Löwer und Klaus. Betrachtet man das kreati- ve Milieu als Nachbarschaft, dann ¿ndet das Nachbarschaftstreffen eher zur Kö- nig-Hinz-Performance9 statt. Ein kulturhistorisches Spektakel, das alle zwei Jahre mit einem riesigen Bühnenaufwand musikalisch und theatralisch inszeniert wird – von Künstlern aus der Region und darüber hinaus. Man lebt dann nicht länger allein mit Haus, Hof und Atelier, sondern verbindet sich, agiert über den eigenen Gartenzaun hinaus. Spätestens wenn die Kinder der (Lebens-)Gemeinschaften

8 Zur Kritik der Verallgemeinerung künstlerischer Handlungsmodi zum Imperativ sei kreativ! in der Gegenwartsgesellschaft vgl. exemplarisch Ulrich Bröckling „Das unternehmerische Selbst“ (2007) und den von Gerald Raunig und Ulf Wuggenig herausgegebenen Band „Kritik der Kreativität“ (2007). 9 http://www.kulturverein-stepenitztal.de [Zugriff vom 07.03.2013]. 164 Julia Gabler / Andreas Willisch eine adäTuate Bildungseinrichtung benötigen, gerät die gegebene Infrastruktur ins Visier. Der kulturelle Graben zwischen der nächsten städtischen Grundschu- le und den Ansprüchen der Neu-Landbewohner, zwischen Künstlern und Ver- waltung wird dann offenbar. Wie auch in anderen Regionen ist die Gründung ei- ner Freien Schule Anzeiger für das rege kunst-kreative Leben, das sich hier auf Dauer einstellt. Bildung, Öffentlichkeit und Selbstregierung – deutlicher lassen sich diese Ansprüche nicht institutionalisieren. Ende der 1990er Jahre entstand auch in der Prignitz aus einer Elterninitiative die Freie Schule „Landweg“. Für die Künstler, Sozialarbeiter, Fotografen, Musiker, Ärzte und andere nicht nur Bil- dungsort, sondern auch Kommunikationsraum für die in der Region verstreut le- benden Eltern und Verbindungsstelle für alle möglichen künstlerischen, arbeits- förmigen und sozialen Austauschprozesse innerhalb des kreativen Milieus. Die Kulturakteure der Prignitz entfalten jenseits von Verfallszenarien eine progressi- ve Parallelgesellschaft, die immer noch unsichtbar für strategie¿xierte regionale Verwaltungen und deren an Richtlinien orientiertes strukturpolitisches Entschei- dungsprozedere ist, aber längst nicht mehr ohne EinÀuss ist.

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1. The New Pioneers Mit der Zeit fügen sich Dinge zusammen. Wenn wir bewusst auf die Vergangen- heit schauen und aufmerksam für das sind, was heute geschieht, erkennen wir Zusammenhänge und wiederkehrende Muster. Aber auch die wirklichen Verän- derungen werden sichtbar. In den 1970er Jahren veröffentlichte John Seymour Anleitungen für eine bessere, zufriedenere Lebensweise auf dem Land (Seymour 1976; 1978). Danach könnte jeder auf seinem eigenen Grundstück sich selbst ver- sorgen und mit Hilfe von nachbarschaftlicher Solidarität und 7ausch unabhängig von staatlicher Versorgung werden. 35 Jahre später hält Marianne Gronemeyer ein Plädoyer für gute Arbeit, die auf Freude an der Eigenarbeit, 7ausch und 7ei- len sowie einer einfachen Lebensweise fußt (Gronemeyer 2012). Da gute Arbeit in der normalen Arbeitswelt nicht möglich sei, müsse sie eben „jenseits des Mark- tes, im Windschatten der großen Betriebsamkeit, im Abseits der Herrschaft der Monopole“ möglich sein (Gronemeyer o. J.: 10). Haderlapp und 7rattnigg beto- nen die Bedeutung dieser gelebten Experimente einer alternativen „kulturellen Lebenspraxis“ für die Zukunftsfähigkeit. Die Pioniere des kulturellen Wandels wirken durch ihr 7un und Gelingen und regen zum Nachmachen an, sagen sie. Und sie brauchen Möglichkeitsräume für ihre „Lebenskunstexperimente“ (Ha- derlapp/7rattnigg 2013: 54). Bleiben wir zunächst in den 1970er Jahren. In Amerika schlug sich das Un- behagen an der hektischen Betriebsamkeit der Metropolen statistisch im Ur- ban-Rural-Migration-7urnaround nieder. Gegen den Strom der LandÀüchtlinge, die in den Städten bessere Verdienstmöglichkeiten suchten, zogen Andere in die Kleinstädte und Dörfer des ländlichen Amerikas. Für sie ging es nicht nur um Jobs, sondern auch um andere, nichtökonomische Dinge: Familie, Freunde, Na- tur, Ruhe, und für die so genannte „Back-to-the-Land-Bewegung“ um den Ver- such, ein unabhängiges und einfaches Leben auf ihrem eigenen Stück Land zu führen (Jacob 1997: 22). Der Soziologe Jeffrey Jacob hat diese Landpioniere in

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 168 Peter Dehne den 1980er und 1990er Jahren untersucht. Seine De¿nition der „Back-to-the-Lan- ders“ gründet sich sowohl auf ihre Absichten und Einstellungen als auch auf ih- ren Lebensort. „7he new pioneers, then, are individuals or families who are in- terested in self-reliant living on their own land. More speci¿cally, this interest in self-reliance means trying in the best yeoman tradition, to produce on one’s own property what one consumes, even if the intent falls far short of the ideal.“ (Ja- cob 1997: 28). Grundlage seiner Untersuchungsergebnisse sind zwei Befragungen1 sowie ver- tiefende Interviews und Fallstudien im Nordwesten Amerikas. Die Back-to-the-Lan- ders waren im Durchschnitt mit Mitte dreißig aus der Stadt auf das Land gezo- gen, gut ausgebildet und lebten dort zum Zeitpunkt der zweiten Befragung 1992 seit 14 Jahren. Jacob bezeichnet sie als „modest revolutionairs“ oder „confentio- nal radicals“ (Jacob 1997: 43). Er unterscheidet sieben 7ypen: „die weekenders“ (44%), „die pensioneers“ (18%), „die country romantics“, „die purists“ (3%), „die microfarmers“ (2%), „die country entrepreneurs“ (15%) sowie „die apprentices“, die zunächst das Back-to-the-Land-Handwerk ausprobieren und bei anderen in Lehre gehen (1%). Nur wenige erreichten ökonomische Unabhängigkeit. Jacob spricht in diesem Zusammenhang vom zentralen time-money dilemma. „7his is- sue of jobs and homesteading gets to the central dilemma of simple living in the country: time versus money“ (Jacob 1997: 47). Und die Gründe auf das Land zu ziehen? Es sind die, die wir kennen: Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwor- tung; „simple life“, der ewige Wunsch nach innerem Frieden. Und natürlich die besonderen RaumTualitäten: Natur, Ruhe, Langsamkeit, günstige Immobilien- preise und die Freiheiten, die ein dünn besiedelter Raum bietet. 7rotz eines ge- ringen Einkommens sagten über 90% der Back-to-the-Landers, sie seien mit ih- rem Leben sehr oder ganz zufrieden (Jacob 1997: 81)2. Am Ende stellt Jacob die Frage, ob denn die neuen Pioniere die Agenten des Wandels, die Changemaker sind, die wir erwarten. Die Antworten waren zu- nächst ernüchternd. Nur 10 bis 15 Prozent von ihnen engagierten sich in Initiati- ven und Gruppen (Jacob 1997: 179). Für die meisten war es mehr eine private An- gelegenheit aufs Land zu ziehen, gestärkt durch das Gefühl, das Richtige zu tun und durch die Kraft des Beispiels zu wirken. „So mine is a small voice out here in the forest, but it will be heard someday, nonetheless. Love and Light!“ (Jacob 1997: 192). Es gibt sie immer noch, die Back-to-the-Landers. Manche sprechen

1 Rückläufe der Befragung 1983 von 554 (66%) und 1992 von 698 (58%) Antworten. 2 Auch wenn man Zufriedheitsbefragungen skeptisch gegenüber steht, ist das ein beachtliches Ergebnis. Raumpioniere 169 auch von einer zweiten Generation, junge Leute, die wieder das Abseits suchen, um ihre Lebensmodelle zu leben.3

2. Die Raumpioniere heute – auf der Suche nach einer De¿nition In Deutschland werden die Back-to-the-Landers heute „Raumpioniere“ genannt. Mit diesem Begriff beschreibt der Berliner Stadtsoziologe Ulf Matthiesen eine, wenn auch kleine Gegenbewegung in die sich entleerenden Räume Ostdeutsch- lands (Matthiesen 2004). In den 1990er Jahren waren Menschen aus städtischen Milieus ganz bewusst dorthin gezogen, um ihre individuellen Lebensmodelle und Projekte zu verwirklichen. Wie ein Hoffnungsschimmer leuchtete das Phänomen auf, dass aus den strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands offenbar nicht nur Menschen abwanderten, sondern andere diese als Räume mit ganz eigenen Qualitäten und Möglichkeiten sahen. Es schien so, als ob sie durch die mediale und verdeckte politische Aufgabe der Schrumpfungsregionen nur umso stärker angezogen würden und für sich und den Raum nach Visionen suchten. (Rada o. J.: 2). Dadurch ergaben sich wiederum Impulse, neue Chancen und vorsichtige Pers- pektiven für diese schwierigen Räume. In der Sprache der Raumsoziologen kon- struieren sie den leeren Raum neu und könnten so „weitere Akteursmilieus aus den überregelten Metropolregionen anziehen“ (Matthiesen 2011: 109). Matthie- sen sieht diese Akteure und kleinen regionalen Netzwerke als „Inkubatoren und Impulsgeber“ (Matthiesen 2011: 61) mit zwei Eigenschaften ähnlich denen der Back-to-the-Landers: einem hohen Grad an Selbstorganisation abseits von staat- lichen und kommunalen Versorgungs- und Entwicklungsstrategien und mit dem Anspruch, Pioniere einer alternativen, zukunftsfähigen Lebensweise zu sein. Wir kennen das aus der Stadtentwicklung: Dort, wo Leere ist und ein Vakuum entstanden ist, ziehen Menschen mit Ideen und 7räumen nach, die gerade diesen Raum suchen und brauchen, um sich auszuprobieren und Experimente zu wagen, die Entwicklungen generieren und auch Verdrängungen verursachen können. Der Begriff Raumpionier hat in den vergangenen Jahren Aufmerksamkeit für die neuen Siedler in der Peripherie geschaffen. Die Assoziation mit den Sied- lern Amerikas hat aber auch Kritik und zwiespältige Gefühle ausgelöst. Sicher- lich passt das Bild des mutigen, visionären Raumpioniers, der leere Räume be- setzt. Es steckt aber auch etwas Diskriminierendes und Ausgrenzendes in diesem Begriffsverständnis. Es zeugt nicht gerade von Respekt gegenüber denjenigen, die bereits in der vermeintlichen Leere wohnen. Und es trägt nicht zur gegensei-

3 Vgl. z. B. CBC-Beitrag „Land and Sea“ vom 17.01.2010: http://www.cbc.ca/landandsea/2010/01/ back-to-the-landers-1.html [Zugriff vom 14.02.2013]. 170 Peter Dehne tigen Akzeptanz bei. Auch die Betroffenen sehen sich nicht unbedingt als Raum- pioniere, sondern eher als eine Art „Wiederbeleber, die bereits Vorhandenes kre- ativ umnutzen und eine neue Identität vor Ort schaffen.“ (Drews et al. 2012: 32). Es scheint daher an der Zeit, das Phänomen der alternativen Siedler in den peripheren Räumen klarer zu fassen und operationalisierbar für empirische Un- tersuchungen zu machen. Wann können wir von einem Raumpionier sprechen? Durch welche Eigenschaften grenzen sich Raumpioniere gegenüber Anderen ab? Können auch Einheimische Raumpioniere sein? Sind Raumpioniere immer gesell- schaftlich aktiv oder gibt es auch „stille“ Raumpioniere? Links und Volke (2009) richten ihr Augenmerk zum Beispiel mehr auf Kreativität, innovative Projekte und die Eigenorganisation. Sie sprechen von „Changemakers“, Menschen, die den Wandel selber in die Hand nehmen, nach neuen Ansätzen und Allianzen suchen und „damit das Leben oft nachhaltiger verändern als die großen Planer aus Poli- tik und Wirtschaft“ (Links/Volke 2009: 13). Auch sie konstatieren die besondere Anziehungskraft der scheinbar aufgegebenen, perspektivlosen Regionen. Gerade dort haben sie die meisten Bewegungen gefunden (Links/Volke 2009: 227).4 Die diffuse Beschaffenheit des Begriffs zeigt letztendlich, dass es noch keine soziale Bewegung und demensprechend auch kein eigenes Selbstverständnis der Raum- pioniere gibt. Matthiesen versteht den Begriff daher einerseits als „offenen Such- begriff, um innovative Mikronetze zu suchen und zu identi¿zieren“ (Matthiesen 2011: 60), andererseits als Sammelbegriff, der diesen selbstorganisierten Netzwer- ken und Akteuren öffentliche Aufmerksamkeit, Anerkennung und Unterstützung verschaffen kann (Matthiesen 2011: 67). Er geht aber auch einen Schritt weiter, indem er fünf „durch Forschungs- und Fallstudien unterfütterte“ Charakteristi- ka von Raumpionieren nennt (Matthiesen 2011: 63): 1. die Konstruktion und Rekonstruktion von Räumen, indem neue Möglichkeiten, Wege und Nutzungen für funktionslos scheinende Räume aufgezeigt werden; 2. Lösungen und Projekte, die sich an der „Eigenlogik“ des Ortes orientieren und diesen dadurch wieder stärken und ihm eine Identität geben; 3. Synergien aus selbstorgansierten, informellen Milieus und professionellen, politischen, fachlichen und ökonomischen Netzwerken; 4. die kreative Nutzung neuer Medien und die Verknüpfung lokaler, regionaler und globaler Dimensionen sowie

4 Die Robert-Bosch-Stiftung richtet sich in einer Wettbewerbsausschreibung von 2012 in An- lehnung an einen Film von Daniel Kunle und Holger Lauinger an „Neulandgewinner“ und meint damit ebenfalls „engagierte Menschen und Initiativen, die gute Ideen haben, um den Strukturwandel in schrumpfenden Regionen zu gestalten“: http://www.bosch-stiftung.de/ content/language1/html/41318.asp [Zugriff vom 12.02.2013]. Raumpioniere 171

5. das Verständnis, Krisen und Krisenräume als Innovationsmotor und -raum zu nutzen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier den Raumpionieren Eigenschaften ide- altypisch zugewiesen werden, die sich auf die Schwächen des Raumes beziehen und die gleichsam wieder als Merkmale für ihre Bestimmung dienen. Auch Drews et al. können sich nicht dem Versuch entziehen, Raumpionieren per se regional- entwicklungsfördernde Eigenschaften zuzusprechen, wenn sie bei ihrer Neude- ¿nition davon ausgehen, dass Raumpioniere die LebensTualität steigern und Ent- wicklungsperspektiven schaffen (Drews et al. 2012: 32). Versuchen wir an dieser Stelle aus den vorliegenden, meist essayistischen Veröffentlichungen einen heuristischen Rahmen zu spannen, der sich auf einen ge- meinsamen De¿nitionskern beschränkt. Der Begriff Raumpionier wird trotz aller berechtigter Kritik und möglicher Missverständnisse beibehalten. Er ist eingeführt und eignet sich, das Phänomen der Lebenskünstler im ländlichen Raum bildhaft zu fassen. Er wird hier jedoch etwas anders interpretiert. Im Vordergrund stehen die Intentionen der Pioniere. Sie wollen einen Neuanfang und gehen dorthin, wo dieser räumlich möglich ist. Sie können dadurch Wegbereiter und Vorkämpfer für neue bzw. alternative Formen des Lebens und Wirtschaftens werden. Den Raum, in dem sie leben, die Peripherie, sehen sie als Chance für sich. So wie Gronemey- er und andere auch sagen: Alternatives Leben abseits des Mainstreams ist nur im räumlichen Abseits möglich, dort, wo offene Gelegenheitsstrukturen sind (vgl. Leuchte 2011: 69; früher Bahro 1965: 176). Damit wäre auch eine zweite zentrale Frage beantwortet: Die Raumpioniere werden nicht vorrangig als Changemakers betrachtet. Dann müsste der Projektbezug und das gesellschaftliche Engagement im Vordergrund stehen. Ausgangspunkt für die De¿nition sind vielmehr, in An- lehnung an die Back-to-the-Landers, die Personen und kleinen Netzwerke mit ih- ren Haltungen, ihren Zielen und ihrem 7un. Dies spannt den Rahmen weiter. Es erlaubt, diejenigen mit einzubeziehen, die ihre individuellen Lebensmodelle in der Peripherie ausprobieren, ohne offensive gesellschaftliche Veränderungsan- sprüche. Und es lenkt zunächst einmal den Blick auf die Personen und versteht die Peripherie als Möglichkeitsraum und weniger als Problemraum. Der de¿nitorische Kern dieser Raumpioniere besteht aus fünf Merkmalen: 1. Peripherie: Raumpioniere leben in ländlichen Regionen mit komplexen, systemischen Schrumpfungsprozessen, die im öffentlichen Bewusstsein als nicht lebenswert wahrgenommen werden. Sie leben und arbeiten gegen den Strom. Den Raum verstehen sie als Chance. 2. Zugezogene: Raumpioniere sind meistens Zugezogene. Sie sind gegen den Strom der LandÀüchtlinge zugewandert. Sie haben sich den Raum bewusst 172 Peter Dehne

ausgesucht. Auch Einheimische oder aus anderen Motiven Zugewanderte können die Eigenschaften von Raumpionieren annehmen. 3. Alternative Lebens- und Arbeitsmodelle: Raumpioniere probieren neue, alternative Lebens- und/oder Wirtschaftsmodelle aus und besetzen ökonomi- sche Nischen, die anknüpfen an die Stärken und die Ressourcen des Raums. Insbesondere die Naturnähe, die Ruhe sowie die Begrenztheit der Raumes sehen sie als Herausforderung und Nährboden für ihre Lebensmodelle. 4. Postwachstumsökonomie: Raumpioniere suchen und probieren mehr oder weniger konseTuent Gegenmodelle zur städtisch geprägten Wachstumsöko- nomie. Sie de¿nieren ihre LebensTualität weniger durch materielle Dinge und Konsum, sondern durch weiche Faktoren wie Zeit, Ruhe, Gemeinschaft, Natur, Eigenarbeit. In diesem Sinne passt ihre Lebenseinstellung in einen Raum, dem gerade diese Eigenschaften zugeschrieben werden. 5. Eigenorganisation: Raumpioniere haben einen hohen Grad an Selbstorgani- sation. Sie haben den Anspruch, sich weitgehend unabhängig von Staat und Kommunen selbst zu helfen. Dies entspricht ihrer grundlegenden Skepsis gegenüber Politik und Gesellschaft und führt in vielen Fällen zu Gemein- schaften, gegenseitiger Unterstützung und alternativen Versorgungsmodellen. Gerade in Regionen mit einem schwachen oder geringen Wachstum und in 7eil- räumen, aus denen sich der Staat mehr und mehr aus der Verantwortung zieht und nur noch einen Grundstock an Daseinsvorsorge bereit stellen will, können die Raumpioniere Wege der Eigenorganisation und Selbstverantwortung vorleben und zeigen, wie man jenseits der Wachstumsökonomie LebensTualität generieren kann. Damit liegen sie für einige im 7rend (vgl. Opaschowski 2010) und schlie- ßen nahtlos an die aktuelle Diskussion zu Schrumpfungs- und Entleerungspro- zessen in ländlichen Räumen und Selbstverantwortungsräumen an.

3. Der sich entleerende Raum – Mythos oder Realität Seit Beginn der 1990er Jahre haben sich die Rahmenbedingungen für die Entwick- lung von Regionen nicht nur in Deutschland deutlich verändert. Die Megatrends Globalisierung, 7ransformation von Staat und Politik, der demogra¿sche Wandel sowie die Verknappung der natürlichen und ¿nanziellen Ressourcen führen zu ei- ner Polarisierung in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich in der Raumstruktur spiegelt. Schlögel (2003) spricht in diesem Zusammen- hang von der Wiederkehr des Raumes in unserem Bewusstsein seit den „Raum- revolutionen“ von 1989 und 2001. Der Raum spreizt sich zunehmend in wenige Raumpioniere 173 wachsende und viele schrumpfende Regionen. Wissensgesellschaft und Wissen- sökonomie ¿nden im öffentlichen Bewusstsein vorrangig im Zentrum statt und nicht in der Peripherie. Diese „Renaissance der großen Städte“ führt zu einem neuen Bedeutungsgewinn von Lage und Erreichbarkeit als zentralem Entwick- lungspotenzial für Städte, Gemeinden und Regionen. Damit einher geht eine ge- stiegene Wertschätzung des Urbanen. Die peripheren Regionen geraten dagegen immer mehr in eine Abwärtsspirale kumulierender negativer Entwicklungen hi- nein. Diese Regionen sind weitgehend ländlich strukturiert und gekennzeichnet durch geringe ökonomische Wettbewerbsfähigkeit, einen kritischen Arbeitsmarkt, geringe Kaufkraft, Entleerung und Überalterung der Bevölkerung sowie eine zu- nehmende Demokratieskepsis und Anfälligkeit für extreme politische Positionen (Dehne 2008). Diese mehrdimensionalen Schrumpfungsprozesse sind nicht mehr nur auf Ostdeutschland beschränkt. Die Abwärtsspirale dreht sich auch in ländli- chen Räumen Westdeutschlands, wenn auch zunächst langsamer und ausgehend von einem höheren ökonomischen und sozialen Niveau. Von außen werden diese Verlierer-Regionen als nicht lebenswert wahrge- nommen und tituliert. Ein schlechtes Image und ein negatives Lebensgefühl in 7eilen der Bevölkerung sind die Folge. Auch objektiv verschlechtern sich die ma- teriellen Lebensbedingungen. Insbesondere die Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge kann nicht mehr in dem bisherigen Maß aufrechterhalten wer- den. Die Bereitschaft, in diese Regionen zu ziehen, sinkt weiter ab. Leerstehen- de Gebäude, baulicher Verfall und der Verfall der Immobilienpreise sind deut- liches Zeichen einer drohenden bzw. schon statt¿ndenden Entleerung. Fatal ist, dass durch diese systemische Negativentwicklung die Spielräume und Chancen für den Einzelnen in der Region und für die Region insgesamt deutlich geringer werden. Regionen geraten zunehmend ins gesellschaftliche Abseits. Ganz so klar sind die Entwicklungstrends dann aber doch nicht. Die Raum- ordnungsberichte (BBSR 2005; BBSR 2012) stellen auch eine räumliche Vielfalt der Entwicklung und ein Nebeneinander von Wachstum und Schrumpfung auf allen räumlichen Ebenen fest, auch in den peripheren Regionen. Die Entleerung ¿ndet kleinräumig statt und löst innerregionale Wanderung aus den abgelegenen Dörfern in die regionalen Zentren aus. Die Folge ist eine Rezentralisierung und Kontraktion der Siedlungsstruktur. Zurück bleiben Dörfer ohne Schulen, Läden, Gastwirtschaften und Anbindungen an den öffentlichen Nahverkehr. So entste- hen Peripherien in der Peripherie, Micro-Regionen ohne staatlich oder kommu- nal organisierte Daseinsvorsorge. Schon heute gibt es derartige Versorgungslö- cher, in denen sich die Übriggebliebenen eingerichtet haben und ihr Leben mehr oder weniger selbst organisieren. Aring hat angesichts dieser Entwicklung und 174 Peter Dehne der begrenzten Handlungsfähigkeit von Staat und Kommunen den Begriff der Selbstverantwortungsräume geprägt und einen neuen Gesellschaftsvertrag ein- gefordert (Aring 2010; Montag Stiftung 2011). Auch er bemüht das Bild des Pi- oniers, wenn er von „Inverse Frontiers“ spricht. Er sieht innerhalb von zukünf- tigen Groß- oder Regionalgemeinden Räume, in denen die öffentliche Hand den Gewährleistungsanspruch für die Daseinsvorsorge aufgibt und die Gestaltung der Lebensverhältnisse der Eigenorganisation und dem Engagement der dörÀichen Gemeinschaft überlässt. Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass aus diesem „sich selbst überlassen Sein“ ganz neue LebensTualitäten und -modelle entste- hen. Marginalisierte Dörfer und Kleinstädte sind durchaus geübt, mit Hilfe ihres Sozialkapitals nach Überlebensstrategien zu suchen und sich in der Peripherie einzurichten (Vgl. Hannemann 2004; Berlin-Institut 2011). Aufgabe der Kommu- nen ist es dann, das zivilgesellschaftliche Engagement und die Eigenorganisati- on der örtlichen Daseinsvorsorge zu ermöglichen, zu begleiten und wertzuschät- zen. Die fachliche Diskussion fordert dementsprechend für diese inneren, sich entleerenden Räume mehr Freiheiten, Entscheidungsspielräume und offene Gele- genheitsstrukturen z. B. durch Öffnungs- und Experimentierklauseln oder dras- tische Reduzierung von Standards. Damit schließt sich der Kreis; die Peripherie als idealer Experimentierraum für das Leben jenseits der Wachstumsgesellschaft.

4. Raumpioniere – Motive, Lebenslagen und Typisierung Dies führt zurück zu den Raumpionieren und ihren Motiven und Lebenslagen. Die Bandbreite der Raumpioniere verdeutlicht noch einmal Ulf Matthiesen: „Sie rei- chen von Z über N und M sowie D zu A. Sie reichen von Zwischennutzungen für aus der Funktion gefallene Bauten und Ensembles über Neue Medien und Low- oder High-Mid-7ech-Unternehmensgründungen in ausgebauten Kuhställen oder Scheunen zur beispielhaft selbstorganisierten Daseinsvorsorge (Erziehung, Alter, Krankheit) bis hin zu rückgekehrten Mitgliedern ostelbischer Adelsfamilien und Alteigentümern, die auf rückgekauften 7eilÀächen einen imaginativen manufak- turellen Neuanfang wagen.“ (Matthiesen 2011: 60) Empirische Untersuchungen zum Phänomen der Raumpioniere gibt es nicht. Matthiesen spricht von „einigen hundert Fällen von Raumpioniernetzen“, die am Institut für Europäische Ethnolo- gie der Humboldt-Universität zu Berlin untersucht worden sind (Matthiesen 2011: 63). Kinder hat mit Studierenden im Sommer 2011 ca. 100 potenzielle Raumpio- niere im Havelland bei Berlin identi¿ziert und 63 befragt (Kinder 2011). Weite- re Arbeiten von Studierenden gibt es u. a. über Akteure der kulturellen Bildung in den brandenburgischen Landkreisen Barnim, Märkisch-Oderland, Uckermark Raumpioniere 175 und im Oder-Spree Landkreis (Drews et al. 2012) sowie über selektive Zuwan- derungen auf Rügen (Hesse 2007) und Zuwanderer mit alternativen Lebenssti- len im 7ollensetal in Mecklenburg-Vorpommern (Beyer 2007). In der Gemeinde Letschin wurden sechs KünstlerInnen interviewt, die zwischen 1977 und 2000 in den Oderbruch gezogen waren (Brauns/Wenkel 2010). Dem Verfasser sind wei- tere Raumpionier-Regionen an der Müritz (vgl. Ickert 2009) im Lassaner Winkel (Vorpommern), zwischen Pasewalk und Prenzlau sowie westlich von Plau bekannt. Links und Volke (2009) haben schließlich in ihrem Buch „Zukunft neu er¿nden“ 30 kreative Projekte mit den Merkmalen von Raumpionieren in Ostdeutschland portraitiert. Auf Akteure und Netzwerke mit den Merkmalen von Raumpionie- ren in Westdeutschland wird in keiner Veröffentlichung Bezug genommen, auch wenn zu vermuten ist, dass es sie in der westdeutschen Peripherie gibt. Das Hauptmotiv und der gemeinsame Nenner der Raumpioniere entsprechen den typischen Push- and Pull-Modellen der Migration. Die Bewegung ¿ndet al- lerdings gegen die Hauptrichtung der Wanderungen statt. Als negativ empfunde- ne Urbanität sowie Kritik und Überdruss an der konsumorientierten, zeitknappen Wachstumsökonomie verdrängen die potenziellen Raumpioniere aus der Stadt. Natur, die dünne Besiedlung und die gesellschaftliche Marginalisierung ziehen sie an und bieten ihnen die Möglichkeit und den Raum für ein weitgehend selbst- bestimmtes Leben und Arbeiten oder zur Umsetzung besonderer Geschäftsmo- delle, die die Inspiration und die Ressourcen des ländlichen Raums benötigen. Hinzu kommen ganz pragmatische räumliche Aspekte. Die Befragung der 7ü- binger Studentengruppe bestätigt diese Vermutung für das Havelland. Deutlich über die Hälfte der Befragten geben die besonderen RaumTualitäten als Motiv für den Zuzug an. Allein 35 Prozent der Befragten nennen die Push- und Pull-Fak- toren „Wegzug aus der Großstadt“ (13%) und „Naturnaher Raum“ (22%). Wei- tere 25% nennen praktische Raumaspekte wie große Grundstücke zu günstigen Preisen. Weitere Motive sind die Neuausrichtung der 7ätigkeit, ggf. ein beruÀi- cher Ausstieg und Neuanfang und familiäre Gründe. Erstaunlich ist, dass ledig- lich 8% der Raumpioniere den Eintritt ins Renten- oder Pensionärsleben als Mo- tiv genannt haben. Die ökonomischen, sozialen und idealistischen Wanderungsmotive überla- gern und verstärken sich in vielen Fällen. Ausgerichtet an den Motiven und der oben genannten De¿nition lassen sich die Raumpioniere zunächst in zwei große Gruppen unterteilen: (a) die experimentellen Raumpioniere, bei denen die alter- nativen Lebensformen, -modelle und Lebenskunstexperimente im Vordergrund stehen; sie sind per De¿nition aufgrund ihrer Lebenseinstellung und Lebenszie- le Raumpioniere; sowie (b) die moderaten, bürgerlichen Raumpioniere, die ihre 176 Peter Dehne

ökonomischen und sozialen Nischen suchen und zeigen, wie man in der Periphe- rie gut leben und wirtschaften kann, sich jedoch weniger radikal von der Main- stream-Gesellschaft absetzen. Der Blick von außen fällt unweigerlich mehr auf die Akteure und Gruppen mit radikalen Lebensweisen: 1. die Lebensgemeinschaften und Ökodörfer sowie 2. die modernen Aussteiger, Wachstumsskeptiker und Puristen. In den ostdeutschen Bundesländern wurden Anfang der 1990er Jahre systema- tisch neue Landkommunen gegründet, „da hier die sozioökonomischen Voraus- setzungen für alternative Projekte jenseits von Markt und Staat günstig schie- nen“ (Leuchte 2011: 23f). Die Lebensgemeinschaften und Ökodörfer verstehen sich als sozial-ökologische Modellprojekte, die einen nachhaltigen, gemeinschaft- lichen, durch Selbstversorgung und Eigenverantwortung geprägten Arbeits- und Lebensentwurf anstreben (vgl. auch eurotopia 2009). Viele knüpfen an die west- deutsche Landkommunenbewegung aus den 1970er Jahren an und fanden Anfang der 1990er Jahre ihre theoretische Begründung in den Schriften und Vorlesungen des Instituts für Sozialökologie von Rudolf Bahro (ISÖK). Das inhaltliche Spekt- rum und die Ausprägungen sind vielfältig. Drucks (2004) unterscheidet z. B. öko- logische Lebensgemeinschaften, spirituelle Gemeinschaften, politisch motivier- te Gemeinschaften, sozial orientierte Gemeinschaften und Gemeinschaften, die sich um einen Arbeitszusammenhang bilden. Im weiteren Sinne lassen sich auch schlichte Wohnprojekte oder generationsübergreifende Lebensgemeinschaften im ländlichen Raum dazu zählen. Daneben gibt es die Einzelkämpfer des alter- nativen Lebens in der Peripherie, Menschen, die aus der Wachstumsgesellschaft aussteigen und in der Peripherie ein einfaches, weitgehend autonomes Leben wa- gen, dies jedoch alleine auf sich gestellt (vgl. z. B. Grossarth 2011). Unspektakulärer und weniger im Fokus der Veröffentlichungen sind die modera- ten, bürgerlichen Raumpioniere: 1. Künstler und Kreative bilden traditionell eine große Gruppe auf dem Land. Sie suchen die Inspiration von Natur und Landschaft und reklamieren für sich und ihre Arbeit die Ruhe der Einsamkeit. Sie haben durch ihre Arbeit schon immer Gesellschaftskritik geübt und Impulse für Neues gegeben (vgl. auch Hinweis bei Haderlapp, 7rattnigg 2013: 638). 2. Die Land-Unternehmer erobern sich wirtschaftliche Nischen in der Peripherie und probieren Formen des nachhaltigen, regionalen Wirtschaftens aus. Raum- pioniere unter den Landwirten sind die Ökobauern und Kleinbauern, die mehr oder weniger erfolgreich Nischenproduktionen betreiben. Daneben können Raumpioniere 177

auch Selbstständige und Kleinunternehmer, Handwerksbetriebe, Manufakturen und grüne 7ourismusunternehmen zu den „country-entrepreneurs“ zählen. Weitere Raumpioniertypen können 3. den zurückkehrenden Adligen, 4. der großen Gruppe der Landliebhaber, Ruheständler und Pensionäre oder 5. den Wochenendpendlern zugeordnet werden. 6. Schließlich gibt es in Ostdeutschland auch eine erste Generation von DDR-Raumpionieren. Es sind Stadt- und GesellschaftsÀüchtlinge, die bereits in den 1970er und 1980er Jahren in die schon damals strukturschwachen ostdeutschen Regionen gezogen waren. Sicherlich wird nicht immer eine klare Zuweisung gelingen. Und es gibt Misch- formen, Überschneidungen oder regionale Ballungen verschiedener 7ypen. So gruppieren sich häu¿g um die Lebensgemeinschaften und Ökodörfer einzelne Aussteiger, Künstler, Kleinbauern oder Land-Unternehmer. Bei der Lektüre der Interviews und Berichte fällt weiterhin auf, dass die Mehrzahl der Befragten in den 1990er Jahren aufs Land und in die Dörfer gezogen ist. In den letzten Jah- ren seien viele nur als Wochenend-Bewohner gekommen, heißt es; manche auf der Suche nach dauerhafter Existenzgrundlage auf dem Land (z. B. Brauns/Wen- kel 2010: 23, 27). Auch zu den Lebens- und Einkommensverhältnissen der Raumpioniere lie- gen keine verlässlichen Daten vor. Die Gruppen der Adligen, Ruheständler und Wochenendpendler beziehen in der Regel ihr Einkommen ortsunabhängig. Die Aussteiger, Puristen und Lebensgemeinschaften versuchen weitgehend mit Hilfe ihrer regionalen Netzwerke ihr Leben zu organisieren. In 7eilbereichen lässt sich von einer eigenen Ökonomie der alternativen Landszene mit Produkten, Dienst- leistungen, Seminaren und Printmedien sprechen. Die Künstler und Kreativen und auch die Kleinunternehmer und Landwirte sind dagegen darauf angewiesen, ihr Einkommen vor Ort zu erwirtschaften. Für sie gilt das von Jacob geschilder- te time-money-dilemma. Letztlich können sie sich den wirtschaftlichen Realitä- ten der Peripherie nicht entziehen. Aufgrund der dünnen Besiedlung und des ge- ringen durchschnittlichen Einkommens in der Region ist der Markt für Produkte und Dienstleistungen begrenzt. Sie müssen überregionale und auch internationa- le Absatzmärkte erschließen, um zu überleben. Besondere Nischenprodukte mit hoher Qualität, ein gutes Marketing und Netzwerke außerhalb der Region sind hierfür Voraussetzungen. Beispiele hierfür gibt es genug. Sie drohen dann aller- 178 Peter Dehne dings wieder in die Geschäftigkeit und Ruhelosigkeit einer Ökonomie zu gera- ten, der sie eigentlich entÀiehen wollten. 7ourismus in verschiedensten Formen spielt bei den Raumpionieren der Peri- pherie eine große Rolle für die ¿nanzielle Absicherung. Künstler, Kunsthandwer- ker, Landwirte, die regionale Produkte vermarkten und Unterkünfte vermieten, Lebensgemeinschaften, die Seminare und spezielle Formen der Hospitation, des Aussteigens auf Probe, anbieten, Anbieter der Umweltbildung, Kleinstunterneh- men, die sich auf Naturtourismus spezialisiert haben, oder Öko-, Natur- und Well- nesshotels in den Guts- und Herrenhäusern. Der naturorientierte Hinterland-7ou- rismus reicht in der Regel nicht aus, um die Lebensgrundlage zu erwirtschaften. All dies führt dazu, dass viele Raumpioniere mehrere wirtschaftliche Stand- beine haben müssen, um in der Peripherie zu überleben, Genügsamkeit und einen langen Atem brauchen und sich über fördermittel¿nanzierte Projekte zusätzliche Einkommens- und FinanzierungsTuellen erschließen müssen. Diese Abhängigkeit von zeitlich befristeten und begrenzten Projekten und Fördergeldern führt zu pre- kären Situationen und zu einer fatalen Konkurrenz zwischen den Akteuren und erschwert die Zusammenarbeit und Netzwerkbildung (Links/Volke 2009: 228).

5. Die Hürden vor Ort oder das schwierige Verhältnis zu den Einheimischen „Es war, als ob ein Ufo gelandet war und keiner hat es bemerkt“, sagte danach ei- ner der wenigen einheimischen 7eilnehmer5. Wir hatten vor zwei Jahren im Rah- men eines Bildungsprojektes eine Schaustelle für ein Haus des Lernens in einer wunderschönen Kirche in Vorpommern veranstaltet, blieben aber weitgehend un- ter uns. Es waren zwei Lebenswelten – die der Einheimischen und unser Projekt –, die sich wenig berührt hatten, und wenn, gab es KonÀikte. Wie schon gesagt, erhoffen sich die Raumpioniere in der Peripherie den Freiraum für ihre Projekte, den sie in den dicht besiedelten und regulierten Stadtregionen nicht ¿nden. Doch vor Ort stoßen sie häu¿g an die Grenzen der ländlichen Realitäten und ihrer ei- genen Widersprüche (vgl. zu Widersprüchen Haderlapp/7rattnigg 2013: 425ff). Drei Dinge beklagen sie in den wenigen Fallstudien und Interviews: 1. die vergleichsweise schlechte Infrastruktur mit langen Wegen und schlechter Breitbandversorgung, 2. das vermeintlich mangelnde Entgegenkommen der Fachverwaltungen und Genehmigungsbehörden gegenüber ihnen als Zugezogenen – häu¿g sind pa-

5 Vgl. mit einem ähnlichen Ufo-Vergleich auch Drews et al 2012: 26f. Raumpioniere 179

radoxerweise 7hemen der Nachhaltigkeit und damit ihrer Lebensphilosophie KonÀiktthemen: Naturschutz, Landschaftsschutz und Denkmalschutz –, 3. das Verhältnis zu den Einheimischen. Sie nennen Neid, geringe Bildung der Einheimischen oder besser ein anderer Lebenshintergrund und kaum lokale Nachfrage nach ihren Ideen und Produkten. Der letzte Punkt, die Integrationsfrage, ist das Schlüsselthema der Raumpionie- re in der Peripherie. Es ist das alte 7hema in ländlichen Siedlungen: Die Neu- en mit ihrer städtischen Prägung und ihren alternativen Projekten treffen auf die tradierten Lebenserfahrungen und die skeptische, abwartende Haltung der Ein- heimischen. Und sie ¿nden sich in einem ländlichen Raum wieder, der mit 7ier- fabriken, industrieller Landwirtschaft, Wind- und Solarparks oder großen Bio- gasanlagen weitgehend urbanisiert und industrialisiert ist. Diese Ernüchterung wird mit zunehmender Radikalität und Dogmatik der Raumpioniermodelle hef- tiger ausfallen und in handfeste KonÀikte umschlagen. DörÀiche, ländliche Ge- sellschaften sind immer von Beharrung und Konservatismus geprägt. Kommt et- was Neues, entsteht Unsicherheit und Unruhe, nicht selten Missgunst und Streit, zumindest erst einmal Skepsis und Abwarten: „Die Oderbrüchler sind ja auch nicht so, dass die sagen, ha, kommt her, wir haben auf Euch gewartet … die gu- cken sich das erst einmal an“ (Brauns et al. 2010: 2). Vielleicht fehlt es manchem Zugezogenen auch an Einfühlungsvermögen und Geduld. Die neuen Pioniere auf dem Land kommen häu¿g mit mehr oder weniger städtischen Prägungen und Le- bensweisen und einem ausgeprägten gesellschaftlichen Sendungsbewusstsein in die Dörfer. „So schwankt der Raumpionier zwischen Innovation und Provokati- on. Letztlich, so scheint es, sind die Raumpioniere doch Verwandte der Hausbe- setzer, Öko-Aussteiger und Zwischennutzer.“ (Minnes 2008) Die Folge sind Kon- frontation6 oder, im besseren Fall, Parallelwelten. Nicht selten ist das ja auch der Sinn der Zuwanderung, sozialen und räumlichen Abstand von anderen für sein Lebensmodell zu ¿nden. Anders ist es bei denjenigen, die soziale Integration brauchen, gesellschaftli- che Ansprüche mitbringen oder ökonomisch auf die lokale Bevölkerung angewie- sen sind. Für sie können Integration und Synergien wirklich zur Überlebensfrage werden. Aber auch anders herum kann die Integration der zugezogenen Raum- pioniere zur Überlebensfrage der abgehängten Kleinregionen werden. Für man- ches Dorf ist es die einzige Chance für die Zukunft. Ohne diese Synergien von Alt und Neu, von örtlicher Erfahrung und Welterfahrung, produktiven Spannun- gen sowie dem Mut zu neuen Lösungen erscheint eine Entwicklung, in welche

6 S. z. B. den Film „Die Siedler. Am Arsch der Welt“ von Claus Strigel, http://www.siedler-¿lm. de/index [Zugriff vom 12.02.2013]. 180 Peter Dehne

Richtung auch immer, kaum möglich. Es ist wie eine Not- und Schicksalsgemein- schaft. Wie gelingt es also, neues Denken mit alten Erfahrungen zu verbinden und Spannung in Dynamik umzusetzen? Es geht dabei um Akzeptanz, Integra- tion und um das Aufbrechen von Ängsten. Integration ist immer eine Aufgabe in beide Richtungen. Nicht nur die Einheimischen müssen sich den neuen Ideen öffnen. Die Raumpioniere müssen auch die Alteingesessenen in ihre Konzepte integrieren. „Die Frage ist nun für die Zukunft, wie wir die Schnittstelle hinbe- kommen, zwischen den Dörfern, den Menschen, die dort leben, und den Raum- pionieren, die dort Neues einbringen. Dafür brauchen wir angemessene Kom- munikationsformen“ (Mahnken 2012). Dazu gehören vor allem gegenseitiges Vertrauen, Geduld und Zeit.

6. Raumpioniere, die Retter des ländlichen Raums, und was man machen kann Im Allgäu entstand in den 1970er Jahren eine lebendige Szene von Landkom- munen, Biohöfen, Künstlern, Ökobetrieben und Kneipen. Auch sie hatten den Anspruch, zu beweisen, dass ein Leben jenseits der klein-bürgerlichen Konsu- morientierung möglich sei (Leuchte 2011: 15). Angesichts der räumlichen Frag- mentierung und drohender Abkopplung von peripheren, ländlichen Räumen stellt sich heute mehr noch als damals die Frage, welche Relevanz der Zuzug für diese Räume in der Abwärtsspirale haben kann. Die Soziologin Eva Wollenberger be- zeichnet aus ihrer internen Sicht die jungen Aussteiger als „richtungsweisende Vordenker ihrer Zeit“, die die LebensTualität und das Lebensgefühl in der Regi- on verändert haben und mitgeholfen haben, das Allgäu zu modernisieren (Wol- lenberger 2008, 148). Die größte regionale und gesellschaftliche Bedeutung haben Raumpioniere als gelebte Beispiele und Anzeiger für das, was möglich ist. Sie zeigen, wie und wo etwas geht und das in vielfacher Hinsicht: 1. Sie zeigen, dass man in ökonomisch und demogra¿sch scheinbar abgeschrie- benen Orten und Regionen gut leben kann. 2. Sie machen die Qualitäten des ländlichen Raums auch für die gesellschaftliche Entwicklung sichtbar und zeigen, dass wir diese Räume für Innovationen und alternative Lebensmodelle brauchen. Raumpioniere 181

3. Sie probieren Selbstverantwortung und gemeinschaftliches Handeln aus und experimentieren mit neuen Formen der Daseinsvorsorge und der Gestaltung von LebensTualität abseits des Verantwortungsbereichs des Staates. 4. Und sie entwickeln in den schrumpfenden Micro-Regionen Lebensmodelle, geprägt durch Genügsamkeit, Regionalismus und Solidarität, die in Zeiten schwachen Wachstums auch gesamtgesellschaftlich relevant sein können. Man könnte sie als ländliche Avantgarde der Postwachstumsgesellschaft bezeichnen, die gesamtgesellschaftliche 7rends vorwegnehmen (Matthiesen 2011: 64). Die Raumpioniere sollten aber auch nicht überhöht und zu viel von ihnen erwartet werden. In den Bevölkerungsstatistiken ist der Zuzug nicht zu erkennen. Das ändert sich, wenn man näher hinsieht. Kleinräumig haben die unterschiedlichen 7ypen von Raumpionieren allein schon durch ihre Anwesenheit, ihre soziale und wirtschaft- liche 7ätigkeit, ihre Kultur sowie kulturelle und künstlerische Angebote regionale Bedeutung. Sie nutzen leerstehende Gebäude wieder, erhalten und pÀegen Land- schaft und Kulturgüter, stärken die Einrichtungen der Daseinsvorsorge, schaffen alternative Bildungsangebote, stärken die Zivilgesellschaft und politische Diskus- sionskultur, machen Dorf und Region bunter oder sind „¿respirits“ und Projekt- entwickler für die Gemeinschaft. Die direkten wirtschaftlichen Effekte sind ge- samtregional eher gering, können aber für den Ort schon bei wenigen (7eilzeit-) Arbeitsplätzen von Bedeutung sein. Stärkere Bedeutung als Motoren für klein- räumige Stabilisierung und Entwicklung erlangen Raumpioniere immer dort, wo sich räumliche Cluster und kreative Milieus herausbilden und sie eine Symbiose mit den etablierten Bewohnern eingehen. Das gelingt am ehesten über die Not- wendigkeit und das Potenzial an Eigenorganisation und Selbsthilfe. Es ist das verbindende Charaktermerkmal von peripheren Räumen (Notwendigkeit), Ein- heimischen (Erfahrungen) und neuen Pionieren (Innovationen). So können z. B. neue, tragfähige Kooperationsmodelle staatlicher und eigenorganisierter Formen der Daseinsvorsorge (Bildung, PÀege, Gesundheit, Mobilität), örtliche oder regio- nale Solidaritätssysteme wie z. B. Zeitbanken, 7auschringe und PÀegehilfen oder neue Freizeit- und Kulturangebote für Kinder und Jugendliche entwickelt werden. Es gibt bereits diese Orte und Mikroregionen. Es sind über die Jahre klei- ne Raumpionier-Cluster und alternative Milieus entstanden, die attraktiv genug sind, um andere nachzuziehen. Hier stellt sich die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um diese Sogwirkung zu entfalten. Welche kritische Masse und welcher Zeitraum sind erforderlich? Was sind die Attraktionsfaktoren, um auf Nachzügler zu wirken? Vielleicht lohnt in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Stadtentwicklung und die Wiederbelebung leergefallener StadtTuartiere durch 182 Peter Dehne eine alternative, kreative Szene. Damit taucht unweigerlich die Frage auf, ob es auch in den ländlichen Szenevierteln zu einer Gentri¿zierung auf dem Dorf kom- men kann und kommen wird. So weit sind wir aber noch nicht. Es bleibt schlicht festzustellen: Die Raumpioniere wirken kleinräumig, besiedeln aufgegebene Ge- bäude und Räume auf dem Land und können Impulsgeber sein. Bleibt die Frage, wie die Potenziale der Raumpioniere für Neuerung und Wiederbelebung gezielt für die Entwicklung und Stabilisierung der Region for- ciert werden können. Wenn die 7hese stimmt, dass weitgehend staatsfreie Räu- me Nährboden und Freiraum für neue Lebens- und Gemeinschaftsmodelle sein können, sollte dies von der Regionalpolitik gezielt genutzt und als Strategie ver- folgt werden. Aufgabe von Staat und Kommune wäre es dann, 1. diese Freiräume zu schaffen, 2. Selbstorganisation und gemeinschaftliche Experimente zuzulassen, zu be- gleiten und zu unterstützen, 3. gezielt neue Siedler anzuwerben und 4. Lebens- und Wirtschaftsexperimenten und gemeinschaftlichen Versor- gungsmodellen in der Peripherie eine Öffentlichkeit und eine Plattform zur Vervielfältigung zu bieten. Die Idee der Selbstverwaltungsräume liefert hierfür die Blaupause. Dünn besie- delte, sich entleerende Mikro-Regionen mit einer kritischen Masse an Raumpi- onieren könnten in einem ersten Schritt zu Experimentierregionen und Sonder- zonen für soziale und ökonomische Innovationen erklärt werden, in denen die öffentliche Hand nur noch die notwendige Gewährleistung der Daseinsvorsorge übernimmt und die Organisation des Zusammenlebens der Eigenverantwortung der Bewohner überlässt. Freiraum kann aber nicht bedeuten, dass Staat und Kom- munen sich aus der Verantwortung zurückziehen. Sie müssen vielmehr den Frei- raum offensiv durch Deregulierungen schaffen und die Selbstorganisation und Projekte der örtlichen Akteure und Netzwerke politisch wertschätzen und beglei- ten. Denkbar ist auch eine gezielte Werbung um Pioniere und Lebenskünstler, wie es einige Dörfer und Kleinstädte schon erfolgreich im Rahmen ihres Leerstands- managements tun. Bekannt ist das Beispiel der Kleinstadt Wanfried aus Nord- hessen, die gezielt niederländische Familien angeworben hat.7 Matthiesen nennt in seinen Artikeln wiederholt die Werbekampagnen, Wettbewerbe und Regional-

7 Vgl. z. B. ZDF-Beitrag in der Mediathek: http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/vi- deo/1699018/Wanfried-k%C3%A4mpft-f%C3%BCr-seine-Fachwerkh%C3%A4user [Zugriff vom 12.02.2013]. Raumpioniere 183 messen in Frankreich, um Niederländer, Belgier und Engländer für die periphe- ren Räume zu gewinnen (z. B. Mattiesen 2011: 62). Am Ende bleibt noch einmal festzustellen, dass es Zeit für empirische Stu- dien über die Raumpioniere ist. Wir wissen zu wenig, um die Bedeutung, die ih- nen für Region und die Gesellschaft zugeschrieben wird, belegen zu können. Die Geschichten der Back-to-the-Landers und der Landkommunen im Allgäu zeigen, dass die Raumpioniere in einer historischen Kontinuität stehen und ihre Vorgän- ger-Bewegungen Spuren in der Gesellschaft hinterlassen habe.

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In individualisierten Kulturen der Spätmoderne lässt sich eine steigende Sehnsucht nach neuen Formen von Gemeinschaft erkennen. Diese richten sich nicht gegen die Individualisierung, sondern können vielmehr als 7ransformationsversuch de- rer negativ-kulturellen Aspekte wie Entfremdung und Vereinzelung verstanden und als posttraditionale Gemeinschaften bezeichnet werden (Hitzler et al. 2008). In diesem Beitrag werden „intentionale Gemeinschaften“ (Grundmann et al. 2006) behandelt. Basierend auf langjährigen empirischen und theoretischen For- schungen (u. a. Grundmann et al. 2006; Kunze 2003; 2006; 2009) wird erstens die intentionale Gemeinschaftsbewegung und deren Weltanschauung inklusive einiger Beispiele umrissen. Zweitens werden anhand ausgewählter Fallbeispie- le „intentionaler Gemeinschaften“, insbesondere in Ostdeutschland, kulturelle Praktiken vorgestellt, die sich möglicherweise als religionshybrid interpretieren lassen. Abschließend werden die religionshybriden Potenziale ihrer kulturellen Praktiken besprochen, deren visionärer und experimenteller Anspruch im Hin- blick auf seine transformatorische Wirkung auf die Gesellschaft diskutiert und „intentionale Gemeinschaften“ als eine besondere Art von posttraditionalen Ge- meinschaften verhandelt.

1. Über „intentionale Gemeinschaften“ Bei der Beschreibung von „intentionalen Gemeinschaften“ soll zunächst ein un- voreingenommener Blick in das empirische Feld geworfen werden, da der Begriff aus der ‚Szene‘ selbst stammt.1 Die Gemeinschaften sind regional bis internatio- nal gut vernetzt, wie beispielsweise im Fellowship for intentional community2 in

1 Der Begriff intentional community wurde 1948 auf einer regionalen Konferenz nordameri- kanischer communities im Osten der USA eingeführt (Metcalf und Christian 2003). 2 Das Fellowship For Intentional Communitiy ist eine Plattform von „intentionalen Gemein- schaften“, unterhält eine Webseite, auf der sich Hunderte von Gemeinschaften aus der ganzen

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 188 Iris Kunze den USA. Auf dessen Webseite wird intentional community als freiwilliges, ge- wolltes Zusammenkommen unter Gleichgesinnten mit vielseitigen sozialen, öko- nomischen, spirituellen, politischen und/oder ökologischen Visionen und Wer- ten beschrieben. Diese zielen auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im Vergleich zu der Gesellschaft ab, aus der die Mitglieder kommen. Die Mitglieder entwickeln ein Wir-Gefühl und sehen sich als kontinuierliche Gruppe und leben zusammen (Metcalf/Christian 2003; auch Shenker 1986). Schätzungen über die Zahl solcher selbstverwalteter Gemeinschaftsprojekte belaufen sich auf mehrere Hundert alleine in Deutschland. In den neuen Bundes- ländern entstanden und entstehen seit der Wende viele kleine Gemeinschaften. Das Fellowship for intentional community verzeichnet weltweit etwa 12.000 Ge- meinschaften, wobei von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen wird.3 Eine rege Gründungsaktivität, eine kurze Lebensdauer und daher hohe Fluktu- ation der Projekte lässt sich anhand der seit 1998 aufgelegten europäischen Selbst- darstellungsverzeichnisse der Gemeinschaften, genannt Eurotopia-Verzeichnisse (1998; 2000; 2004; 2009), nachverfolgen (Kunze 2003: 41). Dabei ist die Bilanz insgesamt leicht steigend. Allerdings bestehen nur etwa zehn Prozent der Projek- te nach Ablauf der ersten fünf Jahre. Ursache dafür sind nach eigenen Angaben in erster Linie KonÀikte im sozialen Bereich (Christian 2003: 2ff). Nahezu alle erfolgreichen Projekte wenden daher ein Arsenal von teilweise selbst entwickel- ten Methoden der Kommunikation und KonÀiktlösung an (Kunze 2009: 139ff). Die Motive und Sozialformen „intentionaler Gemeinschaft“ sind vielfältig und nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Eine 2006 durchgeführte Umfra- ge in 113 Gemeinschaftsprojekten in der BRD ergab, dass die wichtigsten Grün- dungsmotive die Suche nach neuen Lebensformen, soziale Motive und eine öko- logische Lebensführung sind (Dierschke et al. 2006). Innerhalb der Intentionalen Gemeinschaftsbewegung gibt es Brüche von Codes und Normen verschiedener Szenen und Bewegungen. Die politisch links orientierten Gemeinschaften distan- zieren sich von den spirituell und religiös motivierten, wobei in den letzten Jah-

Welt präsentieren und veröffentlicht eine Zeitung, in der Gemeinschaftsmitglieder über ihre ReÀexionen und Erfahrungen schreiben. www.ic.org [Zugriff vom 09.12.2010]. 3 Eine Datenerhebung gestaltet sich schwierig, da „intentionale Gemeinschaften“ sich der Er- fassung gängiger Indikatoren der Sozialstrukturanalyse entziehen. Eine weitere DatenTuelle (Gering 2005) nennt für 2005 weltweit 208 Netzwerke, in denen ca. 3.800 Gemeinschaften mit je mehr als 100 Mitgliedern erfasst sind. Demnach werden insgesamt etwa 367.000 Menschen als Mitglieder von „intentionalen Gemeinschaften“ verzeichnet. Die tatsächlichen Zahlen liegen jedoch viel höher, da viele der Gemeinschaften weniger als 100 Mitglieder haben. Eine von Dierschke et al. durchgeführte Umfrage (Dierschke et al. 2006) ergab, dass über 80 Prozent der 113 befragten Gemeinschaften in der BRD weniger als 50 Mitglieder haben. „Intentionale Gemeinschaften“ 189 ren aufgrund ähnlicher Erfahrungen zum Leben in Gemeinschaft eine wachsen- de Kooperation beobachtet werden kann (Grundmann/Kunze 2012). Allein in den letzten Dekaden sind in der Intentionalen Gemeinschaftsland- schaft deutliche Veränderungen zu beobachten. Ein Vergleich zwischen den ‚Hip- pie-Kommunen‘ der 1960er und 1970er Jahre und den heutigen Co-Housing-Pro- jekten und Ökodörfern, die professionelle Ausbildungszentren unterhalten, zeigt einen Entwicklungstrend zu einer weniger dogmatischen und mehr pragmati- schen Ausdifferenzierung von Lebensstilen sowie zu ökonomischer Professionali- tät (McLaughlin/Davidson 1985). Eine zunehmend gemäßigte kulturelle Haltung und ReÀexionsfähigkeit der beteiligten Akteure zeigt sich wiederum im sozia- len Habitus und im Zusammenleben: z. B. mit Probezeiten für Einstiegswillige, Eintrittsverträgen, frei vereinbarten Regeln und Serviceorientierung mit profes- sionellen Seminarzentren, die oft mehrere tausend Besucher pro Jahr haben. Die zuvor rein auf äußere und gesellschaftliche Strukturen fokussierte Ausrichtung der Gemeinschaften wurde durch die SelbstreÀexion in Form von spiritueller oder psychischer Arbeit an den eigenen internalisierten Kulturlogiken erweitert und wird mittels Bildungsarbeit und Wirtschaftsbeziehungen nach außen getra- gen. Das politische Spektrum reicht dementsprechend von christlich-konservati- ven bis zu linksanarchistischen Projekten. Auf den ersten Blick scheinen diese sozio-kulturell heterogenen Gemein- schaften wenig gemein zu haben. Wenn man allerdings die organisatorischen und internen sozialen Dynamiken betrachtet, werden neben den sozialen 7he- men wie der Frage nach dem Zusammenwohnen auch immer wieder alternative politische, ökonomische und kulturelle Praktiken geschaffen. Zu diesen Erfah- rungen tauschen sich die Gemeinschaften weltweit aus. Es geht um ein koopera- tives Zusammenleben im Alltag, das individuelle Selbstentfaltung und solidari- sches miteinander vereint und mittels links-politischer oder religiöser, spiritueller oder sozial-ökologischer Grundlagen angestrebt wird. Es werden in der Praxis ge- meinschaftliche Arbeits- und Wohnbesitzverhältnisse und damit ein hoher Grad an Verbindlichkeit sowie bewusst Wertmaßstäbe im Alltag geschaffen. Qualitä- ten, die von den Mitgliedern in der Gesellschaft vermisst werden, wie eine soli- darische Ökonomie, geringere Ausrichtung auf das Leistungsprinzip, eine acht- samere Alltagskultur oder wertschätzende Kommunikationsmethoden, werden experimentell umgesetzt (Kunze 2009). „Intentionale Gemeinschaften“ sind demnach unmittelbar gefordert, ihre All- tagslebenspraxis an ihren eigenen Kulturvisionen, Intentionen, Weltanschauungen oder religiösen und spirituellen Konzepten zu messen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der Prozess beidseitig ist: Die Gemeinschaften be¿nden sich in 190 Iris Kunze einem Spannungsfeld zwischen Utopie, deren Umsetzung und der Realität. Jos- hua Lockyer beschreibt die bewusste BeeinÀussung der Visionen durch die Le- benspraxis in „intentionalen Gemeinschaften“ als „transformative utopianism“ (2007; 2009). Die Realität innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft zwingt die Mitglieder, ihre Vision immer wieder an die Umstände anzupassen. „7ransfor- mative utopianism“ ist damit ein fortlaufender Prozess interaktiven Handelns, bei dem aufbauend auf das Vorangegangene kontinuierlich versucht wird, mit der Spannung zwischen Realität und Ideal umzugehen. Nachdem in dieser Einführung ins Feld „intentionaler Gemeinschaften“ ei- nerseits die Verschiedenartigkeit der Einzelfälle verdeutlicht und gleichzeitig auf die grundlegenden 7hemen von „transformative utopianism“ zwischen Vi- sion und Umsetzung in die Alltagsrealität verwiesen wurde, sollen im nächsten Schritt einzelne Beispiele geschildert werden.

2. Empirische Befunde von Religionshybridität in „intentionalen Gemeinschaften“ Die Frage nach Religionshybridität in „intentionalen Gemeinschaften“ muss von mindestens zwei Perspektiven aus angegangen werden: erstens die subjektive Perspektive von Mitgliedern und potenziell Gemeinschaftsinteressierten sowie zweitens die tatsächlichen Praktiken in Gemeinschaften.

2.1 Sehnsucht nach Gemeinschaft in der Spätmoderne Mit welchen Intentionen und Sehnsüchten Menschen sich für „intentionale Ge- meinschaften“ interessieren, diese gründen oder ihnen beitreten, verdeutlicht eine jüngst dazu durchgeführte explorative Internetbefragung4. Eine Cluster- analyse, welche Stichworte mit Gemeinschaft verbunden werden, ergab die fol- genden vier Motive: Freie Selbstgestaltung (Selbstentfaltung und Freiheit) wird am stärksten und deutlichsten mit Gemeinschaft verbunden. ReÀektionsraum (Kritik, stän- dige Veränderung, Zusammenkommen Andersdenkender) wurde auch stark ge- meinschaftlich gesehen. Warmes Nest (Geborgenheit, gegenseitiges Verständnis,

4 Die Bekanntgabe der Internetbefragung erfolgte über verschiedene E-mail-Newsletter zum 7hema Gemeinschaft und die print-Zeitschrift OYA „anders leben“. Damit wurde ein Spektrum aus der „intentionalen Gemeinschaftsszene“ und am 7hema Gemeinschaft Interessierter aus- gewählt (366 auswertbare Antworten; 2/3 leben in Gemeinschaften; für zwei Monate Anfang 2011 online). Vgl. Gemeinschaftsforschung.uni-muenster.de. „Intentionale Gemeinschaften“ 191

Gleichgesinnte, Gemeinsame Werte, Sicherheit, Verantwortung und zusammen diskutieren) wird nicht so stark wie ReÀektionsraum mit Gemeinschaft verbun- den, während Zwang (Einschränkungen, KonÀikte, Gruppendruck) mehrheitlich nicht bis gar nicht mit Gemeinschaft verbunden wird von einem signi¿kant höhe- ren Anteil derer, die in „intentionalen Gemeinschaften“ leben im Gegensatz zu denen, die es (noch) nicht tun.

2.2 Beispiele aus der Lebenspraxis „intentionaler Gemeinschaften“ Im Folgenden werden einzelne Beispiele von kulturellen Praktiken in einzelnen „intentionalen Gemeinschaften“ herausgegriffen, um zu diskutieren, ob diese mit dem Konzept der Religionshybride interpretiert werden können. Als erstes werden Beispiele aus dem „Ökodorf Sieben Linden“ in der Alt- mark in Sachsen-Anhalt geschildert. Die heute etwa 200 Bewohner haben das Dorf seit 1998 in gemeinsamen Entscheidungsprozessen mit Expertenbegleitung neu auf der grünen Wiese geplant. Die räumliche Struktur zeigt eine Abweichung von anderen Dörfern in der Gegend. Die Dorfmitte ist keine Kirche, sondern ein multifunktionaler 7eich, der als ausgewiesener Feuerwehrlöschteich, Amphibien- biotop, Badeteich und Element einer 7heaterfreilichtbühne dient. Im Grundsatz- papier der Gemeinschaft taucht das kulturelle Motto „Einheit in der Vielfalt“ auf, das so umschrieben wird:

„Je vielfältiger und stärker die Einzelnen sind, desto stabiler und lebendiger wird die Gemein- schaft durch ein Netz komplexer Beziehungen, gegenseitiger Ergänzung und Koordination. Ein- heit und Vielfalt brauchen einander. […] Unterschiedliche Lebensformen und Überzeugungen sind im Rahmen von Ökologie und Selbstorganisation möglich und werden als ein wertvolles Potential der gegenseitigen Entwicklung anerkannt.“ (Grundsatzpapier Ökodorf Sieben Linden)

Es wird davon ausgegangen, dass es grundsätzlich harmonische Beziehungsver- hältnisse zwischen Menschen und „Mensch und Natur“ geben kann, und diese werden angestrebt. Zur Umsetzung werden Methoden der individuellen Selbst- und Gemeinschaftsentwicklung ausprobiert und praktiziert:

„Wir wünschen uns eine Offenheit für die Erprobung undogmatischer spiritueller und kultu- reller Wege und Methoden, die uns eine Erfahrung der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur geben können […]. Den sozialen Prozessen zwischen uns widmen wir viel Raum und Zeit, versuchen Vertrauen unter uns zu schaffen und experimentieren mit unterschied- lichen Methoden, um unseren Gruppenprozess konstruktiv zu gestalten (Forum, Supervisi- on, Redestabrunden, 7hemenzentrierte Interaktion, Systemische Aufstellungen, etc.). […] Die Kunst aufmerksamer Rede und aufmerksamen Zuhörens muss ständig geübt werden.“5

5 vgl. Grundsatzpapier des Ökodorf Sieben Linden http://www.siebenlinden.de/index.php?id=54 [Zugriff vom 14.01.13]. 192 Iris Kunze

Das Ökodorf Sieben Linden ist Gründungsmitglied des Global Ecovillage Networks und des „Ecovillage Design Education program“6, ein von zahlreichen Ökodör- fern entwickeltes und anerkanntes Bildungsprogramm, das davon ausgeht, dass sich Ökodörfer auf der Basis von vier essentiellen 7hemenfeldern konstituieren: Neben denen mit dem Dreisäulenmodell der nachhaltigen Entwicklung deckungs- gleichen drei Aspekten ökonomisch, ökologisch und sozial wird die weltanschau- liche Dimension hinzugefügt. Letztere wird bestimmt durch eine differenzierte, spirituelle, ganzheitliche Selbst- und Weltsicht, die sich an der jeweiligen Her- kunftskultur orientiert und Handlungsempfehlungen gibt. Dies dient dem Öko- dorf Sieben Linden als Rahmenphilosophie im globalen Kontext und in Bezie- hung und Austausch mit anderen Ökodörfern weltweit. Ein anschauliches Beispiel für den „transformative utopianism“ zeigen die separaten Interviewaussagen mit zwei langjährigen Mitgliedern in Sieben Lin- den, die ihren Wandel und auch den anderer Gemeinschaftsmitglieder von einer gesellschaftskritischen, materialistischen Sicht zu einer „spirituellen“ Sicht be- schreiben (vgl. Kunze 2009: 153f):

Mitglied A: „Im Laufe von fast zwanzig Jahren hat sich die Basistheorie fast umgedreht. Jetzt geht es um die Achtsamkeit. 7homas Hübl und Eckart 7olle sind nun wichtige spirituelle Leh- rer für uns […]. 7olle sagt, die Basis ist immer die Gegenwart und in der marxistischen 7he- orie, der Ansatz des Initiators unseres Projekts, war es genau anders herum. Es wird ein Mo- dell teilweise sehr detailliert entwickelt, aber im Kopf. […] Der marxistisch orientierte Initiator ist sehr bald ausgestiegen, als wir mit buddhistischen An- sätzen, Achtsamkeit, 7herapie und Gruppendynamik begannen. Bei seinem Ansatz hatte alles ein Ziel und die Basis war nicht die soziale Wahrnehmung der Gegenwart, sondern die öko- nomische 7heorie und Selbstversorgung. Der Gedanke dabei war, dass sich mit Selbstversor- gung die sozialen Beziehungen Richtung Gewaltfreiheit und Ökologie entwickeln. Das war einfach eine 7heorie. In der Wirklichkeit ging es um Fragen, wer bereit ist, die Verantwor- tung für bestimmte Umsetzungen zu übernehmen. […] Mit den ersten konkreten Selbstver- sorgungserfahrungen gab es Realitätsschocks. Daraufhin hat ein Selbstversorger, aber auch 7herapeut und Buddhist uns über die ersten Jahre begleitet und es ging um Kommunikations- übungen, Achtsamkeit und [darum], die inneren Wahrnehmungen miteinander [zu] teilen.“

Ein anderes Mitglied beschreibt die Kultur in Sieben Linden folgendermaßen:

Mitglied B: „Spirituell gesehen gibt es hier ja keine verbindliche gemeinsame Religion oder spirituelle Richtung. Der einzige Konsens, der von allen wohl anerkannt würde, ist, dass wir versuchen, miteinander und mit der Natur achtsam umzugehen. Alles, was man dann an Ri- tualen oder Glaubensüberzeugungen hat, sind für mich nur Krücken, die wichtig sein können,

6 Das „Ecovillage Design Education program“ (vgl. EDE 2005) ist ein vom Global Ecovillage Network (GEN) über einen langjährigen bottom-up-Prozess entwickeltes workshop-Programm, in dem Grundlagen eines Ökodorfes vermittelt, diskutiert und praktisch ausprobiert werden. Es wird in verschiedenen Ökodörfern des GEN weltweit angeboten. „Intentionale Gemeinschaften“ 193

um das Wesentliche immer wieder in sich wachzurufen. Denn wir sind von dieser Gesellschaft anders konditioniert, eher egoistisch. In Gemeinschaft Y wurde gesagt, es ist egal, was Du glaubst, das Wichtige ist, dass Du die Liebe in den Alltag bringst. Ob Du das tust, indem Du zu Mohammed betest oder zu Naturgeistern, ist dabei egal. Schlimm wird es, wenn wir mit den Krücken aufeinander zugehen und uns die noch um die Ohren hauen. […] Die Spirituali- tät steht hier nicht explizit auf den Fahnen. Inzwischen würde wohl keiner von uns widerspre- chen, wenn man sagt, wir sind ein spirituelles Projekt. Es bekam keine explizite Wichtigkeit, es ist aber irgendwie klar, dass es geistige Kräfte gibt.“

Weiter berichten die Interviewpartner, dass die Anfangsphase primär durch die Umsetzung der ökologischen Ziele in die Alltagspraxis und das Bauen geprägt gewesen sei, während nun die sozialen 7hemen, wie Sympathie, Kommunika- tion und Achtsamkeit wichtiger geworden seien. Wesentlicher 7eil der Gemein- schaftskultur sei mit der Erfahrung des Projektes die Entwicklung der Kommu- nikationskultur geworden, die sich in den Entscheidungsprozessen und sozialen Kommunikationsformen und der „Integration meditativer Elemente in den All- tag“ ausdrückt. In Sieben Linden wird bewusst ein Ort für „immaterielle“ Werte geschaffen. Im Werteumfeld des Ökodorfes wird nachhaltige Lebensweise nicht als Verzicht, sondern als Freiraum kreiert. Ein Gemeinschaftsmitglied formuliert: „Die Selbstbestimmung bei der Arbeit, Verantwortung übernehmen, mitreden können, das macht viel LebensTualität aus“ (in Kunze 2009). Ein interessantes Beispiel religionshybrider Praxis ist „die Kapelle“ in der „intentionalen Gemeinschaft“ „Lebensgarten Steyerberg“. Die 300 Mitglieder umfassende Ökosiedlung bei Hannover ist als Stiftung und Bildungseinrichtung verfasst, während die Mehrheit der Mitglieder sich individuell ¿nanziert und nicht in der Gemeinschaft angestellt ist. Zwar wird von einigen Mitgliedern ein großes Zen-Meditationszentrum mit Seminarhaus betrieben, womit aber die Mehrheit der Mitglieder wenig zu tun hat. Die „Kapelle“ kann als Raum von allen nach Anmeldung genutzt werden. Hier besteht die Möglichkeit Verstorbene aufzubah- ren, Mantras zu singen, individuell zu meditieren und zu beten. Die „Altarwand“ veranschaulicht die Vielfalt zusätzlich: Hier sind Bilder und Fotos von Kruzi¿- xen, von Hare Krishna Figuren und der Erdmutter bis hin zu einem Spiegel mit der Aufschrift „Sei Dein eigener Gott“ aufgestellt. Aufschlussreiche Aussagen zur ReÀexion spiritueller Praxis in „intentiona- len Gemeinschaften“ stammen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus zwei „intentionalen Gemeinschaften“ (vgl. Wilmsen 2011: 71).

„Das ist für mich eigentlich Spiritualität: Was sich auch in Ritualen äußern kann, denn wenn viele Leute dasselbe Ritual machen, zeigt sich auch wieder so eine gewisse Zugehörigkeit, für mich. […] Wir haben hier zum Beispiel eine große Spirale, Lichtspirale, und da wird zum Sommercamp, […] immer 100 7eelichter oder 200 auf diese Steinspirale gestellt und dann 194 Iris Kunze

wird immer so ein Lied gesungen und dann gibt’s immer diesen Gang in die Spirale rein und wieder raus, und das ist total schön irgendwie. Wo ich auch gar nicht erklären kann, was da- ran eigentlich so toll ist, wenn man da ein paar Mal im Kreis geht, aber einfach so gemein- schaftlich zu singen und einfach mal so den schönen Moment genießen, das ist nett […]. Wo es auch schwierig ist da jemanden mit reinzubringen, der dafür nicht so offen ist, weil, eine Zeitlang habe ich mich auch gefragt, was soll das überhaupt. Ist nett, gerade wenn man die Leute halt gut kennt, dann ist das eine ganz andere Art von Verbindung, die dadurch entsteht.“ „Wir sind immer mehr dabei, für die verschiedenen 7hemen Rituale oder Feste zu entwickeln, wo wir das Gefühl haben, dass das für uns passend ist, […] so stimmt das für uns, zum Bei- spiel feiern wir die Mondfeste oder Jahreskreisfeste, die die Kelten damals auch gefeiert ha- ben und wo wir das aber nicht so machen, ah die haben das damals so und so gefeiert, das ma- chen wir jetzt auch, sondern wir beschäftigen uns da immer ganz lange damit und schauen, was passt für uns, wo stimmt es mit unserem Gefühl oder mit unserem Bedürfnis überein und dann probiert man das aus und schaut, wie es sich anfühlt und da wächst man Tuasi so Jahr für Jahr rein und entwickelt da immer mehr.“

Diese und die folgenden Interviewaussagen (Kunze 2009: 103ff) verdeutlichen erneut die Aspekte der Fluidität und Freiheit, die bei Mitgliedern „intentionaler Gemeinschaften“ festgestellt werden können:

„Bei echter Gemeinschaft kann es im Kern des Zusammengehörigkeitsgefühls nicht um Ver- haltenskodexe, Normen, Richtlinien, Ideen oder Glaubensvorstellungen gehen oder Persön- lichkeiten einer übergeordneten Gruppenidentität anzugleichen.“ „Es ist viel wichtiger Kommunikation zu ermöglichen, statt Regeln aufzustellen.“ „Gemeinschaft ist eine Heimat, in der man sich bedingungslos geliebt fühlt und bleiben kann, auch wenn man sich oder seine Einstellungen verändert.“

3. Diskussion: Intentionale Gemeinschaften 3.1 „Intentionale Gemeinschaften“ als religionshybride Experimentierfelder Die Beispiele zeigen, dass die Mitglieder „intentionaler Gemeinschaften“ ihre Lebensvision und deren Umsetzung pragmatisch reÀektieren. Die gesellschaft- liche Vision einer anderen, beispielsweise für sie kooperativeren, verbundeneren Kultur zwischen Mensch und Natur wird in der Alltags- und Lebenspraxis der Gemeinschaft versuchsweise umgesetzt. Dem gemeinschaftlichen Miteinander wird bewusst Zeit und Raum gegeben und es wird laufend im Prozess reÀektiert und weiter damit experimentiert („tranformative utopianism“), wobei auch der Gemeinschaftsaspekt Àuide ist, da die Beteiligung stets freiwillig ist. Gemein- schaftliche Events ¿nden bewusst und praktisch per „Entscheidung mit den Fü- ßen“ statt oder werden in Form von Alltagstätigkeiten wie Mahlzeiten, Projek- „Intentionale Gemeinschaften“ 195 ten, Entscheidungsprozessen oder auch spirituellen Praktiken wie rituellen oder freien Festen, kreativen und kulturellen Aktivitäten, Kommunikations- und Kon- Àiktlösungsmethoden oder einfach innerhalb von Begegnungsräumen für per- sönliche Kommunikation realisiert. Dazu tragen die Performanz und das Kul- tivieren von KonÀiktlösungs- und ReÀexionsmethoden bei7, die zur kulturellen Alltagspraxis werden. Bei den Motiven von gemeinschaftlichem Leben geht es um weit mehr als den Wunsch nach einem Miteinander. Den Interviews zufolge sehnen sich viele Mitglieder in den untersuchten Gemeinschaften nach einem freien, gemeinschaft- lichen Zusammenkommen und einer direkten Verbindung zur 7ranszendenz oder zu Gott. 70% der Befragten (vgl. Kap. 2.1) geben spirituelle Motive für die Ge- meinschaftssuche als wichtig an, während nur 8% religiöse Motive ankreuzen. Standardisierte Rituale und Kirche werden mehrheitlich abgelehnt. Während also Religion mit einer anonymisierten und festgefahrenen Institution verbunden wird, sind mystische, spirituelle Wege für spätmodern transzendenzaf¿ne Menschen offenbar mit Selbsterfahrung und Gemeinschaft verbunden. „Intentionale Gemeinschaften“ mit spirituellem Ansatz benutzen für die Be- schreibung ihres Selbstverständnisses nicht den 7erminus „religiös“ und haben praktisch keine Verbindung mit traditionellen religiösen Gemeinschaften wie z. B. Klöstern.8 Sie sind auch nicht säkular, sondern suchen danach, ihre Bedürfnisse nach 7ranszendenz und Spiritualität zu leben und schaffen damit Ersatz für reli- giöse 7raditionen. Vielleicht lässt sich diese Suche nach „mystischer Erfahrungs- spiritualität“ nicht nur als „religionshybrides“ Feld – also Potpourri bestehender religiöser Praktiken – verstehen, sondern als „transreligiöses“ Experiment, in dem die 7eilnehmer eigene, meist erfahrungsbasierte spirituelle Praktiken allein oder gemeinsam entwickeln, die über die Reproduktion bestehender religiöser Prakti- ken hinausgeht und bei denen Tualitativ neue Inhalte von spiritueller Praxis ent- stehen können. Wesentliches Merkmal spiritueller Praxis im Fall „intentionaler Gemeinschaften“ ist, dass bewusst danach gestrebt wird, die Grenzen zwischen Sakralem und Profanem aufzubrechen. Gemeinschaft als Prinzip der Verbun- denheit und Kooperation steht vielleicht implizit im Zentrum und damit über be- stimmten Glaubensvorstellungen und religiösen 7raditionen.

7 Weit verbreitet ist die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) nach Marshall B. Rosenberg (Ro- senberg 2005). Das Soziale Forum ist eine Methode zur Darstellung der eigenen emotionalen Be¿ndlichkeiten und Hintergründe vor der Gruppe. In der moderierten Sitzung wird gegen- seitiges wertfreies Verständnis angestrebt. Es wurde in einer „intentionalen Gemeinschaft“ entwickelt. 8 Ein im Juni 2012 bei Wien durchgeführtes Symposium des intentionalen Austrotopia-Netzwerks unternahm diesen Versuch, erntete jedoch wenig Resonanz von Seiten der Klöster: vgl. http:// theoriekultur.at/wiki?Projekte/StilleUndF%C3%BClle/Programm. 196 Iris Kunze

Gemeinschaften kreieren ein Experimentierfeld, in dem kollektive Struk- tur geschaffen wird; und zwar direkt von den Beteiligten, das geistige, soziale und ökonomische Leben einbeziehend (Kunze 2009). Im Gegensatz zu den herr- schenden, überwiegend institutionellen, anonymen Strukturen eröffnet Gemein- schaft offenbar neue Qualitäten zur individuellen Entfaltung.

3.2 „Intentionale Gemeinschaften“ als kulturtransformative Orte „Intentionale Gemeinschaften“ wurden als soziale Bewegung (Schehr 1997) und als liminale Andersorte und Heterotopien im Sinne Foucaults (1986; Mejiering 2006) diskutiert. Von besonderem Interesse ist deren ‚inner-emanzipatorischer‘ Versuch, eigene kulturelle Praktiken zu schaffen. Robert Schehr (1997) interpre- tiert, dass „intentionale Gemeinschaften“ ‚normale‘ internalisierte Kulturlogiken bewusst offenlegen und konfrontieren. Damit schaffen sie Raum für die inne- ren menschlichen Handlungsintentionen. Die US-amerikanische Anthropologin Susan Brown (2002) charakterisiert intentional communities als kulturkritische Revitalisierungsbewegung (anknüpfend an Wallace 1956). Ob religiös oder sä- kular-politisch, traditionell oder utopisch, nimmt die Revitalisierungsbewegung eine Gegenposition zur vorherrschenden Gesellschaft ein. Der Unterschied zu politisch initiierten Arten der Gesellschaftsveränderung ist, dass die Revitalisie- rungsbewegung aus der individuellen Entscheidung, sein Leben und seine An- sichten über Gesellschaft und Kultur zu ändern, erwächst. Sie wirkt somit ‚von unten’ und schafft als Gegenbewegung zu herrschenden Gesellschaftsstrukturen Räume, in denen sich ähnlich intendierte Individuen zusammen¿nden und die angestrebten Utopien im kleinen überschaubaren Rahmen des Gemeinschaftspro- jekts umzusetzen versuchen. Durch die Erprobung in der Alltagspraxis ändern sich die Utopien gegebenenfalls, wie weiter oben anschaulich diskutiert („trans- formative utopianism“) wurde. Es ist zu beobachten, dass auch mit der Individualisierung Gemeinschaft po- pulär bleibt. Aber die Motive haben sich geändert. Sie scheinen zunehmend emo- tional, ideell und geistig und weniger materiell zu sein, denn die Entscheidung des Einzelnen für das Leben in einer „intentionalen Gemeinschaft“ ist kaum durch materielle Motive bestimmt, sondern geschieht v. a. aus sozialen und spirituellen Beweggründen (vgl. Umfrage Kap. 2.1). Gemeinschaft wird sowohl als Ort der Verbindlichkeit als auch der Selbstverwirklichung verstanden. 7rotz der verschie- denen thematischen Ausrichtungen, die von linkspolitischen über ökologische bis zu spirituellen Zielsetzungen reichen, verfolgen alle untersuchten „intentionalen Gemeinschaften“ das Prinzip der ‚Einheit in der Vielfalt‘ (Kunze 2009: 134ff). Es bezeichnet eine Form von Individualität, die im Bewusstsein von Verbunden- „Intentionale Gemeinschaften“ 197 heit ihre 7ransformation und Freiheit ¿ndet, also eine Synthese von Individuum und Gemeinschaft anstrebt. Nicht zuletzt stehen die „intentionalen Gemeinschaften“ vor der historisch neuen Herausforderung, individuelle und gemeinschaftliche Ansprüche verein- baren zu müssen, denn im Gegensatz zu traditionellen Gemeinschaften, in denen Individuen durch Rollen in ein normiertes Kollektiv eingebunden und abhängig sind, ist dies eine neue Qualität von Gemeinschaft, die „intentionale Gemein- schaften“ in und vielleicht erst durch individualisierte Gesellschaften entwickelt haben oder entwickeln mussten, um zu bestehen. „Intentionale Gemeinschaften“ sind daher gezwungen, aktiv mit dem gesellschaftlichen Wandel umzugehen und sich selbst Àexibel und entwicklungsfähig zu organisieren.

3.3 „Intentionale Gemeinschaften“ als posttraditionale Gemeinschaften „Intentionale Gemeinschaften“ erscheinen sozusagen als „Gemeinschaftshybri- de“ mit sowohl vormodernen, modernen als auch spätmodernen Merkmalen so- zialen Zusammenlebens. Die Verbindung von ‚intentional‘ und ‚Gemeinschaft‘ sperrt sich der klassischen soziologischen De¿nition, nach der Gemeinschaft als dasjenige aufzufassen ist, was Menschen „im Keime zu eigen, aber nicht planbar ist“ (Dierschke et al. 2006: 103; vgl. auch 7önnies 1963). „Intentionale Gemeinschaften“ haben einerseits Merkmale posttraditionel- ler Gemeinschaften wie z. B. Freiwilligkeit der Bindung, ein hohes Maß an Aus- tausch und Kommunikation sowie Konsensbildung (vgl. Hitzler 2008: 55ff). Die damit verbundene basisdemokratische Grundhaltung (Joas 2006) unterschei- det sich von typischerweise normenorientierten, homogenen Wertesystemen, die mit traditionellen Gemeinschaften in Verbindung gebracht werden (Plessner 2002; Mohrs 2006). In diesem Sinne lassen sie sich auch als Prototyp jenes Ge- meinschafts- und Einverständnishandelns deuten, das 7önnies (1963) und Weber (1964) zufolge Grundlage jeglicher Vergesellschaftung ist. Unter „intentionalen Gemeinschaften“ werden demnach Formen des Zusammenlebens verstanden, die von Akteuren gewollt (intendiert) und zugleich durch Gemeinschaftlichkeit ‚ungeplant‘ entstehen. Andererseits lassen sie sich nicht ohne Weiteres mit modernisierungstheo- retischen Vorstellungen begründen, die bis heute den Diskurs um Gemeinschaft und Gesellschaft prägen (Bauman 2009). Denn im Gegensatz zu posttraditiona- len Gemeinschaften (vgl. Hitzler et al. 2008) wie Szenen, „Gruppenevents“ und Foren streben „intentionale Gemeinschaften“ nach verlässlichen, nachhaltigen, nicht kommerziell motivierten Kollektivbindungen mit einem hohen Maß an In- dividualität und SelbstreÀexion der Mitglieder. Des Weiteren sind ihre Bindun- 198 Iris Kunze gen ohne institutionelle oder kommerzielle Fundierung relativ stabil und haben auch dann Bestand, wenn ihre Mitglieder wechseln. Ähnlich wie die von Cas- tells (2002) identi¿zierten lokalen Gemeinschaften zeichnen sich „intentionale Gemeinschaften“ dadurch aus, dass sich in ihnen gleichgesinnte Individuen auf gemeinsame Grundsätze für das Zusammenleben einigen und sich an einem Ort gemeinsam niederlassen, um dort selbstständig zu leben und zu wirtschaften. Da- her haben sie auch das Potenzial und intendieren bewusst, alternative kulturelle Orte – Heterotopien – zu schaffen. „Intentionale Gemeinschaften“ sind letztlich weder rein traditional noch rein posttraditional zu fassen, auch lassen sie sich nicht politisch einordnen. Sie kön- nen als kulturkritische Revitalisierungs- und Emanzipationsbewegung (Brown 2002) gegen strukturelle Abhängigkeiten von der mikrostrukturellen Ebene aus begriffen werden (Grundmann und Kunze 2008:181f). Solche Lebensgemein- schaften sind mit ihren eher transreligiösen als religionshybriden Praktiken Ex- perimentierfelder und Gestaltungsräume für heterogene kulturelle Praktiken, die zwischen Profanem und Sakralem im individuell privaten bis gemeinschaftlich halböffentlichen Raum kommunizieren und „Bräuche“ bis in die Alltagslebenspra- xis des Wohnens und Arbeitens manifestieren (Kunze 2009).

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Auf dem Gelände des ehemaligen Zisterzienser Nonnenklosters in Rühn1 ragt zwischen Verkaufsständen und Imbissangeboten eine hölzerne Bühne hervor. Darauf stimmen drei kostümierte Spielleute mit ihren historischen Instrumenten mittelalterliche Volkslieder an und verleihen dem Klostermarkt seine charakte- ristische Note. Die Inszenierung von Vergangenheit lockt zahlreiche Besucher2 an den Ort, an dem einst Nonnen ihr Leben mit Gebet und Arbeit verbracht ha- ben. Musikalische Klänge, kulinarische Düfte und das neugierige Flanieren zwi- schen traditional gefertigten Werkzeugen und Produkten wecken bei den Anwe- senden Vorstellungen, die sie mit diesem ehedem bedeutsamen Ort verbinden. Das Beispiel des Klostermarktes beschreibt ein soziologisches Phänomen der Gegenwart. 7ypisch sind die soziale Form – Menschen bilden hier eine posttradi- tionale Gemeinschaft – und der Raumbezug, der sich durch ein starkes Interesse an symbolischen Orten (siehe Liszka, i. d. Bd.) äußert. Aus dieser Kombination von Sozialform und Raumfokussierung sind mitunter Handlungen wahrzuneh- men, die nicht selten religionsaf¿ne Motive erkennen lassen und durch bestimmte Symbole (z. B. Kreuze) und Kostümierungen (z. B. Mönchskleidung) ausgedrückt werden. Wo Menschen zusammenkommen, sind Performanzen zu beobachten, die in dieser besonderen Qualität von Sozialität durchaus auch als außeralltägliche Performanzen erlebbar sind. Der vorliegende 7ext befasst sich mit außeralltägli-

1 Bischof Brunward von Schwerin stiftete das Zisterzienser Nonnenkloster in Rühn im Jahr 1232. Um 1250 folgte der Bau der Kirche. Das Kloster wurde 1557 in ein evangelisches Stift umgewandelt. 1578 richtete man eine Mädchenschule für adelige 7öchter ein. Von 1905 bis 1915 diente das Gebäude als Erholungsheim für junge Mädchen, von 1950 bis 1991 wurde das Kloster als Jugendwerkhof für schwer erziehbare Jugendliche genutzt. Seit 2005 pÀegt der Klosterverein Rühn das kulturhistorische Erbe der Klosteranlage und organisiert jährlich statt¿ndende Kunsthandwerkermärkte und Konzerte (weitere Informationen auf www.klos- terverein.de). 2 Aus Gründen der einfachen Lesbarkeit wird im Folgenden nur die männliche Bezeichnung verwendet. Auf eine explizite Anwendung der weiblichen Form wird verzichtet. Gleichwohl sind damit aber immer weibliche wie männliche Personen gemeint.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 204 7homas Käckenmeister chen Performanzen als Merkmal posttraditionaler Gemeinschaften. Konkret wer- den dabei die in diesem Band betrachteten religionshybriden Phänomene erläutert. Performanzen – so soll hier de¿niert werden – stellen soziale Handlungsvoll- züge in realisierten räumlichen Ordnungen dar, die von unterschiedlichen Akteu- ren mit Geltungsansprüchen verbunden werden. Religionshybride (oder generell: außeralltägliche) Performanzen – so die 7hese – zeigen sich in Handlungsabläu- fen oder -produkten von außeralltäglichem Format, wie zum Beispiel bei Klos- terfesten, Konzerten, Mittelaltermärkten oder Yogafestivals. Will man diese au- ßeralltäglichen Performanzen empirisch erfassen, dann ist zugleich die soziale Form des menschlichen Miteinanders zu analysieren, und man wird methodolo- gisch auch auf Tualitative Verfahren zurückgreifen müssen. Es ist sowohl nach dem Wie, konkret: durch welche Arten und Weisen, als auch nach dem Warum, konkret: nach den Handlungsmotiven und ihrer Pragmatik, zu fragen. Das wis- senschaftliche Interesse richtet sich primär auf die Erscheinungsformen verschie- dener Vergemeinschaftungen. Dabei geht es weiterhin um die (potenzielle) Reli- gionshaltigkeit einer Kultur bzw. um die kulturelle Ausprägung einer (hybriden) Religion. Es ist die Frage zu beantworten: Welche Performanz zeigt sich in der symbolischen Interaktion bestimmter Gruppen bzw. Vereine? Insofern sich Re- ligion immer als Verhalten äußert, das in kulturelle Darstellungsformen eingela- gert ist, rücken mit der Frage nach der Performanz auch Überlegungen zur Reli- gionshybridität mit in den Fokus. Der 7ext setzt fort mit einer knappen Einordnung des Performanzbegriffs, differenziert zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit wie auch zwischen Ver- gemeinschaftung in traditionaler und posttraditionaler Form. Anschließend wird dargestellt, dass außeralltägliche Performanzen in posttraditionalen Gemeinschaf- ten zum Ausdruck kommen, welche Prozesse innerhalb dessen ablaufen und wie Motivstrukturen durch Performanzen Deutungen ermöglichen. Der 7ext orien- tiert sich am Beispiel eines Klostermarktes, um die theoretischen Erkenntnisse in einen praxisbezogenen Rahmen einzubetten.

Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene 205

1. Zur Geschichte des Performanzbegriffs Der Begriff der Performanz3 hat seine Wurzeln in der Sprachwissenschaft4 und erfuhr im Laufe der Jahre eine weitreichend differenzierte Ausbreitung (vgl. Carl- son 1996) und wissen schaftsgeschichtliche 7ransformation von „einem terminus technicus der Sprechakt theorie zu einem umbrella turn“ (Wirth 2002: 10) in den Kulturwissenschaften. Bedeutsam ist dabei die „Kultur-als-Performance-Meta- pher“ (Düllo 2011: 545), bei der die „Körperlichkeit von Handlungen“ (ebd.) im Vordergrund steht. Der Philosoph Umberto Eco beschreibt Performanz als Dar- stellung bzw. Vorführung von etwas, das durch Ostension5 (lat. „zeigen“, „vorzei- gen“, „anweisen“) als grundlegendes Moment realisiert wird (Eco 2002: 262ff). Performanzen sind „integraler Bestand des alltäglichen Lebens und der alltags- kulturellen Erfahrung“ (Klein/Sting 2005: 7), weil jede Performanz in einem kul- turellen Rahmen eingelagert ist und durch die jeweilige Kultur de¿niert und kon- textbezogen interpretiert wird. Der Ethnologe Victor 7urner versteht Performanz als eine Praxis, die Spurenelemente einer Kultur aufzeigt.6 Performanzen durchdringen das Soziale. Sie sind sowohl im Alltag als auch in dessen Durchbrechung, der Außeralltäglichkeit, wahrnehmbar. Besondere per- formative Praktiken, die der täglichen Ordnung entsagen, sollen als außeralltäg-

3 Etymologisch leitet sich der Begriff Performanz von den lateinischen Wörtern forma (Form, Gestalt, Figur, Beschaffenheit, Charakter, Bild, Erscheinung, Modell, Schönheit) bzw. formare (gestalten, bilden, darstellen, verfertigen) ab. Die Vorsilbe per (durch und durch) intensiviert die genannten Bedeutungen, indem sie als ringsum, über, hin, entlang, durch, hindurch (lokal) – um, während, in (temporal) – vermittels, mit Hilfe von, unter dem Vorwand (instrumental) – wegen, infolge, aus, bei, um willen (kausal) verstanden werden kann (vgl. Werner 1997). Performance stammt vom mittelenglischen Lexem parfournen, später parfourmen, das auf das altfranzösische Wort parfourir, par (gründlich) plus fournir (ausstatten), zurückgeht. Es bedeutet „zur Vollendung bringen“, „ausführen“ oder „aufführen“ (perform). (7urner 2002: 195). 4 John L. Austin, Begründer der Sprechakttheorie, fasste den Begriff erstmals programmatisch im Jahr 1961 (Wirth 2002: 9). 5 Eco nennt ein Beispiel für ostensives Handeln: „Sie fragen mich: ,Wie soll ich mich für die Party heute abend kleiden?‘ Wenn ich antworte, indem ich auf meine Krawatte und mein Jackett zeige und sage: ,ungefähr so‘, dann bezeichne ich durch Ostension. Meine Krawatte bedeutet nicht meine tatsächliche Krawatte, sondere Ihre mögliche Krawatte (die von anderem Stoff und von anderer Farbe sein kann), und ich ,performiere‘, indem ich Ihnen Ihr Ich dieses Abends darstelle.“ (Eco 2002: 267). 6 „Cultures are most fully expressed in and made conscious of themselves in their ritual and theatrical performances […]. A performance is a dialectic ,Àow‘, that is, spontaneous movement in which action and awareness are one, and ,reÀexivity‘, in which the central meanings, values and goals of a culture are seen ,in action‘, as they shape and explain behavior. A performance is declarative of our shared humanity, yet it utters the uniTueness of particular cultures. We will know one another better by entering one another’s performances and learning their grammars and vocabularies.“ (7urner 1991: 1). 206 7homas Käckenmeister lich bezeichnet werden. Außeralltägliche Performanzen treten bei kollektiven Sozialformen auf, die von Kurzfristigkeit, Unverbindlichkeit und Affektivität geprägt sind. Sofern sie zudem religiös kontaminiert sind, sollen sie als religi- onshybride Performanzen gelten. Eine Inszenierung erfolgt durch die Kostümie- rung und das Schlüpfen in eine andere Rolle, um sodann jemanden bzw. etwas Ernsthaftes zu verkörpern und darzustellen. Im Vergleich zum Karnevalesken, das sich weitgehend durch Kontingenz und Willkür auszeichnet, ist hierbei von intendierter Programmatik auszugehen, um performative Praktiken zu ermögli- chen. Beispielsweise zeigt sich religionshybride Performanz auf einem Kloster- markt während einer Rede, die von einer als 7empelritter gekleideten Person mit spezieller Mundart vorgetragen wird, denn hier erfolgt in der Brechung des All- tags ein Bezug auf Religiosität.

2. Außeralltäglichkeit als Durchbrechen der Norm Außeralltäglichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Norm des Alltägli- chen sprengt und die Regeln der Welt außer Kraft setzt (vgl. Albrecht 2007: 278; Gebhardt 2011: 189). Das Außeralltägliche steht für die Befreiung vom Alltag bzw. den Ausnahmezustand, um vorübergehende Verhaltens- und Interaktions- weisen zuzulassen (vgl. Niekrenz 2011: 257). Außeralltäglichkeit unterbricht die raumzeitlichen Strukturen wie auch das soziale Handeln des Alltäglichen7 und füllt diese Lücke mit Außergewöhnlichkeit: „Alltag und Außeralltäglichkeit sind nicht als zwei entgegengesetzte Pole zu verstehen, sondern als dialektisch mitei- nander verwobene Wirklichkeitsbereiche.“ (Niekrenz 2011: 189). Spuren von Außeralltäglichkeit sind in der 7heatralik erkennbar, beispiels- weise in der Art und Weise, wie sich Personen auf Klostermärkten kleiden, wie sie sprechen, musizieren oder sich in Szene setzen. Zugleich werden Bestandtei-

7 „Unsere Alltagswelt wird von der sozialen Zeit (Standardzeit) geprägt. Der Kalender ordnet den Jahresverlauf und legt die zyklische Wiederkehr von Festen und Bräuchen fest. Der Jah- resverlauf ist von der Heterogenität geprägt, denn es gibt zahlreiche Ereignisse und Zeiträume, die sich abheben von der rationalen Welt des Alltags. Der Zeit des Außeralltäglichen mit ihren charismatischen Kräften (Weber 1980: 245) kommt eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Das Handeln im Außeralltäglichen zeichnet sich durch seine Seltenheit gegenüber dem All- tagshandeln, durch sein unstetes Wesen, seine Wirtschaftsfremdheit und die Momente von Zorn und Hingabe aus. Nur als Gelegenheitserscheinung ist die Ekstase dem Laien zugänglich und stellt einen „gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch“ (Weber 1980: 246) dar. […] Die Momente des Außeralltäglichen verleihen dem Alltag erst seinen Sinn, denn während der Alltag das „physische“ Überleben sichert, sorgt die Welt des Außeralltäglichen für das „metaphysische“ Überleben (vgl. Muri 2004: 206; Niekrenz 2011: 189ff). Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene 207 le eines kulturellen Gedächtnisses (ggf. siehe Liszka, i. d. Bd.) reÀektiert, wie das historische Bild, das durch einen Klostermarkt inszeniert und gemeinschaftlich er- fahren wird. Diese Sprengung des Alltags steht sinnbildlich für die Wiederentde- ckung bzw. Er¿ndung einer 7radition und für die Konstruktion einer gemeinsam geteilten Erinnerung. Die in Erscheinung tretenden Performanzen sind außerall- täglich, weil sie bewusst erzeugt werden und nur für die Dauer und das Bestehen des Klostermarktes Bestand haben. Nach Beendigung des Klostermarktes setzt für die Protagonisten wieder der Alltag ein. Für Besucher endet die Außeralltäg- lichkeit mit dem Verlassen des Klostermarktes. Im weiteren 7ext wird einerseits zwischen traditionaler Gemeinschaft und posttraditionaler Gemeinschaft, andererseits zwischen alltäglichen und außertäg- lichen Performanzen unterschieden, weil religionshybride Phänomene sich durch den Aspekt der Außeralltäglichkeit auszeichnen und jeweils in unterschiedlicher Weise bei traditionalen und posttraditionalen Gemeinschaften vorzu¿nden sind.

3. Außeralltägliche Performanz in posttraditionalen Gemeinschaften Posttraditionale Vergemeinschaftungen sind charakteristisch für die Gegenwart und für die Geselligkeitsoptionen von Individuen. Menschen können selbst ent- scheiden, wann, wie und warum sie sich einem Kollektiv anschließen. Es steht ihnen frei, ein Yoga-Festival, eine Gongmeditation oder einen am Mittelalter ima- ginierten Klostermarkt zu besuchen. Die posttraditionalen Gemeinschaften sind gekennzeichnet durch einen selbstgewählten, freiwilligen Ein- und Austritt, emo- tionale Hingabe, affektuelle Zugehörigkeit, Kommerzialisierung und Konsumo- rientierung ohne Verbindlichkeiten (vgl. Hitzler 1998: 86). Posttraditionale Gemeinschaften grenzen sich von traditionalen Gemein- schaften8 im Wesentlichen durch Aspekte der Verbindlichkeit, des Kohäsions- grades und der Zeitlichkeit ab. Während bei traditionalen Gemeinschaften zum Beispiel eine relativ feste Bindung zwischen den Individuen besteht, sind postt- raditionale Gemeinschaften vorwiegend von einer losen Bindung zwischen den Individuen geprägt. Vertrauen, emotionale Zugehörigkeit, Homogenität (vgl. 7ön- nies 2005), Dauerhaftigkeit und Alltäglichkeit kennzeichnen traditionale Gemein- schaften. Individual gewählte Ein- und Austrittszeitpunkte in das Kollektiv sowie

8 7önnies de¿niert Gemeinschaft im traditionalen Sinne als „lebendigen Organismus“ des „dau- ernden und echten Zusammenleben“ (7önnies 2005: 4). Durkheim kennzeichnet traditionale Gemeinschaft als Kollektiv, das „alternativlos aneinander gebunden“ (Schroer/Wilde 2012: 79) ist. Wesentlich ist die Qualität des „sozialen Bandes“ (Durkheim 1992: 111), das den Grad der sozialen Bindung beschreibt. Durch die AuÀösung traditionaler Gemeinschaften hin zur Vereinzelung der Individuen lockert sich dieses „soziale Band“. 208 7homas Käckenmeister außeralltägliches Erleben ohne VerpÀichtungen sind hingegen typisch für postt- raditionale Gemeinschaften. Institutionalisierte Organisationsformen wie Verei- ne, Familien oder Bewohner eines Dorfes sind als traditionale Gemeinschaften zu kennzeichnen, posttraditionale Vergemeinschaftungsformen sind bei Ereignissen unverbindlichen Charakters (z. B. Klostermärkte, Kirchturmfeste, Public View- ing Events) festzustellen. Aufgrund dieser unterschiedlichen Eigenschaften kön- nen auch performative Handlungen am Grad der Sozialform bestimmt werden. In posttraditionalen Gemeinschaften dominieren außeralltägliche Performanzen, die für die Dauer der Vergemeinschaftung wahrnehmbar sind. Außeralltägliche Performanzen hingegen sind bei traditionalen Gemeinschaften nur als Durchbre- chung des Alltags durch Feste, Feiern oder andere Veranstaltungen feststellbar; sie suspendieren den Alltag. Hier herrschen eher performative Alltagspraktiken vor. Wird der Alltag bei traditionalen Gemeinschaften9 in seiner Norm und sei- nen ritualisierten Handlungen gebrochen, z. B. durch bestimmte Ereignisse wie die 7eilnahme an Workshops oder Festivals10, dann sind für die jeweilige Dauer außeralltägliche Performanzen dominant. Während alltägliche und außeralltäg- liche Performanzen als zeitlich aneinander geknüpfte Wirklichkeitsbereiche cha- rakteristisch für traditionale Gemeinschaften sind, in denen die Außeralltäglich- keit die Durchbrechung des Alltags ermöglicht, sind posttraditionale Formen der Vergemeinschaftung von außeralltäglichen Performanzen geprägt. Für Vergemeinschaftung ist die physische Kopräsenz mehrerer Akteure Voraussetzung. Dabei ist der Körper jedes einzelnen Individuums nach Erving Goffman11 notwendig für soziales Handeln im Kollektiv und „wird […] (neben Symbolen und Ritualen) zu einem zentralen Medium12 bei der Aufführung der für die Vergemeinschaftung typischen performativen Praktiken“ (Niekrenz 2011:

9 Im Projekt „Religionshybride“ stellen Lebensgemeinschaftsprojekte eine Form traditionaler Gemeinschaft dar. Lebensgemeinschaftsprojekte stufen sich selbst als alternativ/ökologisch ausgerichtet ein und zeichnen sich durch folgende Kriterien aus: Leben in einer bewusst gegründeten Gemeinschaft, die Mitgliedschaft und das Zusammenleben wurden freiwillig gewählt, die Gemeinschaft ist auf Dauer angelegt, besteht aus mindestens fünf Personen und die Mitglieder wirtschaften (und wohnen) zumindest teilweise gemeinsam. 10 Ein Beispiel ist das Lebensgemeinschaftsprojekt „Lebensgemeinschaft Klein Jasedow“ (www. kleinjasedow-familie.de), das in einem Dorf im Nordosten Mecklenburg-Vorpommern seinen Alltag bestreitet, aber auch Veranstaltungen wie Gongmediationen (www.eaha.org) oder das jährliche statt¿ndende OYA-Festival (www.oya-festival.de) durchführt. 11 Der kanadische Soziologe Erving Goffman gilt als Klassiker einer interaktionistischen So- ziologie des Körpers. Ausführliche Darstellungen zu den Arbeiten Goffmans und weiterer Autoren sind in einer Soziologie des Körpers erschienen (vgl. Gugutzer 2004). 12 Der Körper hat eine wesentliche Bedeutung für die symbolisch vermittelte Interaktion, da er die Grundlage für die Kommunikation mittels nonverbaler signi¿kanter Gesten ist (vgl. Niekrenz 2011: 41). Weiterhin sind Kleidung und Kostümierung wesentliche Ausdrucksmittel kultureller Formung, die den Körper zu einem komplexen Kommunikationsmedium werden Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene 209

42). Diese Performanzen – gleich ob alltäglich oder außeralltäglich – sind zu- dem Ausdrucksmittel eines bestimmten Benehmens und eng mit Routinehand- lungen verbunden. 7ypisch ist zudem eine „zunehmende Bedeutung des Performativen in Kör- per- und Selbstinszenierungen, in der Aufführung von Alltagsritualen und der Flüchtigkeit posttraditionaler Gemeinschaften“ (Klein/Sting 2005: 8ff.), da sich Performanzen „eher durch ihren ,Modus‘, denn durch ihre ,Form‘“ (Klein/Sting 2005: 10) auszeichnen. Sie erschaffen „Gemeinschaften des Augenblicks […] und sind deshalb zentral für das Verstehen von posttraditionalen Vergemeinschaf- tungsformen und bedeutend zur Erkenntnis (inter-)kultureller Alltagspraktiken. Performances intensivieren die Face-to-Face-Kommunikation und provozieren damit ein anderes Verhältnis von Akteur und Zuschauer; nicht die Akteure al- lein, sondern die Zuschauer sind es, die die Performance als solche legitimieren und über das Gelingen oder Scheitern der Performance entscheiden. Der Erfolg und die Qualität der Performance lassen sich also nicht an einem festgelegten Kriterienkatalog messen, sondern zeigen sich in der erfolgreichen Interaktion“ (Klein/Sting 2005: 10). Die folgende Argumentation orientiert sich an posttraditionalen Gemein- schaften, in denen außeralltägliche Performanzen beobachtbar sind, ohne deren Entstehungsbedingungen weiter zu hinterfragen.

4. Performanzen in Vergemeinschaftungsformen Um die Frage zu beantworten, was in Kollektiven performativ ausgedrückt werden soll, wird ein Schema eingeführt (vgl. Abb. 1). Ausgehend vom Individuum läuft ein Prozess hin zur Kollektivbildung ab. Je nach Gemeinschaftstypus wird an- schließend zwischen außeralltäglichen und alltäglichen Performanzen differenziert. Entscheidet sich das Individuum zum Beispiel für den Besuch eines Klos- termarktes, um durch das Gemeinschaftserleben dem Alltag zu entÀiehen und unverbindliches Zusammensein mit anderen zu wählen, dann wird es 7eil einer posttraditionalen Gemeinschaft. Das Individuum erfährt als Element der sich post- traditional vergemeinschaftenden Masse außeralltägliche Performanzen. Diese werden durch einzelne Akteure des Kollektivs, die mit diesen Performanzen be- traut sind, vollzogen. Gemeint sind hier die darstellenden Akteure, die sich vom Publikum abgrenzen, indem sie zum Beispiel auf einer Bühne stehen. Zwischen Individuen werden im Kollektiv weitgehend deutungsoffene Darstellungshandlun-

lassen. Informationen über das Individuum und seine sozialen Zugehörigkeiten wie auch Angrenzungen werden durch die Inszenierung des Körpers sichtbar (vgl. Niekrenz 2011: 84). 210 7homas Käckenmeister gen körperlich-sinnlich und situativ-szenisch vollzogen, um etwas als etwas – per- formativ – zum Ausdruck zu bringen. Dabei kann ein Publikum die Performanz

Abbildung 1: Performanztypen in Gemeinschaftsformen (eigene Darstellung)

Individuum

Kollektiv

TRADITIONALE POSTTRADITIONALE GEMEINSCHAFT GEMEINSCHAFT

Alltägliche und Außeralltägliche außeralltägliche Performanz Performanzen

entweder lediglich wahrnehmen und nicht aktiv am Handlungsgeschehen teilha- ben oder aktiv sein, so dass eine reziproke Handlungsfolge evoziert wird. Diese Performanzen werden durch das Kollektiv sanktioniert, sie werden entweder be- stätigt und es gipfelt beispielsweise bei einem Konzert in Applaus oder das Kol- lektiv äußert Ablehnung, z. B. durch Buhrufe. Durch Mitsingen, Klatschen oder 7anzen ist z. B. eine 7eilnahme des Publikums an einer musikalischen Perfor- manz bei einem Konzert auf einem Klostermarkt denkbar. Solche Konzerte ste- hen exemplarisch für posttraditionale Gemeinschaften. Es steht dem Zuschauer frei, ob die musikalische Darbietung sinnhaft, handlungsaktiv und performativ mitgestaltet wird. Es liegt in der Logik von Performanzen, dass hier die Grenzen zwischen Darstellern und Zuschauern verwischen können. Das Publikum, das Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene 211 auf aktiv produzierende Darsteller trifft, ist keineswegs nur passiv rezipierend. Vielmehr verschmelzen Publikums- und Protagonistenrollen in der gemeinsamen Darstellung. Beides sind 7eilfunktionen einer außeralltäglichen Performanz, die im Modus der Rezeption zusammenfallen. Die Veranstalter des Klostermarktes beabsichtigen die Erschaffung und das Erleben eines Ensembles von Händlern, Darstellern, Marktständen und Angeboten, das den Besuchern ein besonderes Flair – wider des Alltäglichen – zeigen soll. Au- ßeralltägliche Performanzen sind auf dem Klostermarkt wahrnehmbar, z. B. durch das Schaufertigen von Produkten mittels Schmiede-, Flecht- oder Holzschnitz- kunst, bei dem Besuchende zum Mitwirken eingeladen sind; sie sind in ihren Be- standteilen und Ausdrucksformen als kulturelle Praktiken wahrnehmbar und er- langen ihre Bedeutung erst in der Bezugnahme auf die sozial-räumliche Ordnung, in der sie statt¿nden. Außeralltägliche Performanzen gelten solange, wie die post- traditionale Vergemeinschaftung Bestand hat. Löst sie sich auf, verschwindet auch die außeralltägliche Performanz; das Kollektiv „zerbricht“ in seine Individuen. ÄTuivalent verläuft der Prozess des Individuums hin zur traditionalen Ge- meinschaft, zum Beispiel der Familie. Aufgrund des hohen Bindungsgrades zwi- schen den Individuen erfolgt hier ein „Zerbrechen“ des Kollektivs nur in Ext- remsituationen; z. B. können Streit, 7rennung oder Scheidung ein AuÀösen des Kollektivs hervorrufen. Kulturwissenschaften operieren mit der Annahme, dass „in Festen, Umzü- gen, Wettkämpfen, Aufführungen, Konzerten, Initiations-, Hochzeits- oder Be- gräbnisriten“ (P¿ster 2005: 173) Performanzen erzeugt werden (vgl. Düllo 2011: 543). Im Falle der religionshybriden Phänomene sind außeralltägliche Perfor- manzen wahrnehmbar. Dabei wirken außeralltägliche Performanzen in doppelter Hinsicht: „transformiert wird im performativen Akt sowohl das Selbst als auch ein Material, ein Ding, ein Symbol, ein System, eine ganze Formation“ (ebd.). Was aber wird durch außeralltägliche Performanzen transformiert? Wäh- rend der Performanzwahrnehmung erfolgt das Durchlaufen einer „Schwellener- fahrung“ (Fischer-Lichte 2004: 305), die in drei verschiedenen Phasen13 erfolgt:

„1. Die 7rennungsphase, in der der/die zu 7ransformierende(n) aus seinem/ihrem Alltagsleben herausgelöst und seinem/ihrem sozialen Milieu entfremdet wird/werden; 2. die Schwellen- oder 7ransformationsphase; in ihr wird/werden der/die zu 7ransformierende(n) in einen Zustand ,zwischen‘ allen möglichen Bereichen versetzt, der ihm/ihr/ihnen völlig neue, zum 7eil verstörende Erfahrungen ermöglicht;

13 Dieser Prozess basiert auf der Ritualforschung Victor 7urners, der sich wiederum auf Arnold van Genneps‘ Liminalitätsstudie Les rites de passage (1909) bezieht (vgl. Düllo 2011: 546). 212 7homas Käckenmeister

3. die Inkorporationsphase, in der der/die nun zu 7ransformierende(n) wieder in die Gesell- schaft aufgenommen und in seinem/ihrem Status seiner/ihrer veränderten Identität akzeptiert wird/werden.“ (Fischer-Lichte 2004: 305).

Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhang von einem „gesteigerten Gemein- schaftsgefühl, das die Grenzen aufhebt“, und von einer „spezi¿schen Verwendung von Symbolen, die es als verdichteten und mehrdeutigen Bedeutungsträger erschei- nen lässt und es Akteuren wie Zuschauern ermöglicht, verschiedene Interpretati- onsrahmen zu setzen.“ (Fischer-Lichte 2004: 306). Es handelt sich hier um „vorü- bergehende“ 7ransformationen, „die nur für die Dauer der Aufführung oder auch nur für eine begrenzte Zeit innerhalb der Aufführung anhalten“ (Fischer-Lichte 2004: 313). Außeralltägliche Performanzen, wie sie beispielsweise auf Klostermärk- ten wahrnehmbar sind, besitzen den Charakter des Flüchtigen, Nicht-Dauerhaf- ten und Zeitlich-Begrenzten. Düllo nennt es unter Rückgriff auf Derrida „Ultra- gegenwärtigkeit“ (Düllo 2011: 552). Performanzen transformieren sowohl sich als auch etwas mittels interaktionistischer Inszenierung im Hier (Ort) und Jetzt (Zeit).

5. Zur Deutung performativer Handlungen Performanz kann als heuristisches Instrument begriffen werden, um die von Hand- lungsfolgen ausgehenden Vollzüge analytisch darzustellen. Performanz kann die- sem Verständnis nach mittels einer verdichteten Beobachtungsbeschreibung14, bestehend aus einfachen 7eilhandlungen, gedeutet werden. Wesentlich sind da- bei die Berücksichtigung von Perspektivwechseln, Machtpositionen und Inter- aktionen während der performativen Handlungen, die sich durch raumzeitliche Ko-Präsenz der performierenden Akteure auszeichnen. Während der Performanz können sich die Akteure von ihrer Umwelt, i. d. R. dem Publikum, abgrenzen, aber auch (sich selbst als) Zuschauer einbeziehen. Religiöse Performanzphäno- mene nötigen „gewissermaßen zu einer spielerischen Identi¿kation mit den Pro- tagonisten. […] Der Zuschauer ist als Wahrnehmender immer auch zugleich ein Handelnder, denn er nimmt […] durch sein 7un – und sei es nur durch seine äu- ßerlich passive aisthesis – und durch das, was mit ihm geschieht, auf den Verlauf der Aufführung EinÀuss. Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf den Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, hat Auswirkungen auf die Akteu- re. […] Das Involvement hebt gewissermaßen die Opposition zwischen Wahrneh-

14 Die Methode der „dichten Beschreibung“ wurde von Clifford Geertz entwickelt, dessen ethno- logische Forschungen und Überlegungen darauf abzielten, „die Bedeutung sozialer Ereignisse zu erfassen und dies auf der Basis der Beobachtung einfacher Handlungen zu tun“ (Wolff 2000: 87). Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene 213 men und Handeln auf.“ (Klie 2007: 62ff). Kennzeichnend ist hier die Reziprozi- tät zwischen Gemeinschafts- und Performanztyp. Eine ergänzende Analysemethode bietet die Interpretation performativer Zeichen15 und symbolischer Ordnungen, denn Performanz artikuliert sich in ver- schiedenen (theatralen) Zeichen bzw. (szenischen) Kodierungen. In der deutenden Wahrnehmung wird den Phänomenen über die Zeichenbildung Sinn eingeschrie- ben; eine bestimmte Bedeutung wird zugewiesen. Insofern implizieren Symbo- le Handlungsanweisungen und Gebrauchszusammenhänge und führen zugleich eine ihnen eigene Performanz mit sich. Beim eingangs beschriebenen Kloster- markt symbolisiert zum Beispiel ein Herold mit Pergamentrolle den Besuchern, dass in Kürze womöglich eine wichtige Mitteilung erfolgt. Performanz muss dabei nicht an ein bestimmtes Inszenierungsmuster gebun- den sein und äußert sich in kontingenten Ausprägungen. Mitwirkende auf Klos- ter- bzw. Mittelaltermärkten schlüpfen durch ihre Verkleidung und ihr Auftreten als Ritter, Mönch oder Gaukler in eine Rolle und performieren die außeralltäg- liche Situation durch ihre Handlungen bewusst in einer historisch-merkantilen Struktur. Performanz kann in der KonseTuenz als aktive Kunstform ästhetischen Erlebens bezeichnet werden. Performativ endet auch der Klostermarkt in Rühn:

Ein Mönch des Zisterzienser-Klosters Bochum-Stiepel feiert in der gotischen Backsteinkirche eine katholische Nachtmesse. 35 Gläubige nehmen daran teil. Darunter sind acht als 7empel- ritter (mit weißen bzw. schwarzen Umhängen und 7emplerkreuz) verkleidete Besucher und drei Spielleute, die den Gottesdienst musikalisch begleiten. Sie singen die ersten beiden Lie- der: „Laudato Si“ und „Da berühren sich Himmel und Erde“. Später werden 7aizé-Gesänge gesungen („Laudate Omnes Gentes“). Die Predigt bezieht sich auf das Johannes-Evangeli- um, Kapitel 15 (Der wahre Weinstock). Zum Abschluss singen alle „Großer Gott, wir loben Dich“, von der Orgel begleitet.16

Die Zusammenkunft der Besucher in der Klosterkirche, die gemeinsam eine ka- tholische Messe feiern, ob kostümiert oder nicht, ruft Vorstellungen von vergan- genen Zeiten wach. Der Gottesdienst ist in das Gesamtprogramm eingebettet. Re- ligiöse Performanzen, die der Klostermarkt an sich aufgrund seines merkantilen Charakters nur anzudeuten, aber nicht vollends zu vermitteln vermochte, sind in

15 Maßgeblich für Deutungen von Performanz ist das Zeichen, dem Charles S. Peirce, Begründer der amerikanischen Semiotik, repräsentative Funktion zuschreibt. Ein Zeichen ist „etwas, das für jemanden in dieser oder jener Hinsicht oder Eigenschaft für etwas anderes steht, etwas physisch Anwesendes, das auf etwas Abwesendes verweist.“ (Eco 2002: 266). 16 Kurzbeschreibung der katholischen Nachtmesse anlässlich des 7. mittelalterlichen Klosterfestes in Rühn am 5. Mai 2012. 214 7homas Käckenmeister der Klosterkirche durch den Gottesdienst erfahrbar. Kostümierungen einiger Be- sucher unterstreichen die Außeralltäglichkeit dieses Ereignisses.

6. Fazit Soziale Handlungen führen Bedeutungen mit sich. Werden diese Semantiken dargestellt, so bildet die Kategorie der Performanz eine ReÀexionsfolie für Mo- tivstrukturen. Performanz verweist im Allgemeinen auf etwas Dahinterliegen- des, das interaktiv, handelnd und sinnstiftend in eine Form überführt wird. In einem interpretativen Rahmen wird etwas als etwas dargestellt. In posttraditio- nalen Gemeinschaften dienen außeralltägliche Performanzen als sozialer Kata- lysator für das kollektive Erleben. Der Àüchtige Charakter des Posttraditionalen wird in außeralltäglichen Performanzen17 sichtbar und verweist auf das Erfunde- ne, das bewusst Inszenierte, das gezielt Arrangierte, das in der Vergemeinschaf- tung seine Wirkung hervorruft. Bei der Inszenierung sind die Darsteller immer auch zugleich das Publikum ihrer selbst. Die heuristische Perspektive religiöser Hybridbildungen setzt voraus, dass das Erzeugen neuen Sinns den traditional sedimentierten (religiös intendierten) Sinn gewissermaßen überlagert und dadurch neue Bedeutungskonstruktionen erzeugt. Mittels Tualitativer Forschung (z. B. Leitfadeninterviews, teilnehmende Be- obachtungen) können außeralltägliche Performanzen konserviert und untersucht werden. Auf dieser Basis kann eine interpretative Auswertung hinsichtlich der performativ angewendeten Praktiken erfolgen, um weitere Erkenntnisse der Reli- gionshybride zu 7age zu fördern. Denn Religionshybride kennzeichnen kulturre- ligiöse Phänomene der Gegenwart, die in einem bestimmten Verhältnis zu Raum und Routinen stehen und mithilfe außeralltäglicher Performanzen in posttraditi- onalen Gemeinschaften ausgedrückt werden. Das Wirken außeralltäglicher Performanzen in anderer Form verdeutlicht Babette Kirchner im nachfolgenden Beitrag, der religiöse Efferveszenzen als Charakteristikum posttraditionaler Vergemeinschaftungen beschreibt. Yvonne Niekrenz befasst sich hingegen mit der (Wieder-) Er¿ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen. Sebastian Schülers Beitrag diskutiert die Rolle von Religionshybridität und moderner Spiritualität.

17 Der Kulturwissenschaftler 7homas Düllo schreibt: „[…] das Performative [ist] als eine sozial-kollektive Inszenierungskompetenz zu verstehen, die Räume und Settings aufspürt, ersinnt und zur Verfügung stellt, die der Artikulation des – nicht festgelegten – Möglichen dient unter Rekurs auf kulturelle Einschreibungen, die wiederholt, zitiert und damit neu artikuliert werden und zwar im Modus und unter der Qualität der Präsenz.“ (Düllo 2011: 554). Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene 215

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Im vorliegenden Beitrag werden zwei Beispiele vorgestellt, die sich zwar im Hin- blick darauf, wie ausdrücklich sie als ‚religiös‘ konnotiert sind, deutlich unter- scheiden, die sich aber gleichwohl beide zur Illustration symptomatischer, weil performativer religiöser Formen in unserer Gegenwartsgesellschaft nachgerade exemplarisch eignen. Anhand des XX. Weltjugendtages in Köln und des Fusion Festivals in Lärz lässt sich darstellen, wie Menschen – unter Modernisierungsbe- dingungen – kollektiv ihre je subjektiven religiösen Efferveszenzen erleben und Gemeinschaft(en) konstituieren.

1. Der XX. Weltjugendtag in Köln2 1.1 Postmodernistisches Hybridevent Der von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1985 initiierte und im Zweijahresturnus statt¿ndende Weltjugendtag ist der Inbegriff eines „postmodernistischen religi- ösen Hybridevents“ (Forschungskonsortium WJ7 2007: 18). Charakteristisch für dieses Hybridevent ist die eklektische und synkretistische Kombination von tra- ditionalen Elementen kirchlicher Liturgie und Seelsorge, also eines ‚Glaubens- festes‘, mit Anleihen aus Jugendszenen, Unterhaltungsindustrie und diversen anderen erlebniszentrierten Bestandteilen gegenwärtiger Eventkultur (vgl. dazu auch Kunde 2000), also eine „Megaparty“ (Forschungskonsortium WJ7 2007).

1 In mehreren Gesprächen mit Ronald Hitzler entstand die Idee, zu versuchen, das Fusion Festival religionssoziologisch zu deuten und dem Weltjugendtag gegenüber zu stellen. Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete Version eines gemeinsam mit ihm erarbeiteten Vortrages. 2 Soziologische und kommunikationswissenschaftliche Eventforscherinnen und -forscher von vier Universitäten haben den im August 2005 in Köln stattgehabten XX. Weltjugendtag in einem von der DFG geförderten Paketprojekt untersucht. Vgl. Forschungskonsortium WJ7 2007: Winfried Gebhardt, Andreas Hepp, Ronald Hitzler, Michaela Pfadenhauer, Julia Reuter, Waldemar Vogelgesang, Ursula Engelfried-Rave, Jörg Hunold, Veronika Krönert.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 218 Babette Kirchner

Mit diesem Hybridevent soll, so Michael N. Ebertz (2000: 356), eine „erlebnis- hafte Begegnung des Menschen mit der heiligen Wirklichkeit“ ermöglicht wer- den; also so etwas wie eine erlebnisorientierte Religionsgemeinschaft bzw. eine religionsaf¿ne Erlebnisgemeinschaft entstehen. Die Protagonisten der veranstal- tenden Kirche versuchen mit dieser Mischung aus profanem Fest und religiöser Feier den Fokus auf eine gemeinschaftsstiftende Gottesverehrung zu setzen, ver- bunden mit der Hoffnung, dass diese Gemeinschaft auch im kirchlichen Alltag bestehen bleibt (vgl. Hitzler 2011: 23ff). Die Rahmenbedingungen des Hybridevents Weltjugendtag werden von kirchli- chen und nichtkirchlichen Organisierenden vorproduziert: Die rituellen und ze- remoniellen Abläufe werden von einem kirchlichen Führungsstab geplant, die Mediatisierung des Events hingegen von einem nichtkirchlichen professionel- len Managementteam. Ziel der medienwirksamen Inszenierung im Vorfeld und im weiteren Verlauf des Weltjugendtags ist – neben der ‚Imagewerbung‘ für die katholische Kirche –, eine möglichst große Zahl von 7eilnehmern ‚anzulocken‘. 7ypische 7eilnehmer sind hier Jugendliche, die bereits Mitglieder in kirchlichen Organisationen sind. Daneben fühlen sich aber auch 7eilnehmer, die das ‚Spek- takel‘ zu einer Begegnung mit dem katholischen Glauben ‚verführt‘, angespro- chen. Die 7eilnehmer des Weltjugendtags – von der katholischen Kirche gerne als „Pilger“ etikettiert – kommen – wie für 7eilnehmer von „populären Events“ üblich – in der Erwartung zusammen, mit zahlreichen ‚Gleichgesinnten‘ etwas Außergewöhnliches – mithin Außeralltägliches – zu erleben (Hepp et al. 2010; vgl. zu Events die Beiträge in Gebhardt et al. 2000; Hitzler 2011). In der situati- ven Konstruktion des Events trägt dann tatsächlich jeder Einzelne zur Erfüllung der Erwartungen aller und damit seinen 7eil zum Gelingen des Ganzen bei, das eben deshalb als etwas „ganz Großes“ wahrgenommen wird. Dementsprechend berichten die „Pilger“ übereinstimmend begeistert davon, wie sie – entgegen der heutzutage symptomatischen alltäglichen Erfahrung als Katholiken – mit „so vie- len“ anderen die Gemeinschaft des Glaubens geteilt haben.

1.2 Ritual einer „populären Religion“ Analytisch gesehen ist der Weltjugendtag eine Ritualform der – von Hubert Knob- lauch so genannten – „populären Religion“ (2009). Wesentliches Kennzeichen „populärer Religion“ ist deren mehrdimensionale Entgrenzung: (a) Entgrenzung von Religion und Populärkultur, (b) Entgrenzung von Religion und Markt sowie (c) Entgrenzung von Religion und Medien. Der für unsere Gegenwartsgesell- schaft typische Verlust der 7radition führt – so Knoblauch – nicht zu einer Rati- onalisierung, sondern zu einer Entgrenzung der religiösen Kommunikation, was Posttraditionale Vergemeinschaftungen durch religiöse Efferveszenzen 219 zu einer Rekomposition religiöser Inhalte und Bilder führt, und die eben in der „populären Religion“ ihren Ausdruck ¿ndet. a. Populär ist diese Art von Religion deshalb, weil sie sich den neuen Formen der Populärkultur anpasst und weil dadurch die Grenzen zwischen beiden vormals scharf voneinander getrennten Bereichen des Sakralen und des Profanen ‚verschwimmen‘. „Populär“ bezieht sich hier auf eine bestimmte Art der Aneignung von religiösen ebenso wie von nichtreligiösen Angebo- ten. So wird z. B. das Logo des Weltjugendtags auf Kleidungsstücken, im Gesicht oder sogar als Frisur getragen. Gottesdienste während der Megap- arty werden zwar besucht, bei auf kommender Langeweile aber auch alsbald wieder verlassen. Andererseits werden besonders ‚gute‘ Gottesdienste mit La-Olas honoriert. 7-Shirts mit Aufdrucken wie „Benedikt XVI.“ oder gar „Mach et Ratze“ sind zu sehen. 7ypische Karnevalslieder wie „Viva Colonia“ der – zumindest in Köln und Umgebung – berühmten Popgruppe „Höhner“ werden – dem Anlass entsprechend – inhaltlich entschärft, aber auch gern in der Originalfassung gesungen, inklusive der Bekundung: „Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust. Wir glauben an den lieben Gott und haben auch ständig Durst.“ Lautstark gesungen wird – nachgerade ständig – überall in Köln, d. h. in U-Bahnen, auf öffentlichen Plätzen und in den Straßen (vgl. Vogelgesang 2008). Einerseits lässt sich die Gemeinschaft der juvenilen katholischen Gläubigen während des Weltjugendtages im städtischen Raum kaum je irgendwo überhören. Andererseits aber betonen die mannigfaltigen Pilgergruppen mittels Flaggen und spezi¿scher Kleidung auch ihre Identität als 7eilkollektiv im ‚Meer‘ der 7eilnehmer schlechthin. Für die je eigene Performanz wird dergestalt die ‚Gesamtmasse‘ der Pilger zur Kulisse und zum Publikum zugleich (vgl. Hitzler 2011). Ganz im Sinne der von Winfried Gebhardt so bezeichneten „Selbster- mächtigung des religiösen Subjekts“, d. h. der Ablösung des Einzelnen bzw. seiner Ablehnung von kirchlichen Dogmen und katechetischen Glaubenssätzen und zugleich des Anspruchs, seine Religiosität individuell zu gestalten (vgl. Gebhardt 2003; Gebhardt 2010; Gebhardt et al. 2005; auch Knoblauch 1997; Ziebertz et al. 2003), fühlen sich offenkundig keineswegs nur kirchentreue, sondern auch kirchenskeptische bzw. kirchenkritische Jugendliche durch eventförmige Glaubensinszenierungen angesprochen. Auch wenn sie es organisatorisch gesehen durchaus nicht sind, werden die Weltjugendtage als (individualisierte) Religiosität ‚von unten‘ und insgesamt stark populärkultu- rell inszeniert. Die genannten Entgrenzungen werden also nicht nur von den „Pilgern“ selbst performativ erzeugt, sondern bereits von den veranstaltenden 220 Babette Kirchner

Organisatoren intendiertermaßen vorproduziert (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2007; Pfadenhauer 2008). b. Dergestalt wird die für die „populäre Religion“ charakteristische Orientierung am Marktmodell – und das bedeutet vor allem: die Nachfrageorientierung – deutlich. Auch die – „institutionell kluge“ (Forschungskonsortium WJ7 2007: 215ff.) – katholische Kirche hat erkannt, dass Zugehörigkeit in unserer Gegenwartsgesellschaft symptomatischerweise nicht mehr auf ‚VerpÀichtung‘, sondern – in posttraditionaler ‚Manier‘ – vielmehr auf ‚Verführung‘ basiert. In eben diesem Sinne lassen sich die Weltjugendtage nun als (zumindest für ein bestimmtes Klientel besonders) ‚attraktives‘ Angebot im Rahmen ihrer ‚Dienstleistung‘ verstehen. Um den Weltjugendtag ‚vermarkten‘ zu können, wurde das religiöse Anliegen denn auch mittels vielfältiger kommerzieller Maßnahmen befördert – wie z. B. eine (innerkirchlich heftig umstrittene) Lotterie in den deutschen katholischen Gemeinden und zahlreichen Koope- rationen mit weltlichen Unternehmen und Organisationen (vgl. Pfadenhauer 2010; Hitzler 2011). c. Exemplarisch für die öffentlichkeitswirksame Ausrichtung der „Megaparty Glaubensfest“ als Medienevent ist die Vorbereitungsphase zu nennen: die Einladung der Kölner Bevölkerung zum Probe-Essen der Weltjugendtagskost, der (symbolische) ‚erste Spatenstich‘ Kardinal Meisners am Marienfeld (das eigens für den Weltjugendtag – ökologisch verträglich – umgestaltet wurde), sowie die aufmerksamkeitsträchtige Bekanntgabe der Auszeichnung der Weltjugendtags gGmbH für die „innovative und erfolgreiche Anwendung ihres Umweltmanagements“ mit dem nationalen EMAS Award 2005 der EU. Zudem waren während des Events zahlreiche Veranstaltungselemente, vor allem diejenigen mit Massencharakter, so organisiert und inszeniert, dass sie – im Entscheidungsfalle – weniger den Bedürfnissen der vor Ort 7eilnehmenden als vielmehr denen der live übertragenden visuellen Medien entsprachen. Zumindest mit Blick auf die mediale Inszenierung kam den „Pilgern“ neben der religiösen wie profanen Jet-Set-Prominenz, die ihrerseits den charismatisierten Papst einrahmte, oftmals lediglich eine Statistenrolle zu – was diese im Übrigen nicht (sonderlich) zu stören schien (vgl. Hitzler 2011; Hepp/Krönert 2009).

1.3 Zwischenbilanz Wenngleich medial stets ein Bild der Einheit des katholischen Glaubens und eben der Glaubensgemeinschaft der jugendlichen „Pilger“ vermittelt werden sollte, fun- Posttraditionale Vergemeinschaftungen durch religiöse Efferveszenzen 221 gierten die 7eilnehmer vor Ort oft ‚lediglich‘ als ‚Folie‘ für die individuellen bzw. eigengruppenfokussierten Erlebnisse: Mitglieder der verschiedenen kirchlichen Organisationen reisten meist gemeinsam an, verbrachten den gesamten Weltju- gendtag in ihrem Verbund und reisten auch gemeinsam wieder ab. Platz für neue Bekanntschaften oder gar Freundschaften blieb dabei naheliegenderweise wenig. Die anderen „Pilger“ wurden vorzugsweise als Publikum und als Kulisse genutzt, um die eigene Gruppe – z. B. mittels Gesang, Fahnenschwenken oder lautstarkem Skandieren des eigenen Nationennamens – aufmerksamkeitswirksam in Szene zu setzen (vgl. Vogelgesang 2008). Unbeschadet dessen lassen sich auch Momente von ephemeren Massenvergemeinschaftungen identi¿zieren: Einer dieser mehr oder weniger alle Beteiligten erfassenden charismatischen Höhepunkte war er- lebbar, als der Papst in Köln eintraf und wie ein Popstar mit Jubel, Applaus und „Benedetto“-Rufen begeistert empfangen wurde. Einen anderen Höhepunkt er- reichte die Gemeinschaftsseligkeit, als Benedikt XVI. den Abschlussgottesdienst am Sonntagmorgen mit der Bekundung begann, am liebsten jedem Einzelnen nahe zu sein. In solchen Momenten wölbte sich eine – von Hermann Schmitz so bezeichnete – „Stimmungsglocke“ (2007: 36) über die Vielen, die sich situativ ‚Eins‘ fühlten. Aus der Zugehörigkeit der 7eilnehmer am außergewöhnlichen Zeit- und Sozial-Raum eines gigantischen Spektakels wurde – für diese Momente – die kollektive ‚Verzückung‘ einer religiösen Gemeinschaft zwischen Enthusiasmus und Ekstase. Die Vergemeinschaftung gelang allerdings ausschließlich in diesen Momenten, und zwar lediglich als gefühlte 7eilhabe. Schon die anschließende, im typisch reÀektierten Duktus dieses Papstes gehaltene Predigt sorgte für die in- tellektuelle ‚Abkühlung‘ der gerade noch (allzu) gefühlsseligen „Pilger“-‚Schar‘ (vgl. Forschungskonsortium WJ7 2007; Gebhardt 2009: 21ff). Der von Johannes Paul II. eingeschlagene Weg der katholischen Kirche hin zu einer vor allem populären Religion zeigt sich (noch) an den Weltjugendtagen. Allerdings stellt sich nicht nur am Ende dieses und der darauf folgenden Welt- jugendtage die Frage, sondern am Ende des Ponti¿kats von Benedikt XVI. wird sich wohl noch wesentlich unabweisbarer die Frage stellen, ob – und wenn ja, wie nachhaltig – dieser Papst maßgeblich die Neigungen der meisten Gläubigen zu expressiven Vergemeinschaftungsritualen zwar nicht formal dezidiert, aber doch teils mehr, teils weniger ‚behutsam‘ so weit ‚herunterzukühlen‘ versucht (hat), dass hinter dem Spaß die Ernsthaftigkeit der ‚Botschaft‘ wieder unübersehbar wird. Und das eben wird von vielleicht entscheidender Wichtigkeit sein dafür, ob die katholische Kirche unter ihrem „himmlischen Großbaldachin“ (Soeffner 2000: 5ff) relativ Beliebiges für relativ viele Menschen oder relativ Stringentes für relativ wenige, weil ‚wahre‘ Gläubige versammeln wird. 222 Babette Kirchner

2. Das Fusion Festival in Lärz3 Das Fusion Festival lässt sich als ein Ritual mehr oder weniger „unsichtbarer Religion“ – im Sinne 7homas Luckmanns – deuten. Er zeigt anhand der 7heo- rie der „unsichtbaren Religion“ (vgl. Luckmann 1991), dass Säkularisierung kei- nesfalls bedeutet, (die) Menschen würden areligiöser bzw. ungläubiger werden. Luckmann macht stattdessen darauf aufmerksam, dass an die Stelle von tradi- tionalen sichtbaren Versionen von Religion andere – mehr oder minder – ‚neue‘ treten, die dem Subjekt zur Deutung – im Sinne einer (wie auch immer gearte- ten) Erhellung oder Offenbarung – von 7ranszendenzen dienen und dementspre- chend als ‚religiös‘ erklärt bzw. verklärt werden (können) (vgl. dazu auch Schnett- ler 2006; Hitzler 2011).

2.1 Sichtbares Ritual einer „unsichtbaren Religion“ Wenngleich die Organisatoren des Fusion Festivals, das im Jahr 1997 erstmals auf einem ehemaligen sowjetischen MilitärÀugplatz stattfand, die mediale Un- sichtbarkeit anstreben, so kann das doch aufgrund der Popularität des Events nicht hinreichend realisiert werden. Denn nach eigenen Angaben ist das Festival eines der deutschlandweit – mithin europaweit – wichtigsten Events der Elektronischen 7anzmusik und diverser anderer künstlerischer Darbietungen (wie 7heater, Per- formance und Kino) und ‚lockt‘ damit alljährlich mehr als 55.000 Besucher an. Während des Festivals stellen sich die (von den Veranstaltern so bezeichneten) „Fusionisten“ zwar mittels extrovertierter Selbstinszenierungen dar, nehmen da- bei aber zugleich aufeinander Bezug: Zum einen präparieren sie ihre teilweise sehr aufwändigen Kostümierungen als Akt der symbolischen Zugehörigkeit be- reits zu Hause, lange Zeit vor dem eigentlichen Event. Dadurch markieren sie zu- nächst längerfristige Zugehörigkeiten, die bereits zuvor, wie auch über das Event hinaus, bestehen. Zum anderen produzieren sie ihre Performanz mit allen ande- ren „Fusionisten“ in einer eventtypischen „verwickelten Dialektik des Miteinan- der-Machens“ (Hitzler 2011: 16f): Das Event gelingt nur, wenn alle Akteure sich wechselseitig und auch aufs Neue aufeinander beziehen. Dabei wird deutlich, dass alle Festivalteilnehmer mit ihren Handlungen mehr oder weniger darauf abzielen, ein 7eil der situativen „Fusion“-Gemeinschaft zu werden (vgl. Hitzler et al. 2012).

3 In einer ethnogra¿schen Studie im Jahr 2009 habe ich beobachtende 7eilnahmen, ergänzt durch leitfadengestützte Interviews mit Festivalbesuchern, durchgeführt. Dabei stellte sich rasch als eine für die 7eilnehmer bedeutende Schlüsselkategorie der Aspekt der Vergemeinschaftung(en) heraus (vgl. dazu ausführlich Kirchner 2011). Posttraditionale Vergemeinschaftungen durch religiöse Efferveszenzen 223

Die Festival-Veranstalter proklamieren eine temporäre „Parallelgesellschaft“ (Kulturkosmos 2012a), die während des Events – mehr oder minder – realisiert wird: Die Zusammenkunft unterschiedlicher Menschen, die ausschließlich ein gemeinsames Interesse teilen – nämlich mit zahlreichen ‚Gleichgesinnten‘ ge- meinsam bei ‚guter‘ Musik Spaß zu haben –, wird von den Organisatoren äußerst treffend als „Fusion“ bezeichnet. Die Produktion eines außergewöhnlichen So- zial-Raumes trägt diese Gruppe von überwiegend ehrenamtlichen Mitarbeitern bereits im Namen: Sie bezeichnen sich kollektiv als Kulturkosmos Müritzsee e.V. (kurz: „Kulturkosmos“). Die Festivalteilnehmer ¿nden sich als „Fusionisten“ zusammen, um den „Ferienkommunismus“ zu zelebrieren. Wege und Plätze auf dem Gelände tragen Namen von internationalen Widerstandskämpfern bzw. von Schauplätzen so genannter Widerstandskämpfe. So ist es durchaus möglich, in- nerhalb der Geländegrenzen auf dem „Ho Chi Min Pfad“ zu wandeln, auf dem „Che Guevara Ring“ wie auch auf der „Friedrich Engels Allee“. Damit sich ‚¿- nanziell schlechter gestellte‘ „Fusionisten“ zumindest einen 7eil des 7icketprei- ses – nämlich 30,- Euro – verdienen können, gibt es die Möglichkeit sich für eine sechsstündige Arbeitsschicht beim festivaleigenen „Arbeitsamt“ vor Ort anzu- melden. Die aufgeführten Beispiele verdeutlichen die Bemühungen der Organi- satoren, ihr Ideal „eines selbstbestimmten Lebens, abseits kapitalistischer Zwän- ge und Verwertungsinteressen weitestgehend nahe zu kommen und Utopien für… [sich; BK] und andere im Hier und Jetzt erlebbar und im Modellversuch reali- sierbar zu machen“ (Kulturkosmos 2012b). Die 7eilnehmer verstehen ihrerseits den „Ferienkommunismus“ als außerall- tägliche Freiheit und Freude über die ‚Gleichheit‘ aller „Fusionisten“, zumindest insofern, dass alle – so unterschiedlich sie auch sein mögen – gemeinsam Spaß haben. Die anderen werden oftmals – so meine Interviewpartner – als „friedlich, fröhlich, freundlich“ beschrieben, was szeneintern nicht als selbstverständlich für alle Events bzw. eventisierten Veranstaltungen der Elektronischen 7anzmu- sik gilt (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2009). Analog zum Weltjugendtag ist hier Au- ßergewöhnlichkeit – mithin Außeralltäglichkeit – des Events ergänzend zu einem anderen Zeit-Raum, also auch im Sinne einer anderen Sozialität zu verstehen. Es sei an dieser Stelle offen gelassen, ob das Festival nun als Popular- oder als Popu- lärkultur zu bezeichnen ist (vgl. hierzu Warneken 2006). Das widerständige Po- tenzial wird zumeist nicht realisiert, da die meisten 7eilnehmenden ihren Alltag – mehr oder minder – akzeptieren. Den temporären ‚Ausbruch‘ feiern sie bewusst im „Ferienkommunismus“, für den außeralltägliche Relevanzen gelten: Mittels extrovertierter, Tuasi-karnevalesker Kostümierungen thematisieren die „Fusio- nisten“ ihren Alltag und verarbeiten diesen spielerisch. Bei diesen Inszenierun- 224 Babette Kirchner gen kommt anderen 7eilnehmern eine vermeintlich nachgeordnete Bedeutung zu. Doch alle gemeinsam ‚verhandeln‘ und einigen sie sich auf einen Festivalkonsens (in Anlehnung an Goffmans „Arbeitskonsensus“ 1971), der u. a. die Ablehnung von typisch alltäglicher Ernsthaftigkeit, von Leistungsdruck und von Rationalität beinhaltet: Sie bestätigen die Performanzen anderer mittels Lachen bzw. freund- lichem Lächeln oder sanktionieren auch im ‚Bedarfsfall‘ mittels abweisender oder gar abwertender Blicke. In der Folge werden nicht akzeptierte Handlungen alsbald eingestellt, um (wieder) 7eil der „Fusionisten“-Gemeinschaft zu sein, in der – so einer meiner Interviewpartner – „jeder seinen Spaß haben soll“. Gegen- seitige 7oleranz und Rücksichtnahme gehören zu den obersten Geboten, die al- len eine „schöne“ und „geile Fusion“ ermöglichen (sollen) (vgl. Kirchner 2011).

2.2 Momente der Erhellung Interessanterweise betonen die Veranstalter die aktive Rolle der Festivalteilneh- mer, indem sie sie als „Fusionisten“ bezeichnen. Letztere werden also nicht ‚ver- schmolzen‘, sondern sie ‚verschmelzen‘ sich vielmehr selbst mit den anderen, und zwar bewusst und freiwillig. Begünstigt wird diese ‚Fusion‘ durch die allgemein positive Stimmung aufgrund gemeinsamen Erlebens von Enthusiasmus, der wie- derum durch diverse Sinnesräusche hervorgerufen wird. Diese Ekstasen errei- chen ihren Höhepunkt in von mir häu¿g beobachteten, technoparty-typischen „Feedback-Schleifen“ zwischen 7anzenden und DJ (vgl. hierzu im theaterwissen- schaftlichen Kontext: Fischer-Lichte 2004: 80): Mit dem leiser Drehen oder Her- ausnehmen der Bässe inmitten eines Live Sets fordert Letzterer seine tanzenden Zuhörer zur unmittelbaren Reaktion auf. Diese antworten mit Grölen, Pfeifen und Schreien. Die Spannung steigt. Die Zuhörer lächeln voller freudiger Erwartun- gen. In Folge von Begeisterung, Aufregung und Überwältigung berichten einige von Gänsehaut oder einer im Körper aufsteigenden Wärme. Sobald der Bass dann wieder einsetzt, entladen sich explosionsartig die „energetischen Felder“ und die Zuhörer setzen ihren 7anz meist intensiver fort als zuvor, reißen vor Freude die Arme hoch, geben zuweilen auch ekstatische Schreie von sich und teilen so dem DJ ihre Zustimmung mit (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2008; Pfadenhauer 2009). Die Anwesenden steigern sich in diesen Momenten gegenseitig in einen Rausch, der in jener efferveszenten Energieentladung gipfeln kann (vgl. zu Efferveszenzen Maffesoli 1996). Es entstehen – so mein Begriffsvorschlag – „ephemere Gemein- schaften“, die nur für die Dauer von ‚guten‘ Live Sets bestehen und ausschließlich diejenigen ‚einschließen‘, die sich in diesen Momenten den anderen Anwesen- den zugehörig fühlen, die sich voll und ganz auf den Augenblick konzentrieren und die in der enthusiasmierten „Feiermasse“ ‚aufgehen‘ (vgl. zusammenfassend Posttraditionale Vergemeinschaftungen durch religiöse Efferveszenzen 225 zum technoparty-typischen Erleben von 7ranszendenzen Hitzler/Pfadenhauer 2009: 379ff). Sobald die Musik aufgrund von geringer Lautstärke oder mangeln- der Interaktion von DJ und 7anzenden keine „Stimmungsglocke“ (Schmitz 2007: 36) mehr ermöglicht, zerfallen diese „ephemeren Gemeinschaften“ wieder. Das „Meer der Leiber“ (Hitzler/Pfadenhauer 2009: 379) ‚zerÀießt‘ und jedes Indivi- duum emp¿ndet sich (wieder) als vereinzelt. Häu¿g bleibt jedoch die Erinnerung an ebendiese Momente und die gemeinsam empfundene überwältigende Freude. Die „Fusionisten“ ‚spielen‘ während des Festivals also mit ihren physischen und psychischen Grenzen. Manche Grenzen scheinen sie sogar zu überschreiten, um dann – metaphorisch gesprochen – mittels ‚Fusion‘ (im Sinne von Verschmel- zung) in der kollektiven – durch multiple Stimuli hervorgerufenen4 – Ekstase auf- zugehen. Diese – von Alfred Schütz und 7homas Luckmann (2003) so bezeichne- ten – „großen 7ranszendenzen“ versehen die „Fusionisten“ mit einer Sinndeutung im Sinne einer ‚Offenbarung‘ oder ‚Erhellung‘. Sie selbst bezeichnen zwar die er- lebten Efferveszenzen nicht ausdrücklich als ‚religiös‘, aber deren Sinndeutung kann – im Rahmen des Konzeptes der „unsichtbaren Religion“ betrachtet – als ‚religiös‘ verstanden werden: Im außergewöhnlichen Sozial- und Zeit-Raum erle- ben sie gemeinsam Momente der höchsten ‚Verzückung‘ und erfahren von Fried- lichkeit, Fröhlichkeit und Freundlichkeit geprägte Gemeinschaft(en), die sie im Alltag vermissen. Und so bekunden zahlreiche „Fusionisten“ in den ersten 7a- gen nach dem Event ihr Bedauern über deren alljährliches Ende. Sie zählen schon die 7age bis zum nächsten Mal, äußern den Wunsch nach „365 Tagen Fusion“ oder den – nicht ganz ernst gemeinten – Plan, ein „Fusion-Dorf“ zu errichten. Zudem erkundigen sie sich bei den Mitgliedern ihres ehemaligen Zeltlagers nach deren Be¿nden und wie sie im Alltag zurechtkommen. Eine gewisse Verbunden- heit emp¿nden sie sogar mit Fremden, denen sie in der Zeit unmittelbar nach dem Festival begegnen, die ähnlich übermüdet aussehen, apathisch wirken und die selbstverständlich – zur Markierung von Zugehörigkeit – das aktuelle Festival- bändchen am Arm tragen. Blicke genügen in diesen Momenten oftmals, um den anderen mitzuteilen, dass sie selbst ähnlich denken, fühlen und – gegebenenfalls – auch der „Fusion“ ‚nachtrauern‘. Symptomatisch für diese ‚Post-Fusion-Pha- se‘ ist auch das Gefühl, von Nicht-„Fusionisten“ – egal, ob Fremde oder Freun- de – nicht verstanden zu werden, da diese das „Fusion-Feeling“ nicht hatten und

4 Das Entstehen von Ekstasen auf 7echnopartys kann wie folgt erklärt werden: „Musik und 7anz, körpereigene Morphine und konsumierte Drogen, Massenphänomene, Lichtinszenie- rungen und Einzelstimuli wie Dehydration ergeben eine individuell erlebte ReizüberÀutung, die tranceauslösend wirken kann“ (Mitterlehner 1996). Beim Erleben kommen nicht etwa den eventuell konsumierten Drogen, sondern der Musik und dem 7anzen eindeutig vorrangige Bedeutungen zu (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2009). 226 Babette Kirchner auch nicht nachemp¿nden können. Im Übrigen wird dieses Gefühl nicht weiter erklärt, sodass jedem „Fusionisten“ genügend ‚Freiraum‘ bleibt, um sein indi- viduelles und doch mit allen gemeinsames „Fusion-Feeling“5 haben zu können. Die – mitunter äußerst ephemeren – Vergemeinschaftungen entstehen also spontan und verÀüchtigen sich teilweise ebenso schnell, wie sie begannen. Ent- scheidend für die Konstitution von „ephemeren Gemeinschaften“ ist – neben ge- meinsamen Handlungen – insbesondere das eigene emotionale Engagement der potenziellen Mitglieder, wie auch das förderliche Setting des Festivals. Die (re- ligiösen) Efferveszenzen ermöglichen dabei die Intimität der Gemeinschaft(en). 7ranssituative Gemeinschaften ‚diffundieren‘ hierbei situativ in der Gemeinschaft der (gesamten) „Fusionisten“. Durch das ‚Managen‘ von Symbolen und Sinnes- eindrücken lassen sich die „Fusionisten“ auf die anderen ein oder grenzen sich zuweilen ganz bewusst ab – und zwar spontan und emotionsgeleitet oder – so die Veranstalter – „zwanglos und unkontrolliert“ (Kulturkosmos 2009; vgl. Kirchner 2012). Entscheidend für die (soziologische) Deutung der großen 7ranszendenzen als ‚religiös‘ ist, dass die „Fusionisten“ das gemeinsame Erleben als sinnhaft ver- stehen und – wenn schon nicht „365 Tage Fusion“ – zumindest den „friedlichen, fröhlichen und freundlichen“ Umgang mit anderen auch gern im Alltag hätten.

3. Schlussbilanz Während die Entscheidung darüber, wie es bei und mit den Weltjugendtagen wei- tergehen wird, noch offen zu sein scheint, haben sich die Veranstalter der „Fusion“ bereits entschieden, dass das Festival mit den seit 2010 fast konstanten Besucher- zahlen seine Tuantitativ äußerste Dimension erreicht haben soll. Nach mehre- ren Jahren nahezu ungebremsten Wachstums und dem im Jahr 2009 erreichten Höhepunkt weist der „Kulturkosmos“ ausdrücklich darauf hin, dass zukünftig das festgelegte Verkaufslimit von 55.000 7ickets nicht mehr überschritten wer- den soll.6 Diese Entscheidung wurde nicht nur aufgrund der begrenzten Kapazi- tät des Geländes getroffen, sondern vor allem, um den innerhalb der ‚Welt‘ der Elektronischen 7anzmusik doch sehr spezi¿schen Interessen – auch in Bezug auf

5 Anhand dieses Beispiels kann einmal mehr auf Analogien zum Weltjugendtag hingewiesen werden, der „eine Glaubensgemeinschaftserlebnisform [darstellt; B.K.], in der…[die „Pilger“; B.K.] massenhaft individuell ihre je subjektiven Religiositäten in ein Gefäß der Marke ‚katho- lisch‘ mit dem Etikett ‚Papst‘ gießen“ können (Hitzler 2011: 36). 6 Der „Kulturkosmos“ macht keine Angaben dazu, wie vielen nicht-zahlenden am Festival – in welcher Form auch immer – Beteiligten, z. B. zahlreichen Mitarbeitern, ehrenamtlichen Helfern, mitorganisierenden Vereinen und Gruppierungen und mehreren hundert Künstlern, zusätzlich der Einlass gewährt wird. Posttraditionale Vergemeinschaftungen durch religiöse Efferveszenzen 227

(‚religiöse‘) Efferveszenzen – seiner Nachfrager zu entsprechen; obwohl die Be- schränkung der 7ickets bedeutet, dass zahlreiche Sympathisanten, die sehr gern dabei wären oder sich kurzfristig für einen Besuch entscheiden wollen, letztend- lich ausgeschlossen werden. Der Wunsch nach einem ‚familiären‘ Festival der- jenigen, die tatsächlich teilnehmen (dürfen), ist dem „Kulturkosmos“ – ganz im Sinne seines Klientels – wichtiger, auch mit Blick darauf, zumindest im Modell- versuch die „Sehnsucht nach einer besseren Welt“ (Kulturkosmos 2012a) zu er- füllen, was bei noch mehr Besuchern eben für nicht mehr möglich gehalten wird. Anhand der beiden empirischen Beispiele habe ich zu zeigen versucht, wie in unserer Gegenwartsgesellschaft im Rahmen von unterschiedlichen Events – Hybridevent hier und populäres Event da – doch in ähnlicher Form Religion kon- struiert werden kann. Ausschlaggebend für eine mögliche soziologische Deutung als ‚religiös‘ ist weniger die of¿zielle Etikettierung der Events, sondern vielmehr die Zuschreibung der gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen als – in welcher Form auch immer – sinnvoll bzw. sinnhaft für und durch die 7eilhabenden. In wel- che Richtung(en) diese Events – auch aufgrund der eventtypischen Selbstüberbie- tungsspirale (vgl. Hitzler et al. 2011) – von den Organisatoren und 7eilnehmenden weiterentwickelt werden, könnte zum Gegenstand zukünftiger Forschung werden.

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Um einen 7ypus von Sozialbeziehungen zu bezeichnen, der aufgrund ähnlicher Lebensstile, geteilter Konsumpraktiken und ästhetischer Präferenzen entsteht, im Zusammensein eher teilzeitlich organisiert und thematisch fokussiert ist, hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff der „posttraditionalen Gemeinschaften“ etabliert (Hitzler 1998; Hitzler et al. 2008a). „Posttraditionale Gemeinschaften“ lassen sich durch fünf Kriterien näher bestimmen: ein Gefühl der Zusammenge- hörigkeit, ein geteiltes Interesse bzw. Anliegen, die Abgrenzung gegenüber ei- nem Dritten als „Nicht-Wir“, eine intersubjektiv anerkannte Wertsetzung sowie Zugang zu gemeinsamen Interaktions(zeit)räumen (vgl. Hitzler et al. 2008b: 10). Ihr Zustandekommen wird gefördert durch schnelle und dislokale Kommunika- tionsmöglichkeiten (v. a. Internet und Mobiltelefon). Die Mitgliedschaft der in- dividuellen Akteure wird geregelt, indem diese sich häu¿g selbst als zugehörig konstruieren und die kulturellen Werte und ästhetischen Standards der posttra- ditionalen Gemeinschaft teilen. Auch für diesen Sammelband sowie für das For- schungsprojekt der Herausgeber spielen „posttraditionale Gemeinschaften“ eine Rolle. Der vorliegende Beitrag will sich zunächst der Frage widmen, was „postt- raditional“ überhaupt heißen könnte, um sich sodann der Rolle zuzuwenden, die 7raditionen und „Posttraditionen“ für (posttraditionale) Gemeinschaften spielen. Posttraditionale Vergemeinschaftungen, so die 7hese dieses Beitrags, sind auf die (Wieder-) Er¿ndung von 7raditionen angewiesen, um eine Gruppenko- häsion zu beleben oder aufrechtzuerhalten. 7raditionen werden dabei Verände- rungen unterworfen, werden fragmentiert oder dekontextualisiert, rationalisiert oder kommerzialisiert. Auf diese Weise können sie zu Posttraditionen werden. In einer globalisierten Gegenwart sind solche Wandlungsprozesse einer rasan- ten Beschleunigung ausgesetzt. Als Posttraditionen können diese Praktiken spi- rituelle oder religioide (Simmel) Vergemeinschaftungen in einer posttraditiona- len Gegenwart fördern. Vielerorts leben posttraditionale Vergemeinschaftungen ein spielerisches, kreatives und innovatives Nebeneinander von 7raditionen und deren posttraditionalen Adaptionen. Diesen Formen von Sozialität geht es nicht

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 232 Yvonne Niekrenz um zweckorientierte Beziehungen, sondern um geteilte Erlebnisse, Gefühle und Affekte. Affektivität und Leidenschaft stehen im Mittelpunkt und tragen zur Er- ¿ndung eigener Rituale und 7raditionen bei. Dabei geht es auch um das Stillen einer Sehnsucht nach Kontinuität, Beständigkeit und Orientierung in einer Zeit, die immer unsicherer und Àüchtiger wird. Die 7raditionen, Mythen und Rituale posttraditionaler Vergemeinschaftungen sind performativer Ausdruck des Ver- suchs, Vergangenheit und Zukunft im Heute zu verbinden. Sie symbolisieren eine Haltung des „sowohl-als-auch“, stehen für eine Ambivalenz, die zum Bestim- mungsmerkmal von Gegenwartsgesellschaften geworden ist (vgl. Junge 2000). Der Beitrag betrachtet 7raditionen zunächst als sozialen Klebstoff, der Wir-Ge- fühle verstärkt und Generationen miteinander verbindet (1). Anschließend ana- lysiert er die Rolle von 7raditionen in einer posttraditionalen Zeit und legt dabei die Koexistenzthese (Bendix 1970) zugrunde (2). Dass 7raditionen auch für eine Identitätsarbeit bedeutsam sein können, zeigt der dritte Abschnitt (3), bevor ab- schließend und zusammenfassend 7raditionen und „Posttraditionen“ in traditi- onalen und posttraditionalen Gemeinschaften auf den Grund gegangen wird (4).

1. Traditionen – der soziale Klebstoff 7raditionen (lat. tradere ‚übergeben, überliefern, hinterlassen‘) können aus ei- ner soziologischen Perspektive als eine Menge von Praktiken, Glaubensorien- tierungen oder Denkweisen verstanden werden, die in der Gegenwart existieren, aber von der Vergangenheit geerbt sind: “7he term ‚tradition‘ refers to a set of practices, a constellation of beliefs, or a mode of thinking that exists in the pre- sent, but was inherited from the past“ (Gross 1992: 8). 7raditionen sind aber kei- neswegs statisch, sondern sie verändern sich und können auch inkonsistent sein (vgl. Gus¿eld 1967: 353). Wenn die Menschen seit etwa fünfzehntausend Jahren in Gemeinschaften siedeln und grob gerechnet alle 25 Jahre eine neue Genera- tion entsteht, dann existieren feste Gemeinschaften seit etwa 600 Generationen. Was die Menschen über einen so langen Zeitraum hinweg verband, war der kol- lektive Überlebenswille; was die Gemeinschaften kulturell und emotional zu- sammenhielt, war die verbindende Kraft der 7raditionen (glue of tradition, Gross 1992: 20). 7raditionen sind sozialer Klebstoff und Übermittler von Werten. Sie können mit ihren Ritualen auch gemeinschaftliche Handlungen der Individuen evozieren und stärken damit die Gruppe nach innen und außen. Nach innen stär- ken sie über das Wiedererleben gemeinsam geteilter vergangener Momente und die Ausrichtung auf die Gemeinschaft das Wir-Gefühl und die Gruppenidenti- (Wieder-)Er¿ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen 233 tät. Nach außen schaffen sie über die Autorität der 7raditionen Differenz und die Anerkennung dieser Differenz. Anthony Giddens bezeichnet 7raditionen als eines der organisierenden Me- dien des kollektiven Gedächtnisses (1993: 451) und verweist dabei auf Maurice Halbwachs (2006). Strukturell ist 7radition auf Wiederholung, Weitergabe und Ritualisierung angelegt, worin sich auch ihre Vergangenheitsorientierung aus- drückt. Durch den Wiederholungscharakter bedeuten 7raditionen Kontrolle über die Zeit. Sie besitzen aber auch eine bindende Kraft, die durch ihren normativen oder moralischen Gehalt und die emotionale Besetzung entsteht. Das hängt un- ter anderem damit zusammen, dass mittels 7radition nicht nur Erinnerungen ge- weckt werden, sondern die Vergangenheit und die damit verbundenen Gefühle bis zu einem bestimmten Grad wiedererlebt werden können. 7raditionen und Bräu- che1 bieten die Chance zur Stabilisierung und Bewahrung des eingeschlagenen Lebenskonzepts, weil sie das Gefühl geben, „das Richtige“ zu tun. „7radition ist Wiederholung und nimmt eine Art von Wahrheit an, die im Gegensatz zu ,ratio- naler Überprüfung‘ steht“ (Giddens 1993: 453). In der posttraditionalen Gesell- schaft erodierten 7raditionen tendenziell, so Giddens, weil die Routinisierung des Alltagslebens von ihrer moralischen Authentizität entleert werde. Es besteht kein Zwang mehr, den Alltag traditionell und routiniert zu gestalten, sondern eine un- bewusste Abhängigkeit. Abhängigkeiten entstehen dort, wo vorgegebene Mus- ter und Gewohnheiten an Bedeutung verlieren, und bieten eine Möglichkeit der Kontrolle über das Alltagsleben. Sie sind im Vergleich zu 7raditionen an das In- dividuum gebunden, nicht an das Kollektiv. Durch die Wiederholung bestimm- ter sozialer Praktiken verbleiben wir in der Welt, die wir kennen, wie wir sie ge- wohnt sind. Damit vermeiden wir aber gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit alternativen Lebensformen und fremden Wertsystemen.

2. Traditionen in posttraditionaler Zeit Wenn 7raditionen auch in posttraditionalen Gesellschaften fortleben, so verän- dern sie sich stark und vielleicht grundlegender, als sie es je getan haben. Für David Gross existieren 7raditionen heute in drei möglichen Formen (vgl. 1992: 77). Die erste Form ist eine, bei der der aktive soziale Prozess verloren gegangen oder zerstört worden ist und nur Fragmente der Wertvorstellungen oder Verhal- tensweisen dekontextualisiert fortleben. Die zweite Möglichkeit ist das Fortdau-

1 7raditionen unterscheiden sich von Bräuchen, die als etablierte soziale Praxis ebenfalls mit der Vergangenheit verbunden sind, indem Bräuche oberÀächlichere Verhaltensweisen darstellen, die nicht so stark mit Werten aufgeladen sind wie 7raditionen (vgl. Gross 1992: 12). 234 Yvonne Niekrenz ern im Zentrum des Alltagslebens, allerdings zu dem Preis der Rationalisierung durch den Staat oder der Kommerzialisierung durch den Markt. Drittens können sie mehr oder weniger intakt an der Peripherie oder im Untergrund weiter exis- tieren. Er unterscheidet 7raditionen, die auf natürliche Weise überleben (durch die leidenschaftliche Loyalität kleiner Gruppen oder Kollektive), und solche, die künstlich aufrechterhalten werden (von außen durch die Anstrengungen politi- scher oder wirtschaftlicher Kräfte). Somit erfolgt in der posttraditionalen Gesell- schaft teilweise eine Rückkehr zu den 7raditionen, aber diese Art der Rückbesin- nung hat eine Entleerung der 7raditionen oder AuÀadung mit neuen Botschaften zur Folge. Ihre ursprüngliche Kraft und Autorität, die moralische Authentizität gehen verloren (vgl. Niekrenz 2008). Woher aber kommt diese vielerorts zu beobachtende Neigung zur Rückkehr zu den 7raditionen? Es scheint ein Bedürfnis nach ihnen zu geben, das mit ih- rer ursprünglichen Funktion zusammenhängt. Als Orientierungshilfen de¿nier- ten sie in vormodernen Gesellschaften Werte, sorgten für Kontinuität und boten Handlungsmuster an. Ihnen kam eine Generationen verbindende Kraft zu, die sie emotional und kulturell entfalteten. Das Bedürfnis nach 7radition ist tief in den Individuen verwurzelt (vgl. Gross 1992: 64). 7raditionen entstehen aber nicht, weil wir uns nach Ordnung und Ko- härenz im gesellschaftlichen Leben sehnen, sondern weil sie ein psychologisches Begehren nach 7raditionen befriedigen, das schon seit vielen Generationen be- steht. Was paradox klingt, ist eigentlich das Ergebnis eines 7rugschlusses: Über lange Zeit haben 7raditionen Bedürfnisse befriedigt, so dass sie für die eigentli- che Quelle dieses Begehrens gehalten werden. Sie befriedigen bestimmte Grund- bedürfnisse wie Sicherheit, Kontinuität und Verwurzelung, die in eine Sehnsucht nach 7raditionen übersetzt wurden. 7raditionen sind nur die Medien, nur Hül- sen für eine Botschaft, die heute nicht mehr glaubhaft übermittelt werden kann. 7rotzdem bleibt die Sehnsucht, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Verbunden- heit und Vertrauen. Es sind traditionale Sehnsüchte in einer posttraditionalen Zeit (vgl. Vobruba 1986: 221), und mit diesen Sehnsüchten lässt sich Geld verdienen. Der überwältigende Erfolg einer Zeitschrift wie beispielsweise „Landlust“ steht geradezu für die Sehnsucht nach 7raditionen und einer „besseren alten Zeit“. Seit sieben Jahren ist die Zeitschrift auf dem Markt und hat im April 2012 die Marke von einer Million verkaufter Exemplare überschritten. Das ist eine höhe- re AuÀage als sie das Wochenmagazin „Der Spiegel“ hat (vgl. Rasche 2012). Das Heft verhilft als „verkannt“ bezeichnetem Gemüse wie Pastinaken und Rosen- kohl zu Ehren. Jede Ausgabe enthält Anregungen zum Handarbeiten, Selberma- chen und Wissenswertes zum PÀanzenbau. Sie erfüllt eine Sehnsucht nach dem (Wieder-)Er¿ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen 235

Echten, in einer Zeit, die zunehmend virtuell wird, nach Authentizität, wo das OberÀächliche zu regieren scheint. John B. 7hompson nennt solche Beobachtun- gen „refashioned traditions“ (1996: 99). In einer globalisierten Gegenwart ¿nden sich aber auch sehr häu¿g Anleihen bei anderen 7raditionen, also dekontextuali- sierte Praktiken. Mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationsmedien können regional begrenzte 7raditionen heute in jeden Winkel der Welt übertra- gen und dort als Hülsen benutzt werden, ohne jemals mit Botschaften versehen worden zu sein. Auf diese Weise können 7raditionen auch Globalisierungsten- denzen verstärken (z. B. bei fernöstlichen Entspannungsmethoden wie QiGong in den Parks mecklenburgischer Gutshäuser). Hier muss man sich freilich von der „traditionellen“ Vorstellung von 7raditionen verabschieden, um diese als Globa- lisierungsbeschleuniger deuten zu können. Marktinteressen, politische Kräfte und Medienkultur können also auch mit Hilfe von (Post-)7raditionen an einem gesellschaftlichen Kitt mitwirken. Auch traditional orientierte Gemeinschaften (z. B. in der Organisations- form ‚Verein‘, vgl. ausführlich Müller-Jentsch 2008), wie sie immer häu¿ger im ländlichen Raum Entfaltungsmöglichkeiten ¿nden, sind mit „posttraditionalen“ 7raditionen konfrontiert oder er¿nden und entwickeln sie weiter. Mit „posttra- ditionalen“ 7raditionen sind solche 7raditionen gemeint, denen etwa durch die Massenmedien und Marktinteressen ein Warencharakter verliehen wird. Sie wer- den in ein Objekt transformiert, das man verpacken und verkaufen kann (vgl. Gross 1992: 72). Das Verlangen nach 7radition kann nämlich umgewandelt wer- den in ein Verlangen nach Objekten, die 7raditionen andeuten oder repräsentie- ren, so wie die Suche nach Stabilität in eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ transformiert und über verschiedene Produkte dargestellt und vermarktet werden kann (vgl. vgl. Gross 1992: 73). Nostalgie als ein Hang zur Vergangenheit ist gut zu verkaufen und stellt eine stabile EinnahmeTuelle dar. Nostalgie enthält heute zum einen den Wunsch, in eine Zeit zurückzukehren, die vermeintlich erfüllen- der war, und auch eine 7endenz, die Vergangenheit zu idealisieren oder zu ver- klären (vgl. Gross 1992: 75). Solche Formen selbstbezüglicher 7raditionsbildung ¿nden wir zahlreich im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern bei Gutshaus- oder Kirchbauvereinen und so genannten alternativen Gemeinschaften. Da werden alljährlich Apfelfeste or- ganisiert (mit Apfelkuchen nach Omas Rezept, Apfelsaft, Apfelwein, Apfelmus, Krönung der Apfelkönigin), da gibt es Kunsthandwerkermärkte mit Gauklern, da werden seit einigen Jahren 7rachtenfeste, Mittelaltermärkte, Erntedank-, Mitt- sommer-, Klosterfeste oder Maitanz gefeiert, um Besucher in die strukturschwa- chen Regionen und etwas Geld in Vereins- oder Firmenkassen zu locken. Denn 236 Yvonne Niekrenz auch aus ¿nanziellen Gründen sind die Gemeinschaften auf die Er¿ndung bzw. Wiederer¿ndung, also Etablierung bzw. Wiederbelebung, von 7raditionen ange- wiesen, um an historisch und/oder spirituell bedeutsamer Stelle ein Kirchenge- bäude oder ein Gutshaus erhalten zu können. An der Kommerzialisierung von 7raditionen sind elektronische Medien maß- geblich auf verschiedenen Stufen beteiligt. Sie schaffen zum einen die Voraus- setzung dafür, dass 7raditionen transformiert werden müssen und können, und sie helfen, das Bedürfnis nach ihnen zu verstärken. Massenmedien deritualisie- ren, depersonalisieren und delokalisieren 7raditionen. 7raditionen werden aus ih- rem ursprünglichen lokalen Kontext herausgelöst und überall auf der Welt sicht- bar (vgl. 7hompson 1996: 99). Alljährlich beobachten wir dies an Halloween, mit seinen Verkleidungen, an 7üren klingelnden Kindern und Süßigkeiten in Kürbis- oder Fledermaus-Form. Diese delokalisierten 7raditionen sind nicht mehr auf die Überlieferung durch face-to-face interaction angewiesen, sie werden nicht mehr von der älteren an die jüngere Generation weitergegeben, sondern über Medien vermittelt. Diese können gezielt für eine Revitalisierung und Wiedereinbettung von 7raditionen sorgen und spielen damit nicht nur Märkten in die Hände, sondern befördern auch eine kontinuierliche Hybridisierung der Kultur (vgl. 7hompson 1996: 106). „Die post-traditionale Gesellschaft ist die erste wirklich globale Ge- sellschaft“ (Giddens 1993: 477, Herv. i. O.). Das hat zur Folge, dass unterschiedli- che 7raditionen miteinander in Kontakt treten, alternative Lebensformen sichtbar werden und „das Fremde“ nicht mehr außerhalb ist, sondern sich aktiv einbringt. Indem zahlreiche Vereine und alternative Gemeinschaften im ländlichen Meck- lenburg-Vorpommern Posttraditionen nutzen und sie teilweise in „ihre“ 7raditio- nen überführen, machen sie auch deutlich, dass die Erosion von 7raditionen kein unumkehrbarer Prozess ist. 7raditionen können durchaus wieder eingebettet wer- den und eine AuÀadung mit Werten und Moral erfahren. Insbesondere im Osten Deutschlands betreiben viele Gruppen und Vereine ein reinvention of tradition (Wiederer¿ndung von 7radition), um auf diese Wei- se Gruppenidentität zu erlangen und die Gruppenbindung zu stärken. Diese For- men von Sozialität er¿nden eigene Rituale und 7raditionen, die einerseits Emo- tionalität, Authentizität und Lust ansprechen und andererseits (nach irritierenden Umbruchserfahrungen) auch eine Sehnsucht nach Kontinuität, Beständigkeit und Orientierung stillen sollen. Die Ambivalenz dieser Sehnsucht drückt sich in den 7raditionen vieler posttraditionaler Vergemeinschaftungen aus, die eine Haltung des „sowohl-als-auch“ symbolisieren. Sie integrieren 7raditionen wie auch deren posttraditionale Adaptionen und Innovationen („Posttraditionen“) und vereinen (Wieder-)Er¿ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen 237 sie in einem kreativen Nebeneinander (Koexistenzthese). Sie integrieren Ver- gangenheit und Zukunft in der Gegenwart zu einem posttraditionalen Potpourri.

3. Individuum, Identität und Traditionen Wenn 7raditionen aus ursprünglichen Zusammenhängen herausgelöst werden, an Glaubwürdigkeit einbüßen und in neue Kontexte eingebettet werden, ist das für das Individuum folgenreich. Die Frage danach, wer man ist und wohin man gehört, hängt immer mit Werten, Glauben und Verhaltensmustern zusammen, die aus der Vergangenheit überliefert sind. 7raditionen bieten einiges an symbolischem Ma- terial an, das bei der Identitätsarbeit helfen kann (vgl. 7hompson 1996: 93). Sie klären Zugehörigkeiten und machen sie sichtbar. Auch medial vermittelte 7radi- tionen spielen bei der Suche nach Sinn und Zugehörigkeit eine Rolle. Die Verän- derungen der 7raditionen und die weltweite Vermittelbarkeit haben zum einen zur Folge, dass die Vergangenheit schwieriger in der Gegenwart zu rekonstruie- ren ist, weil 7raditionen in ihrer veränderten Form schwieriger greifbar sind. Da- mit kann die Vergangenheit auch zum emotionalen Ballast werden (vgl. Giddens 1993: 459). Zum anderen ergeben sich vielfältigere Wahlmöglichkeiten, die vom Individuum gehandhabt werden müssen. Es kann sich mit unzähligen 7raditio- nen vertraut machen, sie in sein Alltagshandeln einbringen, damit spielen, sich an ihnen orientieren und sie zum 7eil seines Lebensstils arrangieren. Das Ergebnis kann auch eine Synthese aus verschiedenen traditionellen (bis detraditionalisier- ten) Praktiken sein, eine „postmoderne“ Mischung (vgl. Heelas 1996: 10), die in der Identitätsarbeit zu einem „Crazy Quilt“2 vernäht wird (vgl. Keupp 1989: 64). Aber nicht nur die Identitätsarbeit in Bezug auf das Individuum selbst wird unter anderem durch traditionelle und rituelle Praktiken unterstützt. 7hompson unterscheidet zwei 7ypen von Identität: ‚Selbstidentität‘ als das Wissen um sich selbst als ein Individuum mit verschiedenen Charakteristika, Fähigkeiten und einem spezi¿schen Lebensweg, und ‚Kollektividentität‘ als das Wissen um sich selbst als ein Mitglied einer sozialen Gruppe oder eines Kollektivs. Die Einbin- dung von Individuen in Kollektive kann mittels 7raditionen unterstützt werden, denn es gibt keine „privaten“ 7raditionen, sondern (noch) immer 7raditionen, die

2 Mit der Metapher ‚Crazy Quilt‘ weist Keupp darauf hin, dass Identitätsbildung in der Spät- oder Postmoderne ein ästhetisch-kreativer Prozess der Selbstorganisation ist (vgl. Eickelpasch/ Rademacher 2004: 28). Der Crazy Quilt bildet die Prozesse der Enttraditionalisierung, Indi- vidualisierung, Pluralisierung und Entgrenzung ab und „lebt von seiner überraschenden, oft wilden Verknüpfung von Formen und Farben, zielt selten auf bekannte Symbole und Gegen- stände. Gerade in dem Entwurf und der Durchführung eines solchen ‚Fleckerlteppichs‘ kann sich eine beeindruckende schöpferische Potenz ausdrücken“ (Keupp 1989: 64). 238 Yvonne Niekrenz kollektive Wertvorstellungen transportieren. Individuen aggregieren Gemein- schaften auf der Grundlage von Verträgen, VerpÀichtungen, Absprachen, Bin- dungen und Konsens. Die Suche nach und die Bildung von Gemeinschaften ist schon 7radition an sich – egal, ob es sich um traditionale oder posttraditionale Gemeinschaften handelt (vgl. Morris 1996: 226). Morris unterscheidet zwei Ar- ten von Gemeinschaft: assent communities und descent communities (vgl. Mor- ris 1996: 238ff). Beide haben religiöse Wurzeln – die eine im Christentum, die andere im Judentum. Assent communities beruhen auf der Entscheidung zur Zu- gehörigkeit und sind auf ihren eigenen Erhalt in der Zukunft hin ausgerichtet. Sie stellen im Vergleich zur descent community eine neue Form dar, die familiale Bin- dungen ersetzen kann. Bei der assent community als der Formation für das ein- zelne Subjekt ist Identität mit der Gemeinschaft abhängig von der Zustimmung zu den grundlegenden Wahrheiten (oder Doktrinen) (vgl. Morris 1996: 239). Sie sind unverbindlicher, ermöglichen ein Stück gemeinsamen Wegs. Bei den de- scent communities wird Identität durch Geburt zugesichert, wie bei den jüdischen Gemeinden. Morris macht deutlich, dass noch immer und trotz des Zerfalls von 7raditionen und natürlichen Bindungen Menschen in descent communities zu- rückkehren, um nach ihren Wurzeln zu suchen. Zugleich macht die Gegenwart aber eine Pluralisierung der Identität möglich, so dass Mitgliedschaften in ande- ren (posttraditionalen) Gemeinschaften ebenfalls möglich sind und eingegangen werden. Die Modelle schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich, und sie machen zugleich deutlich, dass noch immer auch die Geburt (Herkunft) darüber entscheidet, welchen Gemeinschaften wir potenziell zugehören und welchen nicht.

4. (Post-)Traditionen in (post-)traditionalen Gemeinschaften Wenn wir von verschiedenen Formen von 7raditionen ausgehen – solchen im Zent- rum, an der Peripherie, dekontextualisiert oder rationalisiert – und wenn wir jenen die beiden verschiedenen Formen von Gemeinschaft, nämlich traditionale3 und posttraditionale Gemeinschaften, gegenüberstellen, so ergibt sich die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen 7raditionen und „Posttraditionen“ und diesen beiden Mustern von Sozialität. 7raditionen in ihren verschiedenen Ausprägun- gen haben nicht nur in einer posttraditionalen Gesellschaft ihren Platz, sondern auch in posttraditionalen Formen von Gemeinschaft – ebenso wie in traditiona-

3 Unter der traditionalen Gemeinschaft wird ein Beziehungsmuster verstanden, das „reales und organisches Leben“ (7önnies 1991 [1887]: 3) umfasst, das Vertrautheit und gewachsene Beziehungen voraussetzt und das (auch in der Regelung von Mitgliedschaft) traditional geregelt ist (z. B. Familie, Freundschaft). (Wieder-)Er¿ ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen 239 len Gemeinschaften. Die folgende Abbildung zeigt, wie traditionale und postt- raditionale Gemeinschaften jeweils 7raditionen und „Posttraditionen“ nutzen.

Abbildung 1: Formen von 7raditionen und Formen von Gemeinschaften (vgl. Niekrenz 2008: 277) traditionale posttraditionale Gemeinschaften Gemeinschaften

 gehütet  kaum Möglichkeiten der  face-to-face überliefert Teilhabe  authentisch  erschwerter Zugang und  sinnhaft Nutzbarkeit  transportieren Werte  geringe Innovations- und Anziehungskraft Traditionen  können adaptiert und konvertiert werden  dekontextualisiert  zahlreiche Möglichkeiten  zum Ausdruck eines der Teilhabe und des Lebensstils benutzt Zugangs (Markt, Medien)  kaum Interesse an  innovativ, produktiv, Überlieferung und flüchtig Stabilisierung  geben kurzzeitig Sinn u.  keine verstärken gemeinsames Orientierungs-funktion Handeln  können adaptiert „Posttraditionen“ „Posttraditionen“ werden

7raditionale Gemeinschaften hüten ihre 7raditionen und geben sie an nachfolgen- de Generationen in face-to-face-Kommunikation weiter. Sie erhalten damit die Autorität, die Authentizität und sichern ab, dass 7raditionen auch weiterhin mit Sinn und Werten versehen sind. Auch traditionale Gemeinschaften werden mit „posttraditionalen“ 7raditionen konfrontiert, sie nutzen sie aber nicht zur Aus- richtung ihrer Werte, sondern allenfalls dekontextualisiert und zum Ausdruck ei- nes bestimmten Lebensstils. Sie haben kaum ein Interesse an der Überlieferung und Stabilisierung dieser 7raditionen, können aber „Posttraditionen“ adaptieren und in ihre 7raditionen überführen. Die Erosion von 7raditionen ist ja kein un- umkehrbarer Prozess, sondern 7raditionen können durchaus wieder eingebet- tet werden und eine AuÀ adung mit Werten und Moral erfahren. Der Zugang zu „echten“ 7raditionen und deren Nutzbarkeit ist für posttraditionale Gemeinschaf- 240 Yvonne Niekrenz ten hingegen erschwert, weil die Überlieferung dieser 7raditionen mit ihrer im- plementierten Moral und ihrer Autorität fast ausschließlich in der direkten Be- gegnung erfolgt. Für posttraditionale Gemeinschaften üben sie deshalb nur eine geringe Innovations- und Anziehungskraft aus und spielen fast keine Rolle. Sie können aber im Falle des Kontakts adaptiert und in „Posttraditionen“ konvertiert werden. Als „Posttraditionen“ bieten sie zahlreiche Möglichkeiten der 7eilhabe und des Zugangs. Sie können die Bildung posttraditionaler Gemeinschaften he- rausfordern oder auch verstärken. Diese Handlungsorientierung könnte man im Weberschen Sinne weniger als traditionale denn als wertrationale beschreiben. Wertrationales Handeln nämlich ist bestimmt „durch bewußten Glauben an den ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbe- dingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unab- hängig vom Erfolg“ (Weber 1980 [1922]: 12, Herv. i. O.). In Kirchbau- und Gutshausvereinen oder auch manchen alternativen Ge- meinschaften im strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern wird mit bür- gerschaftlichem Engagement versucht, historische und/oder sakrale Gebäude zu erhalten, behutsam zu restaurieren und die Versäumnisse in der Sicherung der historischen Bauten unter 40 Jahren SED-Diktatur zumindest teilweise nachzu- holen. Der Sozialismus hat aber nicht nur die historischen Gebäude dem Verfall preisgegeben oder sie zum 7eil sogar abgerissen, sondern er beschädigte auch das religiöse Leben im Land. Heute sind nur etwa ein Fünftel4 der Bewohner Meck- lenburg-Vorpommerns einer christlichen Kirche zugehörig. Mit der Wiedervereinigung siedelten sich an symbolischen Orten im säkula- risierten Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche Gemeinschaften an, die den Erhalt der Gebäude forcieren und – wie die Herausgeber dieses Bandes feststellen – „re- ligionshybride Ausdrucksgestalten“ ¿nden. Oftmals sind in den neu gegründeten Vereinen und Gemeinschaften auch Mitglieder aus dem alten Bundesgebiet en- gagiert und bringen ihre Erfahrungen, Werte und Glaubenselemente in die neue Heimat und in das gemeinsame Projekt ein (vgl. Scheps 2011: 110). Für das ge- meinsame Engagement von „Ost und West“ ist die Rückbesinnung auf verloren gegangene (oder verloren geglaubte) 7raditionen (Wiederer¿ndung) ein wichti- ges integrierendes Element, aber auch die Etablierung „neuer“ 7raditionen (Er- ¿ndung) verbindet „Ost und West“ ebenso wie konfessionell gebundene und kon- fessionslose Menschen. Vielleicht sind gerade in einem Land, das in seiner Geschichte auf so gra- vierende Weise Umbruch und 7ransformation erlebte (vgl. Schroeder 2010; Land 2003), die Bedingungen für ein Experimentieren mit Altem und Neuem, mit 7ra-

4 http://www.ekd.de/download/kirchenmitglieder_2011.pdf [Zugriff vom 13.11.2012]. (Wieder-)Er¿ndung von 7raditionen in posttraditionalen Vergemeinschaftungen 241 ditionen und mit Formen des Zusammenseins und Zusammenlebens günstig. Viel- leicht lässt sich gerade hier etwas „Hybrides“ umso mehr realisieren – ein bisschen religiös, ein bisschen weltlich, ein bisschen traditionell, ein bisschen innovativ, von allem etwas. Wie einen „Crazy Quilt“ (Keupp 1989) könnte man es beschrei- ben. Auf plattdeutsch hieße das wohl: „Kuddelmuddel is bi uns gang un geev“.

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1. Einleitung Religionshybride Konstellationen, angesiedelt zwischen Religion und Kultur, 7ra- dition und Moderne sowie Säkularisierung und religiöser 7ransformation, cha- rakterisieren die spätmoderne religiöse Landschaft, so die Ausgangshypothese dieses Bandes. Hybridisierungen dieser Art ¿nden sich sowohl in der Wieder- entdeckung von 7raditionen bei Kulturfesten als auch in der emotionalen Emer- genz kollektiver Musikevents. Jedoch lassen sich auch derartige 7ransformatio- nen religiöser Sozialformen und Praktiken in den eher traditionellen religiösen Bereichen verzeichnen. Am Beispiel einer evangelikalen Gebetsbewegung soll daher gezeigt werden, inwiefern diese 7ransformationen die Konstruktion religi- öser Identität betreffen und wie diese im Alltag integriert und inszeniert werden. Ausgehend von laufenden Feldforschungen widmet sich der Beitrag einer evangelikal-charismatischen Gebetsbewegung, auf deren Initiative hin in den letzten Jahren Gebetsräume eingerichtet wurden, in denen durch permanentes Gebet eine fortlaufende Gebetskette am Leben erhalten werden soll. Charakte- ristisch für die Gebetsräume ist, dass sie Orte des kreativen Ausdrucks von Ge- bet sein sollen und ihnen dadurch eine spezi¿sche Ästhetik zu eigen ist. Ferner wird Gebet als zentrales Medium der aktiven Gestaltung des individuellen Le- bensstils angesehen. An diesem Beispiel wird gezeigt, wie sich posttraditionale Evangelikale neu organisieren und neue Wege suchen, eine holistische Spiritua- lität (Heelas und Woodhead 2005) jenseits des evangelikalen Mainstreams zu le- ben. Der Beitrag diskutiert dabei die Rolle der Ästhetisierung des Alltags und die Konstruktion von Authentizität. Bevor näher auf dieses Fallbeispiel eingegangen wird, soll in einem ersten Schritt der Begriff „Religionshybride“ aus religions- wissenschaftlicher Perspektive diskutiert und in einem zweiten Schritt das Feld des posttraditionalen Evangelikalismus kurz vorgestellt werden.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 244 Sebastian Schüler

2. Theoretische Vorüberlegungen zum Begriff „Religionshybride“ 2.1 Hybridität und Synkretismus Der Begriff ‚Hybrid‘ verweist allgemein auf die Vermischung von zwei getrenn- ten Systemen oder Entitäten. In diesem Sinne liegt es nahe, bei dem Begriff Re- ligionshybride von einer Vermischung von Religionen oder von Religion und ei- nem anderen gesellschaftlichen 7eilsystem wie etwa Kultur, Politik, oder Kunst auszugehen. Die Problematik dieser Assoziationen liegt jedoch auf der Hand: Die Untersuchung der Vermischung von Religionen – im allgemeinen auch als Syn- kretismus bezeichnet – hat gezeigt, dass der Begriff unbrauchbar ist, da es keine historisch gewachsene oder neue religiöse Bewegung gibt, die nicht von ande- ren religiösen oder kulturellen Systemen beeinÀusst wurde und daher als in sich geschlossenes System existiert (Berner 2010: 31ff). Religiöse Synkretismen stel- len somit den religionshistorischen Normalzustand dar und nicht die Ausnahme. Dennoch ist es auch ein Merkmal fast jeder Religion, den Versuch zu unterneh- men, sich durch dogmatische Grenzziehungen von Synkretismen frei zu halten. Die hierbei entstehenden Diskrepanzen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie bilden ebenfalls typische Dynamiken in den Religionen (Seiwert 1995). Die Verwendung solcher Begriffe wie Hybridität oder Synkretismus in der Religionsforschung ist selbst eine KonseTuenz der Konzeptionalisierung von Reli- gionen, wie sie durch die frühe Religionswissenschaft betrieben wurde. Der Ver- such, bestimmte Religionen als „Weltreligionen“ zu bestimmen oder Religionen über ihre Glaubensinhalte zu systematisieren, hat dazu geführt, dass sich ein Bild von in sich homogenen religiösen Strukturen diskursiv in der Wissenschaft und Öffentlichkeit durchgesetzt hat (Kippenberg und Stuckrad 2003). Dieses „bound- ary-work“ hat – zumindest für den Blick des Forschers – klare Grenzen gesetzt und die Vorstellung darüber mitbestimmt, was Menschen einer bestimmten Re- ligion glauben und was nicht (vgl. McGuire 2008: 187ff). Entsprechend mussten neue Konzepte (wie Synkretismus) in die Systematik aufgenommen werden, um solche empirischen Fälle zu verorten, die nicht in das Schema des Wissenschaft- lers passten. Diesem Konzept der ‚Lehrbuchreligion‘ war auch die Vorstellung geschuldet, dass eine religiöse Person nur einen religiösen Glauben haben könne. Das Konzept multipler religiöser Identitäten wurde hingegen lange unberücksich- tigt gelassen und erhielt erst im Zuge des Poststrukturalismus und einer postko- lonialen Kritik an den essentialisierenden Kategorien und 7heorien von Kultur, Religion oder Ethnie wieder neue Aufmerksamkeit (Kippenberg und Stuckrad 2003: 69f). Religiöse Synkretismen und Hybride sind somit als wissenschaftli- che Kategorien problematisch, weil sie von religiösen (oder kulturellen) Identi- „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 245 täten als homogenen Entitäten ausgehen. Der Begriff Synkretismus wurde ent- sprechend oft kritisiert und ¿ndet auch wegen seiner negativen Konnotation von „rein“ und „unrein“ nur noch selten Anwendung in der Religionswissenschaft. Für den Begriff „Religionshybride“ wäre somit zu klären, inwiefern er als wis- senschaftliche Kategorie brauchbar ist bzw. unter welchen Bedingungen er eine beschreibende und/oder erklärende Kraft besitzt. Der Begriff Religionshybride stößt aber auch dann an seine Grenzen, wenn er als Vermischung von Religion und Kultur oder Religion und Politik verstan- den wird. Da es an eindeutigen De¿nitionen von etwa Religion oder Kultur fehlt, lassen sich auch keine konkreten Vermischungen dieser Ebenen ausmachen. In klassischen religionssoziologischen Diskursen wird hingegen davon ausgegangen, dass sich, im Zuge der Moderne, Gesellschaften immer weiter ausdifferenzieren und gesellschaftliche 7eilbereiche wie Religion, Kultur, Politik, Kunst, Familie usw. je eigene Bereiche darstellen, auf die die Individuen nach ihren Bedürfnis- sen und Interessen zugreifen können. Während also für den Bereich Religion an- genommen wird, dass er in den so genannten vormodernen Zeiten eine stärkere gesellschaftliche Rolle ausübte, wird davon ausgegangen, dass Religion in den modernen Gesellschaften eine immer geringere Rolle zukomme bzw. nur eine Möglichkeit darstelle, Sinn im Alltag zu erzeugen. Für das moderne Individuum besteht nun die Möglichkeit, sich diesem Bereich zuzuwenden und ihn sich sub- jektiv anzueignen (Berger 2000). Zugleich scheinen aber die Grenzen zwischen sakralen und profanen Bereichen immer mehr zu verschwimmen (Knoblauch 2009). Das religiöse Subjekt sieht sich also vor dem Problem, selbst entscheiden zu müssen, was es als „heilig“ ansieht. Die Hybridisierung ¿ndet dann aber in der Wahrnehmung der religiösen Akteure statt, welche die Ambivalenzen der Moder- ne und die KonseTuenzen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung in ihren Alltag integrieren. Religionshybride sind entsprechend keine „pseudoreligiösen“ Phä- nomene jenseits der traditionellen Religionen und auch keine neue, postmoderne Religionsform. Der Begriff verweist eher auf die veränderten Strategien von An- eignung, Verhandlung und Umsetzung religiöser Identitäten in der Gegenwart.

2.2 Hybridität als ReÀexivität Spätestens seit Max Weber wird die Rolle von Religion in den modernen Gesell- schaften diskutiert: Säkularisierung, Re-Säkularisierung und 7ransformationen religiöser Sozialformen sind seitdem zu Schlagworten in der Religionswissen- schaft und Religionssoziologie avanciert. Ohne dass hier diese unterschiedlichen Diskurse nachgezeichnet werden können, kann zumindest davon ausgegangen werden, dass sich Religionen im Laufe ihrer Geschichte immer gewissen 7rans- 246 Sebastian Schüler formationsprozessen ausgesetzt sahen, die durch interne Reformbewegungen oder durch externe EinÀüsse angeregt wurden. Für das 20. Jahrhundert lassen sich davon unterschiedliche anführen, die trotz ihrer historischen Dispositionen eine Dynamisierung erfahren haben: Globalisierung (ökonomisch, kulturell, me- dial), Migration, soziale Differenzierung, kulturelle und religiöse Pluralisierung, Virtualisierung, Konsumverhalten (Baumann und Behloul 2005: 9), Ästhetisie- rung (Reckwitz 2012), das Verhältnis von Subjekt und Öffentlichkeit oder aber der Zugang zu Wissen. Religionen – so wie andere kulturelle Systeme – reagie- ren auf diese Entwicklungen und nutzen sie zugleich. In der Wahrnehmung verschiedener religiöser Akteure werden diese Verän- derungen nicht selten auch als Heterogenität, Parallelität oder als Antagonismus gedeutet. Daraus resultieren wiederum diskursive Gegenüberstellungen etwa in der Unterscheidung von fundamentalistischen, traditionalistischen, liberalen oder progressiven Religionsgemeinschaften.1 Es ist somit nichts Ungewöhnliches, wenn es in einer bestimmten religiösen 7radition zugleich fundamentalistische und li- berale Positionen gibt, manchmal sogar in einer einzigen Person vereint. Nichts scheint sich mehr zwingend auszuschließen. Empfundene Ambivalenzen und An- tagonismen werden gedeutet und anhand von vermeintlich entgegengesetzten Ka- tegorien wie Religion und Kultur verhandelt. Zugleich zeigt dieser Prozess neue Handlungsstrategien auf der Ebene von Akteuren und Organisationen, die dann als hybride Zwischenlösungen deklariert werden. Da sich der Begriff Religionshybride weniger als wissenschaftliche Kate- gorie bzw. als Klassi¿zierung bestimmter „religiöser“ Phänomene eignet, kann also danach gefragt werden, inwiefern auf der Ebene der religiösen Akteure hy- bride religiöse Stile produziert werden bzw. von den religiösen Akteuren als sol- che wahrgenommen werden. Inwiefern – so ließe sich fragen – gehen religiöse Akteure mit den sozialen und kulturellen Veränderungen in der Moderne um und stellen ihre eigene Religiosität als hybride Lebensstile dar bzw. suchen einen be- wussten Umgang mit den empfundenen Ambivalenzen posttraditionaler religi- öser Landschaften? Vor dem Hintergrund dieser Frage können religionshybride Sinnkonstruktio- nen als reÀexiver Umgang mit religiösen 7raditionen, posttraditionalen religiösen Sozialformen und der Heterogenität gesellschaftlicher und kultureller Wirklich- keiten verstanden werden. Religiöse Heterogenität muss darüber hinaus als Nor- malfall gelebter Religion verstanden werden in Geschichte und Gegenwart (Sei- wert 1995). Was der Begriff Religionshybride hier leisten kann, ist der für eine spätmoderne Gesellschaft typische reÀexive Umgang mit eben jener Heteroge-

1 Siehe exemplarisch für die religiöse Landschaft in den USA Sikkink 1998. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 247 nität (Beck et al. 1996). Religiöse Akteure machen sich das Wissen um heteroge- ne Strukturen und Weltdeutungen einerseits zu eigen; andererseits sehen sie sich von einer zunehmend differenzierten Gesellschaft mit diversen Subkulturen und parallel dazu verlaufenden ökonomischen Globalisierungs- und Nivellierungsten- denzen dazu gezwungen, sich reÀexiv mit diesen Entwicklungen auseinanderzu- setzen. In der KonseTuenz dieser Auseinandersetzung können dann unterschied- liche Sinn- und Sozialformen entstehen, von fundamentalistischen Reaktionären über liberale Pluralisten bis hin zu gegenkulturellen Bewegungen oder individu- ellen Weltentsagern. 7ypisch für diese religiösen Haltungen ist jedoch, dass sie oftmals Ergebnis reÀexiver Prozesse sind und als solche Hybridität besitzen. „Hy- bridität“ ¿ndet dann für den religiösen Akteur in der Auseinandersetzung und im Umgang mit religiösen Modernisierungsprozessen und -diskursen statt. Nicht selten wird dabei die eigene religiöse Identität als hybrid erfahren und als solche inszeniert. Dabei werden in den religiösen Sinnkonstruktionen vermeintliche Ge- gensatzpaare wie Vormoderne und Moderne, 7radition und Posttradition, Religi- on und Kultur oder säkular und sakral aufgenommen und reÀexiv an die religiöse Deutung angepasst. Die daraus resultierenden Modi¿kationen und Anpassungen individueller religiöser Sinndeutungen und religiöser Sozialformen können dann von den religiösen Akteuren als hybride Lösungen empfunden werden, die mit verschiedenen kulturellen Elementen spielen bzw. danach trachten, diese in neu- en Formen zu vereinen bzw. in eine bestimmte Relation zueinander zu setzen. Dieser Prozess wird zudem oft von einem gewissen Pragmatismus begleitet. Re- ligiöse Hybridität ¿ndet somit auf der Ebene der religiösen Akteure selbst statt, ohne dass der Begriff dort zwingend auftauchen muss. Die Aufgabe des Religionswissenschaftlers liegt nun darin, die Wahrnehmung und die religiöse Deutung emergierender posttraditionaler religiöser Identitäten und Sozialformen herauszuarbeiten und vor allem die Darstellung der religiösen Lebensstile als Hybride zu rekonstruieren. Dabei muss der religiöse Akteur je- doch den Begriff des Hybriden gar nicht selbst verwenden. Die Darstellung des eigenen religiösen Lebensstils als hybride Konstruktion kann sich (auch ohne Verwendung des Begriffs) durch den reÀexiven Umgang mit und die Artikulati- on von Ambivalenzen äußern. Zugleich lässt sich die Performanz des religiösen Lebensstils als hybride Konstruktion wiederum als ein Ausdruck moderner bzw. posttraditionaler Religiosität deuten, die sich insbesondere durch den reÀexiven Umgang mit der eigenen Religiosität und den religiösen 7raditionen äußert. Der Begriff „Religionshybride“ wäre somit zunächst eine beschreibende Kategorie, um bestimmte Wahrnehmungen und Darstellungen von als ambivalent empfun- dener Religiosität in der Moderne durch religiöse Akteure zu rekonstruieren. Ob 248 Sebastian Schüler sich der Begriff als Kategorie eignet, um einen bestimmten modernen oder post- modernen Religiositätsstil zu deklarieren, müssen weitere Untersuchungen zei- gen. Im Folgenden soll zunächst auf eine aktuelle Entwicklung im evangelikal- charismatischen Christentum eingegangen werden, um im Anschluss an diese allgemeinere Hinführung einige Beispiele zu posttraditionalen Vergemeinschaf- tungen in einer evangelikal-charismatischen Gebetsbewegung anzuführen. Ab- schließend wird diskutiert, inwiefern die Befunde in dem hier angeführten Bei- spiel als Religionshybride verstanden werden können.

3. Die Neuen Evangelikalen und das Prinzip der Ganzheitlichkeit 3.1 Die Neuen Evangelikalen Der Evangelikalismus gilt gemeinhin als eine aus den USA stammende und dort verbreitete protestantische Glaubensform, wobei insbesondere Aspekte wie die wörtliche Auslegung der Bibel, ein eindeutiges Konversionserlebnis (born-again-be- liever) oder aber eine persönliche Beziehung zu Gott als Charakteristikum ge- nannt werden (Hankins 2009). In der 7at ist der Evangelikalismus aus den pie- tistischen, methodistischen und den EinÀüssen der Erweckungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts entstanden. In den letzten hundert Jahren hat sich diese ‚amerikanische Religion‘ nicht nur sehr erfolgreich in der ganzen Welt verbreitet, sondern gilt in ihren diversen Spielarten des Pentekostalismus oder charismati- schen Christentums als die am schnellsten wachsende Religion der Gegenwart (Hochgeschwender 2007). Während sich in den USA Evangelikale traditionell in unterschiedlichen Denominationen, Kongregationen und sogenannten Megakir- chen organisieren, ¿nden sie sich in Deutschland eher in den Freikirchen wieder, die selbst oft einem größeren Verband angehören (etwa die Evangelische Allianz). Darüber hinaus sind viele Evangelikale auch in den deutschen Landeskirchen ver- treten, wo sie sich insbesondere als eine innerkirchliche Reformbewegung prä- sentieren. Weltweit liegen die Schätzungen bei 300-500 Millionen Christen, die dem evangelikalen oder charismatischen Spektrum zugeordnet werden können. Eindeutige Grenzen zwischen den hunderten von Denominationen und Kir- chen lassen sich nur schwer ziehen, weshalb hier der Begriff Evangelikal als ein Oberbegriff verwendet werden soll. Viel interessanter als die exakte Unterschei- dung zwischen Evangelikalen und Charismatikern etwa sind die seit wenigen Jahren entstehenden post-denominationalen und geradezu ‚hybriden‘ Formen des Evangelikalismus. Auch hier ¿ndet sich keine einheitliche Klassi¿kation dieser unterschiedlichen Bewegungen und Netzwerke, obwohl sie viele inhaltliche und „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 249 thematische Parallelen bzw. personale Überschneidungen aufweisen. Zu den be- kanntesten Bewegungen gehören die sogenannten „Neuen Evangelikalen“ (Pally 2010) und die „Emerging-Church-Bewegung“ (Bielo 2012), wobei beide Begriffe neben der Selbstbezeichnung auch als kategorisierende Metabegriffe verwendet werden. Weitere Selbstbezeichnungen, die sich in diesem Kontext ¿nden lassen, sind „Post-Evangelical“ (7omlinson 2003), „Deep Church“ (Belcher 2009), „Orga- nic Church“ (Cole 2005), „Missional Church“ (McNeal 2011), oder die „Red-Let- ter-Christians“ (Caliborne und Campolo 2012).2 Abgesehen von latenten Differenzen bzw. besonderen thematischen und theo- logischen Betonungen dieser unterschiedlichen Ansätze und Bewegungen, lassen sich dennoch einige Gemeinsamkeiten benennen: 1. Suche nach einer neuen religiösen und/oder spirituellen Identität 2. Post-denominationale Ausrichtung; Selbstverständnis als Àuide Bewegung oder Netzwerk 3. Betonung von Ganzheitlichkeit, wobei die zuvor als getrennt wahrgenom- menen Bereiche ‚ganzheitlich‘ im Glauben vereint werden sollen; so etwa Glaube und Alltag, Körper und Geist, Mission und soziales Engagement, 7radition und (Post-)Moderne usw. 4. Subjektivität durch spirituelle (Selbst-)Erfahrungen; insbesondere die Suche nach existentiellen (Grenz-)Erfahrungen und weniger nach charismatischen, emotionalen Erlebnissen 5. Hohe ReÀexivität der religiösen Akteure (allgemein höherer Bildungsgrad); kritische Haltung gegenüber religiösen Institutionen, Mitbestimmung öf- fentlicher Diskurse, ReÀexion der Handlungsethik (etwa das Kaufen von Fair 7rade Produkten)3 6. Soziales und/oder politisches Engagement mit dem Ziel, aktiv die Gesellschaft zu verändern, meist jedoch ohne dabei als eine (radikale) Parallelgesellschaft aufzutreten, sondern als 7eil der Gesellschaft 7. Akzeptanz von kulturell und religiös pluralistischen Gesellschaften; zugleich Kritik an religiösem (auch christlichem) Fundamentalismus Die hier aufgeführten sieben Punkte spiegeln – zumindest in 7eilen – einen allge- meinen 7rend der post-traditionalen religiösen Landschaft wider, die in rezenten religionssoziologischen Studien auch als „populäre Religion“ (Knoblauch 2009) oder ‚neue Spiritualität‘ ausgewiesen wird.

2 Die hier angeführten Literaturverweise sind von Vertretern dieser religiösen Richtung verfasst und müssen daher als Quellenmaterial angesehen werden. 3 Als Beispiel eines christlichen Autors dazu vgl. Faix 2008. 250 Sebastian Schüler

Für diesen Bereich des so genannten neuen Evangelikalismus sticht zudem hervor, dass dieser Tuer zu den traditionellen Demarkationslinien verläuft. Das protestantische Christentum spaltet sich vor allem in den USA traditionell in zwei Bereiche auf: in Konservative und in Liberale.4 Während konservative Evange- likale ihre Identität in der Arena der so genannten Kulturkämpfe austragen und ihren Fokus auf 7hemen wie Homosexualität, Evolutionstheorie oder Abtreibung lenken, beziehen sich liberalere Christen und andere Mainstreamkirchen eben- falls auf diese 7hemen, distanzieren sich aber von einer Fundamentalisierung der Gesellschaft. Den liberalen Positionen wird daher von konservativer Seite nicht selten eine Verweltlichung des Glaubens vorgeworfen. Dazu verhalten sich die Neuen Evangelikalen5 bzw. die „Emerging-Church-Bewegung“ geradezu als eine neue Alternative oder als ein ‚dritter Weg‘ innerhalb des Evangelikalismus, die einerseits neue 7hemen wie soziales Engagement und Umweltschutz erschließen und andererseits elementare evangelikale Grundprinzipien wie die Autorität der Bibel und die persönliche Beziehung zu Jesus Christus beibehalten. Von tradi- tionell-evangelikaler Seite wird diese Bewegung nicht selten mit dem Vorwurf der Relativierung des Glaubens kritisiert. So ¿nden sich entsprechend zahlreiche apologetische Schriften im Internet, wie dieser Auszug von David Kowalski, ei- nem Pfarrer der evangelikalen Kirche ‚Assemblies of God‘:

“7he cutting-edge heresy that is being welcomed by many Evangelicals today is known as the Emerging Church movement. While many participants in this movement undoubtedly know and love Christ, and while many of their criticisms of evangelical tendencies are well found- ed, their concessions to relativism inevitably lead them downward to serious doctrinal and moral deviations that they bring into the household of God.“6

Auch wenn einzelne Individuen der „Emerging-Church-Bewegung“ an einer theo- logischen Liberalisierung Interesse zeigen dürften, kann davon ausgegangen wer- den, dass die Mehrzahl der Personen, die sich dieser Richtung zugehörig fühlen, zum einen ihre evangelikalen Grundwerte beibehalten, zum anderen aber versu- chen, neue 7hemen wie diakonisches Handeln und Umweltschutz zu Identitäts- markern zu erheben. Die „Emerging-Church-Bewegung“ bzw. die Neuen Evange- likalen repräsentieren somit vielmehr einen neuen Mainstream, eine popularisierte Variante des Evangelikalismus jenseits von religiösem Fundamentalismus und Li- beralismus. Steven Studebaker und Lee Beach gehen in ihren Beobachtungen zur

4 Diese Diskrepanz wird oft auch als „culture-wars“ deklariert (vgl. Hunter 1992). 5 Die hier verwendete Schreibweise in Großbuchstaben (Neue Evangelikale) wird als namhafte Bezeichnung beibehalten. Die Frage, ob es sich hier wirklich um etwas Neues im Sinne von noch nie Dagewesenem handelt, darf bezweifelt werden. 6 http://www.apologeticsindex.org/290-emerging-church [Zugriff vom 07.12.2012]. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 251

Emerging Church Kanada sogar davon aus, dass diese Reformbewegungen eine Antwort auf stagnierende bis abnehmende Mitgliederzahlen in den traditionel- len evangelikalen Kirchen darstellt (2012). Als die drei zentralen Kriterien die- ser Bewegung nennen sie erstens den Versuch der Überwindung der sogenann- ten „culture wars“ und mehr Aufmerksamkeit für Veränderungen innerhalb der jeweils eigenen Gemeinschaft, zweitens die Zurückweisung von durchorganisier- ten und spezialisierten Kirchenprogrammen, stattdessen die Anpassung an die lokale Kultur und aktuelle soziale Bedürfnisse, und drittens die Betonung einer umfassenden, holistischen Spiritualität. Historische Vorläufer dieser religiösen Ausrichtung hat es immer wieder ge- geben, so etwa die ‚Social Gospel Bewegung‘ (Curtis 2001) im 19. Jahrhundert oder die evangelikalen Linken (Swartz 2012) und Hippies (Shires 2006) in den 1960er Jahren. Die Neuen Evangelikalen schließen hier einerseits an gewisse As- pekte dieses historischen Erbes an, andererseits lässt sich eine Verlagerung des religiösen Ausdrucks feststellen: Während die ‚Social Gospel Bewegung‘ oder die evangelikale Linke der 1960er Jahre stark politisch motiviert waren, verbindet sich bei den Neuen Evangelikalen dies mit der Idee einer ganzheitlichen Lebens- führung. Dabei ist unmittelbar die Handlungsebene betroffen, die sich zunehmend in das subjektive Erleben verlagert und zugleich religiöse Eigenverantwortlich- keit propagiert. Während sich also die evangelikale Rechte durch eine klare 7ren- nung von Gottesreich (Gemeinschaft der Gläubigen) und Welt auszeichnet, ver- suchen die Neuen Evangelikalen diese 7rennung zu lockern, indem sie religiöse und kulturelle Ambivalenzen zwar zulassen, diesen jedoch durch ein Verständnis von ganzheitlicher Lebensführung im Alltag entgegnen. Diese spirituelle Ganz- heitlichkeit soll sich dann dadurch auszeichnen, dass sie nicht in extreme Positi- onen verfällt, seien diese theologisch, politisch oder kulturell geprägt. So wirbt etwa das 2008 erstellte ‚Evangelikale Manifest – Eine Erklärung zur Evangeli- kalen Identität und zum öffentlichen Engagement‘ für eine neue Identität jenseits klassischer Beschreibungskategorien: „Ebenso wenig sollte er (der Evangelikalis- mus) durch politische Kategorien wie ‚konservativ‘ und ‚liberal‘ oder durch psy- chologische Kategorien wie ‚rückschrittlich‘ oder ‚fortschrittlich‘ missverständ- lich gefüllt werden.“7

7 „Ein Evangelikales Manifest – Eine Erklärung zur Evangelikalen Identität und zum öffentlichen Engagement“, hrsg. von 7imothy George u. a. 2008: 6. 252 Sebastian Schüler

3.2 Das Prinzip der Ganzheitlichkeit bei den Neuen Evangelikalen Ein weiteres Charakteristikum der Neuen Evangelikalen ist neben der Betonung sozialen Engagements der Versuch, evangelikalen Glauben und postmoderne Lebensstile zu vereinen. Nicht selten wurden Evangelikale mit christlichen Fun- damentalisten gleichgesetzt, was dazu führte, dass Evangelikale sich häu¿g öf- fentlicher Kritik ausgesetzt sahen. Eine frühe Strategie des Evangelikalismus lag entsprechend darin, sich bestimmten modernen Medien und Stilen gegenüber zu öffnen. Die Verbindung von Religion und Popkultur ist somit in den evangeli- kalen Kreisen an sich nichts Neues. Versuche von Evangelikalen in den 1980er und 1990er Jahren, ihre Gemeinden und Gottesdienste für Jugendliche zu öff- nen, indem Pop- und Rockmusik salonfähig wurden und spezialisierte Program- me für alle Altersgruppen avancierten, haben zwar gefruchtet, wurden aber von den Post-evangelikalen als religiöser Populismus und spirituelle Verarmung kri- tisiert. Gläubige, die sich der „Emerging-Church-Bewegung“ zurechnen oder 7ei- le der Neuen Evangelikalen bilden, rebellieren entsprechend gegen die stereoty- pen evangelikalen Kirchen der 1980er und 1990er Jahre und deren Verbreitung christlicher Popkultur und spezialisierter Kirchenprogramme (etwa Erweckungs- Events). Die Ursache für die von ihnen diagnostizierte Profanisierung des Glau- bens sehen die Neuen Evangelikalen daher nicht in der Vermischung von Popkul- tur und Religion, sondern in deren Eventisierung, der die nötige spirituelle 7iefe fehle. Nebst ihrer Kritik blieb die Diskrepanz von traditionellen religiösen Wer- ten und modernen Lebensstilen jedoch erhalten, was dazu führte, dass nach neu- en Stilen und Möglichkeiten religiöser Lebensführung gesucht wurde. Dabei lag etwa in der „Emerging-Church-Bewegung“ weniger Augenmerk auf noch spezi- elleren Anpassungen an bestimmte Subkulturen, sondern darauf, ein bestimm- tes gebildetes, alternatives Milieu anzusprechen, das sich durch seinen reÀexiven Umgang mit diesen Diskrepanzen auszeichnet. Dieser Umgang kann als reÀexiv eingestuft werden, da er die polarisierenden 7endenzen der ‚alten Evangelikalen‘ zu überwinden trachtet und Grenzen (etwa zwischen Frömmigkeit und Popkul- tur) aufzulösen sucht, wobei allerdings religiöse Markierungen bestehen bleiben; etwa durch die Betonung des einen Heilswegs. Einen weiteren zentralen Aspekt in diesem Prozess bildet die zunehmen- de Betonung von spiritueller Ganzheitlichkeit. Auch dies entspricht einem all- gemeineren 7rend, für den vor allem esoterische Kreise und Weltanschauungen bekannt sind. Ganzheitliche Konzepte ¿nden sich darüber hinaus verbreitet in al- ternativen Heilpraktiken und der so genannten Wellness-Kultur (Höllinger/7ri- pold 2012). Der Religionssoziologe Hubert Knoblauch geht davon aus, dass das Prinzip ganzheitlichen Denkens jedoch nicht nur auf den esoterischen Bereich „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 253 beschränkt bleibt, sondern eine allgemeine Popularisierung erlebt und sogar in den freikirchlichen und charismatischen Kreisen anzutreffen ist (2002: 296f). Wie hier bereits geschildert wurde, trifft dies in einem gewissen Grad auf die Neuen Evangelikalen zu. Jedoch bleibt die Frage offen, inwiefern hier eine konzeptionel- le oder eine semantische Verbreitung holistischer Ideen vorzu¿nden ist. Im Falle der Neuen Evangelikalen taucht der Begriff der „spirituellen Ganzheitlichkeit“ zwar auf, damit ist jedoch nicht die Übernahme esoterischer Ideen (wie etwa Re- inkarnationsglaube oder Synkretismen) in den Evangelikalismus gemeint. An- dere Aspekte ganzheitlichen Denkens (Höllinger/7ripold 2012: 25-29) wie etwa Körper- und Erfahrungszentriertheit, die Entwicklung einer authentischen Per- sönlichkeit, die Verbindung von Körper und Seele sowie eine soziale Netzwerk- struktur lassen sich wiederum auch bei den Neuen Evangelikalen ¿nden. Der Be- griff der Ganzheitlichkeit in evangelikalen und charismatischen Kreisen dient dabei zum einen der Abgrenzung gegenüber den klassischen kirchlichen Formen, die angeblich zu einseitige Betonungen etwa auf den Heiligen Geist oder soziale Programme legten, andererseits dient er zur Generierung einer neuen 7heologie bzw. als Deutungsmöglichkeit des eigenen Lebensstils. Hierbei wird die Verbin- dung von Heiligem Geist, Körper und Seele genauso als ganzheitlich gedeutet und versucht, deren „Balance“ im Alltag umzusetzen, wie die Verbindung von Spiritualität, Mission und Diakonie. Die Übernahme einer ‚Semantik der Ganz- heitlichkeit‘ dient den jeweiligen Gruppen und Individuen dazu, solche Bereiche wieder in eine ‚harmonische Balance‘ zu bringen, die aus ihrer jeweiligen Sicht zuvor voneinander getrennt oder zu einseitig betont wurden. Als letzter Punkt dieser Diagnose der Neuen Evangelikalen lässt sich ein allgemeiner 7rend zur 7ransformation religiöser Sozialformen – weg von tra- ditionellen Strukturen und hin zu religiösen Subjektivierungen und neuen reli- giösen Bewegungen und Netzwerken – deklarieren. So verkündet auch das be- reits erwähnte Evangelikale Manifest: „Evangelikale [sind] Nachfolger Jesu in einer Art und Weise, die nicht an Kirchen oder religiöse Gruppierungen gebun- den ist.“8 Das religiöse Subjekt kann demnach Mitglied einer bestimmten Kirche oder Denomination sein, zugleich aber an unterschiedlichsten religiösen Netz- werken und Events partizipieren, ohne sich dabei in einem theologischen Kon- Àikt zu be¿nden. Die Betonung ein „Nachfolger Jesu“ zu sein, zeigt bereits den Versuch, sich von denominationellen Zuordnungen abzuwenden und eine allge- meine Christenheit zu betonen, die aber in einem bestimmten, hier evangelika- len Verständnis auftritt. Der Evangelikalismus hat schon immer unterschiedliche Sozialformen angenommen von Megakirchen bis zu Hauskreisen. Für die Neuen

8 „Evangelikales Manifest“ (7imothy George u. a. 2008: 6). 254 Sebastian Schüler

Evangelikalen gilt jedoch mehr als zuvor, dass Netzwerk und Bewegung zu zen- tralen Metaphern und realen sozialen Ausdrucksformen spätmoderner religiöser Vergemeinschaftungen und Identität werden. Gerade die Begriffe von Netzwerk und Bewegung sind 7eil des Selbstverständnisses einer modernen Kommunika- tionsgesellschaft geworden und bestimmen auch das Selbstbild von Evangeli- kalen zunehmend. Neben der verstärkten sozialen Organisation in Netzwerken und Bewegungen lässt sich auch ein neues Interesse an Hausgemeinschaften be- obachten, die sich in den Vorstädten und in ländlichen Gegenden etablieren und dort das Prinzip einer ganzheitlichen Lebensführung umzusetzen versuchen (sie- he Fallbeispiel weiter unten). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die so genannten Neuen Evan- gelikalen auf der Suche nach einer neuen Identität sind, die einerseits nach au- ßen ein selbstbestimmtes Bild, eine antifundamentalistische Grundhaltung und eine innere Einheit repräsentiert, und andererseits nach innen gewisse Prinzipien kommunizieren, die sich als spirituell, ganzheitlich und sozial bestimmen lassen. Religionshybride lassen sich entsprechend dort ¿nden, wo es vorher soziale und semantische 7rennungen von Entitäten oder Gesellschaftsbereichen gegeben hat (Religion, Kultur, Kunst, Politik, usw.) bzw. Normativierungen von 7raditionen (religiöse Rechte und Linke). Hybridisierung ¿ndet in diesem Fall als ganzheit- liches spirituelles Erleben statt, das von einigen Neuen Evangelikalen (sicherlich nicht allen) propagiert wird, um mit gewissen empfundenen Ambivalenzen im Alltag umzugehen. Im Folgenden möchte ich diese Gedanken an einem konkreten Fallbeispiel exemplarisch darstellen. Die 24-7-Prayer-Bewegung kann als ein typischer Aus- druck für den hier als Neue Evangelikale oder „Emerging-Church-Bewegung“ deklarierten Bereich angesehen werden. Auch hier lassen sich Hybridisierungen aufspüren, weil zuvor als getrennte Sphären wahrgenommene Bereiche (Religi- on und Kultur) jetzt eine Symbiose erfahren sollen.

4. Posttraditionale Vergemeinschaftung und ganzheitliche Spiritualität 4.1 Beschreibung der 24-7-Prayer-Bewegung Die 24-7-Prayer-Bewegung entstand Ende 1999 in Chichester, Südengland. Der damalige Jugendpastor Pete Greig reiste nach Deutschland, genauer nach Her- renhut, wo er die Herrnhuter Brüdergemeine besuchte. Inspiriert von dem Grün- der der Brüdergemeine Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der bereits im 18. Jahrhundert die Idee einer hundertjährigen Gebetskette hatte, kehrte Greig „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 255 in seine Gemeinde zurück und schlug vor, einen Monat lang ununterbrochen zu beten, 24 Stunden am 7ag und sieben 7age die Woche. Es wurde dafür eigens ein Gebetsraum eingerichtet, der die Möglichkeit bot, die Gebete kreativ durch Malen, Zeichnen oder Basteln auszudrücken. Eine Gebetsstaffel wurde organi- siert, so dass immer jemand in dem Gebetsraum war, um dort zu beten. Es ging dabei in erster Linie nicht um bestimmte Gebete, sondern einfach um das Ziel, dass die Gebetskette nicht abreißen sollte. Wofür gebetet wurde, war den einzel- nen Personen überlassen. Die Idee war so erfolgreich, dass die Gebetskette von anderen Gemeinden und Gruppen aufgegriffen wurde, um das endlose Gebet nicht abbrechen zu las- sen. Schnell verselbstständigte sich die Idee – erst zu einem überregionalen Netz- werk und später zu einer internationalen Bewegung. Dutzende von Gruppen auf der ganzen Welt beten heute parallel für jeweils eine Woche oder einen Monat. Internetseiten wurden aufgesetzt, in die sich Gruppen eintragen und Informatio- nen austauschen können. Die aktivste Webseite ist die internationale Seite9, auf der sich mittlerweile unzählige Beiträge, Audio-Dateien und Videos ¿nden lassen. Das Internet und besonders Dienste wie Facebook, You7ube und 7witter wurden zu wahren Katalysatoren dieser Bewegung und zeitigen einen noch nicht gänz- lich erforschten EinÀuss auf gegenwärtige Religiosität. Die zentrale Idee der Bewegung erschließt sich aus deren Motto „Prayer, Mission and Justice“. Das Gebet steht im Zentrum jeder Aktivität und deckt den Bereich der Spiritualität ab. Mission und Gerechtigkeit sollen entsprechend nicht als einzelne Programme verstanden werden, sondern immer aus Gebet entstehen und stets an Gebet zurückgebunden werden. Alle drei Bereiche sollen ganzheit- lich aufeinander bezogen sein und ineinander wirken. 7heologisch gehört die Bewegung in den Bereich des evangelikal-charisma- tischen Christentums, wobei die Bewegung selbst größten Wert auf einen über- denominationalen Anspruch legt. Gebet dient dabei als kleinster gemeinsamer spiritueller Nenner, der theologische oder kulturelle Unterschiede überbrücken soll. Die Betonung eines Antidogmatismus lässt die Bewegung geradezu liberal erscheinen, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein gewisses evange- likales Grundverständnis wie der Glaube an die absolute Wahrheit der Erlösung durch Jesus Christus oder die Offenbarung Gottes durch die ganze Bibel erhalten bleibt. Anders als bei eher fundamentalistisch ausgerichteten Evangelikalen gilt die Bibel zwar als zentraler Bezug des Glaubens und als Ressource für Fragen im Alltag und der Kontemplation, wird aber nicht strikt literarisch ausgelegt, was auch die vermeintlichen KonÀikte wie Evolution oder Schöpfung aus dem Fokus

9 www.24-7prayer.com [Zugriff vom 07.12.2012]. 256 Sebastian Schüler der Bewegung rückt. Stattdessen lässt sich eine Rezentralisierung von religiösen Handlungen im Alltag in das erlebende und eigenverantwortliche Subjekt beob- achten, wobei die theologischen Simpli¿kationen nicht darüber hinwegtäuschen sollten, dass die Mehrheit der Beteiligten an dieser Bewegung einer gehobenen Mittelschicht zuzurechnen sind und viele einen höheren Schulabschluss oder ein Studium vorweisen können.

4.2 Gebet als religionsproduktiver Faktor Die fortlaufende Gebetskette beinhaltet schon selbst ein produktives Moment. Ge- bet wird zum treibenden Faktor, der zum einen das eigene Leben verändern soll, zum anderen soziale Veränderungen (etwa soziale Gerechtigkeit) durch überna- türliche Intervention herbeiführen soll. Die Gebetskette selbst symbolisiert und erzeugt eine soziale Dynamik, an der die einzelnen Individuen selbst teilhaben können – und dies nicht nur als Konsumenten, sondern als Produzenten religiö- ser Sinnstiftung. Entsprechend wird in dieser Bewegung auch der Einzelne im- mer wieder als „history maker“10 dargestellt, als jemand, der die große Geschichte Gottes mit den Menschen aktiv mitgestalten kann. Zugleich begreift sich die Be- wegung selbst als ein Glied in einer Kette von christlichen „history makers“, die Tuer durch die Geschichte wichtige spirituelle Anstöße gegeben haben. Nicht sel- ten werden hier unterschiedliche Personen von Franz von Assisi über John Wesley und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf bis hin zu Dietrich Bonhoeffer genannt. Aber nicht nur die Metapher der Kette bzw. des Netzwerks erfährt beim 24-7-Prayer eine Verinnerlichung, sondern auch der Begriff Bewegung wirkt re- präsentativ für ein spätmodernes Lebensgefühl. Auf der internationalen Webseite von 24-7-Prayer, aber auch bei You7ube, ¿nden sich fünf Kurzportraits der Be- wegung, die jeweils einen anderen Aspekt vorstellen. Das Video mit dem 7itel „Prayer as a Movement“ spielt mit der Metapher auf mehreren Ebenen. So wird das Video bei You7ube mit dem Satz beworben: „Plenty of organisations claim to be ‚movements’, but 24-7 really is!“11 In dem Video wurden Mitglieder der Be- wegung aufgefordert, Bewegung szenisch darzustellen, was dann als Körper- und 7anzbewegungen Ausdruck ¿ndet. Die Metapher wird somit geradezu verkör- pert und erhält eine Mehrfachdeutung von der sozialen Bewegung zur Körperbe- wegung des Einzelnen und dient dabei als Ausdruck eines spätmodernen Selbst-

10 siehe diesen Beitrag auf der internationalen Webseite: http://www.24-7prayer.com/news/2410; siehe auch dieses Video von 24-7-Prayer: http://archive.org/details/247_Prayer_History_Maker [Zugriff vom 07.12.2012]. 11 http://www.youtube.com/watch?v=4haCSbpE3zQ, siehe auch: http://24-7shorts.com/prayer- as-a-movement [Zugriff vom 07.12.2012]. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 257 verständnisses. Individuelles und Kollektives, Lokales und Globales werden hier sinnbildlich vereint und als Lebensgefühl in Szene gesetzt. Ein weiterer Aspekt, durch den Gebet zu einem religionsproduktiven Faktor wird, liegt in der Ästhetisierung von Gebet. Wie schon erwähnt, organisiert sich die Gebetskette durch die Einrichtung von Gebetsräumen, die dazu einladen sol- len, Gebet kreativ auszudrücken. Gebetsräume werden in der Regel mit entspre- chenden Utensilien ausgestattet, mit denen Gebete auf unterschiedliche Art und Weise kreativ umgesetzt werden können. Viele Räume haben große Papierbögen an den Wänden, auf die Gebete, Gebetsanliegen sowie Psalmen und Gedichte ge- schrieben werden können. Die Idee ist, dass sich der Gebetsraum mit der Zeit füllt und selbst zu einem Kunstwerk heranwächst, das die sonst stummen oder leisen Gebete materialisiert. Nicht alle Gebetsräume sehen daher gleich aus. Die Ge- betsräume weisen jedoch eine wiedererkennbare Ästhetik auf. 24-7-Prayer bietet auf seiner Webseite sogar ein Dokument an, in dem beschrieben wird, wie man einen Gebetsraum am besten einrichtet. Aber auch das ‚24-7 Prayer Manual‘, ge- schrieben von Pete Greig und mit dem Untertitel ‚Anyone, Anywhere Can Learn 7o Pray Like Never Before‘, gibt nicht nur Anleitungen zum Erlernen von Gebet, sondern auch Hinweise zur Einrichtung eines Gebetsraums (Greig und Blackwell 2009). Darüber hinaus bietet die Bewegung – bisher vor allem in Großbritannien – die Möglichkeit an, einen mobilen Gebetsraum in Schulen einzurichten. Das christliche Element wird dabei teilweise leicht minimiert und der Raum als ein allgemeiner spiritueller Erfahrungsraum verstanden: „Prayer spaces get called all kinds of things – sacred spaces, reÀective rooms, soul spaces – but their pur- pose is the same; to welcome children and young people (and teachers) into space where they can explore prayer in simple, honest, creative ways.“12 Gebetsräume – ob in Schulen oder an anderen Orten – sollen eine möglichst niedrige Hemmschwelle bieten, um selbst Gebet ‚auszutesten‘. Das Beten in ei- genen Worten wird hier neben klassische Gebetsformeln wie das ‚Vater unser‘ gestellt, und beidem wird Raum gegeben. Der kreative Ausdruck von Gebet soll zudem das Beten sinnlich-ästhetisch erlebbar machen. Ganz in der 7radition des Evangelikalismus, der die direkte Beziehung zu Jesus Christus als zentralem Element des Glaubens betrachtet, wird hier Erlebnisreligion angeboten, die zu- gleich einen kontemplativ-mystischen Charakter aufweist, im Unterschied zu ei- nem rein charismatischen Erlebnis. Die Selbsterfahrung steht somit noch vor der Gotteserfahrung. Die religiöse Praxis de¿niert sich dabei geradezu selbst durch das bloße 7un. Die Ästhetisierung unterstreicht und festigt das Erlebnis und le- gitimiert zugleich die Pragmatik der religiösen Handlung. Dabei können auch

12 http://uk.24-7prayer.com/schools-and-youth/ [Zugriff vom 07.12.2012]. 258 Sebastian Schüler unterschiedliche traditionelle Symbole unterstützend herangezogen werden. So ¿nden sich in manchen Gebetsräumen klassische Kruzi¿xe oder selbstgebaute Altäre, deren Symbolik zugleich die Kreativität der lokalen Gruppe repräsentiert. Dem Gebet kommt zudem eine doppelte Funktion zu: Es dient einerseits als re- ligionsproduktiver Faktor und treibende Kraft der Bewegung, andererseits dient es der mystischen Selbsterfahrung des Individuums und als Orientierungs- und Entscheidungshilfe im Alltag. Die Praxis des Gebets verbindet somit die Privat- heit der individuellen Erfahrung und die Öffentlichkeit der Bewegung durch me- diale Inszenierungen und öffentliches Handeln. Die Pragmatik des Gebets und der aus dem Gebet folgenden Handlungen repräsentiert dabei den Impetus einer spätmodernen 7heologie, die weniger auf Dogmatik oder Bibelexegese baut als vielmehr auf alltagsweltliche Anpassungen und eine „trial-and-error“-Vorgehens- weise. Entsprechend kann diese Ausrichtung der Bewegung auch als eine Form der populären Religion verstanden werden, wie sie Hubert Knoblauch als Merk- mal spätmoderner Spiritualität diagnostiziert (2009).

4.3 Vergemeinschaftung zwischen Tradition und Moderne Neben der Gebetskette hat sich die Bewegung zudem durch lokale Gemeinschaf- ten weiter institutionalisiert. Die Gemeinschaften entsprechen keinen klassischen Gemeinden mit Pastor und Sonntagsgottesdiensten, sondern eher Hausgemein- schaften oder lokalen Gruppen, die sich vor allem in privaten Räumen treffen, gemeinsam essen, beten und sich in sozialen Projekten engagieren und Nach- barschaftspÀege betreiben. Derzeit gibt es etwa ein Dutzend solcher 24-7-Pray- er-Gemeinschaften, die meisten davon in Großbritannien, aber auch in Spanien, Deutschland, der Schweiz, den USA und Mazedonien haben sich Gemeinschaften gebildet. Jede Gemeinschaft verpÀichtet sich, die zentralen Grundwerte der Be- wegung anzunehmen. Diese Werte gliedern sich zunächst in zwei leitende Ziele und drei Prinzipien. Die drei Prinzipien entfalten sich wiederum in jeweils zwei Handlungen. Die zwei leitenden Ziele werden wie folgt de¿niert: „A 24-7 Boiler Room exists to love God in prayer and to love its neighbours in practice. 7hese purposes are contextualised in community and expressed in a de¿ned location.“13 Um Gebet im Alltag zu implementieren, wird so oft wie möglich still oder laut in alltäglichen Situationen gebetet, entweder allein in der Kassenschlange im Su- permarkt, gemeinsam mit einem festen Gebetspartner einmal am 7ag zu einer festen Uhrzeit oder auch kollektiv am Abend nach einem gemeinsamen Essen. Entsprechend wird auch von einem „Rhythmus des Gebets“ gesprochen, der den

13 http://www.24-7prayer.com/features/447 [Zugriff am 07.12.2012]. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 259

Alltag gestaltet. Die drei Prinzipien, die auf den beiden Zielen aufbauen, lauten: „1. Authentic: 7rue to Christ. 2. Relational: Kind to People. 3. Missional: 7ak- ing the Gospel to the World.“ Daraus leiten sich wiederum die insgesamt sechs Handlungen ab: „Prayer, Creativity, Justice, Hospitable, Missional, Learning“.14 Entwickelt wurden diese Werte in dem von Andy Freeman geschriebenen und von Pete Greig eingeleiteten Buch ‚PunkMonk: New Monasticism and the Ancient Art of Breathing‘ (2007). Darin beziehen sich die Autoren auf eine kel- tisch-monastische 7radition, wonach Klöster als Orte des Gebets dargestellt und utopisiert werden. Die Hybridisierung des 7itels macht bereits deutlich, dass hier moderne, junge und vor allem unkonventionelle Menschen (Punks15) angespro- chen werden sollen, die nun als Mönche des ‚dritten Milleniums‘ eine alte Spiri- tualität ‚wiederentdecken‘ und in die Moderne tragen. Eine 24-7-Prayer-Gemeinschaft, die bisher am ehesten den monastischen Stil aufzugreifen gewillt war, existierte von 2006 bis etwa 2009 in einem Dorf etwa 40 Kilometer südlich von Leipzig. In einer alten Schule mitten im Dorf- kern lebten zu Spitzenzeiten der Gemeinschaft etwa 18 Erwachsene und Kinder unter einem Dach mitten in der sächsischen Provinz. Die Suche nach einem pas- senden Ort wurde auch hier pragmatisch gelöst, so kam einer der Bewohner ur- sprünglich aus der Region, die anderen kamen aus ganz Deutschland, aber auch aus England. Um dort zu leben, nutzten einige Bewohner ihre gesamten Erspar- nisse, weil für die Wenigsten Arbeit zu ¿nden war, in einer Region, die ohnehin schon von hoher Arbeitslosigkeit geprägt war. Ein Gebetsraum wurde eingerich- tet und dekoriert und die alte Dorfkirche wurde für Gottesdienste genutzt. Die Gemeinschaft diente auch als Paradebeispiel der Bewegung und wurde in einem der Werbevideos (Prayer as Community) auch bildlich dokumentiert. Die Eröff- nungsseTuenz des Videos spielt ebenfalls mit der Metapher des „Punkmonk“. So sieht man junge Menschen in eine alte Kirche gehen, um dort zu beten; die Szene ist mit moderner Elektromusik unterlegt. Im weiteren Verlauf des Videos sieht man die Gemeinschaft zusammen essen und Reparaturen an dem Gebäu- de verrichten. Als soziales Projekt der Gemeinschaft ging es darum, Kontakt zu den Nachbarn aufzubauen oder mit den Jugendlichen im Dorf Fußball zu spielen und andere Jugendprojekte anzubieten. Die Gemeinschaft löste sich allerdings

14 Eine ausführliche Darstellung ¿ndet sich in den sogenannten „Boiler Room Rules“: http:// www.google.de/url?sa=t&rct=j&T=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&ved=0CC8QFj AA&url=http%3A%2F%2Fdownloads.24-7prayer.com%2Fpdf%2Fcommunities%2FLicens ing_Boiler_Rooms.pdf&ei=3FvDUIXcH4_HsgbNk4HYCA&usg=AFQjCNEuJ6yRE7BPyK imdNFLTYoJ1Sj89Q [Zugriff vom 07.12.2012]; siehe auch: http://uk.24-7prayer.com/boiler- rooms-and-communities/ [Zugriff vom 07.12.2012]. 15 Mit dem Begriff „Punk“ sind nicht nur Mitglieder einer bestimmten Szene gemeint, sondern generell junge, alternative Menschen, die eher unkonventionelle Lebensstile pÀegen. 260 Sebastian Schüler nach etwa drei Jahren wieder auf, weil es für die meisten keine Aussicht auf Ar- beit in der Region gab. Dies verdeutlicht einerseits die Flüchtigkeit spätmoderner Vergemeinschaftungen, andererseits werden Vergemeinschaftungen dadurch zu temporalen Vehikeln von Ideen. Das Individuum kann sich dort voll einbringen und gestalterisch tätig werden, ohne aber sich für immer der Gemeinschaft zu verpÀichten. Als Wertegemeinschaft kreieren die Mitglieder ihre eigene soziale Ordnung, deren primäres Ziel es ist, dem Individuum das Gefühl zu geben, einen authentischen Lebensstil zu pÀegen. Die Gemeinschaft ist dabei zugleich Bühne und Publikum, bleibt aber immer nur ein Hort von und für Ideen. In ähnlicher Weise kommentiert Andy Freeman sein Buch wie folgt:

„7he book ends with a challenge to live out an honest, committed and disruptive disciple- ship, renewing Bonhoeffer’s call for a new monasticism, which bases itself solely around Je- sus and lives visibly in the world. Whether Boiler Rooms interest people or not, I hope that call will hit home.“16

Wie in diesem Zitat deutlich wird, sticht zunächst das erste Prinzip der Bewe- gung, das authentische Leben, heraus. Der Anthropologe Charles Lindholm hat in seinem Werk ‚Culture and Authenticity‘ bereits darauf hingewiesen, dass die Sehnsucht nach authentischem Erleben und authentischen Lebensstilen ein Merk- mal moderner Gesellschaften darstellen. Für ihn haben die klassischen Werte- systeme, die Glauben und Bedeutungen repräsentiert haben, in der Moderne ihre Geltung verloren (2008: 3-10). Hinzu kommt, dass Authentizität zwar einerseits einen größeren gesellschaftlichen Stellenwert erlangt hat, sich andererseits aber immer mehr verÀüchtigt und nicht an konkreten, allgemeinverbindlichen Wer- ten festgemacht werden kann. Den Versuch der Rückbindung an authentisches Leben und Erleben ¿nden wir in der 24-7-Prayer-Bewegung in den beiden ersten Handlungsanweisungen von Gebet und Kreativität, die wiederum mit allgemei- nen Werten wie sozialer Gerechtigkeit verbunden werden. Beide Praktiken (Ge- bet und Kreativität) sollen die Authentizität des Gläubigen stärken und zugleich nach außen sichtbar werden lassen. Auch Lindholm unterscheidet zwischen dem Versuch, persönliche und kollektive Authentizität herzustellen. Gebet wirkt zu- dem bei 24-7 immer symbolisch und ästhetisch-sinnlich. In ähnlicher Weise dia- gnostiziert der Soziologe Andreas Reckwitz für die moderne Gesellschaft einen Hang zur Kreativität bzw. einen Zwang zum kreativ sein müssen (2012). Daraus ergibt sich ebenso ein Zwang zur Ästhetisierung des eigenen Lebens, der wie- derum mit dem Wunsch nach Authentizität korreliert. Die bereits beschriebene Ästhetisierung von Gebet erfüllt eben diesen Zweck. Diese Ästhetisierung über-

16 http://www.24-7prayer.com/pages/punk-monk [Zugriff vom 07.12.2012]. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 261 lagert die genannten Werte aber auch. Es geht vielmehr um die Performanz die- ser Werte als um deren stringente Verbindlichkeit und Einbettung in ein kohä- rentes theologisches System. Die anderen beiden Prinzipien, Mission und soziales Engagement, spiegeln hingegen eher klassische evangelikale Positionen wider, die hier jedoch stark an die Praxis des Gebets geknüpft werden, um sie einerseits als authentische Hand- lungen vollziehen zu können und andererseits die Gefahr auszuschließen, dass diese zum Selbstzweck werden und dabei ihren spirituellen Impetus verlieren könnten. So stilisiert auch Pete Greig den Moment der Kreativität und Fluidität der Bewegung als Lebensgefühl und kritisiert zugleich andere Versuche authen- tischer Lebensstile:

„So often, initiatives which started with God soon become part of an institution. (…) We don’t want to become an organisation, but keep as a movement. It has all accelerated beyond our control which is good as we have to trust in God and His hand on it all! Our greatest need is to keep in tune with the Holy Spirit and not let a system take over.“17

Wie in diesem Beispiel deutlich wird, wird die Fluidität der Bewegung selbst zu einem 7eil spätmoderner Religionsproduktivität, wobei klassische Formen der Institutionalisierung kritisiert werden. Die Betonung von Authentizität ¿ndet sich aber schon bei eben diesen klas- sischen und institutionalisierten evangelikalen und charismatischen Bewegungen, jedoch wurde hier Authentizität oft durch das Charisma oder den Heiligen Geist versinnbildlicht und als ‚echte Glaubenserfahrung‘ in Szene gesetzt. Im Fall der 24-7-Prayer-Bewegung wandelt sich das Konzept von Authentizität. Diese soll nicht mehr allein durch starke Emotionalisierung im Gottesdienst statt¿nden, son- dern durch einen gewissen Lebensstil, der als ganzheitlich gedeutet wird, wobei Emotionalität, Spiritualität, soziales Handeln und missionarische 7ätigkeit in ei- ner Balance zueinander stehen. So berichtet eine Interviewpartnerin aus Deutsch- land, die Mitglied einer Gemeinschaft in Frankfurt ist:

„Also, du kannst Gebet eben nicht von Mission trennen und Gebet auch nicht von Gerechtig- keit trennen und wieder Gerechtigkeit nicht von Mission und auch nicht von Gebet, also letzt- endlich, dass diese drei Stränge letztendlich gehören zusammen, so, und das ist ja bei 24-7. Ist einfach stark so, dass da nicht so ein Fokus auf dem einen oder anderen ist, sondern eben diese Ausgewogenheit in diesen Dreien. Aber das hat sich natürlich alles entwickelt im Lau- fe der Geschichte, das ist ja nicht, ja, im Laufe der letzten zehn Jahre, seitdem die Bewegung besteht, aber das ist auf jeden Fall, also letztendlich, wie das bei allen war, die, glaube ich,

17 In einem Interview mit dem Jesus Life Magazine vom Mai 2002: http://www.jesus.org.uk/ja/ mag_talkingto_greig.shtml [Zugriff vom 07.12.2012]. 262 Sebastian Schüler

7eil dieser Bewegung sind, ist, dass Gott schon etwas angefangen hat in uns, eine Sehnsucht, einen Hunger eben nach mehr.“18

Dieser Verständniswandel von Authentizität spiegelt eben jene Performanz des Glaubens als ganzheitlichen Lebensstil wider, der typisch für spätmoderne Spiri- tualität geworden ist. Entsprechend liegt in dieser Performanz des Ganzheitlichen auch eine gewisse Hybridität des Religiösen in spätmodernen Gesellschaften. Die Mehrdeutigkeit des vermeintlich Eindeutigen wird in eben diese Performanzen des Glaubens aufgenommen und bespielt. Im Unterschied zur religiösen Popkul- tur der klassischen Evangelikalen, die ebenfalls die ästhetische Inszenierung ih- rer Gottesdienste perfektioniert haben (Loveland und Wheeler 2003), wirkt hier die Ästhetisierung auf einer eher individuellen Ebene, wobei die Bewegung eben jenes Vehikel darstellt, auf dem Individuen sich ausprobieren können, ohne sich einem vorgegebenen Werte-, Symbol- und Performanzsystem anzupassen.

5. Fazit: Religionshybridität zwischen semantischer Relationierung und sozialer Organisation Moderne Religiosität ist durch ihre Fluidität (Lüddeckens und Walthert 2010) und Flüchtigkeit gekennzeichnet und äußert sich entsprechend sowohl in der hybri- den Aneignung sich vermeintlich ausschließender religiöser Positionen und 7ra- ditionen als auch in den fundamentalistischen und reaktionären Antworten auf diese Haltungen. Zugleich generieren solche Prozesse 7ransformationen religiö- ser Vergemeinschaftung: Neben der lange konstatierten Individualisierung bzw. Subjektivierung von Religion erhält Religion auch eine neue Rolle in der Öffent- lichkeit sowie als Rahmen für kollektive Erfahrungen und als Ressource sinn- lich-ästhetischen Ausdrucks subjektiver Spiritualität. So lässt sich nicht nur der vielbeschworene Supermarkt der Religionen als individuell angepasstes Sinnsys- tem, insbesondere in den esoterischen Milieus, wieder¿nden, sondern auch eine 7endenz zum Bastel-7raditionalismus im evangelikalen Milieu, wobei Àeißig in den unterschiedlichen historischen 7raditionen gewildert wird, um aktuelle re- ligiöse Handlungen und Sinndeutungen zu illustrieren oder gar zu legitimieren. Die Hybridität moderner religiöser Sinnkonstruktionen liegt somit weniger in der individuellen und intellektuellen Leistung einer Zusammenführung unter- schiedlicher religiöser Systeme oder 7raditionen zu einem kohärenten (theologi- schen bzw. dogmatischen) Sinnsystem. Vielmehr lässt sich gerade der reÀexive Umgang mit unterschiedlichen Sinnsystemen als ein gewisser lebensweltlicher

18 Interview 27.9.2010: 9. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 263

Pragmatismus verstehen, wobei die ‚Hybridität des Denkens‘ hier den Normal- fall abbildet. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Schneider/Brüggemann 2011) charakterisiert auch die Aneignung und den Umgang mit religiösen Sinn- systemen. Religionshybridität ließe sich unter diesem Gesichtspunkt als ein Reli- giositätstypus verstehen. Religionshybride zeichnen sich also weniger durch ihren Synkretismus aus als vielmehr durch ihren reÀexiven Umgang mit dem Wissen um gewisse religiöse 7raditionen und Ambivalenzen. Dabei kommt es auch nicht auf die Kohärenz und Konsistenz des Deutungs- und Sinnsystems an, sondern auf die Frage, wie er oder sie dieses System als Grundlage der eigenen Lebensfüh- rung nutzt und Alltagshandlungen vollzieht. Schaut man sich diesen Hybridisie- rungsprozess näher an, fällt auf, dass es immer weniger um die religiösen oder kulturellen Inhalte geht, die der religionshybride 7ypus vereint oder modi¿ziert, sondern um die Kreativität des Subjekts, das sich selbst permanent neu er¿nden muss. Religionshybridität wäre somit kein Synkretismus, sondern die religiös kon- notierte Variante des „Ressourcen-Selbst“ (Reckwitz 2012). Das Selbst (und sein Wissen) wird zur Ressource bzw. zum kreativen Akteur, der seine eigene Welt aus sich heraus gestaltet. Religionshybridität äußert sich entsprechend durch die sich ändernde Verschlüsselung semantischer Kodes, wobei bisher als heterogen und antagonistisch geltende Elemente zusammengefügt werden, die neben der religiösen auch weitere Aspekte moderner Identitätskonzepte wie etwa Gender, Klasse, Ethnizität, Familie, Nationalität vereinen bzw. in Beziehung zueinander setzen. Daraus entstehen dann auch neue Handlungsmuster und Deutungssche- mata, die von religiösen Subjekten aktiv und kreativ in die eigene Lebensgestal- tung eingebracht werden und reÀexiv aufeinander bezogen werden. Dieses Prinzip der Inventing-7radition (oder des „history makers“) geht oft- mals mit gewissen Wert- und Moralvorstellungen einher. Der reÀexive Umgang mit 7raditionen soll nicht zu einem „anything-goes“ führen, sondern zur Neu- verortung einer kosmischen oder sozialen Ordnung im empfundenen Chaos der Heterogenität moderner Lebenswelten. Anstatt sich jedoch in den Fundamenta- lismus zu Àüchten, der sich Klarheit durch einfache Weltbildkonstruktionen ver- schafft, versuchen religionshybride Akteure die Spannungen auszuhalten, die sich in ihrem Alltag bieten und einen antagonistischen Pragmatismus zu etablieren. Dabei werden geradezu fundamentale Weltanschauungen mit den empfundenen Ambivalenzen der Gesellschaft oder des Lebens reÀektiert und im eigenen Hand- lungsschema pragmatisch, also dem Zweck nach, umgesetzt. Im Selbstverständ- nis vieler Neuer Evangelikaler kann dann durchaus von einer Hybridisierung der religiösen Praxis gesprochen werden. Entgegen der Angst vor kultureller Konta- mination, wie sie lange bei einigen Evangelikalen an der 7agesordnung war, zei- 264 Sebastian Schüler gen die Neuen Evangelikalen keine Berührungsängste mit der Pluralität der Welt. Andererseits kann aber auch von einer Antihybridisierung gesprochen werden, da bestimmte essentialistische Wert- und Moralvorstellungen, wie etwa kein Sex vor der Ehe, durchaus Bestand haben. Religionshybride führen somit nicht zwin- gend zu liberaleren religiösen Positionen, sondern verpacken traditionelle Wert- systeme in neue Identitätskonstruktionen. Diese neue Identität wird dabei vor al- lem von dem Prinzip der Authentizität und ästhetischer Performanzen geleitet. Im Fall der 24-7-Prayer-Bewegung zeigen sich diese Religionshybride einer- seits in den semantischen Relationierungen und andererseits in der Performanz sozialer Ordnungen. Die Etablierung einer Semantik der Ganzheitlichkeit stellt dabei den Versuch dar, als uneindeutig und ungleichzeitig empfundene Momen- te der Moderne in Beziehung zueinander zu setzen. Die KonseTuenz ist eine All- tagspragmatik des Glaubens, die nicht mehr mit starren Weltbildern die eigene Identität zu stützen sucht, sondern das eigene Selbst als Prozess des Werdens be- greift, wobei die Eindeutigkeit der christlichen Botschaft in die Mehrdeutigkeit der eigenen Lebensführung eingebettet wird. Das Selbst wird nicht zum Schlacht- feld zwischen religiösem Bekenntnis und sündhafter Welt, sondern zum kreativen Protagonisten einer Inszenierung spätmoderner Religiosität. Für eine erfolgreiche Inszenierung schafft sich die Bewegung ihre eigene soziale Ordnung. Metaphern wie Bewegung, Netzwerk oder Ganzheitlichkeit werden zu Lebensgefühlen sti- lisiert und durch Ritualistik und Ästhetik in den Alltag integriert. Das Gebet ist das Zentrum sozialer Ordnung und zugleich Ort ästhetischen Erlebens, um als authentisch wahrgenommene Lebensstile zu generieren. Vergemeinschaftungen werden zu Verdichtungen dieser Ästhetik der Authentizität. Letztendlich lässt sich festhalten, dass religionshybride Formen im Feld klassischer Religionsge- meinschaften wie im Evangelikalismus vor allem durch die Abkehr von dogmati- schen Positionen und institutionalisierten Sozialformen gekennzeichnet sind und zugleich durch den Versuch, eine neue Identität durch ästhetische Performanzen zu erwirken. Kennzeichnend ist hier vor allem die Pragmatik, mit der die eigene Lebensführung als authentisch bestritten wird. „Sie beten, als ob alles von Gott abhängt, und sie leben, als ob alles von ihnen abhängt“ 265

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„Wenn meine Brüder wüssten, was hier läuft, dürfte ich nächstes Jahr nicht wie- derkommen“, sagte der Mann in einer weißen Kutte am Biertisch nebenan. Der Mann ist ein Zisterzienser, der einzig wahre Mönch unter den vielen verkleideten Mönchen beim Klosterfest in einem kleinen mecklenburgischen Dorf. Begleitet von laut in Latein betenden 7empelrittern hatte er zuvor eine katholische Messe in der überfüllten Klosterkirche gelesen. Im Anschluss daran hielt die Pastorin in Begleitung einer Mittelalterband die Abschlussandacht des Festes auf einer Bühne im Freien. Einige wenige sangen die Kirchen- und Heimatlieder mit. Die überwiegende Mehrheit hörte lieber zu, klatschte gelegentlich Beifall und trank weiter ihr Bier. Die Kombination aus Kulisse, kostümierten Akteuren, Publikum und Markthändlern, die dem Geschehen einen mittelalterlichen Charme verlie- hen, lässt die Frage aufkommen, ob bzw. inwiefern dies noch etwas mit Religi- on zu tun hat. Bei der Beantwortung dieser Frage fällt es schwer, ein klares „Ja“ oder ein eindeutiges „Nein“ auszusprechen – also ein „Jein“? Dieser Umstand ist jedoch nicht allzu überraschend, sind die zurücklie- genden Jahre und Jahrzehnte doch durch die Herausbildung einer Vielzahl an Mischphänomen in den verschiedensten Bereichen des Lebens gekennzeichnet gewesen. Dieses „Jein“ steht folglich stellvertretend für viele gesellschaftliche Entwicklungen. Seien es technische Innovationen wie Hybridautos, Fernsehfor- mate, die „Infotainment“ bieten, die Synthese von Frühstücks- und Mittagsmahl- zeit zum Brunch oder die vielfach thematisierten „pluralisierten“ Lebensformen – klare analytische 7rennungen sind immer häu¿ger nicht ohne weiteres möglich. Eine Abkehr von Entweder/Oder-Schemata hin zu einem Denken in Sowohl/Als auch-Formen ist in diesem Zusammenhang hilfreich, um diese gesellschaftlichen Mischphänomene zu erfassen. Auch die Religion unterliegt neben dem häu¿g diagnostizierten gesamtge- sellschaftlichen Bedeutungsverlust einer komplexen Umformung. Infolge der Sä- kularisierung gestaltet sie sich in neuen soziokulturellen Formen, ohne jedoch ihren Bedeutungsverlust kompensieren zu können. Dabei bilden sich zwischen

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 270 Marlen Schröder den Bereichen Religion und Kultur „Religionshybride“ heraus, die insbesondere durch kulturelle Aktivitäten wie beispielsweise Feste und 7heatervorstellungen Gestalt annehmen können. Im Rahmen des Projektes „Religionshybride – Kirch- bauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vor- pommern“ werden vor dem Hintergrund der Säkularisierungsthese jene religi- onshybriden Erscheinungen im Umfeld von sozialen Gemeinschaften untersucht, die den ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns mit ihren Aktivitäten be- leben. Das sind zum einen Vereine, die sich um symbolische Orte wie Kirchen, Klöster oder herrschaftliche Häuser ansiedeln und sich deren Renovierung, Er- haltung und Nutzung zur Aufgabe machen.1 Zum anderen werden Gemeinschaf- ten erforscht, die sich selbst als alternative, ökologische Lebensgemeinschaften de¿nieren, häu¿g leerstehende Gebäude als Lebensmittelpunkt wählen und dort durch ihr Wirken einen neuen symbolischen Ort erschaffen. Von besonderem Forschungsinteresse ist dabei, warum und wie diese symbolischen Orte genutzt werden und welche religionshybriden Praktiken rund um diese Orte entstehen und gepÀegt werden. Dabei wird insbesondere die performative Praxis bei Ver- anstaltungen der Vereine und Gemeinschaften wie Mittelaltermärkten, Hoffes- ten etc. in den Blick genommen. Bezogen auf Mecklenburg-Vorpommern bedeutet dies insgesamt über 300 mögliche Forschungsobjekte. Seit der politischen Wende im Jahr 1989 ha- ben sich etwa 220 Kirchbauvereine und circa 80 Gutshausvereine im nördlichsten der neuen Bundesländer gegründet. Daneben konnten etwa 30 Gemeinschaftspro- jekte recherchiert werden. Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die Ergebnisse des Forschungsprojektes. Im folgenden Abschnitt werden zunächst einige aus- gewählte Resultate einer das Projekt einleitenden Tuantitativen Befragung der Vereine vorgestellt. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Schilderung der bereits praktizierten Nutzungen sowie der Vorstellungen über zukünftige Nutzungen der symbolischen Orte durch die engagierten Akteure gelegt. Daran anschließend werden anhand zweier konkreter Beispiele Ausschnitte aus der Tualitativen For- schungsarbeit präsentiert.

1. Kirchbau- und Gutshausvereine – Engagement an symbolischen Orten Die Vereine und Gemeinschaftsprojekte verteilen sich über das gesamte Bundes- land. Von der Insel Usedom im Osten, über die gesamte mecklenburgische Seen-

1 Zur 7hematik der Symbolischen Orte siehe den 7ext von Liszka, Arnaud: Heimweh nach einer besseren Welt. Die Kraft der Wiederverzauberung an symbolischen Orten, in diesem Band erschienen. Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg-Vorpommerns 271 platte bis an die ehemalige innerdeutsche Grenze haben sich Menschen mit dem persönlichen Anliegen zusammengefunden, einen symbolischen Ort erhalten bzw. erschaffen zu wollen und diesen durch Veranstaltungen zu beleben. Die of¿ziel- le Gründung eines Vereins war dabei häu¿g der notwendige Schritt, um im Rah- men dieser Rechtsform dringend erforderliche Gelder aufzutreiben, da nicht we- nige der Gebäude sich in einem desolaten Zustand befanden und be¿nden, zum 7eil sogar aufgrund gravierender Mängel in der Bausubstanz nicht mehr betreten werden durften und dürfen. Die überwiegende Anzahl der Vereinsgründungen re- sultierte dabei aus einer Zusammenarbeit von Einheimischen und Zugezogenen. Bei den Zugezogenen handelt es sich häu¿g um Personen aus den alten Bundes- ländern (etwa 40 Prozent); aber auch Zugezogene aus anderen neuen Bundeslän- dern (ebenfalls ca. 40 Prozent) und Personen, die wieder in ihre Heimat zurückge- kehrt sind (ca. 20 Prozent), waren an Vereinsgründungen beteiligt. Diese Zahlen verdeutlichen, dass ein Engagement für ein historisches Gebäude nicht zwangs- läu¿g an eine langjährige Heimatverbundenheit geknüpft ist. Vielmehr sind es nicht selten die Zugezogenen, denen es durch ihre Initiative zum einen gelun- gen ist, die kritische Masse an Interessenten für eine Vereinsgründung zu mobi- lisieren und zum anderen dadurch sich selbst ins Gemeindeleben zu integrieren. Auch die demographischen Rahmenbedingungen vor Ort wirken sich auf die Vereinsstrukturen aus. Viele der Vereine plagen Nachwuchssorgen. In über zwei Dritteln der Gutshausvereine gehören die Vereinsmitglieder der Generation 50+ an. Noch deutlicher fällt der Befund für die Kirchbauvereine aus. Etwa die Hälfte der Mitglieder ist bereits über 60 Jahre alt. Das Zitat eines Vereinsvorsit- zenden verdeutlicht die Problematik sehr anschaulich:

„Der Verein bin praktisch ich. […] Aus uralter Verbundenheit habe ich mich für die Kirche eingesetzt und zur Finanzierung der Arbeiten den Freundeskreis gegründet. […] Es geht jetzt zu Ende (ich bin 91 Jahre alt).“2

Eine Kirchenmitgliedschaft wird nicht als notwendige Voraussetzung für ein En- gagement zur Erhaltung von Kirchengebäuden erachtet. Konfessionell gebunde- ne und konfessionslose Menschen engagieren sich zusammen im Verein und sind durch das gemeinsame Ziel miteinander verbunden. Dabei ist in etwas über der Hälfte der Kirchbauvereine die Mehrheit der Vereinsmitglieder auch Mitglied der Kirche. Wichtiger als die Kirchenzugehörigkeit ist vor allem die Mobilisie- rung möglichst vieler lokaler Kräfte. Dies wird beispielsweise sehr deutlich auf der Webseite eines Kirchbauvereins formuliert:

2 Dieses Zitat ist eine Anmerkung eines Vorsitzenden eines Kirchbauvereins im Rahmen der Tuantitativen Befragung. 272 Marlen Schröder

„Der Förderverein […] steht allen Menschen offen, die sich für den Erhalt dieses kulturellen Erbes einsetzen wollen. Eine konfessionelle Bindung ist keine Bedingung für Mitgliedschaft und/oder Engagement. In der heutigen Zeit sind unsere Kirchen nicht mehr nur Gotteshäuser und Orte der Andacht und Besinnung gläubiger Menschen. Sie sind über ihre ursprünglichen Aufgaben hinaus längst auch Zentren der kulturellen Begegnung und Betätigung, der Kom- munikation sowie der Ruhe und Sammlung geworden. Diese Wirkung haben Kirchen oft auf Menschen, die keiner Konfession angehören.“3

Bei ihren Bemühungen um den Erhalt und die Nutzung der symbolischen Orte ha- ben sich bei annähernd allen Vereinen Kooperationen herausgebildet. 47 Prozent der Kirchbauvereine und 42 Prozent der Gutshausvereine arbeiten stark mit der politischen Gemeinde bzw. Kommune zusammen. Daneben gibt es viele Vereine, bei denen diese Zusammenarbeit zwar deutlich schwächer ausgeprägt, aber den- noch vorhanden ist. 70 Prozent der Kirchbauvereine arbeiten zudem eng, weitere 27 Prozent schwach mit den Kirchgemeinden zusammen. Lediglich drei Prozent der Kirchbauvereine agieren vollkommen unabhängig von der Kirchgemeinde vor Ort. Eine Zusammenarbeit mit der Kirchgemeinde ist bei den Gutshausverei- nen dagegen deutlich seltener. Insgesamt 58 Prozent der Gutshausvereine pÀegen gleichwohl die Beziehungen zur Kirchgemeinde, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Die Zusammenarbeit der Kirchbauvereine mit den Kirchgemeinden ist dabei wohl wenig überraschend, schließlich geht es um die Erhaltung/Nutzung desselben Gebäudes. Häu¿g gibt es auch personelle Überschneidungen im Kirch- gemeinderat und Kirchbauverein. Für die Gutshausvereine dagegen stellen die Kirchgemeinde und ein eventuell vorhandener Kirchbauverein neben der Frei- willigen Feuerwehr oft die einzige Alternative organisierten sozialen Miteinan- ders im ländlichen Umfeld dar. Angesichts dieser 7atsache scheint es sinnvoll, eine Kooperation anzustreben, statt als Konkurrenz aufzutreten. Zentrales Gründungsmotiv, das ergab die das Projekt einleitende Tuanti- tative Befragung der Vereine, ist die Sanierung und Erhaltung der historischen Gebäude und Anlagen. Dabei ist vor allem der Aspekt der DenkmalpÀege von übergeordneter Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Kirchbauvereine. Da- neben ist aber als weiteres wichtiges Ziel die Förderung des Gemeinwesens be- nannt worden. Dass nach den Verlusten und Entbehrungen der zurückliegenden Jahre (die Schule wurde geschlossen, der ÖPNV fast abgeschafft, der Konsum aufgegeben, der Arzt kommt nur noch zu einer mobilen Sprechstunde) nun auch noch das Kirchgebäude, das schon kilometerweit deutlich erkennbare Charakte- ristikum in der Silhouette des Dorfes, dem Verfall preisgegeben werden soll, ist

3 Dieses Zitat entstammt der Selbstdarstellung des Fördervereins zur Erhaltung der Dorfkirche in Buchholz e. V., nachzulesen unter: http://www.kirche-buchholz.de/3.html [Zugriff vom 16.01.2013]. Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg-Vorpommerns 273 für viele Menschen nicht vorstellbar und inakzeptabel. Der nicht selten letzte öf- fentliche Ort des Dorfes soll erhalten bleiben. Viele Vereine wünschen sich, dass das Kirchgebäude, Kloster, Gutshaus usw. sich zu einem Kommunikationspunkt entwickelt, an dem die Menschen wieder zusammenkommen. Ein Ort des sozia- len Miteinanders soll entstehen und die Identität mit dem Ort, aber auch mit der Region fördern. Neben der eigentlichen Sanierung und Erhaltung der Gebäude bestimmt in nahezu allen Vereinen zunehmend die weitere Nutzung der Objekte das Vereins- leben. Dabei sind die konkreten Nutzungsformen der Gebäude durch die sozia- len Gemeinschaften sehr vielfältig. Sie werden vor allem als Veranstaltungsorte für kulturelle Events in Anspruch genommen. Als feste Größe auf den Veran- staltungskalendern der Vereine haben sich vor allem Konzerte etabliert. Charak- teristisch für Kirchbauvereine sind zudem Führungen durch das Objekt und das dazugehörige Gelände, manchmal aber auch Wanderungen durch die umliegen- de Landschaft. Gutshausvereine (90 Prozent) zeichnen sich dagegen besonders durch die Realisierung von Ausstellungen und Kunstprojekten aus. Daneben ¿n- den bei beiden Vereinstypen auch 7heateraufführungen, Buchlesungen, Vorträge und Filmabende statt, die jedoch nur zwischen 10 und 20 Prozent der Gesamtver- anstaltungen ausmachen. Vereinzelt werden auch spezielle Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, wie zum Beispiel Schulprojekttage, angeboten. Des Weiteren wirken etwa Dreiviertel der Gutshausvereine und 40 Prozent der Kirchbauvereine mit, wenn es um die Ausgestaltung von Ortsfesten geht. So stellen sie beispielsweise die Gutshäuser als Räumlichkeit zur Verfügung oder organisieren selbst verschiedene Programmpunkte der Veranstaltung. Circa 40 Prozent der Vereine gaben darüber hinaus an, auch religiöse Ver- anstaltungen durchzuführen. In den Kirchbauvereinen bedeutet dies oft eine Be- teiligung der Vereinsmitglieder bei der Gestaltung der Gottesdienste etwa durch Schmücken des Kirchenraumes bei 7rauungen und 7rauerfeiern. Häu¿g organi- sieren die Vereine auch Veranstaltungen wie zum Beispiel Erntedankfeste, in de- ren Rahmen dann ein regulärer Gottesdienst eingebettet ist. Außerdem werden Andachten gefeiert sowie Johannisfeste und Hubertusmessen ausgerichtet. Als religiöse Veranstaltungen bei den Gutshausvereinen wurden primär 7rauungen genannt. Gutshäuser, auch jene in Privatbesitz, werden verstärkt als Ambiente für Vermählungen genutzt. Das gilt nicht nur für standesamtliche Eheschließun- gen sondern auch für religiöse Zeremonien. Mit Blick auf das gesamte Kalenderjahr zeichnete sich ab, dass der 7ag des offenen Denkmals von besonderer Bedeutung für einen Großteil der Vereine ist. Fast Dreiviertel der Kirchbauvereine und 65 Prozent der Gutshausvereine führen 274 Marlen Schröder an diesem 7ag Veranstaltungen für die breite Öffentlichkeit durch. Daneben zei- gen sich unverkennbare Parallelen zwischen dem Festkalender der Vereine und dem Kirchenkalender. Die Advents- und Weihnachtszeit, das Erntedankfest sowie P¿ngsten und Ostern sind 7ermine, zu denen die Vereine besonders aktiv sind. Im Vergleich zu den Kirchbauvereinen ¿nden bei den Gutshausvereinen zudem deutlich häu¿ger Sommerfeste und andere nicht-religiöse Veranstaltungen statt – wie zum Beispiel eine Beteiligung am 7ag des offenen Gartens. Viele Vereine veranstalten größere Feste, an denen sie ihre unterschiedli- chen Angebote und Nutzungen geballt offerieren. So werden an einem Wochen- ende dann beispielsweise Konzerte, mehrere Führungen und Gottesdienste or- ganisiert, während gleichzeitig Exponate regionaler Künstler betrachtet werden können. Manche unter ihnen haben bereits regelmäßige Events ins Leben geru- fen und legen besonderen Wert auf die 7raditionalisierung ihrer Aktivitäten. Dies zeigt sich etwa an der Nummerierung der Veranstaltungen, wie z. B. das 9. Film- fest, der 19. Adventsmarkt, das 20. Appelfest.4 Diese Festkultur ist von besonde- rem Interesse, da das Projekt unter anderem von der Annahme ausgeht, dass sich die religionshybriden kulturellen Praktiken bei diesen Gelegenheiten besonders offenbaren. Im Folgenden werden deshalb die Beobachtungen und Erfahrungen auf einem dieser Feste geschildert.

2. Der Klosterverein Rehna e.V. – ein Klosterfest der Kontraste Eines der Untersuchungsobjekte des Projektes ist der Klosterverein Rehna e.V. Die kleine Stadt Rehna mit circa 3.000 Einwohnern liegt etwa auf halber Stre- cke zwischen Lübeck und Schwerin. Hier hat sich im Jahr 2000 der Klosterver- ein Rehna e.V. gegründet, der nunmehr über 200 Mitglieder zählt und von denen die meisten konfessionell gebunden sind. Das Hauptziel des Vereins ist die Sa- nierung und zeitgemäße Nutzung der Klosteranlage. Begonnen wurde deren Bau bereits im 13. Jahrhundert und bis heute ist ein Großteil des Klosterkomplexes er- halten geblieben: die Klosterkirche, drei Flügel des Kreuzganges sowie das Lan- ge Haus, in dem seit der Sanierung im Jahr 1997 die Amtsverwaltung der Stadt Rehna ansässig ist. Den Übergang zwischen Langem Haus und Kreuzgang bil- det ein Gästerefektorium, das als of¿zielles 7rauzimmer der Gemeinde fungiert und überregional heiratswillige Paare anlockt. Der Verein beteiligt sich an der

4 Diese Beispiele wurden dem Veranstaltungskalender des Vereins Kultur-7ransit-96 e.V. entnommen, der sich dem Erhalt und der Nutzung der Burg Klempenow verschrieben hat, nachzulesen unter: http://www.burg-klempenow.de [Zugriff vom 26.03.2013]. Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg-Vorpommerns 275

Instandhaltung der Kirche, insbesondere kümmert er sich um die drei Flügel des Kreuzganges der Klosteranlage.5 Zentrale Figur im Vereinsleben und mittlerweile auch für die Stadt Rehna ist der Mönch Ernestus. Ernestus hieß der Benediktinermönch, der laut Chroniken im Jahr 1230 das Nonnenkloster in Rehna gegründet hatte. Er wird vom Gründer des Vereins verkörpert. Durch die Verkleidung mit einer Mönchskutte ist Ernestus somit auch bei allen Veranstaltungen des Vereins physisch anwesend. Die Person des Mönchs Ernestus wurde vom Verein über die Jahre zu einer Marketing¿gur weiterentwickelt, die 7ouristen in die Stadt locken soll. Er ziert beispielsweise zahlreiche Flyer und Plakate und reist in überlebensgroßem Format, auf einem Zug angebracht, Tuer durch Mecklenburg-Vorpommern. Darüber hinaus ist der Verein Mitglied der „Sagen- und Märchenstraße Mecklenburg-Vorpommern“.6 Der Verein hat einen Klostergarten angelegt und führt Veranstaltungen al- ler Art durch. Das sind neben lokal bezogenen Veranstaltungen wie Führungen durch Kloster, Kirche und Altstadt auch Events vorwiegend touristischen Cha- rakters wie Wanderungen auf dem Mönch-Ernestus-Wanderweg nach Ratzeburg, dem Sitz des katholischen Bistums zur Zeit der Klostergründung. Als größte Ver- anstaltung des Vereins ¿ndet in Rehna alle zwei Jahre ein dreitägiges Klosterfest statt. Eine teilnehmende Beobachtung wurde unter anderem auf dem Klosterfest im Jahr 2011 durchgeführt. Das Fest spiegelte den Wunsch des Vereins nach ei- nem möglichst großen touristischen Einzugsbereich und breitgefächertem Pub- likum sehr deutlich wider. Bei der Vorbereitung schienen nahezu alle denkba- ren Besucherinteressen Berücksichtigung gefunden zu haben. Das Gelände rund um das Kloster war dabei, scheinbar an diese unterschiedlichen Interessen ange- lehnt, in einen eher modernen Markt und ein Mittelalterfest aufgeteilt worden. Außerhalb des eigentlichen Klostergeländes, aber dennoch in unmittelbarer Nähe, war ein im Programmheft als Flohmarkt betitelter Markt organisiert wor- den. Als Flohmarkt im eigentlichen Sinne konnte dies allerdings nicht bezeichnet werden. Vielmehr handelte es sich dabei um eine kleine Ansammlung „profes-

5 Diese Informationen wurden zum einen dem Internetauftritt des Vereins Klosterverein Rehna e.V. (http://www.kloster-rehna.de/cms/front_content.php?idart=7 [Zugriff vom 04.04.2013]) und zum anderen einem Interview mit einem Vereinsmitglied entnommen. 6 An der Initiative beteiligen sich gegenwärtig 16 Orte, die in ihren Chroniken jeweils auf eine „sagen- bzw. märchenhafte“ Figur gestoßen sind. Das sind neben Mönch Ernestus beispielsweise das Petermännchen vom Schloss Schwerin, die Kräuterhexe aus Boizenburg, der 7rommler von , Räuber Vieting aus Parchim sowie Schlossgeist Dieter vom Landschloss Dreilützow. Für diese und die übrigen Mitglieder der Initiative wurde eine sie verbindende Route entworfen, die Interessenten zu einem „sagenhaften Stadtrundgang“, einer „Erzählstunde vor historischer Kulisse“ oder zu einer „einzigartigen Reise in die Vergangenheit“ einladen möchte. Weitere Informationen können unter http://www.sagen-und-maerchenstrasse-mv.de/ nachgelesen werden [Zugriff vom 19.01.2013]. 276 Marlen Schröder sioneller“ Händler (Bekleidung, Süßwaren, 7ischdecken etc.), die um eine Los- bude ergänzt wurde. Im Klosterhof wurden auf und vor einer großen Bühne von in mecklenburgi- schen 7rachten gekleideten Personen des Plattdeutschen Vereins Rehna e.V. ver- schiedene 7änze und Witze dargeboten, außerdem präsentierten sich ein Kinder- zirkus sowie eine Ballettschule. Daneben befanden sich mehrere Verkaufsstände, an denen neben Herstellern regionaler Produkte auch gewerbsmäßige Händler (Schmuck, Blumen und Kräuter, kleine Imbisse) ihre Waren zum Verkauf anbo- ten. Des Weiteren konnte ein mobiles Glockenspiel besichtigt werden. Auf die- sem 7eil des Klostergeländes fand auch die später vom restlichen Geschehen rund um das Kloster abgesperrte Abendveranstaltung mit 7anz und Showband statt. Im Nonnengarten be¿ndet sich ganzjährig eine Bühne, auf der im Rahmen des Klosterfestes eine Bläsergruppe Jagdhornmusik spielte sowie verschiedene Ju- gendtanzgruppen auftraten. Neben dem Klostergarten waren verschiedene An- gebote für Kinder vorbereitet, darunter eine 7öpferwerkstatt, ein mittelalterliches Karussell und eine Wurfschleuder. Auf dem Kirchplatz dagegen herrschte mittelalterlich inszeniertes 7reiben: Gaukler wanderten vorbei an den Besuchern des Festes und trugen ein Programm auf einer kleinen Bühne vor. Eine Band spielte mittelalterliche Klänge und lud zu Mitmachtänzen ein. Ein großer 7eil des Kirchplatzes wurde für einen Kunsthand- werkermarkt und die Darstellung von traditionellem Handwerk genutzt. Ferner waren auf diesem 7eil des Klostergeländes mehrere Personen in mittelalterlichem Stil verkleidet. Der Übergang von nachinszeniertem Mittelalter und Märchenwelt schien dabei Àießend und unproblematisch. Denn unter die Menge mischten sich zudem (jeweils in Kostümen) einige Repräsentanten der Sagen- und Märchen- straße Mecklenburg-Vorpommerns wie die Boizenburger Kräuterhexe und der Gadebuscher 7rommler, die sich mit Mönch Ernestus und einigen Vertretern der Grafschaft derer von Bergfelde7 in Ritterverkleidung unterhielten. Die Schaustel- ler, die das Leben einer landgräÀichen Familie und deren Gefolge auf Reisen um 1250 auf verschiedenen Klosterfesten oder Mittelaltermärkten darstellten, hat- ten ihr Zeltlager auf dem Kirchplatz errichtet. Sie konnten vom Publikum bei ih- ren handwerklichen 7ätigkeiten, Waffenpräsentationen sowie in ihrer Lagerkü- che besucht und beobachtet werden. Inmitten dieses Festprogrammes unter dem Zeichen eines nachempfunde- nen und zuweilen nur wenig bis gar nicht an der historischen Wahrheit angelehn- ten Mittelalters wurden mehrere Führungen durch die Klosterkirche angeboten.

7 Weiterführende Informationen unter http://www.grafschaft-derer-von-bergfelde.de/ [Zugriff vom 20.01.2013]. Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg-Vorpommerns 277

In der Kirche selbst fanden mehrmals täglich Gebete und Konzerte statt. Auch ein Ökumenischer Gottesdienst wurde gefeiert. Die Angebote des Klosterfestes sind kaum kontrastreicher vorstellbar: der Vereinsgründer in Mönchskutte, Showband, Losbude, Kräuterhexe, Kunsthand- werk und Gottesdienste auf nicht irgendeinem Gelände, sondern auf der Anla- ge einer ehemaligen Klosterstätte. Die Klosteranlage für sich genommen zeugt bereits eindrucksvoll von der langen Geschichte des Ortes. Durch den bewusst gewählten Rekurs auf den in der Geschichte der Stadt recherchierten Mönch Er- nestus erfährt dieser Ort jedoch eine zusätzliche symbolische AuÀadung, wird zu einem besonderen Ort der Erinnerung und generiert ein kollektives Gedächt- nis, das sich durch die physische Präsenz des Mönches Ernestus personi¿ziert hat und identitätsstiftend wirkt. Das Klosterfest schafft an diesem symbolischen Ort beabsichtigt eine Atmosphäre und einen Schauplatz der Außeralltäglichkeit: Kostüme der Akteure und manchmal sogar der Besucher, mittelalterliche Aus- drucksweise („Edler Recke, wünschet Ihr noch einen weiteren 7runk?“), bezahlt wird mit 7alern und nicht mit Euro … – das kulturelle Gedächtnis wird auf diese Weise kollektiv erfahrbar. Diese Inszenierung der Außeralltäglichkeit scheint auf breites Interesse zu stoßen. Das Klosterfest hat sich seit 1999 zu einer ritualisier- ten Veranstaltung des Vereins etabliert und lockt mittlerweile über 10.000 Besu- cher an nur einem Wochenende in das 3.000-Seelen-Städtchen.

3. Lebendige Steine in Satow – eine Kirchenruine als neuer Mittelpunkt des Ortes Ein weiteres Untersuchungsobjekt des Projektes ist der Verein Lebendige Steine Satow e.V. Satow ist ein Dorf mit etwa 2.000 Einwohnern und liegt circa 25 km westlich von Rostock. Zeitgleich mit dem Beginn des Forschungsprojektes im Jahr 2011 gab es die ersten Bemühungen und 7reffen in Satow, um diesen Verein zu gründen. Der Verein wird also gewissermaßen seit seiner Geburtsstunde beglei- tet. So ist es unter anderem möglich, regelmäßig an den Sitzungen des Vereins- vorstandes teilzunehmen und somit die inhaltliche Entwicklung und Ausrichtung des Vereins sowie die Vorstellungen und Konzeptentwicklungen zur Nutzung der Kirchruine zu verfolgen. Dem Verein geht es um die Erhaltung einer Kirche, die im Jahr 1224 von Zisterziensermönchen errichtet wurde und seit dem 19. Jahrhundert baufällig ist. Dabei weist der Verein im Vergleich zum zuvor beschriebenen Klosterver- ein Rehna e.V. insgesamt einen deutlicheren lokalen Bezug der Aktivitäten auf. Seit November 2011 ¿ndet eine Sanierung der Ruine durch die Gemeinde Satow 278 Marlen Schröder mithilfe von EU-Fördermitteln statt. Deshalb erfolgen bislang nur gelegentlich Führungen durch das Objekt. Bereits auf dem ersten 7reffen der Interessenten an einer Vereinsgründung wurden das Ziel und die Motivation klar formuliert:

„Wir wollen innerhalb des Ortes unsere Geschichte dokumentieren und erlebbar machen. […] Wir haben hier ein Denkmal und Kulturgut, das erhalten werden soll für unsere Nachfahren und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. […] Es geht um ein Zentrum zum Ursprung Satows zurück. […] Der Zerfall der Kirchruine wäre außerdem ein Imageschaden für die Gemeinde und würde die Identität des Ortes gefährden.“

Dementsprechend wurde der Vereinsname „Lebendige Steine Satow e.V.“ gewählt. Die Lebendigen Steine sollen von der Geschichte des Ortes erzählen und stehen als Mahnmale für 7oleranz, Gewaltfreiheit und Demokratie.8 Ein Nutzungskon- zept für die Kirchruine wurde ebenfalls auf diesem ersten 7reffen für unerläss- lich erklärt. Zum einen ist es maßgebliche Voraussetzung zur Beantragung der Fördermittel gewesen. Zum anderen hat sich der Verein vorgenommen,

„[…] die Kirchruine wieder mit Leben zu füllen. Im Innenraum der Ruine soll die fast 800jäh- rige Geschichte der Region erfahrbar werden: Geschichte zum Anfassen. Die Kirchruine und die sie umgebende Parkanlage sind ein idealer Rahmen für vielfältige kulturelle Aktivitäten. So soll die Kirchruine einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und wieder ein Ort sein, an dem lebendige Begegnung möglich wird.“9

Erste Ideen wurden gesammelt. Zu diesem Zeitpunkt waren sehr viele Nutzun- gen vorstellbar: als 7rauerhalle für weltliche 7rauerfeiern, für Eheschließungen, für Namensgebungsfeiern oder Namensweihen, Einschulungsfeiern, Konzerte und 7heateraufführungen, Projekttage der Schule, als Auftrittsambiente für den Kirchenchor aber auch Bands, Stellplatz für Schautafeln und Chroniken. Auch der anwesende Pastor führte ein grundsätzliches Interesse der Kirche an einem Ort für nichtkirchliche Veranstaltungen an, die Kirchruine wäre dafür ein „ide- aler Ort“. Insbesondere soll die 7radition des Satower Jahrmarkts auf dem Ge- lände rund um die Kirchruine fortgeführt werden. Dabei handelt es sich um ein Mittelalterfest, das seit 2009, bislang allerdings von einem anderen Verein, ver- anstaltet wird. Das bisherige Konzept dieses Festes soll jedoch überarbeitet wer- den. Zu sehr ähnelte es in den zurückliegenden Jahren im Ausklang an ein „typi- sches Dorffest“, das immer öfter den Einsatz der Polizei erforderte. Der Satower

8 Im an die Kirchruine angrenzenden Park be¿ndet sich auch ein Kriegerdenkmal, dessen PÀege der Verein mit übernehmen möchte. 9 Vgl. den Internetauftritt des Vereins, nachzulesen unter: http://www.lebendige-steine-satow. de/ [Zugriff vom 02.04.2013]. Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg-Vorpommerns 279

Jahrmarkt soll zukünftig zwar weiterhin möglichst viele Besucher anziehen, sich jedoch von einem solchen „typischen Dorffest“ unterscheiden.10 Im Laufe der Vereinsarbeit wurden die möglichen Nutzungen überdacht. Der Fokus der Arbeit konzentriert sich zunehmend auf den Schwerpunkt der Denk- malpÀege und die Erhaltung eines Kulturgutes und weniger auf die Quantität als die Qualität der geplanten Veranstaltungen. Demgemäß be¿ndet sich der Vor- stand nun in einem Aushandlungsprozess darüber, welche der ursprünglich an- gedachten möglichen Nutzungen mit Blick auf das Anliegen des Vereins als an- gemessen an einem solchen Ort betrachtet werden können. Mit der Geschichte des Ortes haben sich die Vereinsmitglieder ausführlich auseinandergesetzt. Auch in Satow wurde ein Mönch aus Chroniken recherchiert – in diesem Fall Mönch Stephanus – der auf dem Wappen der Gemeinde zu se- hen ist. Gemeinsam mit der Schule arbeitet der Verein ferner im Rahmen einer Geschichts-AG an der Einrichtung einer Heimatstube zur Geschichte der Grün- dung des Ortes durch die Mönche. Die 7reffen des Vorstandes sind zudem immer wieder Anlass für lokalpoli- tische Diskussionen. Das Kulturerbe und dessen Erhaltung sowie die Kultur ins- gesamt scheinen sich zunehmend auf eine Kostenfrage zu reduzieren. Der Un- terstützung des Vereins durch die politische Gemeinde waren langwierige und sehr schwierige Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeindevertretung vor- ausgegangen. Mit dem Argument der allgemein knappen öffentlichen Gelder ei- nerseits und einer möglichen Investition in ein vielleicht rein idealistisches und wirtschaftlich nicht rentables Projekt andererseits war dem Verein eine Mitwir- kung an dem Vorhaben lange Zeit versagt worden. Der Verein Lebendige Steine Satow e.V. feilt somit an der Umsetzung seiner Pro¿llinie. Was ist in und rund um eine Kirchruine vorstellbar und entspricht dem Geist/der Aura des Bauwerks? Diese Fragestellung ist handlungsleitend geworden. Der Ort soll als Erinnerungsstätte mit Ehrfurcht betrachtet und behandelt wer- den sowie identitätsstiftend wirken. Auch der angrenzende Park mit seinem vor- handenen Kriegerdenkmal wird in das Vorhaben einbezogen. Die Auseinander- setzung mit der Geschichte um die Gründung durch Zisterziensermönche zeugt zudem von der Suche nach den Spuren der Ahnen sowie dem Wunsch nach Ver- wurzelung und ermöglicht die Bildung eines kollektiven gegenwartsbezogenen Gedächtnisses. Die Bewahrung des kulturellen Erbes ist 7riebkraft der lokalen Vergemeinschaftung. Nach den vielen Jahren des Anblicks einer verwahrlosten,

10 So gibt es beispielsweise Überlegungen, keine alkoholhaltigen Getränke auf dieser Veranstal- tung auszuschenken. 280 Marlen Schröder abgesperrten Kirchruine soll eine gewisse „Wieder-Heilung“ des Ortes – eines „hoch gelegenen Ortes“ nach Debarbieux – statt¿nden.11

4. Religionshybride Gemeinschaften In Mecklenburg-Vorpommern gibt es vielerorts Bemühungen, die häu¿g schon stark in ihrer baulichen Substanz angegriffenen Kirchen und Herrenhäuser vor dem Zerfall zu bewahren. Menschen haben sich zusammengeschlossen, um das Schicksal der vertrauten Bauten in ihrer Mitte persönlich in die Hand zu neh- men. Dabei erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Ortes, eine Rückbesinnung auf 7raditionen als Wurzeln der Gemeinschaft. Was Mönch Ernestus für Rehna und die „Lebendigen Steine“ für Satow darstel- len, sind in anderen Orten die eigenen Elemente oder Personen der Geschich- te, die bewusst herausgestellt werden und für das weitere Handeln der Kollek- tive von Bedeutung sind. Immer öfter geht es neben dem eigentlichen Leit- und Gründungsmotiv der DenkmalpÀege auch um eine Wiederbelebung und Kräf- tigung des Gemeinwesens. Es entstehen Sozialisationsorte, an denen durch eine gemeinsam geteilte und erlebte rituelle Praxis das Zusammengehörigkeitsgefühl und die gemeinsame Identität des Kollektivs gestärkt werden. Wenn Kirchen für säkulare und Gutshäuser für religiöse Veranstaltungen genutzt werden, wird zu- dem die einstige Zuordnung von religiösen Gebäuden für religiöse Veranstaltun- gen und säkulare Events in säkularen Gebäuden in Frage gestellt. Es bilden sich Religionshybride heraus, die im Rahmen ihrer kulturellen Aktivitäten an sym- bolischen Orten Zentren des sozialen Miteinanders schaffen.

Literatur Debarbieux, Bernard (1995c): Imagination et imaginaire géographiTues. In: Bailly/Ferras/Pumain (Hrsg.): Encyclopédie de la géographie. Paris, S. 875-888 Erne, 7homas (2011): Luxus auf dem Lande. Zur Zukunft der Region und der Kirche im Dorf. In: Kunst und Kirche. 74. Jahrgang. 1/2011, S. 5-8

11 Eine ausführlichere Darstellung der dem Forschungsprojekt zugrundeliegenden theoretischen Überlegungen kann in den 7exten von Arnaud Liszka und 7homas Käckenmeister in diesem Band nachgelesen werden. Kulturelle Dynamik an symbolischen Orten Mecklenburg-Vorpommerns 281

Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Halbwachs, Maurice (1991): Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer Hitzler, Ronald (1998): Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozialbindung. In: Berliner Debatte INI7IAL. 9. Jahrgang. 1/1998, S. 81-89 Niekrenz, Yvonne (2011): Rauschhafte Vergemeinschaftungen. Eine Studie zum rheinischen Stra- ßenkarneval. Wiesbaden: VS Nora, Pierre (1990): Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach Schneider, Irmela (2000): Hybridisierung als Signatur der Zeit. In: Robertson, Caroline Y./Winter, Carsten (Hrsg.): Kulturwandel und Globalisierung. Baden-Baden: Nomos 7önnies, Ferdinand (1991 [1887]): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Sozio- logie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Abschließende Überlegungen zum Transformationsprozess von Religion in der abendländischen Moderne Religion und Kultur des Individuums. Zwölf Thesen Hans-Georg Soeffner

Es ist ein Paradox der abendländischen Moderne – sei sie nun gebrochen, spät oder reÀexiv –, dass der Gott des christlichen Abendlandes sein Weiterleben in der öffentlichen Kommunikation dem unfreiwilligen Bündnis von zwei einan- der bekämpfenden Lagern verdankt: dem zahlenmäßig schrumpfenden Lager der sich zu diesem Gott bekennenden Kirchen einerseits und ihren Widersachern, den kämpferischen Atheisten andererseits. Letzteren – beispielhaft Richard Dawkins (2006) – gelingt es immer wie- der, eine alte 7raditionslinie zu verlängern und zu verstärken. Sie beginnt mit einem Gedankenspiel Pascals, setzt sich fort in der deutschen Romantik (s. u.), gewinnt in Nietzsches Formulierung „Gott ist tot“ – diese ¿ndet sich sowohl in ‚Also sprach Zarathustra‘ als auch in ‚Die fröhliche Wissenschaft‘ – einen popu- lären Verstärker und verschafft sich schließlich mit Darwins Evolutionstheorie einen naturwissenschaftlichen Verbündeten. So sorgt sie ex negativo dafür, dass die gesellschaftliche und mediale Kommunikationsmaschinerie durch die anhal- tende Debatte über Gott diesen – zumindest als 7hema – fortleben lässt. Welche kollektiven und individuellen Vorstellungen sich mit diesem Gott verbinden und welche Metamorphosen sie historisch durchlaufen, wird dabei kaum thematisiert. Ausgespart bleibt das moderne Spannungsverhältnis zwischen Religion und Kultur. Zwar erhielt die ‚ursprüngliche‘ Einheit von Religion und Kultur bereits durch den Investiturstreit einen ersten Riss: Politische und kirchliche Macht, hö- ¿sche und geistliche Kultur grenzten sich seitdem voneinander ab. Aber dennoch verband der gemeinsame christliche Glaube zunächst weiterhin die unterschied- lichen Domänen. Erst als sich im Gefolge der europäischen Aufklärung die Kul- tur mit ihren Utopien und Diesseitsversprechungen von der Religion und deren jenseitigen Heilsverheißungen bewusst absetzte – als die ‚autonome‘ sich von der religiös gestützten ‚dienenden‘ (Hegel) Kunst trennte und der Glaube an die menschliche Kultur als ‚zweite Heimat‘ den Glauben an die außerweltliche ewi- ge Heimat zu ersetzen begann –, entwickelten sich Religion und Kultur zu jeweils eigenständigen Sphären.

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 286 Hans-Georg Soeffner

Das ‚abendländische‘ Individuum war innerhalb dieser Entwicklung beides: 7reibender und Getriebener. Aus dem in die Religion eingebetteten Einzelnen wur- de die Religion des Einzelnen und schließlich aus dem Gott des Individuums das Individuum – wenn auch oft verdeckt und verschämt – zu seinem eigenen Gott. Parallel dazu vollzog sich die allmähliche Umwertung der Kultur von einer Kol- lektivgestalt, an der der/die Einzelne teilhatte, zur Kultur des Individuums: einer Kultur, in deren Zentrum das Individuum sich selbst sehen wollte. In den folgenden zwölf 7hesen geht es um die 7ransformationsprozesse der 7rias Religion, Kultur, Individuum. Im Zentrum stehen dabei das Individuum und sein Gott. Die 7hesen wurden entwickelt in der Auseinandersetzung mit Ul- rich Becks (2008) Nachdenken über ‚den eigenen Gott‘. Peter A. Berger verdan- ke ich den Anstoß, das Phänomen der ‚Religionshybriden‘ in meine Überlegun- gen einzubeziehen.

1. Das anthropologische Fundament: die Endlichkeit, ‚Hälftenhaftigkeit‘ (Pless- ner), Bedürftigkeit und Zufälligkeit des menschlichen Lebens einerseits und andererseits die Fähigkeit des Menschen, über seinen Tod hinauszudenken und Wunschwelten zu entwerfen, in denen Endlichkeit und Zufälligkeit über- wunden zu sein scheinen, ist der Ursprung menschlicher Religiosität. Diese liegt ihrerseits dem Entwurf und der Ausformulierung von Religionen voraus.

Georg Simmels pointierter Feststellung, es gebe „religiöse Naturen, die keine Re- ligion haben,“ (Simmel 1912: 38) liegt die Vermutung zugrunde, dass letztlich alle Menschen ‚religiöse Naturen‘ sind. Die menschliche Disposition zur Religiosität erscheint somit einerseits als die Kraft, die den Religionen zum Leben verhilft und immer schon vorausgesetzt wird, wenn wir vom EinÀuss und der Wirkung der Religion auf das menschliche Leben sprechen. Andererseits ist zu fragen, worauf die menschliche Disposition zur Religiosität selbst beruht und ob man sich tatsächlich eine ‚religiöse Natur‘ vorstellen kann, die ‚keine Religion‘ hat. Für Kant entspringt das Verlangen, ‚glücklich zu sein‘, notwendig der ‚end- lichen Natur‘ des Menschen: Endlichkeit und Bedürftigkeit lassen eine „Zu- friedenheit mit seinem ganzen Dasein ebenso wenig zu wie eine selbstgenügsa- me Seligkeit“. Endlich bedürftig und zugleich vernünftig zu sein, sind ein uns durch ‚die Natur aufgedrungenes Problem‘, dem wir nicht entgehen können (Kant 1788/1968: 133, Anmerkung II). Es drückt sich aus in den Grenzen, die wir fak- tisch erleben, in unserem Vorstellungsvermögen jedoch überspringen können. Wir können uns eine Welt vorstellen, in der wir noch nicht oder nicht mehr sind: eine Welt vor unserer Geburt und nach unserem 7od, eine ‚jenseitige‘ Welt also, die Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 287 sich (noch) nicht aus dem 7ranszendenzbegriff der Religion ableitet: Die eben- so fundamentale Grenze zwischen ‚ego‘ und ‚alter‘, zwischen einem Einzelnen und anderen Einzelnen oder zwischen einem Einzelnen und einer Gemeinschaft überwinden wir – im Alltag und in der Regel – durch die ‚Basisannahme‘ einer grundsätzlich immer möglichen Vertauschbarkeit der Standpunkte und der Re- ziprozität der Perspektiven. Das Zusammenspiel von Grenzerfahrungen und Entwürfen der Grenzüber- windung ist das Erbe der Verkettung von Endlichkeit, Bedürftigkeit und Vernünf- tigkeit. Der Ort, an dem die Auseinandersetzung mit diesem uns aufgezwunge- nen, anthropologischen Erbe statt¿ndet, ist das einzelne menschliche Wesen, das durch sein Leben in einer umfassenden, unaufhebbaren Grenzsituation und durch die daraus folgenden, konkret erlebten Grenzsituationen immer wieder auf seine ‚Hälftenhaftigkeit‘ und Zufälligkeit gestoßen wird. Aus dieser anthropologisch fundierten Ausgangssituation erwächst für uns, weil wir alltäglich in und mit ihr leben müssen, eine Paradoxie: Einerseits ist es sinnlos, nach dem ‚Sinn‘ dieser anthropologischen Bestimmung zu fragen, andererseits sind wir als vernunftbe- gabte Mängelwesen gezwungen, unserem Handeln – trotz aller Endlichkeit, Zu- fälligkeit und Bruchstückhaftigkeit unseres Lebens – einen Sinn zu geben. Diesem Paradox verdankt sich die Religiosität. Sie entspringt der Notwen- digkeit einer Sinngebung, von der wir wissen, dass sie sich nicht selbst tragen kann und die daher über sich selbst hinausweist. Aber aus diesem Über-Sich-Hi- nausweisen kann sie kein sicheres Gegenüber ableiten. Immerhin kann sie statt- dessen sowohl ein Gegenüber entwerfen als auch einen ‚tröstlichen Nicht-Ort‘, eine Utopie, imaginieren, wenn sie sich nicht im Nichts verlieren will. Kurz: Als der ‚anthropologischen Not‘ gehorchende, unfreiwillige Sinnkonstrukteure sind letztlich alle Menschen religiös, auch dann, wenn es ihnen nicht gelingt, eine Re- ligion zu haben.

2. Daher ist es notwendig, zwischen Religiosität und Religion zu unterscheiden. (1) Religiosität entspringt der strukturell gegebenen und immer möglichen Er- fahrung der völligen Vereinzelung: des ‚Solitär-Seins‘. In dieser Erfahrung erlebt sich das Individuum als gesellschaftlich ‚exkommuniziertes‘, isolier- tes, den eigenen Krankheiten, Schmerzen, Leidenschaften, Affekten und dem eigenen Sterben ausgeliefertes Wesen, das eine Hilfe sucht, die ihm andere/ die Gesellschaft, nicht geben können. (2) Religion/Religionen dagegen sind gesellschaftlich kommunizierte, tradierte und kollektiv geglaubte, dem An- spruch nach erfahrungsbasierte Vorstellungen und Vorgaben, die es ermög- 288 Hans-Georg Soeffner

lichen, den Einzelnen in eine gesellschaftlich und geschichtlich ,überhöhte‘ Wirklichkeit einzupassen.

Wenn sich das Individuum in Grenzsituationen als im Letzten einzige Erfah- rungs-, Erkenntnis-, Entscheidungs- und Legitimationsgröße entdeckt, wenn es einsehen muss, dass es „die eigene letzte Stellungnahme ist“, in der „jeder den Dämon ¿ndet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“ (Weber 1973: 613), erlebt es zugleich die Grenzen des Kommunizierens und der Kommunika- tion. Nicht nur kann das vereinzelte, in Grenzsituationen ausschließlich mit sich selbst vermittelte Individuum sich gezwungen sehen, sich als Solitär und wegen seiner ‚ureigenen‘ Erfahrungen gegen ein Kollektiv und damit auch gegen dessen Kultur und Religion zu wenden, sondern es wird auch durchleben müssen, dass sich für seine solitäre Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Erfahrungswelt keine kol- lektiv abgesicherte Sprache ¿ndet: So kämpft der Solitär mit dem Unsagbaren, das er selbst ist, lebt und entwirft, das er aber im Letzten nicht vermitteln kann. Die Grenze der Religion als eines „kommunikativen Konstruktes“ (Knob- lauch 1991: 14; Krech 2011: 32ff) wird dann sichtbar, wenn das Individuum in ei- ner durch das Kollektiv nicht mehr vermittelten, „völligen Einzigkeit“ als Einzel- nes „seinem Gott gegenübersteht“ (Simmel 1912: 78). Aber auch die Religiosität als im Einzelnen verankerte Disposition birgt grundsätzlich die Gefahr, dass er die Materialität und Grundierung seiner religiösen Emp¿ndungswelt nicht kom- munizieren kann und sich dadurch als exkommuniziert erlebt. Nicht nur für das religiöse, sondern auch für das ästhetische Bewusstsein und Emp¿nden ist diese Erfahrung konstitutiv: Sie eröffnet durch die ‚Offenbarung‘ einer grundlegenden Differenz zwischen dem Individuum als Solitär gegenüber einem Kollektiv, zwi- schen dem kollektiv kodierten Kommunizierbaren und dem (noch) nicht Kodierten einen Möglichkeitsraum, der sich vergemeinschafteter Kanonisierung und Schlie- ßung entzieht. Hier treffen sich Häresie und Kunst, der Häretiker und der Künstler. Ihre gemeinsame Basis ist die zunächst nicht kollektivierbare Einzelerfahrung. Aber während sich der Künstler – jenseits der eigenen solitären, ästhetischen Erfahrung –durch sein Werk wieder an die gesellschaftliche Kommunikation an- schließen kann, bleibt der religiöse Solitär, wenn es ihm nicht gelingt, seine sin- gulären Emp¿ndungen in kommunizierbare Bilder und Visionen einzukleiden, in seiner Emp¿ndungswelt eingeschlossen und/oder einer ‚unsagbaren‘ unverfüg- baren Ausnahmesituation ausgeliefert. Auf das Risiko der Vereinzelung und der mit ihr verbundenen Grenzerfah- rungen reagieren die Religionen mit einem System von Absicherungen. Die Re- ligionsstifter und die großen Propheten selbst sind in der Regel allerdings große Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 289

Einzelne, gesellschaftliche Außenseiter, die ihre solitären Gotteserfahrungen oder Visionen dem Risiko der Grenzerfahrung und der – oft äußersten – Gefährdung durch die Begegnung mit dem ‚Numinosen‘ (Otto 1917/1963) verdanken. Denn fast immer äußert sich die überwältigende Hoheit (lat. maiestas) in einem „Mo- ment von […] schlechthinniger Übergewalt“, der weder das Individuum noch eine Gemeinschaft etwas entgegenzusetzen haben (Otto 1917/1963: 6ff). Dadurch wird der außergewöhnliche Einzelne zum Stellvertreter einer Gemeinschaft, die sich davor fürchtet, selbst einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu werden. Die Gene- sis beschreibt diese Stellvertretung beispielhaft: Damit es nicht zu einer direkten Begegnung des Gottes mit dem Volke kam, das fürchtete, es müsse sonst sterben (vgl. 2. Mose 20,19), „nahte“ der Einzelne, hier Moses, „sich dem Dunkel, darin- nen Gott war“ (2. Mose 20,21). Danach allerdings berichtet und predigt der Auserwählte über seine Erfah- rungen. Damit beginnt die gesellschaftliche Kommunikationsmaschinerie zu ar- beiten. Sie transformiert die Einzelerfahrung in eine Gemeinschaftserfahrung, die Visionen in vergemeinschaftete Glaubensvorstellungen und den Kollektivglauben in ein Sinnsystem, das es den ‚normalen‘ Gesellschaftsmitgliedern erlaubt, sich in eine vorgegebene Ordnung einzupassen, ohne sich immer wieder aufs Neue den Grenzerfahrungen drohender Vereinzelung und der mit ihr verbundenen ge- sellschaftlichen Exkommunikation auszusetzen.

3. Erst wenn eine Religion durch besondere soziale Institutionen abgesichert ist, kann sich ein Gegensatz zwischen ‚Religion‘ und ‚Gesellschaft‘, aber auch zwischen individueller Religiosität und Religion ausbilden. Die institutionel- le Verankerung einer Religion ist die notwendige Bedingung für eine eigen- ständige Geschichte religiöser Dogmen, Organisationen und Auslegungsex- perten – jenseits gesellschaftlicher, nicht-religiöser Institutionen.

Das Problem der Auserwählten, der Propheten, Religionsstifter und ihrer Jünger, besteht darin, dass sie sowohl ihr persönliches Charisma als auch die außerge- wöhnliche charismatische Erfahrung verstetigen, dem Außergewöhnlichen einen ‚Sitz im Leben‘ der Gemeinschaft geben müssen. Will sich eine neu gegründete Religionsgemeinschaft dauerhaft absichern, so muss sie nicht nur die von Max Weber beschriebene Umwandlung des persönlichen, prophetischen oder ‚göttli- chen‘ Charismas in das Amtscharisma der Nachfolger jener Auserwählten leisten, sondern auch dafür Sorge tragen, dass die charismatischen Erfahrungen kommu- nikativ gefestigt werden. 290 Hans-Georg Soeffner

Diesen Bemühungen verdankt sich die Institutionalisierung von Religion. Aber anders als bei der Entstehung sonstiger gesellschaftlicher Institutionen (Ber- ger/Luckmann 1966; 1970 insbesondere Kapitel II) besteht die Besonderheit reli- giöser Institutionen darin, dass sie ihre Außeralltäglichkeit und ihre spezi¿sche Erfahrungswelt gegenüber anderen Institutionen darstellen und behaupten müs- sen. Daher grenzen sie sich einerseits durch besondere ‚außerweltliche‘ Riten, Räume, Schulungen, Kleidung und Experten von nicht-religiösen Institutionen, andererseits durch spezi¿sche rituelle Vorschriften – für Zeremonialhandlun- gen, Speisen, Kleidung etc. –, durch eigene heilige Schriften, ‚unverwechselba- re‘ Dogmen und eine eigene Dogmengeschichte von anderen Religionen ab. Erst durch diese in Institutionen gegossenen und institutionell abgesicherten Abgren- zungen können folgenschwere Gegensatzbildungen entstehen: Gegensätze zwi- schen ‚Religion‘ und Gesellschaft, zwischen der Religiosität eines Einzelnen und der Religion einer Gemeinschaft, zwischen unterschiedlichen Religionen und – nicht zuletzt – zwischen Religion und Kultur (Wissenschaft). Wo eine Religion sowohl das gesellschaftliche als auch das alltägliche Leben dominiert, tendiert sie dazu, gesellschaftliche und religiöse Institutionen, Rechts- vorschriften und religiöse Gebote, alltägliches Brauchtum und religiöse Rituale, Denk- oder Analysemodelle und Glaubensvorstellungen so zu verschmelzen, dass die ‚gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ und gesellschaftliches Han- deln in der Kosmologie dieser Religion aufgehen. Jede der soeben beschriebenen Gegensatzbildungen wird unmittelbar als Bedrohung des religiösen Konsenses, als Verletzung der Religion und Beleidigung des Gottes oder der Götter empfun- den. Einer wachsenden und oft auch hohen Binnendifferenzierung innerhalb der Religion (etwa durch die Zunahme religiöser Orden) steht so – wenn überhaupt – eine niedrige Außendifferenzierung gegenüber, und selbst diese wird als Verstoß gegen den ‚Gemeinsinn‘ gesehen: Common Sense und Religion sollen ‚eins‘ sein. Pluralistische Gesellschaften – die Konkurrenz der Religionen, Institutio- nen, 7raditionen, Sitten und Handlungsmodelle – stellen dagegen per se sowohl eine Bedrohung für den Alleinvertretungsanspruch einer Religion als auch für eine reibungslose Eingliederung der Individuen in eine Gesellschaft und somit für die ‚Sinngewissheit‘ eines Individuums dar.

4. Je fester Individuen eingebettet sind in relativ homogene Gemeinschaften, Clans oder Gruppen, umso seltener entsteht – abgesehen von unmittelbaren existentiellen Krisen – die Gefahr, der Erfahrung des Vereinzelt-Seins ausge- liefert zu werden. Individualität ist hier zwar strukturell gegeben, aber relativ unproblematisch, weil sie nicht als Differenz zur Gemeinschaft erlebt wird. Je Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 291

komplexer und ‚ausdifferenzierter‘ Gesellschaften werden, umso mehr wer- den Individuen aus festen sozialen Bindungen herausgelöst, und umso pro- blematischer werden dem Individuum die eigene Individualität (Beck 2008) und damit das eigene Leben und Sterben.

Der Übergang von geschlossenen zu offenen Gesellschaften, von ‚mechanischer zu organischer Solidarität‘ (Durkheim), stellt nicht nur für die Individuen eine Bedrohung dar, sondern auch für das gesamte Gemeinwesen. Wenn aus einer Ge- sellschaft, die sich als eine Gemeinschaft erlebt, eine Gesellschaft aus vielen, un- terschiedlichen Gemeinschaften wird und diese sich – in letzter KonseTuenz – als ‚Gemeinschaften von Einzelnen‘ (Soeffner 2010: 71ff) verstehen, entsteht beinahe zwangsläu¿g der Wunsch zum ‚ursprünglichen‘ Sicherungs- und Absicherungs- verbund zurückzukehren. Es kommt zu einem – nun reÀexiven – Bündnis zwi- schen Individuum und Gemeinschaft. Da sich jedoch die frühere, geschlossene Gesellschaft/Gemeinschaft in eine Gesellschaft unterschiedlicher Gemeinschaf- ten transformiert hat, ist zwar nach wie vor die Selbstbindung eines Individuums an eine Gemeinschaft möglich, nicht aber die Rückkehr in die ‚ursprüngliche Ein- heit‘ der die Gesellschaft umgreifenden einen großen Gemeinschaft. Rückkehrwunsch und Selbstbindung des Individuums an eine der vielen, nun konkurrierenden Gemeinschaften verbünden sich zu einer Rückkehrillusi- on, die sich aus der Kraft der willentlichen Selbstbindung der Individuen speist. Hier liegen die Wurzeln des Fundamentalismus. Er ist eine moderne Erscheinung und formt die – realistische – Furcht vor dem Scheitern der Rückkehrillusion zu einem dauerhaften und tiefsitzenden Ressentiment gegen eine Gesellschaft, die nicht mehr ‚meine‘ sein kann, weil sie sich aus unterschiedlichen Gemeinschaf- ten und Verbänden zusammensetzt. Sie alle können mir Mehrfachmitgliedschaf- ten ermöglichen oder für exklusive Mitgliedschaft werben, aber auch die Mit- gliedschaft gänzlich verweigern und mich damit dem ‚sozialen 7od‘ ausliefern. War früher der Andere ein Mitbewohner des Himmels der gemeinsamen Ge- sellschaft, so sind dem Individuum nun die Anderen die Hölle einer anonymen Gesellschaft. Dementsprechend sucht der religiös grundierte Fundamentalismus sein Heil in dem die Gemeinschaft überhöhenden, transzendenten Kosmos, wäh- rend der säkular motivierte Radikalismus es in der Chimäre der ‚kollektiven Iden- tität‘ eines Volkes, einer Nation oder einer Idee zu ¿nden versucht.

5. Analog zum Doppelaspekt der Kultur, die sich einerseits subjektiver ‚Kultur- arbeit‘ verdankt und als Ausdruck von Freiheit erlebt wird, die aber anderer- seits dem in eine Kultur Hineingeborenen oder Hineinversetzten objekthaft, 292 Hans-Georg Soeffner

fremd und bedrohlich gegenübertreten kann – Simmels ‚Tragödie der Kultur‘ –, gibt es auch die ‚Tragödie der Religion‘: Einerseits entspringt Religion der Religiosität des Einzelnen, von der sie lebt. Andererseits tendieren Religionen als Lehrgebäude verfestigter Sinnkonstruktionen und Normensysteme dazu, vom einzelnen Gläubigen als fremd und als Instanz wahrgenommen zu wer- den, die Unterwerfung verlangt. Folgerichtig reagiert bereits im Christentum die von Luther postulierte „Reichsunmittelbarkeit des einzelnen Gläubigen gegenüber Gott“ auf diesen Zwang, sich der Kirche als Institution zu unter- werfen.

Allerdings enthält die ‚Reichsunmittelbarkeit des Einzelnen gegenüber Gott‘ ein hohes Risiko. In ihr wird jedes Individuum zum Auserwählten, der sich einem unverfügbaren, übermächtigen Gott stellen muss. An die Stelle eines tröstenden Rückgriffs auf die ‚Gnadenmittel‘ der Institution Kirche treten die Eigenverant- wortlichkeit des Individuums und das Wissen, dass diese Verantwortung zu über- nehmen ist, ohne dass sie im Letzten wahrgenommen werden kann. Konnte die durch Dogmen und Sakramente abgesicherte Religion dem verunsicherten Gläu- bigen noch mit ihrem über Generationen und durch die ‚Heiligen‘ verbürgten Er- fahrungsschatz Sicherheit versprechen, so muss nun der Einzelne die Antworten auf seine Fragen unmittelbar bei seinem Gott suchen. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wird diese – für viele Individuen unlösbare – Problemsituation sowohl in der Philosophie als auch in der Literatur, beispielhaft in den „Nachtwachen von Bonaventura“ (1805/1970) und in der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ (Jean Paul 1795/1975), nicht nur artikuliert, sondern auch umformuliert zur Eman- zipation der Kultur von der Religion.

6. Für die europäische Moderne (beispielhaft seit der Aufklärung) lassen sich beide, Kultur und Religion, als Geschöpfe und Ausdruck menschlicher Reli- giosität erkennen: Kultur als Diesseitsreligion und der Versuch, „vom Stand- punkt des Menschen aus einen endlichen Ausschnitt der Welt mit Sinn und Bedeutung“ zu versehen und uns so von der „sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ zu erlösen (Max Weber); Religion dagegen als „letzte Bin- dung und Einordnung […], Versöhnung mit dem Schicksal, [endgültige] Deu- tung der Wirklichkeit und Heimat“ (Helmuth Plessner).

Die Mythen und Religionen des ‚christlichen‘ (antiken, jüdischen) Abendlands sowie die von ihnen gespeisten und aus ihnen hervorgegangenen Philosophien Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 293 bzw. Weltanschauungen1 lesen sich für denjenigen, der an einer Geschichte der Subjektivität interessiert ist, wie ein in unendlich viele Episoden verzweigter Bil- dungs- und Entwicklungsroman. Die Geschichte des immer neue Metamorphosen durchlaufenden Helden, des Subjekts, schreitet zunächst nur sehr langsam voran, bis sie sich im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte immer mehr beschleunigt. 7ragisches und Komisches, Heroisches und Pragmatisches, Außergewöhnliches und Banales wechseln in dieser Geschichte einander ab. Schließlich wird in den verschiedenen Kostümen und Rollen eine ‚Gestalt‘ erkennbar – in der Sprache Goethes und des frühen 19. Jahrhunderts: eine (vor)geprägte Form, die lebend sich entwickelt; in der abstrakt ausgedünnten Retortensprache gegenwärtiger So- zialwissenschaft: eine generative Struktur. Die Philosophen der Aufklärung und ihre Nachfolger präparieren in ihren rationalen Gedankenexperimenten abstrakt das heraus, was in symbolischen For- men und Bildern bereits reichhaltig ausgemalt war. Die Frage nach der ‚Verwur- zelung‘ oder ‚Begründung‘ von ‚Sozialität‘ (Staat, Sozialvertrag, Gemeinwesen) führt sie zu jenem Element, das den Kern des ‚Gesellschaftlichen‘ und zugleich dessen Grenze ausmacht – auf das Individuum als vereinzeltes und zugleich ver- gesellschaftetes. Die strukturell vorgegebene und potentiell in allen Zeiten ak- tualisierbare Vereinzelung von Individuen gegenüber Gemeinschaften oder Ge- sellschaften wird nun sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaften als Bedrohung und Chance begriffen. Als Chance zur Erweiterung des Freirau- mes der Individuen treibt sie die Entwicklung voran. Als Bedrohung der Gemein- schaft und Angst vor der Bindungslosigkeit des Einzelnen wird sie zum Motiv, Gesellschaft an dauerhafte, feste Formen zu binden. Beide, Religion und Kultur, die lange Zeit ununterscheidbar gesellschaftlich konstruierte Sinngefüge zusammenhielten, antworten sichernd, schützend und tröstend auf die ‚exzentrische Personalität‘ des Menschen. Auch dann, wenn sich ein Gegensatz zwischen Religion und Gesellschaft ausbildet oder viele Religionen und ‚Modellierungsmöglichkeiten‘ miteinander konkurrieren, ist zunächst noch kein prinzipieller Gegensatz zwischen Kultur und Religion gegeben. Ein solcher Gegensatz kann erst dann empfunden und formuliert werden, wenn – wie bei Plessner – im ‚Geiste der Aufklärung‘ Kultur als Vernunftreligion gegen Religi- on als illusionäre Sehnsucht nach Heimat (Plessner 1929/1975: 342) gestellt wird:

1 Zur Kontinuität und Diskontinuität der Bilder, Symbole und ‚Gussformen‘ für die Götter und ihre Nachfolger vgl. insbesondere Seznec (1990) und Starobinski (1990). Vergleichbare mentalitätsgeschichtliche Arbeiten zur jüdisch-christlichen Bilderwelt sind selten. Eine be- merkenswerte Ausnahme macht Gutzen (1991) mit einem Aufsatz, der den erst auf den zweiten Blick befremdlichen 7itel trägt: „,Und ich sah den Himmel aufgetan […]‘ (Offb. 1 9, 1 1). Zur Poesie der Offenbarung des Johannes.“ 294 Hans-Georg Soeffner

Kultur als Sinngebungs- und Auslegungskonkurrentin von Religion im Kampf um den Primat bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeits(an)sichten. Die Philosophen und Protagonisten der Aufklärung erzählen uns die Ge- schichte von den Kindern, die auszogen, erwachsen zu werden. In der Kindheit der Menschen, so will es diese Geschichte, wurde Kultur zunächst durch Reli- gion gestiftet. Dann aber löste sich die erwachsen gewordene, aufgeklärte Ver- nunft von ihren Kindheitsmärchen, die als Illusionen ‚entlarvt‘ wurden. Kultur und Wissenschaft traten an die Stelle von Religion. – Es spricht vieles dafür, dass wir diese Geschichte umschreiben und eine ‚wissenschaftlich begründete‘ Kultur nicht lediglich als verständig gewordene Nachfahrin der alten Mythen, sondern auch als Nachfolgereligion christlich-jüdischer und antiker Weltbilder sehen soll- ten: als „Diesseitsreligion“ (Soeffner 2000: 112ff) und als labiles Sicherungssys- tem einer sich weiter transformierenden Moderne. Plessner selbst hat eine geistesgeschichtlich beobachtbare Verlagerung des Heilswunsches beschrieben: von der Hoffnung auf außerweltliche Erlösung hin zur Sehnsucht nach einer Erfüllung im Diesseits, eine Verlagerung, in der an die Stelle des „verlorenen Jenseits“ ein „verborgenes Diesseits“ tritt (Plessner 1982: 19). Der Glaube hat dabei seine Richtung verändert: vom Jenseits auf das Dies- seits. Er bleibt jedoch, was er war: ein Glaube, eine religiöse Vorstellung, auch wenn sich diese nun in einem innerweltlich orientierten Erlösungswunsch prä- sentiert. ‚Kultur‘ als Verankerung der ‚wahren Natur‘ (nun der ‚zweiten Natur‘) in der Welt – statt ihr gegenüber – anzusehen, ist 7eil dieses Glaubens: eines neu geordneten religiösen Vorgangs. Zwar wird auch durch ihn das Individuum „in eine gesellschaftlich und ge- schichtlich transzendente Wirklichkeit“ (Luckmann 1991: 165) eingefügt, aber er beruht auf einer neuartig organisierten Modellierungsform. Nun ist es eine ‚wis- senschaftlich begründete‘ Kultur, die als Diesseitsreligion die Selbstüberschrei- tung des Menschen zu leisten hat. Diese innerweltlich orientierte 7ranszendenz muss sich einerseits in Gesellschaft und Geschichte vollziehen, andererseits steht sie diesen als Überhöhung des Alltäglichen und des faktisch Auferlegten gegen- über2: Kultur als vergoldeter Hintergrund, dessen Widerschein die Alltagszwän- ge in das freundliche Licht der Freiheit, des Spiels und der Kunst taucht. In der Kultur verehren wir sowohl unsere Möglichkeiten und Phantasien als auch eine von uns entworfene Welt, in der wir heimisch werden könnten, wenn wir nicht wüssten, auf welch unsicherem Boden eine letzte Bindung an etwas steht, das wir selbst konstruiert haben – mit Mitteln, deren Begrenztheit wir kennen (Pless-

2 Zu dem hier verwendeten Begriff von ‚Kultur‘ vgl. Soeffner (2000: 153-179). Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 295 ner 1929/1975: 342). „Weltfrömmigkeit“ (Plessner 1982: 73ff) löst die Jenseits- frömmigkeit ab und wird zur Ausdrucksgestalt von Kultur als Diesseitsreligion3. Daran wird deutlich, dass keine so „absolute Feindschaft“ (Plessner 1929/1975: 42) zwischen Religion und (einer in der Moderne von der Religion abgespaltenen) Kultur besteht, wie Plessner annimmt. Die Sicherheit im „De¿nitivum“ (Pless- ner 1929/1975: 42), von ersterer gesucht und gefunden, und das Wissen der zwei- ten darum, dass menschliche Vernunft ihre eigenen Produkte stets mit Kritik und Zweifel überzieht und dadurch selbst zu prinzipieller ‚Heimatlosigkeit‘ ge- zwungen wird, wenn sie sich nicht „dem Glauben zum Opfer bringen“ (Plessner 1929/1975: 42) will, unterscheiden sich zwar grundlegend in ihrer Sicherheitspo- litik, nicht aber in ihrer religiösen Funktion. Sowohl Religion als eben auch die ‚Kultur‘ der Humanität und Weltfrömmigkeit verwandeln „Mitglieder einer na- türlichen Gattung in Handelnde innerhalb einer geschichtlich entstandenen, ge- sellschaftlichen Ordnung“ (Luckmann 1991: 165), und beide fügen den Einzelnen in „eine gesellschaftlich und geschichtlich transzendente Wirklichkeit“ (Luck- mann 1991: 165) ein.

7. In modernen, ausdifferenzierten und pluralistischen Gesellschaften wird den Individuen eine strukturell problematische Individualität auferlegt. Auf diesen ‚Zwang‘ reagiert die Moderne mit einem ideologischen Trost: mit der Überhö- hung des Einzelnen zum ‚autonomen‘, ‚freien‘ und ‚sich selbst verwirklichen- den‘ Individuum. So soll etwas, das keine Institution sein kann, das Individu- um als kleinstes Element der Gesellschaft, zur Institution erhoben werden. Die modernen Verfassungen reagieren auf dieses Paradoxon mit der Stärkung des schwächsten Gliedes der Gemeinschaft, indem sie die ‚Würde des einzel- nen Menschen‘ schützen und ihr zugleich den höchsten Wert zuerkennen.

Neben der funktionalen wird nun auch eine strukturelle Gemeinsamkeit zwi- schen der überkommenen Religion und ihren diesseits orientierten, religiösen Erben sichtbar. Aufklärung als Selbstaufklärung der Vernunft und der Kultur (Kant, Plessner) stößt auf das gleiche Grundelement, die gleiche treibende Kraft, aus der Mythen, jenseitige und diesseitige Paradiese oder Heimaten, Höllen oder Weltuntergänge, Jenseits- oder Diesseitsfrömmigkeit hervorgebracht werden und

3 Ein Kennzeichen von ‚Diesseitsreligionen‘ ist nicht zuletzt, dass neben jenseitigen Himmeln und Paradiesen auch die Höllen und Fegefeuer ins Diesseits verlegt werden: Utopien und Apokalypsen. 296 Hans-Georg Soeffner in der sie ihr Fundament haben: auf das Individuum als letzte Erlebnis-, Erkennt- nis-, Entscheidungs- und Legitimationsgröße4. Diese ist jedoch nicht nur Basis, sondern auch Grenze gegenüber den Gemein- schaftsprodukten Religion und Kultur. So ‚barbarisch‘, ‚kultur-‚ oder ‚religions- los‘ Gesellschaften als Ganze sich (immer wieder) verhalten können: Das eigent- liche Gegenüber von Religion und Kultur als Kollektivgestalten ist der Einzelne, so wie die Religiosität des Einzelnen zugleich diesseits und jenseits aller Religi- onen und Kulturen steht. Die unentwegte gesellschaftliche Arbeit und Anstren- gung bei der Einpassung und Einfügung des Einzelnen in eine soziale Welt und deren Ordnungen entspringt dieser grundlegenden, unaufhebbaren Konstellation. Die Vereinzelung des Individuums gegenüber der Gesellschaft, dem inner- weltlichen Gott Durkheims, führt jedoch nicht zu jener Bodenlosigkeit, die dem Erlebnis des Numinosen zugeschrieben wird. Gegenüber der Gesellschaft ver- sinkt der Einzelne noch nicht im Nichts. Davor bewahrt ihn letztlich ein beinahe urwüchsiger Glaube an sich selbst, „eine im letzten Gefühl des Ich fundamenta- le Ruhe und Sicherheit, ausgeprägt in der Vorstellung, dass man dieses Ich jeder Situation gegenüber siegreich bewahren und durchsetzen werde.“ (Simmel 1912: 46) Eben diese Ruhe und Sicherheit sind die Voraussetzung dafür, dass es dem Einzelnen – selten genug – gelingen kann, sich der Gesellschaft und, schwerer noch, einer Gemeinschaft entgegenzustellen. Sie sind aber auch die Vorausset- zung dafür, dass der Einzelne in seiner Besonderheit und Einzigartigkeit für sein Handeln verantwortlich gemacht werden und dass er sich weder im Kollektiv ver- stecken noch auf bewährte Vorgänger berufen kann.

8. Damit hat die Diesseitsreligion der Moderne die „Gottesebenbildlichkeit al- ler Menschen in einer rettenden Übersetzung“ (Jürgen Habermas) mit allge- meinen Attributen verbunden, die in den monotheistischen Religionen allein dem Gott zukamen: Autarkie, Autonomie und Freiheit. In der Diesseitsreligion der Moderne ist der “eigene Gott“ (Ulrich Beck) des Individuums das Indivi- duum selbst. Der Gott der Gesellschaft ist nicht mehr die Gesellschaft (Emile Durkheim), sondern die Gesellschaft wird zum polytheistischen Olymp je ei- gener individueller Götter, die sich ihrer neuen, selbstbasierten Staatlichkeit bewusst sind.

4 In eben diesem Zusammenhang sieht und zieht auch Max Weber (1973: 613), Repräsentant und Analytiker des Denkens seiner Zeit, die Grenzen zwischen individueller Entscheidung und kollektiven Legitimationsansprüchen jedweder – auch wissenschaftlicher – Art: Weder die Wissenschaft noch sonst eine Institution entscheiden darüber, woran der einzelne sich bindet. Es ist „die eigene letzte Stellungnahme“, in der „jeder den Dämon ¿ndet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“. Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 297

Im Glauben der Moderne an das Individuum wird dem Einzelnen jene Einzigar- tigkeit zugeschrieben, die ihm einerseits eine gewisse Standfestigkeit gegenüber einer vollständigen Vergesellschaftung verleihen soll, die ihn jedoch andererseits in der Erfahrung des Solitärseins von allen gesellschaftlichen Sicherheiten und Einbettungen ablöst, auf die er sich sonst zu stützen gewohnt war. In dieser Ab- lösung wird das Ich – als das Gegenüber der Gesellschaft – das tendenziell Abso- lute: ein innerweltlich fundiertes Absolutes. Eben jenes innerweltlich Absolute ist das Wesensgegenüber des ‚jenseitigen‘ Absoluten, des Gottes. Das innerweltlich Absolute, das solitäre Ich, fundiert die Religiosität. Sie ist der Boden, über dem die Religionen so lange ihre Himmel spannen und die unterschiedlichen Götter in luftiger Höhe so lange ihre 7hrone errichten, bis auch die Religionen und die Götter ihren Sitz im Diesseits nehmen: im Glauben der Individuen an die Indivi- duen und an deren mögliche Glückseligkeit im Diesseits. Die menschliche Disposition des möglichen Solitärseins, die Disposition zur Religiosität, stößt alle diese unterschiedlichen, von der Historie immer wieder neu eingekleideten Entwicklungen an. Ob dabei das Individuum ‚bewusst‘ um sei- ner selbst willen mit sich allein sein will oder nicht, ist zwar eine für jede Ethik und Moralphilosophie bedeutsame Frage. Strukturell vorrangig ist jedoch, dass das Individuum überhaupt gezwungen sein kann, mit sich selbst allein zu sein, und das, obwohl es doch – als Sozialwesen – allein gar nicht existenzfähig ist. Es ist – wie immer es sich selbst de¿niert – ein unvollständiges Subjekt, ein inva- lider Monarch seiner Autonomie, eingespannt in zwei einander zugleich wider- strebende und ergänzende 7ranszendenzbewegungen. In der einen überschreitet sich dieser monadische 7orso in Richtung auf andere Individuen oder Gemein- schaften, in der anderen unterschreitet er sich als Sozialwesen und erlebt sich als tendenziell solitäre Monade. 7atsächlich baut der Mensch, sofern „die persönliche Identität als eine uni- versale Form der individuellen Religiosität“ (Luckmann 1991: 109) erscheint, zu sich selbst, seinen Vorstellungen, Welten und Göttern nicht irgendeine, sondern eine religiöse Beziehung auf. Diese muss jedoch, so sichtbar sie in ihren Äuße- rungsformen auch sein kann, in ihrem konkret-singulären (solitären) Kern und ihrer darauf bauenden Vorstellungs- und Erlebniswelt für andere verborgen sein und bleiben. Religiosität, die der Religion vorausliegende, den Einzelnen im Spannungs- feld zwischen Solitär-Sein und Sozialität haltende Disposition, fundiert diese Be- ziehung. Sie ist die Ereignisstelle für das Nicht-Mundane, das ‚Unausdrückbare‘, anderen nicht ‚adäTuat‘ Vermittelbare, für andere ‚Unsichtbare‘ – damit auch Vo- raussetzung dessen, was gegenwärtig als ‚unsichtbare Religion‘ bezeichnet wer- 298 Hans-Georg Soeffner den kann. Und sie markiert die Grenze, vor der wissens- und religionssoziologi- sche Analysen, Repräsentanten der Intersubjektivität und Rationalität mit guten Gründen und gern haltmachen.

10. In den Gegenwartsgesellschaften entsteht durch den Pluralismus der mitein- ander wetteifernden Religionen ein „Zwang zur Häresie“ (Berger 1980): die entscheidungsbasierte Selbstbindung des Individuums an eine bestimmte Re- ligion und deren Wahrheit oder an den selbstgefundenen/erfahrenen, „eige- nen Gott“ (Ulrich Beck) und dessen je eigene/jemeinige Wahrheit. Der erste Typus der Selbstbindung tendiert zum Fundamentalismus, der zweite zu ei- ner äußerst labilen Form der permanenten Selbstvergewisserung; der erste ist antikosmopolitisch, der zweite produziert ein frei Àottierendes, sozial bin- dungsloses, kosmopolitisches Atom.

Anders als die Formel vom „Zwang zu Häresie“ suggeriert, ¿ndet sich, wie em- pirische Studien über Religiosität in den USA zeigen (Matter 2007), daneben ein beTuemer Mittelweg, der vom pragmatisch Alltagsreligiösen – dem Vertreter der Mehrheit – gewählt wird: eine temporäre Polyhäresie. Im Gegensatz zur pathe- tischen Entscheidung für eine dauerhafte Selbstbindung an eine einmalige Wahl und für den „Sprung“ in einen „absoluten Glauben“ (Kierkegaard 1844/1960) entscheidet sich hier der religiöse Alltagsmensch pragmatisch mehrfach: dem Umzug in eine andere Stadt folgt – zumindest in den USA – oft eine ‚Ument- scheidung‘ für eine andere Kongregation oder Glaubensrichtung. In den ‚Religi- onshybriden‘ ¿ndet diese strukturell angelegte Polyhäresie ihre – nun syntheti- sierte – Ausdrucksform. Entscheidend für die jeweilige Neuentscheidung ist nicht eine bestimm- te Lehre oder ein bestimmtes Dogma, sondern die soziale Funktionstüchtigkeit und Attraktivität der neuen Gemeinde, der man sich anschließt. In einer Serie von Häresien kann man im Extremfall vom Baptisten über den Methodisten, Ka- tholiken oder Russisch Orthodoxen zum Buddhisten werden. Die jeweilige Wahl basiert dabei nicht auf einer tiefgehenden, existenziellen Entscheidung, sondern auf sozialer Opportunität. Vor allem aber lässt sich beobachten, dass die gesell- schaftlichen Risiken, die ein sozial bindungsloses, kosmopolitisches Atom auf sich nehmen müsste, von diesem als kaum zu bewältigend angesehen wird. Da- gegen erweisen sich der Weg in die fundamentalistische Bindung an eine Glau- bensgemeinschaft oder der pragmatisch wechselnde Eintritt in eine erfolgreiche Gemeinde als erheblich risikofreier. Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 299

In pluralistischen Gesellschaften pro¿tiert der pragmatisch Alltagsreligiöse vom relativ friedlichen Nebeneinander der unterschiedlichen Religionen. Diese Form der weltanschaulichen Koexistenz verdankt sich allerdings dort, wo sie ge- genwärtig verhältnismäßig problemlos gelebt werden kann, der institutionellen Absicherung durch ein politisches System, das in einem relativ kleinen 7eil der Welt aus einer spezi¿schen, historischen Entwicklung hervorgegangen ist: Das Zu- sammenspiel von griechischer Antike, jüdisch-christlichen Glaubens- und Denkt- raditionen, die in Europa mit dem Investiturstreit beginnende 7rennung von Kir- che und Staat, die Erfahrung blutiger Religionskriege und das mit der Aufklärung einsetzende ‚Projekt der Moderne‘ führen in einem langen Entwicklungsprozess dazu, dass Staat und Gesellschaft nicht mehr als Stiftung eines göttlichen Wil- lens, sondern als Ergebnis von Gesellschaftsverträgen begriffen werden. In ihnen geht es um die Sicherung der labilen Balance zwischen staatlichem Machtanspruch und bürgerlicher Freiheit, zwischen Mehrheitswillen und Min- derheitenschutz und nicht zuletzt um die Absicherung des Individuums, das (s. o.) zugleich als schwächstes Glied der Gesellschaft gesehen und dennoch als verant- wortlicher, das Gemeinwesen fundierender Bürger nicht nur geschützt, sondern auch gestärkt werden soll. Folgerichtig sorgen die modernen Verfassungen dafür, dass Entscheidungs-, Wahl-, Meinungs-, und Religions-/Glaubensfreiheit zugleich miteinander verbunden und garantiert werden: Nicht nur die friedliche Koexis- tenz der Religionen wird durch diese Verbindung ermöglicht, sondern eben auch der „Zwang zur Häresie“, die temporäre Polyhäresie, die sich zwangsläu¿g da- raus ergebende, immer mögliche Konversion, aber auch ‚belief blends‘: Religi- onshybride. In ihnen komponieren Einzelne oder Gemeinschaften (Gemeinden) Zutaten aus Religionen und Weltanschauungen sowie daran anknüpfenden Sym- bol- und Ritualrepertoires zu neuen Collagen sozialer, den Alltag überhöhender Ausdrucksformen. Die Entscheidung eines Menschen für einen „eigenen Gott“ jenseits etablierter Religionen steht dabei für eine extreme Steigerung der Individualisierung: für die Einheit von individueller Religiosität und völlig privatisierter Religion. Insofern erscheint der Anhänger seines je eigenen Gottes aus der Sicht einer Kollektivre- ligion als solipsistischer Häretiker, aus christlich-theologischer Sicht als Vertre- ter einer praktizierten Reichsunmittelbarkeit des Gläubigen gegenüber Gott und aus soziologischer Sicht als Repräsentant des – in pluralistischen und individua- lisierten Gesellschaften strukturell angelegten und geforderten –Bemühens, ins- titutionalisierte Religionen durch eine im Individuum etablierte, selbstversorgte religiöse Autorität abzulösen. Pluralistische Gesellschaften geben diesem riskan- ten Versuch der religiösen Selbstinstitutionalisierung eine Chance. 300 Hans-Georg Soeffner

11. Von Herodot (490-42 v. Chr.) über Kubilai Khan in China (13. Jh.), Ak- bar den Großen in Indien (16. Jh.) und die Renaissance-Utopien, in deren ‚reÀexivÂgebrochener‘ Tradition gegenwärtig Ulrich Beck steht, bis zu den pluralistisch verfassten Gesellschaften unserer Zeit ist die wechselseitige An- erkennung der Religionen gefordert und erprobt worden. Die modernen nati- onalstaatlichen Verfassungen schufen für das Zusammenleben der Religionen einen rechtlichen Rahmen, indem sie das Wahrheitsproblem ausklammerten und die Entscheidung für oder gegen (eine) Religion an die Individuen dele- gierten. Die – noch rudimentären – Institutionen der Weltgemeinschaft ver- suchen, wenn schon nicht ein Zusammenleben, dann zumindest ein relativ konÀiktfreies Nebeneinanderleben der Kulturen und Religionen zu fördern. Dabei ist es bisher nicht gelungen, den mit den ‚allgemeinen Menschenrech- ten‘ verbundenen Wertekanon mit dem System der ,absoluten‘ Wahrheiten, Rechte und PÀichten der Weltreligionen zu vermitteln.

Auch hier bietet die Verbindung von freiheitlich demokratischem Verfassungs- staat und pluralistischer Gesellschaft einen Ausweg an. Dieser setzt allerdings das voraus, worauf Vertreter ‚absoluter Wahrheiten‘ nicht verzichten wollen: den Verzicht auf den Anspruch einer Religion oder Weltanschauung, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der individuellen Lebensführung unter ihr Primat zu stellen. Zwangsläu¿g entstehen gerade dort, wo Religionen innerhalb einer Gesellschaft miteinander konkurrieren, große KonÀiktpotenziale. Ande- rerseits bietet gerade das Nebeneinander einander ausschließender und bekämp- fender ‚absoluter Wahrheiten‘ die Chance nicht nur zum Vergleich und Perspek- tivenwechsel, sondern auch zu dem Versuch, auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen, wenn schon nicht zu einem Modell ‚religiös sozialer Markt- wirtschaft‘, so doch zu einer rechtlich und institutionell gestützten Balance der Ansprüche und Anspruchsdomänen zu kommen. Die modernen demokratischen Verfassungen setzen hier wiederum auf die Wahlfreiheit des Einzelnen, des – dem Anspruch nach – kompetenten Staatsbür- gers. Allerdings soll jeder Bürger die Wahlfreiheit, die man ihm nicht nur gibt, sondern auch auferlegt, dazu nutzen, sich gegenüber der Verfassung und den Ge- setzen, die ihn schützen, loyal zu verhalten (Soeffner 2011: 144ff). Auf die Zir- kularität und die darin verdeckten Voraussetzungen dieser Verfassungsidee hat Ende der 1960er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Staatsrechtslehrer Ernst-Wolf- gang Böckenförde mit der ebenso zutreffenden wie provozierenden Feststellung hingewiesen, „der freiheitlich säkulare Staat lebe von Voraussetzungen, die er Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 301 selbst nicht garantieren könne, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen“ (Böckenförde 1967). Die hieraus entstehenden Paradoxien verdeutlicht Böckenförde am Beispiel des Rechts auf Religionsfreiheit im heterogenen, modernen Verfassungsstaat. An- ders, als die vernebelnde Melange aus politischen Debatten und 7alkshowparla- mentarismus, stellt Böckenförde fest: „Das Maß der Verwirklichung der Religions- freiheit bezeichnet das Maß der Weltlichkeit des Staates“ (Böckenförde 1967: 57). Hier geht es um die Freiheit des Individuums, sich – angesichts des herr- schenden „Polytheismus der Werthaltungen“ (Max Weber) – für eine eigene, hier religiöse Werthaltung und eben auch für die Verehrung eines eigenen Gottes zu entscheiden. Der freiheitliche Staat dagegen, so Böckenförde, könne und solle als Bedingung für den Bürgerstatus kein Wertbekenntnis verlangen – wie die offene oder verdeckte Rede von der VerpÀichtung der Staatsbürger auf eine Leitkultur nahe legt. Wohl aber habe der Bürger die Verfassung und die Gesetze des Staa- tes zu akzeptieren und zu befolgen (Böckenförde 1978). Kurz: Vom Bürger wird Gesetzestreue, nicht Gesinnungstreue verlangt. Hier steht die Einsicht in Hete- rogenität und Pluralismus als Grundstruktur moderner Staaten gegen die Zu- mutung einer Gemeinsamkeit in Glauben oder Gesinnung (Soeffner 2011: 146).

12. Was das Wahrheitsproblem angeht, so hat die christliche Religion, wenn man den im Markus- und Matthäus-Evangelium geäußerten Zweifel des ‚göttlichen Religionstifters‘ an seinem Gott ernst nimmt („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“,Markus 15,34; Matthäus, 27, 46), die eigene Wahrheit mit einem grundlegenden Zweifel konfrontiert: Glaubens- und Wahrheitsge- wissheit sind das äußerst Unwahrscheinliche, und auf die Unbezweifelbar- keit der Existenz Gottes hat Dietrich Bonhoeffer mit der Feststellung reagiert: „Mit einem Gott, so wie wir ihn uns denken, hat Gott nichts zu tun“ (Bonhoef- fer 1997: 210).

Unabhängig davon, wie die Quellenkritik der historisch-kritischen 7heologie den im Markus- und Matthäus-Evangelium ‚zitierten‘ Ausruf in seiner historischen Zuordnung bewertet, liegt die Einmaligkeit und ungeheure Provokation dieser Klage darin, dass der ‚göttliche Religionsstifter‘ die für ihn bis dahin unhinter- fragbare Wahrheit durch einen unerhörten Zweifel in Frage stellt. Dieser Zweifel ist und bleibt, weil er in einem ‚heiligen Buch‘ dokumentiert wird, ein intellek- tueller Stachel im Gottesentwurf des Christentums – und zugleich nicht nur ein grundsätzlich antifundamentalistisches Element in der Glaubenshaltung, sondern auch, allen im Namen des Christentums geführten Religionskriegen und Kreuz- 302 Hans-Georg Soeffner zügen zum 7rotz, ein ‚Alleinstellungsmerkmal‘ dieser Religion gegenüber ande- ren Weltreligionen: Einen Gott, der in Gestalt seiner menschlichen Inkarnation an sich selbst zweifelt, gibt es in anderen Religionen nicht. Dieser existentielle Zweifel trifft im ‚Okzident‘ auf einen Verbündeten, der schon frühzeitig das Verhältnis zwischen Vernunft und Glauben, Gewissheit und Zweifel artikuliert hat. Als Ahnherr des Vorranges von Zweifel und Kritik gegen- über scheinbaren Gewissheiten gilt zwar Sokrates mit seiner Formel „Ich weiß, dass ich nicht weiß“, entscheidend aber ist, dass diese Basis des abendländischen Philosophierens und eines daran anschließenden Wissenschaftsverständnisses sich über die Jahrhunderte hält und verstärkt, bis es sich mit dem existentiellen Zweifel des christlichen Glaubens verbündet, für den wiederum Georg Simmels Einsicht zutrifft, dass der „Christengott“, anders als andere Gottheiten, „der Gott des Individuums ist“ (Simmel 1912: 89). So nistet sich mit dem Gott des Markus- und Matthäus-Evangeliums und des Individuums – neben dem philosophischen – ein grundlegender religiöser Zweifel in unserem Kulturkreis ein. Das okzidentale Wissenschaftsverständ- nis beruht auf beiden: exemplarisch erkennbar in dem Versuch der rationalen, ‚wissenschaftlichen‘ Konstruktion von Gottesbeweisen und der darauf folgen- den, ‚vernunftgemäß‘ unausweichlichen Zerstörung eben jener Beweise. Max Webers Feststellung, dass „der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit […] ein Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes“ (Weber 1973: 213) ist, trifft insbesondere auf das Zweifels- und Falsi¿kationspostulat zu, wie es sich von Descartes, Kant, Husserl und Popper bis in die Gegenwart im moder- nen Wissenschaftsverständnis artikuliert (Soeffner 2000: 67ff). Wer mit einem solchen Weltbild lebt, wohnt prinzipiell in einer „Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung“ (Monty Python 1983). Auch der „eigene Gott“ des Individuums ist dementsprechend unauÀösbar mit Zweifeln konfrontiert, und dies umso stärker, je mehr Vernunft und Glauben in den Individuen nach einer Balance suchen.

13. Die Hoffnung auf den ‚eigenen Gott‘ und damit auf das Zusammenleben der vielen ‚eigenen Götter‘ der kosmopolitischen Individuen unter einem polythe- istischen Baldachin erscheinen somit – nicht nur aus kultur- und religionsso- ziologischer Sicht – als liebenswerte Utopie einer nun zwar „reÀexiven“ (Ul- rich Beck), aber dennoch heroisch optimistischen Moderne. Wenn, wie Kant in unübersehbarer Selbstironie formulierte, der Gott der Religion der Gott in uns und zugleich „selbst der Ausleger ist, weil wir niemanden verstehen, als den, der durch unseren eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit Religion und Kultur des Individuums. Zwölf 7hesen 303

uns redet“ (Kant 1798/1971: 315), hätte uns die aufklärerische Göttin der Ver- nunft der ersten Moderne längst zu einem säkular-vernünftigen Kosmopoli- tismus geführt haben müssen. Die oft irrationalen Motive der Vernunft (Max Weber) und die Ambivalenz der Moderne (Bauman 1992) haben dies verhin- dert. Ob die gegenwärtig ‚angerufenen‘ je eigenen Götter der zweiten Moderne durch die Ausklammerung des Wahrheitsproblems (aber was wäre eine Reli- gion ohne ihren Anspruch auf Wahrheit?) und die Maxime konÀiktübergrei- fender FriedenspÀicht – weltweit und über moderne Verfassungsstaaten hi- naus – erfolgreicher sein werden, wird, wer weiß wann, der „Schiedsspruch der Geschichte“ (Gadamer) erweisen.

Literatur Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius Beck, Ulrich (2008): Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotenzial der Religionen. Frank- furt a.M.: Leipzig: Verlag der Weltreligionen Berger, Peter L. (1980): Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Frank- furt a.M.: S. Fischer Berger, Peter L./Luckmann, 7homas (1966/1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklich- keit. Eine 7heorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: S. Fischer , insbesondere Kapitel II Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1967): Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung. In: ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 42-64 Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1978): Der Staat als sittlicher Staat. Berlin: Duncker und Humblot Bonaventura(1805/1970): Nachtwachen. Paulsen, Wolfgang (Hrsg.). Stuttgart: Reclam Bonhoeffer, Dietrich (1997): Widerstand und Ergebung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Dawkins, Richard (2006): 7he God Delusion. Boston: Houghton MiÀin Gutzen, Dieter (1991): ,Und ich sah den Himmel aufgetan […]‘ (Offb. 1 9, 1 1). Zur Poesie der Of- fenbarung des Johannes. In: Kaiser, Gerhard R. (Hrsg.): Poesie der Apokalypse. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 33-61 Luckmann, 7homas (1991): Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Kant, Immanuel (1798/1971): Der Streit der Fakultäten. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in zehn Bänden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 265-393 Kant, Immanuel (1788/1968): Kritik der praktischen Vernunft. In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in zehn Bänden. Bd. 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Kierkegaard, Søren (1844/1960): Der Begriff Angst. Übersetzt und kommentiert von Richter, Lise- lotte. Hamburg: Rowohlt Krech, Volkhard (2011): Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz der Religion in der modernen Ge- sellschaft. Bielefeld: transcript 304 Hans-Georg Soeffner

Matter, Christine (2007): „New World Horizon“. Religion, Moderne und amerikanische Individu- alität. Bielefeld: transcript Knoblauch, Hubert (1991): Vorwort. In: Luckmann, 7homas (Hrsg.): Die unsichtbare Religion., Frankfurt a.M.: Suhrkamp Otto, Rudolf (1917/1963): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Ver- hältnis zum Rationalen. München: Beck Paul, Jean (1795/1975): Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass es keinen Gott gibt. In: Paul, Jean (Hrsg.): Siebenkäs, Werke in zwölf Bänden. Bd. 3. Wien: Hanser, S. 270-275 Plessner, Helmuth (1929/1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin/New York: de Gruyter Plessner, Helmuth (1935, 1959/1982): Die verspätete Nation. Gesammelte Schriften. Bd. V. Frank- furt a.M.: Suhrkamp Python, Monty (1983): 7he Meaning of Life. Deutsch: Der Sinn des Lebens. Spiel¿lm Seznec, Jean (1990): Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische 7radition im Humanis- mus und in der Kunst der Renaissance. München: Fink Simmel, Georg (1912): Die Religion. Frankfurt a.M.: Rütten & Loening Soeffner, Hans-Georg (2000): Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskons- truktionen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft Soeffner, Hans-Georg (2000): Die Kritik der soziologischen Vernunft. In: SOZIOLOGIE, 38, 1, S. 60-71 Soeffner, Hans-Georg (2010): Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft Soeffner, Hans-Georg (2011): Die Zukunft der Soziologie. In: SOZIOLOGIE, 40, 2, S. 137-150. Starobinski, Jean (1990): 1789. Die Embleme der Vernunft. München: Schöningh Weber, Max (1973): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7übin- gen: Mohr-Siebeck, S. 146-214 Weber, Max (1973): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Wissenschaft als Beruf. 7übin- gen: Mohr-Siebeck Angaben zu den Autoren Angaben zu den Autoren

Peter A. Berger, Prof. Dr., geb. 1955, Professor für Allgemeine Soziologie – Mak- rosoziologie an der Universität Rostock; Sprecher der Sektion „Soziale Ungleich- heit und Strukturanalyse“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; Mitglied im Vorstand des Departments „Wissen – Kultur – 7ransformation“ der Interdisziplinären Fakul- tät der Universität Rostock. Korrespondenzadresse: Institut für Soziologie und Demographie, Universität Rostock, Ulmenstra- ße 69, 18057 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Sozialer Wandel, Modernisierung, Soziale Un- gleichheit, Lebenslauf- und Mobilitätsforschung. Veröffentlichungen u. a.: Soziale Ungleichheit. Klassische 7exte zur Sozialstrukturanalyse (hrsg. zus. mit H. Solga und J. Powell), Frankfurt/New York 2009; Individualisierungen. Ein Vierteljahrhun- dert „jenseits von Stand und Klasse“? (hrsg. mit R. Hitzler), Wiesbaden 2010; Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte (hrsg. zus. mit N. Burzan), Wiesbaden 2010; Reproduktion von Ungleich- heit durch Arbeit und Familie (hrsg. zus. mit K. Hank und A. 7ölke), Wiesbaden 2011.

Peter Dehne, Prof. Dr., geb. 1959, Professor für Planungsrecht/Baurecht an der HS Neubrandenburg Mitglied in der Akademie für Raumforschung und Landes- planung; Leiter der Landesarbeitsgemeinschaft Berlin/Brandenburg/Mecklen- burg-Vorpommern der ARL; Mitglied des Instituts für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung (IUGR) e.V. Korrespondenzadresse: Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich LGGB, Postfach 11 01 21, 17041 Neubrandenburg ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Planungsrecht/Baurecht, Landschaftsarchitektur und Umweltplanung, Naturschutz und Landnutzungsplanung, Landschaftsarchitektur. Veröffentlichungen u. a.: Politik für periphere, Iändliche Regionen. Für eine eigenständige und selbst- verantwortliche Regionalentwicklung. In FuB Flächenmanagement und Bodenordnung, Jg.: 71, Nr.2 2009, S. 49-55; Gemeinden in peripheren, ländlichen Räumen – empirische Untersuchungsergeb- nisse aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und der Wojewodschaft Zachodniopomorskie (Westpommern), (hrsg. mit 7h. Elkeles), Neubrandenburg 2009; Demogra¿sche Entwicklung und Landnutzung (zus. mit H. Behrens und J. Hoffmann). In: Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsfor- schung (ZALF) e.V. (Hrsg.): Nachhaltiges Landmanagement. Diskussionspapier Nr. 3, Müncheberg

P. A. Berger et al. (Hrsg.), Religionshybride, DOI 10.1007/978-3-531-19578-0, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 306 Angaben zu den Autoren

2012; Ein Umbau der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen ist notwendig. In: Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (Hrsg.): Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen unter Druck. Wie reagieren auf den demogra¿schen Wandel?, Bonn 2013.

Winfried Gebhardt, Prof. Dr., geb. 1954, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau; Mitglied der Deutschen Gesellschaft für So- ziologie; Mitglied der Sektion Soziologische 7heorie; Mitglied im Vorstand der Sektion Religionssoziologie; Mitglied im Vorstand der Sektion Kultursoziologie; Mitglied der Görres-Gesellschaft Sektion Soziologie. Korrespondenzadresse: Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Institut für Soziologie, Post- fach 20 16 02, 56016 Koblenz ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Religionssoziologie, Kultursoziologie, soziolo- gische 7heorie. Veröffentlichungen u. a.: Pilgerfahrt ins Ich. Die Bayreuther Richard Wagner-Festspiele und ihr Pub- likum. Eine kultursoziologische Studie (Band 5 der von Michael N. Ebertz herausgegebenen Studien zur materialen Religions- und Kultursoziologie „Passagen und 7ranszendenzen“), Konstanz 1998; Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation (Band 12 der von Win- fried Gebhardt, Ronald Hitzler und Franz Liebl herausgegebenen Reihe ‚Erlebniswelten‘), Wiesba- den 2007; Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur (Band 3 der von Christoph Bochinger und Jörg Rüpke herausgege- benen Reihe ‚Religionswissenschaft heute‘), Stuttgart 2009; Die 7ransformation des Religiösen. Re- ligionssoziologie in der 7radition Max Webers. In: Bienfait, Agathe (Hrsg.): Religionen verstehen. Zur Aktualität von Max Webers Religionssoziologie, Wiesbaden 2011, S. 177-196.

Klaus Hock, Prof. Dr., geb. 1955, Professor für Religionsgeschichte – Religion und Gesellschaft an der Universität Rostock; Mitglied (u. a.) der African Associ- ation for the Study of Religion; Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Missi- onswissenschaft; Mitglied der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft und der Fachgruppe „Religionswissenschaft und Interkulturelle 7heologie“ in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für 7heologie; Sprecher (2010-13) und Vizespre- cher (2006-10 sowie seit 4/2013) des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“ an der Universität Rostock. Korrespondenzadresse: Religionsgeschichte – Religion und Gesellschaft, 7heologische Fakultät, Universität Rostock, 18051 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Islam und christlich-islamische Beziehungen, Religionen in Afrika – af- rikanische Religionen, 7ranskulturation. Veröffentlichungen u. a.: Christianity in Africa and the African Diaspora: 7he Appropriation of a Scattered Heritage, (hrsg. zus. mit A. Adogame und R. Gerloff), London/New York 2008; Ein- führung in die Religionswissenschaft, Darmstadt, 4. AuÀ. 2011; Einführung in die Interkulturelle 7heologie, Darmstadt 2011; Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch gepräg- Angaben zu den Autoren 307 ter Länder (7eil 3: Jonathan Kriener und Wolfram Reiss: Libanon und Jordanien), (hrsg. zus. mit J. Lähnemann und W. Reiss), (Pädagogische Beiträge zur Kulturbegegnung, Bd. 27), Berlin 2012.

Thomas Käckenmeister, geb. 1981, Soziologe, M.A., wissenschaftlicher Mitar- beiter im DFG-Projekt „Religionshybride – Kirchbauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern“ an der Univer- sität Rostock. Korrespondenzadresse: Universität Rostock, DFG-Projekt „Religionshybride“, Ulmenstr. 69, 18057 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Netzwerksoziologie, Qualitative und Quantitative Methoden der Empirischen Sozialforschung. Veröffentlichungen u. a.: Machtkonstruktion eines Schiedsrichters im Sport am Beispiel Basketball erklärt anhand des symbolischen Interaktionismus (Bachelorarbeit), München 2008; Kulturkreati- ve im ländlichen Raum – (Paradoxe) Formen posttraditionaler Milieus auf dem Lande? (zus. mit P. Berger und M. Schröder). In: Zeitschrift für 7heoretische Soziologie, 2013.

Reiner Keller, Prof. Dr., geb. 1962, Professor für Allgemeine Soziologie und Wis- senssoziologie an der Universität Augsburg; Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; Vorsitzender der DGS Sektion Wissenssoziologie; Mitglied der Association Internationale des Sociologues de Langue Française; Mitglied der International Sociological Association. Korrespondenzadresse: Universität Augsburg, PhilSo-Fakultät, Lehrstuhl für Soziologie, Postfach 86135 Augsburg ( [email protected]). Forschungsschwerpunkte: Soziologische 7heorie und Gesellschaftsdiagnose, Wissens- und Kultur- soziologie, Diskurstheorie und -analyse, Soziologie gesellschaftlicher Naturverhältnisse, Tualitative Sozialforschung, französische Soziologie. Veröffentlichungen u. a.: Doing Discourse Research. An Introduction for Social Scientists, London 2012; Situationsanalyse. Grounded 7heory nach dem Postmodern 7urn (hsrg. mit A. Clark), Wies- baden 2012; 7he Sociology of Knowledge Approach to Discourse, New York 2012; Das Interpreta- tive Paradigma, Wiesbaden 2012.

Babette Kirchner, geb. 1983, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der 7echnischen Universität Dortmund. Korrespondenzadresse: 7echnische Universität Dortmund, Fakultät 12, LS für Allgemeine Soziolo- gie, Emil-Figge-Straße 50, 44221 Dortmund ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Jugendsoziologie, Soziologie der Geschlechter, Eventforschung, Szeneeth- nographie, posttraditionale Vergemeinschaftungen, Wissenschaftsforschung. Veröffentlichungen u. a.: Das Beispiel Loveparade. Zur Selbstverständlichkeit und Verselbständi- gung eines urbanen Events (zus. mit R. Hitzler und G. Betz). In: Betz, Gregor/Hitzler, Ronald/Pfa- 308 Angaben zu den Autoren denhauer, Michaela (Hrsg.): Urbane Events, Wiesbaden 2011, 261-278; Eventgemeinschaften. Das Fusion Festival und seine Besucher, Wiesbaden 2011; Über die kunstvolle Erzeugung von Eventge- meinschaften. 7echniken der ‚Fusion‘ von Festivalbesuchern. In: Eisewicht, Paul/Grenz, 7ilo/Pfa- denhauer, Michaela (Hrsg.): 7echniken der Zugehörigkeit, Karlsruhe 2012, S. 57-67; Event-Kon- zepte. Juvenile Inszenierungen zwischen Integration und Distinktion (zus. mit R. Hitzler und J. Pahl). In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft Ästhetische Bildung, Heft 16, 2013.

Thomas Klie, Prof. Dr., geb. 1956, Professor für Praktische 7heologie an der Uni- versität Rostock; Mitglied der Liturgischen Konferenz; Sachverständiger und Mit- glied im Ausschuss „Öffentliche Liturgien“; Mitglied des Kuratoriums der Evan- gelischen Akademie Mecklenburg-Vorpommern; Vorsitzender des Beirats des Pädagogischen Kollegs Rostock. Korrespondenzadresse: Praktische 7heologie, 7heologische Fakultät, Palais. Schwaansche Str. 5, 18055 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Darstellung und Wahrnehmung kirchlicher Praxis (Pastoralästhetik), Un- tersuchungen zur spätmodernen Religionskultur und Religionshybridität (theol. Kulturhermeneutik), Formen zivilreligiöser und liturgischer Performanz (Spieltheorie), Sepulkralkultur. Veröffentlichungen u. a.: Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke. Praktische 7heo- logie Heute Bd. 104, Stuttgart 2010; Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung (hrsg. zus. mit B. Dressler und M. Kumlehn), Stuttgart 2012. Differenz-Kompetenz. Religiö- se Bildung in der Zeit (hrsg. zus. mit D. Korsch, U. Wagner-Rau), Leipzig 2012; Performative Religi- onsdidaktik und biblische 7extwelten (hrsg. zus. mit R. Merkel und D. Peter), Rehberg-Loccum 2012.

Hubert Knoblauch, Prof. Dr., geb. 1959, Professor für Allgemeine Soziologie an der 7echnischen Universität Berlin; Mitglied im Fachkollegium Soziologie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2004-2012); Sprecher des Research Network Sociology of Culture in der European Sociological Association. Korrespondenzadresse: 7echnische Universität Berlin, Institut für Soziologie, Sekretariat FR 2-5, Franklinstr. 28/29, 10587 Berlin ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Emotionalisierung der Religion, Allgemeine Soziologie, v. a. 7heorie moderner Gesellschaften, Wissens- und Kultursoziologie, Sprache, Interaktion und Kommuni- kation, Religion in der Gegenwartsgesellschaft, Qualitative Methoden der empirischen Sozialfor- schung, Visuelle Soziologie. Veröffentlichungen u. a.: Der 7od, der tote Körper und die klinische Sektion (hrsg. zus. mit A. Esser, D. Gross, B. 7ag und A. Kahl), Berlin 2010; Kommunikativer Konstruktivismus. 7heoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz (hrsg. zus. mit R. Keller und J. Reichertz), Wiesbaden 2012; Begegnungen mit dem Jenseits. Die Botschaft der Nahtodberichte, Freiburg 2012 (NeuauÀage von 1999(b) mit einem neuen Vorwort versehen); Powerpoint, Commu- nication, and the Knowledge Society, Cambridge 2012. Angaben zu den Autoren 309

Iris Kunze, Dr., geb. 1976, Post-doc-Projektassistentin an der Universität für Bo- denkultur in Wien; Vorstandsmitglied des interdisziplinären „Instituts für inte- grale Studien“ (IFIS) Freiburg; Mitinitiatorin der 7ransition-7own-Gruppe im Umweltforum Münster; Mitglied in der Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie. Korrespondenzadresse: Universität für Bodenkultur, dokNE am Institut für Landschaftsentwick- lung, Peter-Jordan-Straße 82, A – 1190 Wien ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: integrative Nachhaltigkeitsforschung, sozialökologische Gemeinschafts- forschung, Ökodörfer, community building, soziale Innovationen, sozial-ökologische 7ransforma- tion, spirituelle Entwicklung, integrale 7heorie, kollektive Intelligenz. Veröffentlichungen u.a: Soziale Innovationen für zukunftsfähige Lebensweisen. Gemeinschaften und Ökodörfer als experimentierende Lernfelder für sozial-ökologische Nachhaltigkeit (Dissertati- on, Münster 2009; Gemeinschaften als Experimente nachhaltiger Ökonomie. In: Fein, Elke (Hrsg.): Wirtschaft in der Zeitenwende, 2010, S. 86-95, Online-Veröffentlichung (http://www.i¿s-freiburg. de/); 7ransnationale Vergemeinschaftungen: Interkulturelle Formen der sozial-ökologischen Ge- meinschaftsbildung als Globalisierung von unten? (hrsg. zus. mit M. Grundmann). In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): 7ransnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt 2010, Frankfurt 2012; Social Innovations for Communal and Ecological Living. Lessons from Sustainability Research and Observations in Intentional Communities. In: Communal Societies, 32 (1), 2012, p. 50-67.

Arnaud Liszka, Dr., geb. 1971, Religionswissenschaftler; Wissenschaftlicher Mit- arbeiter im DFG-Projekt „Religionshybride – Kirchbauvereine, Gutshausverei- ne und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern“ an der Uni- versität Rostock. Korrespondenzadresse: Universität Rostock, DFG-Projekt „Religionshybride“, Ulmenstr. 69, 18057 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Religionswissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Die Lausitzbotin. Das Jahr 1989 in der sächsischen Provinz im Spiegel einer Zittauer Oppositionszeitschrift, Bautzen 1999; Versuche, in der Wahrheit zu leben. Widerständiges Leben in der Oberlausitz 1978 – 1989, Begleitdokumentation zur Wanderausstellung, Görlitz 2000; Versuche, in der Wahrheit zu leben. DDR Südost – Nichtanpassung und Opposition in der Oberlau- sitz. Interviews, Dresden 2009; B.304 Französische Geistliche in einem Rostocker Kriegsgefangenen- lager – eine Chronik 1941-1945, Schriftenreihe des Archivs der Hansestadt Rostock, Rostock 2003.

Dorothea Lüddeckens, Prof. Dr., geb. 1966, Außerordentliche Professorin für Religionswissenschaft mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Univer- sität Zürich. Korrespondenzadresse: Religionswissenschaftliches Seminar, Kirchgasse 9, CH-8001 Zürich (do- [email protected]). 310 Angaben zu den Autoren

Forschungsschwerpunkte: Erforschung religiöser Gegenwartskulturen, Ritual Studies, Systemati- sche Religionswissenschaft, Qualitative Religionsforschung, Parsismus. Veröffentlichungen u.a.: One happy family – zur 7ranszendierung von Gemeinschaft in 7odesritu- alen. In: Bigger, Andreas/Krajnc, Rita/Mertens, Annemarie/Schüpbach, Markus (Hrsg): Release from Life – Release in Life: Indian Perspectives on Individual Liberation (Welten Süd- und Zen- tralasiens/Worlds of South and Inner Asia/Mondes De L´asie Du Sud Et De L´asie Centrale) 2010, 111-128; Fluide Religion? Neue religiöse Gemeinschaften im Wandel (hrsg. zus. mit R. Walthert), Zürich 2010; Bruch und Kontinuität. Die Bedeutung der Todesrituale bei den Parsen im Bombay. University of Zurich, Faculty of 7heology 2007 (Habilitationsschrift in Vorbereitung zur Publika- tion 2011); Days of 7ransition. 7he Parsi Death Rituals (hrsg. zus. mit R. Karanjia), Göttingen 2011.

Yvonne Niekrenz, Dr., geb. 1980, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologische 7heorien und 7heoriegeschichte am Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock; Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; Mitglied der Sektion Soziologie des Körpers und des Sports (in der DGS); Mitglied des Zentrums für Kindheits- und Jugendforschung (ZKJF) Univer- sität Bielefeld, Fakultät für Pädagogik; Mitglied des Research Network „Sociology of Emotions“ (ESA); gewählte Vertreterin der wiss. MitarbeiterInnen des Rates der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock. Korrespondenzadresse: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Institut für Soziologie und Demographie, Ulmenstraße 69, 18057 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, Gegenwartsdiagnosen sozialer Beziehungen, Soziolo- gie des Körpers, Soziologie des Jugendalters. Veröffentlichungen u. a.: Einsteigerhandbuch Hochschullehre. Aus der Praxis für die Praxis. 2., durch- gesehene AuÀ. (hrsg. zus. mit K. Johansen et al.), Darmstadt 2010; Rauschhafte Vergemeinschaf- tungen. Eine Studie zum rheinischen Straßenkarneval (Reihe „Erlebniswelten“), Wiesbaden 2011; Jugend und Körper. Leibliche Erfahrungswelten (hrsg. zus. mit M. D. Witte), Weinheim/München 2011; Jugend und Rausch. Interdisziplinäre Zugänge zu jugendlichen Erfahrungswelten (hrsg. zus. mit S. Ganguin), Weinheim/München 2012.

Marlen Schröder, Soziologin M.A., geb. 1977, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Religionshybride – Kirchbauvereine, Gutshausvereine und al- ternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern“ an der Universität Ros- tock; Mitglied der Sektion „Land- und Agrarsoziologie“ in der Deutschen Ge- sellschaft für Soziologie. Korrespondenzadresse: Universität Rostock, DFG-Projekt „Religionshybride“, Ulmenstr. 69, 18057 Rostock ([email protected]). Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Land- und Agrarsoziologie, Bürgerschaftliches En- gagement, Sozialstruktur und Sozialer Wandel. Angaben zu den Autoren 311

Veröffentlichungen u. a.: Daseinsvorsorge im peripheren ländlichen Raum am Beispiel der Gemein- de Galenbeck (zus. mit C. Neu), hrsg. vom Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und Verbrau- cherschutz Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 2007; 7agungsbereicht Forum Ländlicher Raum: Lösungsstrategien für die zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge – Das Beispiel Galenbeck (zus. mit D. Holtermann). In: Buchsteiner, Martin/Viereck, Gunther (Hrsg.): 7hünen-Jahrbuch, Bd. 3, Rostock 2008; Wohnortnahe Grundversorgung und Bürgerpartizipation – ein Praxisbeispiel aus Mecklenburg-Vorpommern (zus. mit C. Neu), hrsg. vom Ministerium für Landwirtschaft, Um- welt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 2009; Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst: Innovative Wege zur Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements in entlegenen länd- lichen Räumen, Berlin 2013; Kulturkreative im ländlichen Raum – (Paradoxe) Formen posttraditi- onaler Milieus auf dem Lande? (zus. mit P. Berger und 7h. Käckenmeister). In: Zeitschrift für 7he- oretische Soziologie 2013.

Sebastian Schüler, Prof. Dr., geb. 1976, Juniorprofessor für empirische Religions- wissenschaft an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald. Korrespondenzadresse: Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, 7heologi- sche Fakultät, Am Rubenowplatz 2-3, 17487 Greifswald (sebastian.schueler@ uni-greifswald.de). Forschungsschwerpunkte: Methoden und 7heorien der Religionswissenschaft, Evangelikales und Charismatisches Christentum, alternative Spiritualität, Religion und Kognition, Religion und Evo- lution, Religion und Körper, Religionsästhetik. Veröffentlichungen u. a.: Agency and the Senses in the Context of Museality from the Perspective of Aesthetics of Religion (zus. mit E.-M. Guggenmoos und I. Laack). In: Journal of Religion in Eu- rope, 4(1), 2011, 102-133; Synchronized Ritual Behavior: Religion, Cognition and the Dynamics of Embodiment. In: Cave, David/Sachs Norris, Rebecca (Hrsg.): 7he Body and Religion: Modern Sci- ence and the Construction of Religious Meaning, Leiden 2012; Religion, Kognition, Evolution: Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion, Stuttgart 2012; Religiöse Netzwerkbildung. In: Stadtland, Helke/Mittag, Jürgen (Hrsg.): 7heoretische Ansät- ze und Konzepte der Sozialen Bewegungs-Forschung in den Geschichtswissenschaften, Essen 2013.

Hans-Georg Soeffner, Prof. em. Dr., geb. 1939, Professor für Allgemeine Soziolo- gie an der Universität Konstanz, 2007 bis 2011 Vorsitzender der Deutschen Gesell- schaft für Soziologie; bis 2008 Vorsitz im Beirat Wissenschaft und Zeitgeschichte des Goethe-Instituts; Mitglied des Vorstandes und Fellow im KWI Essen; Senior Fellow am DFG 212 Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“. Korrespondenzadresse: Kulturwissenschaftliches Institut, Goethestraße 31, 45128 Essen (hans-ge- [email protected]). Forschungsschwerpunkte: Alltagskulturen, Soziologische 7heorie, Wissens-, Kultur-, Medien- und Religionssoziologie, Methodologie wissenssoziologischer Hermeneutik und insbesondere die Her- meneutische Wissenssoziologie und deren Begründer. 312 Angaben zu den Autoren

Veröffentlichungen u. a.: Symbolische Präsenz: unmittelbare Vermittlung – zur Wirkung von Sym- bolen. In: Staudigl, Michael (Hrsg.): Alfred Schütz und die Hermeneutik, Konstanz 2010, S. 141– 158; Lust zur Nicht-Lust. Erlösung vom Innerweltlichen und innerweltliche Erlösung – 7ransforma- tionen der Askese. In: Röcke, Werner/Weitbrecht, Julia (Hrsg.): Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, erschienen in der Reihe „7ransformationen der Antike“, Berlin/New York 2010, S. 19–32; Konsens¿ktionen, Akteure, Herrschaft. Wissenssoziologische Perspektiven. In: Frei, Norbert/Schanetzky, 7im (Hrsg.): Unternehmen im Nationalsozialismus, Göttingen 2010, S. 182-186; Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, Frankfurt a.M. 2010.