„Die Lupe“ – eine Hagener Schülerzeitung HagenGeschichte mit Kultstatus von Rolf Esser

„die lupe“ war in den 1960er Jahren die Schülerzeitung des damaligen Städtischen Gymnasiums (heute Fichte-Gymnasium) und des Theodor- Heuss-Gymnasiums und besaß Kultstatus. Sie zeichnete sich aus durch eine kritische und kontroverse Themenwahl, durch ausgeprägte Ernsthaftigkeit und abgedrehten Humor und durch ein für damalige Verhältnisse zunehmend modernes Layout. Der Verfasser dieser Zeilen war aktives Redaktionsmitglied von 1964 bis 1968.

Geschichtlicher Zusammenhang „die lupe“ erreichte ihren inhaltlichen und gestalte- rischen Höhepunkt zu einer Zeit, als es gesamtgesell- schaftliche „Höhepunkte“ ganz anderer Art gab. Das Jahr 1968, nach dem eine ganze Generation benannt wurde, war in vielen Ländern geprägt von linksgerichteten Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen. In den USA standen Proteste gegen den Vietnamkrieg auf der Tagesordnung. Auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung meldete sich nachdrücklich zu Wort. Ihr Wortführer Martin Luther King wurde in diesem Jahr ermordet. In Frankreich kam es unter Verbrüderung von Studenten und Arbeitern zu den Mai-Unruhen, die zu einem wochenlangen Generalstreik führten, der das ganze Land lahmlegte. Kulturelle, politische und ökonomische

Reformen in Frankreich waren die Folge. In der CSSR^ leitete das Jahr 1968 den Prager Frühling ein, in Polen kam es zu den März-Unruhen, es gab Studentenproteste in Mexiko und in Japan die Proteste von Zengakuren.

Bei uns erreichte 1968 die Studentenbewegung der 1960er Jahre eine neue Dimension. Das war eine vielschichtige politische Bewegung, die die „herrschenden Verhältnisse“ in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre radikal kritisierte und bekämpfte. Insbesondere wandte sich die studentische Jugend gegen die „Generation der Täter“ der faschistischen

1 Diktatur, die weiterhin unverhohlen Machtpositionen in Politik und Wirtschaft einnahm. Ein weiteres Thema war die Überwindung der „prüde- bigotten“ Sexualmoral der 50er Jahre. Treibende Kraft der Studentenbewegung in der Bundesrepublik war der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der den Kern der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO, bildete. Ausgehend von der Forderung nach Hochschulreformen wurde daraus schnell ein allgemeiner Kampf für gesellschaftliche Veränderungen. Das allgegenwärtige Motto für diesen Kampf: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Das war der Text eines Transparents, das am 9. November 1967 von damaligen Hamburger Studenten bei der Rektoratsübergabe in der Öffentlichkeit enthüllt wurde. Die Ziele der APO waren vielfältig. Es ging gegen die 1966 gebildete Große Koalition aus CDU/CSU und SPD, es ging gegen die Notstandgesetzgebung, es ging gegen die Konzentration im Pressewesen. Im Fokus der APO stand dabei immer die Springer-Presse („Enteignet Springer!“). Die Forderung gewann an Nachdruck infolge des 2. Juni 1967, als in West-Berlin eine Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien von der Polizei mit brutalen Mitteln aufgelöst wurde, u.a. mit Unterstützung der sogenannten „Jubel-Perser“. Im Laufe dieser Aktion wurde der Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen, der in einem späteren Prozess freigesprochen wurde. Der Großteil der Berliner Presse, insbesondere aber die Publikationen des Springer-Verlags, interpretierte die Ereignisse des 2. Juni zunächst als skandalöse Ausschreitungen der Studenten, die die Polizei korrekt beendet habe. Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Tod Ohnesorgs jedoch sorgten für eine Radikalisierung der Studentenbewegung. Eine weitere Verschärfung der Situation bewirkte der Anschlag auf die Symbolfigur der APO, Rudi Dutschke, am Gründonnerstag, dem 11. April 1968. Dutschke überlebte schwer verletzt. Die folgenden Ostertage sahen „Straßenschlachten, wie es sie Westdeutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr gekannt hatte“ (Der Spiegel).

Die „Gewaltfrage“ wurde zentrales Diskussionsthema der APO. War jedes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele legitim? Welcher Gewalt war man selbst, war die Bevölkerung insgesamt eigentlich ausgesetzt? Gewalt „von oben“ wurde nicht nur als von Polizeiknüppeln ausgehend definiert, sondern auch eine parteiische Presse wurde als Gewaltinstrument angesehen. Diese Gewaltfrage führte schließlich auch zur Zersplitterung der APO, einhergehend mit einer Radikalisierung ab 1969. Mit Bildung der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) ging es nicht mehr gegen eine Regierung, es ging gegen das System an sich. Es blieb für die Außerparlamentarische Opposition quasi nur der Begriff „Revolution“ übrig, den Begriff „Reform“ hatte ihnen Willy Brandt

2 weggenommen. Die Folgen sind bekannt: Der radikale Spruch „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ wurde erstmals zum ernsthaften Motto erhoben. Eine radikale Minderheit machte sich bereit, alle Brücken abzubrechen und in die Illegalität bis hin zum Terrorismus zu gehen, was in schrecklicher Konsequenz zu Bader/Meinhof und RAF führte.

„die lupe“ in ihrer Zeit Angesichts dieser Zeitströmungen entwickelte sich „die lupe“ als eine Schülerzeitung, die ganz im Geiste der 68er-Generation publizierte: kritisch, vielfältig, innovativ und zunehmend politisch. Diese Einstellung spiegelte sich in den Ausgaben von 1967 und 1968 in besonderem Maße. Das war nicht ganz selbstverständlich, weil das damalige Theodor-Heuss-Gymnasium einerseits ein recht behüteter Ort war, andererseits aber durchaus noch autoritäre bis reaktionäre Kräfte im Lehrerkollegium wirkten. Zwar fand in NRW das Landespressegesetz auch für Schülerzeitungen Anwendung, die Schulwirklichkeit sah anders aus. Schülerredakteure fanden oftmals ihre Grenzen an der Weisungsbefugnis der Schulleiter, die glaubten, diese auch auf Schülerzeitungsinhalte anwenden zu können. Der verlängerte Arm der Schulleitung manifestierte sich an vielen Schulen in Gestalt der Protektoren, der Beratungslehrer, die direkt oder indirekt Zensur ausübten. So sah sich „die lupe“ in der Ausgabe 40 vom Juni 1967 veranlasst, einen Brief der Landesjugendpresse an den Ministerpräsidenten abzudrucken. Dort hieß es: „Leider existieren in Nordrhein-Westfalen noch keine Bestimmungen, die diese demokratische Mitverantwortung der Jugendlichen auch im Bereich der Schule ermöglichen. Die Landesversammlung der Landesjugendpresse NRW bittet Sie daher, sich dafür einzusetzen, dass den Schülerredakteuren künftig größere Entfaltung und die Möglichkeit gegeben werde, die für ihre Aufgabenerfüllung nötige Selbstverantwortung in geeigneter Weise zu tragen. Die Landesversammlung erachtet eine demokratische verantwortungsbewusste Tätigkeit der Schülerzeitungen in weitgehender Freiheit als eine der Grundvoraussetzungen für die Entfaltung staatsbürgerlichen Bewusstseins in der Jugend.“

Nun war die Lage für Schülerzeitungs-Redakteure am Städtischen Gymnasium und am THG glücklicherweise etwas anders. Es gab kritische Lehrer, die grundsätzlich immer anderer Meinung als das übrige Kollegium waren. Und es gab Beratungslehrer (Protektoren), die den Redakteuren den Rücken freihielten. Dazu später mehr.

Redaktionsarbeit Richtig aktiv in der Redaktion wurde ich erst nach dem Wechsel zum THG. Zur Erinnerung: Aufgrund der Raumnot am Städtischen Gymnasium wurde das Theodor-Heuss-Gymnasium am Höing gebaut und als mathematisch- naturwissenschaftlich orientierte Schule eigenständig weitergeführt. Alle Schüler, die diese Fachrichtung wünschten, besuchten ab 1965 das THG.

3 Mich interessierte in erster Linie die grafische Gestaltung der Lupe, obwohl ich später auch den ein oder anderen Artikel beigesteuert habe. Wirklich komfortabel war die Arbeit der Redaktion aufgrund der beengten Räumlichkeiten am Städtischen Gymnasium an der Bergstraße nicht. Einen eigenen Redaktionsraum hatte die Lupe-Redaktion dort erst ab 1964, indem mit Unterstützung des Hausmeisters ein ehemaliger Putzfrauenraum umfunktioniert wurde. In meiner Erinnerung war dieser Raum eher ein Notbehelf. Anders am THG. Sofort nach dem Umzug konnte die THG-Redaktion einen eigenen Redaktionsraum beziehen. Dieser lag zwar im Keller, aber auch dort hatte das Gebäude große Fenster und der Raum war freundlich und vergleichsweise geräumig. Komfortables Arbeiten war hier also möglich. Somit fanden im Gegensatz zu früher nun permanent Redaktionssitzungen statt. Kaum eine Pause, in der nicht heftig um die Gestaltung der nächsten Ausgabe gerungen wurde. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals Themenmangel gegeben hätte. Nachdem man beschlossen hatte, die Lupe als gemeinschaftliche Schülerzeitung beider Gymnasien weiterzuführen, wurde in beiden Schulen eine Teilre- daktion etabliert. Es gab einen Chefredakteur und zwei Schriftführer(innen). Es gab nun auch zwei Protektoren. Am (damals noch) Städtischen Gymnasium war es Studienrat G. Sauerbier, am THG Oberstudienrat E. Neudeck. Herr Neudeck, seines Zeichens Mathelehrer, war auch mein Klassenlehrer, sodass ich trotz meiner mathematischen Schwächen einen gewissen Freibrief für meine künstlerischen Bemühungen hatte. Günter Sauerbier wurde später, als ich selbst Lehrer war, mein Kollege, während ich meinerseits nun Beratungslehrer der Schülerzeitung an meiner Schule wurde. „die lupe“ erschien im Prinzip zweimal im Jahr – vor den Sommerferien und vor Weihnachten. Allerdings konnte diese Regel nur selten eingehalten werden, sei es, dass nicht genügend Beiträge vorlagen, sei es, dass die Finanzen noch nicht stimmten. Denn wichtig war vor allem die Finanzierung, da „die lupe“ kostenlos abgegeben wurde. Für eine regelmäßige Auflage von bis zu 1700 Exemplaren mussten rund 2000 DM und mehr lockergemacht werden. Für Gymnasiasten war es nicht unbedingt schwer, die entsprechenden Werbeanzeigen bei den etablierten Hagener Firmen einzutreiben. Aber mitunter hakte es doch. In schöner Regelmäßigkeit wurde in der Redaktion darüber diskutiert, ob man die Schülerzeitung auch weiterhin kostenlos abgeben sollte. Die konstruktive Redaktionsarbeit führte zu recht anspruchsvollen The- menstellungen, die durchaus kontrovers diskutiert wurden. Bemerkenswert

4 Illustration zu einem Interview mit der Tanzschule Siebenhüner. dabei war, dass unsere Arbeit durchaus von Pressefreiheit geprägt war, für Schülerzeitungen jener Jahre nicht unbedingt selbstverständlich (siehe oben). Unsere Protektoren unterstützten uns darin nach Kräften. Parallel zum redaktionellen Freiraum habe ich mich um eine entsprechende grafische Gestaltung bemüht, die nun allein in meinen Händen lag. Dazu wurden Vorgaben gemacht, die von den Redakteuren erfüllt werden mussten.

Wenn heute Schülerredakteure einen Text schreiben, dann geschieht dies an einem PC mit Hilfe einer Textverarbeitung, das Layout wird mit einem DTP-Programm angelegt. Über die Formatierung des Textes (linsbündig, rechtsbündig, Blocksatz) muss man keinen Gedanken verschwenden. Überschriften in jedweder Schriftart sind schnell gesetzt. Betrachtet man im Vergleich dazu unsere damalige Arbeitsweise, so waren wir quasi in der Steinzeit der Textverarbeitung. Und dennoch setzten wir Maßstäbe. So war eine der grafischen Vorgaben der Blocksatz der Texte. Mit der Schreibmaschine war das eine mühsame Angelegenheit. Denn der Redakteur musste jede Zeile entsprechend der Vorgabe (x Zeichen pro Zeile) auszählen. Nicht immer ging das auf und entsprechend sehen die Texte nicht unbedingt sehr homogen aus. Die Qualität der Tipperei hing im Übrigen auch von der Qualität der vorhandenen Schreibmaschinen und der Farbbänder ab. Erst ab der Lupe 43 wirkt das Schriftbild professionell, weil man von der Druckerei eine IBM-Schreibmaschine ausleihen konnte und sich ein versierter Tipper fand.

5 Hervorstechende Überschriften und Illustrationen waren meine Aufgabe. Überschriften habe ich entweder per Hand gezeichnet, ausgeschnitten oder Buchstabe um Buchstabe mit „Letraset“ aufgerieben. Gelegentlich wurden auch Schablonen verwendet, wie sie bei technischen Zeichnern üblich sind. Illustrationen wurden entweder gezeichnet oder durch Collagierung von Ausschnitten aus Zeitschriften und Magazinen in einen neuen Zusammenhang gebracht. Wichtigste Hilfsmittel waren Schere, Uhu- Klebstoff und massenhaft TippEx und Deckweiß zwecks Fehlerkorrektur. So habe ich Seite um Seite zusammengeklebt. Im Vergleich zum modernen PC-gestützten Layout war das äußerst mühsam und sieht heute manchmal ein wenig hilflos aus. Damals jedoch war das Ergebnis im Bereich der Schülerzeitungen fast revolutionär. Jedenfalls habe ich damit mehr Zeit verbracht als mit jeder Art von Unterrichtsvorbereitung. Eine weitere Neuerung war die qualitative Verbesserung von Fotos und Abbildungen. Das führte zu einer sehr engen Zusammenarbeit mit einer kleinen Familiendruckerei, die im ehemaligen Bettermann-Komplex ansässig war. Dort wurde die Lupe gedruckt. So konnte man z.B. Graustufenvorlagen wie Fotos rastern, sodass sie auch nach dem Druck noch erkennbar waren. In älteren Lupen sah man oft nur mehr oder weniger schwarz-graue Flächen. Ferner wurden die Titelbilder nun verstärkt mehrfarbig gedruckt. Dazu musste ich die entsprechenden Farbauszüge – Farbe um Farbe auf Folie gezeichnet – selbst anfertigen. Ein Beispiel für den hohen Arbeitsaufwand ist der Titel Nr. 41, der übrigens auch durch die zusätzliche Farbe Rot farbigen Seitendruck aufweist. Ich bin oft in der Druckerei gewesen zwecks Absprache und habe mir auch die Arbeitsvorgänge angeschaut. Mir ist bis heutige schleierhaft, wie die Druckerei diesen Aufwand finanziell stemmen konnte. Die frühen Lupen zeichneten sich dadurch aus, dass sie gestalterisch wenig hergaben und oftmals als reine Textwüsten daherkamen. An Redakteuren mangelte es eigentlich nie, aber die Zunft der Grafiker war nur spärlich vertreten. So habe ich es – als ich für das Layout ver- antwortlich zeichnete – als meine Aufgabe angesehen, das Besondere der hervorragenden Artikel auch durch besondere Illustrationen hervorzuheben. Alles in allem führten die qualifizierte Redaktionsarbeit und das modernisierte Layout zu einer wachsenden Beliebtheit der Lupe unter der Schülerschaft der beiden Gymnasien. Am Ende gehörte die Lupe zu den besten Schülerzeitungen in NRW, gerade dann, als wir unser Abitur machten (1968). Ich habe sie nach der Schulzeit aus den Augen verloren. Allerdings kann man davon ausgehen, dass die Lupe zu irgendeinem Zeitpunkt im

6 redaktionellen Nirwana verschwunden ist. Im Impressum der Ausgabe Nr. 88 von 1998 wurde nämlich vermerkt, dass „die Wiederbelebung der Lupe“ ein Projekt des Literaturkurses II am Fichte-Gymnasium war. Inhaltlich konnte dieser Versuch kaum an die Ausgaben der späten 1960er Jahre heranreichen.

Die Themen

Politik Wie schon angedeutet, wurde „die lupe“ immer politischer. An Hagen war die Studentenbewegung nicht vorbeigegangen. Es kam ab 1967 immer öfter zu Protestveranstaltungen und Demos. Die Politisierung der Redakteure lag sicherlich aber auch an den aktuellen Erfahrungen, die sie in der Schule sammelten und die in krassem Gegensatz zu dem allgemeinen Aufbruch in Richtung mehr Freiheit, mehr Teilhabe, mehr Mitbestimmung standen. Das schulische Umfeld wurde insgesamt als eher repressiv wahrgenommen. Schon der Ansatz eines etwas längeren Haarschnitts führte zu einem regelrechten Mobbing seitens bestimmter Lehrer. Schnell wurde die Karte „Versetzung“ oder „Schulabschluss“ gezogen. Auch Ohrfeigen gehörten weiterhin zum normalen Erziehungsinstrumentarium. Selbst wenn man nicht unbedingt ein Linker war, zog es einen automatisch in eine „Anti“- Haltung. So habe ich 1968 als Klassensprecher einen kompletten Satz jener roten Mao-Bibeln bestellt, die dann im Geschichtsunterricht immer bereitgehalten wurden – weniger aus inhaltlicher Überzeugung als um des politisch provokanten Effektes willen. Denn Politik im eigentlichen Sinne kam zumindest am THG eigentlich nur im Unterricht eines einzigen Geschichtslehrers vor. Von der Nazizeit habe ich während meiner gesamten Gymnasialzeit kein Wort vernommen. Die wurde dann umso mehr in der „lupe“ verarbeitet. So gab es ab Ausgabe 39 eine Serie „Das III. Reich“, die dem schulischen Mangel an Aufarbeitung eine zusammenfassende inhaltliche Darstellung entgegenhielt. Auf aktuelle Politik ging „die lupe“ in Nr. 40 vom Juli 1967 ein. Unter der Überschrift „So sehen es die andern“ stellte der Beitrag anhand von Zeitungsausschnitten die skandalösen Vorgänge rund um den Schahbesuch in Berlin dar: der Bericht einer blutüberströmten Frau über ihre Erfahrungen mit dem Polizeieinsatz; die Darstellung der Provokationen der „Jubel- Perser“, die zu „Prügel-Persern“ wurden, in Wort und Bild. Andere Beiträge in dieser Ausgabe beschäftigten sich mit dem inhaltsleeren Ritual des 17. Juni („Tag der deutschen Gleichgültigkeit“), mit den pompösen Feierlichkeiten anlässlich des Todes von Konrad Adenauer („Der Deutschen Pharisäertum“) und mit dem unbelehrbaren Typus des Nationalzeitungs- Lesers („Nationalzeitungs-Leser wissen mehr“). In Nr. 44 war ein zentrales Thema die „Herabsetzung des Wahlalters“. Argumentiert wurde gegen das Vorurteil einer politisch desinteressierten Jugend, das in gleichem Maße sicher auch für Erwachsene gelten könne.

7 Schule Auch bei den Beiträgen, die Schulisches betreffen, ging es politischer zu. So beschäftigte sich in Nr. 39 ein Artikel nachhaltig mit der Frauenemanzipa- tion und übte harsche Kritik an SMV-Beschlüssen. Hatte doch eine Schülerin es gewagt, für das Amt der Schulsprecherin zu kan- didieren, worauf die versammelten Klassensprecher ein seltsames Wahlprozedere beschlossen: Im ersten Wahlgang (bei dem das Mädchen ausgeschlossen war) sollte der erste Schulsprecher gewählt werden und im zweiten Wahlgang (unter Mitwirkung des Mädchens) der zweite Schulsprecher. „Doch mit welcher Berechtigung“, fragte der Verfasser, „fällt man eine solche Entscheidung?“ Breiten Raum nahm die Diskussion über das Fach Religion in der „lupe“ ein. Unter der provozierenden Überschrift „Der schizophrene Christus ???“ zog man gegen die Aufteilung in katholisch und evangelisch in einem angeblich wissenschaftlichen Fach zu Felde. In Ausgabe 41 („Ja zu Gott – Nein zu Christus“) wurde die Thematik in analytischer Weise noch einmal aufgegriffen. Und in Nr. 42 stellte man die Frage: „Evangelisch, katholisch oder christlich?“ In derselben Ausgabe ging es in einem Beitrag um die „Schulpolitik in der DDR“.

Kultur Die neue „lupe“ der Endsechzi- ger war geprägt von gehobenen Berichten kultureller Art. In fast jeder Ausgabe gab es eine Buchvor- stellung, wobei die Auswahl nicht unbedingt unpolitisch war, etwa die Besprechung von „Das dritte Buch über Achim“ von Uwe Johnson. Nicht zuletzt lieferte „die lupe“ auch eine Buchsprechung der oben schon erwähnten Mao-Bibel, was aber eher als satirischer Beitrag zu verstehen war. Ein herausragendes Beispiel von kulturellem Journalismus war ein Interview mit Juliette Gréco, das ein Redakteur mit der Künstlerin in Paris führen konnte. Nicht weniger interessant: das Gespräch mit dem französischen Pater Père Cogagnac, der damals mit religiösen Chansons

8 bekannt wurde. Auch örtliche Kultur wurde bedacht. So lud der Hagener Künstler Carl Baumann Redakteure in sein Atelier ein und diskutierte mit ihnen über seine Werke.

Um auch den jugendlichen Zeitgeist entsprechend zu würdigen (schließlich waren wir auch die Beat-Generation), wurde in jede Ausgabe unter der Überschrift „And The Beat Goes On“ die Vorstellung einer lokalen Band aufgenommen, von denen es damals wirklich zahlreiche gab. U.a. erschienen Porträts von „The Other Five“ und der legendären Hagener Band „The Substitutes“. Besinnliches gab es in der Abteilung „Der junge Literat“. Hier wurde Lyrik im weitesten Sinne abgedruckt, die Schüler in stillen Stunden (womöglich aber auch im Mathematikunterricht) verfasst hatten. Ein Beispiel für einen schönen lyrischen Text:

Abendstimmung Abendstimmung gibt Dir Ruh’ Abendstimmung rührt Dich an Bringt dir Träume in Dein Herz Weckt ein Rufen tief in Dir Singt mit leisem Klang Lässt der Hoffnung Raum Lieder der Erinnerung Hoffnung auf ein Wiederseh´n

Unterhaltung Natürlich durften Humor und Unterhaltung in einer Schülerzeitung nicht zu kurz kommen. Für stete Erheiterung sorgten die Rubriken „Das Gerichtsblatt“, „Gerüchte oder nicht“ und „Schleichwerbung“. Besonders die Gerüchte-Seite war ein ideales Mittel, um direkte Kritik zu üben. Aber es waren ja nur Gerüchte, etwa so: „Der Biologieunterricht bei Frau K. heißt künftig Prüfologie-Unterricht. – Derjenige wird geohrfeigt, der es wagt, Herrn H. nach der dritten Stunde zu grüßen.“ Es wussten natürlich alle Bescheid, was gemeint war. Aber auch „Das Gerichtsblatt“ sorgte für viel Freude, so heimatnah und erdverbunden die Geschichten waren. „Der junge Literat“ bewegte sich oftmals auch in der Abteilung Unterhaltung, denn er hatte zwei Gesichter. Mitunter hieß es nämlich „Der junge Literat bringt Unsinn zum Quadrat“. Denkwürdig waren die lyrischen Ergebnisse, die heute noch bei Ehemaligentreffen gern zitiert werden. Der Text „Die Greisin“ ist dabei sicher Quotenführer.

Die Greisin Die Greisin Es sitzt ein Tiger in dem Wald, stochert dem ist es ach so bitter kalt. mit dem Finger, Da es aus der Tiefe schallt: dem irren, „Geh aus dem Wald!“ in der Luft

9 Oh mein Kind, Ein Eisbär in der Sonnen brüllt: Ich bin ein Rind, „Jetzt jemand, der ein Bier mir füllt! Dass ich dich von mir ließ, Mir ist so heiß hier, Ja, sozusagen von mir stieß. Wo find‘ ich Eis hier? Oh komm zurück, Ach, wär´ ich doch ein Pinguin!“ Du bist mein Glück, Was sag‘ ich Glück, Du bist mein allerbestes Stück!

Für die Unterhaltung der jungen Mitschüler sorgte „Die kleine Lupe“, die – auf farbiges Papier gedruckt – im Mittelteil jeder Ausgabe zu finden war. Da aber jüngere Schüler kaum zur Mitarbeit in der Schülerzeitung zu bewegen waren, mussten sich die älteren Redakteure Gedanken darüber machen, was die Sextaner, Quintaner und Quartaner wohl interessieren könnte. Neben den festen Rubriken tauchten immer mal wieder nette kleine Geschichten auf, die auch heute noch Spaß machen. Wer würde nicht gerne einmal (besonders als Schüler) schlagkräftige Argumente zur Hand haben, wenn es um Faulheit im Allgemeinen und im Besonderen geht? In der folgenden Geschichte wurden sie geliefert.

Mittwoch, den, 4. – Auftrag von „die lupe“ bekommen, über die Faulheit zu schreiben. Schaukelstuhl und weiches Bett gekauft. Im Bett in entspannter Lage über Thema nachgedacht. Dabei eingeschlafen.

... frei nach Thaddäus Troll von oPa nach einer Anregung von Amsel

10 Donnerstag, den 5. – Mittags schon aufgewacht. Thema von neuem angepackt. Erster Erfolg: bin zu der Überzeugung gelangt, dass es besser ist, von jetzt an alles nur noch klein zu schreiben. so erschöpft, dass ich im Schaukelstuhl eingenickt bin. freitag, den 6. – vormittags im liegestuhl faulheit studiert und dabei sehr müde geworden, langer mittagsschlaf im bett. nachmittags zu der Überzeugung gekommen, dass beharren in faulheit (italienisch: dolce far niente) natürlicher zustand der kreatur. kein tier arbeitet. mit dieser erkenntnis zufrieden früh feierabend gemacht. samstag, den 7. – diese notizen in tagebuch eingetragen. davon sehr erschöpft, deshalb freien nachmittag gemacht. sonntag, den 8. – sonntag geheiligt, ganzen tag ausgeruht. vorschlag meiner freundin, lästige bewegungen in form eines Spazierganges zu machen abgelehnt, da ich an faulheit arbeite, früh zu bett. von himmelbetten, schlarafenland und lecticä geträumt. montag, den 9. – ausgeschlafen, vormittags ganz kaputt vom vielen schlafen, arbeitsunfähig. nachmittags einfall gehabt: trägheit ist nicht gleich faulheit. trägheit ist eine Veranlagung, faulheit eine Weltanschauung, der faule lebt in harmonie mit seiner umwelt und versucht nicht, sie zu ändern, folgerung: faule sind staatspolitisch besonders wertvoll, weil sie nicht zu rebellion und Umsturz neigen, bestes beispiel: das gros der menschen im dritten reich, bin mit mir unzufrieden, viel zu viel getan.

dienstag, den 10. – schlecht geschlafen, weil die tage vorher viel zu viel geschlafen, wieder im Schaukelstuhl, diesmal mit pfeife, gudrun meint, meine faulheit stinke zum himmel. ihr erklärt: trägheit ist verabscheuenswert, faulheit bewundernswert, der faule ist von natur aus fleißig, unterdrückt aber den fleiß, weil er damit nur unruhe stiftet. beispiel: ameisen sind fleißig und unsympatisch, murmeltiere faul und beliebt, frage an gudrun: wer hat mehr Unglück über die Menschen gebracht, faule oder fleißige? können faule kriege machen? mittwoch, den 11. – tag der faulheit ausgerufen und zum familienfeiertag erklärt.

11 Sechster Platz für Schülerzeitung „die lupe“ Wettbewerb der Schülerzeitungen des Landes NRW – Zweimal mitgemacht

(WR Frühjahr 1968) Eine erfreuliche Mitteilung erreichte gestern die Redaktion der gemeinsamen Schülerzeitung des Theodor-Heuss- Gymnasiums und des Städtischen Gymnasiums, Bergstraße, aus Düsseldorf. Im Wettbewerb um den Wanderpreis des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen belegte „die lupe“ den sechsten Platz. Von den etwa 200 in unserem Land erscheinenden Schülerzeitungen hatten sich 56 an diesem Wettbewerb beteiligt. „die lupe“, deren Chefredakteur der Oberprimaner Wolfgang Fritzen ist, ließ sich erst zum zweiten Mal in ihrem 11jährigen Bestehen von der strengen Düsseldorfer Jury unter die Lupe nehmen. Dass sie den sechsten Platz belegte, ist daher recht beachtlich.

Der 20jährige Wolfgang Fritzen, von Hause aus journalistisch vor- belastet, da sein Vater Journalist ist, freute sich wenige Tage vor dem Beginn der Abiturarbeiten besonders über diesen schönen Erfolg. Er zeichnete auch verant- wortlich für die „lupe“-Nummern 40 und 41, die zum Wettbewerb eingesandt wurden. Fritzen ist jedoch überzeugt, dass der Erfolg nicht zuletzt der graphischen Ge- staltung der Zeitung durch den Pri- maner Rolf Esser zu verdanken ist.

Allerdings nahm sich die in einer Auflage von 1700 Exemplaren erscheinende „lupe“ in den letzten Ausgaben auch Themen an, die die Jury in anderen Schülerzeitungen Chefredakteur Wolfgang Fritzen kaum gefunden haben dürfte. „Der schizophrene Christus?“ lautete zum Beispiel die provozierende Überschrift zu einem Artikel, in dem sich Wolfgang Fritzen mit dem „Drama“ befasst, „das zweimal in der Woche über die Bühne geht“, wenn sich die Klassen zum Religionsunterricht in zwei konfessionelle Lager spalten. Dieser Artikel und ein weiterer in der folgenden Nummer (Fritzen: Wir waren über die breite Resonanz selbst sehr erstaunt.) gipfelt in der Forderung, statt des konfessionellen Religions-Unterrichtes den überkonfessionellen Theologie-Unterricht einzuführen.

12 Aber auch die Behandlung politischer Themen lässt auf gründliches Studium der Materie schließen. Einen breiten Raum nehmen in der „lupe“ naturgemäß innerschulische Angelegenheiten ein. Die Redaktion, in der etwa ein halbes Dutzend Schüler fest mitarbeiten, nimmt kein Blatt vor den Mund. Das braucht sie auch nicht zu tun; denn – so versichert Chefredakteur W. Fritzen – mit den so genannten Protektoren, die als Lehrer ein Vetorecht bei der Aufmachung der Zeitung haben, kommt man bestens aus. Eine Zensur findet sozusagen nicht statt.

Ermutigt durch den Düsseldorfer Erfolg will man in gleicher Art weitermachen. Doch in der Schriftleitung wird es einen Wechsel geben, denn die jetzigen Hauptakteure werden nach dem Abitur in einigen Monaten aus der Redaktion ausscheiden.

Zum Schluss noch ein Hinweis: Wer möchte, kann sich im Inter- net viele Original-Lupen ansehen und auch herunterladen unter: www.dielupe.rolfesser.de.

13 Voss & Hesse, eine Weingroßhandlung HagenTradition in Hagen1 von Friedrich-Wilhelm Geiersbach

Tabak, Selterswasser, Liqueure, Colo- nialwaren, Wein „Im Wein liegt Wahrheit …“ titelte die Westfalenpost im Jahre 1950. Und die drei Punkte könnten sich unbeabsichtigt be- reits auf den Untertitel beziehen: „75jäh- riges Bestehen der Wein-Großkellereien Voss & Hesse“. Denn die Datierung der Unternehmensgründung ist in der Firmen- geschichte nicht eindeutig: Das 50jährige Firmenjubiläum wurde 1935 begangen, da blickte die Jubiläums-Weinliste zurück auf das Gründungsjahr 1885. Bereits 15 Jahre später, 1950, erschien die Jubiläums-Liste zum 75jährigen Bestehen, das Gründungs- Das Unternehmen an der Elberfelder Straße im Jahr 1935, erbaut 1906/07. jahr war rückdatiert auf 1875. In dem kurzen Zeitraum von 15 Jahren zwischen 1935 und 1950 war so viel geschehen, dass ein großzügiges Hinzurechnen von zehn Jahren lässlich erscheinen mochte. Wer- bewirksam war es sicherlich, 1950 ein Jubiläum begehen zu können und auf Tradition als Qualitätsversprechen zu setzen. Das Hagener Adressbuch von 1909 jedenfalls weist „Voss & Hesse Destillation, Wein- großhandlung gegr. 1885“ aus. Die Gründer Adolf Voss (1850-1926) und Leopold Hesse (1858-1925) hatten 1885 den Eintrag des gemeinsamen Unternehmens in das Handelsre- gister beantragt.

Allerdings sind auch vor 1885 von der seit Langem in Hagen ansässigen Familie Voss verschiedene unternehmerische Aktivitäten bekannt. Adolf Voss wurde 1850 im Haus der Familie, Elberfelder Straße 33, geboren, sein Vater Wilhelm Voss (1803-1871) betrieb die „Gebr. Voss Tabaksfabrik“. Diese ist bereits 1814 für das Großherzogtum Berg und die Grafschaft Mark in Hagen nachgewiesen. Das Fabrikgebäude lag hinter dem Haus an der Elberfelder Straße parallel zur Spinngasse.

Nach Beendigung seiner Schulzeit trat Adolf Voss in die Tabaksfabrik ein, die zu der Zeit (um 1868) schon von seinem 17 Jahre älteren Stiefbruder August (1833-1907) geleitet wurde. Seine Lehrzeit war nur von kurzer Dauer, er dürfte sich schnell mit seinem Stiefbruder überworfen haben. Auf der Suche nach einträglicher Betätigung handelte er mit Selterswasser, das er aus dem Rheinland herbeitransportierte. Die Nachfrage war so groß, dass er eine Maschine zur eigenen Produktion von Selterswasser anschaffte und so die „Adolf Voss Selterswasserfabrik Hagen“ gründete. Kohlensäure wurde aus Kalkspat und Schwefelsäure gewonnen und Brunnenwasser damit angereichert. Neben Hagen

© ardenkuverlag. Aus: HagenBuch 2015 ISBN 978-3-942184-41-0 31 wurden auch die umliegenden Orte beliefert, namentlich Gevelsberg, Hohenlimburg und Schwerte. Water-Voss soll Adolf Voss genannt worden sein, das Wasser-Geschäft muss so erfolgreich gewesen sein, dass bereits 1874 ein eigenes neues Wohnhaus und Betriebsräume an der Hochstraße 114 bezogen werden konnten. Im selben Jahr, im Oktober 1874, heiratete Adolf Voss Philippine Hesse aus Wünnenberg und nahm wenig später deren Bruder, seinen Schwager August Hesse, mit in den expandierenden Betrieb auf. Von dem pri- vaten wie geschäftlichen Zusammentreffen der beiden Fami- lien Voss aus Hagen und Hesse aus Wünnenberg ist das später behauptete Gründungsjahr 1875 der Voss & Hesse Weingroß- handlung wohl abgeleitet. Das Jahrzehnt zwischen 1875 und 1885 ist, wie in autobiografischen Rückblicken belegt und durch Einträge in Handelsregistern dargestellt, vielschichtig und schwer in allen Einzelheiten zu rekonstruieren. Von der Erweiterung der Wasserproduktion um eine Destillerie zur Likörfabrik wurde berichtet, von ruinösen Geschäften des August Hesse und hoher Verschuldung des Betriebs. Ein Konkurs war nur durch ein Vergleichsverfahren mit den Haus Hochstraße 114, erbaut 1874. Slg. Schunck, Gläubigern abzuwenden, das die Firma langjährig belastete. Foto: Geiersbach Adolf Voss konnte jedoch mit Verhandlungsgeschick seine Im- mobilien an der Hochstraße ret- ten. Schwager August Hesse war jedenfalls raus aus dem Geschäft. Die Familienbande aber hielten und es gab einen Neuanfang: Mit Leopold Hesse, einem weiteren Bruder seiner Frau, gründete Adolf Voss die Fa. Voss & Hesse als offene Handelsgesellschaft, im Handelsregister eingetragen am 8. Mai 1885. Leopold Hesse brachte Kennt- nisse aus dem Kolonialwarenhan- Annonce aus dem Hagener Adressbuch von 1900. del2 und speziell dem Käsehandel sowie Kontakte zu Kunden aus seiner früheren Anstellung bei einem Kolonialwaren- händler in Ohligs (heute Solingen-Ohligs) in das junge Unternehmen ein. „Unermüdliche Schaffensfreunde, die sich mit der Liebe zum edlen Wein und einem großen Vertrauen auf Gottes Segen zum neuen Werk vereinte, halfen dem jungen Un- ternehmen vorwärts. Die Inhaber hatten sich das Arbeitsfeld geteilt. Adolf Voss pflegte den Einkauf, Leopold Hesse den Besuch der Kunden.“3 Der Schwerpunkt des Handels waren bis in die 1890er Jahre die Kolonialwaren, Wein hatte zunächst nur geringe Bedeutung.

32 „Als in den 1890er Jahren die Verdienstmöglichkeit an Colonialwaren merklich zurückging, wurde auf Co- gnak4 und Liqueure mehr Wert gelegt. Und Wein wurde in kleinen Mengen mitgeführt.“5 Hermann Hesse, ein jüngerer Bruder von Leopold Hesse, „ein liebenswürdiger Mensch, verstand es bald, nachdem er die Lehre beendet hatte, sich Freunde bei der Kundschaft (hauptsächlich Wirtekunden) zu suchen und forcierte Cognac und Li- queure. Das Geschäft ging gut und es wurde ziemlich verdient“6.

Voss & Hesse, die Weingroßhandlung Die deutliche Hinwendung zum Wein vollzog das Un- ternehmen ab 1898 mit dem Eintritt von Leopold Voss, Adolf Voss´ Sohn. Nach dreijähriger Lehre in einer Groß- handlung für Colonialwaren und Wein, der Fa. Friedrich Bleidt in Erkelenz, anschließenden jeweils halbjährigen Volontariaten in der Weinhandlung Gebr. Fleischhauer in Leipzig (mit der Weinprobierstube „Daubhaus“), bei der Weingroßkellerei Mittwich in Bingen 7, sowie einem Semester auf der Weinbauschule in Geisenheim brachte er Kenntnisse über Wein und Weinhandel mit. Zwanzig Postkarte an Rud. Lepke, Hagen, Bahnhofstr. 27 vom 29. Jan. 1900 mit Bestätigung eines Zahlungseingangs. Jahre alt war Leopold Voss, als er in die Firma eintrat Slg. Geiersbach und neben dem Colonialwaren- und Liqueurhandel das Weingeschäft forcierte. Dass in diesem Lebensalter vertieftes Wissen, vor allem aber Weinkennerschaft und Erfahrung in der Beurteilung von Weinqualitäten noch unterent-

Postkarte „Erste provinziale Kochkunst- u. Fachgewerbliche Ausstellung von 6. bis 17. Mai 1905 Hagen i/ Westf.“ Slg. Geiersbach

33 wickelt waren, wurde später von Leopold Voss freimütig geschildert und als Problem für die Entwicklung des Vertrauens der Kundschaft benannt: „Die Weine wurden zum Teil aus zweiter Hand gekauft. Deshalb fiel die Qualität nicht immer gut aus. Die Weine hatten zum Teil Holzgeschmack durch neue Fässer. (…) Dem weintrinkenden Publikum fehlte zum Teil noch das Vertrauen.“ Erst der systematische Einstieg in die Weinwirtschaft mit Direktkäufen bei Winzern und Aufbau einer eigenen Kelterei in Ürzig an der Mosel (1902) schuf die Basis für eine erfolgreiche Weinkellerei in Hagen. Der Lagerraum am Stammsitz der Firma in der Hochstraße 114 wurde erweitert um angemietete Keller in der Hochstraße 45 und der Frankfurter Straße. Ein größerer La- gerkeller für Bordeaux-Weine mit einem Ladengeschäft für den Flaschenverkauf wurde in der Elberfelder Straße 36 eingerichtet. Ein besonderer Werbeerfolg gelang Voss & Hesse 1905 mit einem als „Burg Rüdesheim“ ausgebildeten Stand auf der Kochkunst- und Fachgewerblichen Ausstellung in Hagen. Veranstalterin dieser Ausstellung war die „Westf. Zone des Deutschen Gast- wirte-Verbandes“, die damals wichtigste Zielgruppe des Weingroßhandels. Ende desselben Jahres kaufte Voss & Hesse das Grundstück an der Elberfelder Straße 52, um dort eine zentrale Kellerei und Geschäftsräume zu bauen.

Briefkopf mit Firmenansicht, ein Stahlstich im Stil der Zeit. Eine Straßenbahn fährt vorbei, im Hintergrund der Turm der Lutherkirche. StadtA, Hagen

Der Architekt Heinrich Winkler aus Trier, ein Spezialist für den Bau von Wein- Gewölbekellern, erhielt den Planungsauftrag. Insgesamt wurde mehr als eine halbe Million Reichsmark investiert. Mit Fertigstellung des neuen Geschäfts- und Lagergebäudes 1907 erfolgte die Zu- sammenführung der verstreuten Betriebsräume in einem repräsentativen Ensemble in bester Innenstadtlage. Die Schaufassade zur Elberfelder Straße war auffällig gestaltet. Es begann die sichtbar erfolgreichste Phase des Unternehmens. Auch die Stadt expandierte in diesem Zeitraum. Hagen war eine der dynamischsten Städte im Deutschen Reich. Drei Jahre später wurde schräg gegenüber von Voss & Hesse das Hagener Theater eröffnet. Der größte Konkurrent in Hagen, die Weingroßhandlung Peter Bettermann, bezog ihr neues Gebäude am Emilienplatz im Jahre 1911.8 Die neue Kellereianlage hatte Läger und Abfüllräume auf mehreren Etagen. Vorn an der Straße war ein Pavillon für den Einzelhandel gebaut worden. Der tiefste Ge-

34 wölbekeller lag im vorderen Bereich an der Elberfelder Straße ca. 7,5 Meter unter der Erdoberfläche. Er war wegen der Temperatur und natürlichen Luftfeuchtigkeit für Weiß- wein reserviert. Auf einer Fläche von ca. 2000 qm war Raum für 350.000 Liter Fasswein und 200.000 Flaschen. Darüber befand sich in dem aus heimischen Ziegeln gemauerten Gebäude das Lager für französische Fassweine, die in kleinen Gebinden von 200 bis 300 Litern, sog. Oxhoften, gelagert wurden, außerdem für Cognac und Liköre. Im Hochpar- terre waren Abfüll- und Packhalle, durch Aufzüge mit den Rot- und Weißweinkellern verbunden. Darüber war eine weitere Etage ebenfalls als Lagerraum ausgebaut. Hier lagerten originale Flaschenimporte französischer Rotweine aus Burgund und Bordeaux, für die Voss & Hesse ein besonderes Zollprivileg hatte.

Betriebsstruktur und Betriebsabläufe Großkellerei und Auslieferungs- lager (Hagen), Zentralkellereien (Bernkastel-Cues), Keltereien (Uer- zig und Oestrich), eigene Weingüter (Erden und Oestrich) und Niederla- gen9 (Remscheid und Gelsenkirchen) zählt die Großhandelsliste 1935, die Jubiläumsausgabe, als Betriebsein- heiten von Voss & Hesse auf. Die vollständige und differenzierte Er- zeugerkette vom Weinanbau bis zum Vertrieb war kraftvoll dargestellt als Beleg für absolute Fachkenntnis und Qualität.

Ein Stamm von etwa 40 Beschäf- tigten - Einkäufer und Verkäufer, Verladung eines Weinfasses, um 1950.14 Kellermeister, Küfner, Lagerar- beiter, Büropersonal, Fahrer und Vertreter im Außendienst - waren für den Betrieb des Unternehmens notwendig.

Die wichtigste Funktion der Großkellerei war die Lagerung und Fassreifung von Weinen, das Abfüllen auf Flaschen zur Ausliefe- rung an die Gastronomie und den Einzelhandel, ergänzt durch den Verkauf vor Ort an Privatkunden. Im Fassweinkeller lagerten über- wiegend Weine von Mosel, Saar, Ruwer, aus dem Rheingau sowie Blick in den Weißweinkeller. Beide Fotos: Peter Bock

35 in kleineren Mengen aus weiteren deutschen Gebieten. Moselweine wurden in 1000- Liter-Fässern geliefert, Rheingauer Weine in Halbstück- (600 Liter) oder Stückfässern (1200 Liter). Ferner enthielt der Keller Fässer mit 3000 Litern Fassungsvermögen und ein Fass mit 8000 Litern. Diese großen Fässer waren stationär, sie wurden aus kleineren Anlieferungen befüllt.

Die Eisenbahnverbindungen nach Hagen waren insbesondere von den Rhein- und Mosellagen günstig. Der Wein wurde fassweise mit der Bahn nach Hagen transportiert. Es war lange üblich, dass der Wein nicht beim Erzeuger auf Flaschen gefüllt und die dann risikoreich und teuer transportiert wurden. Vielmehr gehörte die Abfüllung zu dem Geschäft der Großhändler. Vom Güterbahnhof aus erledigten Pferdefuhrwerke, später Lastkraftwagen den Transport der Fässer zum Weinlager. Dort wurde der Wein je nach Qualität und den Ausbauzielen der Kellermeister mehr oder weniger lange gelagert. Angestrebt wurde häufig auch der Abbau von Säure, die oft überreichlich vorhanden war. Großen Einfluss auf die Entwicklung des Weins hatten die Qualität der Fässer und die klimatischen Bedingungen des Lagerkellers. Sog. Veredelungen von Weinen trugen zum Ruf eines Handelshauses bei. Außerdem gehörte es zu den Praktiken des Großhandels, Cuvees herzustellen. Weine gleicher oder verschiedener Sorten und Herkünfte wurden vermischt, um gleich bleibende Geschmacksprofile über Jahre zu sichern, besondere Geschmacksnuancen zu erzeugen und auch um Mängel auszugleichen. Es war also mehr als die bloße Funktion der Distribution, die dem Großhandel zukam. Neben dem Fassweinhandel wurden auch Flaschen- weine direkt von Weingütern bezogen, gelagert und weiter verkauft. Diese Weine waren als Original-Abfül- lung, auch Original-Kellerabzug sowie mit dem Namen des erzeugenden Weingutes (und der Lage) etikettiert. Flaschen ohne die Bezeichnung Original-Abfüllung waren als Fasswein gekaufte Partien, die in der Kel- lerei abgefüllt worden waren. Sie konnten von einem Erzeuger stammen, der auf dem Etikett ausgewiesen wurde, es konnten Weine verschiedener Erzeuger, aber derselben Lage sein, oder Cuvees nur mit Gebiets- und Jahrgangsangabe.

Die Winzerstochter Anna Hess aus Oestrich im Rheingau Leopold Voss, der seit seinem Eintritt in das Geschäft 1898 den Weinhandel stark gefördert hatte, trug zusätz- lich mit der Heirat einer Winzerstochter aus dem Rhein- gau (Juni 1908) zur Arrondierung des Unternehmens bei. Anna Hess10 war eine Tochter des Weingutsbesitzers Heinrich Hess (1846-1914) und Margaretha Hess, geb. Seinheimer, (1861-1936) aus Oestrich. Hess besaß nicht nur Weinberge in den besten Oestricher Lagen, sondern Seite aus der Jubiläumspreisliste 1935. Slg. Geiersbach war auch Kommissionär, Zehnt-Taxator des Fürsten

36 von Metternich von Schloß Johannisberg11 und zeitweise Kreistagsabgeordneter des Rheingaukreises. Das Hess`sche Weingut gehörte mit ca. 10 Hektar Weinbergsbesitz zu den mittelgroßen Gütern im Rheingau. Mit seinem Schwiegervater Heinrich Hess hatte Leopold Voss einen angesehenen Fachmann als Berater gewonnen, der Voss & Hesse auch finanziell unterstützte, mit seinen Weinen belieferte und Weine aus den besten Lagen des Rheingaus vermitteln konnte. Die Preislisten von 1935 und 1950 belegen diese Lieferverbindungen. Die Jubiläumsliste 1935 bot 188 deutsche Weine an, daneben 12 Sekte, davon drei als Voss & Hesse Hausmarke aus eigenen Weinen von einer Sektfabrik hergestellte, 47 französische (Burgund und Bordeaux) und Südweine (Port, Sherry, Madeira) sowie Spi- rituosen, insgesamt 261 Positionen. Das Angebot von Mosel, Saar, Ruwer und aus dem Rheingau war hoch differenziert, die bekanntesten Güter, viele, die auch noch heute zu den bedeutenden Erzeugern gehören, und die besten Lagen waren vertreten. Es dürfte schwerfallen, heute einen Händler mit vergleichbar komplexem Angebot zu finden. Der Krieg von 1914 bis 1918 hat dem Unternehmen offenbar nicht geschadet. Es heißt, dass „enorme Mengen Wein an das Heer geliefert werden konnten“12 und hierfür eigene Versandstellen in Cochem (Mosel) und Landau (Pfalz) eingerichtet wurden. Noch während des Krieges wurde die Expansion des Betriebs durch den Kauf einer Kellerei und Kelterei in Bernkastel-Kues an der Mosel, Saarallee 14, betrieben. Franz Hesse, der älteste Sohn des Mitbegründers Leopold Hesse, leitete ab 1918 den Bernkasteler Betriebszweig.

Leopold Hesse starb am 16. August 1925, Adolf Voss, der vom Water-Voss zum Wein- Voss geworden war, wenig später am 17. Mai 1926. Die zweite Generation, Leopold Voss (1878-1959) und Franz Hesse (1888-1941), führten das Unternehmen als alleinige Gesellschafter weiter. Trotz der schwierigen Nachkriegszeit mit Inflation und späterer Weltwirtschaftskrise stiegen in der Phase der Weimarer Republik die Umsätze. Die Schicht, die das Luxus- produkt Wein konsumierte, waren in ihrem persönlichen wie geschäftlichen Lebensstil offenbar nicht negativ betroffen.

Das Weingut Hess in Oestrich (Rheingau) Das Weingut Hess, durch Heirat verwandt- schaftlich und wirtschaftlich mit Voss & Hesse verbunden, ist bis heute - wenn auch in geän- derten Besitzverhältnissen - in seiner Substanz erhalten. Aufgrund von Überschuldungen und Erbstreitigkeiten nach dem Tod der Seniorin Margaretha Hess geb. Steinheimer, Witwe von Heinrich Hess, wurden Teile des Weinbergs- besitzes 1938 versteigert. Der größere Teil mit dem um 1920 erbauten Weingut Heinrich Hess mit den 1920 bezogenen neuen Gebäuden. Wohn- und Betriebsgebäude konnte 1947 von dem langjährigen Verwalter Josef Spreitzer erworben werden. Das Weingut Josef Spreitzer gehört heute zur Vereinigung der Prädikatsweingüter (VDP) und ist im Gault & Millau-Weinführer mit vier von fünf möglichen Reben als eines

37 Weingut Spreitzer 2014, Oestrich-Winkel, Rheinstr. 11. Foto: Geiersbach der führenden Weingüter des Rheingaus ausgewiesen. Die Lagen Oestricher Lehnchen und Doosberg, aus denen die großen Gewächse des Weingutes erzeugt werden, waren ehemals Teil des Hess`schen Gutes. Im Jahr 1920 war dort eine legendäre Riesling- Trockenbeerenauslese mit 303 Grad Oechsle Mostgewicht gelesen worden. Die 303 Grad Oechsle waren für die damalige Zeit wohl Weltrekord, zumal es nicht eine hochselektierte kleine Menge war, sondern ein volles Halbstück, d.h. 600 Liter aus dem Flurstück Eiserberg. Auf der Großen Rheingauer Weinverstei- gerung in Kloster Eberbach 1929, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, erbrachte dieses Halbstück Rheingauer Rieslings den Höchstpreis von 75.000 Reichsmark, umgerechnet auf eine Flasche waren das 87,50 RM. Die Jubiläums-Preisliste von Voss & Hesse im Jahr 1935 bot eine Oestricher Bremerberg Trockenbeerenauslese vom Folgejahrgang 1921 zu 25 RM an. Zum Vergleich: Der teuerste Bordeaux auf der Liste, ein 1920er Chateau Margaux, kostete Rheingauer Weinzeitung vom 27.11.1920. Slg. Schunck 6,75 RM, der billigste Wein 0,70 RM. 300 Grad Oechsle gelten als magische Grenze, der Wert von 1920 wurde erst mit dem Jahrgang 2003 an mehreren Stellen in vergleichbaren Mengen im Rheingau übertroffen. In Erinnerung an die legendären 303 Grad von 1920 bringt Spreitzer neuerdings eine Riesling-Spätlese „303“ heraus, gelesen aus der Flur Eiserberg, die seit der vergröbernden Neuordnung der Lagen zur Lage Doosberg gehört.

Dr. jur. Adolf Voss (1908–2005) Zwei Generationen Voss und Hesse, jeweils Vater und Sohn, hatten die Firma auf- und ausgebaut. Leopold Voss und Margarethe Voss geb. Hess, hatten insgesamt drei Töchter und drei Söhne. Durch fundierte Ausbildungen im Weinhandel und Weinbau und dem

38 Einstieg in den Betrieb war bereits vorgezeichnet, dass die Söhne Heinrich und Leopold jun. das Geschäft in der dritten Generation der Voss´schen Linie fortsetzen sollten. Der dritte und jüngste Sohn Adolf jun. studierte Jura und promovierte zum Dr. jur. Als bekannt wurde, dass er den Nationalsozialismus ablehnte, wurde er nicht zum Zweiten Staatsexamen zugelassen. Heinrich kam als Soldat um, Leopold jun. kehrte erst 1948 aus russischer Gefangenschaft zurück. Adolf überlebte seinen Einsatz bei Stalingrad, er wurde verwundet und noch als einer der Letzten ausgeflogen. Ab November 1944 arbeitete er im Betrieb mit. Der Mitgesellschafter Franz Hesse war 1941 plötzlich gestorben, der von ihm geleitete Betriebszweig, die Kelterei in Bernkastel-Kues war danach abgetrennt, das Unternehmen zwischen den Familien aufgeteilt worden. Leopold Voss war seitdem Alleininhaber von Voss & Hesse.

Adolf Voss hatte sich seinerzeit mit seinem Vater über den Hess´schen Nachlass über- worfen, er hatte ein Engagement von Voss & Hesse zur Übernahme des großelterlichen Weinguts erwartet und als dieses ausblieb spontan auf eigene Rechnung eine Parzelle, den Magdalenenweinberg in Oestrich, erworben. Sein Einstieg bei Voss & Hesse war von Vater Leopold nur auf Zeit geplant in der Erwartung der Rückkehr der beiden anderen Söhne. Als die britische Besatzung 1945 von jedem Betrieb einen verantwortlichen Ansprech- partner forderte, trat Dr. Adolf Voss als Geschäftsführer und Repräsentant von Voss & Hesse auf. Mit Geschick und mutigen Transaktionen gelang es ihm, den teilweise zerstör- ten und in seinen Beständen stark dezimierten Betrieb wieder in Gang zu bringen. Nach der Rückkehr des Bruders Leopold jun. 1948 verließ Dr. Adolf Voss den vä- terlichen Betrieb und wurde Justitiar der Papierfabrik Kabel. 1953 gründete er eine eigene Anwaltskanzlei. Das Zweite Staatsexamen hatte er nach dem Krieg abgelegt. Die Kanzleiräume in der Spinngasse befanden sich an der Adresse, an der sein Urgroßvater Wilhelm Voss die Tabaksfabrik betrieben hatte. Der Anwalt und Notar Dr. Adolf Voss war ein angesehener Hagener Bürger. Beson- ders engagierte er sich für das Orchester des Hagener Stadttheaters. 1970 machte er Bereicherungen Hagener Politgrößen aus SPD und CDU an Grundstücken der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft öffentlich, die letztlich zum Sturz des damaligen Oberbürger- meisters Lothar Wrede führten13.

Kriegzerstörungen und Nachkriegszeit Zwischen Oktober 1943 und März 1945 erlebte Hagen mehrere große Bombenangriffe. Der letzte am 15. März 1945 durch US-amerikanische Bomber zerstörte weite Teile der Innenstadt, auch das Gebiet um das Theater. Die Gebäude von Voss & Hesse blieben allerdings weitgehend erhalten, die Weinkeller unzerstört. Am 15. April 1945 wurde Hagen den Amerikanern übergeben. In den darauffolgenden Tagen kam es zu Plünderungen. Die Weinkeller wurden geleert, die Fassweine mit Eimern wegtransportiert oder sie liefen aus. Auch ein Ausweichlager in Priorei war betroffen. 5.000 Flaschen besonders edler Weine, 1944 in einem abseits gelegenen Keller einge- mauert, blieben unentdeckt. Darunter waren ein 1859er Marcobrunner und Weine aus allen nachfolgenden großen Jahrgängen. Eine Partie von 100 Fässern mit 100.000 Litern Moselweinen, die im Weingut Altenkirch in Lorch am Rhein14 eingelagert war, überstand

39 den Krieg unversehrt. Doch die Besatzungsmächte beschlagnahm- ten das Lager entschädigungslos. Die Jubiläumsliste von 1950 bot überwiegend Weine der Nachkriegs- jahrgänge an. Im Umfang stand sie der aus 1935 nicht nach, offenbar wirkten die gewachsenen Geschäfts- beziehungen fort. Noch im Angebot war die 1921er Oestricher Bremer- berg Trockenbeerenauslese, Orig.- Abf. Hch. Heß zu 40 DM. 1935 war sie mit 25 RM bepreist. Dieselbe des

Voss & Hesse, Elberfelder Straße 52 im Jahr 1945. Die Zinnen des Lagergebäudes Jahrgangs 1915, der älteste Wein der mit der Firmenschrift sind heruntergefallen, das Dach des Verkaufspavillons ist Liste, wurde nun zu 60 DM angebo- abgedeckt. Links im Hintergrund das Telegrafenamt. Foto: StadtA, Hagen ten. Er war 1935 nicht gelistet. Leider ist kaum etwas über den Kundenstamm, die Geschäftsbezie- hungen und über Verkaufszahlen bekannt. Dass schon in den An- fangsjahren die katholische Kirche Messweine von Voss & Hesse bezog, ist überliefert. Der Sohn Peter Bock des Fahrers Engelbert Bock, der ab ca. 1950 den Lastwagen der Fir- ma fuhr und auch den Seniorchef chauffierte, erinnert sich, dass re- gelmäßig Kunden im Ruhrgebiet, am Niederrhein und in Norddeutschland beliefert wurden. Kunden gab es auf

Das Gelände gegenüber dem Theater im Jahr 1947. Vorn die Einmündung der allen Inseln von Borkum bis Sylt. Die Neumarktstraße. Die ehemals geschlossene Randbebauung der Elberfelder Straße Auslieferungen nach Norddeutsch- ist fast vollständig beseitigt. Im Hintergrund das Telegrafenamt und Voss & Hesse. Foto: StadtA, Hagen land führte die Hagener Spedition Hartwig aus.

Die Abwicklung der Weingroßhandlung Voss & Hesse Große Strukturveränderungen im Weinhandel, im Verhältnis zwischen Erzeugern, Groß- und Einzelhandel und nicht zuletzt ein anderes Verbraucherverhalten hatten in den 50er Jahren bereits viele Weingroßhändler zur Aufgabe gezwungen. Leopold Voss sen. starb 1959 im Alter von 80 Jahren, 60 Jahre lang war er führend im Weinhandel tätig gewesen. Die Mitinhaber und Erben, angeführt von seinen Söhnen Leopold jun. und Dr. Adolf Voss, kamen überein, den Betrieb abzuwickeln. Die Bestände wurden an die Weinfirma Hoberg in Osnabrück verkauft, das Grundstück verblieb den Erben schuldenfrei.

40 Im Zuge des Wiederaufbaus der Hagener Innenstadt wurde die Elberfelder Straße verbreitert. Voss & Hesse hatten einen Streifen ihres Betriebsgrundstücks mit dem Verkaufspavillon abtreten müssen und zum Ausgleich das Nachbargrundstück Nr. 54 erhalten. Nur wenige Jahre später, 1964, erwarb die Quelle AG das Areal gegenüber dem Thea- ter, darunter die ehemaligen Grundstücke von Voss & Hesse. Bei den Ausschachtungen ist der Gewölbekeller freigelegt und abgebrochen worden. Es ist anzunehmen, dass es hiervon Fotos gibt. Es wäre schön, sie einmal zu sehen.

Drei Weine aus dem letzten Angebot von Voss & Hesse, Jahrgang 1957, 1953, 1957. Slg. Schunck, Foto: Geiersbach

Annonce aus der Westfalenpost 1952 mit alten Weinen von 1859 bis 1904.

Anmerkungen 1 Dieser Beitrag stützt sich wesentlich auf eine Broschüre, die Adolf Voss 1989 rückblickend über die Firmengeschichte verfasst hat (Firmenbiografie) und die als Privatdruck verbreitet wurde. Ferner wurden die Preislisten von Voss & Hesse von 1935 und 1950 und die darin enthaltenen Texte als Information verarbeitet. Für weiteres Material danke ich Frau Angelika Schunck, geb. Voss und Herrn Heinrich Schunk, Tochter und Schwiegersohn von Dr. Adolf Voss, sowie Herrn Peter Bock, dessen Vater Engelbert Bock ab 1950 bei Voss & Hesse arbeitete. 2 Als „Colonialwaren“ galten damals vor allem Kaffee, Tee und Kakaoprodukte wie Schokolade, außerdem Südfrüchte, Palmöl, Kokosprodukte und Kautschuk. 3 Jubiläums-Preisliste 1950. 4 als Cognak wurde damals Weinbrand bezeichnet, unabhängig von der Herkunft. Der Begriff war nicht geschützt für Weinbrand aus der Region um die französische Stadt Cognac. 5 Firmenbiografie 6 Ebenda. 7 in Nachbarschaft der Weingroßkellerei Mittlich lag die „Cognakbrennerei Petsch“. Dieser Betrieb wurde später erweitert zur „Weinbrennerei Scharlachberg“. 8 zur Geschichte der Weinhandlung Bettermann siehe: Geiersbach, Peter Bettermann Weingroß­handlung am Emilienplatz, in: HagenBuch 2013. 9 der Begriff Niederlage ist altertümlich für Niederlassung. 10 ich schreibe durchgehend Hess, auch wenn häufiger die Schreibweise Heß zu finden ist. 11 Auf Grund einer Festlegung auf dem Wiener Kongress hatte Fürst Metternich Anspruch auf ein Zehntel des jährlichen Ertrags von Schloss Johannisberg. 12 Firmenbiografie. 13 siehe Der Spiegel 19/1970. 14 Das Weingut Altenkirch besitzt drei etwa 100 m tief in den Berg getriebene Stollen, der Zugang erfolgt direkt aus dem Hauptgebäude. Für den Rheingau ist der Stollen-Keller wegen seiner Größe einmalig. Ein Besuch dieses heute noch aktiven Betriebs mitsamt Besichtigung der Keller ist empfehlenswert.

41 Adam und Adam ein Schmuckparadies HagenTradition O.W. Adam Gründer der Hagener Goldschmiede von Halina Israel

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, schon in die Jahre gekommene Tochter der seriösen und traditions- reichen FAZ, beschäftigte sich vor noch nicht langer Zeit in ihrem Ressort „Wissenschaft“ mit der Frage: „Wann wurde der Mensch zum Menschen?“ Die verblüffende Antwort im Subtitel lautete: „... seit er sich schmückt.“ Nun wird kein besonnener Leser vermuten, die ehrwürdige FAZ sei der Lobby der Goldschmied- und Juwelierbranche zum Opfer gefallen. Die haben ihre eigenen Magazine und Organe. Also sollte man den Essay in der FAZ ernst nehmen. Auf zwei typisch großen FAZ-Doppelzeiten, mit zahlreichen far- bigen Abbildungen, wurde über „Schmuck“ nachgedacht. Seine Funktion sei, seit es „Menschen gibt“ bis heute: „Schmuck dient dazu, eine Botschaft zu vermitteln.“ Und die Bedeutung für den Träger von Schmuck sei: „Schmuck als wichtige Art der Kommunikation.“ „Selten“, so ist man sich einig, „geht es bloß um Dekoration“.(1)

Eine solche Verlautbarung an intellektuell ernst zu nehmender Stelle ist Wasser auf die Mühlen der Liebha- ber des Schmucks und des Schmückens: der Macher, der Aus Oskar Adams Skizzenbuch: Entwürfe der Bewunderer, der Besitzer. späten 1950er Jahre. Haben sie doch in der heutigen Zeit öfter als früher mit Puristen zu streiten, die es ablehnen, sich Schmuck anzutun. Hatte früher jede Frau einen noch so bescheidenen Standardbesitz an Ring, Kette, Armband, Brosche – gerne auch im Plural – so lehnen es heute doch viele ab, sich als Projektionsfläche für irgendwessen Produkte anzubieten. Sie wollen unbehängt, unbesteckt autark auftreten. (Höchstens einen schmalen Ehering, aber aus Platin, bitte.) Man vergleiche jetzige Hollywood-Diven bei ihren Auftritten auf dem Roten Teppich. Früher glitzernd wie ein amerikanischer Weihnachtsbaum, heute streng im Designer-Abendkleid und sonst oft nichts.“No styling!“ Diese Anti-Schmücker werfen uns Schmuckliebhabern allerhand Motive vor: Angabe, Geltungsdrang. schichtspe- zifische Repräsentanz, Geldanlage, und nicht zuletzt eine mangelnde selbstbestimmte Persönlichkeit. Da tut uns so ein Essay in der FAZ richtig gut.

Nun, Oskar W. Adam huldigt keinem Purismus. Er ist der Gegentyp, der sein Arbeitsle- ben, viel von seiner Freizeit, sein Denken und Tun dem Schmuckgeschehen gewidmet hat. Er hat es mit Freude getan und sich ständig weiterentwickelt. Und wenn man in Hagen und auch anderswo von „Adamschmuck“ spricht, wissen nicht nur die Eingeweihten, um welche Art von Schmuckstücken es sich handelt. Zudem hat der „Adamschmuck“ manchmal polarisiert: Diese Objekte mit diesen unregelmäßigen Kanten, den wie klumpig

© ardenkuverlag. Aus: HagenBuch 2015 ISBN 978-3-942184-41-0 109 aufeinandergeklatschten Gold- und Silberflickerl, diese irritierende Unsymmetrie, die wie zufällig gehaltenen Steine - Kopfschütteln und Ratlosigkeit bei Kollegen und Laien. Kann das ein Goldschmiedemeister verantworten?

Werdegang des Meisters Oskar Adam Geboren 1932 im niederschlesischen Brieg (unweit Breslau). Die Kindheit überschattet vom Zweiten Weltkrieg. 1942, als Zehnjähriger, lernte Oskar in seinem Heimatort Brieg einen Soldaten kennen, beinamputiert, der zeitweise vom Krieg verschont wurde. Der Junge schaute dem Soldaten zu, wie der in seinen Mußestunden Ringe machte; und zwar aus Münzen. Ein Loch wurde in die Mitte der Münze konisch getrieben. Das runde Loch musste groß genug sein, um für den Finger Platz zu bieten. Dann wurde die eigentlich flache Ebene mit Hilfe eines Dorns umgestülpt, und dann mit dem Hammer zu einem Ringreif getrieben. Dem Zehnjährigen gefiel das, und unter Anleitung des Soldaten stellte er selbst auch bald so einen Ring her. Natürlich waren die Münzen in dieser Notzeit nicht aus Silber, sondern irgendwelche Legierungen. Aber Oskars Ring sah ganz gut aus, und so ging der Junge, hungrig wie alle damals, zum Bäcker des Ortes und bot ihn zum Tausch an. Das klappte: Er bekam ein paar Brötchen und brachte sie stolz nach Hause. Das klappte öfters. Oskar machte Ringe und bekam Brötchen. Zwei Aspekte liefert diese Jugendepisode: Zum einen das frühe manuelle Geschick, das wache Auge des Jungen und auch das frühe Talent, seine eigene Arbeit nutzbringend zu verwerten. Oskar Adam sorgte auch später immer dafür, seinen Schmuck attraktiv zu präsentieren und – wenn möglich zu verkaufen. „Ein schöner Ring in der Schublade nützt nichts, man muss dafür sorgen, dass er gesehen und gekauft wird“, sagte er im Frühjahr 2014.

Die Stationen nach 1945 Zusammen mit der Mutter aus Niederschlesien ausgewiesen, kam er nach Wiedenbrück-Langenberg. Ein Berufsweg für den Dreizehnjährigen wurde überlegt. Die Mutter, der Handfertigkeit des Jungen eingedenk, riet zur Lehre bei einem Goldschmied. Es fand sich in Wiedenbrück ein ehemaliger Offizier, Goldschmied aus Oberschlesien, der bereit war, den geschickten Jungen als Lehrling anzunehmen. Da in den Wirren des Krieges aber der Meisterbrief des Goldschmieds vorerst verloren gegangen war, konnten die ersten zwei Lehrjahre nicht als solche gelten – nur Meister- betriebe dürfen ausbilden. Erst als nach diesen zwei Jahren die Papiere des Offizier-Goldschmieds wieder aufgetaucht waren, konnte der Lehrling in einem Meisterbetrieb angemeldet werden. So wurden aus der Lehrzeit fünf Jahre, Jahre, in denen es kein Geld für Lehrlingsarbeiten gab, aber gelegentlich Schläge, ins Gesicht, auf die Schulter. Der ehemalige Offizier war ein strenger Lehrer, verlangte nicht nur ordentliche, sondern auch schnelle Arbeit. O.W. Adam in jungen Jahren. Auch das hat der erwachsene Oskar Adam verinnerlicht. Er konnte in seiner Berufszeit zum Beispiel einen Ring für einen Kunden in Zeitnot (ein vergessener Hochzeitstag?) in sehr kurzer Zeit, aber fachlich perfekt liefern.

110 Geselle Oskar Adam Die lange Lehrlingszeit endete mit der Gesellenprüfung: „gut“. Damals wurden keine Noten verschenkt, und mit diesem „Gut“ konnte sich der junge Goldschmiedgeselle überall bewerben. Seine Wahl fiel auf das hübsche Eifelstädtchen Mayen. Dort aber fand Adam seine „Eva“. „Eva“ stammte aus Hagen, zog bald in ihre Heimatstadt zurück – und Adam folgte ihr. Also schaute sich Oskar Adam in Hagen nach einer Gesellenstelle um. Die beste Adresse in Hagen für Schmuckgestaltung war das Atelier von Alfred Dörner, bis heute der bekannteste Hagener Schmuck- und Metallkünstler. Adam bewarb sich und wurde angenommen. Sieben Jahre blieb er bei Dörner, machte zwischendurch 1957 die Meisterprüfung und blieb noch zwei Jahre. Dann aber packte ihn die Lust, etwas Eigenes aufzubauen.

Die eigene Werkstatt 1959 wagte der Goldschmiedemeister Oskar Adam den Sprung in die Selbstständigkeit. Diese fiel bescheiden genug aus. Zunächst richtete er sich in der eigenen Wohnung in der Schill-/Ecke Blücherstraße ein. Früher war diese Wohnung im Parterre die ehemalige Polizeiwache des Viertels gewesen. Jetzt zeigte das Fenster des elterlichen Schlafzimmers, das auf die Straße hinausging, als kleines Schau- fenster hergerichtet, Adams Schmuckstücke. Direkt davor auf dem Bürgersteig die Notruf- Säule. In die Wohnung, die für die wachsende Familie ohnehin zu klein wurde, integrierte Das Geschäft(chen) in der Bachstraße. O.W. Adam damals noch im weißen Kittel. Adam Werkstatt und Ausstellungsraum. Die Werkstatt war im Flur, an zwei Tischen. Der „Ausstellungsraum“ fand im elterlichen Schlaf- zimmer als kleines „Schaufenster“ eine kleine Nische. Die Kinder liefen an seinen Arbeitsti- schen im Flur herum, störten ihn aber kaum. Oskar Adam kann fast nichts aus der Ruhe bringen, im Gegenteil: Er band die Kinder, die zukünftigen Goldschmiede Ingo und Burkhard, mit in seine Arbeit ein. Sie bekamen ein Stück Metall in die Hand und hämmerten und feilten nach Herzenslust. „Wir hatten eine schöne Kindheit“, sagt Ingo Adam heute. Ab 1963/64 mietete er einen umgebauten kleinen Laden Interieur. Adam mit einem „Kunst am Bau“-Objekt: Wolfskopf aus Kupfer in der Bachstraße in Wehringhausen. Auch der mit Edelsteineinlage. Ziert heute noch die Adamsche Hauswand. war als Standort zu bescheiden und für ein Ju- weliergeschäft zu abgelegen. Wieder zeigte es sich, dass Oskar Adam das Talent hatte, aus der Not der allzu schlichten Lage seines Geschäfts eine Tugend zu machen. So schaltete er Anzeigen in den Hagener Zeitungen und warb: „Nicht im Zentrum der Stadt, daher

111 preiswerte Goldschmiedearbeiten.“ Flugs wurde dieser Werbespruch von einem Hagener Kollegen als „unlauterer Wettbewerb“ gecancelt.

1967 endlich konnte sich Oskar Adam ein „richtiges“ Geschäft, diesmal fast im Stadtzentrum oder doch nicht weit davon, leisten. Es lag unweit der Elber- felder Straße in der Hindenburgstraße. Es hatte zwei Schaufenster, je rechts und links von der Eingangstür, einen Geschäft in der Hindenburg/Elberfelder Str. mit den Söhnen Ingo und Burkhard. Kundenraum, nicht groß, dahinter die Werkstatt, immerhin so groß, dass er ein, zwei Lehrlinge mit unterbringen konnte.Ein Sitzeckchen im Kunden- raum wurde eingerichtet, denn man ging inzwischen nicht nur zu Adam, um Schmuck zu kaufen, sondern auch, um sich mit ihm gemütlich zu unterhalten. Wenn daraus doch ein Verkaufsgespräch wurde – umso besser. Hier blieb Oskar Adam lange, hier hauptsächlich baute er sich einen ei- genen und treuen Kundenstamm auf, der bis heute auf seinen erworbenen „Adamschmuck“ stolz ist. Öfters lud er Fachleute ein: Bernstein- oder Opalspe- zialisten, die mit schönen ausgefallenen Schaufenstergestaltungen mit Schmuck von Adam. Steinen die Lust der Interessierten weckten und sie berieten. Meist zeigte ein Schaufenster Adams Goldschmuck, das andere Silberschmuck. Diesen mit Schwerpunkt Bernsteinarbeiten, oft in Polen einge- kauft. Adam, später die Söhne, beteiligten sich am Hagener Schaufensterwettbewerb, z.B. präsentierten sie Einweckgläser, in denen Bernsteinschmuck, in Honig versenkt, geheimnisvoll schimmerte.

Meister Adam als Lehrer Hier in der Hindenburgstraße betreute der Goldschmiedemeister Adam auch seine Lehrlinge, seine Gesellen. Das waren auch seine eigenen Kinder. Vier seiner fünf Kinder sind Goldschmiede geworden, drei Söhne und eine Tochter. Alle lernten beim Vater. Die Tochter packte noch ein Designstudium drauf. Als Pädagoge war Adam der Gegentyp seines Offizier-Meisters. Er ließ seine Lehrlinge, auch später seine Gesellen, ob eigene Kinder oder Fremde, so früh wie möglich selbstständig arbeiten, oder, wie er es nennt: „machen“. Er war großzügig mit dem Material, er ließ die Lernenden experimentieren. Geriet ihnen ein Teil daneben, wurde es wieder eingeschmolzen und ein neuer Versuch

112 gestartet. Er war nie dominierend. Aber an dieser „langen Leine“ weckte er ihr Interesse, ihre Lust am Handwerk und am Finden ihres eigenen Weges. Dass er ihnen so nebenbei eine Fülle von Techniken vermittelte, war ihr Gewinn. Dass er sie früh zu Kundengesprä- chen heranführte, zu Beratungen über eine Schmuckanfertigung oder -änderung, war ihm ebenso wichtig, wie, dass sie lernten, sich als Partner in den Kunden einzufühlen. So war auch Nena („99 Luftballons“) in den 1980er Jahren seine Gesellin. Aus Schwelm kommend, eine Schulkollegin des Sohnes Detlef, verbrachte Nena ihr letztes Gesellen- jahr in der Goldschmiede Adam, um dann ihre steile Karriere als Sängerin zu beginnen. „Singen kann sie besser“, ist Adams trockener Kommentar.

In der City Als Krönung der Adamschen Goldschmied-Biografie kann man, muss man, nach fast vierzig Jahren Hindenburgstraße den Umzug seines Geschäfts ins Sparkassenkarree im Jahre 2006 bezeichnen. Das ist für die Hagener Geschäftslage nun wirklich „erste Sah- ne“. Nun aber übergab der Senior sein Lebenswerk an die Söhne Ingo und Burkhard. Gelegentlich kommt der 82 Jährige ins neue attraktive Geschäft, arbeitet vielleicht ein paar Stunden mit und im übrigen freut er sich, wie gut sich die Söhne auch ohne ihn machen. Mit seinen Goldschmiede-Söhnen hat er viel erlebt. Sie schürften gemeinsam – steinverliebt wie so viele Goldschmiede - nach Edelsteinen zwischen Idar-Oberstein und Australien, sie zeigten auf Messen und Ausstellungen ihren Schmuck: in Dubai, Las Vegas, in Johannesburg in Südafrika, in Hongkong. Die Adams: ein erstaunliches Familienunternehmen.

Oskar Adams Schmuckschaffen Oskar Adam hat seit seiner Meisterprüfung 1957, spätestens im ersten eigenen Studio, die Gestaltung seines Schmucks – Kundenwünsche ausgenommen – selbst bestimmt. Betrachtet man diese lange Zeit von bald 60 Jahren, könnte man vielleicht sein Schmuck- schaffen in drei Perioden einteilen:

Viele schwierige Techniken versammelt: Treibarbeit, Granulation. Ring Gold, Brillant, weiße und schwarze Perle.

Broschette, Gold, späte 1950er Jahre.

113 Die traditionelle Phase Da ist zunächst die Phase des traditionell gefertigten Schmucks, technisch anspruchs- voll, mit wertvollen Steinen, im Stil der 50er-Jahre: Ringe als Dreisteiner, als „Blumen- garten“ oder „Gemüsebeet“, wie man die mit Perlen, Edelsteinen, Blattornamenten reich, überreich verzierten rechteckigen oder ovalen Ringköpfe nannte. Anhänger und Colliers mit einem mittigen Stein, geschliffen oder als Cabochon, die Edelmetallfassun- gen, meist Gold bei Adam, hatten zwar ihr Eigenleben in Form von Blättchen, Bögen oder Granulation, ordneten sich aber dem dominierenden Stein unter. Der Mode der Zeit entsprechend arbeitete Adam auch viele Broschetten, die das Revers des Damen- kostüms zu schmücken hatten: Elegant und anmutig gebogene Schleifenformen oder stilisierte Blüten, die sich reliefartig vom Untergrund abhoben. Schöne tragbare Stücke entstanden. Aus heutiger Sicht aber arbeiteten viele Goldschmiede damals so ähnlich, und Adam wäre auch nur einer von vielen geblieben.

Der Weg zur expressiv-abstrakten Phase Da war es gut, dass sich um etwa 1965 bei Adam ein gewisses Unbehagen an seiner Schmuckarbeit bemerkbar machte, er fühlte sich zu sehr auf einem eingefahrenen Weg. Dieses Unbehagen hatte viele Gründe. Einer davon ist sicher seine Lust am Experi- mentieren. Ob er als kleiner Junge aus Münzen Ringe hämmerte, ob er viel später mit Sohn Ingo Silber und Gold auf Schiefer aufschmolz – jeder neue Aspekt, Schmuck zu gestalten, machte ihm Spaß.

Zugleich beschäftigte ihn als Selbstständiger die Frage, wie er seinen Schmuck bezahlbarer machen, wie und wo er bei der Fertigung etwas einsparen könnte. Am Material mochte er nicht sparen. Aber vielleicht an der Arbeitszeit des Goldschmieds. Ring als Theatermaske, Gold, 2 Saphire als Augen.

Ringschiene in Gitterform. Unregelmäßig um den Azteken-Kopf, eingebettet in informel gestaltetes Türkis verteilte Krappen. Silber.

114 Edelsteine im Geäst. Brosche, Gold Labrodorit, Brillant.

Eine Arbeitserleichterung musste gefunden werden, die das langwierige, zeitintensive Feilen, Glätten, Polieren der Kanten ersetzt. Durch viele Versuche mit dem Lötrohr ent- wickelte er die Technik, die ihn letztlich zur Fertigung der neuen Schmuckkonzeption, zum „Adamschmucks“ führte. Das war neu: Die Ränder – Kanten – eines Schmuckstücks werden mit dem Mundlötrohr bearbeitet. Die Flamme des Lötrohrs wird ganz spitz an die Kante des Schmuckobjekts gehalten. Ganz wichtig dabei ist, den Atem zu kontrollieren, damit die zwar notwendigen hohen Temperaturen nicht zu hoch wer- den, sonst schmilzt das Gold und der Rand zerfließt. Durch eine bestimmte Schmelztechnik wird mit Hilfe eines Flussmittels die Schmelztemperatur gesenkt und Glanz erzeugt. So wird das Löten von einer spezifischen Schweiß- und Schmelztechnik begleitet. Technisch ein aufwendiges Know-how, das Arbeitszeit einspart und dazu dem Schmuck, gearbeitet nach dieser Methode, ein neues Erscheinungsbild gibt: „Der „Adamschmuck“ war geboren. Unregelmäßige, wulstende, schwingende Endkanten, im Mittelteil oder an den Ringschultern, Steinumran- dungen in unregelmäßig aufgeschweißten Plättchen und Fleckchen. Die Schienen der Ringe aus Gold- oder Silber- draht gebogen, verknotet, gehalten von Querstegen aus Silberner Anhänger, 11,5 cm lang mit lebhaft gemustertem großen Malachit Draht. „Adamschmuck“ ist gegenläufig zum traditionellen an von Adam getriebenem, mit kleinen Kerben versehenem Halsreif. Schmuck, er „bockt“ gegen die hergebrachten Schmuck- Schon ein Hingucker. konventionen. Adam lässt seine Schmuckstücke wabern.

115 Da ist nichts (oder wenig) der Symmetrie geschuldet, da geht die Fassung scheinbar unkontrolliert in die Ringschulter, in die Ringschiene oder bei Anhängern in die Öse über. Oft sitzt der Stein, proportional nicht nachvollziehbar, nicht mittig, sondern beliebig platziert. Auch die jetzt von Adam gewählten Steine haben eigenwillige Formen. Außer Brillanten sind sie weder rund, noch eckig, noch oval. Adams Fassungen der Steine ordnen sich nicht unter, wie nebenbei halten sie den Stein, oft mit ungleich verteilten Krappen. „Adamschmuck“ kann größer und schwerer als der früher vom jungen Meister gemachte sein, auffälliger ist er allemal.

Die Schmuckträgerinnen Wer „Adamschmuck“ bewundert und kauft, verabschiedet sich von der Vorstellung, Schmuck à la Cartier, Bulgari, Tiffany oder, bescheidener, von der Düsseldorfer Kö zu besitzen. Er, oder besser sie muss sich der Originalität dieses Schmucks stellen, ihn an dem eigenen Körper dulden, ihn mit der Kleidung harmonisch integrieren. Sie muss sich im „Adamschmuck“ in Gesellschaft zeigen wollen und sich wohlfühlen. Sie sollte ein gesundes Selbstbewußtsein haben.

Der Bandring: ein uraltes Thema. Modisch Die Adamversion. breit, leicht viereckig, gebürstet (unbekannter Goldschmied).

Interviews mit zwei Schmuckbesitzerinnen geben darüber Auskunft. Frau F., deren Mann ihr 40 Jahre lang Adamschmuck in Gold kaufte, war mit den Schmuckstücken immer einverstanden. Sie trug sie gern. „Mein Adamschmuck ist immer dabei.“ Nach Möglichkeit erweiterte sie die Einzelstücke zu Garnituren. Jetzt hat sie vieles an die nächs­te Generation abgegeben, die genauso Freude daran hat. Frau S., als Aquarellmale- rin selbst zu den Kreativen gehörend, bewundert den Einfallsreichtum des Goldschmieds Oskar Adam. Wie er „aus simplen Grundformen: Flächen und Drähten immer wieder Abwechslung schafft. Da ist nichts rechteckig, kreisrund oder oval“ und doch „jedes Schmuckstück eine Ganzheit“. Sie nennt den Adamschmuck „rustikal“ im positiven Sinne. „Kein Allerweltsschmuck“, sagt sie. Wenn sie ihren Lieblings-Opalring trägt, wird sie oft darauf angesprochen.

116 Abstrakter Schmuck Oskar Adam hat sich mit seinem neuen Schmuck weit von den 1950er Jahren entfernt. Da ist nichts mehr von den traditionellen Appliken, den Blättchen, Blüten, Schleifen, Bögen an seinen neuen Objekten zu finden. Adam hat Figürliches fallen gelassen, Adam ist abstrakt geworden. Formen und Flächen seiner Schmuckstücke sind nur noch einem Gesetz verpflichtet: dem der Tragbarkeit. Zwar versieht er seinen neuen Schmuck auch mit Ornamenten, aber diese aufgeschmolzenen, aufgelöteten „Schnörkel“, „Plättchen“, „Klümpchen“ ergeben keinen figurativen Sinn.

Auch ein Schmuckkreuz beugt sich Adams Formwillen. 7 cm hoch, Anhänger in Gold mit intergrierter Öse. 4 Brillanten als Steg 5 cm breit, Gold, Edelsteine zur Barockperle auf polierter Goldfläche.

Adam ist mit seinem Schmuckschaffen der 1960er, 70er Jahre in der zeitgenössi- schen informellen Kunst angekommen. Er benutzt sein Mundlötrohr wie die Maler der Zeit analog als „Pinsel“, als „Spachtel“ oder „Raker“, vollführt damit impulsive, aber kontrollierte Schwünge. Die Arbeitsweisen der Maler des Informel: Fred Thieler, Emil Schumacher, K. O. Götz zum Beispiel sind trotz der ganz anderen Material-Gegebenheit mit der Arbeitsweise, dem Duktus des Goldschmieds Adam vergleichbar. Auch Vergleiche mit damaligen Bildhauer-Zeitgenossen kann man heranziehen, den Metallobjekten der frühen 1960er Jahre des Düsseldorfers Friederich Werthmann etwa. Noch mehr ähnelt die Vorgehensweise Adams der des Bildhauers Heinz Breloh, der seine informellen Bronze-Figuren wie mit Plastellin-Stückchen aufeinanderschichtet und mit den Fingern festdrückt und formt. Der Keramiker und Bildhauer Norbert Prangenberg, Köln, arbeitet erfolgreich in derselben Manier.

117 Auch unter Oskar Adams Berufskollegen weit über Hagens Tellerrand hinweg gärt es in den 60er Jahren. Sei es, dass der Stromlinien-Modernismus der 50er Jahre sie allmählich langweilt – sie verlassen die Pro- duktschiene des „schönen“ Schmucks. Um nur einige wichtige Designer und Schmuckkünstler zu nennen: Björn Weckström (geb. 1935) aus Finnland, das Ehepaar Oly aus Hamburg, die traditionelle Firma Perli aus Pforzheim, manche skandinavischen Silberschmiede. Allerdings erlauben und befürworten diese Schmuck- gestalter das Reproduzieren ihrer Entwürfe. Der Amethyst in strahlender Farbe setzt sich mit dem vielen Gold auseinander. In Schmuckfabriken wird eine vom Designer erlaubte Stückzahl hergestellt, z.B. im Schleuderguss und manuell überarbeitet. „In Serie“ gehen ist aber nicht in Adams Programm; sein Credo ist das Unikat. Bei der Arbeits- weise mit dem Mundlötrohr kann ja nur Unikatschmuck entstehen. Wie er selbst sagte, ärgerte es ihn im Laufe der Zeit, dass mancher moderne Schmuck, weitgehend maschi- nell hergestellt, so aussah wie seine Unikat-Schmuck- stücke. Und er wäre nicht Oskar Adam gewesen, wenn er sich nicht nach einer neuen eigenen Variante der Schmuckanfertigung umgeschaut hätte. Und so kam er, etwa seit den frühen 1990er Jahren, zu einer Art synthetischer Phase.

Synthetische Phase Symmetrie darf sich wieder zeigen und wird in In Bernstein ruht eine Jahrmillionen alte Fliege. Form von regelmäßig gestalteten Teilchen als Grund­ element genutzt. Bei einer silbernen Kette z.B. sind

Zierliche, lange Kette in Silber. Späte 1990er Jahre.

118 das langgezogene Ovale, konvex – konkav gebogen, auf der einen Seite poliert, auf der anderen mattiert. Darauf allerdings tummeln sich, aufgelötet, die bekannten informellen Adam-Schnörkel. Auf einem goldenen Herrenring, als Ringkopf eine fast ovale glatt polierte Platte, hat sich eine zusammengerollte Schlange niedergelassen. Seitlich an der höherstehenden Ringfassung sind ebenfalls die alten Adamschen „Markenzeichen“ zu finden. Adam macht heute immer noch gelegentlich Schmuck. Er hat aber auch Freude am Gestalten von Figürchen aus Lavastein oder an Arbeiten aus Kupfer.

Armreif, Silber, leicht geschwärzt. Strahlenförmig laufen aufgelötete Silberdrähte über die Schauseite, aufwendige Punzierung mit Spezialhämmerchen.

Goldenes Gliederarmband mit Opalen und Brillant.

Buddha aus Rutilquarz, von Adam in Silber gefasst. Er kann von hinten mit einer Kerze Goldener Anhänger mit beleuchtet Opal und Brillant. werden.

Herrenring, Gold, mit Schlange.

119 Die Nähe des Goldschmieds zur Bildhauerei ist auch bei ihm – wie bei Alfred Dörner – immer vorhanden. Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage nach der Daseinsberechtigung von Schmuck zurückzukommen, könnte man als Resümee anbieten: Schmuck zu tragen wird heute nicht mehr so sehr als Status, als Rangabzeichen wahr- genommen. Schmuck ist eher Symbol, Bestätigung einer Zugehörigkeit zu einer heute gegebenen Gesellschaft, auch im modischen Sinne. Man möchte „in“ sein. Schmuck ist aber auch, und für viele Heutige wichtiger, ein Bedürfnis, eine Betonung der eigenen Individualität. Insofern ist Schmuck, beide Motive berücksichtigend, kommunikativ, ermöglicht Informationen über den Träger, transferiert Botschaften. Der Schmuckschaffende, in diesem Fall der Goldschmied Oskar Adam, ist durch seinen originellen Schmuck, an der Schmuckkultur der heutigen Gesellschaft als Vermittler, als Taktgeber beteiligt.

Herzlich möchte ich mich bei Oskar, Ingo und Burkhard Adam für Gespräch und Informationen bedanken. Besonders auch für die Geduld, mit der sie mir handwerkliche Vorgehensweisen erklärten. Auch den Damen, die mir bereitwillig über ihre Erfahrungen mit Adamschmuck Auskunft gaben, danke ich.

Fotos: Ingo Adam und Petra Holtmann

Anmerkungen: 1 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. Februar 2014, Nr. 5, S. 58 – 61, Ressort: Wissenschaft.

120 Warum nur so lautstark Thema: Energie durch die Tonbrausen?

von Rolf Esser

Der Aufbruch der Hagener Rockmusik zu neuen Klangwel- ten in den 70er Jahren

Vorab sei eine Bemerkung zu diesem Beitrag gestattet. Da der Autor selbst im Fokus der beschriebenen Ereignisse stand, grenzt es an die Quadratur des Kreises, einen wertneutralen Bericht abliefern zu wollen. Dennoch möge man ihm mindestens das Bemühen um Objektivität abnehmen und vielleicht zu der Erkenntnis gelangen, dass ein Insider dem Thema doch ein wenig mehr Würze geben kann.

Hagen - der bundesdeutsche Nabel der Rockmusik? Anfang der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts geriet Hagen unversehens in die überregionalen Schlagzeilen. Aber es ging nicht um kulturelle Höhepunkte wie Jugendstil oder Schumacher, sonders um profane Popmusik. Ein quirliges singendes Mädchen namens Gabriele Susanne Kerner hatte die heimische Hagener Band Plakat von Rolf Esser Scholle und ihre Band „Stripes“ verlassen und war auf dem Umweg über Berlin mit neuer Band unter dem Markennamen „Nena“ - so wurde Gabriele Susanne Kerner eigentlich immer gerufen - bis in die US-Hitparaden gelangt. Nena wurde mit ihrem Welthit „99 Luftballons“ zum Aushängeschild der Neuen Deutschen Welle (NDW).

Obwohl diese Musik also im Grunde Berliner Ursprungs war, zog man sich in Hagen gern den Nena-Schuh an. Ähnlich war es mit den Schwestern Humpe, die auch gerne eingemeindet wurden. Annette Humpe, zwar in Hagen geboren, aber in aufgewachsen, prägte - ebenfalls in Berlin - mit der Band „Ideal“ entscheidend den NDW-Stil.

Am ehesten noch als echte Hagener Band jener Tage muss man „Extrabreit“ werten, deren Gründungsmitglieder allesamt Hagener Jungs waren. Ende 1978 gegründet, begann die Karriere von Extrabreit 1980 ebenfalls im Gefolge der NDW. Extrabreit war (und ist) jedoch keine typische NDW-Band, sondern machte damals deutsche Rockmusik mit durchaus kritischen Texten. Sich selbst sahen die Musiker mehr als Punk-Band.

Zur Gründung von Extrabreit noch eine kleine Geschichte am Rande: Ich arbeitete 1978 an der Fritz-Steinhoff-Gesamtschule als Lehrer und war für das Instrumentarium des Fachbereichs Musik verantwortlich. Peter Wortmann, seines Zeichens Gitarrist der

1 Extrabreit-Urformation, war Sozialpädagoge an unserer Schule. Eines Tages ging ich wieder einmal durch die Musikräume, um nach den Instrumenten zu sehen und bekam einen regelrechten Schock. Alle Verstärker, Mikrofone und Effektgeräte waren verschwunden. Ich fragte alle Musikkollegen und -kolleginnen, niemand hatte eine Ahnung über den Verbleib der Geräte. Schließlich fragte ich noch Peter Wortmann, weil er mit mir in der Lehrerband spielte, also „Ahnung“ haben konnte. „Ja“, sagte Peter ganz locker, „die Sachen habe ich mal kurz ausgeliehen, wir mussten dringend Demo-Aufnahmen für eine Plattenfirma machen.“ So kann sich also die Fritz-Steinhoff-Gesamtschule mit Recht rühmen, einen entscheidenden Beitrag zur Extrabreit- Karriere geleistet zu haben.

Extrabreit ist weiterhin aktiv - nach einigen Pausen und diversen Umbesetzungen und Abschiedskonzerten. Ihr 1000. Konzert spielte die Band am 27. August 2005 vor mehreren tausend Zuschauern am Hengsteysee in Hagen.

Die genannten Beispiele zeigen, dass man in den 1980er- Jahren Hagen nicht uneingeschränkt als Nabel der deutschen Rockmusik bezeichnen konnte. Für ihren Erfolg haben die Musiker weitgehend selbst gesorgt. Hagen als Stadt hat sich dabei nicht besonders verdient gemacht, sich aber gerne mit diesen Namen geschmückt. Nena, Extrabreit und Co. allerdings haben ihrerseits ernorm für die Belebung der heimischen Szene gesorgt. Vermutlich gab es nie mehr Bands hierzulande als in diesem Zeitabschnitt der Hagener Rock- und Popgeschichte. Insofern war Hagen schon eine Stadt, in der Rock- und Popmusik ein wichtiges Element der Jugendkultur war.

Nichts los in Hagen vor NDW? Es gibt immer ein Vorher, so auch im Fall der musikalischen Entwicklung in unserer Stadt. Doch, es war schon was los bei uns - auch und gerade vor Nena. Womöglich wurden in den zehn Jahren davor mehr Experimente in und mit der Rockmusik gewagt als zu Zeiten der NDW.

Die urwüchsigste aller Hagener Bands formierte sich bereits 1970. Schon vorher machte eine junge Truppe namens „The Crew“ von sich reden. Unversehens tauchte sie zum Beispiel bei den Heidefreunden in Boelerheide auf, wo ich mit den „Fellows“ regelmäßig zum Tanz aufspielte. „Dürfen wir mal ’ne Einlage geben?“ war die damals übliche Frage unter Musikern. Natürlich durften die Jungs und sie spielten, wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht trügt, „Spicks & Specks“ von den Bee Gees. Aus The Crew wurde „Elias Grobschnitt“, ein Name, der sich bald auf das griffige „Grobschnitt“ verkürzte. Ausgeliehen

2 hatte man ihn von der „Kapelle Grobschnitt“, die sich im Ersten Weltkrieg aus Soldaten mit selbst gebastelten Musikinstrumenten gebildet hatte.

Die Musiker von Grobschnitt waren in Hagen im Grunde nur unter ihren Spitznamen bekannt. Wen interessierte es schon, dass der Sänger und Gitarrist „Willi Wildschein“ eigentlich Stefan Danielak heißt oder der Schlagzeuger „Eroc“ Joachim Ehrig? Den Werdegang von Grobschnitt haben wir anderen Hagener Musiker hautnah mitbekommen, denn wir trafen die Jungs regelmäßig bei Musik Pommerin am Hauptbahnhof, dem einzigen Musikladen weit und breit, der aktuelle Musikerausrüstung feilbot. Dort hingen wir ganze Tage herum und fachsimpelten und testeten Instrumente. Kaufen war nicht so unser Thema. Grobschnitt-Gitarrist Lupo und Roadie Willi hatten sinnvoller Weise bei Pommerin als Aushilfen angeheuert und verdienten so die Anlage der Gruppe. Ihrem Arbeitgeber hatten sie auch einen Spitznamen verpasst, den ich hier lieber verschweigen möchte. In jenem Musikladen übrigens konnte man wirklich begnadete Hagener Musiker treffen, die bei uns als Geheimtipp galten, die aber niemals einen sonderlichen Bekanntheitsgrad erreichten.

Als erste Hagener Band bekam Grobschnitt einen Plattenver- trag. Musikalisch wurde Grobschnitt immer unter „Krautrock“ eingeordnet, womit man der Band und ihrer Musik überhaupt nicht gerecht wird. Krautrock - das klingt immer ein wenig angestaubt. Tatsächlich jedoch war Grobschnitt eine sehr innovative Gruppe. Ihre Mischung aus Theater, optischen Effekten, fröhlichem Klamauk und absolut langen musikalischen Improvisationen war einzigartig. Eine Grobschnitt-Bühnenshow dauerte Stunden. Allein die mit dem Titel „Solar Music“ verbundene Improvisation war oft über eine Stunde lang.

Grobschnitt bereitete in Hagen den Boden für eine andere Art der musikalischen Darbietung. Während die Gruppen bisher meist kurze gecoverte Songs spielten, wurden nun lange Eigenkomposition, eingebunden in eine konzeptionelle Show, zum Standard von Bandauftritten. Neu war auch der Einsatz von Pyrotechnik auf der Bühne. Wer das damals erlebt hat, staunt noch heute, dass es niemals zu einem Unfall kam.

Grobschnitt: Neuer Klang Darüber hinaus war Grobschnitt eine enorm fleißige Band, die bis heute eine große Fangemeinde im deutschsprachigen Raum hat, weil es kaum einen Ort im Lande gibt, in dem Grobschnitt nicht gespielt hat. Das dafür notwendige Equipment wurde von Jahr zu Jahr umfangreicher, bis schließlich mehrere Lkw

3 für den Transport eingesetzt werden mussten. Ich habe Grobschnitt im Stadttheater erlebt, wo die Bühne regelrecht voll gestopft war mit riesigen Lautsprecherboxen, die das Bose-Prinzip (viele kleine Lautsprecher werden zusammengeschaltet) gewissermaßen potenzierten.

Inhaltlich hat die Grobschnitt-Musik immer Stellung bezogen. Die Musiker engagierten sich für die Friedensbewegung und gegen die Atomenergie. Die Gruppe „Grobschnitt“ Andererseits wurde auch Märchenhaftes verarbeitet wie etwa in dem Konzeptalbum „Rockpommels Land“.

Grobschnitt löste sich 1989 nach 19 Jahren mit ihrer „Last Party Tour“ in gegenseitigem Einvernehmen auf. Die Musiker wollten nach so vielen Jahren der gemeinschaftlichen musikalischen Tätigkeit eigene persönliche Wege gehen.

Einer der musikalischen Köpfe der Band war Joachim Ehrig (Eroc). Er war der Schlagzeuger und elektronische Tüftler bei Grobschnitt und veröffentlichte auch mehrere Soloalben. Auf der LP „Eroc 3“ von 1979 findet sich das Stück „Wolkenreise“, das sich zu einem Superhit entwickelte und auch heute noch gerne im Radio gespielt wird. Eroc verließ bereits 1983 die Band, um sich ausschließlich seinen Soloproduktionen zu widmen. Er betreibt heute in Breckerfeld ein Studio zur Restaurierung und zur Digitalisierung von analog aufgenommenen Musiktiteln. Eroc hält auch weiterhin die Erinnerung an Grobschnitt aufrecht und präsentiert von Zeit zu Zeit unbekanntes Material aus seinem reichhaltigen Fundus.

Festzuhalten ist, dass mit Grobschnitt ein neuer Klang in die Hagener Rockmusik Einzug hielt, der sich - direkt oder indirekt - auch im Schaffen anderer Bands manifestierte. Es ging nun mehr um das Gesamtkonzept einer Gruppe, um die Übereinstimmung von Komposition und Darbietung im Kontext der eigenen Identität.

War da noch was? Die Stimmung in Hagen im Hinblick auf Kulturelles war in den 70er Jahren überaus positiv. Ich erinnere mich an schöne Ausstellungen im Osthaus-Museum und an herausragende Orchesteraufführungen, etwa das Konzert mit dem japanischen Ausnahme-Percussionisten Stomu Yamashta in der Ischeland- Halle. Auch aus den Bereichen Pop, Rock und Jazz wurden in Hagen Musiker gesichtet, wie man es in der Fülle heute kaum mehr für möglich hält. In der Aula der Ricarda-Huch-Schule gaben die „Lords“ ihr „Poor Boy“ zum besten. In der THG-Aula sah ich

4 „Hardin & York“ und die „Keef Hartley Band“. Im „Picadilly“ in der Hindenburgstraße spielten Klaus Doldinger (mit Udo Lindenberg am Schlagzeug!) und die Hammond-Orgel-Legende Jimmy Smith.

Im Theater Hagen hatte man die Zeichen der Zeit wohl erkannt und wollte die Aufbruchstimmung nutzen. Um mehr junges Publikum ans Theater zu binden, sollte das „Hagener Jugendtheater“ begründet werden. Intendant Manfred Schnabel und Chefdramaturg Arwed Fritsch wählten dafür einen Weg, der schon an sich erfolgreich sein musste, weil er den Nerv der Jugendlichen traf: Ein Bandwettbewerb wurde ausgerufen. Die siegreiche Band würde dann eine Theatersaison lang den musikalischen Teil des Musicals „Tut was ihr wollt“ bestreiten. Wenn das nicht verlockend war?

Blick von innen (1) Just zu dieser Zeit übte in einem Keller am Höing seit eineinhalb Jahren eine Band in fester Besetzung, deren Gitarrist und Sänger ich war. Ich hatte um 1970 herum die Tanzmusik und das Schlagzeugspiel aufgegeben und mich der Gitarre zugewandt. Von nun an gab es eine Besinnung auf die Wurzeln der Rockmusik. Besonders Gruppen wie „Free“, „Taste“ und „Collosseum“ machten vor, wie der Blues lebendig blieb und dennoch eine neue Form erhielt. Wir hatten zunächst zum Leidwesen der Nachbarn in Siggi Bemms Gartenhaus geübt. Dieses hölzerne Gartenhaus war übrigens der Namensgeber für Siggis weltbekanntes „Woodhouse Studio“, das inzwischen - nach einer Dortmunder Phase - wieder in Hagen angesiedelt ist.

Nach dem Holzhaus-Abenteuer konnten wir bald bei unserem Techniker Harro Kleffmann den Keller ausbauen und dort den „Übungsbetrieb“ aufnehmen. Zwar gab es in der Anfangszeit noch die ein oder andere Umbesetzung, doch schließlich stand Harro und Ecki machen Ton im Museum ab 1972 die Band. Wir gaben uns den Namen „Verborg Effector“ - weniger, weil Martin Verborg bei uns mitspielte, sondern mehr, weil der Klang ähnlich lautmalerisch war wie jener der von uns verehrten Band „Van Der Graaf Generator“.

Im Verlauf des Jahres 1973 hörten wir vom Bandwettbewerb des Theaters und entschlossen uns nach kurzer Diskussion zur Teilnahme. Wir fühlten uns fit und wollten raus aus dem Keller. So ein Wettbewerb war eine Chance. Natürlich konnte es auch schief gehen. Wir meldeten uns an beim Theater und erhielten die Teilnahmebedingungen. Jede Band musste einen festgelegten Titel des geplanten Musicals vortragen. Erlaubt war die eigene Bearbeitung. Zudem sollte ein eigener Song gespielt werden.

5 Ich kann nicht mehr sagen, wie lange die Vorlaufzeit war. Vielleicht drei Monate? Wir machten uns jedenfalls sofort an die Arbeit. Zunächst wurde anhand des bereitgestellten Notenmaterials der Musical-Titel entsprechend unseren instrumentalen Möglichkeiten arrangiert. Das war kein Problem, da die Bandmitglieder Martin Verborg (Geige, Saxophon) und Ernina Broermann (Querflöte) notenfest waren. Diesen Song („So viel Glas, so viel Stahl“) übten wir hauptsächlich, denn den von uns ausgewählten eigenen Beitrag („Multicoloured Man“) hatten wir schon gut ein Jahr lang geprobt und konnten ihn fast im Schlaf spielen.

Endlich war der Tag der Entscheidung da. Inzwischen war klar, dass sich drei Bands der Sache stellen würden. Am Samstag (15.12.1973) war eine Vorbesprechung aller Beteiligten. Am Sonntag sollte der Wettbewerb stattfinden. Es musste aber auch rechtzeitig die Band-Anlage ins Theater gebracht werden. Nun war dies der letzte autofreie Sonntag der Ölkrise von 1973. Problemlos erhielten wir von der Stadt eine Ausnahmegenehmigung - und es bereitete uns nicht wenig Vergnügen, durch die leeren Straßen zu kutschieren.

Im Keller zu üben ist eine Sache, auf der großen Theaterbühne zu spielen eine andere. Der Sonntagabend nahm seinen Lauf und verlief wie im Rausch. Als ich in den nächsten Tagen die Hagener Zeitungen aufschlug, wusste ich, dass ab sofort unser Musikerdasein ein anderes sein würde, aber ich hatte keine Ahnung, was alles auf uns zukommen würde.

Aus der Sicht der Hagener Presse Westfalenpost vom 18.12.1973

Grundstein für das Hagener Jugendtheater ist gelegt „Verborg Effector“ machen das Rennen Unbekannte Band probte zwei Jahre - Musikalisch perfekt

Rund 1000 Jugendliche „stürmten“ gestern Abend das Stadt- theater. Sie alle wollten jene drei Bands sehen und hören, die sich als Akteure für das geplante Jugendtheater „Tut, was ihr wollt“ beworben hatten, nachdem bereits knapp 150 Laienspieler Bewerbungsbogen ausgefüllt hatten. Die Nervosität begann schon am Samstag, als die Bandleader zu einem letzten Gespräch mit dem Dramaturgen ins Theater kamen. Detailfragen und technische Fachsimpelei waren auf der Tagesordnung. Die Unruhe steigerte sich am Sonntag, als die Technik nach dem Abbau der Bühnendekoration für „Kiss me, Kate“ das Zeichen gab: Bühne frei. Nach

6 Generalstabsplan bauten die Bands auf der Drehscheibe ihre Instrumente auf: die Gruppe „Verborg Effector“, ganz in mystisches Schwarz gehüllt, die „BabyIon“ in Weiß und letztlich die „Devotion“, frech und bunt kostümiert. Schon um 18.30 Uhr drängte das Pu- blikum um Einlass. Die Jury aus Thea- terleuten und Jugendlichen aus dem Publikum tagte. Um 19 Uhr war das Haus brechend voll. Kapellmeister Hans Hofmann mit seinen „All-Stars“ heizte mit Swing und Dixieland das Publikum auf. Um 19.40 Uhr gab das neue En- semblemitglied Lutz Schröter das Start- zeichen für „Tut, was ihr wollt“. Draußen vor dem Theater begehrten noch 200 jugendliche Siegerehrung im Theater Einlass, die Feuerwehr musste das Haus sperren wegen Oberfüllung, die jungen Leute zogen enttäuscht ab. Rund 1000 Ernie im Theater Foto: Theater Hagen hatten sich trotz des Sonntagsfahrverbots eingefunden. Ausgelost wurde die Reihenfolge „Devotion“, „Babylon“, „Verborg Effector“. Die Scheibe dreht sich: „Devotion“ spielt nach Abspielen des Originalbandes, das zum Vergleich dient. Jubel der „Devotion“-Anhänger, lässig winkt die Band ab, steigt ein und zieht ab - Beifall und Buhrufe, das Publikum hat sich schon heiß gelaufen. Eine musikalisch klare Nummer, differenziert im Sound, besonders gefällt der Organist, der Schlagzeuger schlägt monoton, maschinell. Die Drehscheibe dreht: Die Babylons ziehen ihre Nummer ab, musikalisch einfallsreich, melodischer als die Devotion. Das Publikum kennt die Babylons schon, die einzige Truppe, die schon öffentlich aufgetreten ist. Hier steigert sich der Beifall - doch die „Verborg Effector“ sahnen ab. Ihre Besetzung und ihr technischer Aufwand haben Pfiff und kosten mehr als ein Vermögen. Schätzwert des Equipments, wie es in der Fachsprache heißt, 35.000 DM. Mit Querflöte, Geige, Saxophon, Orgel, Gitarre, Bass - eine Hagener Band präsentiert sich, zwei Jahre lang wurde still geprobt. Die Band zeigt mehr Profil, musikalisch ist das Pflichtstück perfekt arrangiert, zeigt Raffinesse. Der Mann am Mischpult unten im Publikum zieht alle Register. Das Ende des Jubels ist nicht abzusehen. In der Kür zeigen die Bands ihre Show. Die Hagener Bands kennen sich da aus. Das jugendliche Publikum und sogar die Erwachsenen können nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Zugabe, Zugabe, Zugabe. Perfekt, als hätte man geprobt, läuft die Show ab. Nicht endenwollenender Jubel. Das hat das Hagener Theater noch nicht erlebt.

7 Blick von innen (2) Von nun an verging kaum eine Woche, ohne dass irgendeine Hagener Zeitung über uns oder das geplante Musical berichtete. Die Band bereitete sich nun intensiv darauf vor. Da hieß es zunächst, das Song-Material so aufzubereiten, dass es für uns auch spielbar war. Zudem waren wir wenig angetan von der typisch amerikanischen, etwas süßlichen Art des Arrangements und versuchten, das Ganze ein wenig aufzupeppen. „Tut was ihr wollt“ war eine Story frei nach Shakespeare im Stil einer „Daily Soap“ und eigentlich kaum als Jugendmusical zu bezeichnen. Wir machten das Beste daraus, unterstützt von Hans Hofmann, dem unermüdlichen Kapellmeister, der uns an die musikalische Hand nahm. In regelmäßigen Abständen kam er in unseren Keller und brachte jeweils eine Sängerin oder einen Sänger mit, damit diese mit uns ihre Lieder üben konnten. Da wurde es zwar eng, aber es war toll.

Wir hatten knapp drei Monate Zeit bis zur ersten Aufführung, und ich denke, wir meisterten das als Theater-Laien mit Anstand. Zwischenzeitlich bauten wir unsere Bandanlage weiter aus. So bauten wir die berühmten „Voice of the Theatre“-Boxen von Altec Lansing nach, konstruierten ein portables Mischpult und fertigten im Schweiße unseres Angesichts ein 30-Meter- Bühnenkabel aus einem Gartenschlauch und einem vieladrigen Kabelbaum.

Wir schafften es sogar, auch weiterhin an unserem eigenen Programm zu feilen und damit aufzutreten. So spielten wir als Vorgruppe von „Birth Control“ für Amnesty International in der THG-Aula und anlässlich der Verleihung des Karl-Ernst- Osthaus-Preises im Museum. Von „Tut was ihr wollt“ gab es zehn Aufführungen. Wir haben all das unglaublich genossen, Martin und Rolf im THG besonders eben auch, Mitglieder des Theater-Ensembles zu sein. Es hat Spaß gemacht!

Verborg Effector im Theater Aus der Sicht der Hagener Presse Westfälische Rundschau vom 12.3.1974

Stück „Tut, was ihr wollt“ nicht nur für die Jugend Bühnenbild war überzeugend

Hagen. Mit einem hohen Stahlgerüst-Umgang schuf Bühnen- bildner Peter Umbach (tüchtigster Mann dieser Inszenierung) eine zweite Spiel- und Bewegungsebene. Sie eignete sich nicht nur für räumliches Spiel und Statisteriemassen, auch der anderswo nur erzählte Schiffsuntergang war damit technisch und choreografisch (Otto Glasow) glänzend zu bewältigen.

8 „Tut, was ihr wollt“ ist nämlich nicht, wie die Hagener Ankündigung will, in erster Linie ein Jugendmusica1, sondern die Gegenwartsgroßstadtkopie vom guten alten „Was ihr wollt“. Bach´sche Fugen sind „zum Gähnen“ und klassische Musik laut Textbuch „zum Kotzen“, aber beim noch älteren Shakespeare macht man seine Großanleihe in Story und ganzen Versen. Aus dieser Inkonsequenz kommt das Stückchen, das in seiner Originalform (Komponist Donald Driver) 1968 in Amerika als Jahresleistung ausgezeichnet wurde, nie bei heraus. Schade, denn die vielen jungen Hagener Musicalfans demonstrierten ihren Blumenkinder-Beat auf Bühne und Umgang mit so viel Temperament und ansteckender Spielfreude. Aber es gibt auch inzwischen deutsche Musicals, die viel konsequenter diese Jugend und ihre Probleme direkt ansprechen. Hier in Hagen geschieht das mehr auf dem Umweg einer recht spritzig verfahrenden, einfallsreichen Regie, (Hans Peter Kurr) und einer an sich ebenso differenziert und witzig, ja teilweise ironisch aufbereiteten Musik (Hans Hofmann und „Verborg Verborg Effector im Museum Effector“). Aber: Die Band sitzt reichlich hoch vor der Szene und spielt so laut, wie es selbst heute in Großstadt-Beatschuppen nicht mehr erwünscht ist. Man singt nur über Mikrofon. Der Text enthält auch Kalauer, die steinalte Operettenre- gisseure zum Weinen bringen würden und Shakespeares Narren albern meist. Die Verwechslung von Viola und Seba- stian wird - huch! - zur spaßigen Sex- Verwirrung aufbereitet. Mittelpunkt des zweistündigen buntlau- ten Szenenereignisses unter schönen farbigen Projektionen war die Viola der Gabriele Prüssing. Das Publikum, das zunächst zögernd nur das Haus füllte, spendete zum Schluss kräftigen Beifall.

Blick von innen (3) Die Euphorie hielt an. Die Theaterleitung sah sich auf dem richtigen Weg. Aufbruch war weiterhin angesagt. Tatsächlich lockte offenbar eine Rockband im Orchestergraben mehr Jugendliche ins Theater als üblich. So wurde im Laufe des Jahres 1974 eine weitere Veranstaltungsreihe etabliert. Wir spielten mit verschiedenen Hagener Musikern in der Theaterschlosserei Sessions nach Art des Free Jazz. Der Laden war immer brechend voll. Oft genug saßen wir in jenen Tagen abends mit Theaterleuten in einer Kneipe zusammen und diskutierten die Lage. Dabei waren natürlich Hans Hofmann, der immer „mitten drin“ war,

9 und auch Arwed Fritsch, der unermüdlich die Werbetrommel rührte. An einem Abend gesellte sich auch Orchesterchef Schwarz hinzu. Schließlich ging das Gespräch in die Richtung, dass man mal in Hagen musikalisch „mal“ etwas ganz anderes machen müsste.

Als Rockmusiker wussten wir eigentlich sofort, wo es lang gehen sollte. Bands in England wie „Deep Purple“ und „Procol Harum“ hatten es vorgemacht: Band and Orchester in Concert! „Wir haben in Hagen ein tolles Orchester - und es gibt Verborg Effector!“ so legten wir die Fallstricke in Richtung Schwarz aus. Zu unserer Verblüffung zögerte der Mann nicht lange und befand: „Das können wir auch!“ Damit war klar: Nach dem Musical würde ein neues Projekt folgen in der Zusammenarbeit von Orchester und Rockband. Hans Hofmann sollte die Leitung übernehmen.

Bis zum Sommer 1974 nahm das Ganze Gestalt an. Hans Hofmann würde den Or- chesterpart schreiben, wir die Bandmusik. Zusätzlich sollte noch ein Chor eingebun- den werden, möglichst aus Laiensängern. Damit hatte ich auch schon den Titel der Veranstaltung: Project OVEC (Orchester, Verborg Effector, Chor). Es wurde richtig Arbeit daraus. Neun Monate lang üben, verwerfen, üben… - Schließlich aber stand unser Stück „Changes“.

Hans Hofmann spielte uns seine Or- chesterteile immer auf dem Klavier vor und wir konnten uns kaum vorstellen, wie es einmal klingen würde. Einmal war eine Orchesterprobe angesetzt, aber eben nur fürs Orchester. Wir gingen hin und hörten

Session uns die Sache an. Ja, das hatte Hand und Fuß. Hans Hofmann wusste, was er tat. Chorproben fanden ebenfalls isoliert statt. Auch dort ließen wir uns blicken und sangen heftig mit. Alle zusammen, Band, Orchester und Chor, probten nur einmal gemeinsam - morgens am Tag der Aufführung. Aber wir haben es geschafft!

10 Aus der Sicht der Hagener Presse Westfalenpost vom 7.3.1975

Ischelandhalle: Die Verborgs probten den „Aufstand“ Uraufführung von „Changes“ - Lob für Chor und Orchester

(Dr. Laue) Das dritte Städt. Konzert der „Besonderen Reihe“ hatte einen ganz eigenen Charakter. Auf die Monotonie der kultischen indischen Musik und den zarten Silberklang des Mittelalters folgte jetzt der überlaute Sound des modernen Rock. Das Programm wies drei verschiedene Teile auf. Der erste gehörte dem Orchester der Stadt Hagen, der mittlere vereinigte das Sinfonie-Orchester mit der Rockband „Ver- borg Effector“ und dem Chor, der letzte war der Band allein vorbehalten. Beginnen wir mit dem mittleren Teil, dem Herzstück des Programms. Man hörte eine Uraufführung mit dem Titel „Changes“, ein Auftragswerk, das in Zu- sammenarbeit zwischen Verborg Effector und Kapellmeister Hans Hofmann entstand und die drei verschiedenen Klanggruppen miteinander verband, das Orchester der Stadt Hagen, die Aufführung in der Ischelandhalle Foto: Westfalenpost Verborgs und einen vielköpfigen Jugendchor. Was will diese Komposition? Die Erläuterung auf dem Pro- grammzettel sagt es. Sie meint, dass unsere E-Musik „an erstarrten Formen kränkelt“, während die Rockmusik „immer noch nicht als salonfähig gilt“. Den „offenen Raum dazwischen“ gelte es zu füllen. Dazu ist zweierlei zu sagen. Wir können nicht finden, dass die ernste Musik unserer Zeit an erstarrten Formen kränkelt; wir sind der Meinung, dass das Gegenteil der Fall ist. Zum andern sollte man nicht so tun, als gehöre das Unternehmen „in der deutschen Musikszene zur Ausnahme“. Vor vielen Jahren schon hörte man in einem Jugendkonzert in Hagen Rolf Liebermanns „Konzert für Jazzband und Orchester“ mit dem Städt. Orchester und der Jazzband von Kurt Edelhagen. Und in den Vereinigten Staaten bemüht sich Gunther Schuller, der ehemalige Solohor- nist der New Yorker Met, in seiner „Third Stream Music“ seit Jahrzehnten um eine Verbindung von sinfonischer und Jazzmusik, die auch in Deutschland schon gespielt wird. Sei dem nun, wie ihm wolle, das Hagener Unternehmen ist zu begrüßen und aller Anerkennung wert. Was man hörte, war interessant und gekonnt. Nach einer schwungvollen Einstimmung des Orchesters ging es über ein Flötensolo und über Orgelakkorde zu den Verborgs, die sich alsbald mit dem Orchester verbanden.

11 Rockband und Orchester konzertierten dann miteinander nach Art des alten Concerto grosso, bald gemeinsam, bald wechselweise, bald mit Solostimmen und Einwürfen des Chors. Eine toccatahafte Improvisation der Orgel, ein längeres Sax-Solo und einige lyrische Oasen ließen aufhorchen. Der hymnische Schluss vereinigte noch einmal alle Klangelemente. Warum nur, o Freunde, musste das alles so lautstark durch die Tonbrausen gejagt werden? Warum nur, warum? Im Schlussteil ging sogar der 150-köpfige Chor in den Klangwellen unter. Hans Hofmann stand alledem leitend vor und führte den Apparat überlegen und sicher. Im ersten Programmteil hatte er die Ouvertüre zu Michael Glinkas Märchenoper „Ruslan und Ludmilla“ und eine Reihe von Tänzen aus Chatchaturians Gajaneh-Ballett mit schwung- vollem Elan, rhythmisch brillant, nur mit zu aufdringlichem Blech und Schlagzeug musiziert. Der letzte Teil gehörte den Verborgs allein. Waren da auch Elemente des Spirituals und des West-Coast-Jazz? Schwer zu sagen. Die vollbesetzte Ischelandhalle jedenfalls war begeistert.

Blick von innen (4) Das waren nun wirklich neue Klangwelten, die sich da in Hagen entfaltet hatten. Zwei Jahre lang hatten wir mit Theaterleuten zusammen gearbeitet, die offen für Neues waren, die bereit waren für den Aufbruch. Auch für uns war es eine aufregende experimentelle Phase, die uns immer wieder neue Erfahrungen brachte. Vielleicht von allem ein wenig zu viel für eine junge Band. Im Laufe des Jahres 1975 löste sich Verborg Effector auf. Fast alle Bandmitglieder sind der Musik irgendwie verbunden geblieben. Am 10. März 2006 gab es nach 31 Jahren das erste gemeinsame Wiedersehen der Band.

Aus der Sicht der Hagener Presse Nachruf des Online-Magazins „Musikertreff Hagen“ vom Dezember 2004

Verborg Effector

Wenn eine Hagener Band zu Unrecht der schleichenden Vergessenheit anheim gefallen ist, dann ist es „Verborg Effector“. Sicher, sie entsprachen von Anfang bis Mitte der 70er- Jahre nicht dem damals aktuellen Glam-Rock-Ideal, keine kurzen Songs, die man einfach mitsummen konnte, sie waren eher dem Jazz Art- oder Symphonic-Rock zugehörig. „Verborg Effector“, gegründet Anfang 1972, das war in- telligente Musik, die alle Register zwischen Rock & Roll, Jazz und philharmonischer Musik bzw. Musical zogen.

12 Es dauerte fast zwei Jahre bis „Verborg Effector“ aus dem Keller des Elternhauses ihres Technikers Harro Kleffmann auf die Bühne kamen. In diesem Fall sogar die der Städtischen Bühne Hagen. Auf einem Bandwettbewerb, an dem 1973 drei Gruppen teilnahmen, sollte die Band ermittelt werden, die für das neu gegründete Jugendtheater Tut was ihr wollt die begleitende Gruppe werden sollte. Im ausverkauften Stadttheater vor 800 meist jugendlichen Zuhörern - über 200 musste der Eintritt verwehrt werden - überzeugten „Verborg Effector“ sowohl Publikum als auch die Jury. Das war der Anfang einer der interessantesten, wenn auch kurzen Bandlaufbahnen nicht nur Hagener Bands.

1974 wurde „Tut was ihr wollt“ aufgeführt. Im gleichen Jahr wurde „Verborg Effector“ weit über die Grenzen Hagens heraus bekannt, als Amnesty International für eine Veranstaltung in Hagen die Gruppe als Vorband für „Birth Control“ buchte.

Das größte Projekt sollte allerdings noch folgen. Zusammen mit Kapellmeister Hans Hoffmann der Städtischen Bühnen erarbeitete die Band ein sinfonisches Werk, das Rockmusik und Jazz mit klassischer Orchestermusik und Chor verband. OVEC (Orchester - „Verbrog Effector“ - Chor) war das erste Projekt dieser Art in Deutschland von deutschen Musikern. Das komplette Orchester, „Verborg Effector“ und fast 200 ChorsängerInnen bewiesen in der ausverkauften Ischelandhalle, dass hochwertige musikalische Experimente in Deutschland - und in Hagen - möglich sind.

Leider lösten sich „Verborg Effector“ im Laufe des Jahres 1975 Hans Hoffmann auf. Schade, es hätte sehr spannend werden können.

13 Die 1960er Jahre – Wie der Beat an die Volme kam von Rolf Esser Anmerkung: Der Verfasser dieses Beitrags war in den 1960er Jahren als Schlagzeuger aktives Mit- glied der Hagener Musikszene. Er hat viele Heizungskeller von Jugendheimen und Begegnungsstät- ten als Übungsraum kennen gelernt. Zudem war er ein eifriger und ständiger Besucher der Konzerte anderer Bands, mit denen er oft Bekanntschaft knüpfen und regen Austausch pflegen konnte. Nicht zuletzt hat er die Beatles 1966 leibhaftig erlebt, was ihn allein deswegen schon zu einem echten Beat- Musiker macht.

Wer heutigen Jugendlichen beschreiben will, wie sich ein junger Mensch in den 1960er Jah ren die Freizeit vertrieb, der muss sich auf großes Unverständnis gefasst machen. Aus dem heutigen Blickwinkel gesehen, war es die Steinzeit der Kommunikation. Kein Internet, kein Handy, kein Facebook, kein Twitter, rein gar nichts! „Ja, wie konntet ihr euch da überhaupt irgendwo treffen, so ganz ohne SMS?“ wundert sich die Tochter. Tatsächlich wundert man sich selbst und doch war es eine Zeit, in der die damaligen Jugendlichen äußerst kommunika tiv und gesellig miteinander umgingen. Verabredungen wurden rechtzeitig vorher getroffen oder mit dem guten alten Dampftelefon eingefädelt – sofern es ein Telefon in dem betreffenden Haushalt gab, was nicht selbstver ständlich war. Ein regelmäßig besuchter Ort war daher die Telefonzelle an der Straßenecke, wo sich durchaus auch mal Menschenschlangen bilden konnten. Es gab unzählige Witze über Zwangsbegegnungen an der Telefonzelle. Man konnte sich also sehr wohl treffen. So gab es in Hagen eine Anzahl von selbstverständli chen Treffpunkten. Wenn man diese ansteuerte, konnte man gewiss sein, auf Freunde oder Bekannte zu stoßen. Ein solcher mittäglicher Treffpunkt für die Hagener Gymnasiasten war etwa Eis Lazzarin in der Kampstraße. Dort mischten sich die Populationen der Jungen und Mädchengymnasien munter und es kam zu vielen anregenden Begegnungen. Nachmittags saß man gerne in der Öse im Volkspark. So manche sechste Unterrichtstunde wurde im Krokodil (heute Crocodile) in der Mittelstraße verbracht, denn dort befand sich der einzige innerstädtische Kicker. Auf dem Weg dorthin – etwa vom Städtischen Gymnasium (heute FichteGymnasium) aus – kam man an der über wiegend mit Schülern besetzten Engen Weste kaum vorbei. Für die älteren Semester besonders des Städtischen Gymnasiums und des TheodorHeuss Gymnasium war jedoch die Wappenschänke der bedeutendere Ort. Wenn es irgendwo auf dieser Welt einen Ort gab, wo existentielle Fragen vom Grundsatz her angegangen und mit dialektischer Konsequenz ins rechte Licht gerückt wurden, dann war das die Wappenschänke. Die Wappenschänke – angesiedelt zwischen dem Eissalon und der Bank in der heutigen Kampstraße – war nicht wirklich ein Ort intellektueller Feinsinnigkeit oder philosophischer Abgeklärtheit. Das wurde einem schon beim Versuch des Eintretens deutlich, wenn man sich durch einen dicken, düsteren Eingangsvorhang – einer Mischung aus in kaltem Zigaretten rauch gebeiztem Kamelhaarmantel und Wolldecke – hindurch zwängen musste. Hatte man dieses Hindernis überwunden, betrat man einen langen, engen Schlauch von Raum, der lin kerhand von einer wuchtigen Holztheke dominiert wurde. Ein notorisch schlecht gelaunt dreinblickender Wirt nebst ebensolcher Gattin hielt dort Wacht. Kenner der Szene wussten jedoch: Wirt und Gattin waren herzensgute Menschen, die auch die nötige Portion Humor für diese Art Tätigkeit hatten. Aber das musste ja nicht jeder sehen. Am Ende des Schlauchs stieß man auf das Zentrum der Gastlichkeit: den großen runden Stammtisch. In der Wappenschänke traf man sich mittags nach dem Unterricht zum Absacken und disku tierte über Gott und die Welt, über Marcuse oder Mao oder über die beste Marke bei Gürtel reifen. Oder man spielte einfach nur eine Runde Skat. Nicht, dass die Gymnasiasten elitär unter sich geblieben wären! Jeder war willkommen. So saß immer ein junger Mann aus dem Kaufhof in der Runde, der nur unter dem Spitznamen „Page Herbert“ bekannt war. Den hatte er sich aufgrund seiner Frisur erworben, die aber schon deutliche Merkmale eines beatligen Pilzkopfes aufwies. Man saß auf jeden Fall gesellig zusammen. Und rief man in den Raum „Heidi, einen Klopps!“, dann bekam man in kürzester Zeit eine echte Frikadelle mit dem schärfsten Senf seit Menschengedenken. Heidi war immer da, ein wahres ServiceGenie, aus gestattet mit einem maximalen Sinn für Spaß. Auch für Unternehmungen am Wochenende war es ratsam, vorher in der Wappenschänke vorbei zu schauen. Irgend jemand hatte immer einen Plan und dann strebte man gemeinsam in die gewünschte Vergnügungsrichtung. Wie sahen diese Vergnügungen in Hagen nun aus? Es gab keine Diskos. „Keine Diskos?“ fragt die Tochter erschüttert. Nein – aber es gab Unterhaltungsmöglichkeiten in einer Viel zahl, von der heutige Jugendliche vermutlich nur träumen können. Das Hagener Kneipenfes tival, so wie wir es heute kennen, fand in den 1960er Jahren an jedem Wochenende statt. Samstags und sonntags hatte man die Qual der Wahl, oft auch schon freitags abends. Denn überall in Hagen spielten an den verschiedensten Orten Bands. Spätestens seit den ersten Hits der Beatles war nämlich das BeatFieber bis nach Hagen durchgedrungen. Auch die Songs der Kinks , der Rolling Stones oder der Animals beflügelten die Phantasie. Unzählige Bands grün deten sich, um den Liverpooler Vorbildern nachzueifern. Ebenso schnell lösten sie sich wie der auf. Einige dieser Bands konnten sich aber mindestens lokal etablieren und blieben in den Erinnerungen an damals bestehen. Man konnte also an einem Abend mehrere Orte aufsuchen und dort Bands hören und sehen, was auch immer mit ausgiebigem Tanz verbunden war. Und der Unterschied zwischen dem Genuss von LiveMusik und Musik aus der Konserve dürfte wohl jedem klar sein. Es war eine unglaublich lebendige Szene und die Jugend genoss es mit großer Sympathie und Aus dauer.

Die Orte Zahlreiche Gastwirte in Hagen hatten die Zeichen der Zeit erkannt und funktionierten Ihre meist von Vereinen genutzten Säle in Beatschuppen um. War eine Bühne vorhanden – umso besser. Wurde noch eine Spiegelkugel an der Decke angebracht, dann war der Auftrittsort perfekt. So wurden jungen Bands Auftrittsmöglichkeiten geboten, um ihre Fähigkeiten zu testen, und die Wirte konnten sicher sein, dass der Laden meistens gut gefüllt war, weil die Bands ihre Anhänger mitbrachten. Zwar war der Getränkeumsatz pro Person vermutlich mä ßig, aber die Masse machte es. Überwiegend wurde ohnehin nur Cola getrunken, allenfalls mal ein AltSchuss. Die Bands spielten freitags, samstags und sonntags. Manche an einem Stück in einer Gaststät te. So musste man die Anlage nur einmal schleppen und aufbauen. Andere betrieben an den drei Tagen KneipenHopping und waren so ebenfalls gut beschäftigt. Bei der Vielzahl der Auftritte spielten die Gruppen ohne Gage. Es war ihnen eigentlich egal, Hauptsache man konnte seine musikalischen Energien auf die Menge loslassen. Und die Wirte hatten übli cherweise sowieso keine Mark über, obwohl sie im Grunde gut verdienten. Die Bands muss ten um jede Mark feilschen, aber es blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als das zu nehmen, was geboten wurde, wenn überhaupt. Die nächste Band stand schon vor der Tür. Normale Gaststätten waren aber als Auftrittsorte für Bands nur für Anfänger interessant und ansonsten zweite Wahl. Wer als Musiker etwas auf sich hielt, der trat in angesagten Hagener Musikhallen auf oder in jenen besonderen Kneipen, die sich als Stätten permanenter Live Musik etabliert hatten. Der Westfalenhof Eine dieser angesagten Stätten war für Musiker und Publikum der Westfalenhof. Der Westfa lenhof war ein unansehnlicher Bunker am Emilienplatz. Heute ist daraus die „Arche“ gewor den, eine kirchliche Hilfseinrichtung für bedürftige Menschen. Damals gab es in dem Bunker unten eine Kneipe und im ersten Stock einen großen Saal, der wohl bis zu 600 Besucher auf nehmen konnte. An der Kasse saß die Pächterin, Frau Bienek, die man als recht korpulente Person in Erinnerung hat.

Westfalenhof am Emilienplatz

Akustisch gesehen war der Westfalenhof eigentlich eine Katastrophe. Nichts als nackte, glatte Wände. Der daraus resultierend Sound war hohl und ohne Tiefe. Trotzdem war ein Auftritt hier für eine Band, die auf sich hielt, unumgänglich. Das Jugendheim Buschey Das Jugendheim Buschey (heute Kultopia) war ein weiterer begehrenswerter Auftrittsort für Musiker. In regelmäßiger Folge wurden hier Jugendtanzabende veranstaltet. Berühmt waren die Beatfestivals, an denen immer viele Bands teilnahmen, weil es Preise zu gewinnen gab. Mehr noch aber zählte der Ruhm, den man er werben konnte, wenn man zu den Siegern gehör te.

Jugendheim Buschey (heute Kultopia)

Das Jugendheim Haspe Das Jugendheim Haspe wurde 1964 er öffnet. Zunächst spielten dort reine Tanzkapellen wie etwa die Sharks . Aber der Beat machte auch hier vor den Toren Jugendheim Haspe* nicht Halt und alsbald gaben auch hier Beatbands den Ton an. Begehrt war der Auftritt im Jugendheim Haspe, weil die Heimleitung immer so genannte Hausbands engagierte. Das bedeutete, dass man mindestens einen Monat am Stück dort spielen konnte. Die Schützengilde Die Schützengilde in Wehringhausen war eine der typischen zu Beatlokalen umfunktionierten Kneipen in Hagen. Zahlreiche Bands traten dort auf. Der Tattersall Der Tattersall war eine Reitsporthal le, ungefähr da gelegen, wo heute das Kegel und Bowlingzentrum am Märkischen Ring ist. Der Name „Tattersall“ hat mit Saal nichts zu tun und müsste eigentlich englisch aus gesprochen werden (Lautschrift: tætəsɔːl). Er geht zurück auf den eng lischen Stallmeister, Pferdetrainer und Eigentümer der Londoner Ta geszeitung Morning Post, Richard Tattersall, der im Jahr 1766 Stallun gen mit Reithalle und Reitbahnen an der Südostecke des Londoner Hyde Parks eröffnete. Die feine Londoner Reithalle Tattersall Gesellschaft traf sich dort und schloss Wetten ab. Auch in Deutschland gab es mehrere Tattersalls. Das hört sich auf alle Fälle sehr edel an. Der Tattersall in Hagen, der zunächst als „Hagen Town Jazz Club“ firmier te, war jedoch alles andere als edel. Es handelte sich um zwei nicht besonders große Räume unterhalb der eigentli chen Reithalle, in denen es, wenn man eintrat, zunächst stockdunkel war – zappenduster, wie man in Hagen sagt. Erst wenn sich die Augen an die Gegebenheiten gewöhnt hatten, erkannte man, dass es im hinteren zweiten Raum wohl so etwas wie eine Beleuchtung über so etwas wie einer Theke gab. Man ahnte auch, dass an den Wänden so etwas wie Sofas standen. Hatte man das Glück, sich in ein solches Möbel hineinsetzen zu dürfen, so wollte man so fort den Sperrmüll bestellen.

Das war alles kein Grund, nicht in den Tattersall zu gehen, denn er war wohl seit 1964 der verruchteste (und damit Tattersall, Clubeingang* interessanteste) Beat Club in Hagen. Allerdings war es empfehlenswert, den Eltern einen Besuch des Clubs vorzuenthalten. Auch die permanente Dunkelheit wirkte sich insofern positiv aus, als bei zwischenmenschlichen Anbahnungs versuchen die jugendliche Akne ebenfalls im Dunkel unterging. Im Tattersall gaben zahl reiche Hagener Bands ihr Bestes. Am 10. Juni 1965 spielten dort sogar die Rattles , die immer als deutsche Beatles bezeichnet wur den. Der Verfasser dieser Zeilen wohnte die sem Ereignis bei. Die Musik war grandios, die Umstände waren grauenhaft. Die Räumlichkeiten waren total überfüllt. Man hatte wohl Karten verkauft ohne Rücksicht auf die Raumkapazitäten, wenn man sich die Nummerierung der Karten anschaut. Ich stand während des ganzen Konzerts an die Wand gelehnt auf der schwankenden Rücklehne eines Sofas direkt gegenüber der Ecke, in der die Rattles auf engs tem Raum spielten und genoss so den totalen Überblick. Nach dem Konzert hatte ich jedoch den kompletten Kalk der Wand auf meinem Rücken, weil die Feuchtigkeit im Raum wasser fallartige Zustände erreicht hatte. Das war eben Tattersall! Als aber später die WESTFALEN POST titelte: „Ordnungsamt macht Tattersall dicht – Minderjähriges Mädchen aufgegriffen – Clubraum völlig verwahrlost“, war das Ende des Veranstaltungsortes besiegelt. Schon vorher war der Club durch eine wüste Schlägerei aufgefallen. Nun brachte eine PolizeiRazzia das ganze Elend ans Tageslicht. Nach dem Bau einer neuen Reithalle am Höing wurde das Ge bäude insgesamt abgerissen. Der Eppenhauser Brunnen Für viele Beatjünger in Hagen war der Eppenhau ser Brunnen wohl einer der bevorzugten Plätze, in angenehmer Atmosphäre Musik zu konsumieren. Besonders, nachdem der Westfalenhof geschlossen worden war, traf man sich hier bevorzugt. Es gastier ten vornehmlich Haus bands über mehrere Wo chen, die sich bereits einen Namen gemacht hatten. Anfänger hatten da kaum Eppenhauser Brunnen eine Chance. Die Substitu- tes waren lange die Haus band des Eppenhauser Brunnens. Man wusste also, was man bekam. Im Eppenhauser Brun nen soll sogar in den 1970er Jahren Jethro Tull aufgetreten sein. Der Pferdestall Der Pferdestall (später Piccadilly) war eher eine SzeneKneipe in der Hindenburgstraße. Aber es fanden auch gelegentlich Konzerte statt. Der Raum war länglich und schmal und öffnete sich nach hinten zu einem Rechteck, wo links, durch eine Holzbalustrade getrennt, der Platz für die Bands angelegt war. Insgesamt eine recht enge Geschichte. Wenn man hinten rechts um die Ecke ging, kam man durch eine Tür in einen zweiten, ebenfalls sehr schmalen Gast raum. Dieser zeichnete sich – wie der TattersallClub – durch erhebliche Dunkelheit aus. Hier war der Ort, um in aller Ruhe sein Alt zu trinken und einen Joint durchzuziehen. Eigentlich reichte schon der schlichte Aufenthalt, ein Gefühl des HighSeins zu bekommen. Im Pferdestall waren Auftritte Hagener Beatbands nicht so zahlreich. Allerdings blieben zwei herausragende Konzerte in Erinnerung, die aber im inzwischen umbenannten Piccadilly statt fanden. Einmal war es Klaus Doldinger mit seiner Band Passport , der zu beeindrucken wuss te. Besonders bemerkenswert ist, dass am Schlagzeug Udo Lindenberg saß. Man vergisst leicht, dass Udo mal als Drummer angefangen hat. Das zweite Konzert wurde bestritten von der amerikanischen HammondOrgelLegende Jimmy Smith . Smith gilt als der bedeutendste Erneuerer des Orgelspiels im Modern Jazz. Den Einsatz der B3Hammondorgel revolutio nierte er in einer Weise, die eine Einteilung der Geschichte der JazzOrgel in eine Periode vor Jimmy Smith und eine Periode mit und nach ihm rechtfertigt. Er machte den Hammond Sound weltweit populär und ist Vorbild vieler späterer Organisten und Keyboarder. Im Pic cadilly konnte man Smith, sein Spiel und seine HammondB3 aus nächster Nähe erleben. Beeindruckend! Das Parkhaus Hagen

Parkhaus am Stadtgarten

Das große Haus am Stadtgarten war die Spielstätte so mancher Band. Oft fanden die Auftritte im Rahmen einer übergeordneten Veranstaltung statt. So etwa, wenn die Tanzschule Sieben hüner ihre jährliche TanzGala abzog oder wenn die Stadt Hagen Gäste hatte. Allerdings gab es auch große Tanzveranstaltungen, etwa mit Bands wie den Sharks. Für Bands war es natür lich schön, dort aufzutreten, denn im Vergleich zu manchem öden Beatschuppen war das doch eine ganz andere Umgebung, siehe Foto. Der reinste Luxus, wenn man so will. Die Gärtnerstuben Die Gärtnerstuben, in den Kleingartenanlagen am Höing gelegen, boten sich allein wegen des großen Saales mit Bühne für Auftritte an. Regelmäßig fanden dort Vereinsfeiern mit konven tionellen Tanzbands statt. Aber auch Beatbands durften dort spielen, besonders, wenn sie viel Publikum zogen. So kam eine Hagener Schülerband auf die Idee, endlich einmal ein großes Konzert zu stemmen. Man meldete bei den Gärtnerstuben ein Klassenfest an und machte dies in ganz Hagen an allen einschlägigen Orten bekannt. Fazit: Mit rund 300 Besuchern war der Saal gerammelt voll, die Band spielte vor ausverkauftem Haus und konnte ihr Glück kaum fassen. Das Haus der Begegnung Das Haus der Begegnung war bei der Jugend als Veranstaltungsort sehr beliebt, weil es zent ral in der Goldbergstraße lag und man daher schnell woanders hingehen konnte, wenn das Programm nicht gefiel. Hier spielten regelmäßig Bands, die auch oft genug dort üben durften. Das Haus der Jugend Das Haus der Jugend am unteren Remberg war ähnlich beliebt wie das Haus der Begegnung. Auch hier gab es oft Beatveranstaltungen, auf denen Bands spielten, die womöglich im Hei zungskeller übten. Das Haus der Jugend war als Veranstaltungsort sehr beliebt, weil es zent ral…s.o. Die Gaststätte Dienstuhl Dienstuhl in Dahl ist das auswärtige Lokal, das in Erinnerung blieb. Dahl gehörte damals noch nicht zu Hagen. Schöne Konzerte fanden hier statt, die auch immer ihre Besucher hatten. Al lerdings war es nicht unbedingt einfach, dorthin zu gelangen bzw. zu später Stunde wieder zurück nach Hagen, denn die Busverbindungen waren ge wiss nicht besser als heute. Wohl dem, der als Mitfahrer in ein Auto steigen konnte.

Vereinshaus St. Bonifatius Gaststätte Dienstuhl, Dahl In diesem Vereinshaus, an der Berliner Straße gelegen, fanden auch öfter mal Beatkonzerte statt. In Erinnerung blieb besonders ein toller Bandwettbewerb mit den absolut besten Hagener Bands. Es siegten die Substitutes mit dem Song „Taxman“ von den Beatles , den sie mit OriginalGitarrensolo spielten. Dazu muss man wissen, dass die Beatles bei diesem Solo das Tonband rückwärts laufen ließen. Im Jahre 2012 kam die für viele Hasper Vereine betrübliche Meldung, dass das traditionelle Vereins haus – kurz auch „Boni“ genannt – abgerissen werden und einer Wohnbebauung weichen soll. Sonstige Es gab, wie eingangs erwähnt, zahlreiche weiter Spielorte für Bands: die Gaststädte Nordpol am Remberg, Bei Johnny (Gaststätte Rolandseck, Rolandstraße), Haus Fischer (Eilpe), Gast stätte Wendel (Altenhagener Straße), St. Michael (Langestraße). An den genannten Stätten fanden mehr oder weniger regelmäßig Konzerte statt, anderswo gab es gelegentliche Auftritte von Beatbands. Auch in der näheren Umgebung Hagens fanden sich Lokalitäten, die zu besu chen sich lohnte, wenn man entsprechend mobil war. Herdecke, Ennepetal oder waren noch gut zu erreichen. Bei Schwerte, Iserlohn, Lüdenscheid und wurde es schon kritisch. Aber Hagener Bands machten sich an den Wochenenden in alle Richtungen auf bis hin nach Duisburg und ihre Fans folgten ihnen.

Die Musiker Die Musiker der Beatbands waren fast durch die Bank Autodidakten. Gelegentlich hatte viel leicht mal einer Klavierunterricht gehabt – und spielte dann Gitarre. Musikunterricht gab es nur in der klassischen Form: Klavier oder Geige war die Frage. Populäre Musik wie sie in heutigen Musikschulen über die ganze Bandbreite angeboten wird, war für Musiklehrer da mals fast ein Tabu. So bestanden die Beatbands nicht unbedingt aus begnadeten musikalischen Genies mit her ausragenden spieltechnischen Fähigkeiten. Viel mehr zählte der Eifer, mit dem die Jungs bei der Sache waren. Sie mussten sich alles selbst beibringen. Es war fast so wie in der späteren PunkMusik. Wenn man drei Akkorde auf der Gitarre konnte, war man fähig, in einer Band mitzuwirken. Die zu spielenden Songs wurden abgehört und in Gitarrengriffe übersetzt. Aktu elle Songbooks gab es nicht. Auch die englischen Texte musste man mühsam heraus hören, sofern sie nicht auf dem Plattencover oder in der Jugendpostille BRAVO nachzulesen waren. Da mag es manche Stilblüte gegeben haben. Apropos Jungs: Die Belegschaften der Bands rekrutierten sich ausschließlich aus der männlichen Bevölkerung. Es gab nur eine Frau, die in der Hagener Musikszene eine Rolle spielte. Das war die inzwischen verstorbene Hannelore Lünenschloss (Jetty), die u. a. bei den Substitutes sang. Die typische Bandformation war angelehnt an das englische Vorbild: Sologitarrist, Rhyth musgitarrist, Bassist, Schlagzeuger. Hinzu kam mitunter noch ein Sänger. Eine Orgel oder ein EPiano sah man eher selten. Die Qualität einer Band wurde am Satzgesang gemessen. Oft genug hatte auch der Drummer ein Mikrofon. Typisch für die Hagener BandSzene war auch, dass man gerne mal die Band wechselte. So ist es nicht verwunderlich, dass in den ver schiedensten Bands immer wieder dieselben Namen auftauchen. Es war durchaus üblich, an derweitig mal auszuhelfen oder einfach mitzuspielen. Und wenn eine komplette Band beim Konzert einer anderen auftauchte, wurde gerne die Frage gestellt: „Dürfen wir eine Einlage geben?“ Natürlich durfte man. Die Anfänge einer BeatBand gestalteten sich mitunter recht archaisch. So begann meine ei gene aktive Musikerzeit als BeatDrummer – wie bei vielen anderen Jugendlichen auch – in der obligatorischen Schülerband. Einige Klassenkameraden konnten schon Gitarre spielen, also machte ich mich mit dem Schlagzeug vertraut. Geübt wurde in der Fahrschule, die dem Vater eines Mitschülers gehörte. Praktisch, denn da machten wir alle später unseren Führer schein. Meine Drums bestanden in der Urversion zunächst aus einem Kuchenblech. Eine Gitarre mit Tonabnehmer wurde an ein Radio angeschlossen. Als Mikrofon diente eine Telefonkapsel, die natürlich auch an das Radio angeschlossen wurde. Der Radioapparat hielt das nur aus, weil die Dinger früher doch recht gewichtig waren und einen einigermaßen großen Lautsprecher hatten. Als Mikrofonstativ musste ein aus gemusterter Lampenständer herhalten. Dann wurde ein Kofferverstärker ange schafft, richtige EGitarren und ein echtes Schlagzeug. An diesen einen Kofferverstär ker wurden natürlich alle Instrumente und Mikrofone angeschlossen. Was sonst noch

Telefunken Echomixer so fehlte, wurde in der Regel von anderen Bands zusammengeliehen. Es war üblich, sich gegenseitig auszuhelfen. So hatte ein befreundeter Musiker einen „Echomixer“, der sich dadurch auszeichnete, dass er einerseits einen extrem blechernen Hall erzeugte und grausam schepperte, wenn man ihn nur berührte, andererseits man an ihn aber mehrere Gitarren bzw. Mikros gleichzeitig anschließen konnte. Mein Schlagzeug der weniger noblen Marke Tromsa kaufte ich im Musikhaus Köhler in der Neumarktstraße auf Pump. Es kostete die sagenhafte Summe von 500 DMark, viel Geld für einen Schüler. Der alte Köhler machte immer einen etwas grummeligen Eindruck, eigentlich interessierte ihn nur der Geigenbau. Aber er kam uns jungen Musikern oft entgegen und so konnte ich mit Ferienarbeit die Kaufsumme am Ende abstottern. Ausgerüstet mit einem derart tollen Schlagzeug („Das vollendete Luxusschlagzeug“; aus der TromsaWerbung) trommelte ich dann über die Jahre in den Formationen The Madcaps , The Dukes , Ra Horus und XYZ. 1966 wechselte ich zu The Fellows und spielte fortan neben Beat und Rock auch Tanzmusik. Überhaupt die Ausrüstung der Bands! Heute kann ein junger Gitarrist für vergleichsweise geringes Geld eine hervorragend ausgestattete Gitarre kaufen, die oft zwar aus einer Fernost Produktion stammt, aber dennoch eine Marke ist. In den 1960ern war das Angebot beschei den. Es gab Framus , Hopf oder Höfner Gitarren aus deutscher Produktion. Auch die waren nicht billig. Wer eine Fender Gitarre wollte, musste sehr tief in die Tasche greifen. Gibson war hierzulande kaum bekannt und an die begehrten Epiphone Gitarren, die die Beatles spiel ten, war kaum zu denken. Heute ist Epiphone die Billigmarke von Gibson. Ähnlich verhielt es sich mit den Verstärkern und Gesangsanlagen. Wer eine FenderGitarre besaß, der kaufte sich auch noch einen FenderAmp. Wenn schon, denn schon! Vielleicht gelang es auch, einen der sel tenen VOX Verstärker zu ergattern, die man von den Beatles kannte. Ab und zu sah man die engli schen Selmer Verstär ker, Konkurrenten von VOX, die sich

Fender Stratocaster aber nie so richtig durchsetzen konnten. Aus deutschen Landen gab es Dynacord und Echolette, aus denen sich zumeist die Gesangsanlagen rekrutierten. Sogar der Gesang der Beatles kam auf ihrer Deutschlandtournee 1966 aus EcholetteBoxen. All diesen Anlagen war jedoch gemeinsam, dass sie nur wenig Leistungsreserven hatten. Die Beschallung von großen Räumen oder gar Hallen war daher nicht einfach, was bei den Beatles sehr deutlich wurde. Die Schlagzeuger hatten ähnliche Probleme. Der Traum der BeatDrummer war natürlich das Ludwig Set von Ringo Starr. Aber erstens sah man dieses in kaum einem Musikladen, zwei tens sprengte es jede Musikerkasse. Trotzdem tauchte es in vielen Bands auf. Ebenso gut und sogar noch einen Kick teurer und seltener war das amerikanische Rogers Schlagzeug. Andere Marken, die oft und gerne gespielt wurden, waren Sonor , Trixon und Premier . Ausgerüstet wurden die Hagener Musiker von drei Musikläden: das bereits erwähnte Musik- haus Köhler , Otto Schade in der Kampstraße und Musik Pomerin am Hauptbahnhof. Das Mu sikhaus Köhler war spezialisiert auf das klassische Instrumentarium, nur selten sah man etwas Moder nes im Schaufenster, etwa ein Schlagzeug. Otto Schade bot so etwas wie den deutschen Mainstream der Bandausrüstung und handelte überwiegend mit Marken wie Dynacord oder Echo lette. Aber er hatte tatsächlich auch einmal ein LudwigSet in der Ausstellung. Ab und zu wurde es auch kraus. So schwärmte er mal davon, dass Dudelsäcke groß im Kommen seien. Er hatte wohl gerade einen solchen verkauft. Bei Pomerin gab es dann erstmals überwiegend professionelles Equipment, auch GibsonGitarren waren später im Angebot. Pomerin selbst stellte sogar preiswerte MusikerBoxen her, die durch eine bunte Frontbe spannung auffielen. Der Laden am Bahnhof wurde nach und nach bis in die 1970er Jahre hinein zum markanten Treffpunkt für Hagener Musiker. Allen drei Musikhäusern war gemeinsam, dass man mit Peter Pomerin vor seinem Geschäft* ihnen kungeln konnte und über einen privat abge schlossenen Kreditvertrag an seine Instrumente kam. Ein wichtiger Aspekt muss noch erwähnt werden: der Transport der Geräte und Anlagen. Heute wird darüber niemand mehr nachdenken, denn selbst Dorfkapellen sind inzwischen so umfangreich ausgerüstet, dass es ohne Auto nicht geht. Die jungen Musiker der 1960er Jahre aber hatten nicht unbedingt immer ein Fahrzeug zur Verfügung. Zwar war ihr Instrumenten park überschaubar, allein ein Schlagzeug nahm aber schon reichlich Raum ein. So blieben oftmals nur die öffentlichen Verkehrsmittel, um mit all dem Kram etwa vom Übungsraum zum Jugendheim Haspe zu gelangen. In Hagen bot sich die Straßenbahn geradezu an, denn auf der hinteren Plattform des Anhängers war reichlich Platz vorhanden. Und so geschah es oft genug – ab in die Bahn zum Auftritt.

Die Bands Musikalisch war das Programm der Bands klar umrissen. Es wurde fast ausschließlich nach gespielt. Es kam dabei darauf an, den Originalsong möglichst genau wiederzugeben. Während man heute bei Coverversionen auf die Individualität der Interpreten achtet, war diese in jenen Tagen überhaupt nicht gefragt. Wer einen KinksSong spielte, musst auch klingen wie die Kinks. Ein Joe Cocker mit seiner Version von „With A Little Help From My Friends“ wäre gar nicht gut angekommen beim Publikum. Die Bezeichnung „BeatBand“ für alle Hagener Gruppen ist sicher nicht ganz zutreffend. Zwar gab es unzählige Formationen, die den lupenreinen Beat spielten. Andere Bands aber hatten sich auf Rock´n´Roll spezialisiert oder auf Soul, der damals auch gerade in Mode war. Mitunter konnte man allein schon am BandNamen die Musikrichtung ablesen. Wie schon erwähnt, spielten an den Wochenenden in Hagen zahlreiche Bands gleichzeitig. Es war dann manchmal nicht einfach, eine Auswahl zu treffen. Manche Gruppe war einfach zu gut, als dass man sie verpassen wollte. Und man wollte den Auftritt auch komplett genießen. Spielte also die eine tolle Band im Westfalenhof, die andere im Eppenhauser Brunnen, dann musste man sich entscheiden. Man hatte aber immer den Trost, dass noch viele weitere Wo chenenden mit guten Bands bevorstanden. Im Folgenden stelle ich nur jene Bands vor, die mir gut in Erinnerung geblieben sind oder zu denen ich persönlichen Kontakt hatte. Die Substitu- tes , die zu jener Zeit eine wichtige Band in Hagen waren, lasse ich hier aus, weil sie bereits im HagenBuch 2010 umfassend gewürdigt wurden. Manfred Schimmich Es war immer ein Erlebnis, wenn man auf eine Band traf, bei der Manfred Schimmich als Sänger auftrat. Manfred wurde von allen nur Schimmi genannt. So sang Schimmi in den frühen 1960ern bei der Band The Diamonds . Später erlebte man ihn bei The Riddles, Any Five und Soul Movement . Wenn Schimmi im Westfalenhof sang, war es dort wirklich voll und der Abend war gerettet. Er konnte mit seiner Stimme wirklich alle Richtungen abdecken. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass es in Hagen keinen besseren Sänger gab. Und auch auswärts konnte er bei Talentwettbewerben immer punkten. Der Höhepunkt seines abendlichen Auftritts war erreicht, wenn er „The House Of The Rising Sun“ von den Animals zum Bes

Manfred „Schimmi“ Schimmich* ten gab. Da spürt man noch heute den Schauer auf dem Rücken. In den 1970er Jahren versuchte Schimmi als Marco Paul und Jim Thomsen eine So loKarriere und machte auch Probeaufnahmen in einem Studio in Berlin. Er war damit nicht sehr erfolgreich. Leider ist Manfred Schimmich viel zu früh verstorben. The Other Five Die Jungs von The Other Five waren in Altenhagen beheimatet. In der Gaststätte Wendel übten sie und traten auch dort auf. Aber sie spielten auch an allen anderen bekannten Orten in Hagen. Nach eigener Aussage wollten sie ihre musikalischen Vorbilder gut imitieren, aber auch ihren eigenen Stil in die Interpretation einbrin gen, was in Zeiten des Beat nicht unbe dingt selbstverständlich war. Wie kamen sie auf den seltsamen Namen? Antwort: „Wir sind fünf Mann, also musste die Zahl Fünf in dem Namen auftauchen. Der Beat kommt aus England, also musste der Na me aus dem Englischen kommen. Zu guter The Other Five: Jasinski, Wirth, Weber, Schulte, Du Nin Letzt gibt es eine Band in Dortmund mit dem Namen „The Any Five“. Also: The Other Five.“ Die Band bestand 1967 aus den Mitgliedern Detlev Wirth (Gitarre), Rainer Du Nin (Gitarre, Gesang), Wolfgang Jasinski (Gitarre), Manfred Schulte (Bass) und Herbert Weber (Schlag zeug, Gesang). Man hatte sogar einen Manager: Clemens Peters , ein ehemaliger Bassgitarrist, besorgte ihre Geschäfte und Auftritte. The Sharks Die Sharks waren wohl eine der langlebigsten Bands in Hagen. Ge gründet 1962, traten sie noch in den späten 1980er Jahren auf. In diesem Zeitraum gab es zahlreiche Umbe setzungen. Bemerkenswert war 1968 der Wechsel der Sängerin, als die sehr gut aussehende und sin gende Nanja Brühl zur Gruppe stieß. Die Sharks waren von Anfang an

The Sharks: Lange, Busch, Brühl, Ulianowsky, Steegmanns, eine Tanzcombo, obwohl sie natür Fricke* lich auch den Beat beherrschten. Sie hatten immer ein breites Reper toire und fielen besonders durch die multiinstrumentalen Fähigkeiten der Musiker auf. Die Sharks wurden später eine typische ShowBand, die auf großen Tanzveranstaltungen und Ga las ihren Platz fand. Soul Movement Aus dem Namen dieser Band konnte man nicht unbedingt auf das Programm schließen. Zwar spielten sie auch Soultypisches wie „Mustang Sally“ oder „Hold On I´m Coming“, wobei ihnen der Mangel eines Bläsersatzes kein Problem war. Ansonsten aber mischten sie ihre Darbietung munter durch und man bekam Songs von den Hollies bis zu den Beatles zu hören. Soul Movement hatten gut zu tun und waren auch im Ruhrgebiet und im Sauerland unter wegs. 1969 gab es eine Umbesetzung am Bass und der Sänger Manfred Schimmich (Schimmi) kam hinzu, was der Sache neuen Auftrieb gab. In der Urbesetzung bestand die Band aus Helmut Wockelmann (SoloGitarre), Udo Bardohl (RhythmusGitarre), Arnd Stein (Keyboards), Frank Bergmann (Bass) und Paul Dörrenbach (Schlagzeug). The Viscounts Die Musiker der Viscounts stammten aus Hagen und Dortmund. Oft spiel ten sie im Westfalenhof. Man konnte sicher sein, dass man von ihnen im mer die aktuellen Hits hörte. Auch auf Beatfestivals waren die Viscounts oft erfolgreich. In der letzten Besetzung spielten Ulrich Kinstner (Solo Gitarre), Dieter Drimitriowitsch (RhythmusGitarre), Herbert Jung (Schlagzeug) und Werner Weber

(Bass). The Viscounts: Jung, Weber, Kinstner, Drimitriowitsch* The Fellows Die Fellows waren sozusagen die Wollmilchsau der Hagener Bands. 1963 von Siggi Judtka und Arthur „Atze“ Oertel gegründet, hatten sie alles im Programm, was irgendwie veranstal tungsmäßig verwertbar war. Das reichte vom karnevalistischen Schunkellied bis zum Rock Knaller von The Who . Dem entsprechend traten die Fellows auch überall da auf, wo Mangel an universeller LiveMusik war. Sie waren in der Hagener Vereinsszene gut eingeführt und wurden gerne gebucht, wenn es um Vereinsfeiern aller Art ging. So waren sie regelmäßig Gast bei den Heidefreunden Boelerheide oder bestritten Jugendveranstaltungen der Katholi schen Gemeinde Eilpe. Anlässlich eines Empfangs der Stadt Hagen für eine israelische Delegation musizierten die Fel lows im Parkhaus. Bei der Groß veranstaltung „25 Jahre Karne valssamstag“ in der Akkuhalle sorgten sie für Stimmung. Selbst verständlich machten sie auch bei einem Beatfestival im Jugendheim Buschey mit. Von 1966 bis 1970 bestanden die Fellows aus den Musikern Sieg- fried Judtka (RhythmusGitarre, Gesang) Erhard Bücker (Solo The Fellows: Oertel, S. Judtka, Bücker, H. J. Judtka, Esser Gitarre, Gesang), Arthur Oertel (Keyboard, Gesang) Hans Jürgen Judtka (Bass, Gesang) und Rolf Esser (Schlagzeug, Gesang). Durch die Tatsache, dass alle in den Gesang eingebunden waren, konnten sie auch kompliziertere Songs wie „Silence Is Gol den“ gut meistern. Im Laufe der nächsten Jahre gab es am Schlagzeug einige Umbesetzungen. 1988 lösten sich die Fellows auf. Das Publikum Das junge Publikum jener Tage war unkompliziert. Man wollte einfach nur gute LiveMusik hören, tanzen und Spaß haben. Es gab so gut wie keine Krawalle bei den Veranstaltungen, außer gelegentlich bei Johnny in Haspe, wo oftmals Rocker einkehrten. Auch Betrunkene waren selten zu sehen. Man trank ohnehin überwiegend das Standardgetränk Cola, dass oft sogar im Eintrittspreis enthalten war, zum Beispiel im Westfalenhof. Bei den meisten Veran staltern wurde gegen 22 Uhr per Lautsprecherdurchsage darauf hingewiesen, dass Personen unter 18 Jahren nunmehr den Ort zu verlassen hatten, was in der Regel ohne Murren über die Bühne ging. Man ging sehr gesittet aus dem Haus zu einem Beatkonzert. Anzug und Krawatte waren selbstverständlich. Herren zogen gerne einen Blazer an, womöglich in der Ausgabe „Kamel haarblazer“, und dazu die schwarze oder graue Schlaghose. Bei den Damen bestimmten Rock oder Kleid das Bild, von Jeans keine Spur. Sehr schön lässt sich dieses Kleidungsgebahren heute noch in dem Bremer Fernsehklassiker „Beat Club“ beobachten. Jeans hießen damals übrigens „Nietenhosen“ und Cordhosen nannte man „Manchesterhosen“. Als männliche Fußbekleidung waren BeatlesStiefel naturgemäß groß in Mode. Wenn man sich bei Woolworth an der Goldbergstraßenecke noch einen Satz Ab sätze kaufte und diese unter die BeatlesStiefel na gelte, konnte man – innerlich und äußerlich ge wachsen – hoch erhobenen Hauptes die nächste Tanzveranstaltung besuchen. Erst als sich die HippieBewegung weltweit immer weiter ausbreitete, wurden die Bekleidungsmodalitäten lo ckerer. Und während es vorher beim Haarschnitt nur die Varianten Rundschnitt und Façonschnitt gab, begann nun auch für den Kopf schmuck der Männer eine neue Zeit. Die Haare wurden immer län ger. Bei den Hosen kreierte die deutsche Band The Lords eine ganz andere Möglichkeit, die Lord-Hose . Das war eine Hose, die zum Absatz hin eine Stufe hatte. Damit konnte man ältere Menschen völlig aus der Fassung bringen. Nichts lieber als das! Lordhose Nach einem erfolgreichen Tanzabend oder – aus Musikersicht – Konzert stand der Sinn oft nach einem späten Imbiss. Die erste Adresse in Hagen war dann immer der Stand von Lore Manfeld an der Ecke HugoPreußStraße/GrafvonGalenRing. Hinter der ImbissBude war ein großer Platz, ein planiertes ehemaliges Trümmergrundstück. Bei Lore Manfeld gab es die „Kalte Platte“: Currywurst mit Pommes rotweiß und obenauf – ein wirkliches Alleinstellungsmerkmal – noch leckere Gurkenscheiben. Allerdings wussten Eingeweihte, dass es die schärfere Currywurst in Bochum gab. Stand ein Auto zur Verfügung, dann ging es auch schnell mal in diese Richtung. Bei Preisen von 48 Pfennig (~ 24 Cent) pro Liter Normalbenzin machte man sich über Entfernungen, Umwelt und Kilometerfressen über haupt keine Gedanken.

Wer noch tiefer in die Geschichten der Hagener Beat-Musiker eintauchen möchte, dem sei das Buch „beat in hagen“ von Dietmar Brendel empfohlen, in dem der Schlagzeuger von Die Grafen sehr aus- führlich auf 200 Seiten mit zahlreichen Fotos und Dokumenten die komplette Szene von 1962-1969 darstellt. Alle mit * gekennzeichneten Fotos dieses Beitrags stammen aus diesem Buch. Bestellen kann man es unter [email protected] zum Preis von 24,50 Euro.