HERBERT HÖMIG

Carl Theodor von Dalberg

HERBERT HÖMIG

Carl Theodor von Dalberg

Staatsmann und Kirchenfürst im Schatten

Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich Umschlagabbildung: Robert Lefèvre, Carl Theodor von Dalberg (1811)

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E-Book ISBN 978-3-657-77240-7 ISBN der Printausgabe 978-3-506-77240-4 Inhalt

Vorwort ...... 9

I. Der späte Absolutismus ...... 13

II. Die rheinische Adelswelt ...... 21 1. Dalbergs Familie ...... 23 2. Kindheit und Jugend ...... 25 3. Studium ...... 28 4. Kavalierstour und Eintritt in den Staatsdienst ...... 31

III. Statthalter in Erfurt – Domscholaster in Würzburg ...... 33 1. Politische Verantwortung ...... 33 2. Soziale Reformen ...... 42 3. Gesellschaftliches Leben – Die Assembléen ...... 47 4. Begegnung mit dem klassischen Weimar ...... 49 5. aufklärung und Freimaurerei ...... 52 6. Der »Koadjutor der deutschen Literatur« ...... 55 7. Der Weimarer Musenhof ...... 70 8. Gelehrter und Mäzen ...... 75 9. Schul- und Bildungsreformen in Erfurt ...... 77 10. Die Erfurter Akademie ...... 85 11. Bildungsreformen in Würzburg ...... 93

IV. Mainzer Politik unter Erthal (1774 – 1802) ...... 97 1. ansätze zur Reichsreform ...... 97 2. Der Kurswechsel von 1777 ...... 98 3. Der Fürstenbund ...... 100 4. Die Emser Punktation von 1786 ...... 103 5. Febronianismus und Episkopalismus ...... 106 6 Inhalt

V. Koadjutor in , Worms und Konstanz (1787 – 1802) .. 109 1. Die Koadjutorwahl in Mainz ...... 109 2. Koadjutor in Worms und Konstanz ...... 130 3. Eine Reform des Fürstenbundes? ...... 138 4. Die Dalberg-Mission ...... 145 5. Reichspatriotismus: Vermittlungsversuche zwischen Mainz und Wien ...... 150 6. Widerstände im Fürstenbund ...... 157 7. Um die Nachfolge Colloredos ...... 159 8. Die Affäre Redwitz ...... 166

VI. Wetterleuchten der Revolution ...... 169 1. Der Konflikt mit Frankreich – Die Wahl Leopolds II...... 169 2. Die Kontroverse mit Humboldt ...... 174 3. Politisierung der Öffentlichkeit ...... 177 4. Bewährungsprobe in Konstanz – Entschiedene Reichspolitik ...... 178 5. Kriegsvorbereitungen ...... 185 6. Begrenzte Säkularisationen ...... 189 7. Die Besetzung von Mainz unter Custine im Herbst 1792 ...... 190 8. Erthals Exil ...... 194

VII. Das Ende des Kurfürstentums ...... 201 1. Das Schicksal von Mainz ...... 201 2. Die Folgen des Basler Friedens ...... 208 3. Österreichische Niederlagen ...... 211 4. Die Sonderrolle von Mainz ...... 213 5. anwalt des Reiches in Wien 1798 / 99 ...... 215 6. Verhandlungen in Regensburg ...... 228 7. albinis Neutralitätspolitik ...... 229 8. Die Anerkennung durch ...... 231 9. Verteidigungsanstrengungen ...... 235

VIII. Fürstbischof von Konstanz ...... 237 1. amtsantritt in Meersburg ...... 237 2. Wessenberg als Generalvikar ...... 239 3. Wirtschaftsförderung ...... 242 4. Konstanzer Reichspolitik ...... 243 5. annexion des Hochstifts durch Baden ...... 247 Inhalt 7

IX. Die Säkularisationsfrage im Reich ...... 251 1. Die Rettung des Mainzer Kurfürstentums ...... 251 2. Die Verhandlungen der Reichsdeputation ...... 259 3. Pläne für ein Reichskonkordat ...... 260 4. Die Nachfolge Erthals ...... 262 5. Der russisch-französische Entschädigungsplan ...... 267 6. Der Reichsdeputationshauptschluss ...... 280 7. Die Parität im Reichstag ...... 282 8. Festhalten an der Reichsverfassung ...... 283 9. Reichskirchenrecht und Reichsverfassung ...... 289 10. Metropolit der Reichskirche ...... 290 11. Neuer Anlauf für ein Reichskonkordat ...... 297

X. Kurerzkanzler und Erzbischof von Regensburg ...... 307 1. Der Erzkanzlerische Staat ...... 307 2. Fürst und Erzbischof ...... 315 3. Gefahren für das Fürstentum Regensburg ...... 322 4. anwalt der Reichsstände ...... 324 5. Die Dotationsfrage ...... 326 6. Staatsreformen ...... 331 7. Eine Ehrenmedaille für den Erzkanzler? ...... 338

XI. Im Schatten Napoleons ...... 361 1. Fürst von Bonapartes Gnaden ...... 361 2. Begegnung in Mainz ...... 368 3. Einladung zur Kaiserkrönung ...... 373 4. Konkordatsverhandlungen in ...... 374 5. Die Koadjutorfrage ...... 385 6. Fesch als Koadjutor? ...... 390

XII. Der Primas des Rheinbundes ...... 399 1. Die Gründung des Rheinbundes ...... 399 2. Das »Dritte Deutschland« ...... 402 3. Der Bundesvertrag ...... 404 4. Das Erlöschen des Erzkanzleramtes ...... 410 5. Verhandlungen über ein Rheinbund-Konkordat ...... 415 6. Die Verfassung des Rheinbundes ...... 417 7. Die Politik des Protektors ...... 433 8. Die Pariser Verhandlungen von 1807 / 08 ...... 438 9. Die Sukzessionsfrage ...... 444 8 Inhalt

10. Der Erfurter Fürstentag ...... 450 11. Fesch als Nachfolger? ...... 453 12. Der Ausbau des Primatialstaates ...... 456 13. Der Rheinbund im Krieg ...... 460

XIII. Grossherzog von Frankfurt ...... 471 1. Ein neuer Staat ...... 471 2. Die Kontinentalsperre ...... 490 3. Staatsverschuldung ...... 493 4. Einführung des Code Napoléon ...... 494 5. auswirkungen des Pariser Nationalkonzils ...... 498 6. Der französische Satellitenstaat ...... 503 7. Die Liquidation der Rheinbundpolitik ...... 514 8. Machtverfall ...... 517

XIV. Exkurs: Das Bistum Konstanz und die Schweizer Quart ... 531

XV. Das Ende der weltlichen Herrschaft ...... 549 1. Flucht in die Schweiz ...... 549 2. Die Abdankung als Großherzog ...... 553

XVI. Rückzug nach Regensburg ...... 563 1. Wessenbergs Wiener Verhandlungen ...... 563 2. Die Kritik an Dalbergs Bündnis mit Napoleon ...... 567 3. Die letzten Regensburger Jahre ...... 570

XVII. Das Urteil der Geschichte ...... 581

Anmerkungen ...... 587

Abkürzungen ...... 659

Quellen und Literatur ...... 661

Index ...... 679 Vorwort

Ein individuelles Leben zu beschreiben, ist nicht ohne weiteres in seiner histori- schen Bedeutung begründet, die aus dem kollektiven Bewusstsein einer bestimmten Epoche entspringt. Ob ein solches Unterfangen notwendig ist und dem Bedürfnis nach einer »Aufarbeitung« entspricht, ist noch weniger plausibel zu machen, als der Wunsch des Menschen, sich in seiner Welt und seiner Zeit zurecht zu finden. Das Gegenwärtige und unmittelbar Vergangene leitet sein Recht nicht aus dem Leben der Vorzeit her, wenn diese ihre Lebensmacht eingebüßt hat. Anders steht es mit dem Recht der Geschichte und dem Anspruch, den der Mensch an seine Ge- schichte zu stellen hat. Hier geht es nicht um historische Vorbilder, sondern auch um Zusammenhänge, die den Sinn des menschlichen Lebens betreffen. Die Frage Kants, »ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«, ist dem Zeitgenossen Carl Theodor von Dalberg vertraut gewesen. Für ihn war dies weniger ein philosophisches Problem als eine praktische Frage. Für ihn war es die Frage nach der Glückseligkeit, zu der die öffentlicheO rdnung die »Mitglieder« eines Staates hinführen müsse. Das Prinzip entsprach dem Ideal des besten Staates, dessen Vollkommenheit das politische Denken seit der Antike bis in die Gegenwart als Leitidee beherrscht und auch für alle Demokratie-Modelle der Gegenwart gilt. Auch totalitäre Staatsformen beanspruchen, wahre Demokratien zu sein. Der letzte Erzkanzler des Reiches empfand als Zeitgenosse die Französische Re- volution als »grand spectacle« und hielt die Vorgänge im Nachbarland bis zum Sturz der Monarchie als »crises violantes«, ohne die oft beschworenen schöpferi- schen Impulse der Ereignisse anzuerkennen. Dem Ausbau des modernen Staates galt das Interesse des aktiven Staatsmanns, der seit 1772 praktische Erfahrungen als kurfürstlicher Statthalter in Mainzischen Erfurt sammeln konnte, ehe er 1802 die Nachfolge Friedrich Carls von Erthals als Erzbischof von Mainz antrat. Dalberg war ein Kritiker »verderblicher Grundsätze« einer politischen Ordnung, die jeder- zeit gefährdet sei. Dieses führte ihn zu einer Revolutionslehre, die für alle Epochen gelte. Der Umsturz einer bestehenden Ordnung geschehe, wenn das Volk nicht mehr an die Gerechtigkeit des staatlichen Regiments glaube. Falsche Begriffe von einer »guten Staatsverfassung« könnten sich dabei verhängnisvoll auswirken. In Deutschland kenne das Volk im Unterschied zu Frankreich den Wert seiner Verfassung. Sie zu erhalten und zu stärken sei die Aufgabe des Staatsmannes. Die Rückständigkeit der deutschen Verhältnisse, die Hegel in seiner Verfassungsschrift 10 Vorwort von 1802 beklagte, bildete für Dalberg kein theoretisches Problem, da er die rela- tive Modernität des französischen Staates nicht zur Kenntnis nahm. Dalberg ver- suchte schon in seiner Erfurter Zeit die politischen Verhältnisse durch eine »gute« Regierung zu verbessern. Er folgte dabei jenen Grundsätzen, die ein aufgeklärter Absolutismus vor dem Ausbruch der Revolution 1789 allenthalben in Europa zu realisieren bestrebt war. Die verwaltungsmäßige Modernisierung der bestehenden Staaten war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überall im Schwange. Dal- berg machte hier keine Ausnahme, wenn er sich um Religion und Moral, Gesund- heit und die Sicherheit des Eigentums der Staatsbürger sorgte. Sein Ideal ist der aufgeklärte moderne Staat im Sinne seines Zeitgenossen des Großherzogs Leopold von Toskana und seines Ministers Francisco Maria Gianni (1728 ‒ 1821) gewesen, obwohl er das berühmte Verfassungsprojekt von 1762 nicht gekannt haben dürfte. Aufgeklärt absolutistischen Vorstellungen blieb er verpflichtet, auch als die Große Revolution das Ancien Régime in seine größte Krise stürzte. Die Modernisierung von Staat und Verfassung betrachtete er als Gegenmittel gegen das Übel der Revo- lution. Eine Wirtschaftsförderung nach physiokratischen Grundsätzen hielt er für vereinbar dem Ausbau der rechtsstaatlichen Ordnung im Rahmen einer moder- nen Verfassung, während er das Prinzip der Demokratie und des Parlamentarismus ablehnte. In seiner Spätzeit als Großherzog von Frankfurt sah er sich wiederholt öffentlicher Kritik ausgesetzt, der er nur mit der Berufung auf seinen guten Willen und vorgeblicher höherer Einsicht begegnete. Im Hintergrund stand freilich die in der deutschen Öffentlichkeit zunehmende Kritik an der Diktatur Napoleons, der Dalberg als Regent von dessen Gnaden keinen Raum bieten konnte. Die Glück- seligkeit als Gesellschaftsprinzip und die Staatenwohlfahrt betrachtete er nicht als Gegensätze. Eine solche Perspektive sollten erst Autoren wie Benjamin Constant (1767 ‒ 1830) bieten, die das Regime Napoleons zu reformieren suchten und einer späteren Ge- neration angehörten. Indessen erkannte auch Dalberg bereits, dass Despotismus und Demokratie derselben Epoche angehörten, nachdem er allzu lange auf den Stern Napoleons vertraut hatte. Der Kurerzkanzler und Erzbischof musste sich mehr mit der Reichsreform und der Säkularisation im ausgehenden 18. Jahrhun- dert als mit der revolutionären Bewegung in Frankreich auseinandersetzen. Die Herrschaftssäkularisation bekämpfte er, während er Vermögenssäkularisationen im Zeichen der Kirchenreform selbst in den geistlichen Staaten für denkbar hielt. So lag der Gedanke nahe, die Kirchenreform mit der Reichsreform zu verbinden, was ihn zu großangelegten Plänen für ein Reichskonkordat, zuletzt für ein Konkordat zwischen dem Rheinbund und der römischen Kurie, anregte. Schließlich hielt er die Kirchenreform für ein Mittel der Reichsreform, für deren Durchführung er den Kaiser Joseph II. und den Papst Pius VII. zu gewinnen hoffte. In der Rheinbunds- zeit erwartete er von Napoleon vergeblich, dass dieser gegenüber der Kurie eine Verständigung über ein Rheinbund-Konkordat nachdrücklich förderte. Dass er als Vorwort 11

Primas des Rheinbundes und Großherzog von Frankfurt in den Untergang des Napoleonischen Systems hineingerissen wurde, machte, wie er sich rückblickend eingestehen musste, die Tragik seines Lebens als Staatsmann und Kirchenfürst aus. Die Politik des Erfurter Statthalters und zeitweiligen Mainzer, Wormser und Konstanzer Koadjutors, späteren Fürstbischofs, Erzkanzlers, Großherzogs und Erz- bischofs gehörte zur deutschen und europäischen Geschichte des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. So bleibt die Frage nach der Stellung des Erzbischofs und Großherzogs in der neuzeitlichen Geschichte Deutschlands und Europas, die nicht offen gelassen wer- den kann, wenn man die retardierenden Momente des Geschichtsprozesses nicht unberücksichtigt lassen möchte. Sie dürfen nicht übersehen werden, wenn man die vorwärts treibenden Kräfte verstehen will. Dalbergs historische Epoche fällt weitgehend mit der klassischen Zeit der deut- schen Literatur und der Zeit Goethes, Herders, Wielands und Schiller zusammen. Der Verfasser widmet daher das Buch seinem verehrten Kollegen, dem international angesehenen Goetheforscher und zeitweiligen Präsidenten der Weimarer Goethe- Gesellschaft, Herrn Professor Dr. Dr. Werner Keller (Köln). Er dankt insbesondere seiner Frau Ursula und seinem Schüler Dr. Erik Gieseking für vielfältige Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlage.

Köln, im August 2011 Herbert Hömig

I. Der späte Absolutismus

»Von besonderem Reize ist … das Bild, welches das Großherzogtum Frankfurt darbietet. Napoleon hatte den militärisch wichtigsten Punkt Deutschlands, wo die Bergstraße von Süddeutschland her den Rhein verläßt und durch Wetterau und Kinzigtal nach Norden führt, durch einen eigenen Vasallenstaat gesichert und diesen dem letzten Erzbischof von Mainz und Kurerzkanzler des Reiches, Karl von Dalberg, gegeben: nach dem Tode dieses letzten geistlichen Fürsten soll- te Eugen Beauharnais Großherzog werden. Als Zögling der Aufklärung und ihrer Regierungsgrundsätze fühlte sich Dalberg dem französischen Kaiser aufs engste verbunden, er hat in seiner weichen, vermittelnden Art die westfälische Verfas- sung sich aufdrängen lassen, bei der Ausführung im einzelnen aber Rücksicht genommen auf die Gefühle der stolzen Reichsstadt Frankfurt und der ehedem bischöflichen Untertanen von Fulda und Aschaffenburg. … Im Übrigen ergaben sich in allen Rheinbundstaaten die Aufgaben aus der Natur der Sachen und aus der Staatspraxis des Jahrhunderts. Auch in dieser Hinsicht erlebten die deutschen Fürsten im Zeitalter der Revolution und Napoleons die Erfüllung alter Pläne.« (Franz Schnabel).1

Der Realismus dieser Beschreibung der politischen Verhältnisse in Deutschland in der Zeit Napoleons respektiert die historische Möglichkeit, dass die deutsche Ge- schichte ohne die siegreiche Französische Revolution einen anderen Verlauf hätte nehmen können. Schnabels Urteil über den Kurerzkanzler des 1806 untergegan- genen Deutschen Reiches und späteren Primas des Rheinbundes unterschied sich deutlich von dem vieler liberaler und kleindeutsch-national gesinnter Politiker des 19. Jahrhunderts. Man hat in Schnabels Werk mit guten Gründen das Gegenstück insbesondere zu dem Heinrich von Treitschkes sehen wollen. Die französische Perspektive ist unver- kennbar. Napoleon erscheint als der Gestalter der deutschen Verhältnisse, Dalberg als eine Figur in dessen weltgeschichtlichem Schachspiel, dem er am Ende zum Opfer fallen sollte. Der Erzbischof, als Kurerzkanzler Inhaber des höchsten Amtes nach dem Kaiser im alten deutschen Reich, der spätere Primas des Rheinbundes­ und Großherzog von Frankfurt hatte stets das Gesetz des politischen Handelns be- stimmen wollen und ist keineswegs ein Zauderer und ein Mann des bloß passiven Abwartens gewesen. Dieses zeitgenössische Klischee begünstigte indessen das ne- gative Bild, das die Geschichte seit dem 19. Jahrhundert von ihm überliefert hat.2 14 I. Der späte Absolutismus

Dabei geriet der handelnde, der praktische Staatsmann Dalberg allerdings nie völ- lig aus dem Blick, blieb aber der überwiegend regionalgeschichtlichen Perspektive vorbehalten. Sie arbeitete die Leistungen Dalbergs als Regent seiner verschiedenen kleinen Territorien heraus. Der vorbildliche und angesehene Statthalter von Erfurt (1771 – 1802), der sprichwörtliche »Koadjutor der deutschen Literatur«, wie er we- gen seiner Beziehungen zur Weimarer Klassik genannt wurde, der Bildungs- und Universitätsreformer, der Kurfürst-Erzkanzler, der Großherzog von Frankfurt und auch noch der Erzbischof von Regensburg hat seine Spuren in den jeweiligen Terri- torien hinterlassen. Seine intensiven Bemühungen um das Schul- und Bildungswe- sen rechtfertigten auch den Titel eines »Koadjutors der Schule« (Th. J. Scherg). Das Andenken des dreifachen bischöflichen Koadjutors von Mainz, Worms und Konstanz ist bis in die jüngste Zeit vornehmlich von Lokal- und Landeshistorikern belebt worden, nachdem die Grundlinien seiner Biographie in dem bahnbrechen- den zweibändigen Werk von Karl v. Beaulieu-Marconnay (1879) gelegt worden waren. Auch die jüngeren Untersuchungen überliefern das Bild eines zu Unrecht vergessenen Staatsmanns und halten das Interesse an seiner Persönlichkeit und sei- ner engeren Lebenswelt wach, obwohl die Quellenlage von der archivalischen Seite her nicht als günstig anzusehen ist. Dies hat sich seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht geändert. Die Monographien von Beda (Hubert) Bastgen (1917), Hubert Becher (1944), Antje Frey (1978) und Klaus Rob (1984) belegen die Abkehr der Forschung von den nationalgeschichtlichen Prinzipien des 19. Jahrhunderts. Die jüngeren Studi- en, in Form von Sammelbänden herausgegeben von Hans-Bernd Spies, Konrad M. Färber, Albrecht Klose und Hermann Reidel (1994). sowie von Karl Hausber- ger (1995) bestätigen diese Problematik. Die zahlreichen Einzelstudien von Hans- Bernd Spies über Dalberg entfalten jedoch ein überaus differenziertes Bild der Per- sönlichkeit Dalbergs. Karl M. Färber meinte jedoch bereits 1964, dass es Zeit sei, endlich den »ganzen Dalberg« darzustellen. Dalbergs persönlicher Nachlass ist seit langem spurlos verschwunden. Er soll nach seiner Flucht aus Aschaffenburg 1813 verloren gegangen sein. Eine größere Zahl von Papieren soll nach Dalbergs Tod verbrannt worden sein. Auch einzelne Briefe, die im Besitz des Weihbischofs Joseph Hieronymus Carl Freiherr v. Kolborn (1744 – 1816) waren, sind verschollen. Ein Teilnachlass für die Zeit zwischen 1814 – 1817 aus der sogenannten Älteren Linie der Dalbergs liegt in der Handschriften- abteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Die Korrespondenz zwi- schen Dalberg und Wessenberg befindet sich teilweise im Stadtarchiv Konstanz. Der Nachlass von Carl Theodors Neffen Emmerich Joseph liegt im Stadtarchiv Worms. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Dalbergsche Familienarchiv in we- sentlichen Teilen verloren.3 Beträchtliche Bestände zu der Epoche befinden sich im Archiv des Quai d’Orsay, darunter mehrere Briefe Dalbergs an Napoleon sowie die Berichte französischer Diplomaten aus den Jahren 1802 – 1813.4 I. Der späte Absolutismus 15

Dalbergs Rolle in der Reichspolitik vor der Französischen Revolution und wäh- rend der Wirren der Revolutionskriege, erschien schon den Zeitgenossen tief pro- blematisch, so sehr man ihm die Absichten eines wohlmeinenden Regenten vor allem innerhalb des Napoleonischen Herrschaftssystems immer wieder zubilligte. Gelegentlich ist ihm bescheinigt worden, dass er selbst in seiner Laufbahn in ers- ter Linie das Opfer der Zeitumstände und gewaltiger historischer und politischer Umwälzungen gewesen ist. Ihnen wären auch stärkere Charaktere kaum gewachsen gewesen, wenn sie sich ihm hätten entgegenstellen wollen.5 So bleibt die Frage nach seinen Bestrebungen und Absichten, seiner Kennt- nis von Menschen und Welt, insofern auch nach den Bedingungen, unter denen er zu wirken suchte, berechtigt. Sie ist nicht gleichbedeutend mit der Frage nach seiner historischen »Größe«, die nicht ohne weiteres vom Glanz des Alten Rei- ches hergeleitet werden kann. Dieses hatte, wie Hegel in seiner Jugendschrift über die Verfassung Deutschlands (1801 / 1802) hervorhob, viel von seinem einstigen Glanz verloren. Es sei kein »Staat in Wirklichkeit« mehr und es gebe keinen Streit darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle.6 So einsichtig dies zeitgenössischen und späteren Kritikern der Reichspolitik scheinen mochte, so pro- blematisch erweist sich die historische Dimension. Hegel stand am Beginn einer breiten nationalen Bewegung, die die ältere deutsche Reichsgeschichte unter dem Gesichtspunkt territorialer Zersplitterung verstand. Diese Deutung verkannte den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Territorialisierung des aus dem Mittelal- ter überkommenen deutschen Personenverbandsstaates. Die Reichstradition stand der Bildung eines deutschen Nationalstaates im Zeit- alter der Französischen Revolution entgegen. So konnte man die Deutschen eine »verspätete Nation« (H. Plessner) nennen.7 Denn die Zielrichtung von Hegels Deutung des Verfassungsproblems lässt sich bei aller Hellsichtigkeit umkehren. Die Formel hätte heißen können: Deutschland hat noch keine Verfassung. Der all- gemeine Territorialisierungsprozess in Deutschland war nicht dem Heiligen Reich, das für Dalberg stets seinen gleichsam sakralen Charakter behielt, zugute gekom- men, sondern den intermediären Gewalten der einzelnen politischen Gebilde. Die deutschen Fürsten waren seit dem späten Mittelalter die Träger langfristig wirken- der Souveränitätsbestrebungen und – damit einhergehend – einer gegenüber Kaiser und Reich selbständigen deutschen und europäischen Politik gewesen. Im Zeitalter der Französischen Revolution sollte der Unterschied zwischen der Entwicklung im Reich und in den westeuropäischen Nationalstaaten, insbesondere in Frankreich, weltgeschichtliche Bedeutung gewinnen. Das vordringende säkulare Naturrecht und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sollten sich in Europa gegenüber allen älteren Traditionen als stärker erweisen. Im Zeichen des Aufgeklärten Abso- lutismus geriet das öffentliche Interesse der Staatsvernunft, die sich als ragione di stato seit der Renaissance auf dem Boden einzelner Territorien entwickelte, in einen Gegensatz zur Idee des Heiligen Reiches. 16 I. Der späte Absolutismus

Am Ende des 18. Jahrhundert bezeichnete man »in dem gemeinen Sprach- gebrauche unter dem Wort Reich nur einige südliche Provinzen Teutschlands«, schrieb der Jurist am Reichskammergericht in Wetzlar und leitende Staatsmann der letzten Würzburger Fürstbischöfe und des Großherzogs Ferdinand von Würz- burg, Johann Michael v. Seuffert (1765 – 1829).8 Auch Dalberg war dieser Sicht verpflichtet und betrachtete die Gegend als sein »südlich teutsches Vaterland«. In einem Vortrag vor der 1754 begründeten »Churfürstlich Mayntzischen Academie nützlicher Wissenschaften« zu Erfurt bezeichnete er am 3. August 1795 die Zerstö- rung der Reichsverfassung als Voraussetzung künftiger politischer Übel. Er tat dies unter dem Eindruck der Französischen Revolution und des Basler Friedens zwi- schen Frankreich und Deutschland durch Preußen am 5. April 1795. Die Revolu- tion in Frankreich lehnte er von Anfang an ab. Sie war für ihn zunächst ein »grand spectacle« einhergehend mit »crises violentes«. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Caroline von Wolzogen berichtet, dass in einer »Gesellschaft von sechshundert Menschen etwas Vernünftiges beschlossen« werde. Dies war sein Kommentar zu den Vorgängen in der Französischen Nationalversammlung. Dem »Spezialprotektor« der Erfurter Akademie – in Vertretung des Kurfürsten Friedrich Carl Joseph von Erthal als eigentlichem Protektor – in den Jahren 1775 – 1802)9 ging es um die Erhaltung der Verfassung des Reiches, die bis 1806 bestand. Politisches Subjekt einer solchen Entwicklung war für ihn ein Volk, das jahrhun- dertelang an eine bestimmte Ordnung gewöhnt war. Insofern sprach er auch dem Heiligen Reich eine »Verfassung« zu. Es werde »in jedem Falle einer unangeneh- men Lage seine neue Verfassung wieder ändern wollen, und so werden Erschütte- rungen auf Erschütterungen folgen.« Nach seiner Überzeugung erforderte wahrer Patriotismus »Kraft und Mäßigung, Verstand und Klugheit.« Entscheidend sei das allgemeine Wohl. »Der wahre Patriot sieht unverrückt auf das gemeine Beste, hilft, wo er kann, weiss aber auch, das die Verbesserungen reifen müssen, wenn das Gute dauerhaft sein soll; daß das Uebel ärger wird, wenn man es voreilig bekämpft.« Nach der Schrift »Von Erhaltung der Staatsverfassungen« (1795) rechnete Dal- berg mit dem Ende der Reichsverfassung, wenn die geistlichen Staaten säkularisiert würden. Diesen Standpunkt vertrat er sechs Jahre später auch in einer anonymen Schrift über die Säkularisationen. Jede Änderung der Verfassung ziehe, so führte er dort aus, weitere Änderungen nach sich. Einer Erhaltung der geistlichen Fürsten- tümer wagte er indessen damals noch nicht das Wort zu reden. Die Säkularisation war zu erwarten, nachdem sich die Germania Sacra als min- dere politische Kraft im Reich erwiesen hatte. Als Dispositionsmasse zur Beilegung künftiger politischer Konflikte waren die geistlichen Staaten seit längerem von den mittleren und größeren Mächten erkannt worden. Diese Haltung entsprach der Ansicht, die von evangelischer Seite, etwa von dem Hannoveraner Juristen Ernst Brandes (1758 – 1810), dem Studienfreund des Freiherrn vom Stein, geäußert wur- de. Brandes hatte drei Jahre zuvor eine Schrift mit dem Titel »Über einige bisherige I. Der späte Absolutismus 17

Folgen der Französischen Revolution mit Rücksicht auf Deutschland« (1792) ver- öffentlicht, in der er die Gefahren für das Reich durch die Revolutionspropaganda als gering einschätzte, jedoch mahnte, rechtzeitig mit inneren Reformen zu begin- nen – ein Standpunkt, den Dalberg teilte. Brandes hielt die Revolutionsbegeiste- rung in bürgerlichen Kreisen für eine vorübergehende Erscheinung auch in den geistlichen Territorien. Diese Fürstentümer galten im ausgehenden 18. Jahrhun- dert als Adelsrepubliken, die auch Dalberg für überholt hielt, obwohl er sie retten wollte.10 Für Dalberg war eine Staatsverfassung eine »gegenwärtig festgesetzte Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft«. Deren innere Struktur hielt er für sekundär. »In jeder Verfassung kann das wahre Gute befördert werden, können Missbräuche ab- gestellt werden. Dieses vermag eben sowohl der Fürst, als auch diejenige Versamm- lung, welcher die Verwaltung eines Freystaates anvertraut ist.« Voraussetzung war der wiederholt von ihm postulierte Staatszweck: die »Glückseligkeit aller Mitglie- der des Staats«. Diesen Zweck sah er in der »Teutschen Verfassung« weitgehend realisiert. Die Legislative sei Sache des Reichstages, der alle Mitglieder des Staates vertrete. Die Exekutive liege in der Hand des »einen Mannes, des Monarchen«, wobei er gewisse Mängel der bestehenden politischen Ordnung einräumte. Die vorhandenen Schwächen sah er vor allem auf moralischem Gebiet. Die Rede war von »falschen Staatskünsten, ungerechtem Erobern, Uebertretung des Völkerrechts, Ausstreuen der Zwietracht, grausame Mishandlungen und unedle Bestechungen«, nicht jedoch von den gleichzeitigen Entwicklungen in Frankreich und nicht von der inneren Problematik der einzelnen Staatsformen.11 Die Botschaft war eindeutig: Der langjährige Statthalter von Erfurt im Range eines Wirklichen Geheimen Rates erwartete von Umwälzungen, die aus der Mitte der Gesellschaft, aus dem »Volk« hervorgingen, keine günstige politische Entwick- lung – weder in der Gegenwart, d. h. in den ersten Jahren nach der Französischen Revolution, noch für alle Zukunft. Er wollte nicht voraussagen, ob es eine ähnliche Entwicklung wie in Frankreich auch in Deutschland geben werde. Es gebe keine Propheten mehr. Den für die Aufklärer typischen Traum vom besten Staat träumte er als Vertreter einer historisch konkreten, aristokratischen politischen Elite. Das Problem, wer regieren solle, war für ihn eine Frage der intellektuellen und mora- lischen Befähigung, die er im Zeichen des späten aufgeklärten Absolutismus für entschieden hielt. Für ihn bildeten »Reichskirche, Reichsadel und Reichsverfassung eine unlösbare Einheit« (K. O. v. Aretin). Dem entsprach der Gedanke, dass der Vernichtung der Reichskirche die Vernichtung der Reichsverfassung folgen werde. Das Urteil des Aristokraten offenbarte die Ratlosigkeit einer politischen Elite, die gegenüber einer stärker werdenden bürgerlichen Öffentlichkeit unvermeidlich in die Defensive geraten musste. Der weltliche Besitz der Reichskirche beruhte noch im 18. Jahrhundert überwiegend auf Stiftungen des Adels, der aus dieser Tatsache seinen politischen Einfluss herleitete, abgesehen davon, dass er die Kirche weithin 18 I. Der späte Absolutismus als Versorgungseinrichtung betrachtete. Die Vorschrift des Trienter Konzils, dass auch Bürgerliche in die Domkapitel berufen werden dürften, ignorierte man. Im Gegenteil, man verschärfte die Bedingungen zunehmend und verlangte erst recht die Ahnenprobe von mindestens acht bis sechzehn reichsadligen Vorfahren. Die von Dalberg angeregte Preisfrage der Erfurter Akademie von 1792 lässt dies erken- nen: »Wodurch das deutsche Volk, von den Vorteilen seiner vaterländischen Verfas- sung belehret« werde? Sie setzte die Existenz einer solchen Verfassung voraus.12 Das geistliche Kurfürstentum Mainz stand also am Ende des 18. Jahrhundert ebenso wie die anderen geistlichen Herrschaften in einem paradoxen Gegensatz zu den regulären kirchlichen Institutionen, die die Bestimmungen des Trienter Kon- zils vorsahen. Die Personalunion von Bischofsamt und Reichsfürstenstand war oh- nehin mit den Grundsätzen der Gegenreformation unvereinbar, auch wenn sie sich noch historisch erhalten hatte. Die politischen Reformen, die äußerlich auf die fi- nanzielle Sanierung der geistlichen Staaten gerichtet waren, entsprachen der Tatsa- che, dass die Zeit der mittelalterlichen Adelskirche seit der Reformation abgelaufen war. Alle gleichermaßen aristokratisch und nationalkirchlich orientierten Reform­ ideen, wie sie u. a. vom Trierer Weihbischof Nikolaus v. Hontheim (1701 – 1790) vertreten wurden, sollten sich in dieser Hinsicht als rückwärtsgewandt und proble- matisch erweisen, obwohl sie zu politisch gemeinten Unionsprojekten führten. Sie dienten in letzter Konsequenz dazu, den römischen Primat herauszufordern, auch wenn Hontheim einen Ausgleich zwischen den bischöflichen Rechten und dem päpstlichen Primatsanspruch für möglich hielt. Ein nationaler Primat könne und dürfe nur in Gemeinschaft mit dem Heiligen Stuhl ausgeübt werden, war seine Überzeugung. Die Paradoxie lag auf der Hand. Die überkommene Verfassung des Reiches war nach Hegel nicht auf den Begriff zu bringen, weil sie nicht mehr wirklich existierte. Das Heilige Reich war noch kein Vaterland im modernen Sinne, so wahr es ist, dass die deutsche Nationalidee sich bereits lange vor der Französischen Revoluti- on entwickelt hatte, so sehr sie bald gegenüber westeuropäischen Vorbildern ins Hintertreffen geriet. Der Reichspatriotismus des 18. Jahrhunderts, den Dalberg verkörperte, hat den Untergang des Alten Reiches am 6. August 1806, als Kaiser Franz II., den noch Kurfürst Friedrich Carl Joseph v. Erthal 1792 gekrönt hatte, die Kaiserkrone niederlegte, nicht überlebt. Die Vertreter des literarischen Deutsch- land standen solchen Vorstellungen ohnehin fern, wie sie den neueren politischen Idealen noch lange abhold blieben.13 Sie schienen Denkern wie dem holländischen Ratspensionär Johan de Witt (1625 – 1672) nachträglich recht zu geben, der im Reich nur eine »Chimäre und ein Skelett« gesehen hatte, »dessen Teile nicht durch Nerven, sondern durch Messingdrähte mit einander verbunden« seien.14 Dies bedeutet nicht, dass der Einfluss der französischenA ufklärung auf das poli- tische Denken in Deutschland unerheblich gewesen wäre. Allein der Einfluss Rous- seaus auf Denker wie Kant und Hegel ist beachtlich gewesen. Andererseits blieben I. Der späte Absolutismus 19 die Ordnungsvorstellungen, die hinter der Reichsverfassung seit dem Wiener Kon- kordat von 1485 standen, als Leitbilder politischen Denkens wirksam. Dies gilt selbst für Hegels Verfassungsschrift, die das Reich bei aller Kritik allzu sehr unter modernen Gesichtspunkten betrachtete, um dessen Rückständigkeit herauszuar- beiten.15 So verwundert es nicht, dass noch Treitschke die »längst schon brüchige Reichsverfassung« unter dem Eindringen des Protestantismus als eine »hässliche Lüge« ansah.16 So wurden in der Nachfolge Hegels sowohl das Reich wie auch die fürstlichen Territorien von den Zeitgenossen gleichermaßen nach dem Vorbild moderner Staatlichkeit, d. h. unter dem Gesichtspunkt staatlicher Souveränität interpretiert, ehe die romantische Bewegung der historischen Realität des Reiches Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Für Hegel war das Reich nur noch ein »Gedankending«, ein »Staat in Gedanken« gewesen. Eine reichsweit verbreitete politische Führungs- schicht als Trägerin eines neuen Staatsverständnisses und einer revolutionären bür- gerlichen Bewegung ist, wie unter anderem Karl Otmar v. Aretin gezeigt hat, in Deutschland nicht vorhanden gewesen.17

II. Die rheinische Adelswelt

Eine solche bürgerliche Schicht hätte die Trägerin eines auf das Reich bezogenen aufgeklärten Absolutismus sein können. Der Kaiser als Souverän der habsburgi- schen Erblande und insofern als Inhaber einer beträchtlichen Hausmacht, erwies sich als unfähig, politische Kräfte an sich zu binden, wie dies die gescheiterten Re- formversuche Josephs II. eindrucksvoll demonstrierten. Vergeblich wies der Göt- tinger Staatsrechtslehrer Johann Stephan Pütter (1725 – 1807) darauf hin, dass ein Kaiser »allemal zweierlei Personen« vorstelle, »indem er anders als Kaiser, anders in Ansehung seiner Erblande zu betrachten« sei. Ein solcher Gedanke widersprach der historischen Entwicklung. Dass die bürgerliche Revolution in Frankreich ausbrach, belegt den Umstand, dass der Aufgeklärte Absolutismus als Reformprogramm zur Überwindung überkommener feudaler Strukturen die intellektuellen bürgerlichen Eliten Deutschlands nicht überzeugte.1 Es blieb bis zur Revolution von 1789 mehr Anspruch als Realität. In Deutschland hatte das absolutistische Projekt auf der Ebene der mittleren und kleineren Territorien seine Grenzen noch nicht erreicht, wenn man von Ausnahmen absieht, die unter dem Gesichtspunkt absolutistischer Tyrannei für öffentliches Aufsehen sorgten. Das Schicksal des Publizisten Christian Friedrich Schubart (1739 – 1791) und des Juristen Johann Jacob Moser in langer Haft während der Regierung des Her- zogs Carl Eugen von Württemberg (1728 – 1793) fand daher große Anteilnahme. In den achtziger Jahren erfreute sich die Parole »In Tyrannos« großer Beliebtheit bei der empfindsam gestimmten Jugend. Doch waren Gestalten wie Carl Eugen eher als Ausnahmen, denn als charakteristische Figuren des Revolutionszeitalters anzusehen. Selbst Carl Eugen ist, wenn man von dem Bild dieses Herrschers in der Lebensgeschichte Schillers absieht, überwiegend ein Beispiel für den Souverän eines Staates gewesen, dem die Wohlfahrt und die Entwicklung seines Staates am Herzen gelegen haben. Die Forderung des Karl Moor in Schillers »Räubern« (I, 2, Schänke an der Grenze zu Sachsen), aus Deutschland eine Republik zu machen, »gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen« bezieht sich nicht allein auf die Gründung einer Räuberbande. Der deutsche Absolutismus im 18. Jahrhundert ist überwiegend geprägt durch Gestalten wie Friedrich den Großen und Kaiserin Maria Theresia, die dem Ide- al der Verbesserung der Lebensverhältnisse ihrer Untertanen verpflichtet gewesen sind. Die kleineren Höfe wetteiferten nicht selten mit ihren größeren Vorbildern 22 II. Die rheinische Adelswelt in Wien und Berlin. Die Vielzahl der Monarchien im Reich verhinderte ohnehin, dass sich eine einheitliche politische Front gegen einen als fremd empfundenen Staat wie in Frankreich entwickeln konnte. Wie ein Staatsmann nach dem Ideal der Physiokraten, etwa François Quesnays (1694 – 1774), des Leibarztes von Ludwig XV. oder des späten Reform-Ministers Anne-Robert Turgot (1727 – 1781) unter Ludwig XVI. auf Reichsebene hätte wir- ken können, ist schwer vorstellbar. Das Reich war seit dem 15. Jahrhundert durch eine andere Reformtradition geprägt gewesen, die durch die »gravamina der teut- schen Nation« aus der Zeit Kaiser Maximilians bestimmt gewesen ist. So betrieben die Mainzer Erzbischöfe als Kanzler des Reiches seit den Tagen Bertholds von Hen- neberg Reichspolitik im Sinne der Reichseinheit. Das Kurfürstentum Mainz, einer der drei geistlichen Staaten am Rhein neben Kurköln und Kurtrier, war zu unterscheiden von dem zusammenhängenden Gebiet des seit 782 bestehenden Erzbistums, dem seit dem Hochmittelalter die Bischöfe von Worms, , Konstanz, Straßburg, Augsburg, Chur, Würzburg, Eichstätt, Paderborn und Hildesheim als Suffragane unterstanden. GroßeT eile der habsbur- gischen Erblande gehörten kirchlich zu den Erzbistümern Köln und Mainz. Das Erzbistum Mainz reichte vom Hunsrück über den nördlichen Odenwald und den Vogelsberg bis nach Einbeck und an die Saale. Die Territorialisierung, d. h. die Entwicklung von Kurmainz als Flächenstaat stand im 18. Jahrhundert noch in den Anfängen. Es umfasste auch zersplitterte Gebiete, darunter das sog. Untere Erzstift mit Mainz und einigen Orten südlich der Stadt, den Rheingau, das Gebiet um Bingen, das Amt Oberlahnstein und einen Gebietsstreifen nordöstlich von Mainz, der sich von Höchst in den Taunus bis zur Burg Königstein erstreckte. Daneben ist das Obere Erzstift zu nennen, das Gebiet von Seligenstadt im Norden über die Berg- straße und Odenwald bis Heppenheim und Walldürn im Süden mit der Verwal- tungshauptstadt Aschaffenburg, der zweiten Residenz des Kurfürsten mit damals etwa 6.590 Einwohnern. Sie bildeten das Fürstentum, ab 1810 das Departement Aschaffenburg. Kurmainzisch waren auch einige hessischeÄ mter, auch der Erfurter Staat, das Eichsfeld, beide mit eigenen Verfassungen, sowie Teile der Grafschaften Rieneck im fränkischen Kreis und Königstein im oberrheinischen Kreis, Teile der Grafschaft Gleichen und der Niederen Grafschaft Kranichfeld. Das Gesamtgebiet von Kurmainz umfasste um 1787 insgesamt 6.150 Quadratkilometer mit 350.000 Einwohnern. Insgesamt umfasste das Kurfürstentum vier große, von einander ge- trennt liegende Gebiete. Davon entfielen auf die Stadt Mainz 30.000 Einwohner – damals eine der zehn größten Städte des Reiches.2 Mit Einnahmen von 1,5 Millionen Gulden jährlich hätten die Staatsfinanzen eine solide Grundlage gehabt, wenn dies politisch angestrebt worden wäre. Dazu kamen ein reicher Domänenbesitz, Staatsbetriebe und Subsidienzahlungen der großen Höfe. Der private Reichtum der Untertanen war ansehnlich, wenn man von den 1. Dalbergs Familie 23

Bewohnern des Spessarts absieht. Der Reichtum des Landes konzentrierte sich in der Hauptstadt, wo der katholische Adel den Ton angab. Er besaß erheblichen Ein- fluss auf das Domkapitel, abgesehen davon, dass der Kurfürst Metropolit für den größten Teil des Reiches war, so dass Adel und Geistlichkeit vielfältige Einkünfte auch von außerhalb des Kurstaates hatten. Die Stadt Mainz profitierte wirtschaft- lich von dem enormen Reichtum, der in ihren Mauern vorhanden war. Gewerbe, Handel und Luxusindustrie standen in hoher Blüte. Der Repräsentationsaufwand des Hofes und das 3.000 Mann starke Militär be- lasteten den Staat in beträchtlichem Maße, da der Kurfürst die Rolle des vornehms- ten Reichsfürsten beanspruchte. Allein die Offiziersbesoldung machte die Hälfte des Militäretats aus. Man hat überdies errechnet, dass in Mainz neun Geistliche auf 100 Bürger kamen.3

1. Dalbergs Familie

Die Tradition, in die der Reichsfreiherr Karl (zeitgenössisch: Carl) TheodorA nton Maria von Dalberg mit dem Titel Kämmerer von Worms in eine Familie uralter Ministerialen der Bischöfe von Worms hineingeboren wurde und aus der er lebte, verdient kaum weniger beachtet zu werden als jene Maximen, die er durch Erzie- hung, Studium und intensive Auseinandersetzung mit den Verhältnissen der Zeit zu gewinnen vermochte. Die Ministerialenfamilie der Kämmerer von Worms lässt sich bis ins 12. Jahr- hundert zurückverfolgen. Die frühesten Hinweise auf das ritterschaftliche Ge- schlecht beziehen sich auf Rüdesheim. Der Titel Kämmerer leitete sich von dem Erb-Kämmerer-Amt des Hochstifts Worms ab. Das Wappen enthält seit der Erhe- bung Philipp Franz Eberhards in den Reichsfreiherrenstand (1654) in einem ge- vierteten Schildhaupt im ersten und vierten Feld in Blau jeweils sechs silberne Lili- en, die zwei Ankerkreuzen im zweiten und dritten Feld diametral gegenüberstehen. Die am nördlichen Oberrhein und im Hunsrück, im Wormsgau zwischen dem Niederelsass und dem Hunsrück, aber auch in Ladenburg am Neckar begüterte Familie hieß »Kämmerer von Worms, genannt von Dalberg.« Die älteren Dalberg, die ihren Namen von der Dalburg über dem Dorf Dalberg bei im Hunsrück herleiteten, hatten in ihrem Wappen in Gold ein schwarzes Ankerkreuz. Bis in das 17. Jahrhundert stand dieser Name auf Grabsteinen in Worms, Oppen- heim und Herrnsheim. Schließlich setzte sich auch bei den Dalbergs die im Adel gebräuchliche Gewohnheit durch, sich nach ihrer Stammburg zu nennen. Der älteste bekannte Kämmerer von Worms war Hugo, dessen Sohn vielleicht der heilige Heribert gewesen ist, der an Weihnachten 999 zum Erzbischof von Köln gewählt wurde. Als erster erblicher Kämmerer wurde 1239 der Ritter Gerhard (gest. 1251) (Gerardus junior, Sohn des Wormser Vicedominus Gerardus senior) 24 II. Die rheinische Adelswelt belehnt. Die Verbindung der Familie mit der Burg und der Reichsherrschaft mit dem Dorf Dalberg soll in der Mitte des 14. Jahrhundert ein Kämmerer namens Gerhard begründet haben, als er das Erbe seiner Frau Grete auf die Familie der Kämmerer von Worms übertrug, was dem Ansehen dieser Familie beträchtliches Gewicht verlieh. Am 6. April 1654 wurde Philipp Franz Eberhard, Kämmerer von Worms, Herr von Dalberg, Herr zu Bocholt (1635 – 1693) von Kaiser Ferdinand I. in den Freiher­ renstand erhoben. Seit 1671 war er Präsident des Reichskammergerichts zu Speyer. Das Gericht wurde 1689 von Speyer nach Wetzlar verlegt. Vier seiner acht Söhne brachte er in den rheinischen Domkapiteln unter. Das Wappen der Dalbergs ist an der Hoffassade des Herrnsheimer Schlosses zu sehen. Die Dalbergs waren kurmainzische und kurpfälzische Lehnsleute gewesen. Die Familie wirkte in hohen Stellungen der Germania Sacra, in Mainz, Worms und . Zu nennen ist der gelehrte Johann III. von Dalberg (1445 – 1503), der seit 1482 Bischof von Worms war. Seine Büste befindet sich in der Walhalla bei Re- gensburg. Er hatte in Ferrara zum Doctor iuris promoviert, hatte seine Residenz zu einem Mittelpunkt des Frühhumanismus gemacht und bedeutende Gelehrte wie Agricola und Reuchlin gefördert. Zuvor hatte er dem Kurfürsten Philipp von der Pfalz als Kanzler und Geheimrat gedient und insbesondere die 1386 gestiftete Universität Heidelberg tatkräftig ausgebaut. Mit Wolfgang von Dalberg (1537 – 1601) war erstmals ein Dalberg in den Jah- ren 1582 bis 1601 Erzbischof und Kurfürst von Mainz. Er war 1582 gegen den berühmten Würzburger Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn mit einer Stimme Mehrheit gewählt worden. Sein Grabmal befindet sich im Mainzer Dom. Adolf Anton von Dalberg (1678 – 1737) war zwischen 1726 – 1737 Fürstabt von Fulda gewesen, hatte u. a. die dortige Universität (1734) gegründet und das Lust- schloss Adolfzell in Eichenberg erbauen lassen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts blühte das reichsunmittelbare Geschlecht der Dalbergs noch in zwei Linien, die im Mannesstamm auf den Kammergerichtsprä- sidenten von Speyer, Philipp Franz Eberhard, zurückgingen. Zu unterscheiden ist die ältere Mainzer oder Dalberg-Dalbergische von der jüngeren Mannheimer oder Dalberg-Herrnsheimer Linie, zu der auch der letzte Kurerzkanzler des Heiligen Römischen Reiches zählte. In Herrnsheim hatte Philipp Kämmerer von Worms um 1460 eine Burg und in der Ursula-Kapelle der St. Peters-Kirche eine Famili- engrablege bauen lassen. Nach ihrer Zerstörung während des Pfälzischen Krieges wurde die Burg im 18. Jahrhundert als Barockschloss wiederaufgebaut. Diese Linie war von Wolfgang Eberhard (1679 – 1737), dem Sohn von Philipp Franz Eberhard, begründet worden. Carl Theodors Vater FranzH einrich (1716 – 1776), war des Heiligen Römischen Reiches Burggraf zu Friedberg, Herr zu Herrnsheim, Abenheim und Gerolsheim etc., des Kaiserlichen Josephsordens Großprior, Kaiserlicher Kammerherr, kur- 2. Kindheit und Jugend 25 mainzischer und trierischer Geheimer Rat, weltlicher Statthalter zu Worms, Kur- pfälzischer Oberamtmann zu Oppenheim und erbetener Oberrheinischer Reichs- ritterschafts-Deputierter. Im Anfang seiner Laufbahn stand er in kurpfälzischen Diensten und hatte seinen Wohnsitz in . Später führte er die Geschäfte als Statthalter von Worms, wobei er sich zumeist in Mainz aufhielt. Franz Hein- rich galt als aufgeklärter und wohlwollender Diener seiner Herren. Die Mutter Carl Theodors, Marie SophieA nna, war eine geborene Gräfin von Eltz-Kempenich (1722 – 1763). Die Ehe mit ihr ermöglichte den Übertritt des Vaters in den Dienst von Kurmainz. Carl Theodor, der älteste Sohn, der spätere Kurfürst und Fürstprimas, hatte zehn Geschwister, neben mehreren schon im Säuglings- und im Kindesalter verstorbe- nen zwei jüngeren Brüder, der unter anderem in der deutschen Literaturgeschich- te als Intendant des Mannheimer Nationaltheaters bekannte Wolfgang Heribert (1750 – 1806) und der als Komponist, Musiktheoretiker und Klaviervirtuose her- vorgetretene Johann Friedrich Hugo (1760 – 1814), zwei jüngere Schwestern, Ma- ria Anna Helena (1745 – 1804), Gemahlin des Grafen Franz Georg von der Leyen (1736 – 1775), bekannt als Reichsgräfin von Bliesheim, als »große Reichsgräfin«, und Antonetta (Antoinette) Maria (1757 – 1818), später Stiftsdame in St. Maria im Kapitol in Köln.4

2. Kindheit und Jugend

Seit der Krönung Kaiser Friedrichs III. im Petersdom 1452 war es Sitte, dass der Kaiser einen Dalberg auf der Tiberbrücke als ersten vor anderen deutschen Edel- leuten zum Ritter schlug. Dies geschah am 18. März 1452 mit dem Kämmerer Wolf. Am 16. Juni 1494 hatte Kaiser Maximilian I. den Dalbergs das Privileg bestä- tigt, als erste in Rom, später im Frankfurter Dom zum Ritterschlag aufgefordert zu werden: »Ist kein Dalberg da?« lautete die vertraute Formel, die sich seither bis auf Wolfgang Heribert, den jüngeren Bruder Carl Theodors und dessen Sohn Fried- rich Franz Carl aus der Hesslocher Linie verfolgen lässt. Wolfgang Heribert, nach dem Willen der Eltern der Stammhalter der Familie, war zunächst kurmainzischer Statthalter in Worms und später Präsident des kurpfälzischen Appellationsgerichtes in Mannheim. Zeitweise betreute er als Intendant das dortige Nationaltheater, in dem 1781 die Uraufführung von Schillers »Räubern« stattfand. Das Geschlecht konnte darauf rechnen, dass seine jungen Angehörigen beim Ritterschlag traditionell vor anderen Familien bevorzugt wurden. Die Formel von 1452 verweist auf das Ansehen der stiftischen rheinischen Adelsfamilien neben den Schönborn, Erthal, Greiffenclau, von der Leyen, Franckenstein und Stadion und die Rolle des geistlichen Kurfürstentums Mainz in der Reichspolitik. Mit den Sta- dions waren die Dalbergs befreundet. Der Hof der Dalbergs in der Klarastraße, wo 26 II. Die rheinische Adelswelt das »Haus zu den drei Sauköpfen« steht, grenzte an die Gärten des Stadionschen Hofes.5 Unter den Mitgliedern der rheinisch-fränkischen Domkapitel bekleideten sie den vierten Rang, hinter den Schönborn, Eltz und Greiffenclau. Nach ihnen kamen die Metternich, Fechenbach und Ostein. Der Adel beherrschte die Domkapitel in der rheinischen Pfaffengasse und be- stimmte indirekt auch die Politik der geistlichen Kurfürsten, die ihre Ämter in der Regel verwandtschaftlichen Beziehungen verdankten. Von ihnen wurde erwartet, dass sie sich durch die Vergabe von Ämtern, Titeln, Pfründen und Geschenken revanchierten. Der verbreitete Nepotismus hatte zur Folge, dass die geistlichen Ter- ritorien meist eher schlecht als recht regiert und verwaltet wurden. Der Staat diente zwangsläufig als eine Art Versorgungsinstitut für unter einander vielfach versippte Adelsfamilien. In der Hand der Domkapitel, die die Bischöfe zu wählen hatten, befanden sich die wichtigsten Verwaltungsstellen. An eine oder mehrere Domher- renstellen, zumeist dem niederen Adel der Grafen und Freiherrn zugänglich und vorbehalten, waren Einkünfte aus dem Besitz der Kapitel gebunden, was ein aus- geprägtes Versorgungsdenken und die Pfründenwirtschaft förderte. Andererseits waren die Stifte seinerzeit von den reichsritterschaftlichen Familien gegründet wor- den. Die Versuchung war daher groß, unfähige oder kränkliche Sprösslinge der vor- nehmen Adelsfamilien in die Domherrenstellen abzuschieben. So ist einem Bericht des österreichischen Gesandten beim Regensburger Reichstag, Egid Joseph v. Fah- nenberg (1749 – 1827), vom 15. März 1805 davon die Rede, dass in den Domka- piteln von Mainz und Regensburg nicht nur alte und gebrechliche Männer säßen, sondern auch »blödsinnige Individuen«. Solche Fehlentwicklungen beruhten teil- weise darauf, dass man wie in Mainz und Würzburg nur Angehörige der Reichsrit- terschaft, nicht etwa des landsässigen Adels, zu den Domkapiteln zuließ. Die oft aufgeblähte, auf überflüssige Repräsentation hin ausgerichtete Verwal- tung war charakteristisch für die äußere Erscheinung des Staates, der nicht selten den Anschein einer politischen Idylle erweckte. Freilich war der Verwaltungsappa- rat wenig leistungsfähig gewesen, abgesehen von den Folgen von Ämterpatronage und Korruption, die die Exekutive, das Gerichtswesen und die Finanzen belasteten. Unfähige und träge Beamte taten ein Übriges, den Staatsapparat zu schwächen. Die Bevölkerung in der rheinischen Pfaffengasse schien überwiegend mit dem spätabsolutistischen Regime einverstanden gewesen zu sein. Man arrangierte sich mit dem Protektionswesen und profitierte nicht selten von den Schwächen und den Unkorrektheiten der Verwaltung. Indessen gab es auch reformorientierte Geis- ter unter den Geistlichen und Beamten. Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildete die Familie Stadion.6 Carl TheodorA nton Maria, der am 8. Februar 1744 im Dalbergschen Palais ne- ben der damals im Bau befindlichen Jesuitenkirche in Mannheim geboren wurde, war schon im zarten Alter von zehn Jahren die Würde eines Domherrn zugefallen. 2. Kindheit und Jugend 27

Die Aufnahme in das Mainzer Domkapitel (1754), der seine spätere Laufbahn als Staatsmann und Bischof begründete, beruhte auf der Fürsprache seines Onkels Carl Joseph v. Dalberg, der seinerseits Domkapitular in Mainz, Trier und Worms war und auch eine Domizellarstelle in Würzburg innehatte. Für seinen Neffen hat- te er auf diese Würzburger Stelle vorsorglich verzichtet. 1757 verschaffte er ihm zusätzlich eine Domherrenstelle in Worms. Diese Stellen waren nicht nur mit einer Pfründe verbunden, sondern sicherten auch die Anwartschaft auf eine der wohldo- tierten Domkapitularstellen, wenn der Inhaber das 24. Lebensjahr erreicht hatte. Voraussetzung war ein Jura- oder Theologiestudium. Ein Domkapitular konnte sich damals ein vornehmes Haus mit Dienerschaft leisten. Für das Amt waren nach dem kanonischen Recht die sogenannten niederen Weihen bzw. die Subdiakonatsweihe in Verbindung mit dem Gelübde der Ehelo- sigkeit erforderlich, jedoch nicht die Priesterweihe. Alle Personen geistlichen Stan- des begannen ihre Laufbahn mit dem Vikariat. Ein Domherr konnte die geistliche Laufbahn ohne Umstände auch wieder abbrechen, sich einen weltlichen Beruf su- chen und auch heiraten.7 Im Januar 1768 trat Dalberg eine erste Kapitularstelle in Mainz an, der 1770 und 1779 zwei weitere in Worms und Würzburg folgten. Er wurde 1768 in Mainz und zwei Jahre später auch in Worms zum Domkapitular ernannt. Seit 1770 hatte er dort auch das Amt eines Generalvikars inne, das wiede- rum nicht mit dem Erfordernis der Priesterweihe verbunden war.8 Carl Theodor, dessenT aufpaten der Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz (1724 – 1799) und der Speyerer Domscholaster Anton Freiherr v. Eltz-Üttingen gewesen waren, wuchs in Herrnsheim bei Worms auf und war ebenso wie sein jüngster Bruder Johann Friedrich Hugo in der Tradition der Familie für eine Beamten- laufbahn im Dienste der Kurfürsten von Mainz vorgesehen. Ebenso wie seine vier Geschwister wurde er zunächst von einem französischen Hauslehrer erzogen. Dies geschah abwechselnd zur Winterzeit in Mainz, im Sommer im Schloss Herrns- heim. Der Unterricht scheint nicht allzu systematisch und methodisch im Sinne der zeitgenössischen Gymnasien gewesen zu sein. Möglichst umfassende, wenn auch nicht allzu gründliche Kenntnis der verschiedenen Wissenschaften war das Ziel der aristokratischen Erziehung, die ihm auch einen Zugang zu den Künsten eröffnete. Carl Theodor besaß einT alent zum Zeichnen, Radieren und Malen, wie einzelne erhaltene Werke aus seiner Jugendzeit belegen. Er gab auch gelegentlich selbst Unterricht im Zeichnen. Noch im Alter widmete er sich der Ölmalerei. In Latein und Französisch als den Sprachen der Wissenschaft, des Hofes und der Diplomatie wurden die Kinder unterrichtet, wenigstens zeitweise auch durch einen Franzosen. Er soll Latein wie eine andere Muttersprache gesprochen und geschrie- ben haben; Italienisch und Französisch waren ihm geläufig. Die Verantwortung für die Erziehung oblag einem Kaplan, der ihnen auch Religionsunterricht erteilte. Zwei der drei Söhne der Familie schlugen später die geistliche Laufbahn ein. Die Entscheidung der Eltern, die für wenigstens einen ihrer Söhne an eine Karriere 28 II. Die rheinische Adelswelt in der hohen Reichsaristokratie gedacht haben dürften, scheint bei Carl Theodor nicht auf einen entschiedenen Widerspruch gestoßen zu sein. Am Ende seines Le- bens erklärte er ausdrücklich, dass er sich einst freiwillig für den geistlichen Beruf entschieden habe. Die Familie verfolgte seit dem 17. Jahrhundert eine zielbewusste Strategie, sich wichtige Pfründen in den rheinischen Domkapiteln zu sichern. Für einen adligen Domkapitular war die Chance, einmal Fürstbischof oder Kurfürst- Erzbischof zu werden, ein erreichbares Ziel. Seinem 1760 geborenen jüngsten Bruder Johann Friedrich Hugo, der von klei- ner Gestalt war und an einer Rückgratverkrümmung litt, war später ebenfalls eine geistliche Laufbahn bestimmt, als er mit acht Jahren Domizellar in Trier und da- nach auch noch Domizellar in Worms und Speyer wurde. Als »Jungherr« verfügte er nicht über ein Stimmrecht im Domkapitel. Elisa von der Recke (1754 – 1833) aus Schönberg in Kurland, die ihn im Dezember 1784 in Erfurt kennenlernte, schilderte ihn ebenso wie den älteren Bruder als liebenswürdige Persönlichkeit. Carl Theodor war seit 1787 nicht nur Koadjutor des Erzbischofs von Mainz, sondern auch des Fürstbischofs von Konstanz. 1780 war er Propst, zwei Jahre spä- ter Oberpropst von Wechterswinkel bei Kissingen zwischen Ostheim vor der Rhön und Neustadt an der (fränkischen) Saale geworden, im selben Jahr, am 10. April, auch Domscholaster in Würzburg, wo ihm die Verantwortung für das Kultusressort übertragen wurde. In dieser Funktion hatte er die Oberleitung sämtlicher Schulen des Fürstbistums inne. Er übte sie im Einverständnis von Kurfürst Friedrich Carls von Erthal aus, wenn er sich, falls ihm dies erforderlich schien, von Erfurt dorthin begab. Er behielt das Amt bis 1787.9

3. Studium

Mit vierzehn Jahren war Carl Theodor nach Würzburg gegangen, wo er an der Uni- versität, die bei den Zeitgenossen als besonders modern galt, vielleicht aber auch nur an dem mit ihr verbundenen Gymnasium Vorlesungen in Physik und »Gelehr- tengeschichte« als Gasthörer belegte. In der Matrikel der Universität finden wir ihn nicht; wahrscheinlich wurde er überwiegend durch Hauslehrer unterrichtet. Unter den Würzburger Lehrern lernte er seinen späteren Erfurter Mitarbeiter »Monsieur Nicolé« kennen, den er zum Hofrat ernannte. In Würzburg hörte er die Vorlesun- gen des Physikers Franz Huberti (1715 – 1789), der seit 1754 dort lehrte, was Dal- berg in seinen späteren naturwissenschaftlichen Schriften erwähnt. Er selbst betrat dieses Gebiet 1773 mit seinen »Beyträge[n] zur allgemeinen Naturlehre«. Ob er danach in Göttingen, etwa bei dem angesehenen Staatsrechtler Johann Stephan Pütter studierte, ist zweifelhaft. Sicher ist, dass er sich auch in Heidel- berg aufhielt. Dort immatrikulierte er sich am 28. November 1759, um Jura zu studieren. Er wählte also keineswegs die Theologie, widmete sich aber auch kano- 3. Studium 29 nistischen Studien und folgte damit dem Beispiel anderer junger rheinischer Kan- didaten für eine geistliche Laufbahn in jener Zeit. Für eine Kapitelspfründe war ein »studium biennale« obligatorisch. Nach zwei Jahren soll der Siebzehnjährige am 23. November 1761 mit einer Dissertation über »De matre praeterita vel a legitima inique exclusa testamentum patris pupillariter substituentis per querelam inoffici- osi expugnante« zum Doctor iuris utriusque promoviert worden sein. Angeblich verteidigte er die Untersuchung an diesem Tage »unter lautem und allgemeinem Beifall«. Eine Promotion Dalbergs zum Doctor juris ist allerdings nicht im Promo- tionsalbum der Universität Heidelberg vermerkt. In die Grundprobleme des Zivilrechts war er durch die Professoren Franz Alef (1733 – 1763) und Johann Wilhelm Anton Dahmen (1741—1773), in dessen Haus er wohnte, eingeführt worden. Dahmen, der das öffentliche und das Pri- vatrecht vertrat, befasste sich unter anderem mit dem Erbrecht, dem die erwähnte Arbeit Dalbergs galt. Sie erörterte die Problematik der Nichtberücksichtigung ei- ner Ehefrau im Testament eines Erblassers zugunsten Dritter. Gesetzt war der Fall, dass die unmündigen Söhne des Vaters im Kindesalter verstorben waren. Dalberg überging die Möglichkeit, fromme Stiftungen als Ersatzerben zu bestimmen und entschied sich für das Erbrecht der Mutter. Dass eine Promotion wirklich stattgefunden hat, ist zweifelhaft. Dafür war grundsätzlich ein fünfjähriges Studium vorgeschrieben gewesen, eine Bestimmung, die allenfalls durch eine – unwahrscheinliche – Ausnahmegenehmigung außer Kraft gesetzt werden konnte. Jedoch bescheinigte ihm die Universität ein zweijähri- ges Studium. Möglicherweise hatte Dalberg mit seiner Arbeit eine andere Prüfung, etwa für das Lizentiat, abgelegt, wie dies etwa beim jungen Goethe in Straßburg der Fall war, der Anfang August 1771 nach mehreren Versuchen mit 56 kirchen- rechtlichen Thesen unter demT itel »De Legislatoribus«, mit dem Untertitel »Recht und Verpflichtung des Staates, den kirchlichen Kultus zu bestimmen bei Freiheit des persönlichen Religionsbekenntnisses« zum Lizentiaten promoviert wurde und sich nach den Gepflogenheiten der Zeit auch Doktor nennen durfte. Der junge Dalberg wirkte eine Zeitlang an Gerichten in Mainz, ehe er sich selbst für den geistlichen Stand entschied, ohne dass er je wirkliche theologische Studien betrieben hatte, noch sie später betreiben sollte, obwohl ihm zeitlebens eine religi- öse Weltsicht eigen war und ihm theologische Fragen stets wichtig blieben.10 Den Trierer Weihbischof v. Hontheim hinderte dies nicht, ihn als einen der weni- gen bedeutenden katholischen Gelehrten seiner Zeit und auch als einen Theologen zu bezeichnen, dessen Urteil er respektierte. Seine religiöse Überzeugung als aufge- klärter katholischer Christ äußerte Dalberg in einer für ihn sonst ungewöhnlichen Klarheit im April 1777 gegenüber dem evangelischen Theologen und Philosophen Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Anlass waren seine »Betrachtungen über das Universum«, die noch im selben Jahr erschienen: »Wenn der Mensch heftiger fühlt in einem Moment als in dem andern, so ist es, weil sein ganzes Gefühl auf ein 30 II. Die rheinische Adelswelt

Ding zusammenwirkt; – - – der unleugbare Sieg der Gnade scheint mir darin zu bestehen, dass alle Gefühle gut, lieb, wahr werden. Also Veränderung, Reinigung, Besserung der Kräfte, nicht Vermehrung ihres Quantums. So in Betreff unserer jet- zigen Art zu sein. Dass in einer bessern Welt unsre Kräfte vermehrt werden, lehrt mich meine Kirche, und darum glaub’ ich’s. – - – Die Kirche sehe ich nicht als politischen Körper an, sondern als Kompromiss eines jeden Christen auf die Gefühle und Meinungen aller Christen, und auf diesem Ganzen nach meiner Meinung Unfehl- barkeit und Geist Gottes. Ich bin überzeugt, dass Sie und Jerusalem und andere im wesentlichen der nemlichen Meinung sein würden, wenn Sie demuthsvoll diesen Kompromiss auf die Meinung ihrer gesamten Christenbrüder unterschrieben. Ich bin es darum überzeugt, weil ich dieser Gesinnung alles, alles zu danken habe. Ich hab ihr tausend glänzende Hypothesen aufgeopfert, und am Ende fand ich auch aus Überzeugung, dass ich im Grunde nichts gethan hatte als Irrthum der Wahrheit aufopfern.« Mit guten Gründen hat man darauf verwiesen, dass Dalberg Herder nahelegte, sich dem angedeuteten Kompromiss anzuschließen. Dass er selbst seiner Überzeugung treu blieb, mag man dem Gedicht von 1782 entnehmen, in dem er sich über die »Gefühle des Christen« äußerte:

»Was sind wir ohne Gott? Wir wandern Von einem Irrlicht zu dem andern, Oft stürzt der Pfad tief mit uns ein. Ich forsche, zweifle, denke, schwanke, Bis abgemattet der Gedanke sich stammelnd selbst fragt: Was ist wahr? Da flieh’ ich zu dir, Gott, der Sonne Der Wahrheit! Finde Licht und Wonne, Und alles wird dem Geiste klar.«11

Dalberg bewunderte die meisten Schriften Herders, obwohl er gelegentlich an- merkte, nicht mit ihm übereinzustimmen. Er betonte seine geistige Verbunden- heit, wenn er dessen Volkslieder, die 1778 und 1779 erschienen, oder Schriften wie »Plastik« und »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« kommen- tierte. Er las sie angeblich »mit Herzensfreude und großem Nutzen« und lobte Her- ders eigenwillige Begriffsbildung, die von leeren Formeln zu unterscheiden sei. Der Geniebegriff Herders sprach ihn besonders an: »Ich kenne keine neuere, wahrere, allumfassendere, nützlichere Formel als diese: Genie ist individuelle Menschenart, und die ist mir erst seit einigen Tagen durch Herdern recht anschaulich.«12 Dal- berg betonte seine Wertschätzung der Herderschen Schriften, und kritisierte nach- drücklich die Stimmen des »Recensentenschwarms« an ihm. Er solle sich nicht irre machen lassen.13