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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 24. Mai 1999 Betr.: Titel, SPIEGEL Spezial

as „Heilige Jahr“, zum Millennium Dvon der katholischen Kirche ausge- rufen, soll nach dem Willen von Papst Jo- hannes Paul II. ein „großes Jubeljahr“ wer- den. Der 2000. Geburtstag seines Herrn Jesus Christus stelle schließlich „indirekt für die ganze Menschheit ein außerordent- lich großes Jubiläum dar“. Es wird eher ein scheinheiliges Jahr werden, schreibt SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein in der Titelgeschichte (Seite 216). Denn bis auf den heutigen Tag ist nicht einmal klar, ob es diesen Jesus überhaupt gegeben hat. Um das zu beweisen, bemüht die Kirche zwar gern die Evangelien, von denen die für das Jesus-Jahr zuständige Va- tikan-Kommission auch jetzt wieder in ei- ner „Handreichung“ behauptet, sie seien „Lebensbeschreibungen“, auf die das Ad- jektiv „biographisch“ mit Recht angewen- det werde. Daß die Evangelisten alles F. SCHUMANN / DER SPIEGEL F. andere als Biographen sind, ist aber schon Kiessling an der Ansgarkirche 1906 ein für allemal festgestellt worden – von einem gänzlich Unverdächtigen: Albert Schweitzer. Es war dessen Buch „Ge- schichte der Leben-Jesu-Forschung“, das den wegen angeblichen Landesverrats („SPIEGEL-Affäre“) im Untersuchungsgefängnis einsitzenden Augstein 1962/63 dazu veranlaßte, sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, „Wer war dieser Je- sus eigentlich?“ Die Antwort erschien 1972 als Buch unter dem Titel „Jesus Men- schensohn“. Die Zeiten haben sich seither geändert, die Kirchen aber verkünden immer noch ihre alten Lehren. Dies veranlaßte Rudolf Augstein („Wenn alle Theologen sich einig sind, daß Jesus keine Kirche wollte, warum gibt es dann eine?“), sein Buch zu überarbeiten. Werner Harenberg, über viele Jahre der SPIEGEL-Mann für Kir- chenfragen, hat dafür die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen- getragen. Die erweiterte Neuausgabe von „Jesus Menschensohn“ erscheint im September bei Hoffmann und Campe. Das Titelbild ist eine Arbeit des Graffiti-Künstlers Miguel Kiessling: Er sprühte es nach einer historischen Vorlage auf die Wand der Ansgarkirche im Hamburger Stadtteil Othmarschen – natürlich mit Genehmigung des Pastors. Bis zur Renovie- rung der Kirche in vier Monaten haben nicht nur SPIEGEL-Leser etwas davon.

eimat – das ist nicht unbedingt das eigene Land, der HWohnort oder das Haus. Heimat, schreibt der Philo- soph Peter Sloterdijk im neuen SPIEGEL Spezial (Titel- thema: „Sehnsucht nach Heimat“), muß stets neu erfun- den werden. Thomas Gottschalk etwa,Wanderer zwischen den Welten, findet sie in den Erinnerungen an die Kindheit. Außerdem im Heft: Reportagen über Neonazis in den USA, die in versteckten Camps ihren Haß auf Schwarze, Juden und Schwule ausleben, und über das Ende einer al- ten Hochkultur im Regenwald von Mexiko. SPIEGEL Spe- zial, das Reportage-Magazin, ist ab Dienstag im Handel.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 21/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Rudolf Augstein über die Christus-Legende Sprung an die Spitze Seiten 22, 28 im „Heiligen Jahr“ ...... 216 Johannes Paul II. will ein gigantisches Joschka Fischer hat einen mächtigen Sprung Joschka Fischer Gerhard Spektakel inszenieren, an die Spitze der Beliebtheitsskala deutscher Schröder Rom fürchtet 30 Millionen Besucher ...... 226 Politiker getan. Er profitiert von der Perfor- Rudolf mance im Kosovo-Krieg. Doch innenpolitisch Scharping Deutschland droht ein rot-grüner Absturz, wenn Hans Panorama: Benzin soll teurer werden / Eichels drastischer Sparplan scheitert. Sonderurlaub für Beamte...... 17 Regierung: Der Kampf um den Sparetat...... 22 Gesundheit: Wieder höhere Zuzahlungen für Medikamente? ...... 26 Umfrage: Spitzenwerte für Fischer und Schröder ...... 28 Bundespräsident: Roman Herzogs 73 72 milder Abgang ...... 32 Verkehr: Rätsel der Eschede- Katastrophe gelöst ...... 36 61 Bundeswehr: Psycho-Training für den Kriegseinsatz...... 64 Finanzminister Eichel, Strafjustiz: Gisela Friedrichsen im Politiker- Umfrage von Emnid Hooligan-Prozeß in Essen...... 68 C. KOALL / LS-PRESS Uno-Gerichtshof: Jugoslawien klagt Nato-Länder an ...... 76

Wirtschaft Trends: Börsengang der Post in Gefahr? / Was passierte wirklich im Eschede-ICE? Seite 36 Die Frankreich-Pläne der Deutschen Bank..... 79 Der ICE-Unfall von Eschede droht für Geld: Comeback der Versorger-Aktien / die Deutsche Bahn AG auch juristisch zu Börsenguru Prior im Minus...... 81 Banken: Junge Aufsteiger setzen einem Desaster zu werden. Ein Jahr nach die großen Geldhäuser unter Druck ...... 82 der Katastrophe kritisieren Gutachter, Lebensmittel: Streit um Genmais...... 86 daß das Radsystem so gar nicht hätte ein- Globalisierung: Interview mit Altana-Chef gesetzt werden dürfen; die Verantwort- Klaus Schweickart über lichen müssen mit Strafverfahren rech- die fatalen Folgen des Shareholder-value...... 88 nen. Das Protokoll der Todesfahrt des Manager: Porsche-Chef Wiedeking „Wilhelm Conrad Röntgen“ zeigt die provoziert die Autobranche ...... 92 Fehlentscheidungen der Bahnmanager M. ZUCHT / DER SPIEGEL Arbeitnehmer: Ohne polnische Saisonarbeiter und die Leiden der Opfer. ICE-Katastrophe von Eschede (1998) geht beim Spargelanbau nichts ...... 96 Kunstmarkt: Wertvolle Gemälde aus japanischen Tresoren...... 101

Medien Trends: Mehr Geld für Formel 1 / Aufstieg der Traumquote mit TV-Trash ...... 105 Fernsehen: Sonnenfinsternis live in Internet-Banken Seite 82 der ARD / Quotentief für „ran“...... 106 Vorschau ...... 107 Ihre Größe war bislang ihre Stärke, nun Verlage: Springers Fehlstart wird sie zur Bedrohung für die etablier- im TV-Geschäft...... 108 ten Geldhäuser: Junge Herausforderer Journalisten: CNN-Starreporterin setzen den Traditionsbanken schwer zu. Christiane Amanpour geht In Amerika ist der Wertpapierhandel keinem Konflikt aus dem Weg ...... 114 über das Internet, der Wachstumsmarkt der Branche schlechthin, schon fest in Gesellschaft der Hand der Aufsteiger. Die sind Szene: Neobarocke Schaufensterpuppen / schneller – und billiger – als die Dinos

„Star Trek“-Schule für LANGROCK / ZENIT P. des Gewerbes. Schaffen die deutschen Science-fiction-Anhänger ...... 119 Bank-Zentralen in Frankfurt Großbanken den Anschluß? Zeitgeist: Irritierte Intellektuelle im Westen – Verbündete für Milo∆eviƒ?...... 120 Kriegsdebatten in USA, Frankreich und Großbritannien...... 122

Sport Spargelboom in Brandenburg Seite 96 Fußball: Bayern München sperrt sich In Brandenburg wächst und gedeiht seit der Wende der zu DDR-Zeiten verpönte gegen die Trends der Branche ...... 128 Spargel. Ohne Saisonarbeiter aus Polen wäre der Boom allerdings nicht möglich: Handball: Interview mit Bundestrainer Heiner Brand über die Bedeutung der WM Die Arbeit ist schwer, da halten sich die deutschen Arbeitslosen lieber fern. und Image-Probleme seines Sports...... 132

6 der spiegel 21/1999 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert des sozialen Wandels: Susanne Beyer über die Katastrophe des Städtebaus...... 139 Streitfrage: Können elf Milliarden Menschen auf der Erde leben?...... 150

Ausland Panorama: Durchmarsch für Rußlands Premier Stepaschin / Interview mit dem slowakischen Präsidentschaftskandidaten Rudolf Schuster ... 155 Israel: Neuer Aufbruch mit Barak ...... 158 Nato: Verwirrende Friedenssuche...... 161

FOTOS: SYGMA ( gr.); REUTERS (kl.) Serbien: Das Belgrader Tagebuch der Bombenschäden, Vermittler Ahtisaari, Tschernomyrdin SPIEGEL-Korrespondentin Renate Flottau ... 163 Balkan: Interview mit dem Strategen Andrew Brookes über Suche nach einem Ausweg Seiten 120, 161 die Gefahr eines Bodenkriegs ...... 168 Albaner: Patriarch contra Partisan ...... 170 In hektischen Sondierungsgesprächen suchen Vermittler einen Ausweg aus dem Balkan- Mazedonien: Angst vor dem Krieg. Das wachsende Unbehagen im Westen über die Bombardements könnte zur Albaner-Ansturm...... 172 stärksten Waffe des serbischen Despoten Milo∆eviƒ werden. Scheitern die Gespräche, Kroatien: Tourismus-Pleite in Dubrovnik ..... 176 droht der Nato eine schmähliche Niederlage oder der Bodenkrieg. Irak: Luxusleben der Saddam-Clique...... 180 Italien: Renaissance der Teufelsaustreiber.... 188

Kultur Szene: Kunst-Schlitzer sind meist Die Häßlichkeit der Städte Seite 139 Wiederholungstäter / Kanzleramt als Kasperletheater...... 191 Die Stadt im 20. Jahrhundert: Uferlose Slums, gesichtslose Vororte, Festivals: Kleinmütige Männer- verödete Zentren. Die Bewohner klagen über die Häßlichkeit ihrer und Frauenfilme in Cannes ...... 194 Wohnstätten. Architekten und Planer hatten eine Menge Reform- SPIEGEL-Gespräch mit Regisseur ideen, doch der Städtebau ist eine Geschichte von Fehlschlägen. Werner Herzog über seinen Kinski-Film und die deutsche Cannes-Pleite ...... 196 Kino: Egon Günthers Goethe-Film „Die Braut“ ...... 202 Fotografie: Hamburger Triennale fragt Seite 242 nach der Ehrlichkeit der Kamera ...... 206 Evolution der Ideen Dramatiker: Interview mit Edward Bond Ist das Ich eine Illusion? Nach den Theorien der Psychologin Susan Blackmore wird über Gewalt-Ästhetik und sein neues Stück... 212 es von Ideen und Verhaltensweisen regiert, die als „Meme“ eine eigene Evolution Bestseller...... 213 durchlaufen. Menschen dienen nur als vergängliche Wirte und Transportvehikel. Zeitgeschichte: Joschkas Turnschuhe und andere Raritäten der Republik im Berliner Gropius-Bau ...... 214

Wissenschaft + Technik Prisma: Body-Mass-Index für Männer / Gefühlswirren Mit Mini-Kameras auf Metastasen-Jagd ...... 233 Seiten 194, 196 Prisma Computer: Kultspiel von in Cannes Douglas Adams in deutscher Version / Ist der große Liebesfilm eine vom Online-Magazin für Ärzte ...... 234 Aussterben bedrohte Gattung? Die Raumfahrt: Pannenserie bei Wettbewerbsbeiträge beim dies- US-Raketenstarts ...... 236 jährigen Filmfestival von Cannes Medizin: Die Krätze kehrt zurück ...... 238 zeigen und wecken selten Leiden- Roboter: Kunstfische mit Metallgräten ...... 240 schaft, es dominieren alltäg- Evolution: Eine neue Vererbungslehre liche Gefühlswirren. Eine Huldigung der Ideenwelt ...... 242 an Mitleid und Frauenfreundschaft ist Pedro Almodóvars Film „Alles über meine Mutter“. Wie produktiv Männerfreundschaften sein können, Briefe ...... 8 beweist Werner Herzogs Kinski- Impressum...... 14, 244 Porträt „Mein liebster Feind“. Leserservice ...... 244 Herzog im SPIEGEL-Gespräch über Chronik...... 245

STILLS / STUDIO X STILLS seine Haßliebe zu dem Schauspieler: Register ...... 246 Regisseur Almodóvar, Darstellerinnen „Ich bin der Gefährlichere.“ Personalien...... 248 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 250

der spiegel 21/1999 7 Briefe

schickung der Älteren, sind reif für die „Endlich werden konstruktive und Wahl zum Unwort des Jahres 1999. Döllstädt (Thüringen) sinnvolle Vorschläge gemacht, Dr. Wolfgang Grömmer wie man das angeschlagene Modell Die Niedriglohnstrategie wird über eine Deutschland retten und gegen längere Frist – ähnlich wie in den USA – zu relativen Produktivitätsrückständen die Misere auf dem Arbeitsmarkt führen. Darüber wird sich die internatio- vorgehen soll, damit Deutschland auch nale Wettbewerbsposition Deutschlands verschlechtern. Die gegenwärtige Wachs- in Zukunft handlungsfähig bleibt.“ tums- und Beschäftigungslinie resultiert Jendrik Suck aus Dortmund zum Titel nicht aus Starrheiten des Arbeitsmarktes, „Aus Schröders Schublade: Der Plan“ sondern aus einem Mangel an effektiver SPIEGEL-Titel 19/1999 Nachfrage. Die Massenarbeitslosigkeit ist die Folge der einseitigen Angebotspolitik der letzten Jahre. Der Dienstleistungssektor soll für das Job- München Michael Wendl Richtige Medizin wunder sorgen. Nicht in deutscher Qua- Vorsitzender des ÖTV-Bezirks Bayern Nr. 19/1999,Titel: Aus Schröders Schublade: Der Plan – litätsproduktion liegen die Perspektiven, Radikalkur gegen die Arbeitslosigkeit; die sondern von „flinken Servicekräften“ in der Als Gründer eines Wissenschaftsunterneh- Sozialwissenschaftler und Regierungsberater Rolf Gebäudereinigung, beim Tütenpacken, dem mens, das nach vielen hiesigen Versuchen Heinze und Wolfgang Streeck plädieren für einen radikalen Umbau des deutschen Modells Bewachungsgewerbe oder der Aushilfskell- jetzt wohl im Ausland startet, weiß ich: nerei wird der Arbeitsmarkt leergeräumt. Umgesetztes Mehr-Wissen schafft Unter- Vortrefflich beschreiben Sie in Ihrem Bei- Weisheiten wie: „Gerade in Ländern mit nehmen. Benchmarking findet global statt, trag die von der neuen Regierung perfekt hoher Erwerbsquote ist die Arbeitslosigkeit nicht durch Inflation der Steuerung und kultivierte Kunst des Nachbesserns. Sozi- gering“, die auch noch als Diagramm dar- Besser-Wissen der Regulierer. Das Poten- aldemokraten und Grüne haben im engen gestellt werden, um dem Ganzen Schulterschluß den politischen Stör- und einen wissenschaftlichen An- Ausnahmefall zur Regel erhoben. Die Prä- strich zu geben, müssen zur ab- sentation unausgereifter, praxisferner Kon- strusen Begründung der Vor- zepte und mit heißer Nadel gestrickter Ge- schläge herhalten. Nein, danke! setze ist skurriler Teil des politischen Ta- Dem Konzept kann ich wirklich gesgeschehens und der deutschen politi- nichts abgewinnen. schen Kultur geworden. Es verwundert da- Waiblingen (Bad.-Württ.) her nicht, wenn jungen Existenzgründern Wilhelm Zechner die kalte Welle staatlich organisierten Mißtrauens entgegenschlägt. Die Unvor- In wenigen Jahren erzählt der eingenommenheit freiberuflich tätiger be- Lehrer seinen Schülern: „Es ratender Ingenieure gegenüber der rot-grü- war nach dem Zweiten Welt- nen Amtsführung mußte so schnell tief- krieg. Da gab es eine Zeit im

greifender Resignation weichen. Statt des ,Modell Deutschland‘, da konn- MELDE PRESS von der neuen Mitte propagierten Auf- te jeder Arbeitnehmer, Selb- Bündnis-für-Arbeit-Teilnehmer*: „Modell Globus“ bruchs droht vielen der Verlust der beruf- ständige oder Unternehmer mit lichen Existenz. seiner Familie vom Einkommen gut le- tial des Wissens für neue Arbeitsplätze an- ben.“ Die Schüler werden es nicht glauben, erkennen zu lernen, wäre wichtiger als Bonn Prof. Karl Kling Präsident der Bundesingenieurkammer denn sie leben im ,Modell Globus‘, das un- endloses Planen von Rahmenbedingungen. Deutschland ter der Regierung Schröder eingeführt wer- Silicon Valley entstand ohne Planwirt- den mußte. schaft. Niedrigqualifizierte werden nur Ar- Wie ist es eigentlich zu erklären, daß die Köln Veit Hennemann beit finden, wenn Hochqualifizierte nicht in Ihrem Artikel genannten Vorschläge des nur als Außenseiter verkannt werden. Kanzlers – mehr Eigeninitiative, radikale Die Formulierungen der Professoren Hein- Bad Lippspringe (Nrdrh.-Westf.) Umgestaltung des Sozialstaates, Abbau ze und Streeck, die Alterssicherung sei ne- Dr. Fritz E. Hauser der ABB, Selbstvorsorge für die Alters- ben anderen ein Zwischen- und Endlager vorsorge, Lohnspreizung – als revolu- für Arbeitskraft, und die Frühverrentun- * BDI-Chef Henkel, IG-Metall-Chef Zwickel und Kanz- tionäre Zukunftsvision gefeiert werden, gen wären eine vorgezogene Mallorca-Ver- ler Schröder am 25. Februar. während in der öffentlichen Diskussion die langjährigen und inhaltlich nahezu identischen Forderungen von FDP und Ar- Vor 50 Jahren der spiegel vom 26. Mai 1949 beitgebern in der Vergangenheit immer Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland Kompetenzkonflikte nur mit Schlagworten wie „Turbo- oder zwischen Parlamentarischem Rat und Ministerpräsidenten. Unfertiges Neoliberalismus“ abgetan wurden? Wahr- Israel Juden in aller Welt feiern Staatsgeburtstag. Weltflugkursbuch er- scheinlich kann nur ein sozialdemokrati- schienen 8000 Kilometer in 23 Stunden. FDP-Politiker Paul Ronge über scher Kanzler dem Auslaufmodell Deut- die im Grundgesetz abgeschaffte Todesstrafe Für und Wider. Super- zug für Spanien „Talgo“ mit 900 PS modernster Zug Europas. Hörbar scher Sozialstaat die richtige Medizin ver- gemachte Radiumstrahlen in der Medizin Für Diagnose von Schilddrü- abreichen. Und auf politische Konzepte senerkrankungen geeignet. gibt es ja schließlich kein Copyright. Zum Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Glück. Titel: Arnulf Klett, Oberbürgermeister von Stuttgart Bonn Dirk Stockhausen

8 der spiegel 21/1999 Werbeseite

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Werbeseite Briefe

Wie schön, daß die Erkenntnisse und Vor- schläge der Kommission für Zukunfts- fragen der Freistaaten Bayern und Sachsen jetzt in Gestalt eines „Plans“ aus dem engsten Beraterkreis der rot-grünen Bun- desregierung das Kanzleramt erreichen. Als 1996/97 das Original veröffentlicht wur- de, hieß es noch aus SPD und Gewerk- schaftskreisen: „Naiver Neokapitalismus“, „Rechtskonservative Kulturrevolution“, „Kampfansage an den Sozialstaat“ und ,,Politik mit der Abrißbirne“. So ändern sich die Zeiten. Allerdings hat die Kom- mission auch die Schattenseiten dieses Konzepts aufgezeigt, die der heutige Be- raterkreis schamhaft verschweigt: Zumin- dest vorübergehend wachsen die Einkom- mens- und Vermögensunterschiede, und der Lebensstandard eines Teils der Bevöl- kerung sinkt. Darüber hinaus ist ein lei- stungsbezogenes Sozialsystem nicht mehr aufrechtzuerhalten. Was jetzt als Ret- tungsplan ausgegeben wird, war deshalb für die Kommission nur eine Hilfskon- struktion, um das eigentliche Ziel zu er-

reichen: die Beteiligung breiter Bevölke- H. SCHALLER rungsschichten an der wertschöpfenden Generalfeldmarschall Paulus 1943* Ressource der Zukunft, dem kapitalge- Nur 6000 Soldaten kehrten heim bundenen Wissen. Vielleicht hilft es, wenn die Berater im Kommissionsbericht noch den bestmöglichen Überblick über die ein Stück weiter lesen. dramatische und weitgehend verfahrene Bonn Prof. Dr. Meinhard Miegel Gefechtslage verschafften. Aus auch heute Kommission für Zukunftsfragen noch schlüssigen strategischen und takti- Bayern und Sachsen 1995-97 schen Überlegungen, deren zentraler Punkt die Rettung der 6. Armee war, Zu Ihrem Titel nur soviel: wunderbar und drängten sie nicht auf den sofortigen unglaublich zugleich, daß sich offensicht- Ausbruch, sondern setzten alles daran, die lich in diesem Land doch noch jemand Ge- zunächst nicht mehr bestehenden Voraus- danken über unser marodes System macht. setzungen für eine erfolgreiche Entsetzung Ich bin dankbar für diese Information, der eingeschlossenen Armee zu schaffen. wenn auch zunächst nur in einigen Köpfen Und hierbei ist er – wie auch bei anderen beziehungsweise auf dem Papier etwas ge- Gelegenheiten – Hitler unerschrocken schieht. und ohne alle Rücksicht auf seine eigene Schöneck (Hessen) Katalin v. Draskóczy Person entgegengetreten. Daß diese Bemühungen scheiterten, hat seine Ursa- che weder in einem militärischen noch in Zu spät kapituliert einem moralischen Versagen Mansteins Nr. 19/1999, Zeitgeschichte: Stalingrad – neu gesehen. und seines Stabes. Rudolf Augstein über das Gießen Dr. Manfred v. Lewinski Stalingrad-Buch von Antony Beevor

Der Name Paulus ist untrennbar mit der Resultate eine Lachnummer? 6. Armee und deren Schicksal in Stalingrad Nr. 19/1999, Investoren: Tourismus-Unternehmer verbunden. Bei Fehlern, die ihm angelastet attackiert Magdeburger Landesregierung werden, wiegt besonders schwer, daß er erst am 31. Januar 1943 kapitulierte und nicht zu Herr Hampe hat einfach seine Hausaufga- einem früheren Zeitpunkt, als seine Solda- ben nicht gemacht: Erstens ist Golf in ten noch eine physische Überlebenschance Deutschland kein Volkssport wie in den hatten. 90700 Mann kapitulierten, 6000 USA oder Schottland, und die Schönen kehrten aus der Gefangenschaft heim. und Reichen bezahlen ihre fünfstelligen Stuttgart Theo Steinfeldt Mitgliedsbeiträge lieber vor den Toren Hamburgs und Münchens. Zweitens: Wer sich mit den seit langem offenliegen- Schlösser und Altstadtensembles sind no- den Quellen vertraut macht, muß wissen, torisch defizitär und würden ohnehin un- daß Manstein und sein Stab sich sofort ter der von Hampe avisierten Besucher- nach Übernahme des Oberkommandos last „zusammenbrechen“. Und drittens: über die neu gebildete Heeresgruppe Don Themenparkentwickler mit Erfahrung und Integrität beginnen nicht mit einem Pres- * Auf dem Weg zur Kapitulation in Stalingrad. se-Flächenbombardement, sondern einer

12 der spiegel 21/1999 glaubwürdigen Machbarkeitsstudie. Darin analysieren sie Demographie und Besu- cherspektrum, lügen ihre Zahlen nicht schön, und wenn die Resultate eine Lach- nummer sind, pöbeln sie nicht gegen ko- operativ, aber realistisch denkende För- derer. Dessau (Sachsen-Anhalt) J. G. Buechting KC2 Abt. Erlebniskonzepte

Verdacht genährt Nr. 19/1999, SPD: SPIEGEL-Gespräch mit Johannes Rau über seine Ambitionen als Bundespräsident

Witze haben ja die Eigenschaft, wie Sig- mund Freud gezeigt hat, unbewußtes Ge- dankenmaterial, am Über-Ich vorbei- schleichend, zum Vorschein zu bringen. Warum hat Herr Rau, auf Drängen des SPIEGEL, gerade diesen Witz gemacht und nicht irgendeinen anderen? Es wird gewiß niemand denken, er habe da einem ver- drängten Antisemitismus freien Lauf ge- lassen. Bleibt nur eine zweite Möglichkeit: Er hat, auf kindliche Art, nur mal so was ausgeplappert, ohne die politische Brisanz des Witzes zu bedenken. Straßburg Paul Ackermann

Es muß Herrn Rau hart ankommen, viel- leicht die Nachfolge eines Mannes antreten zu müssen, den eine große Mehrheit in Deutschland als Bundespräsident sehr gern wiedergesehen hätte. Mit seiner Aussage J. H. DARCHINGER J. Präsidentschaftskandidat Rau Politische Brisanz nicht bedacht? hat Johannes Rau sich für mich endgültig disqualifiziert und den Verdacht, seine Kandidatur sei das Ergebnis eines „Deals“, genährt. Salem (Bad.-Württ.) Winfried Abele

Johannes Rau ist ebensowenig adäquat für einen „Ruck“ wie der blasse jetzige Amts- inhaber. Ein Mann, der lieber darüber phi- losophiert, ob die „Berliner Republik“ nun diesen Namen verdient oder nicht und ob die Sache überhaupt einen Unterschied macht, kann weder Rucks in Bewegung set- zen noch das fehlende moralische Gewis- sen der Nation darstellen. Wie wäre es da mit Gregor Gysi? Sassenberg (Nrdrh.-Westf.) Stephan Kampelmann

der spiegel 21/1999 Briefe

AKWs in der Ukraine fertig zu bauen, bekäme das Märchen vom Atomstrom- import erstmals seriösen Hintergrund. Ausstieg im Konsens? Bamberg Dr. Ludwig Trautmann-Popp Energiereferent des Bundes Naturschutz in Bayern e. V.

Leicht gesagt, schwer getan? Nr. 19/1999, Panorama: Bundestag Nicht Arbeitszeitverkürzung ist das The- ma, sondern ein modernes flexibles Ma- nagement für die Arbeitszeit der Beschäf- tigten des Deutschen Bundestages. Das Parlament tagt eben nicht von 8 bis 17 Uhr, sondern in Sitzungswochen oft bis

FOTOS: K.-B. KARWASZ (gr.); A. SCHOELZEL (kl.) (gr.); K.-B. KARWASZ FOTOS: in den späten Abend hinein. Seine Ar- Minister Funke, Hof in beitsfähigkeit zu organisieren, war die Varel: Hält sich jeden Absicht der Personal- und Sozialkom- Herr Funke darf das Bauwilligen vom Hals mission. Modernisieren leicht gesagt, Nr. 19/1999, Affären: Schwarzarbeiten auf dem schwer getan? Hof des Landwirtschaftsministers erzielen konnte. Zum Bonn Anke Fuchs und eine umstrittene Campingplatz-Genehmigung anderen ist das all- Vorsitzende der Personal- und gemeine Leistungs- Sozialkommission des Ältestenrates des Herrn Funkes egoistischer Ausverkauf der niveau durch moder- Deutschen Bundestages Heimat ist weitaus schwerwiegender als die ne Trainingsmethoden und den Einsatz Schwarzarbeit am Dach seines Anwesens. von Datenbanken genauso angestiegen Ein neuer Gewerbebetrieb – und das ist ein wie in allen anderen Sportarten auch.Vor An diverse Organisationen Campingplatz mit 50 beziehungsweise 70 diesem Hintergrund erscheint fraglich, ob Nr. 18/1999, Szene: Homosexuelle Stellplätzen im Landschaftsschutzgebiet – Kasparow tatsächlich stärker ist als zum telefonieren häufiger kann nahezu nur durch Rechtsbeugung ge- Beispiel der legendäre Bobby Fischer, der nehmigt werden. Dieser Platz verschandelt 1972 Weltmeister wurde, nachdem er die Sie zitieren mich mißverständlich mit der die Landschaft, bringt Verkehr und Lärm- damalige Weltelite mit heute undenkba- Information, die „Pride Telecom“ habe der belästigung. Funke darf es tun, hält sich ren Ergebnissen zum Duschen geschickt „Deutschen Aids-Hilfe“, Berlin, bislang aber durch die Schutzgebietsverordnung hatte. Ich möchte bezweifeln, daß Kaspa- 400 000 Mark zur Verfügung gestellt. jeden anderen Bauwilligen in der Nähe Tatsächlich ist dieses Spendengeld an di- vom Hals. Schutzgebietsverordnungen wer- verse Aids-Hilfe-Organisationen geflossen. den durch solche Praktiken zur Zeit bun- Die Berliner Aids-Hilfe e. V. hat davon le- desweit zur Farce. Der Rechtsstaat und der diglich 18700 Mark erhalten. Landschaftsschutz werden diskreditiert. Je- Berlin Michael Adamczak der wird sagen, was der Minister darf, das Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit darf ich auch. Er zeigt, wie man den Wert vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu von Grünland im Landschaftsschutzgebiet veröffentlichen. mit fünf Mark pro Quadratmeter durch Umwandlung in Gewerbefläche flugs um 2000 Prozent steigert. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Post-

Adelsried (Bayern) Dr. Nikolaus Berens GAILLARDE / GAMMA STUDIO X karte des SPIEGEL-Verlags/Abo, Hamburg, sowie vom Weltmeister Kasparow Handelsblatt/Wirtschaftswoche, Düsseldorf, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Bei- Chancenlos gegen Fischer? lagen der Firma Pro Idee, Aachen, und RM Buch und- Höchst umstritten Medien, Rheda-Wiedenbrück, bei. Nr. 19/1999, Schach: Zehnjähriger row gegen Fischer auf dem Höhepunkt verblüfft die Fachwelt seiner Leistungsfähigkeit im direkten Du- ell eine Chance gehabt hätte. Ihre Aussage, Garri Kasparow sei der Osnabrück Peter Backhaus VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Verkehr, Bundeswehr, Chronik: Clemens Höges: für „stärkste Spieler aller Zeiten“, ist unter Regierung, Gesundheit, Umfrage, Uno-Gerichtshof: Michael Schmidt- Schachexperten – zu Recht – höchst um- Klingenberg; für Trends, Geld, Banken, Lebensmittel, Globalisierung, stritten. Wie in anderen Sportarten stellt Manager, Arbeitnehmer, Kunstmarkt, Verlage, Journalisten: Armin Schröders Coup Mahler; für Fernsehen, Szene, Zeitgeist, Festivals, Kino, Dramatiker, sich auch hier die Frage nach der Ver- Nr. 19/1999, Energie: Atom-Deal mit der Ukraine Bestseller, Zeitgeschichte: Dr. Mathias Schreiber; für Fußball, Hand- gleichbarkeit von Leistungen aus unter- ball: Matthias Geyer; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter schiedlichen Epochen. Die Tatsache, daß Bisher machte die Atomlobby gegen den Wild; für Panorama Ausland, Israel, Nato, Serbien, Balkan, Albaner, Mazedonien, Kroatien, Irak, Italien: Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Raum- Kasparow die höchste Elo-Zahl aller Zei- Atomausstieg mit der Behauptung Stim- fahrt, Medizin, Roboter, Evolution: Johann Grolle; für die übrigen ten hat und vielleicht objektiv das beste mung, Deutschland müsse dann Atom- Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Schach aller Zeiten spielt, ist mit Vorsicht strom importieren. Zu Unrecht. Denn nir- Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Lay- out: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Heinz P. Lohfeldt; zu genießen: Zum einen existierten in gends im europäischen Ausland stehen Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 früheren Zeiten noch gar keine Rating- Atomstromreserven zur Verfügung, über- Hamburg) Systeme bzw. fanden weniger Turniere all stehen Kohlekraftwerke still, auch in TITELBILD: Graffito: Miguel & Hesh für den SPIEGEL, statt, auf denen man derartig hohe Zahlen Deutschland. Mit Schröders Coup, zwei Foto: Frank Schumann

14 der spiegel 21/1999 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland

ÖKOSTEUER Benzin wird teurer ie Autofahrer müssen sich auf deutlich höhere DBenzinpreise einstellen. Die Fraktionsspitze der SPD hat sich darauf verständigt, die zweite und dritte Stufe der Reform der Ökosteuer zusammenzulegen, und plädiert dafür, die Mineralölsteuer in einem Schritt um 20 bis 40 Pfennig zu erhöhen.Voraussichtlicher Termin der Steuer- erhöhung: 1. Januar 2001. Die Steuer für Gas und Strom hingegen soll nur geringfügig oder gar nicht angehoben werden. Um, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, die Lohnne- benkosten um weitere 1,6 Prozentpunkte absenken zu können, müssen über die weiteren Stufen der Ökosteu- erreform noch einmal 32 Milliarden Mark finanziert wer- den. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte in einem Treffen mit der „Parlamentarischen Linken“ der SPD- Fraktion Ende April signalisiert, daß er auch schmerzhaf- tere Benzinpreiserhöhungen als bisher akzeptiert. Auf sein Betreiben hin war die Mineralölsteuer im ersten Re- formschritt nur um sechs Pfennig gestiegen. Finanzmini- ster Hans Eichel erwägt allerdings, das Aufkommen aus der Ökosteuer nicht allein für die Senkung der Lohnne- benkosten auszugeben. Wie er vergangenen Montag vor dem SPD-Fraktionsvorstand ankündigte, plant er, einen Teil der Steuermittel auch in ökologische Infrastruktur- projekte – etwa neue Bahnstrecken – zu investieren. Da-

mit hofft er, die negativen Folgen seines Sparprogramms PRESS ACTION abfedern zu können. Tankstelle

UMZUG Sonderurlaubsregelung, die eigentlich POLITIKER für Staatsdiener gilt, die umziehen wol- Irrer Luxus len, aber wegen Wohnungsmangel nicht Neuer Lesestoff für können, tröstet insbesondere die rund undesbedienstete, die zwischen 1000 künftigen Pendler aus dem Bonner Lafontaine BBonn und Berlin pendeln, können Parlamentsapparat über eine Enttäu- jährlich bis zu neun Arbeitstage bezahl- schung hinweg. Staatssekretäre aller olit-Rentner Oskar Lafontaine setzt ten Sonderurlaub allein für sogenannte Ressorts hatten sich geweigert, einen Pseine neue Laufbahn als Laudator Familienheimfahrten beanspruchen. Die der zwei Pendlerzüge erst montags in von Würdenträgern a. D. fort. Nachdem der Früh von Bonn nach der ehemalige Berlin starten zu lassen SPD-Chef und – Dienstbeginn wäre Bundesfinanzmini- dann erst gegen Mittag ster vergangenen gewesen. Dienstag überra- Einigen Politikern gehen schend in Bonn die großzügigen Rege- aufgetaucht war, lungen zu weit. Mehrere um ein Buch des Millionen Berufspendler ehemaligen Bun- in der gewerblichen desarbeitsministers Wirtschaft bekommen Herbert Ehrenberg

die wöchentliche Fahre- zu präsentieren DARCHINGER F. rei weder zwei Jahre („Raus aus der Kri- Lafontaine lang komplett bezahlt se“), will Lafon- noch organisiert. Und taine nun den neuen Roman des einsti- vom Sonderurlaub fürs gen Kanzleramtsministers Horst Ehmke Pendeln können sie vorstellen. Titel des Polit-Thrillers, der nicht mal träumen. Ein am 8. Juni in den Räumen der Frankfur- Bonner Staatssekretär: ter Kreditanstalt für Wiederaufbau öf-

M. URBAN „Wir dagegen leisten fentliche Aufmerksamkeit erhalten soll: Abendzug von Bonn nach Berlin uns irren Luxus.“ „Der Euro-Coup“.

der spiegel 21/1999 17 Panorama

VERSION Rechte Demonstration (in Leipzig)

RECHTSEXTREMISMUS Hakenkreuze schmieren und den Hitlergruß zeigen, auch in Deutschland mit Verfahren rechnen. Zudem soll künftig beim Verdacht der Volksverhetzung der Verfassungsschutz die Be- Überall strafbar? fugnis erhalten, Telefone abzuhören. Nordrhein-Westfalen stimmte gegen die Empfehlung: Insbe- ie Innenminister von Bund und Ländern diskutieren über sondere die Lauschbefugnis stelle einen „gravierenden Grund- Dneue Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremi- rechtseingriff“ dar. Bei der zu erwartenden Masse der Ver- sten. Der Arbeitskreis II „Innere Sicherheit“ empfiehlt, künf- dächtigen würden sich „die Abhörmöglichkeiten für die tig das „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Or- Verfassungsschutzbehörden drastisch erweitern“. Die Innen- ganisationen“ auch im Ausland unter Strafe zu stellen. Dann minister wollen auf ihrer nächsten Tagung über die Vorschläge müßten deutsche Neonazis, die etwa in Dänemark oder Belgien beraten.

JUSTIZ Nach Auffassung Nehms spielt dabei kei- NORDRHEIN-WESTFALEN ne Rolle, ob die Angriffe mangels Uno- Anzeige gegen Nehm Mandat völkerrechtswidrig sind. Dies be- Das Beste für den Chef deutet allerdings eine Abkehr von der ei der Bundesanwaltschaft in Karls- bislang herrschenden juristischen Mei- ehrere Sprecher nordrhein-westfä- Bruhe haben bislang 400 Bürger An- nung. Danach gilt als Angriffskrieg eine Mlischer Ministerien verdächtigen zeige gegen die Bundes- bewaffnete Aggression, den Düsseldorfer Regierungschef Wolf- regierung erstattet – we- die gegen Völkerrecht gang Clement, er wolle sich auf Kosten gen der Vorbereitung ei- verstößt – und der seiner Minister vor den Kommunal- und nes Angriffskrieges. Ge- Nato-Einsatz entspricht Landtagswahlen pressewirksame Auf- neralbundesanwalt Kay nicht dem anerkannten tritte verschaffen. Anlaß ist ein Schrei- Nehm, der für die Straf- Völkerrecht. ben von Clements Regierungssprecher verfolgung zuständig ist, Als Retourkutsche ha- Wolfgang Buchow (Briefkopf: „Der Mi- hat allerdings entschie- ben mehrere Kläger nisterpräsident des Landes Nordrhein- den, keine Ermittlungen Nehm wegen Rechts- Westfalen“), der die „lieben Kollegen“ aufzunehmen. beugung und Strafver- im rot-grünen Landeskabinett aufgefor- „Der Straftatbestand eitelung im Amt ange- dert hat, zum 15. Mai „einen knapp ge- des Paragraphen 80 des zeigt. Die zuständige faßten schriftlichen Überblick über die Strafgesetzbuches ist Staatsanwaltschaft wichtigen Vorhaben der Presse- und Öf- nicht erfüllt“, meint der Karlsruhe sieht aber fentlichkeitsarbeit Ihres Hauses für das Generalbundesanwalt. keinen Tatverdacht und zweite Halbjahr 1999“ einzureichen. Der Nato-Einsatz sei leitete deshalb ebenfalls Was im Landespresseamt als „normales schon objektiv kein An- kein Ermittlungsverfah- Koordinierungsvorhaben“ (Buchow) griffskrieg, weil er ren ein. Nehms Ableh- gilt, sehen Ministerien als den Versuch „Zwecke verfolgt, die nung der Anzeigen ge- Clements, die besten Themen für sich nicht unter Friedens- gen Bonn, so die Staats- selbst zu reservieren. Die Folge: In eini- störung fallen, sondern anwaltschaft Karlsruhe, gen Ressorts wurde der Brief trotz Ab- der Wiederherstellung sei „im Rahmen des lauf der Frist erst mal zur Seite gelegt,

und Erhaltung des Frie- H. DARCHINGER J. geltenden Rechts zuläs- andere meldeten vorsichtshalber nur dens dienen“. Nehm sig und akzeptabel“. unattraktive Termine.

18 der spiegel 21/1999 Deutschland

PLAKATE möchte, jedoch für „legitim“. Für CSU- Herausforderer Aribert Wolf, 39, ist die Unterwäsche im Schreyögg-Kritik „moralisch verlogen“, da die Stadt derzeit selbst auf Plakaten Wahlkampf „Werbung für die lesbische Familie macht“. erbeplakate für Damenunterwä- Ein Manager der Firma Palmers kann die Wsche sind im Oberbürgermeister- Aufregung „überhaupt nicht verstehen“. Wahlkampf ums Münchner Rathaus Die Kampagne sei zeitgleich in Hamburg jetzt zum Politikum geworden. Die gelaufen, Proteste gebe es merkwürdi- Gleichstellungsbeauftragte der bayeri- gerweise aber nur in München. schen Landeshauptstadt, Friedel Auch der Deutsche Werberat findet die Schreyögg, will mit einer „Straps-Kon- Kritik „abwegig, lebensfremd und po- troll-Kommission“ („Abendzeitung“) pulistisch“. Die Dessous-Reklame sei verhindern, daß die Kommune weiter- „sicherlich nicht zu beanstanden“, so hin „frauenfeindliche Werbung mit Werberats-Sprecher Volker Nickel. Sie sexuellem Aufforderungscharakter“ an enthalte „keinerlei Elemente von Dis- Bus- und Straßenbahn-Wartehäuschen kriminierung oder Herabwürdigung von zuläßt, die auf städtischem Grund Frauen“. stehen. Die Hamburger Akademie Bildsprache Anlaß der Empörung ist ein Motiv des erwägt inzwischen, die Palmers-Plakate Wäscheherstellers Palmers, das eine für den „Lead Award“ zu nominieren, Woche lang an 600 Wartehäuschen zwei die Auszeichnung für die beste Werbe- leicht bekleidete Frauen in aufreizen- kampagne des Jahres. den Posen zeigte. Während sich Schreyögg an „Ver- satzstücke von Soft- pornos“ erinnert fühlt, zeigt sich Oberbürgermeister Christian Ude, 51, von der Protestwel- le überrascht: „Ich fand die Palmers- Werbung bis jetzt immer anspre- chend, sehr reizvoll und in keiner Weise schlüpfrig.“ Den Protest gegen die neuen Plakate hält der SPD-Oberbür- germeister, der am

13. Juni wiederge- M. HANGEN wählt werden Palmers-Plakat (in München)

STIFTUNGEN lionen Mark im Jahr. Die Grundausstat- tung der Stiftungen, die sogenannten Millionen für Rosa Globalzuschüsse, wurden um die PDS- Gelder erhöht und kosten den Steuer- ie PDS erhält nun doch vier Millio- zahler so in diesem Jahr 191 Millionen Dnen Mark vom Staat, um ihre eige- Mark: Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) ne Parteistiftung zu gründen. Jahrelang und Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) hatte der Bundestag der Linkspartei die erhalten davon je 55,5 Millionen. Zu- staatliche Förderung verweigert, die da- gunsten der Grünen mußten Friedrich- gegen seit 1993 klagte. In der letzten Naumann-Stiftung (FDP) und die Bereinigungssitzung des Haushaltsaus- Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) auf jeweils schusses wurde der Streit stillschwei- 850000 Mark verzichten und erhalten gend beendet: Die PDS bekommt ihre nur noch 20,5 Millionen. Die Grünen Millionen für die künftige „Rosa-Lu- bekommen für die Heinrich-Böll-Stif- xemburg-Stiftung“. Im kommenden tung 18,8 Millionen Mark. Außerdem Jahr darf sie dann für konkrete Projekte können sich die Parteien – bis auf die noch mehr Geld beantragen, dafür tei- PDS – aus globalen Baumitteln von ins- len sich die Parteien mehr als 600 Mil- gesamt 16 Millionen Mark bedienen.

der spiegel 21/1999 19 Panorama Deutschland

Am Rande O Fortuna Zuerst die gute Nach- richt: Die Rettung der Welt aus Not, Elend, Armut und Trübsinn steht kurz bevor. Zu verdanken haben wir das dem spanischen Zigarettenkonzern Tabacalera S. A., der seit Anfang des Jahres 0,7 Prozent des Ge-

winns seiner Erfolgs- AP marke „Fortuna“ für Zerstörte Brücke (in Novi Sad) humanitäre Zwecke spendet. KOSOVO Mark), Kriegszerstörungen in Jugosla- „Mit jedem Päckchen leistest Du wien (31 Milliarden), militärische Ausga- einen Beitrag dafür, daß irgend ben Jugoslawiens (6 Milliarden) und jemand auf der Welt lächeln Teurer Krieg „weitere volkswirtschaftliche Kosten“, kann“, wirbt die Marke. Von den verursacht etwa durch das Ausbleiben ersten 600000 Mark sollen jetzt er Krieg in Jugoslawien wird min- von Touristen oder den Abbruch von Zelte und Feldbetten für die Ddestens 110 Milliarden Mark ko- Handelsbeziehungen, in Höhe von 34 sten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Milliarden Mark. Sollten die Auseinan- Flüchtlinge auf dem Balkan ge- Studie der Bundeswehruniversität dersetzungen um das Kosovo bis zum kauft werden. München. In einem „optimistischen Jahresende andauern und einen be- Rauchen für das Kosovo, das ist Szenario“, das eine Kriegsdauer bis schränkten „Bodenkrieg ab Mitte des klasse. Der Kosovare lächelt im zum 1. Juli voraussetzt, betragen allein Jahres“ einschließen, würden sich nach Zelt, der Spanier röchelt an der ei- die militärischen Ausgaben der Nato 22 den Schätzungen der Münchner die Ge- sernen Lunge. Und das ist auch Milliarden Mark. Dazu kommen Kosten samtkosten auf 240 Milliarden Mark ad- schon die schlechte Nachricht: der humanitären Hilfe (13 Milliarden dieren. Das System funktioniert wahr- scheinlich nicht im großen Maß- stab. Um die krebskranken Spa- DATENVERSCHLÜSSELUNG Aus dieser Erkenntnis lasse sich aller- nier zu versorgen, müßten bei- dings keine „Prognose für die Zukunft“ spielsweise deutsche Bierbrauer Geheimnis gewahrt ableiten. wohltätig werden und von jeder Kiste Pils ein paar Mark überwei- n Deutschland soll es auch zukünftig Ierlaubt sein, per Computer verschlüs- Nachgefragt sen. Irgend jemand anderes müß- selte Daten zu verschicken. In der Ver- te sich dann um die deutschen Al- gangenheit hatten vor allem Sicher- Glaubensbekenntnis koholopfer kümmern. Bald schon heitsbehörden und das Innenministeri- könnte man nichts mehr kaufen, um das Verschlüsseln stark einschrän- Für wie glaubwürdig ohne dabei ein Lächeln über die ken wollen – besonders sichere Schutz- halten Sie die Anga- Welt zu streuen: Ein Tschetsche- mechanismen wären nur dann erlaubt ben der Nato über gewesen, wenn der Staat gleichsam ei- die Einsätze im nengroschen für jeden Wodka, auf Kosovo? jede verkaufte Flasche Ananasli- nen Generalschlüssel besessen hätte. Andernfalls, so argumentierten die Si- kör einen Hutupfennig. cherheitsfachleute, wäre das Kontrollie- Soviel Wohltätigkeit wird dann ren von Telefonaten, E-Mails und Faxen doch unheimlich. Denn am Ende unmöglich. völlig glaubwürdig 7% macht womöglich sogar die Rü- In einer Vorlage für das Bundeskabinett („Eckpunkte der deutschen Kryptopoli- stungsindustrie mit und pappt auf eher glaubwürdig 57% jede Cruise Missile einen Aufkle- tik“) empfehlen Wirtschafts- und Innen- ber: „Mit jeder verkauften Bom- ministerium nun, auch darauf zu ver- zichten, daß die Schlüsselsysteme bei eher unglaubwürdig 27% be leisten wir einen Beitrag zum den Behörden hinterlegt werden müs- Bau von Schulen, Krankenhäu- sen. Tatsächlich, so die Vorlage, „stellt völlig unglaubwürdig 7% sern und Botschaftsgebäuden. der Mißbrauch von Verschlüsselung in Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: Vielen Dank für Ihr Verständnis.“ Deutschland für die Strafverfolgung keine Angabe; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom kein ernsthaftes Problem dar“. 17. und 18. Mai; rund 1000 Befragte

20 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

REGIERUNG Haushalt der Grausamkeiten Mit den drastischen Sparplänen unterwirft sich Rot-Grün einem gefährlichen Erfolgstest. Scheitert das 30-Milliarden- Projekt, ist der Ruf vollends ruiniert. Sollen die Schnitte gelingen, muß SPD-Glaubensgut im Sozialetat aufgegeben werden.

weieinhalb Stunden speisten Ger- kenntlichkeit vermasselte, das sich in nur hard Schröder und sein Finanzmini- einem halben Jahr Regentschaft einen ver- Zster Hans Eichel im Hannoveraner heerenden Ruf erworben hat, schickt sich Restaurant „Wiechmann“. Das Ergebnis an, die „finanzpolitische Trendwende“ (Ei- des Essens am vorvergangenen Freitag chel) zu inszenieren. kommt die Kollegen im rot-grünen Kabi- Die soliden Finanzen sollen nun zum nett teuer zu stehen. Der Kanzler und sein Markenzeichen von Rot-Grün werden. In Kämmerer legten sich endgültig auf jene der Kabinettssitzung am vergangenen Mitt- sagenhafte Summe von 30 Milliarden Mark woch, die Joschka Fischer wegen der Eu- fest, um die der Etat 2000 zu kürzen sei. ropa-Tour von Schröder leitete, machte der Am folgenden Wochenende schlug sich Vizekanzler seinen Kollegen den Ernst der der eher hölzerne Hesse in Sabine Chri- Lage klar: „Es entscheidet sich am Thema stiansens Talkshow so wacker für die Spar- Finanzen die Machtfrage. Wenn wir das pläne, daß Schröder ihn noch in den Ber- versieben, kann man die nächste Bundes- liner ARD-Kulissen anrief und nochmals tagswahl vergessen.“ In der Koalitions- volle Rückendeckung für den Kürzungs- runde am Mittwoch abend ging Fischer kurs versprach. aber auf vorsichtige Distanz zum „Star- Derart gestärkt ließ Eichel tags darauf Wars-Programm“ von Eichel: „Man kann Ankündigungen Taten folgen. In einem als Mitte-Links-Koalition nicht einen rei- Brief teilte er seinen Kabinettskollegen mit, nen Konsolidierungskurs fahren.“ was er in den kommenden Wochen von ih- Der angekündigte Weg wird die SPD vor nen erwartet: Gürtel enger schnallen, bis es eine große Belastungsprobe stellen. Aus-

quetscht. gerechnet jene Partei, die angetreten ist, REUTERS Entsprechend der Anteile ihrer Ministe- die „soziale Balance“ (Schröder) wieder- Finanzminister Eichel, Kanzler Schröder: Anruf rien am Etat sollen die Ressortchefs ihre herzustellen, muß nun die Sozialausgaben Beiträge am Sparvolumen aufbringen. Da- zurückstutzen und Besitzstände beschnei- schnell wie möglich zu einem ausgegliche- mit sich niemand schön rechne, legte Eichel den. In vorsichtigen Worten meldete In- nen Haushalt ohne Neuverschuldung zu gleich eine Liste mit den entsprechenden nenminister Otto Schily im Kabinett schon kommen.“ Summen bei. Die Spanne reicht von 54 Bedenken an: „Wir müssen das Differen- Der Bonner Neuling Eichel ist Realist Millionen Mark für Justizministerin Herta zierungsvermögen behalten.“ Seiner zwei- genug, sich bei seinem ehrgeizigen Erst- Däubler-Gmelin bis zu 12,8 Milliarden ten Chance muß Schröder eine Menge so- lingswerk nicht allein auf die „solidari- Mark für Arbeitsminister Walter Riester. zialdemokratischen Glaubensguts opfern schen Konsolidierungsbeiträge“ seiner Kol- Eichels Ziel ist mehr als ehrgeizig, fast – und Hans Eichel ist sein Exekutor. legen zu verlassen, die er in seinem Brief tollkühn. Noch nie in der 50jährigen Ge- Will der Nachfolger Oskar Lafontaines anmahnt.Am vergangenen Dienstag schar- schichte der Bundesrepublik hat es ein Fi- tatsächlich sparen, bleibt ihm nur die bra- te er in aller Heimlichkeit die Spitzen sei- nanzminister geschafft, die Bundesausgaben chiale Tour. „Bei den Einsparmaßnahmen nes Ministeriums, das sogenannte Kollegi- derart drastisch zu kürzen. Da schon sein sind auch gesetzliche Änderungen einzu- um, um sich. Der Zweck des Treffens von Vorvorgänger Theo Waigel (CSU) mit etli- beziehen“, machte er sich und seinen Mi- Minister und Staatssekretären: Vorbeugung chen Sparprogrammen und Haushaltssper- nisterkollegen in dem Brief Mut. Im Klar- für den wahrscheinlichen Fall, daß die Res- ren die Ansätze zurückgestutzt hatte, gleicht text: Einschnitte in Sozialleistungen kön- sorts zuwenig oder gar nicht liefern. „Die das Eichel-Vorhaben dem Versuch, einen nen nicht länger tabu sein. werden höchstens mit der Hälfte des Ge- Putzlappen zum siebten Mal auszuwringen. Die Schnitte sollen nicht nur kurzfristig forderten ankommen“, vermutet ein Ei- Setzt Eichel sich durch, dann liegt der Haus- wirken, damit Eichel im nächsten Jahr ei- chel-Zuarbeiter. „Da müssen wir dann halt des kommenden Jahres mehr als sechs nen verfassungskonformen Haushalt vor- nachlegen können.“ Prozent unter den Ansätzen für 1999. legen kann, bei dem also die Investitionen Einiges haben sich die Experten des Fi- Der Erfolg des Vorhabens entscheidet die neuen Schulden übersteigen. Der ge- nanzministeriums schon ausgedacht. Und über das weitere Schicksal der Regierung lernte Lehrer hat sich Kühneres vorge- das halten sie für so brisant, daß sie es selbst Schröder. Ausgerechnet das Kabinett, das nommen: Er will künftig überhaupt keine den Spitzen des Hauses nur zum schnellen nahezu jedes seiner Vorhaben bis zur Un- Schulden mehr machen. „Ziel ist es, so Einblick überlassen. In durchnumerierten

22 der spiegel 21/1999 Reserveliste bis Ende Mai fertigzustellen. Was einige Minister als Zumutung Bis dahin sollen auch die Ressorts ihre empfinden, nimmt Arbeitsminister Walter Sparvorschläge unterbreitet haben. Riester noch sportlich: „Es ist sehr schwie- Die Auffanglösung ist nötig. Denn so- rig, aber ich werde mich der Herausfor- sehr alle Minister im Prinzip das Sparen für derung stellen.“ Gelegenheit dazu bietet eine gute Sache halten, die ihnen viel öf- sich Riester, dem Verwalter des mit 172 fentlichen Beifall eintragen wird, sowenig Milliarden Mark größten Etatpostens, ge- drängt es sie zu Kürzungen, wenn es um ihre eigenen Haus- Arbeitsministerium halte geht. Einige überlegen, ob Etat: 172 Mrd. Mark Sparvorschlag: 12,8 Mrd. Mark sie auf das Schreiben überhaupt reagieren sollen. Andere, ob sie dem Kassenhalter eine Kleinig- keit anbieten, um ihn gewogen zu stimmen. Bei SPD-Fraktions- chef Peter Struck steht seit dem Eichel-Brief das Telefon nicht mehr still. Minister empören und beklagen sich oder wollen wis- sen, wie ernsthaft das Sparpaket gemeint ist. Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping ging erst ein-

mal in die Defensive. Er soll aus AP seinem Haushalt von 47 Milliar- Arbeitsminister Riester den Mark 3,5 Milliarden Mark herausstreichen. Aus dem drei- Verteidigungsministerium tägigen Kurzurlaub auf Mallorca Etat: 47 Mrd. Mark Sparvorschlag: 3,5 Mrd. Mark befahl er seiner Hardthöhen- Truppe, in Deckung zu gehen: „Wir sagen erst mal gar nichts.“ Eilig trugen Scharpings Gehil- fen, durch den Kosovo-Krieg oh- nehin schon bis zur Leistungs- grenze belastet, Argumente für den Abwehrkampf zusammen. Eichels Vorgaben seien nur „fik- tive Zahlen“, „theoretische Kal- kulationen“ für den Fall, daß wirklich nur gespart werden sol- le, nicht aber die Steuern erhöht

werden. DPA Bildungsministerin Edelgard Verteidigungsminister Scharping in den Kulissen Bulmahn wehrte sich mit als er- ste öffentlich gegen die Zwangs- Bildungsministerium Aufstellungen, die jeder Teilnehmer nach kürzungen, die ihrem Etat rund Etat: 15 Mrd. Mark Sparvorschlag: 1,1 Mrd. Mark dem Treffen wieder abgeben mußte, haben eine Milliarde Mark abverlangen sie akribisch aufgelistet, wieviel welche – genau jene Summe, um die sie Streichung an Entlastung bringen könnte. dieses Jahr ihre Ausgaben auf- Viele der Vorschläge muten abenteuer- stocken darf. lich an, vor allem wenn sie eine SPD-ge- Joschka Fischers Außenamt, führte Bundesregierung durchsetzen sollte. das 270 Millionen Mark kürzen Darunter findet sich wahlweise die Ab- soll, sieht Deutschlands neue schaffung oder Halbierung der Arbeitslo- Rolle in der Weltpolitik gefähr- senhilfe, die Aufkündigung des Kohlekom- det. Die Vorgabe könne nur er- promisses, verminderte Aufwendungen für füllt werden, wenn reihenweise den Bundesfernstraßenbau, die Einführung Auslandsvertretungen dichtge- einer Karenzwoche beim Arbeitslosengeld macht würden. oder die Kürzung von Witwenrenten. Die Beamten von Verkehrs- Eichel ermuntert seine Mitarbeiter ge- minister Franz Müntefering radezu, nichts für tabu zu halten. So kom- hatten mit Eichels Vorstoß ge- men Vorschläge aus der Schublade, die rechnet und geben sich gelassen. schon die alte Koalition aus CDU, CSU Auf rund 3,6 Milliarden Mark und FDP nicht umzusetzen wagte. soll Müntefering verzichten. Noch hat sich Eichel nicht festgelegt, „Das wird keinen Bereich lahm- doch wenn er es mit seinem Sparziel ernst legen. Es wir auch die Investi- meint, kommt er an der einen oder ande- tionen nicht massiv betreffen“,

ren Grausamkeit nicht vorbei. Der Minister wiegeln die Verkehrsministeria- / ARGUM STOCKMEYER F. und seine Staatssekretäre beschlossen, ihre len ab. Bildungsministerin Bulmahn

der spiegel 21/1999 23 Deutschland nug. Am einfachsten könn- sagen vor den eigenen te der ehemalige Gewerk- Ansprüchen? schaftsboß beim üppig be- Selbst viele von Ei- messenen Zuschuß für die chels Beamten sind Bundesanstalt für Arbeit skeptisch: „Das Ding sparen. Der ist mit elf Mil- läuft nicht.“ Das mit liarden Mark angesetzt, großem Aplomb an- wird wohl aber nur zu gut gekündigte Sparvorha- der Hälfte in Anspruch ge- ben habe nur einen nommen werden – da die Zweck: „Es soll demon- Nürnberger wegen leicht strieren, wie heftig Ei- sinkender Arbeitslosigkeit chel versucht hat zu weniger als geplant ausge- sparen.“ Wenn es doch ben müssen. nicht klappe, treffe Zusätzlich böten sich ihn wenigstens keine Einsparungen bei den För- Schuld an den dann un- dermaßnahmen für Ar- ausweichlichen Steuer- beitslose in Ostdeutschland erhöhungen. an. Die sind ohnehin Hinter vorgehaltener umstritten: Nach einer Hand machen Eichel-

Untersuchung findet nur DPA Getreue daraus längst jeder fünfte Teilnehmer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Ostdeutschland: Hoher Preis für Kürzungen keinen Hehl mehr.Wenn in Arbeitsbeschaffungs- die Einsparungen nicht maßnahmen anschließend einen regulä- nig gegeneinander aufgerechnet werden. reichen sollten, dann müsse es zwangsläufig ren Job. Das wollen SPD und Grüne ändern. Die zu „Einnahmeverbesserungen“ kommen, Doch für Einsparungen bei den 850000 Grünen glauben sogar, die Witwenrente natürlich auch durch Steuererhöhungen. in Fördermaßnahmen untergebrachten Ar- sollte langfristig ganz wegfallen. „Das wäre dann aber nicht unsere Forde- beitssuchenden bezahlte die Koalition ei- Auch in Riesters Mannschaft regt sich rung.“ Den schwarzen Peter hielten in die- nen hohen Preis: Die Arbeitslosenzahlen Widerstandsgeist. Die Ministerialen sper- sem Falle die sparunwilligen Ressortchefs. würden sofort steigen. ren sich gegen jede Einschränkung bei der Die dachten schon in der Kabinettsrun- Wahrscheinlich kommen auch Eingriffe Arbeitslosenhilfe. Sie fürchten die Ausein- de am vergangenen Mittwoch auch über in der Rentenversicherung. Es gibt sogar andersetzung mit den Kommunen, die höhere Einnahmen nach. Schily schlug schon Überlegungen, die vorgesehene Ren- dann mehr Sozialhilfe bezahlen müßten. etwas außerhalb seiner Kompetenz etwa tensteigerung im nächsten Jahr auszuset- „Das taugt nicht für einen Schnellschuß“, ein „Road pricing“ vor, eine kilometerab- zen. Besonders bei Hinterbliebenenrenten sagt ein Riester-Vertrauter. hängige Straßenbenutzungsgebühr. könnte, politischer Wille vorausgesetzt, er- Mit seiner vollmundigen Ankündigung Eine echte Chance für seine Sparpläne heblich gespart werden. Viele Witwen mit betreibt Eichel ein Spiel mit hohem Risiko. hat der Finanzminister nur, wenn er den eigenem Rentenanspruch bekommen 60 Denn keineswegs ist ausgemacht, daß er Kanzler unerschütterlich hinter sich weiß. Prozent des Altersgeldes ihres verstorbe- den geforderten Betrag auch zusammen- Kann sich Eichel da sicher sein? Gerhard nen Ehemannes, ein Relikt aus Zeiten, als bekommt. Zudem bleibt die Erfolgskon- Schröder ist bisher nicht dadurch aufge- Frauen noch keinen eigenen Rentenan- trolle unklar.Wären zehn Milliarden Mark fallen, daß er unbequeme Entscheidungen spruch erwarben. Daß viele Frauen eigene schon ein schönes Ergebnis? Oder signali- gegen die Öffentlichkeit und lärmende In- Einkommen haben, war nicht vorgesehen. sieren selbst Einsparungen in Höhe von 15 teressengruppen durchgehalten hätte. Heute müssen beide Renten nur sehr we- Milliarden Mark noch offenkundiges Ver- Schon kurz nach Schröders telefoni- schem Zuspruch für Eichels Fernsehauf- tritt ließ Kanzleramtsminister Bodo Hom- Sparen am Sozialen bach skeptische Töne anklingen. Ob denn Etatposten des Bundesarbeitsministeriums 1999 und Kürzungsmöglichkeiten nicht die Gefahr bestehe, daß die Maß- Bereiche, die von den Sparplänen des Finanzministers betroffen sein könnten. nahmen zu weit gehen, wollte Hombach zu Insgesamt soll der Arbeitsminister 12,8 Milliarden Mark einsparen. Beginn der vergangenen Woche im ge- schäftsführenden Fraktionsvorstand der Sozialversicherung gesamt...... 118,9 SPD wissen. Könnte sich nicht allzu „rup- darin unter anderem: piges Bremsen“ nachteilig auswirken auf Zuschüsse zur Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ...... 83,2 Investitionen und Arbeitsmarkt? Und Zuschüsse zur Knappschaftsversicherung...... 14,2 DGB-Chef Dieter Schulte warnte per Beitragszahlungen zur Kindererziehung ...... 13,6 „Bild“: „Spart uns nicht kaputt!“ Noch werden Bedenken und Widerstand Arbeitsförderung und Arbeitslosenhilfe gesamt...... 43,3 gegen den Sparetat abgeblockt. Fraktions- darin unter anderem: chef Struck mahnte im Kabinett, kein Mi- Arbeitslosenhilfe ...... 28,0 nister solle „über die Fachpolitiker in der Zuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit ...... 11,0 Fraktion Stimmung gegen Eichel machen“. Strukturanpassung (Kohle, Stahl, u.a.) ...... 2,0 Und der Finanzminister warnte dringlich Sachkosten ABM ...... 0,6 davor, den Eindruck zu erwecken, das Pro- blem könne über Steuererhöhungen gelöst Kriegsopferrenten...... 9,0 werden: „Das Signal nach draußen muß sein, daß wir uns krummgelegt haben – Europäischer Sozialfonds ...... 1,2 wir haben keine andere Wahl.“ Horand Knaup, Elisabeth Niejahr, Gesamtetat ...... 172,4 Christian Reiermann, Alexander Szandar

24 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

nem Arzneimitteletat vorgibt, immer un- alle Medikamente, die von den Kassen er- GESUNDHEIT genierter. „Die Budgets werden offenbar stattet werden – umstrittene Arzneien wer- nicht von allen ernst genommen“, glaubt den aussortiert. „Gut möglich, daß der Arzt Eiserne Kur Gisbert Selke vom Wissenschaftlichen In- statt eines wenig wirksamen Wässerchens stitut der Ortskrankenkassen. Er findet die- dann moderne und damit auch teure Me- Die Kosten steigen: Muß die grüne se Haltung sogar verständlich: „Schließ- dikamente verschreibt“, warnt der Kölner lich hatten Überziehungen bisher niemals Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, der Ministerin Andrea Fischer zu Konsequenzen.“ zum Beraterzirkel der Ministerin gehört. den Mitteln ihres CSU-Vorgängers So hatte Ex-Minister Horst Seehofer Dann würden die Kosten am Ende noch greifen – zahlen Patienten vorgeschrieben, daß Ärzte für Überschrei- weiter steigen. bald mehr für Medikamente? tungen ihrer Arzneibudgets selber haften Das Problem ist auch den Gesundheits- müssen. Geändert hat das nichts. „Es wur- politikern bewußt. Eigentlich müßten sie ndrea Fischer hat eine neue Nacht- den riesige Schulden aufgehäuft, und nie- deshalb noch energischer die Kosten an lektüre. Die grüne Gesundheitsmi- mand traute sich, das Geld einzutreiben, anderer Stelle reduzieren. Doch gleichzei- Anisterin lernt aus den Memoiren weil das einige Ärzte in den Ruin getrieben tig wird schon das Undenkbare gedacht: der Eisernen Lady Margaret Thatcher. hätte“, hat Fischer gelernt. Nach dem Steigen die Ausgaben trotz aller Bremsen Während die Herren des rot-grünen Kabi- Wahlsieg einigten sich Rote und Grüne auf stärker als geplant, müßten auch die Ein- netts sich lieber auf den Britenpremier eine Amnestie für die betroffenen Ärzte. nahmen wieder steigen. Selbst höhere Zu- Tony Blair berufen, will Fischer sich mit Für Fischer steht deshalb fest: „Offenbar zahlungen für Medikamente, Kuren oder den Lektionen von seiner harten Vorgän- reicht es nicht, immer mit der Peitsche zu Arztbesuche gelten nicht mehr als Tabu. gerin stählen für den Umgang mit reniten- drohen.“ Für die SPD ist das ein heikles Thema. ten Ärzten, Pharmalobbyisten und Koali- Bisher wollte Fischer mit ihrer Reform Schließlich hatte sie im Wahlkampf kräftig tionspartnern. vor allem die Qualität der Versorgung ver- Stimmung gegen Seehofers Zwangsabga- ben gemacht. Nun bleibt womöglich kaum etwas anderes übrig, wenn die Beiträge sta- bil bleiben sollen und Sparmaßnahmen nicht schnell genug greifen. So fürchtet Flo- rian Gerster, Sozialminister in Rheinland- Pfalz und Chef der Gesundheitsminister- Konferenz der Länder: „An einer höheren Eigenbeteiligung bei einigen Maßnahmen führt wahrscheinlich kein Weg vorbei.“ Bei den Grünen gibt es, trotz demon- strativem Optimismus nach außen, ähnli- che Gedankenspiele. Zunächst hofften sie auf eine elegante Lösung: Zuzahlungen sollten von der Härte der Krankheit oder der Qualität des Medikaments abhängen. Solch eine Abstufung hatten Experten des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskran- kenkassen ins Gespräch gebracht. Gerster und viele rote und grüne Parla- mentarier hatten dafür Sympathien, weil sie hofften, soziale Härten zu vermeiden. Der notleidende Schlaganfall-Patient wäre

ARIS schließlich besser weggekommen als der Ministerin Fischer: „Es reicht nicht, immer mit der Peitsche zu drohen“ Versicherte, der auf seine medizinisch um- strittene Venensalbe nicht verzichten mag. Härte kann der freundlichen Grünen bessern: durch Behandlungsleitlinien für Doch diese Lösung halten die Gesund- nicht schaden. Die großangelegte Gesund- Ärzte, bessere Patienteninformationen heits-Fachleute im Ministerium nicht für heitsreform 2000, nach dem Wahlsieg noch und eine stärkere Rolle der Hausärzte, die praktikabel. Die „Bedenken“ gegen das als eines der wichtigsten Regierungspro- Kranke durch das schwer durchschaubare Modell seien „gravierend“, heißt es in ei- jekte angekündigt, kommt ins Wanken – Gesundheitssystem lotsen sollen. nem sechsseitigen Vermerk. Zu schwer sei- aus Gründen, die keiner recht vorhergese- Doch bis diese Instrumente wirken, ver- en die Medikamente zuzuordnen. Hinge hen hat. Die Kosten im Gesundheitswesen geht viel Zeit – und diese Zeit hat die Mi- die Zuzahlung von der Krankheit ab, „hät- steigen seit einigen Wochen wieder spürbar nisterin nicht. Kurzfristig muß auch sie – te dies eine Mehrfacheinstufung“ vieler an, besonders bei Arzneiausgaben. ähnlich wie ihre Vorgänger – die Kosten Arzneien zur Folge. „Nicht überprüfbar Bleibt es dabei, warnt Herbert Rebscher, deckeln. Das Herzstück ihrer Reform ist und deshalb zu verwerfen“, lautet das Ur- Chef der Angestellten-Kassen, „muß allein deshalb ein sogenanntes Globalbudget, teil der Beamten. Als möglich gelten al- in diesem Jahr der Beitrag um 0,5 Punkte über das die Landesverbände der Kran- lenfalls Zuzahlungen, die prozentual mit steigen“. Für die Bundesregierung wäre kenkassen verfügen sollen. Doch schon den Preisen der Arzneimittel steigen. das ein verheerendes Signal: SPD und Grü- jetzt klagen die Kassen, nicht genügend Die Folge: hohe Kosten für Kranke, die ne wollen die Lohnnebenkosten nicht nur Macht für wirksame Einsparungen bei teure Medikamente brauchen. Dann war- stabil halten, sondern deutlich senken. Be- Krankenhäusern zu haben. tet auf die Patienten eine eiserne Kur, die kommt Fischer die Kosten nicht in den Möglicherweise treiben bei Fischers Ge- genauso unpopulär wäre wie Sparmaß- Griff, reformiert sie am eigentlichen Pro- sundheitsreform gerade jene Instrumente nahmen bei Ärzten oder Krankenhäusern. blem vorbei. die Kosten, von denen sich viele einen Einer von Fischers Fachbeamten meint: Die Ärzte ignorieren den starren Ko- Spareffekt erhofft hatten – wie die soge- „Dann fangen wir genau da an, wo See- stenrahmen, den der Gesetzgeber mit sei- nannte Positivliste. Auf der stehen künftig hofer aufgehört hat.“ Elisabeth Niejahr

26 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Umfrage

Joschka Fischer Gerhard Schröder Popularität in Rudolf Scharping Zeiten des Krieges Wolfgang Edmund Schäuble Stoiber Kurt ot-Grün hat seine Mehrheit verloren. Biedenkopf Volker RWenn jetzt Bundestagswahlen wären, Rühe hätte die alte Koalition aus Union und Liberalen einen Prozentpunkt mehr als SPD und Grüne. Bei den Europawah- len, die am 13. Juni anstehen, liegt die CDU/CSU nach der Emnid-Umfrage für den SPIEGEL ebenfalls vor den Sozial- 73 72 demokraten. Doch könnten sich diese gegenüber ihrem Ergebnis bei den Wah- len zum Europa-Parlament 1994 nunmehr um fast sieben Prozent verbessern, die 61 60 Grünen verlieren dagegen rund drei Pro- 58 zent. Die FDP schafft die Fünf-Prozent- 55 Hürde für Brüssel nicht. Abgekoppelt von 52 den Umfragewerten ihrer Parteien ran- gieren Gerhard Schröder und Joschka Fischer in der Gunst der Deutschen weit an der Spitze. Ihre außenpolitischen Auf- tritte haben die meisten Deutschen beein- druckt, der Kosovo-Krieg überdeckt die „Wichtige Rolle“ häufiger gewünscht „Wichtige Rolle“ seltener gewünscht Dieser Politiker ist Unzufriedenheit mit der schwachen in- als im August letzten Jahres als im August letzten Jahres mir unbekannt. nenpolitischen Leistung der Regierung. Umweltminister Jürgen Trittin, nach dem verunglückten Atom-Ausstieg nur noch +27 +6 +21 –10 +11 –5 lustlos im Kabinett, schaffte, was kaum einem Politiker vor ihm auf der SPIEGEL- Treppe gelang: Er steht auf derselben 6 14 8 Popularitätsstufe wie Gregor Gysi – fast ganz unten.

Allgemeine Zufriedenheit Sonntagsfrage „Wie zufrieden sind Sie mit der politischen Arbeit, die in Bonn von den „Welche Partei würden Sie wählen, verschiedenen Institutionen geleistet wird?“ wenn am nächsten Sonntag Bun- destagswahl wäre?“ mit der Arbeit der mit der Arbeit von Bundesregierung Bundeskanzler Schröder sehr zufrieden 4 14 CDU/CSU 40

eher zufrieden 45 52 SPD 38 eher unzufrieden 38 26 B’90/ Grüne 6 sehr unzufrieden 10 7 Mai-Umfrage an 100 fehlen- rund 1300 Befragte de Prozent: FDP 5 keine Angabe Anerkennung für Außenpolitik PDS 6 „Wie bewerten Sie Auftreten, Geschlossenheit und Leistungen der deutschen Bundesregierung...... in der Außenpolitik – vor allem CDU/CSU 35,1 bezüglich des Krieges im Kosovo?“ ... i n der Innenpolitik?“ SPD 40,9 sehr gut 23 2 B’90/ 44 42 Grüne 6,7 eher gut Bundestagswahl 27. September 1998 eher schlecht 21 46 FDP 6,2 sehr schlecht 11 7 PDS 5,1

28 der spiegel 21/1999 Deutschland

Fischers Sprung nach vorn Emnid nannte die Namen von 18 Spitzenpolitikern. Der Anteil der Befragten, die den jeweiligen Politiker kennen und es gern sähen, wenn er künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die Veränderungen zur letzten Umfrage im August 1998. Heide Simonis Manfred Angaben in allen Grafiken in Prozent Stolpe Angela Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; Merkel Otto rund 1500 Befragte, 14. bis 17. Mai 1999 Schily Wolfgang Clement Guido Westerwelle Wolfgang Gerhardt Walter Riester Gregor Gysi Jürgen Trittin Roland Koch

46 44 41 37 33

27 26 3 liegen bei Fragen nach Personen im Zufallsbereich. + – 23 21 21 im August im August im August im August im August im August im August +4 17 nicht auf nicht auf nicht auf nicht auf nicht auf nicht auf nicht auf im August nicht der Liste der Liste der Liste der Liste der Liste der Liste der Liste auf der Liste 68 20 14 11 18 44 22 37 48 7 10 Sie werden deshalb nicht ausgewiesen. Veränderungen bis zu Veränderungen

Comeback Stärkung für Rot-Grün? Sonntagsfrage zur Europawahl unerwünscht „Auf dem jüngsten außerordentlichen Parteitag der „Welche Partei würden Sie „Oskar Lafontaine Grünen zum Kosovo-Krieg hat sich der Bundesvor- wählen, wenn am nächsten ist vor einigen stand um Außenminister Joschka Fischer mit seiner Sonntag Wahlen zum Europäi- Wochen von allen Linie gegen die Partei-Linke durchgesetzt. Glauben schen Parlament wären?“ Ämtern zurück- Sie, daß dieser getreten. Wünschen Erfolg die rot- CDU/CSU 41 Sie, daß er wieder grüne Koalition ja 43 in die Politik zu- gestärkt hat?“ SPD 39 rückkommt?“ nein 47

Grüne 7 Mai-Umfrage ja nein zur Europawahl Spalten sich die Grünen? FDP 3 am 13. Juni gesamt 28 69 „Auf dem Parteitag ha- ja nein rund 1300 Befragte ben die Delegierten hef- gesamt PDS 5 tig um den richtigen Kurs 58 33 Anhänger von der Partei zum Kosovo- Anhänger von Krieg diskutiert. Wird CDU/CSU 15 82 CDU/CSU 63 30 CDU/CSU 38,8 diese Uneinigkeit die Grünen spalten?“ SPD 36 63 SPD 50 42 SPD 32,2

FDP 17 81 FDP 72 27 Grüne 10,1

B’90/ Grüne B’90/ Grüne 45 50 35 65 4,1 FDP Europawahl rund 1000 Befragte PDS 65 35 PDS 65 22 1994 vom 17. und 18. Mai PDS 4,7 F. OSSENBRINK F.

der spiegel 21/1999 29 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland DPA Auslandsreisender Herzog in Mexiko*: „In psychologischer Hinsicht das Stereotyp des Deutschen zerschlagen“

BUNDESPRÄSIDENT Abschied ohne Reue Roman Herzog schöpfte seine verfassungsmäßig begrenzten Möglichkeiten fast bis zur Neige aus. Er wollte einen Ruck durch das Land gehen lassen – am Ende seiner Amtszeit jedoch sieht er die Lage der Deutschen in sehr viel milderem Licht. Von Hans-Joachim Noack

eil er mit Journalisten in einer stil- Amt im Staate die eigene und robust ver- „etwas veränderte“, glauben nach einer len Ecke reden möchte, wählt der teidigte Identität entgegenstellt, hat sich Repräsentativ-Erhebung gerade mal knapp Wnach Lateinamerika reisende Ro- der bullige Bayer stets gefallen – und so 30 Prozent der Bürger. man Herzog während seiner letzten großen hält er es auch am Ende seiner Karriere. Freilich, gut zwei Drittel loben Herzogs Tour einen etwas ungewöhnlichen Ort. Im Wo immer er in diesen Wochen Abschied beträchtliches Engagement, wie sie in Son- schmalen Schlafabteil eines ihm zur Verfü- nimmt, soll sich im Volk der Eindruck derheit seinen „Mut zu unangenehmen gung gestellten Luftwaffen-Airbus sitzt man festigen, von einem strikt sich treu geblie- Wahrheiten“ herausstellen. Der Präsident auf der harten Bettkante ziemlich eng bei- benen Menschen repräsentiert worden habe geholfen, „die Demokratie zu stär- einander, doch das deutsche Staatsober- zu sein. ken“ – und zumindest insoweit wird ihm haupt scheint sich wohl zu fühlen. Was das Persönlichkeitsprofil anbelangt, bestätigt, was er von Anbeginn seiner Das Gespräch dreht sich um die Frage, muß er sich kaum mehr bemühen, denn Amtszeit selbst als den „eigentlichen Auf- welche Wandlungsprozesse ihm die nun das von Roman Herzog gepflegte Selbst- trag“ definiert. auslaufende Amtsperiode unvermeidlich bild deckt sich weitgehend mit seinem Mit dem ehedem obersten deutschen abverlangte – ein Thema, auf das der zu Image. Einer deutlichen Mehrheit unter Verfassungsrichter zieht da am 1. Juli 1994 Flapsigkeiten neigende Gastgeber offen- den nach ihrer Meinung befragten Lands- ein solider Kämpfertyp in das Berliner bar gerne reagiert. „Für fünf Jahre Bundes- leuten gilt der scheidende Präsident als be- Schloß Bellevue ein, der sich nicht nur als präsident ein anderer Kerl zu werden“, wundernswert unabhängig. notorischer Nonkonformist versteht: Er sagt er kichernd, habe sich schlicht „nicht Ob der 65jährige Christdemokrat auch möchte wirken. Das von Einheitsschla- gelohnt“. sein zweites großes Ziel erreicht hat – näm- massel und einer sprunghaft ansteigenden In der Rolle des demonstrativ unpathe- lich als ein ausgeprägt politisches Staats- Globalisierungswelle verunsicherte Vater- tischen Zeitgenossen, der dem höchsten oberhaupt in die Annalen der Republik land soll in ihm den Mann erkennen, der einzugehen – , lassen die demoskopischen „im allgemeinen Durcheinander ein paar * Am 8. März in Mexiko-Stadt. Daten eher im unklaren. Daß er tatsächlich kräftige Linien zieht“.

32 der spiegel 21/1999 Wer wie er beschaffen sei, Widerstände gerechtfertigt zu sagt der rustikale Rechtsgelehr- fühlen. te aus Landshut in deutlicher Oder täuscht der Eindruck? Unterscheidung zu seinem fein- Im letzten Jahr seiner Amtszeit sinnigen Vorgänger Richard von schleicht sich nach den relativ Weizsäcker, werde notfalls folgenlosen Appellen zugleich „auch mal ’n Klotz hinhaun“, der Verdacht ein, daß sich das doch dann nimmt er sich Zeit. Staatsoberhaupt mit einer zu- Nach einem leicht mißglückten nehmenden Selbstbescheidung Schnellschuß, mit dem der eben abzufinden beginnt. gekürte Präsident die „unver- Zumindest fließt da in seine krampfte Nation“ propagiert, Zufriedenheit, was das eigene gerät er auf die angedrohte Wei- Engagement anbelangt, eine ver- se erst im Frühjahr 1997 in die blüffend geschönte Betrach- Schlagzeilen. tungsweise ein, wenn er sich An historischer Stätte, im wie- über die allgemeine Lage ver- deraufgebauten Berliner Hotel breitet. Glaubt man seiner Ana- Adlon, hält der Professor seine lyse, gibt es am krisengeschüt- berühmte Philippika, die in ei- telten Standort D zwar noch im- nem später fast schon in den mer zu viele Schwachstellen, Kultstatus erhobenen Ausruf doch die positiven Anzeichen gipfelt: Durch das mental da- mehren sich. Trotz des Krieges niederliegende Deutschland, for- auf dem Balkan sieht er „eine dert der von einer Visite in den deutlich verbesserte Stimmung damals boomenden Fernen im Lande“. Osten befeuerte Redner, müsse Die an Herzog bestaunten re- endlich „ein Ruck“ gehen. spektive von seinen Gegnern

Der nach eigenem Urteil GRANSER / ASPECT beanstandeten Kanten schleifen wertkonservative Christdemo- Deutschland-Reisender Herzog*: „Der wahre Ertrag“ sich ab, und anstatt den Bürgern krat, der als Karlsruher Ver- die komplizierte Wirklichkeit fassungsrichter noch vor einem allzu die diskutierten Modernisierungskonzepte in ihrem vollen Umfang zuzumuten, be- stürmischen Fortschritt, etwa in der Gen- immerhin eine Schlüsselfrage – , findet in gnügt er sich häufig mit vielsagenden technologie, gewarnt hatte, outet sich. Sein seiner geharnischten Reform-Rhetorik nur Andeutungen: Ja, wenn er denn in Worte „Herzensschrei“ (so der Londoner „Guar- am Rande Platz. fassen dürfte, was ihm etwa zum Krach dian“), mit dem er nun zu Hause das Aber solche Einwände kümmern den vi- um den Doppel-Paß oder die Kernenergie sogenannte neoliberale Vokabular zum talen „Buprä“ kaum. Ist er nicht angetre- „alles durch den Kopf geht“ … aber er Klingen bringt, läßt an seiner Stoßrichtung ten, den in der Bundesrepublik lebenden darf ja leider nicht. keinen Zweifel. Menschen „Wahrheit und Klarheit“ zu ver- Wer den Job des Bundespräsidenten zu- Der Heimkehrer empfiehlt sich den mitteln? Er möchte der Res publica als ein treffend interpretiere, grummelt er nun ein Landsleuten als „Präsident der Erneue- „Unbequemer, gegebenenfalls Anstößiger“ über das andere Mal ungewohnt milde, rung“, und das beweist er auch gleich. Er- auf die Sprünge helfen, und um so mehr habe sich halt „den Anstellungsbedingun- finder und Tüftler dürfen auf einem „Fest scheint er sich durch die hinhaltenden gen“ zu unterwerfen. Die erlegen ihm auf, der Ideen“ in seinem Schloß ihre Produk- „das Gemeinsame in der Gesellschaft“ zu te ausbreiten. Ein „Innovationstag“ wird kräftigen – und wie sehr der einstige Spit- ersonnen, und ein eigens von ihm gestifte- zenjurist dazugelernt hat, zeigt die einst- ter, mit 500000 Mark dotierter Preis soll weilen letzte der großen Kontroversen. „ein technik- und forschungsfreundliches Beim Streit zwischen Martin Walser und Klima“ fördern. Ignatz Bubis um die richtige Form des Er- Gewiß ist das alles gut gemeint und von innerns an deutsche Vergangenheit ap- platter Parteinahme weit entfernt – und plaudiert er beiden Protagonisten. dennoch haftet seinem Eifer zugunsten von Aber lassen solche Rücksichtnahmen Existenzgründern oder „mutigen Unter- den Schluß zu, der in seinem früheren Be- nehmern“ bisweilen der Beigeschmack ei- ruf ziemlich selbstgewisse Roman Herzog ner Kampagne an. Der stellt sich vor allem habe sich überschätzt, als er ein politisches dann ein, wenn der Trommler seine Akti- Staatsoberhaupt zu werden beschloß? Vor vitäten mit privatwirtschaftlichen Initia- allem für die Schlußphase der Kanzler- tiven verbindet. schaft Helmut Kohls gilt das sicher nicht: Sprecher der Vereinigung Deutscher Da schöpft er seine von der Verfassung eng Wissenschaftler kritisieren an Herzogs Fit- begrenzten Möglichkeiten fast schon bis neßprogramm, das den vielbeschworenen zur Neige aus. „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ beschleu- In den Beziehungen zu dem mächtigen nigen soll, einen „Tun- und Machensdrang Pfälzer, der ihn in den siebziger Jahren als ohne zureichende Güterabwägung“. Wie Staatssekretär nach Rheinland-Pfalz holte, zum Beispiel Ökonomie und Ökologie auf- bleibt der Parteifreund hartnäckig bei sei- einander abgestimmt werden müßten – für nen Grundsätzen. „Zum Vollzugsgehilfen, für wen auch immer, eigne ich mich nicht“,

SIPA PRESS SIPA hatte er bereits vor seiner Wahl angekün- * Oben: am 4. Juli 1994 an der Ruine der Dresdner Frauenkirche; unten: am 1. Dezember 1998 in Schloß Königin Elizabeth, Bundespräsident Herzog* digt, und er verhält sich danach. Kaum ein Windsor. „Globale Verantwortungsgemeinschaft“ anderer strapaziert die heillos im Reform-

der spiegel 21/1999 33 Deutschland stau steckende Bürgerblock-Koalition ähn- Der Bundespräsident, so rühmt ihn nach und in Moskau darf er via TV gar zum rus- lich ausdauernd, wie der Herr im Schloß seiner Teilnahme am 50. Jahrestag des Auf- sischen Volk sprechen. Bellevue sie piesackt. standes im Warschauer Ghetto der polni- Der Mehrheit der Bundesbürger dürfte Für die Prognose des damals noch in sche Schriftsteller Andrzej Szczypiorski, Roman Herzog eher aus Gründen in Erin- Niedersachsen regierenden Gerhard Schrö- habe „in psychologischer Hinsicht das Ste- nerung bleiben, die in seiner Volkstümlich- der, Roman Herzog werde zum „belieb- reotyp des Deutschen zerschlagen“. Wo- keit wurzeln. Wie vormals nur der Sozial- testen Bundespräsidenten aller Zeiten“ möglich ist das ein bißchen zuviel der Ehre, demokrat Gustav Heinemann pflegt er die aufsteigen – ein sicher nicht ganz uneigen- aber sicher keine ganz falsche Metapher. Aura des Unprätentiösen: „Man sagt, ich sei nütziges Lob –, fehlt natürlich der Maß- Freilich, in einer Welt, die der veränder- der Präsident …“ Er verzichtet nicht nur in stab. Doch der Sozi und spätere Kanzler ten Rolle seiner wiedervereinigten Nation dieser Funktion auf jedweden „Zauber“, hat wohl allen Anlaß, einem Mann dankbar erkennbar noch mit gemischten Gefühlen sondern möchte auch sonst als Mensch wie zu sein, der die Defizite der am Ende qual- entgegensieht, nur den angemessenen Ton du und ich akzeptiert werden. vollen Ära Kohl erst so richtig ins öffent- zu treffen, reicht ihm nicht. Hinter der Fas- Nur einmal, im Frühsommer vergange- liche Bewußtsein senkt. sade des von Herzog bis zum Phlegma kul- nen Jahres, gerät das feste Erscheinungs- Vergleichsweise unspektakulär, aber mit tivierten leichten Sinns nistet ein enormer bild des ersten Mannes im Staate be- der Zähigkeit seines „bayerisch-preußi- Ehrgeiz. Vom ersten Tage seiner Amtsge- trächtlich ins Wackeln. Nach ungezählten schen Pflichtgefühls“ setzt der Christde- schäfte an bemüht sich das Staatsober- Bekundungen, in denen er eine Wieder- mokrat auf dem schwierigen Feld der deut- haupt auch um inhaltliche Wegweisung. wahl kategorisch ausschloß, zeigt sich der Christdemokrat angefochten. Nun, plötz- lich, kann er sich doch „mögliche Situa- tionen“ vorstellen, die eine zweite Amts- periode erfordern. Was ist da geschehen, daß sich ein Poli- tiker, der ja einen wesentlichen Teil seiner Popularität gerade einer bis zur Sturheit reichenden Verläßlichkeit verdankt, derart umorientiert? Die schwer enttäuschten Me- dien legen dem Bürger-King ein kaum be- greifliches Verwirrspiel zur Last. Erbost spricht etwa die „Zeit“ von einem glatten „Wortbruch“. Roman Herzog fühlt sich schmerzlich mißverstanden. Er habe bloß prophylaktisch „für den Fall unklarer Mehrheitsverhältnis- se bei den Bundestagswahlen“, hält er den Kritikern immer noch einigermaßen wütend entgegen, seine prinzipielle und auch aus Gründen der Stabilität von ihm „zu erwar- tende Handlungsfähigkeit sichern wollen“. So richtig überzeugend klingt das nicht. Doch andererseits kann man ihm wohl glauben, daß es ihn nun in Frieden in sei- ne kleine Dachauer Eigentumswohnung zieht. Zunächst einmal will er da „zwei

IMO Monate lang schlafen“ und sich dann spä- Christdemokraten Herzog, Kohl*: „Zum Vollzugsgehilfen eigne ich mich nicht“ ter die Welt, die ihm als „Buprä“ oft genug von protokollarischen Zwängen verbaut schen Einheit Akzente. Um das Verspre- Welche Aufgaben stellen sich der erst in worden ist, in Ruhe ansehen. chen einzulösen, die neuen Länder „durch- schwachen Konturen sichtbaren Berliner Ein stiller Abschied ohne Reue. „In der zupflügen“, inspiziert er dort in knapp fünf Republik, und wie kriegt man es hin, ihren zweiten Hälfte des siebenten Lebensjahr- Jahren mehr als 100 Städte und Gemein- Zuwachs an Macht in eine dem rasanten zehnts“, sagt das Staatsoberhaupt leise, den. Das ihm im Osten entgegengebrachte Wandel gerecht werdende „globale Ver- „wird man nicht mehr gescheiter.“ Wer Vertrauen nennt er stolz den „wahren Er- antwortungsgemeinschaft“ einzubringen? Lust dazu hat, darf sich eingeladen fühlen, trag“ seiner Präsidentschaft. In zahlreichen Reden skizziert der Profes- die gedankliche Verbindung zu seinem Und auch jenseits der Grenzen vertritt sor Modelle einer grenzüberschreitenden mutmaßlichen (und älteren) Nachfolger Jo- der an „Vor-Ort-Erfahrungen“ stets inter- Kooperation, die die Frage des Rohstoff- hannes Rau herzustellen. essierte Professor die einflußreicher ge- verbrauchs ebenso zu berücksichtigen ver- Was ihn überdauert, vor allem in seinen wordene Republik seinem Naturell gemäß. suchen wie jene der Konflikte zwischen Reden, deren tragende Kapitel er eigen- In Auschwitz kommt ihm kein einziges den Kulturen und Religionen. händig auf einer betagten Schreibmaschi- Wort über die Lippen. Sind die Anlässe Daß der Chef, so sein Staatssekretär ne getippt hat, scheint Roman Herzog we- weniger von Schuld und Schande beladen, Wilhelm Staudacher, „eigentlich eine Pro- nig wichtig zu sein. Sollen sich, „wenn sie weicht er die häufig feierlich-starren Ver- grammatik der deutschen Außenpolitik möchten, die Historiker mit abquälen“, kehrsformen mit einem Hang zur Selbst- entwickelte, zu der der alten Regierung entfährt es ihm lapidar, ob er irgendwann ironie auf, der nicht unbedingt zu den We- zunehmend die Kraft fehlte“, wirft ein einmal als „für die Bundesrepublik be- sensmerkmalen seiner Landsleute gehört. Licht auf die Herzogschen Ambitionen. deutende oder gar geschichtliche Figur“ Und die Welt begegnet dem gebildeten eingeschätzt werde. Herrn aus Germany ja auch mit erhebli- „Bin ich ja eh nicht mehr vorhanden“, * Am 1. September 1998 im Bonner Museum König beim Festakt zum Gedenken an die erste Sitzung des Parla- chem Respekt. In New York wird ihm der sagt der Präsident und schneidet dabei Gri- mentarischen Rates. „European Statesman Award“ überreicht, massen. ™

34 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite DPA ICE 884 nach dem Unfall von Eschede: Ein Billigteil entwickelt apokalyptische Kräfte

VERKEHR Die deutsche Titanic Ein Jahr nach dem Unfall von Eschede sind die Rätsel um den ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ gelöst. Das Protokoll der Katastrophe und ihrer Folgen zeigt Leiden und Hilflosigkeit der Opfer – und die Fehlentscheidungen der Bahnmanager, die jetzt Strafverfahren fürchten müssen.

s ist Heiligabend, als Martin Bruinier nicht gepflückt und sie seinem Stiefvater helmshöhe in den ICE 884 „Wilhelm Con- die Straße hinaufgeht, die vor einem geschenkt: „Damit du uns nicht vergißt, rad Röntgen“; im fünften Waggon sind die EJahr noch von Eschede nach Reb- wenn wir zur Kur fahren.“ Plätze 71 und 72 für sie reserviert. Mutter berlah führte. Neblig und still ist es in Zu Hause klebte der Junge, der nach und Sohn wollen an die Ostsee. Um 10.59 Eschede. Die Kränze auf dem Kreuz aus den Ferien in die Schule kommen sollte, Uhr verläßt Alexander das Abteil, er möch- Sperrholz, das mitten auf der Straße liegt, eine Blume auf ein Blatt Papier und schrieb te seinen Lieblingszug erkunden. sind inzwischen braun und die Plüschtiere in ungelenken Großbuchstaben: „LIBER Da sind es noch wenige Sekunden bis aufgedunsen vom Regen. „Deine liebe Gat- MARTIN SCHAD DAS WIA BALT WEK zur Katastrophe. tin“ liest Bruinier auf einer Trauerschleife. FAREN. FILE GRÜSE DAN ALEX.“ Der ICE 884 verunglückt am 3. Juni 1998 Er geht weiter, dahin, wo vor einem Jahr Um sechs Uhr früh an jenem Mittwoch kurz vor dem Bahnhof von Eschede. 101 eine Brücke war. Jetzt steht da nur noch sieht Martin Bruinier Alexander ein letztes Menschen sterben, 88 werden verletzt. eine Bretterwand. Mal. Der Junge schläft noch. Bruinier be- Seither ist der Name jenes Dorfes in der Bruinier holt den Brief aus der Tasche, obachtet, wie sich der Kleine auf die Rei- Lüneburger Heide, dessen Bahnhof damals den Alexander zum Abschied geschrieben se mit dem Intercity-Express (ICE) vorbe- mit den Worten „Es bahnt sich was an“ hatte, und heftet ihn an den Zaun. Das reitet hat: Der Wecker ist gestellt, die Klei- um Verständnis für Renovierungsarbeiten Foto des Sechsjährigen pappt er daneben, dung zurechtgelegt. Bruinier küßt den warb, ein Fanal. „Eschede“ steht für das jenes, auf dem der Junge mit Sandalen und Kleinen; „Alex, mach’s gut, ruf mich mal Schicksal, das jeden treffen kann, für den Badminton-T-Shirt zu Hause in Vellmar bei an“, flüstert der Student der Zahnmedizin Zufall, der Menschen überleben ließ, die Kassel auf der Turnstange thront. noch, ehe er zur Uni Göttingen fährt. um 10.59 Uhr an der richtigen Stelle waren Damals, ein paar Tage vor der Katastro- Alexander und seine Mutter steigen um – und „Eschede“ steht für ein Ende der phe, hatte Alexander im Park Vergißmein- 9.35 Uhr mit fünf Koffern in Kassel-Wil- Technikgläubigkeit.

36 der spiegel 21/1999 Deutschland B. BOSTELMANN / ARGUS G. SCHLÄGER Alexanders Abschiedsbrief, Ehepaar Bruinier: „Merk dir die Nummer des Abteils, und komm bald wieder“ G. SCHLÄGER ICE an der Unfallstelle: Der Stolz germanischer Ingenieurskunst zerschellt an der Brücke von Eschede

Denn mit dem ICE „Wilhelm Conrad Am vergangenen Dienstag forderte die des Wunderzugs schon nach zwei Monaten Röntgen“ zerschellt an der Brücke von Staatsanwaltschaft Lüneburg von der Bahn und knapp 100000 Kilometern wieder ge- Eschede der Stolz germanischer Inge- AG die Herausgabe der Protokolle der Vor- wechselt werden. Die Bundesbahn, gerade nieurskunst – die deutsche „Titanic“. standssitzungen aus der Entwicklungs- und mit der DDR-Reichsbahn vereinigt und Es ist das gewaltigste Unglück in der Produktionsphase des Radreifens an, droh- von Verlusten geplagt, beschließt, den ICE Nachkriegsgeschichte der deutschen Ei- te andernfalls mit Durchsuchung und Be- auf einen neuartigen Radtyp umzurüsten – senbahnfahrt. Noch nie hatte sich mit ei- schlagnahme. Die Bahner waren zur Über- den gummigefederten Radsatz der Bauart nem Fahrzeug das Gefühl totaler Sicher- gabe bereit. In den Unterlagen wollen die 064. Anders als beim Monobloc werden heit so verbunden wie mit dem ICE; noch Ermittler Hinweise auf jene Manager fin- dabei ein Radreifen aus Stahl und eine nie wurde ein Zug bei Tempo 200 mit sol- den, die vom Sommer 1992 an einen Zug Gummimanschette auf die Radscheibe ge- chen Folgen von den Gleisen gefegt. Das mit bis zu 250 Stundenkilometern durchs zogen, wie ein Autoreifen auf die Felge. vermeintlich Irrationale bringt eine ratio- Land gejagt haben, ohne das neue Radsy- Seit rund 40 Jahren ist dieser Radtyp im nalisierte Gesellschaft aus dem Takt. Das stem ordnungsgemäß zu kontrollieren. „Es Einsatz – aber praktisch nur für Straßen- Trümmerfeld sieht aus, als habe ein zorni- gibt Zweifel, daß das Rad für den Hochge- bahnen. Im Hochgeschwindigkeitsverkehr ger Gott der High-Tech-Nation Germany schwindigkeitsverkehr tauglich war“, sagt gibt es ihn nicht. Die Franzosen, die als er- eines ihrer Lieblingsspielzeuge vor die Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger. ste sehr schnell fuhren, verboten schon in Füße geworfen. Ausgelöst wurde die Aktion durch ein den fünfziger Jahren jede Form des be- In den Wochen nach dem Crash schien technisches Gutachten. Gestützt auf die reiften Rades. Auch die Amerikaner set- es, als ob die Technik Schicksal gespielt Ergebnisse des Darmstädter Fraunhofer- zen es nicht ein. Die Dinger gelten vielen habe: Ein gebrochener Radreifen, bei ei- Instituts für Betriebsfestigkeit, urteilt ein Eisenbahnern weltweit als unsicher. nem 50 Millionen Mark teuren Wunder- Experte: Die Bahn hätte den Radreifen so Der Grund liegt in der Konstruktion: An- zug von 410 Metern Länge ein Billigteil, nie einsetzen dürfen. ders als beim Monobloc lastet die Spannung hatte apokalyptische Kräfte entwickelt. Als die Bundesbahn 1991 den ICE auf die auf dem Radreifen, und beim rollenden ICE Doch inzwischen, zehn Tage vor dem Schienen setzt, entscheidet sie sich zu- biegt sich die Stahlkonstruktion 500000mal ersten Jahrestag des Unfalls von Eschede, nächst für bewährte Methoden. Das „recht am Tag. Wie lange hält so ein Teil das aus? steht fest, daß die Katastrophe von Men- konventionelle Drehgestell“ („Eisenbahn- Am 31. August 1992 erhält die Bauart schenhand gemacht war. Und die Verant- Magazin) wird mit Monobloc-Rädern kom- 064 ihr Zulassungszertifikat für den ICE- wortlichen, glauben Staatsanwälte und biniert, die aus einem Stück geschmiedet Einsatz. Die Bahn lizenziert sich das Rad Fahnder, könnten auch ganz oben in der sind. Doch das hohe Tempo frißt die Räder praktisch selbst. „Die Bundesbahn“, sagt Führungsspitze der Bahn zu finden sein. förmlich auf. Sie laufen unrund. Markus Hecht, Professor am Institut für Strafrechtliche Konsequenzen sind nicht Und dann wird es laut oben im Zug. Das Straßen- und Schienenverkehr an der Tech- mehr ausgeschlossen; der Bahn droht ein sogenannte Bistro-Brummen verärgert die nischen Universität Berlin, „war damals Mammutprozeß. Kundschaft, und darum müssen die Räder noch ihre eigene Aufsichtsbehörde.“ Das

der spiegel 21/1999 37 Werbeseite

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Unglücksrad von Eschede ist eines von 36 helm Conrad Röntgen“ in den Münchner geistig behindert und blind – seit 24 Jahren „gummigefederten Einringrädern“, die am Hauptbahnhof. braucht sie ihre Mutter. Christl Löwen 28. Januar 1993 von der Vereinigten Noch fünf Stunden und 19 Minuten. kann endlich einmal Pause machen, denn Schmiedewerke Verkehrstechnik GmbH in Am Bahnsteig 19 warten Harald und Ga- der Ehemann übernimmt die Pflege. Bochum an das Bahnwerk in Nürnberg briele Korb, Lehrer und Lehrerin aus Gau- Auch die Kleinfamilie Dittmann-Wal- ausgeliefert werden. Auf die Radscheibe ting, beide 52. Viermal im Jahr reisen sie denberger aus Regensburg, die nach Büsum 1529 wird der Radreifen Nummer 1591 ge- mit dem ICE nach Sylt; eigentlich wollten will, und die 13jährige Sybille Czichon aus zogen, ein zentimeterdicker Ring aus ge- sie am 2. Juni fahren, aber dann haben sie Weiden warten in Nürnberg. Sybille reist walztem und vergütetem B-5-Kohlenstoff- sich lieber einen Tag Zeit zum Packen ge- zu ihrer Tante nach Dänemark. Am Bahn- Stahl. Diese Kombination ergibt das ferti- lassen. Neben ihnen wartet Manuela Seibt, steig sieht sie Hannah Richter, 12, die mit ge Rad des Radsatzes 523316. 7800 Mark 35, aus Erding mit ihren Kindern Michael, ihrer Mutter Hera in den Norden fährt. zahlt die Bahn für das mörderische Stück. 6, und Tanja, 7. Die Richters setzen sich in den fünften Anderthalb Jahre steht das Rad in ei- In Augsburg steigt Angelika Hauser, 32, Waggon, Sybille Czichon geht nach hinten nem Lager, ehe es im Sommer 1994 erst- zu, eine Apothekerin, die zur Fortbildung durch in den Großraumwagen. Sie hat ein mals unter einem Speisewagen zum Ein- nach Hamburg will. Sie setzt sich in Wagen Ticket für die erste Klasse. Ihr Talisman, satz kommt. Fünfmal wird es in den fol- Nummer 4 und fängt an zu arbeiten. das Plüschnashorn „Hörnli“, ist bei ihr. genden Jahren ausgebaut und unter ande- Astrid Löwen, 27, und ihre Mutter In Nürnberg ändert der ICE seine Fahrt- re ICE-Wagen geschraubt. Am 12. Januar Christl, 51, stehen um 3.45 Uhr in Vilshofen richtung. Der Wagen mit dem Rad 523316, 1998 bestücken die Techniker das hintere auf, um den ICE in Nürnberg zu erreichen. der bisher am Ende gerollt war, läuft nun Drehgestell des Mittelwagens 802 806-6 Sie wollen für eine Woche nach Trave- an der Spitze des Zuges. mit diesem Rad. Der Waggon wird in den münde. Astrid hat ihr Referendariat been- Noch drei Stunden und 23 Minuten. „Betriebszug 151“ integriert. Im Morgen- det, Christl kam seit Jahren nicht von zu Der Zug rast geräuschlos durch Bayern. grauen des 3. Juni rollt dieser ICE als „Wil- Hause weg. Ihre zweite Tochter,Wiltrud, ist Es ist wie Fliegen. Die Fahrgäste fühlen sich, wie eine Überlebende später sagt, „wie in Abrahams Schoß“. Spur des Todes Die letzten Sekunden des ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ Keinem Fahrgast hinter der windschlüp- figen Außenhaut kommen jene Fragen in den Sinn, die nach dem Unglück überall im Land gestellt werden: Was bringt es, den 1 Etwa 300 Meter vor der Unterquerung der Straßen- Weiche Tempobolzen ICE zu konstruieren, wenn brücke von Eschede verfängt sich das umherschlagende der – anders als der französische TGV, für Trümmerteil des defekten Radreifens unter dem ersten den eigene Trassen geschaffen wurden – Waggon in einer Weiche. Der gewaltige Ruck reißt durch schmale Tunnel und über Schienen die Wagen auseinander und läßt den Zug entgleisen. und Weichen rauschen muß, die auch Gü- Waggon 3 schlägt gegen den Brückenpfeiler. terzüge benutzen? Warum muß der Mensch in fünfeinhalb Stunden von München nach Hamburg fahren können? „Wer einen Hochgeschwindigkeitszug erfindet, erfindet eine Hochgeschwindig- keitskatastrophe“, sagt der französische Philosoph Paul Virilio. Für den Wupperta- ler Umweltwissenschaftler Wolfgang Sachs 3 Auf Waggon Nr. 5 fällt die ist Schnelligkeit nur zu erreichen, „indem Brücke, er wird teilweise zerfetzt. hochkonzentrierte Energien und Materia- Die übrigen Wagen werden lien verdichtet werden, um den Menschen ineinander geschoben. aus seinem organischen Gewand heraus- Nur der vordere Teil des Zuges zukatapultieren“. Doch in der Tempoge- entkommt dem Inferno. sellschaft passiere es zwangsläufig, „daß diese Fassung platzt. Und dann ergießt sich die hochkonzentrierte Gewalt über Betei- 2 Waggon Nr. 4 4 Die Dreierkette der ersten Waggons ligte und Unbeteiligte“. wird aus dem entgleist und schlittert parallel zum Petra Sebastian, 37, will in ein neues Le- Gleis geworfen, Schienenstrang noch mehrere hundert rutscht vom Bahn- Meter weit. ben aufbrechen. Sie ist seit ein paar Wo- damm und stürzt chen Single und freut sich auf Hamburg. in den angren- „Endlich kommt er“, denkt die blonde Diätassistentin des Coburger Krankenhau- zenden Wald. 5 Der vordere Triebkopf bleibt in der Spur. Durch ses, als der ICE um 8.31 Uhr in Würzburg den Abriß der Waggons wird eine Zwangsbremsung einfährt. Sie setzt sich auf ihren Platz Num- ausgelöst – nach zwei Kilometern kommt die Zug- mer 54 im neunten Waggon. maschine nahezu unbeschädigt zum Stehen. Sieglinde König-Damnig, 67, steigt in den sechsten Wagen; sie möchte nach Sylt, den Tod ihres Ehemanns verarbeiten. In Wagenfolge und Aufenthaltsort der in der Geschichte erwähnten Personen im Moment des Unfalls ihrer Nähe sitzt diese lustige Familie aus

Dittmann, Fahrtrichtung Angelika Hauser, Schurich, 2. Klasse Waldenberger Mirjam PezsaEhepaar Korb Schaffner Familie Seibt Bruinier, Richter Triebwagen 12345

40 der spiegel 21/1999 Auch Axel G. bekommt Pa- nik. Der Mann aus Duisburg sitzt gerade auf der Toilette, als er den Einschlag hört. Er wird regelrecht durchgeschüttelt. Er bekommt „Todesangst“, ihm schießt nur ein Gedanke durch den Kopf: „Ich muß hier raus.“ Der frühere Landwirt Hein- rich Röhle aus Dorfitter bei Kassel, mit Ehefrau Marianne ebenfalls im ersten Waggon, glaubt, daß der „ganze Wagen hochhüpft und wieder auf die Schienen knallt“. Der kleine Alexander, der schon seit Kassel den Zug in- spizieren will, hat von seiner Mutter endlich die Erlaubnis

DPA dazu bekommen. Er hat die Abtransport eines zerstörten Waggons: Unter dem Stahlbeton entdecken die Retter noch einen Torso Hand am Türgriff, als sie den Knall hört und ihn zurückruft. Weißenbrunn bei Coburg. Marianne Geh- In Hannover nimmt Axel G. aus Duis- Dann ist es wieder still, der ICE fährt ringer, 40, hatte sich gewünscht, daß ihr burg im ersten Wagen Platz. Mirjam Pez- gleichmäßig dahin, und Ulrike Bruinier Mann Reinhard sie und die Kinder mit dem sa, 28, aus Hildesheim, die auf dem Weg zu läßt ihren Sohn erneut auf den Gang. Auto nach St. Peter-Ording fahren möge, Vorstellungsgesprächen in Hamburg ist, „Merk dir die Nummer des Abteils“, sagt doch der Ingenieur muß arbeiten. Darum setzt sich in den zweiten Waggon. Das sie noch, „und komm bald wieder.“ hat Marianne Gehringer die Plätze 11, 12 Bordrestaurant schließt, das ist normal Gleich am Anfang des zweiten Waggons und 13 an einem Tisch im sechsten Waggon kurz vor dem Ziel. sitzt Mirjam Pezsa aus Hildesheim. Auch reserviert. Lukas, 6, ein stiller Junge, des- Noch neun Minuten. sie hat den Krach gehört, dem „stählerne, sen Asthma durch das Reizklima an der Im ersten Waggon sitzen mahlende Geräusche“ folgen. Nordsee gelindert werden soll, und Laura, André Waldenberger, seine Sie sucht den Blickkontakt zu 3, seine immer fröhliche Schwester, schau- Mutter Sigrid und ihr Lebens- anderen Reisenden, doch nie- en sich Bilderbücher an. gefährte Jörg Dittmann. Die mand reagiert. Dann sieht sie, Der ICE erreicht Fulda, hier wechseln Sitze 102, 104 und 106 liegen wie Jörg Dittmann, Sigrid Wal- die Zugbegleiter. Die Flensburgerin Ole- im Abteil direkt vor der Toilet- denberger und der kleine An- gard Schurich, 43, hat es genossen, ein paar te. André und sein Stiefvater dré aufgelöst in den Waggon Tage ohne Familie bei Freunden in Fulda durften den Zug besichtigen, kommen. Dittmann sucht den zu sein. Sie steigt in den fünften Waggon nun dösen sie. Schaffner und findet ihn im

und setzt sich auf den ersten Platz, den Um 10.57 Uhr reißt ein Knall G. SCHLÄGER dritten Waggon, wo er die Pa- Rücken zur Fahrtrichtung. die Reisenden aus ihrer Schläf- Hinterbliebener Löwen pierschilder mit den Platzre- Noch eine Stunde und 56 Minuten. rigkeit. Jörg Dittmann, 31, ver- servierungen einsammelt – die Olegard Schurich erfreut sich am Blick mutet „eine Explosion“ und Fahrt ist ja fast vorbei. durch das breite Fenster: Radfahrer, Ba- sieht sofort, daß der Fußboden Noch eine Minute. dende an einem Baggersee, Deutschland des Zuges, direkt unter der Auch der Schaffner hat einen im Hochsommer. Armlehne zwischen André und „sehr starken Ruck“ verspürt, In Kassel steigen Alexander, der Junge, seiner Mutter, aufgebrochen sich aber „eigentlich noch nicht der die Vergißmeinnicht auf den Ab- ist. Er ahnt, daß „etwas so ganz große Sorgen ge- schiedsbrief geklebt hat, seine Mutter Ul- Schlimmes passiert ist“. macht“. Daß Steine oder über- rike Bruinier, Heinrich und Marianne Röh- Bei Kilometer 55,1 – bis zum fahrenes Wild unter den Wagen

le, die Fernsehjournalistin Viola Schmid, Bahnhof Eschede sind es G. SCHLÄGER knallen, kommt beim ICE häu- 52, und Margaretha Banze, 70, ein. Frau noch knapp 6000 Meter – ist Hinterbliebener König figer vor.Auch ihn beruhigt, daß Banze möchte auf Sylt Urlaub mit ihrer der Radreifen gebrochen. Wie der Zug nach dem sachten Seniorengruppe machen; sie trägt einen die Altersringe eines Baumes Schlingern friedlich und in ge- goldenen Armreif. hat sich ein Riß im Innern wohntem Tempo weiterfährt. Noch eine Stunde und 24 Minuten. des Stahlreifens ausgebreitet. Jörg Dittmann stürmt durch den Es ist 9.35 Uhr, der ICE 884 hat drei Mi- Er löst sich von der Radschei- Gang und ruft: „Es ist etwas nuten Verspätung. Aber nichts ist unge- be, biegt sich wie das Hand- Schreckliches passiert.“ Doch wöhnlich an diesem Morgen. Im Bordre- stück eines Spazierstockes auf, der Schaffner will die Not- staurant serviert das Mitropa-Team Rührei verkeilt sich im Drehgestell bremse nicht ziehen – deshalb mit Schinken und das kleine Frühstück mit und schlägt unter den Wagen- wird jetzt gegen ihn ermittelt.

Honig. Der sechsjährige Lukas Gehringer boden. G. SCHLÄGER Der Zugbegleiter hätte „zu- sitzt an seinem Tisch und malt. Noch zwei Minuten. Opfer Petra Sebastian mindest nach Erhalt der Infor-

Familie Gehringer, Petra Sebastian, Sieglinde König-Damnig Margaretha Banze Speisewagen 1. Klasse Sybille Czichon 67910111214 Triebwagen

der spiegel 21/1999 41 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland mation, daß der Boden im Die Katastrophe ist da, ahnt erst, was passiert ist, als er nach der ersten Wagen bereits gebor- und sie dauert 5,6 Sekun- Vollbremsung aus dem Seitenfenster sten sei, sofort handeln müs- den. schaut und hinter sich keinen Zug mehr sen“, behauptet der Nürn- Nach 120 Metern prallt sieht. Der Schock ist so groß, daß er fast berger Anwalt Peter Rottner, das entgleiste linke Rad zwei Stunden lang regungslos in seiner Ka- der den Zugbegleiter „we- gegen die Spitze der bine ausharrt – bis ihn die Retter finden. gen fahrlässiger Tötung“ „Weiche 3“, die dadurch Die Wagen eins, zwei und drei rumpeln angezeigt hat. Ein Ziehen umgestellt wird. Der drit- auf dem Schotterbett weiter und stoppen der Notbremse hätte „die te Waggon rast nach nach rund 350 Metern. Wagen vier, der Schwere des Unglücks ver- rechts, entgleist und durch den Aufprall an den Pfeiler von Wa- mindern können“. schlägt mit seinem hinte- gen drei getrennt wird, passiert die ein- Dittmann und der Schaff- ren Teil den rechten Pfei- stürzende Brücke, rast nach rechts hinun- ner rennen zurück in den er- ler der Brücke weg. Sie ter in den Wald und kippt um. sten Waggon. Dittmann kann stürzt ein und bremst das Die Brücke knallt, wenige Meter hinter gerade noch auf die gebro- High-Tech-Geschoß von dem Sitz von Olegard Schurich, auf den chene Stelle zeigen, da be- knapp 200 Stundenkilo- fünften Waggon und reißt ihn auseinander. ginnt der Zug zu rattern. Er metern auf null. Der vordere Teil rutscht noch 100 Meter ruckelt und schaukelt wild. Der Triebkopf wird da- weiter.Wagen sechs wird komplett von den Dittmann fällt zu Boden, Eingedrungener Radlenker* durch vom Rest des Zuges Betontrümmern begraben. ihm schießt durch den Kopf: abgerissen; erst jetzt lei- Die Wagen sieben und neun der zweiten „Ich komme hier um.“ Der Schaffner wird ten die Sicherheitssysteme eine Vollbrem- Klasse, der Bistrowagen zehn und die Wagen durch den halben Waggon geschleudert. sung ein. Zwei Kilometer hinter der Un- elf, zwölf und vierzehn der ersten Klasse Mirjam Pezsa wird aus dem Sitz katapul- glücksstelle stoppt die Lok; der Lokführer klappen wie ein Zollstock zusammen. Der tiert, auf den Gang geworfen, ans Fester hat von der Katastrophe hinter sich nichts hintere Triebwagen prescht in die Wracks, und wieder zurück, gegen Rücken- und mitgekriegt. schiebt die Trümmer zehn Meter hoch auf. Armlehnen. Denn als der Radreifen abgesprengt Eine Minute nach dem Unfall beginnt Hinten, im neunten Waggon, steht Petra wurde, trennte er zwar das Glasfaserkabel die Rettungsaktion. Ein Anwohner meldet Sebastian neben ihrem Platz; sie will gera- eines elektronischen Überwachungssy- de ihren Regenschirm in der Gepäckabla- stems zwischen den Schienen durch. Doch Radreifen des ICE ge befestigen, da sie fürchtet, er könne her- dieses Warnsystem versagte, weil Verschleiß am Profil unterfallen. Petra Sebastian sieht, „wie der die Kontrollcomputer im vorderen Abnutzungs- Radreifen Zug wackelt“, spürt „den zweiten Ruck Triebkopf nur Störungen vor dem bereich Der Radreifen war ursprüng- und ein gewaltiges Zerren in alle Richtun- Zug registrieren. Daß es hinter der lich 920 Millimeter dick; laut 920 mm Vorgabe der Bahn durfte er bis gen. Ich habe mich abgestützt, und dann Führungslok zu einem Zwischen- 854 mm abgefahren werden. wurde der Druck gewaltig“. fall kommen könnte, hatten die Gutachter halten ein Profil von An „Weiche 2“ vor dem Bahnhof von Konstrukteure des ICE offenbar für 890 mm für unverzichtbar. Eschede verkeilt sich der gesprengte unmöglich gehalten. Radreifen in einer Stahlzunge, die die Züge So fährt der Lokführer seine Pas- in der Spur halten soll, dem „Radlenker“. sagiere quasi blind in den Tod; er Dieser wird abgerissen, stößt wie ein Speer Gummikörper durch den Boden des ersten Wagens. * Der Stahlträger wurde von der „Weiche 2“ abgerissen, Federung für Schwin- Die Wucht des Aufpralls drückt das de- drang durch den Boden in den ersten Waggon ein gungsdämpfung Radscheibe und bohrte sich durch die Innendecke in den aus hartem, fekte Rad nach rechts, es rutscht von der Wasserbehälter für die Toilette unter dem Wagen- belastbarem Schiene. Auch das linke Rad entgleist. dach. Stahl

Spurkranz zur Rad- führung

Achse starre Verbin- dung der Haltering Räder hält Gummi- körper und Radreifen

Abgerissener Radreifen unter dem Drehgestell: 88 Minuten für die letzte Inspektion

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über den Polizeinotruf 110 ein „Zugun- Anfangs herrscht Chaos in den Sam- hat kein System, um die Zahl der Insassen glück, Eschede, Rebberlaher Straße“. Um melstellen, es mangelt an Beatmungsfla- bestimmen zu können. Der Zug hat 759 11.03 Uhr heulen in Eschede die Sirenen. schen, Sauerstoff und Schmerzmitteln.Weil Sitzplätze; er soll, heißt es zunächst, na- Dorfbewohner laufen zum Bahndamm, Verletztenkarten fehlen, helfen die Ärzte hezu voll besetzt gewesen sein. leisten Erste Hilfe, holen Decken, Bettla- sich, indem sie Notizen auf die Haut der Um kurz vor zwölf sind 16 Verletzte ge- ken und Leitern. Das Rote Kreuz fordert Patienten schreiben. „ICE 884, weiblich, borgen. Ab 12.05 Uhr starten in Eschede alle verfügbaren Rettungsprofis an: die unbekannt“, steht auf dem Oberkörper die ersten Hubschrauber, sie fliegen Ver- Krankenwagen des Landkreises Celle, die von Olegard Schurich aus Flensburg. In der letzte in Kliniken in ganz Norddeutschland. niedergelassenen Ärzte von Eschede, die Hektik wird nicht exakt dokumentiert, wo- Im Celler Krankenhaus erweist sich ein Rettungshubschrauber aus Uelzen und hin die Patienten transportiert werden – interner Katastrophenplan als nützlich: Zur Hannover, danach benachrichtigt es die aus diesem Versäumnis wird später ein Alp- Erkennung der schwerverletzten Patienten Leitstellen der Nachbarkreise. Sechs Mi- traum für alle Angehörigen. erhalten alle direkt bei der Einlieferung nuten nach dem Unfall trifft der erste 26 Minuten nach dem Crash schätzt eine Nummer. Selbst ein Beutelset, in dem Krankenwagen ein, zwei Minuten später die Einsatzleitung das Ausmaß auf 40 Tote persönliche Habe und Kleidungsstücke auf- der erste Feuerwehrwagen. „Kompletter und noch einmal die gleiche Anzahl bewahrt werden, wird mit einer Nummer ICE verunglückt und völlig zerstört, Wag- an Schwerverletzten. Um 11.25 Uhr ver- versehen. Einer der Patienten ist so ent-

Rettungsarbeiten auf den zusammengeschobenen Waggons: Geräte der Feuerwehr rutschen ab wie stumpfe Sägen gons ineinander verkeilt“, lautet die erste hängt Rettungsarzt Hüls ei- stellt, daß die Angehörigen ihn Meldung an die Leitstelle. nen vorläufigen Transportstopp nur anhand eines Schlüssels Mit bloßen Händen beginnen die Helfer, für Verletzte. Damit soll ge- identifizieren können. Reisende aus dem Zug zu ziehen. Eine le- währleistet werden, daß Auch in der Medizinischen bensgefährliche Arbeit: Die Stromoberlei- zunächst die Schwerverletzten Hochschule Hannover ist um tungen, 15000 Volt stark, liegen auf dem versorgt werden. Deshalb wer- 11.40 Uhr Katastrophenalarm Zug; sie werden von der Bahn erst um 11.09 den auch die Toten vorerst lie- ausgelöst worden. Glücklicher- Uhr abgeschaltet. Der Lokalreporter Joa- gen gelassen. weise befinden sich die meisten chim Gries, 42, schleppt fünf Schwerver- Obwohl schon bald 37 Fach- der 34 Unfallchirurgen gerade letzte ins Freie, überall hört er „die blu- leute anrücken, die in der auf einem „Trauma-Sympo- tenden Opfer weinen“. Feuerwehrschule in Celle ei- sion“ in der Landeshauptstadt. Um 11.07 Uhr löst Gemeindebrandmei- nen Oberbrandmeister-Lehr- Einige der 200 Teilnehmer wa- ster Rolf Pundschus Großalarm aus. Wei- gang absolvieren, stehen die ren mit dem ICE 884 angereist tere Feuerwehren, Hubschrauber, das Tech- Retter vor Problemen. Die Hel- und in Hannover ausgestiegen. nische Hilfswerk (THW) und Kräfte der fer haben wenige Monate zu- Um 12.30 Uhr stellt Ober-

Bundeswehr werden angefordert. vor Bergungsmaßnahmen nach G. SCHLÄGER kreisdirektor Klaus Rathert of- Im Allgemeinen Krankenhaus Celle wer- einem ICE-Unfall simuliert, Opfer Schurich fiziell den Katastrophenfall fest. den alle für diesen Tag vorgesehenen Ope- doch wie man sich in das Inne- 19 Minuten später stellt die rationen abgesagt, die Chirurgen beenden re dieser Metallschlangen vorkämpft, er- Bundeswehr den Schießbetrieb auf den die laufenden Eingriffe. Durch Blitz-Ent- klärte ihnen dabei niemand. Truppenübungsplätzen Bergen und Mun- lassungen und Umlegungen werden auf der Keiner weiß, wo die hydraulischen Sprei- ster ein; die Hubschrauber können jetzt Unfallstation 43 Betten frei gemacht. zer angesetzt werden können, selbst mit der ohne Umweg die Krankenhäuser anfliegen. An der Unglücksstelle gliedern Celles Flex ist der ICE-Außenhaut nicht beizu- Insgesamt arbeiten bei dieser größten Kreisbrandmeister Gerd Bakeberg und kommen. Sie rutscht ab wie eine stumpfe Unfall-Rettungsaktion in der Geschichte Ewald Hüls, der Leitende Notarzt des Säge. Die druckfesten Scheiben lassen sich der Bundesrepublik am ersten Tag 1889 Landkreises, das Schlachtfeld ICE wie ein auch mit dem schwersten Vorschlagham- professionelle Helfer am Unglücksort, die Schachbrett. Im Ost- und im Westabschnitt mer nicht zertrümmern. So vergeht wert- meisten kommen von Feuerwehr (726) so- gibt es Sammelstellen für Verletzte. Im volle Zeit – auch den technischen Helfern wie Sanitäts- und Rettungsdiensten (423). Osten wird die Lagerhalle des Förderband- wird nun bewußt, daß niemand jemals mit 354 Fahrzeuge sind im Einsatz. Da jedem unternehmens Ulrich in ein Krankenlager dem Entgleisen eines ICE gerechnet hatte. Verletzten ein Arzt, ein Rettungsassistent umfunktioniert, im Westen entsteht auf Und niemand ahnt, wie viele Menschen und ein Seelsorger zur Seite stehen, gehen freiem Feld eine Zeltstadt. noch in den Trümmern liegen: Die Bahn die Einsatzkräfte von der ersten Notfall-

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Astrid Löwen, die junge Lehrerin, ist so- fort tot; auch ihre Mutter Christl stirbt beim Aufprall. „Muß denn eine Familie alles aushalten“, fragt Heinrich Löwen, der mit der behinderten Wiltrud zurück- bleibt. Jörg Dittmann, der den Zugbegleiter ge- rufen hatte, ist ebenso wie der kleine An- dré und dessen Mutter nahezu unverletzt. Sybille Czichon, die 13jährige, tröstet Verletzte, ehe sie selbst zusammenbricht. Der erste und der zwölfte Brustwirbel sind angebrochen, Prellungen und Platzwun- den schmerzen. Hannah Richter, die Zwölfjährige, krab- belt blutverschmiert durch die Trümmer; sie sucht ihre Mutter, die gerade zur Toi- lette gegangen war. Die Mutter lebt nicht mehr.

P. MÜLLER P. Petra Sebastian, die sportliche Diätassi- Bergung der Opfer: „Hier lebt keiner mehr“ stentin aus Coburg, kann Mund und Augen nicht öffnen; alles ist voller Dreck und versorgung in eine „individualmedizini- ordiniert auf der eigens zugewiesenen Fre- Scherben. Vor ihr hat ein junger Mann sei- sche Patientenbetreuung“ über. quenz von 123,10 Megahertz die 39 ne tote Freundin auf dem Schoß. Begraben Doch die Vielfalt des deutschen Ret- von Polizei, Bundesgrenzschutz, Rettungs- von einem Sitz, kann sich Petra Sebastian tungswesens bereitet auch Probleme. Weil diensten und Bundeswehr. kaum bewegen. Ihr linker Knöchel ist selt- es keine organisationsübergreifenden Ab- Die medizinische Arbeit ist um 13.45 sam weggedreht, das Bein brennt, ist blut- zeichen gibt, laufen zeitweise 23 Doktores Uhr nahezu abgeschlossen. 87 Verletzte rot und windet sich wie eine Schlange. Sie als „Leitende Notärzte“ durchs Gelände. sind auf 23 Kliniken verteilt worden, 27 hat eineinhalb Liter Blut verloren, als ein Pfarrer, die sich gerade zu einer öku- von ihnen auf dem Luftweg.Aus dem „Ver- Polizist sie befreit. Der Unterschenkel ist menischen Konferenz des Kirchenkreises bandsplatz Ost“ wird die „Zentrale Lei- mehrfach gebrochen, ebenso der große, der Celle getroffen hatten, eilen zur Un- chensammelstelle“. mittlere und der kleine Zeh. glücksstelle: Sie haben sich Pappschilder Sie füllt sich schnell. Reinhard Gehringer, der seine Frau und mit der Aufschrift „Seelsorger“ ans Revers Der Gautinger Lehrer Harald Korb über- die Kinder nicht mit dem Auto nach St. geheftet. Rund 80 Geistliche leisten Ver- lebt, seine Frau Gabriele ist sofort tot. Korb Peter-Ording bringen konnte, verliert seine letzten und Sterbenden Beistand, trösten läuft panisch zwischen den Zugteilen her- Familie. Ehefrau Marianne, der sechsjähri- ihre Angehörigen. um, bis er sie findet. „Ich durfte eine Vier- ge Lukas und die dreijährige Laura sterben Um 13.10 Uhr sperren das Luftwaffen- telstunde bei ihr bleiben“, sagt er. Sanitä- im sechsten Waggon unter der Brücke von amt und die Deutsche Flugsicherung im ter bringen ihn weg. Eschede. Umkreis von fünf nautischen Meilen den Die Münchner Familie Seibt ist mit dem Olegard Schurich liegt auf der Seite und Luftraum. Ausgenommen vom Flugverbot Aufprall auseinandergerissen worden. Ma- hört „Jammern, Gestöhne, Weinen“. Sie sind nur die Rettungsflieger. Polizeikräfte nuela, die Mutter, hat sich Hüfte und denkt: „Hier mußt du raus“, aber sie ist haben beobachtet, wie auf naheliegenden Becken gebrochen und Quetschungen am eingeklemmt. Kopf, Beine und Arme kann Flugplätzen Hubschrauber mit Kameras ganzen Körper erlitten. Sie wird nach Han- sie keinen Millimeter bewegen, Dach und von Fernsehsendern beladen werden. Das nover gebracht und ins künstliche Koma Seitenwände des teilweise von der Brücke Team eines Privatsenders kreist mit dem versetzt. Ihr Sohn Michael, der im Gang getroffenen fünften Wagens halten sie fest. Helikopter so tief über der Unfallstelle, stand, weil er ein Eis kaufen wollte, wird „Hier lebt keiner mehr“, sagt ein Sa- daß den Helfern der Sand in die Augen mit gebrochenem Arm und gebrochenem nitäter draußen. „Aber ich“, flüstert Schu- bläst. Ein Hubschrauber des Bundesgrenz- Unterschenkel, mit Schnittwunden und rich. Ihre rechte Hand hat zehn Zentime- schutzes drängt ihn ab. Prellungen nach Bremen geflogen. Tanja, ter Spielraum; sie klopft auf Metall. Ole- Um 13.15 Uhr sind die Schwerverletzten die Siebenjährige, ist tot. gard Schurich ist die letzte, die aus dem abtransportiert. Im ehemaligen Verletz- Die Apothekerin Angelika Hauser aus Zug geholt, die letzte, die ausgeflogen wird. tenzelt wird die „Leichensammelstelle Augsburg hat Wirbelbrüche und eine Ge- Sie hat eine Lungenquetschung und eine West“ eingerichtet. Leichtverletzte wer- hirnerschütterung davongetragen. Ein Rippenserienfraktur, die Ärzte versetzen den in der Turnhalle der Gemeinde Esche- Hubschrauber bringt sie nach Hamburg. sie ins Koma. de versorgt. Alexander, der Sechsjährige, der Inzwischen sind sämtliche Handynetze beim Aufprall im Gang stand und blockiert, weil Hunderte von Reportern mit fortgerissen wurde, stirbt an seinen Mobiltelefonen anreisen. Auch die Hand- Kopfverletzungen; seine Mutter hat funkgeräte und der sogenannte BOS-Funk Platzwunden, Prellungen, ein der Helfer ist zusammengebrochen. Um Schleudertrauma und steht unter den Überblick zu behalten, schickt die Ret- Schock. Viola Schmid, die Fern- tungsleitung wie vor hundert Jahren Helfer sehjournalistin, ist tot; ebenso Mar- als „Melder“ durch das Gelände. Ab 13.30 garetha Banze, die Seniorin. Ihr gol- Uhr beginnen Fernmeldetechniker mit dem dener Armreif wird gefunden; er ist „Feldkabelbau“, der Einrichtung eines ei- zerstört.

genen Kommunikationsnetzes. G. SCHLÄGER Sieglinde König-Damnig, die alte Ein BO-105-Hubschrauber der Bundes- Staatsanwälte Wigger, Dresselhaus Dame, die nach Sylt wollte, ist so- wehr kreist über der Einsatzstelle und ko- „Gewisse Aufweichung der Vorschriften“ fort tot. Ihr Sohn Edward, ein Phy-

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Werbeseite Deutschland siklehrer, hofft, „daß sie nicht erleben muß- Brückenkopf geschleudert worden. Die te, was mit ihrem Körper passierte“. Er Einsatzleitung entschließt sich daraufhin, weiß, was bei solchen Unfällen mit Men- auch den letzten noch stehenden Brücken- schen geschieht und haßt in diesen Tagen pfeiler abzutragen. Tatsächlich finden sich seinen Beruf. Der Beerdigungsunterneh- drei weitere Tote. mer sagt ihm, er habe eine solche Leiche Insgesamt werden 98 Opfer und Dut- noch nie gesehen, „von der Statur her zende abgerissene Gliedmaßen in 135 Lei- könnte es Ihre Mutter sein“. chentransportsäcken in die Hochschule Für die Kräfte, die wirken, wenn ein Kör- nach Hannover gefahren.An den vier Sek- per abrupt von 200 auf null Stundenkilo- tionstischen in zwei weißgekachelten Räu- meter abgebremst wird, ist der menschliche men arbeiten Rechtsmediziner, Zahnärzte, Organismus nicht geschaffen. Die Bilanz Sektionsgehilfen, Protokollführer, Foto- von Eschede ist fürchterlich: 67 Opfer ha- grafen und weitere Sachbearbeiter für ben schwere Schädelverletzungen, dazu Daktyloskopie und Asservatensicherung kommen Lungenquetschungen, zerrissene rund um die Uhr. Herzen, Leber- und Milzeinrisse. Diese In Wiesbaden hat Bernd Roßbach, 45, Menschen waren ebenso sofort tot wie 18 Leiter des Bereichs Schwerkriminalität und weitere Opfer, die „Polytraumata“ auf- Leiter der Sondereinheit „Identifizie- wiesen, aber keine Kopfverletzungen hat- rungskommission“ (Idko) beim BKA, aus ten. In acht Fällen kam es zu totalen Kör- dem Radio von Eschede erfahren. Er weiß perzerstörungen: Zerteilungen, Abrissen sofort, was das heißt – Roßbach und seine von Gliedmaßen und Aufreißen des Leibes. Leute müssen immer dann ausrücken, Geschlossene Lastwagen des THW brin- wenn Flugzeuge abstürzen oder eben Züge gen Tote und Leichenteile in die Fabrik- verunglücken. halle, die von Kriminalbeamten gesichert Abends um elf ist Roßbach in Hannover, ist. Polizei und Notärzte sortieren die Kör- in der Nacht und am nächsten Morgen be- perteile und legen sie in numerierte Lei- reitet er alles vor, um 14 Uhr fangen seine chensäcke, die eilig bei einem Großhänd- 31 Leute an. Sie arbeiten mit den Experten ler aus Altencelle beschafft werden. der Hochschule zusammen. Als der Oberkreisdirektor um 15.15 Uhr Es ist eine grauenhafte Arbeit. Die Idko- den Katastrophenalarm aufhebt, sind vie- Leute haben deshalb ihre Regeln: Im Ho- le Helfer seit fast vier Stunden im Einsatz, tel bleiben sie stets unter sich, die Dienst- ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit. kleidung bleibt immer am Arbeitsplatz. Drei Einsatzkräfte müssen mit Wirbel- Aber Distanz kann keiner behalten: Ein- brüchen und schweren Fußverletzungen mal fehlt einem Jungen ein Arm; er findet ins Krankenhaus. sich im Leichensack eines älteren Mannes. Die psychischen Folgen sind noch nicht Jede Leiche und jedes Körperteil be- abzusehen: In den Köpfen der Retter wer- kommen eine Nummer, von eins aufwärts den die Bilder der Toten noch lange leben- bis 150 – Margaretha Banze aus Kassel ist dig sein. Die eigens eingerichtete „Einsatz- Nummer 48. Mitunter sind die Verletzun-

nachsorge“, ein Team aus Psychologen und / ARGUS H. SCHWARZBACH gen so schwer, daß nur noch Zahnschema- Geistlichen, hat ein Jahr nach Eschede fast Nächtlicher Einsatz in Eschede Vergleich oder DNA-Analyse helfen. Man- 500 Hilfskräfte betreut. Fachleute rechnen „Das Land besteht nicht nur aus Egoisten“ chem Opfer wurde Tasche oder Porte- damit, daß 50 von ihnen Spät- monnaie eines anderen zugeordnet, das er- schäden davontragen werden. In der Zwischenzeit arbeiten schwert die Erkennung zusätzlich. Die Arbeit der Helfer wertet drei Bundeswehr-Panzer und ein Roßbach und seine Mitarbeiter müssen der Bundespräsident später bei 40-Tonnen-Kran der Feuerwehr mit Angehörigen reden. Sie versichern, daß der Trauerfeier als Trost im Un- an der Bergung des Zuges. Zwei es sich „um einen raschen, nicht bei Be- glück. In den Trümmern von weitere Schwerlastkräne treffen wußtsein erfolgten Tod gehandelt hat“. Eschede sei eine in Deutschland ein. Mit ihnen soll die Brücke Und sie versuchen die meisten Hinter- schon verschüttet geglaubte So- gehoben werden, unter der bliebenen davon zu überzeugen, sich nicht lidarität wiederentdeckt wor- noch drei Waggons liegen. am offenen Sarg von ihren Angehörigen den. „Es ist nicht wahr, daß un- Immer wieder werden die zu verabschieden. ser Land nur aus Egoisten be- Helfer mit neuen Schicksalen Das macht die Trauer so schwer. Für Ed- steht“, sagt Roman Herzog in konfrontiert. Gegen 23 Uhr ward König, der seine Mutter nicht mehr der Stadtkirche von Celle. greifen sie auf der Bundes- sehen durfte, „ist alles so unwirklich“. Gabi

Um 16.38 Uhr entscheidet FRISCHMUTH / ARGUS P. straße 191 zwischen Eschede Vogel, die ihre Mutter Margaretha Banze die Identifizierungskommission Notarzt Hüls und Celle ein Unfallopfer auf, verlor, „will alles erfahren, was ich erfah- des Bundeskriminalamtes, alle das verwirrt umherläuft. ren kann, um eine Vorstellung von Muttis geborgenen Leichen in das Rechtsmedizi- In der Nacht steigt die Zahl der Toten Tod zu bekommen. So ist es am Grab, als nische Institut der Medizinischen Hoch- auf 81. Zwischen den Waggons stoßen die wenn ich ein altes Stück Land bepflanzte“. schule Hannover bringen zu lassen. Über- Einsatzkräfte auf ein völlig zusammenge- Nur wenige dürfen Abschied nehmen. legungen, in der provisorischen Leichen- drücktes Auto der Bahn. Die beiden Gleis- „Ich habe Alexander geboren, ich kann ihn halle Kühlaggregate zu installieren, wer- arbeiter hatten offensichtlich noch ver- nicht einfach so gehen lassen“, sagt Ulrike den verworfen. Kurz nach 19 Uhr beginnen sucht, Schutz hinter dem Brückenpfeiler Bruinier. Sie wird zu ihrem Sohn gelassen örtliche Bestattungsunternehmer und Bun- zu finden. Sie wurden erdrückt. und ist erleichtert: „Er sah friedlich aus.“ deswehr-Lastwagen mit dem Abtransport. Noch am Freitag entdecken die Aufräu- Für die Angehörigen sind die Tage nach Sie fahren im Konvoi, begleitet von Poli- mer von Eschede eine Leiche. Das Opfer Eschede ein Martyrium. Sie sind irgendwo zeifahrzeugen. war mit hoher Wucht aus dem Zug zum in Deutschland, bei der Arbeit, im Garten,

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Noch während die Helfer um das Leben der Schwerverletzten ringen, bergen die Ermittler die Daten aus dem Bordcompu- ter des ICE. Auf einer Platine hat das Sy- stem „David“ („Diagnose-, Aufrüst- und Vorbereitungsdienst mit integrierter Dis- play-Steuerung“) alle Auffälligkeiten der Fahrt gespeichert, fast wie eine Black-Box im Flugzeug. In der gleichen Nacht rücken beim ICE- Betriebswerk in München Spezialisten des EBA an und verlangen die Herausgabe der letzten Wartungsdaten des „Wilhelm Con- rad Röntgen“. Die Staatsanwältinnen rufen technische Gutachter an den Unfallort. Der ICE 884 wird beschlagnahmt: In Einzelteilen macht er sich auf seine letzte Reise. Ein VW-Bulli des Bundesgrenzschutzes bringt den geborstenen Radreifen zum

REUTERS Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit Sicherstellung des ICE: Eines der aufwendigsten Verfahren der deutschen Geschichte nach Darmstadt. Eine Kolonne Tieflader transportiert den Waggon eins und alle Rä- bei Freunden, als sie durch das Radio und am Sonntag vormittag machen die Hilfs- der des Zugs zur Technischen Universität durch einen Anruf von der Katastrophe er- kräfte eine letzte grausige Entdeckung: Un- Aachen. Die ausgebauten Weichen, Wag- fahren. Sie telefonieren mit der Bahn, ter 50 Zentimeter dicken Stahlbeton- gon zwei und drei und sämtliche Drehge- hören minutenlang Tanzmusik in der War- stücken entdecken sie noch einen Torso. stelle deponiert die Staatsanwaltschaft auf teschleife, und dann kann ihnen doch nie- Schon an der Unfallstelle nimmt die dem nahegelegenen Fliegerhorst Celle- mand weiterhelfen. Alle Notrufnummern Staatsanwaltschaft Lüneburg die Ermitt- Wietzenbruch. sind überlastet. lungen auf. Für die zwei Staatsanwältin- Acht Beamte der Polizeiinspektion Cel- Reinhard Gehringer hofft die ganze Zeit, nen aus der Außenstelle Celle ist zunächst le und sieben Bundesgrenzschützer bilden „daß wenigstens einer der drei überlebt nicht viel zu tun – die Bergung der Opfer die Soko Eschede. Das erweist sich als hat“. Er fährt nach Eschede und von Kran- geht vor. Kommandos des Bundesgrenz- Glücksfall: Fünf BGS-Leute waren früher kenhaus zu Krankenhaus und kriegt nichts schutzes suchen die Strecke ab. Fünfein- bei der Bahnpolizei und sind damit vom heraus. Nach drei Tagen hat er Gewißheit. halb Kilometer vor dem Unglücksort fin- Fach. Die kleine Celler Zweigstelle ist bald Die Familie Schurich sucht überall, aber den sie die ersten Spuren der Katastrophe: personell überfordert, die Lüneburger Zen- daß Olegard in Wolfsburg im Koma liegt, Kerben in den Betonschwellen, abgeplatz- trale übernimmt. Drei erfahrene Staatsan- sagt ihnen keiner. Der Notarzt hatte den te Teile der Zugverkleidung. wälte leiten das Verfahren 161 Js 12212/98 Hubschrauber umgeleitet, als Frau Schu- Nur wenig später macht ein Techniker – es wird eines der aufwendigsten der deut- rich in akuter Lebensgefahr war.Wolfsburg des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA), der schen Geschichte. stand auf keiner Liste. von Hamburg nach Eschede beordert wur- Die Soko, die ihr Quartier in einer Ka- Martin Bruinier erfährt am Telefon, daß de, den entscheidenden Fund. Er entdeckt serne des Bundesgrenzschutzes in der Frei- seine Frau lebt. Tagelang sucht er nach an dem fast unversehrten Wagen eins, enwalder Straße in Hannover bezieht, Alexander. Einmal hört er, daß ein Kind, der 200 Meter von der Unglücksstelle ent- prüft das gesamte Hochgeschwindigkeits- das wie Alexander ein T-Shirt mit einer fernt ins Kiesbett schlitterte, den gebor- system der deutschen Bahn. An den Büro- großen „6“ trug, mit einem Helfer fortge- stenen Radreifen. Und er findet den abge- wänden hängen Unfallskizzen und Fotos gangen sei; er fährt alle Straßen der Um- brochenen Radlenker, der sich unterm des geborstenen Unfallzuges. Und den gebung ab. Dann erfährt er, daß ein Junge, Dach des ersten Wagens bis in den Was- Fahndern ist schnell klar, daß Eschede auf den Alexanders Beschreibung paßt, im sertank für die Toilette gebohrt hat. Sein mehr als ein bedauernswerter statistischer Allgemeinen Krankenhaus Celle liege. Er spontanes Urteil: „Das kann die Ursache Zufall in der Welt des Hochgeschwindig- rast hin, sieht ein Kind und überall Infu- sein.“ keitsverkehrs ist. sionsnadeln, Kabel, Beatmungsgeräte. „Ja, Am 9. Juni sichten die Ermittler das ist er“, denkt er und sagt: „Alex hat ein erstmals die Daten aus dem Bord- Blutschwämmchen am Bauch.“ Der Junge computer und aus dem Instandset- in der Klinik hat keines. zungswerk München. Überra- Als Bruinier verzweifelt und übermüdet schendes Ergebnis: Achtmal hatten nach Kassel zurückkommt, bringen ihm Zugbegleiter seit Anfang April in zwei Polizisten die Nachricht von Alexan- die bordeigene „Zentraleinheit für ders Tod. die Überwachung und Steuerung“ Zur gleichen Zeit tragen in Eschede Hel- Beschwerden über das Drehgestell fer mit ihren Händen den Sand der Bö- mit dem Unglücksrad eingegeben, schung Kilo für Kilo ab und sieben ihn gekennzeichnet mit den bahninter- durch. Bis viereinhalb Meter tief finden sie nen Fehlercodes „F 018“ (unruhiger Gepäckteile, Kleidungsfetzen, Schmuck- Lauf) oder „F 108“ (Flachstelle). stücke und Leichenteile. Das Rad rumpelte, es machte Lärm. Am Samstag morgen um 6.42 Uhr ist In der Nacht vor der Todesfahrt

der Rettungseinsatz offiziell abgeschlos- DPA rollte der ICE in München routi- sen. Die technische Einsatzleitung über- Radkontrolle im Münchner ICE-Betriebswerk nemäßig nach einer Fahrt durch die gibt der Polizei die Unglücksstelle. Doch Test im Licht der Arbeitslampe Waschanlage über eine sogenannte

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„Radsatzdiagnoseeinrichtung“. Das High- derlich ernst genommen – der prüfende ter wurde die Vorgabe – zumindest im Be- Tech-Gerät der Firma Hegenscheidt, das Blick im Licht einer Arbeitslampe war Test triebswerk München – auf 854 Millimeter der Zug im Schrittempo passiert, soll vor genug. abgesenkt. allem Rundlaufabweichungen feststellen: Das sehen die Hamburger Kollegen an- Nach zahllosen Computer-Simulationen, Sie sind der Schrecken jedes Ingenieurs, ders. Bei Befragungen im ICE-Betriebs- Lauftests und Festigkeits-Analysen an 064- denn die Abweichungen von der idealen werk Hamburg-Eidelstedt erklären die Rädern ist der Gutachter überzeugt, daß Kreisform können das Rad, die prinzipiel- Techniker den Ermittlern, der Austausch die bereiften Räder für einen sicheren Be- le Schwachstelle in der Eisenbahntechnik, sei nach den Instandsetzungsrichtlinien trieb schon bei 890 Millimetern hätten ge- unberechenbar werden lassen. Pflicht. Und bei einem zweiten Besuch in wechselt werden müssen. Unterhalb dieses Die Ergebnisse der Messungen laufen München findet die Soko eine Dienstan- Wertes würden die Spannungen im dünn auf dem Computer-Bildschirm eines Dis- weisung vom 25. November 1994: Bei Ein- gewordenen Radreifen ständig zunehmen ponenten auf. Dieser entscheidet, was re- gabe des Fehlercodes „unruhiger Lauf“ – bis zum Bruch. pariert wird und wann der Zug wieder fah- und bei Erreichen des Betriebsgrenzmaßes Als in Eschede der Radreifen bricht, ren darf. Um ihm die Arbeit zu erleich- sei der Radsatz zwingend zu tauschen. Bei ist er 1,789 Millionen Kilometer ge- tern, kennzeichnet das Rechnersystem drei Inspektionen vor dem Unglück lagen laufen. Selbst nach den Maßstäben der Mängel mit kräftiger roter Untermalung. genau diese Voraussetzungen vor. Bahn wäre es mit seinem Einsatz bald Beim Unglücksrad von Eschede zeigt Im Münchner Werk, resümiert der Lü- vorbei gewesen: Es war bis auf 862 Milli- der Computer nur noch rot. Eine „Rund- neburger Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger, meter abgefahren. Ein Überwachungsver- laufabweichung“ von 0,6 Millimetern hat habe es wohl „gewisse Aufweichungen“ fahren, das gefährliche Innenrisse diagno- die Bahn als „Betriebsgrenzmaß“ festge- der Vorschriften gegeben. stizieren könnte, hatte die Bahn erst gar setzt. Schon am 27. Mai um nicht angeschafft. Ein sol- 22.53 Uhr registriert das ches, davon ist der Gutach- Meßmodul einen Wert von ter überzeugt, ist aber für 0,7; am Morgen des 1. Juni Räder mit hoher Lauflei- sind es um 4 Uhr sogar 0,8 stung unverzichtbar. Millimeter. Der ICE fährt 350 Ordner über die Ge- dennoch ab, und nach einer nesis des deutschen Sonder- Fahrt durch Deutschland hat weges in der Hochgeschwin- der Wert noch einmal zuge- digkeitstechnologie türmen nommen: Um 23.45 Uhr sich mittlerweile bei der liegt er bei 0,9 Millimeter. Sonderkommission: dar- Die letzte Inspektion im unter 91 mit Akten vom Münchner ICE-Betriebswerk Bahn-Technologie-Zentrum dauert 88 Minuten inklusive in Minden, 32 vom Herstel- Wagenwäsche und Reinigen ler in Bochum, 34 aus der der Toiletten. Das Rad wird Bahn-Zentrale in Frankfurt. wieder nicht gewechselt – Und je weiter die Staatsan-

obwohl die Unrundheit auf DPA wälte in die Materie vor- fast das Doppelte des zuläs- Touristenführer Steinbach: „Manche Unfälle haben etwas Besonderes“ dringen, desto größer wer- sigen Wertes zugenommen den die Zweifel, daß das hat: 1,1 Millimeter mißt das Diagnosegerät Daher wird gegen die beiden Disponen- ehrgeizige Technikprojekt wissenschaftlich am 2. Juni um 22.23 Uhr. ten und den zuständigen Münchner Seg- seriös abgesichert war. Am 6. Juli reisen Mitglieder der Soko mentleiter ermittelt. Die sich stetig ver- Der stählerne Radring, angeblich dau- erstmals nach München – mit dem ICE. schlechternden Meßwerte, so der Vorwurf, erfest und zerstörungssicher, versagte nicht Noch auf der Fahrt befragen sie den Bord- hätten dokumentiert, daß das Bauteil 1591 nur einmal: Als nach Eschede 82 Radreifen mechaniker nach allerlei Details. nicht mehr sicher war. durchgecheckt wurden, fand die Bahn in Die Vernehmungen in Bayern führen tief Die Testergebnisse des Darmstädter drei weiteren ebenfalls Risse. in das komplizierte Regelwerk des einsti- Fraunhofer-Instituts von Anfang Mai brin- Daß der Einsatz des bereiften Rades ein gen Staatsbetriebes. Die Bahn-Techniker gen dann auch Spitzenmanager, die diesen Irrweg war, hat die Bahn bis heute nicht of- erzählen den Ermittlern, das Grenzmaß sei Zug auf die Schienen gesetzt haben, in Ver- fiziell eingestanden. Doch die Konsequen- nicht so wichtig. Da man Räder der Bauart dacht. Und so droht das Eisenbahnunglück zen sprechen für sich: Das gummigefeder- 064 für „dauerfest“ und damit bruchsicher für das Bahn-Unternehmen zum Desaster te Modell ist verschwunden, die ICE-Züge gehalten habe, seien Reparaturen schon zu werden. rollen längst wieder auf Monobloc-Rädern. mal aufgeschoben worden. Bindende Vor- Die Konzern-Oberen hatten bis zuletzt Die Radsatzdiagnose in München arbeitet schriften gebe es nicht. gehofft, daß ein Materialfehler zum Bruch plötzlich wieder einwandfrei, das Grenz- Auf der Prioritätenliste für die nächtli- führte, mithin die Verantwortung beim maß für Unrundheiten ist auf 0,4 Millime- chen Inspektionen, die von eins bis sechs Radhersteller liege. Eigens entsandte die ter herabgesenkt worden. reicht, hätten Unrundheiten deshalb in der Bahn ihre Fachleute nach Darmstadt, um Die Soko hat viele Vernehmungen von Kategorie fünf gestanden. Die Reparatur die Reste des Radreifens unter dem Elek- Bahntechnikern durchgeführt. Immer einer nicht funktionierenden Kaffeema- tronenmikroskop zu begutachten. Doch wenn über die jetzt geltenden verschärften schine habe als dringlicher gegolten. die fanden keine Hinweise auf mangelnde Wartungsvorschriften geredet wird, begin- Die Arbeiter, die im Münchner ICE-Be- Qualität. nen die Sätze mit „seit Eschede“. Denn triebswerk nachts viel zu tun haben, er- Wie das Profil bei einem Autoreifen, so seit Eschede ist nichts mehr wie vorher, zählen weiter, daß der Einsatz von High- dürfen auch die Radreifen nur bis zu einer weder bei der Bahn noch in Eschede selbst. Tech die Arbeit oft nur erschwert habe. bestimmten Grenze abgefahren werden. Der kleine Ort in der Südheide wird für Die Radsatzdiagnose habe schon seit Mo- 920 Millimeter stark war der Stahlring, als immer als Synonym „für das große Zug- naten keine zuverlässigen Daten mehr ge- er aus dem Bochumer Werk kam. Bei 858 unglück“ stehen, wie Gemeindedirektor liefert, sondern ständig Fehlmessungen. Millimetern, so entschied die Bahn, sollten Fritz Kiemann befürchtet. Noch immer Schließlich habe man sie nicht mehr son- sie aus dem Verkehr gezogen werden. Spä- kommen jedes Wochenende Dutzende von

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tern des toten Alexander: „Kindersarg Sterntalerdesign“ – 1460 Mark, „Aufbe- wahrung in einer Kühlanlage“ – 65 Mark. Bis heute war kein Bahn-Vertreter bei Reinhard Gehringer, um einmal „Es tut uns leid“ zu sagen. „Darauf werde ich ewig warten“, glaubt der Mann, der Frau und zwei Kinder verlor. Gabi Vogel, die seit dem Tod ihrer Mut- ter so depressiv ist, daß sie ihren Haushalt nicht mehr führen kann, bekam zu hören: „Sie sind doch eine erwachsene Frau.“ Als sie den „Armreif, Gelbgold 585“ ihrer Mut- ter, der 1800 Mark gekostet hatte, auf die Schadensliste schrieb, verlangte die Bahn, den Juwelier zu konsultieren, damit der „Schmelzwert in Abzug gebracht werden“ könne. 93,80 Mark wurden gestrichen. „Soll sich auch niemand bereichern an einem Unfall“, verkündete der Leiter der

G. SCHLÄGER Haftpflichtgruppe Eschede, Peter Schubert. Beschlagnahmte Wagen auf dem Fliegerhorst Wietzenbruch: Seit Eschede ist alles anders Dabei ist unter Juristen unstrittig, daß das deutsche Recht für Schadensersatz und Besuchern und stehen bedrückt am „besondere Zuwendung“ gezahlt hat. Schmerzensgeld seit Jahrzehnten überholt Holzzaun vor dem Brückenende, wo das Dennoch bescheinigen ihm die Mitglieder ist. 5000, manchmal 10000 Mark bekom- Bild von Alexander hängt. der „Selbsthilfe Eschede“ in einer Frage- men Angehörige – wenn ein Verschulden Manfred Steinbach muß dann für Ord- bogenaktion, daß er „nicht wirklich unab- nachgewiesen ist. Dann gilt der Beruf des nung sorgen. Die Gemeinde hat ihn eigens hängig“ sei und von der Bahn benutzt wer- Getöteten als Maßstab. „Kinder bringen als ABM-Kraft eingestellt, um Touristen zu de, um „nach außen gut dazustehen“. nichts“, so König zynisch. informieren und genervte Anwohner ab- Denn auch Krasney sind Fehler unterlau- „Die Bahn will, daß Eschede endlich zuschirmen. Steinbach patrouilliert auf sei- fen, die alle Angehörigen entsetzen. „Hier- vorbei ist und sich keiner mehr rührt“, nem Dienstfahrrad mit der Aufschrift mit wende ich mich an Sie persönlich“, klagt Heinrich Löwen, der sich jetzt um „ICE-Unglücksstelle“. schrieb er an die Hinterbliebenen. Als die seine Tochter Wiltrud kümmert. „Es gibt eben Unfälle, die haben für im- herausfanden, daß sie den gleichen Brief be- König hat mit Löwen die Selbsthilfe mer etwas Besonderes“, sagt Notfallmedi- kommen hatten, fühlten sie sich, als hätte da Eschede gegründet. Er wühlt sich durch ziner Hüls, „und hier hat sich eben das eine Wurfsendung „an alle Anwohner“ im Akten, telefoniert nächtelang und weiß, Nonplusultra der deutschen Industrie an Briefkasten gelegen. Manche Briefe trugen „daß ich mir damit das Nachdenken er- dieser blöden Brücke zerlegt.“ auch noch Werbestempel („Fahr mal wieder spare“. Darum werden die helfenden Pfarrer Bahn“), manchmal lag Reklame für die neue Ulrike Bruinier wollte Grundschulleh- zum TV-Kollegen Fliege geladen, und der Bahn-Card bei. Und der schwerverletzte Pe- rerin werden, aber sie fürchtet, daß sie nie- Lokalreporter sitzt bei Ilona Christen im ter Kraft, der nach mehreren Operationen in mals sechsjährige Kinder unterrichten Talksessel. Hüls reist von Tagung zu Ta- der Reha-Klinik in Bad Wiessee liegt, be- kann. „Jedes kleine Glück ist getrübt“, sagt gung, um seinen Kollegen in ganz Europa kam eine Einladung zum Skiurlaub. sie, „die Gedanken an Alexander verge- zu erklären, wie man in Eschede den ICE- Womöglich seien solche Pannen bei ei- hen nie.“ Sie ist wieder schwanger und hat Unfall gemeistert hat. Um alle Anfragen nem Unglück dieser Dimension nicht zu Vergißmeinnicht auf das Grab gepflanzt. aus dem In- und Ausland beantworten zu vermeiden, sagt König. Fehlbesetzungen Reinhard Gehringer sitzt in dem Haus, können, findet im November 1998 ein Not- seien allerdings jene Bahn-Bedienstete, das vor dem Unglück von Eschede ein fall-Symposium für 1200 Teilnehmer statt*. „die uns behandeln, als ginge es um eine „echtes Paradies“ war. Er hat es selbst ge- Während in der kommenden Woche der verlorene Reisetasche“. baut, vor fünf Jahren, mit hellem Holz in Wiederaufbau der Brücke beginnt und die Alle Hinterbliebenen mußten Belege hohen Räumen, mit einer Rutsche für die Arbeitsgemeinschaft „Gedenkstätte“ am und Beweise für jedes Detail zusammen- Kinder, mit Kindergarderobe und mit Kin- Jahrestag ihren Vorschlag für ein Mahnmal kratzen.Also belegten die Bruiniers, die El- dertisch. „Ich kann hier nicht sein, und ich präsentieren wird, kämpfen Angehörige und kann nicht weg“, sagt er, „ich Verletzte um ihre Rechte. Sie wollen Ge- schaffe es nicht, ihre Sachen in rechtigkeit und auch eine angemessene Ent- Kisten zu packen.“ schädigung. Manchmal, sagt Reinhard Geh- Olegard Schurich führt ein ringer, „habe ich das Gefühl, als müsse dort zweites, anderes Leben. „Ich ein Erdbeben passiert sein – alle finden es bin so dankbar“, sagt sie, „und furchtbar, aber niemand kann etwas dafür“. ich bin so selbstbewußt gewor- Das liegt weniger an Otto Ernst Krasney, den. Ich habe begriffen, was für einem ehemaligen Richter, den die Bahn einen Überlebenswillen ich ge- als Ombudsmann eingesetzt hat. Krasney habt haben muß.“ arbeitet hart, „ist der Typ guter Mensch“ Nur manchmal sieht sie sich (Edward König) und hat durchgesetzt, daß noch ihre zersplitterte Arm- die Bahn für jeden Toten 30000 Mark als banduhr an. Die ist stehenge- blieben um 10 Uhr, 59 Minuten und 33 Sekunden. * Der Tagungsbericht „Die ICE-Katastrophe von

Eschede“ ist am 21. Mai im Springer-Verlag, Heidelberg, ARIS Klaus Brinkbäumer, Udo Ludwig, erschienen. Ingenieur Hecht: Die Bahn kontrollierte sich selbst Georg Mascolo

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haben die Schulungen in diesem Jahr schon konkrete Anweisungen erwartet, wird je- BUNDESWEHR durchlaufen, 6500 weitere sollen in den doch meist enttäuscht. „Man kann fast nächsten Monaten folgen. Neben prakti- nie sagen, was falsch oder richtig ist“, be- Begrenzt schen Übungen, Landeskunde und Recht kennt Brigadegeneral Beck. So werden im gehört dazu auch die psychologische Vor- Heft über Geiselhaft teils schlichte Tips bereitung auf Granatenschocks, Geiselhaft, gegeben, etwa zur Hygiene: „Alle Kör- vermittelbar Gefangennahme, Verwundung und Tod. peröffnungen sollten jeden Tag einmal ge- „Das ist ganz schön kraß“, kommentiert reinigt werden.“ Mit Psycho-Seminaren bereiten ein Mittzwanziger mit Bürstenschnitt das Auch Pragmatisches steht auf dem Pro- Video über den traumatisierten Israeli. Psy- gramm, zum Beispiel: „Wie schreibe ich deutsche Militärs ihre Soldaten auf chologe Uhlmann zeigt danach das Bild ei- ein Testament?“ Drei Muster-Ausfertigun- Tod, Verwundung oder nes Soldaten mit starren, geweiteten Augen gen werden im Seminar herumgereicht. Geiselnahme auf dem Balkan vor. („typischer Geisterbahnblick“). Ein derart „Nichts dramatisieren, aber auf alles, was im Einsatz passieren kann, in realisti- schen Szenarien vorbereiten“ – so be- schreibt Uhlmann das Ziel der Schulun- gen. Wie sein Kollege Klaus Wothe vom Bundeswehrkrankenhaus Hamm, der als Truppenpsychologe schon in Bosnien und Mazedonien im Einsatz war, weiß er, daß auch Kriegsgreuel und Tod für deutsche Soldaten zu diesen realistischen Szenarien gehören. Wothe war 1997 im bosnischen Rajlo- vac, als zwei Bundeswehrsoldaten durch versehentlich ausgelöste Schüsse eines deutschen Panzers starben. Er betreute 25 Männer, die dabei zusahen. „Die Erfah- rung, daß das eigene Leben endlich ist“, sagt er, „ist im Unterricht nur begrenzt

A. VARNHORN vermittelbar.“ So manche abenteuerli- che Vorstellung darüber, wie ein Soldat sich im Soldatentrainer Uhlmann: „Ruhe bewahren“ Ernstfall zu verhalten habe, konnte Wothe, der schon er Soldat wälzt sich am Boden, 20mal Sanitätssoldaten fürs reißt die Arme über den Kopf und Ausland schulte, allerdings Dschreit. Sein Arzt hat ihn mit einer zurechtrücken. Bei einer Hypnose in den Jom-Kippur-Krieg zurück- Geiselnahme, lehrt er sei- versetzt. Noch einmal durchlebt der Israe- ne Schützlinge, sollten sie li jenen Moment im Oktober 1973, als ne- doch bitte „die heroischen ben ihm die Granaten einschlugen. Bilder aus dem Fernsehen Im Zentrum Innere Führung der Bun- vergessen“, in denen die deswehr im idyllischen Rhein-Städtchen Opfer trotz Folter höch- Koblenz schaltet der Psychologe Ludwig stens Namen, Einheit und

Uhlmann den Videorekorder mit dem AP Geburtsdatum preisgeben. Lehrfilm über das „Posttraumatische Streß- Kriegsgreuel im Kosovo: „Realistische Szenarien“ „Denen sage ich erst syndrom“ aus. „Wir wollen Ihnen keine mal: Spielt bloß nicht den angst machen“, sagt er und blickt die 30 geschockter Mann müsse „aus der Gefah- Helden“, berichtet Wothe. Das wichtigste Männer in der Runde an. „Wir wollen Ih- renzone rausgeschleppt“, durch Körper- sei, lebend freizukommen, notfalls um den nen nur zeigen, daß es diese Dinge gibt kontakt beruhigt und aufgebaut werden. Preis, vermeintlich Brisantes zu verraten. und daß wir sie nicht tabuisieren.“ „Wem das passiert“, sagt Uhlmann, „der „Ein militärisches Geheimnis“, doziert er, Uhlmanns Schüler sind Truppenführer ist kein Weichei, sondern ein Mensch, der „ist nach 48 Stunden meist keines mehr.“ der Bundeswehr, vom Feldwebel bis zum normal auf eine unnormale Situation rea- Die letzte Station vor dem Abflug ins Oberst. In einem einwöchigen Seminar giert.“ Einsatzgebiet ist für die meisten Bundes- werden sie mental für ihren Auslandsein- Als Leitfaden für die psychologische wehrsoldaten die Infanterieschule in Ham- satz getrimmt – den „Auftrag Kosovo“, wie Kriegsvorbereitung dienen den Bundes- melburg. In mehr als 50 Szenarien wird Brigadegeneral Hans-Christian Beck, Chef wehr-Spezialisten zwei Papiere des Zen- dort auch psychologisches Wissen in der des Koblenzer Zentrums, sagt und sich so- trums Innere Führung mit den Titeln „Um- Praxis erprobt. Unter den kritischen gleich korrigiert: „Wir müssen genauer sa- gang mit Tod und Verwundung im Einsatz“ Blicken von Eckhard Bucher üben die Sol- gen Mazedonien – ein möglicher Auftrag und „Geiselhaft und Gefangennahme“. Die daten zum Beispiel in einem olivgrünen Kosovo muß sich ja erst noch ergeben.“ darin geschilderten Szenarien – zum Bei- Bundeswehrbus das richtige Verhalten bei An zahlreichen Bundeswehrstandorten spiel, daß auch Profi-Soldaten als Geiseln einer Entführung. – vom Zentrum Innere Führung in Koblenz teilweise wie Kinder „weinen, kichern, in „Handlungssicherheit und Selbstver- bis zur Infanterieschule in Hammelburg – die Hose machen“ – dürften bei manchem trauen“, sagt der Psychologe, sollen seine bereiten sich nicht nur Offiziere, sondern Militär das Selbstbild wanken lassen. Leute durch die Schulungen gewinnen, „da- auch einfache Gefreite und Sanitäter auf Wer über Binsenweisheiten hinaus mit wir sie guten Gewissens ins Einsatzge- Balkan-Einsätze vor. Rund 6500 Soldaten („Ruhe bewahren“, „Bleibe wachsam“) biet schicken können“. Andrea Stuppe

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STRAFJUSTIZ „Habe mich hinreißen lassen“ Ein Angeklagter schweigt, Zeugen verweigern reihenweise die Aussage: Das Essener Gericht, das klären soll, wie und warum ein Gendarm bei der Fußball-WM von Hooligans zum Krüppel geschlagen wurde, tut sich unerwartet schwer. Von Gisela Friedrichsen

beiden Beamten wurden herausgezerrt, ei- ner ging zu Boden und wurde getreten. Ihn rettete vor dem Schicksal des Gendar- men Nivel, daß sein Kollege einen Warn- schuß abgab. Die Offenbacher Schlacht geschah im Schatten des Essener Prozesses. Oder, ge- radezu herausfordernd, in seinem Schein- werferlicht. Auch in Berlin und in Leipzig kam es zuletzt zu Gewalt. Randalierer las- sen sich weder von harter Strafandrohung abschrecken noch vom Zorn der Bürger. Im Gegenteil: Die empörte Darstellung von Straftaten, die einhellige Ablehnung der Gewalttäter, die Forderung nach immer härteren Strafen scheinen manchen zu bö- sen Heldentaten erst anzustacheln. Die vier in Essen sind noch nicht verur- teilte Täter, sondern mutmaßliche. Drei von ihnen haben sich zu Beginn der Hauptver-

AP handlung entschuldigt. André Zawacki: Niedergeschlagener Nivel: „Es war so, als träte man gegen einen Fußball“ „Ich möchte schon jetzt sagen, daß ich zu-

ie Fotos von der Tat gingen um die hieß es zu Prozeß- Welt. Am 21. Juni vergangenen beginn: „Hoffen wir Jahres attackierten acht bis zehn nur, daß nicht wieder Fußballspiel Stadion

Félix Bollaert D t Deutschland

Gewalttäter den 43jährigen Gendarmen mal die Idee auf- r

gegen Jugo- e la

Daniel Nivel im französischen Lens. kommt, ‚die Gesell- l

slawien am Straßen- o Bleischwer lasten diese Bilder noch heute schaft‘ sei schuld. Es B sperren . Weg der

21. 6. 1998 d auf der Erinnerung an die Fußball-WM. ist egal, wie sie so ge- der Polizei E

. Hooligans

R R Kaum daß die Anklage gegen vier an worden sind. Sie sind ue Pau Boulevard E den Ausschreitungen beteiligte Deutsche so, und sie müssen so l mile Be Bas fertiggestellt war, erschien am 6. Januar behandelt werden.“ rt Rue ly Romuald Pr x s uvo i ae s a in der „Welt“ ein Vorbericht, der die an- Ungeachtet dieser M t P fred Ru Al e la ue J geführten Tatbestände auswertete und Berichterstattung n R e Ave a e o n d beschrieb, welch „bitterböses Bild … ent- und wie zum Trotz u Le . t t R e Angriff auf drei i enn fesselter Gewalt“ die Staatsanwaltschaft gegenüber der ent- D Polizisten; e ’ A zeichnet. setzten Öffentlich- r r Daniel Nivel wird a Bahnhof s Auch der Prozeß, Hooligan-Prozeß ge- keit kam es am Him- lebensgefährlich von Lens nannt, der nun seit dem 30. April vor dem melfahrtstag beim verletzt. Landgericht Essen stattfindet, erfährt tota- Regionalligaspiel in le Öffentlichkeit. Das qualvolle Überleben Offenbach, wo der Innenstadt von Lens des Tatopfers hat weit über Frankreich hin- Traditionsverein der aus Bestürzung hervorgerufen. Kickers gegen den Traditionsverein Wald- tiefst bedaure, was in Lens geschehen ist, Die vier Angeklagten sind in Wort und hof Mannheim 0:0 spielte, erneut zu einer vor allem die Folgen für Herrn Nivel und Bild vorgestellt worden. Daß ihnen wegen blutigen Stadion- und Straßenschlacht. seine Familie.“ Frank Renger: „Es tut mir schwerer Körperverletzung und schweren Weit über 100 Personen, darunter 27 Po- wirklich sehr, sehr leid für die Familie Ni- Landfriedensbruchs, möglicherweise sogar lizeibeamte, wurden verletzt. Die Polizei vel.“ Tobias Reifschläger: „Ich möchte sa- wegen versuchten Mordes eine überaus war mit 500 Mann vor Ort, hatte aber nicht gen, daß es mir unendlich leid tut und ich empfindliche Freiheitsstrafe droht, wurde damit gerechnet, daß sogar Rowdys aus mich unendlich schäme, daran teilgenom- ebenfalls breit erläutert. Düsseldorf, Braunschweig, Leverkusen, men zu haben.“ Entsetzen und Empörung der deutschen Hamburg und Basel zum Randalieren an- Reifschläger beschrieb, wie man schon Öffentlichkeit über die „Schande von reisen würden. In der Hooligan-Szene ver- am Vortag des Spiels Deutschland gegen Lens“ schlugen über den zwischen 24 und abredet man sich heute via Internet. Jugoslawien im Leihwagen zu mehreren 31 Jahre alten Angeklagten zusammen. Im Wie in Lens hätte es kommen können: nach Lens fuhr, die Nacht durchfeierte, wie Kommentar der „Hamburger Morgenpost“ Ein Streifenwagen wurde angegriffen, die man keine Karten bekam fürs Spiel, wie

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Werbeseite Deutschland man von der Polizei auseinander- und oder den Oberkörper getreten habe. Ich während eines Fußballspiels schon einmal zurückgetrieben wurde. „Ich fand mich in weiß es nicht, es ging alles so schnell“. vor Gericht gestanden haben, ohne jedoch einer Gruppe von ungefähr 50 Leuten, die „Warum haben Sie überhaupt mitge- verurteilt worden zu sein. ich nicht kannte. Wir kehrten zurück zu macht?“ fragt der Vorsitzende. „Ich weiß Rauchs Schweigen ist nicht ohne Ri- den Absperrungen. Da sind Leute in eine nicht. Vielleicht war es der Frust, weil die siko. Ist er vielleicht der Anführer? Der kleine Seitenstraße reingelaufen, ich mit. Polizei so hermetisch abgeriegelt hat.Aber Schlimmste von allen – nur weil er nicht re- Ich habe gesehen, daß da Gerangel und es war nicht geplant. Es war halt so, als det? Ist er Drogenboß? Boß der Hools? Die heftige Bewegung war. Ich dachte, da sei- träte man gegen einen Fußball.“ Berichterstattung über Angeklagte, die aus- en jugoslawische Fans.“ Auch Zawacki will noch aussagen. Chri- sagen, die sich entschuldigen und Reue zei- Dann habe er einen Polizisten auf dem stopher Rauch aber, der vierte Angeklag- gen, ermutigt nicht gerade zum Sprechen. Boden liegen gesehen. „Ich war nahe an te, gelernter Elektriker und Sohn aus nicht Zeigt sich ein Angeklagter bewegt oder ihm dran, an seinen Beinen und am Gesäß. unvermögendem Haus, schweigt. Er hat weint er gar: Er hat Selbstmitleid, seine Habe mich hinreißen lassen zu Tritt gegen drei Anwälte, sie schirmen ihn ab. Zu Pro- Reue ist „vorgeblich“. Versucht er, seinen die Beine oder das Gesäß. Muß dann noch zeßbeginn tritt er in blauem Anzug, Weste Tatbeitrag zu beschreiben: Er sagt, was sei- einen Schritt weitergegangen sein, noch und Krawatte auf, so daß man ihn für einen ne gewieften Anwälte ihm raten. Schweigt ein Tritt in den Rücken. Dann war jemand Referendar hält. Er trägt Brille, einen flot- er, ist er höchstwahrscheinlich der Boß. ten Haarschnitt und eine Am zweiten Sitzungstag berichten zwei auffallende Uhr. Er sitzt szenekundige deutsche Polizeibeamte als nicht wie die anderen auf Zeugen über die Auseinandersetzungen der Anklagebank hinter den der militärmäßig aufgerüsteten französi- Anwälten, sondern neben ih- schen Polizei mit den Hooligans. Bei den nen an einem herangerück- Spitzenspielen in Deutschland gehe es an- ten Tisch. Er senkt nicht ders zu: Man kenne sich, man habe Ritua- schuldbewußt den Blick, le miteinander entwickelt, die Polizei gel- sondern nimmt häufig Blick- te nicht als Feind der Fans. kontakt mit seiner hübschen In Frankreich aber gab es vor dem Spiel Verlobten im Zuschauer- massive Absperrungen an jenem Kreisver- raum auf. Was sucht einer, kehr, von dem aus mehrere Straßen zum der aussieht wie er, in der Stadion Félix Bollaert führen. Wer keine Hooligan-Szene? Einer der Eintrittskarte hatte und nicht 2000 Mark, Rädelsführer der Hooligans um auf dem Schwarzmarkt noch eine zu des FC Berlin soll er sein. kaufen, hatte keine Chance, durchgelassen Neuerdings heißt sein Verein zu werden. Da blieben nur die Fernseher

DPA wie zu Mielkes Zeiten BFC in den Kneipen mit französischem Kom- Angeklagter Rauch (r.): Boß der Hools? Dynamo. mentar. Die Polizei blieb unerbittlich, rück- an mir dran von der Seite und zog mich am Hemd. Meine, daß ich das Gleichgewicht verlor und über den Polizisten sprang.“ Genau gesehen haben will er nichts. Der Vorsitzende Richter Rudolf Esders, 59, er- staunt: „Man sieht doch, was in unmittel- barer Nähe geschieht! Es klingt so, als hät- te keiner was getan. Ich will wissen, ob je- mand getreten oder geschlagen hat!“ Reif- schläger druckst herum. „Ja schon, aber nicht so konkret“ habe er etwas gesehen. Und schnell fügt er hinzu: „Ich war jeden- falls nicht allein.“ Renger aus Gelsenkirchen, verheiratet, fragte erst seine Frau: „Schatz, hast du was

dagegen, daß ich fahre?“ Er habe nach dem AP Spiel zum Stadion gewollt, „um wenigstens Angeklagte Renger, Zawacki, Reifschläger, Rauch: „Da kommen wir durch“ Fotos zu machen“. Doch die Polizei habe begonnen, einen Kessel zu bilden. An einer So wie er sich gibt, bietet er Spekula- te gefechtsbereit vor, um Problemfans ein- Seitenstraße habe irgendwer gerufen: tionen derer, denen nicht genügt, was sich zukesseln. Das Auftreten der Polizei habe „Hier sind nur drei, da kommen wir in einem Gerichtssaal abspielt, ausreichend die Aggressionen der Zukurzgekommenen durch!“ Renger sah, wie einem der Polizi- Stoff. In Untersuchungshaft sitzt er in er- noch angeheizt, sagte der Zeuge. sten der Helm wegflog. „Wie elektrisiert ster Linie wegen des Verdachts, mit Ko- Während des Spiels kam es nur zu habe auch ich zugetreten. In Richtung Bei- kain gehandelt zu haben. kleineren Vorfällen. Bei Halbzeit, Spiel- ne. Ich weiß es nicht genau. Eine Person Von seiner Nähe zur rechtsradikalen stand 0:1, verschlechterte sich die Stim- kniete auf dem Polizisten und schlug mit Szene wird gemunkelt, was seine Verteidi- mung. Nach Spielende, die Deutschen einem Holzbrett auf ihn ein. Ich wollte gung bestreitet. Er soll als gewalttätiger erreichten mit Glück ein 2:2 („Sie waren nichts damit zu tun haben und rannte to- Fußballfan polizeibekannt sein; 1993 habe völlig von der Rolle“), versuchten die tal geschockt weg.“ er an einer Schlägerei unter Berliner Hoo- Hooligans erneut, zum Stadion vorzu- Renger dachte, „die Polizisten hauen ab, ligans teilgenommen (das Verfahren wurde dringen, zum Prügeln und zum Fotogra- wenn so eine Meute kommt. Es war nie eingestellt, weil sich die Ermittlungen so fieren. Doch nichts fand statt. Unüber- geplant, einen Polizisten niederzuschlagen. lange hinauszögerten). Auch in Fürsten- windlich die Polizei, die eine Ordnung auf- Möglich ist, daß ich auch gegen den Kopf walde soll er wegen Körperverletzung rechterhielt und repräsentierte, die für

72 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland manchen Fan keine Ordnung, sondern eine es doch eine gezielte, planmäßige Aktion Provokation war. unter Inkaufnahme schlimmster Folgen? Rund 200 Hooligans wurden in Richtung Die Öffentlichkeit, ohne Verständnis für Bahnhof abgedrängt, machten aber auf Beweislage und Rechtsprobleme, erwartet nächstem Weg kehrt, um wahllos randalie- härteste Bestrafung. Das Mitgefühl mit rend wieder zu den Sperren zurückzukeh- dem Opfer schreit nach Ausgleich. ren. In der Rue Romuald Pruvost schrie Das Gericht hat zudem das Problem, dann einer den unseligen Satz: „Da kom- daß Hooligan-Zeugen reihenweise die Aus- men wir durch, da sind nur drei.“ sage verweigern. Esders belehrt sie fast fle- 20 oder 50 Mann stürmten durch die hend über ihre Rechte. Nun sollen Kripo- kleine Straße voran. Einer der dort po- Beamte, die sie vernommen haben, über stierten Gendarmen ergriff gleich die die Aussagen berichten. Flucht, ein zweiter rannte nach einem Für den 26. Mai hat das Gericht den Handgemenge auf und davon.Warum hal- Psychiater Norbert Leygraf und die Psy- fen sie nicht? Acht, zehn Mann fielen über chologin Sabine Nowara geladen. Man er- Nivel her. hofft von ihnen Erkenntnisse über Mas- Wäre nicht fotografiert sen- und Gruppenpsychologie. worden von Hooligans – es Es gibt eine prächtige Litera- hätte wohl kein öffentliches tur und zahllose Thesen über Entsetzen, keine Anklagen, die Ursachen des Hooliganis- keinen Prozeß gegeben. So mus. Eine klärende Antwort aber sind da die Fotos und die sucht man vergebens. Es Aussagen zweier Augenzeu- genügt nicht zu sagen, diese gen, so vieldeutig und unzu- Leute suchten „den Kick“, sie verlässig sie jeweils sein mö- seien „erlebnisorientiert“. Das gen. Auch die französische einzige, was seriöse Sachver- Polizei hat fotografiert, wenn ständige bieten können, ist die auch nicht die Szene mit Nivel. Begutachtung jedes einzelnen Es werden vor Gericht noch Angeklagten.Wie verhält die- viele Bilder zu erörtern sein. ser sich in einer rasenden Der Angeklagte Rauch Menge? Macht das die Vertei-

wird, was den Anklagevor- DPA digung mit? wurf angeht, nur von einem Opfer Nivel (im Februar) Dieser Prozeß wird voraus- der fotografierenden Hooli- sichtlich lange dauern, und gans belastet. Ausgerechnet von dem, der sein Ausgang ist ungewiß. Als am 29. Mai von dem Geschehen geschockt gewesen 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion beim sein will; der, geschockt, wie er war, auf die Spiel zwischen Liverpool und Turin 39 Stoßstange eines Autos kletterte, um zu fo- Menschen zu Tode kamen, hatte man nicht tografieren; der sich an exakt vier Schläge nur Fotos als Beweismittel, sondern ganze Rauchs gegen Nivel erinnert. Andere Be- Filme, die den Ablauf der Katastrophe teiligte haben ihn nicht gesehen. zeigten. 500 Millionen Zuschauer wurden Der Foto-Zeuge, ein 18jähriger „ohne Be- am Bildschirm zu Augenzeugen. Dennoch schäftigung“, ein wenig der mißratene Sohn, schuf das Urteil keine Klarheit. Es gab 14 genießt es, vor Gericht im Mittelpunkt zu Verurteilungen, von denen nicht jede über- stehen. Er fühlt sich durch seine Aussage zeugte, und 11 Freisprüche, die ebenfalls gefährdet, erscheint mit drei Polizisten aus nicht durchweg einleuchteten. Österreich zu seinem Schutz.Auch er möch- Das Weltgeschäft Fußball ist nach wie te sich ins Bild setzen, wie jene Hooligans, vor auch das Brot der Armen – keineswegs die ihm ihre auf Fotos verewigten Helden- nur der sozial Benachteiligten, sondern vor taten abkaufen. Auch er ist nun wer. allem der seelisch Armen, die daran lei- Der szenekundige deutsche Polizeibe- den, daß sie nicht beachtet werden, die amte hingegen, der mit neun Kollegen nach einmal im Mittelpunkt stehen wollen, und Lens geschickt worden war, um sich an- sei es auch inmitten einer Horde von ver- bahnende Ausschreitungen zu verhindern, achteten Außenseitern. schildert vor Gericht, wie schwierig sich In den „Lübecker Nachrichten“ erschien das Erkennen von Tätern und Taten ge- zu Prozeßbeginn ein besonnener Kom- staltete: „Das ging so schnell, die Grup- mentar. Die anonyme Truppe der Hooli- pen vermischten sich so rasch – ich habe gans bekomme in den Angeklagten ein Ge- versucht, mir wenigstens ein, zwei Leute zu sicht, hieß es. „Das Märchen, daß es sich merken. Es ging nicht.“ bei Hooligans um Dumpfbacken und pri- Der Vorsitzende Esders hat in diesem mitive Schläger handelt, wird endlich als Prozeß eine schwere Aufgabe zu bewälti- Lügengebilde entlarvt. Hooligans sehen gen. Gegenüber neun Verteidigern hat er aus wie du und ich. Auch wenn es weh tut: die Autorität des Gerichts zu wahren. Dazu Die Täter von Lens sind welche von uns.“ kommt die Nebenklage der Nivels; ein an- Formel-1-Pilot Michael Schumacher soll gesehener Essener Anwalt nimmt sie wahr. nach der Tat gesagt haben: „Bei einem Tier Ihn beschäftigt zum Beispiel, daß Nivel der geht man hin und schläfert es ein. Viel- Gendarm war, der ein Funkgerät bei sich leicht sollte man das gleiche da auch tun.“ hatte, also Hilfe hätte holen können. War Das tut nicht weniger weh. ™

74 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

UNO-GERICHTSHOF „Jenseits der roten Linie“ Ist der Nato-Einsatz ohne Uno-Mandat völkerrechtswidrig? Jugoslawien klagt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag auf sofortige Einstellung der Luftangriffe.

it dem Unrecht im Kosovo-Kon- nager der Nato wollen sich nicht vor dem flikt befassen sich derzeit gleich Gericht der Vereinten Nationen verant- Mzwei Uno-Gerichte in Den Haag. worten – denn in der Sache muß die Nato Der Internationale Strafgerichtshof für eine Verurteilung fürchten. das ehemalige Jugoslawien ermittelt we- Würde das Haager Friedensgericht die gen der Verbrechen an den Kosovo-Alba- Bombardierung Jugoslawiens als Verstoß nern.Auch den jugoslawischen Präsidenten gegen das Völkerrecht einstufen, hätte das Slobodan Milo∆eviƒ haben die Ankläger womöglich weitreichende Konsequenzen: auf ihrer Liste. Ein völkerrechtswidriger Einsatz verstößt Internationaler Gerichtshof in Den Haag: „So nah Nur einen Fußmarsch entfernt, auf der gegen das Grundgesetz. Bundeswehrsol- anderen Seite des Stadtparks, im Großen daten müßten die Einsatzbefehle verwei- Der damalige deutsche Außenminister Sitzungssaal des „Friedenspalastes“, ist der gern, wenn sie wüßten, daß sie rechtswid- Klaus Kinkel prägte den Begriff „Sprung- Beschuldigte der Kläger: Vor dem ständi- rig sind. Ein völkerrechtswidriger Angriff brett-Resolution“: noch keine Ermächti- gen Internationalen Gerichtshof (IGH) auf einen anderen Staat galt bislang als gung zum militärischen Eingreifen, aber werden der Nato Kriegsverbrechen vorge- Angriffskrieg – die „Vorbereitung eines knapp davor. Einen Tag später, am 24. Sep- worfen,Völkermord und Verstoß gegen das Angriffskrieges“ ist nach deutschem Recht tember, beschloß der Nato-Rat den „Act Gewaltverbot der Uno-Charta. Klägerin: strafbar, auch für die Mitglieder der Bun- Warn“, die erste Stufe der Mobilmachung die Bundesrepublik Jugoslawien. desregierung und ihre Mitarbeiter. von Luftstreitkräften, und drohte Jugo- Der Vorgang ist einmalig in der Ge- Die Nato besitzt für ihre Luftangriffe slawien Luftangriffe an. schichte des IGH: zehn Verfahren, gleich- kein Mandat des Weltsicherheitsrats – und Milo∆eviƒ willigte daraufhin gegenüber zeitig abgehandelt wegen einer Sammel- darin liegt, trotz aller Bemühungen um dem US-Sonderbotschafter Richard Hol- klage gegen zehn Nato-Staaten, die sich eine Rechtfertigung der Angriffe, der brooke in eine Vereinbarung ein, die eine an den Luftangriffen auf Jugoslawien be- womöglich entscheidende Makel. Überwachung des Kosovo sichern sollte. teiligen. Das Gericht soll nach der Klage- Am 23. September 1998 beschloß der Si- Obwohl Abkommen, die mit völkerrechts- schrift Belgrads einen Stopp der Bombar- cherheitsrat der Vereinten Nationen auf widrigem Druck erzwungen werden, nich- dements anordnen und die Nato-Staaten Drängen westlicher Staaten die „Reso- tig sind, stimmte der Weltsicherheitsrat den zu Schadensersatz verpflichten. lution 1199“: Die Lage im Kosovo stelle Ergebnissen der Holbrooke-Mission zu und Die Gerechtigkeit wird gleichwohl in eine „Bedrohung von Frieden und Sicher- billigte damit aus Sicht der Nato die Dro- Den Haag nur unvollkommen vorange- heit in der Region dar“ – die Vorausset- hung mit militärischer Gewalt. Nach dem bracht. Die Ermittler des Kriegsverbrecher- zung für militärische Sanktionen nach Massaker von Ra‡ak, bei dem im Januar 45 Tribunals können Milo∆eviƒ in Belgrad der Uno-Charta. Rußland stimmte zu, kosovo-albanische Zivilisten starben, er- nicht behelligen, und auch die Krisenma- China enthielt sich. neuerte die Nato ihre Drohung. Ein aus- gerade als Motor des internationalen Men- Kanada, die Niederlande, Belgien und schenrechtsschutzes. 6 der 15 IGH-Richter Portugal dagegen stecken in der Klemme: kommen aus Nato-Ländern, die anderen Sie haben sich der Rechtsprechung des aus Staaten wie Sri Lanka, Algerien, Ve- IGH umfassend unterworfen. Damit wäre nezuela, Rußland und China; Jugoslawien das Gericht zuständig, denn auch Jugosla- hat als Kläger einen zusätzlichen Richter wien hat eine entsprechende Erklärung ab- entsandt, ebenso die beklagten Staaten, gegeben – allerdings erst am 25. April, also soweit sie im jeweiligen Verfahren noch vier Tage vor Klageerhebung. nicht durch einen Richter ihrer Nationa- Dabei versuchte Belgrad besonders lität vertreten sind. „Die Mehrzahl der Rich- schlau zu sein: Der Gerichtshof solle nur ter“, gibt Simma zu bedenken, „gehört über Streitigkeiten urteilen, die nach Ab- Staaten an, die nicht als Kreuzritter hu- gabe dieser Erklärung entstehen. Schon manitärer Interventionen in Frage kom- deshalb, argumentierten die Vertreter der men, sondern allenfalls selbst solche In- betroffenen Nato-Staaten, könne der IGH terventionen zu befürchten haben.“ gar nicht zuständig sein: die Streitigkeit sei Auch der Verlauf des Krieges spricht älter, denn die Luftangriffe hätten ja schon gegen die Nato: Wenn überhaupt, läßt sich vor dem 25. April begonnen. die humanitäre Intervention nur recht- Außerdem können sich nur Mitglied- fertigen, sofern sie tatsächlich geeignet ist, staaten der Vereinten Nationen dem Inter-

REUTERS das Flüchtlingselend zu beenden. Die nationalen Gerichtshof unterwerfen. Ju- am Recht wie nur möglich“ Zweifel daran wachsen täglich. „Die Ar- goslawien aber sei gar nicht Mitglied der gumentation der Nato“, weiß Simma, Vereinten Nationen. Das alte Uno-Mitglied drückliches Uno-Mandat für Luftangriffe „kommt da in große Schwierigkeiten.“ Jugoslawien sei als Staat untergegangen, verhinderte aber Rußland mit der Ankün- Doch die Vertreter der Beklagtenseite der neue Staat Rest-Jugoslawien aber habe digung seines Vetos im Sicherheitsrat. sind sich einig: Nicht die zehn Nato-Staa- noch keinen Antrag auf Aufnahme in die Am 18. März unterzeichneten die Ver- ten, sondern Jugoslawien müßte sich Vereinten Nationen gestellt. treter der Kosovo-Albaner den Vertrag von eigentlich verantworten wegen der ethni- Eine erste Entscheidung des IGH wird in Rambouillet, doch Milo∆eviƒ verweigerte schen Säuberungen im Kosovo. „Jugo- den nächsten Tagen erwartet. Zunächst geht die Zustimmung. Am 24. März begann die slawien“, sagte der deutsche Vertreter es darum, ob das Gericht eine einstweilige Nato ihre Bombardements – obwohl die Gerhard Westdickenberg in Den Haag, Anordnung gegen die Beklagten erläßt, die Uno-Charta militärische Gewalt einzig mit „kommt nicht mit sauberen Händen vor Luftangriffe vorläufig einzustellen. dem Mandat des Sicherheitsrats oder zur den Gerichtshof.“ Selbst wenn das Gericht anordnet, daß Selbstverteidigung erlaubt. Die beklagten Staaten bestreiten, sich beide Parteien ihre Kampfhandlungen ein- Aber kann eine humanitäre Interven- in diesem Fall überhaupt verantworten zu stellen sollten, ist fraglich, ob Jugoslawien tion trotz fehlenden Uno-Mandats aus- müssen: „Der Gerichtshof“, mahnte John und die Nato dem Folge leisten. Und den nahmsweise völkerrechtskonform sein? Crook vom amerikanischen Außenmini- Kosovo-Albanern geholfen ist damit im- Zweifel daran plagten selbst die Teil- sterium, „ist hier nur dafür zuständig, fest- mer noch nicht. nehmer am Nato-Einsatz. Noch 1986 stell- zustellen, daß er nicht zuständig ist.“ Die Haager Richter werden der heik- te das britische Außenministerium fest: Das Gericht der Vereinten Nationen len Entscheidung wohl ausweichen und „Die überwältigende Mehrheit der Rechts- kann nur dann über völkerrechtliche Strei- sich für unzuständig erklären. Für den meinungen bestreitet ein Recht auf huma- tigkeiten entscheiden, wenn die betroffe- Münchner Völkerrechtsexperten Simma nitäre Intervention.“ Entscheidendes Ar- nen Staaten seine Zuständigkeit anerken- hieße das: „Der IGH will in der Sache nicht gument: Ihr zweifelhafter Nutzen wiege nen. Gegenüber Jugoslawien ist dazu jetzt entscheiden, weil die Klage unanständig den Schaden für die Respektierung des in- kein Nato-Staat bereit. Doch einige sind ist.“ Dietmar Hipp ternationalen Rechts bei weitem nicht auf. schon früher Verpflichtun- Zwar sehen mittlerweile viele Experten gen eingegangen. „neues Völkergewohnheitsrecht“ entste- Wegen des Vorwurfs, die hen – aber bis dahin ist der Weg noch weit. Nato würde Völkermord ge- „Eine Rechtsänderung“, so der Münchner genüber den Serben bege- Völkerrechtler Bruno Simma, der im Uno- hen, müßten sich zumindest Auftrag an der Kodifikation von Völkerge- die Staaten in Den Haag wohnheitsrecht mitwirkt, „muß von allen verantworten, die der Völ- maßgeblichen Staaten akzeptiert werden – kermord-Konvention beige- die alleinige Behauptung der Nato, daß es treten sind; dazu gehört ein solches Recht gibt, genügt nicht.“ Deutschland. Doch dieser Ob bei Völkermord und schwersten Vorwurf stellt, wie Außen- Menschenrechtsverletzungen eine Aus- amts-Rechtsexperte West- nahme vom Gewaltverbot greifen soll, wird dickenberg erwiderte, von den Völkerrechtlern jetzt heiß disku- „nicht nur einen Mißbrauch tiert. Geltendes Recht ist das noch nicht. des Gerichts dar, sondern Die Nato-Angriffe, so Simma, seien zwar auch einen Mißbrauch der „so nah am Recht wie nur möglich, aber Völkermord-Konvention“. gegenwärtig dennoch jenseits der roten Daß der IGH Jugoslawien Linie“. in diesem Punkt folgt, ist Urteilt der IGH über die Rechtmäßigkeit kaum zu erwarten. der Luftangriffe, hat die Nato kaum eine Entscheidung in ihrem Sinne zu erwarten. * Aufgebahrt in der Moschee von

Das international zusammengesetzte Ge- Ra‡ak am 17. Januar nach einem ser- AP richt erwies sich in der Vergangenheit nicht bischen Massaker. Kosovarische Opfer*: Recht auf humanitäre Intervention?

der spiegel 21/1999 77 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft AP Sortiermaschine im Briefzentrum (in Hamburg)

POST Bundesfinanzministerium bisher keinen Grund sieht, die bestehen-

de Rechtslage zu ändern, halten DPA Börsengang in Gefahr die Länder die Regelungen für Zumwinkel überholt. Sie verweisen auf die ostchef Klaus Zumwinkel drohen unerwartete Schwierig- Privatisierung des Unternehmens und den zunehmenden Wett- Pkeiten für seinen im kommenden Jahr geplanten Börsen- bewerb im Postgeschäft. Sollten sich die Länderfinanzminister gang. Einige Länderfinanzminister, darunter der einflußreiche mit ihrer Auffassung durchsetzen, könnte das für Zumwinkel NRW-Finanzchef Heinz Schleußer, wollen den gelben Riesen fatale Konsequenzen haben. Die Mehrwertsteuer, heißt es in ei- (rund 28,5 Milliarden Mark Umsatz, 260000 Beschäftigte) der nem internen Postpapier, könnte in dem „sensiblen Markt nicht Umsatzsteuer unterwerfen. Bisher ist der Logistikkonzern in auf die Preise aufgeschlagen“ werden. Dem Unternehmen dro- Kerngeschäftsfeldern von der Mehrwertsteuer befreit, weil er he somit ein „Gewinnrückgang von bis zu einer Milliarde in weiten Bereichen Dienstleistungen erbringt, die dem Un- Mark“. Ein Börsengang im kommenden Jahr wäre damit so gut ternehmen per Postgesetz vorgeschrieben sind. Während das wie ausgeschlossen.

NIEDRIGLOHN DEUTSCHE BANK will die Bank vom 1. September an das Geschäft aus eigener Kraft aufbauen. Es Große Koalition Filialen in Frankreich sind Investitionen von mehreren hun- dert Millionen Mark vorgesehen. Auf n Nordrhein-Westfalen bahnt sich ein ie Deutsche Bank hat von den fran- den Champs-Elysées und dem Boule- Ibreiter Konsens in der Niedriglohn- Dzösischen Behörden die Genehmi- vard Saint Germain in Paris sollen Re- Debatte an. Die Enquetekommission gung erhalten, mit der neu gegründeten präsentanzen entstehen. In Wirtschafts- „Zukunft der Erwerbsarbeit“ des Düs- Tochtergesellschaft Deutsche Bank SA zentren wie Lille, Lyon, Marseille, Tou- seldorfer Landtags will sich mehrheit- in das Privatkundengeschäft einzustei- louse, Bordeaux will die Bank insgesamt lich für Kombilohn-Modelle als In- gen. Nachdem zahlreiche Versuche der 15 Filialen eröffnen. Dort werden ver- strument gegen die Arbeitslosigkeit Übernahme eines kompletten Kreditin- mögende Privatkunden mit einer Min- stark machen. Vertreten sind in dem stituts im Nachbarland gescheitert sind, destanlage von 100000 Mark betreut. Gremium neben den Parteien des Landtags auch Arbeitgeber und Ge- werkschaften. Die größten Vorbehalte kommen derzeit nicht etwa vom Ver- treter des Deutschen Gewerkschafts- bundes, sondern von Bündnis 90/Die Grünen. Anders als beim Konzept der Benchmarking-Gruppe im Bonner Bündnis für Arbeit, die flächendeckend Niedriglöhner unterstützen will, haben die Düsseldorfer als Zielgruppe aus- schließlich Arbeitslose ausersehen. Sie sollen nach dem Konzept, das diesen Sommer vorgestellt werden soll, grö- ßere Zuverdienstmöglichkeiten und damit bessere Chancen für die Rück-

kehr in den regulären Arbeitsmarkt GAMMA / STUDIO X bekommen. Arc de Triomphe in Paris

der spiegel 21/1999 79 Trends

JAPAN Angst vor den Postsparern inanzexperten in Tokio fürchten eine Fgigantische Kapitalflucht von Post- sparern. In den Jahren 2000 und 2001 könnten die Japaner mehr als 100 Billio- nen Yen (rund 1,5 Billionen Mark) von ihren Konten bei der staatlichen Post abheben. Dann laufen schlagartig Tau- sende Sparverträge aus, die Japaner Anfang der neunziger Jahre zu Zinsen von über sechs Prozent angelegt haben. Statt ihr Geld weiter der Post anzuver- trauen, werden viele, so das Szenario, ihr Vermögen in lukrativere Anlagen bei ausländischen Banken transferieren. Derzeit speisen Japans Banken ihre Kunden mit historischen Niedrigzinsen von 0,05 Prozent ab. Die Regierung käme durch den Finanz-Exodus in arge Telefoniererin mit Iridium-Handy Bedrängnis: Jahrelang hat sie sich aus den Einlagen der Postsparkasse bedient, SATELLITEN-TELEFON US-Konzern Motorola angeführte Fir- um Konjunkturprogramme zu finanzie- mengruppe bereits 1998 rund 40 000 ren oder Staatsanleihen am Markt zu Kunden gewinnen – 180 Millionen stützen. Um den Postsparern ihre Gut- Teurer Flop Dollar hatte das Iridium-Konsortium haben auszahlen zu können, müßte der dazu in Werbung gesteckt. Bis Ende die- Staat sich weiter verschulden, fürchtet er Satellitentelefondienst Iridium ses Jahres sollte die Zahl dann auf eine der Tokioter Wirtschaftsprofessor Dsteht vor einschneidenden Um- halbe Million steigen und im Jahr 2002 Satoru Matsubara: „Das könnte die strukturierungen, die sich auf alle Un- die Drei-Millionen-Marke erreichen. Anleihemärkte stark verunsichern.“ ternehmensbereiche auswirken. Ver- Nach dem Fehlstart und dem überra- trieb, Marketing und die Tarife sollen schenden Rücktritt von Firmenchef Ed „in den nächsten Wochen“ grundlegend Staiano werden nicht nur die Banken umgestaltet werden, heißt es aus dem nervös, auch die Anleger verlieren all- Unternehmen. Grund ist der enttäu- mählich die Hoffnung. Die Iridium- schende Geschäftsverlauf: Die Betrei- Aktie, die im vergangenen Jahr bis ber des rund fünf Milliarden Dollar teu- auf 72 Dollar geklettert war, kostet in- ren Systems haben ein halbes Jahr nach zwischen weniger als 9 Dollar. Einige dem Start des globalen Handy-Netzes Aktionäre haben mittlerweile Klage we- nur 10300 zahlende Kunden gewonnen. gen falscher Informationspolitik gegen

Nach früheren Plänen wollte die vom den Konzern eingereicht. DPA Japanische Banknoten

LANDWIRTSCHAFT OST Bonn fordert nach uf mehr als tausend Landwirte und Agrargenossenschaf- Aten in Ostdeutschland könnten schon bald Forderungen in Millionenhöhe zukommen. Die Betriebe hatten in den vergan- genen Jahren teilweise zu einem Drittel der marktüblichen Preise Wiesen und Äcker vom Bund erworben. Die Europäi- sche Kommission hatte den Billigverkauf der Flächen für wettbewerbswidrig erklärt. Um weiteren Ärger mit Brüssel zu vermeiden, will die Bundesregierung jetzt nachfordern. Die Käufer sollen, so heißt es in einem Vermerk des Bundesfinanz- ministeriums, die Differenz bis zur Höhe von maximal 65 Prozent des Marktpreises nachzahlen. Dieser Satz soll auch bei künftigen Verkäufen gelten. Auf diese Weise wird nach An-

sicht der Bonner Ministerialen die zulässige Beihilfehöhe nicht LANGROCK / ZENIT P. überschritten. Leinsaaternte in Mecklenburg-Vorpommern

80 der spiegel 21/1999 Geld

ENERGIE-AKTIEN Comeback der Versorger ie Aktien der beiden Energieriesen pendelten sich bei knapp 45 Euro ein, Geschäftsbereichen“, heißt es bei Auf- DRWE und Veba haben in den ver- nachdem das Papier in diesem Jahr schon sichtsratsmitgliedern der Veba, sei „noch gangenen Wochen deutlich zugelegt. für 37 Euro gehandelt worden war. Es ist kein Konzept“. Es ist äußerst fraglich, ob Grund für den Kurssprung ist eine radi- jedoch nicht auszuschließen, daß es sich sich die beiden Ruhrkonzerne tatsäch- kale Änderung der Strategie. Hatten sich dabei nur um ein Zwischenhoch handelt. lich gegen Stromgiganten wie die fran- die NRW-Konzerne in der Vergangenheit „Allein der Verkauf von zahlreichen zösische EDF durchsetzen können. als Konglomerate positioniert und zahl- reiche neue Geschäftsfelder wie die Telekommunikation oder das Elektro- RWE-Aktie VEBA-Aktie Kurs in Euro Kurs in Euro nik-Geschäft aufgebaut, wollen sich 58,20 Veba-Chef Ulrich Hartmann und sein 50 58 Konkurrent Dietmar Kuhnt nun wieder 48 56 auf das Kerngeschäft konzentrieren. Stromkonzerne von Weltformat, heißt es, 46 44,60 54 sollen entstehen. Danach werden Rand- 44 52 bereiche, die nicht in dieses Konzept pas- sen, verkauft oder an die Börse gebracht. 42 50 Die an kurzfristiger Gewinnmaximierung 40 48 orientierten Börsianer quittierten die neuen „Geschäftsmodelle“ der beiden 38 46 Stromriesen mit kräftigen Zukäufen. Der 36 44 Quelle: Datastream Kurs des Veba-Papiers kletterte auf mehr Januar Feb. März April Mai Januar Feb. März April Mai als 58 Euro, und auch RWE-Stammaktien

AUTO-VERSICHERUNGEN Haftpflicht wird teurer ie Autoversicherer heben die Prämien an. So verlangen DAllianz und Huk-Coburg in der Autohaftpflicht im Schnitt fünf Prozent mehr. Die meisten Wettbewerber wollen bald mit ähnlichen Aufschlägen folgen. Seit der Liberalisierung der Ver- sicherungsmärkte hatten die Versicherer ihren Kunden vom Lady- bis zum Garagenrabatt immer neue Nachlässe gewährt. Die Prämien sanken zwischen 1995 und 1998 um gut 20 Pro- zent. Die Folge waren Verluste von drei Milliarden Mark im vergangenen Jahr. Nun versuchen die Versicherer eine Trend- wende. Obwohl die Preiserhöhungen nur für Neuverträge gel- ten, kann es im Einzelfall sinnvoll sein, in einen neuen Tarif zu Prior wechseln: Die Huk-Coburg etwa offeriert zusätzliche Rabatte für Familien mit Kindern, Hausbesitzer und Berufsgruppen BÖRSENBRIEFE wie Ingenieure, Architekten oder Rechtsanwälte. Guru im Minus och vor einem Jahr wurde der Finanzjournalist Egbert NPrior, 35, von seinen Anhängern als „Meister“ gefeiert, als „ der Börse“. Nun ist es still geworden, um den Barden wie um den Guru. In der „3Sat-Börse“ darf Prior kei- ne Aktientips mehr verbreiten. Von der Staatsanwaltschaft wurde er angeklagt, Insidergeschäfte betrieben zu haben. Und in seinem Brief „Prior-Börse“ mehren sich die Flops. Sein Mu- sterdepot rutschte ins Minus. Die Kurse von Mobilcom und Te- les, seit 1998 im Depot, sind zuletzt kräftig gefallen. Auch mit seinen jüngsten Tips, etwa für Infomatec, griff Prior oft dane- ben. Solche Mißgeschicke können den Meister nicht erschüt-

tern. Der Kurssturz sei „durchaus erfreulich“, sagt er, denn be- DPA ste Aktien seien nun „auf dem Wühltisch“ zu haben. Unfallwagen

der spiegel 21/1999 81 Consors-Chef Schmidt im Call- center der Nürnberger Bank F. BOXLER F. Konditionen ausgewählter Direktbanken Allg. Deutsche Direkt Anlage Advance Bank Direktbank Comdirekt Bank 24 Bank Consors Kontoführungs- kostenlos 7,82 Mark kostenlos, nach kostenlos, nach kostenlos 1 Mark gebühr dem ersten Jahr dem ersten Jahr monatlich 5 Mark 5 Mark Dispokredit 9,35% 7,95% 9,0% 9,2% 4,2 bis 4,7 %, je 4,95% Zinssatz nach Depotvolumen Überziehungs- 14% 11,95% 12,0% 13,2% 6,7% steht nicht kredit, Zinssatz zur Verfügung Karten EC-Karte inkl., EC-Karte und EC-Karte und EC-Karte inkl. Eurocard mit Tele- EC-Karte 10 Mark, jährliche Gebühr Eurocard 50 Mark Visa inkl. Visa inkl. fonchip 45 Mark Eurocard 40 Mark Tagesgeldzinsen 1,9% 2,5 %1,9% 2,0% Zinsen erst 1,84% bis 10000 Mark ab 30000 Mark Brokingprovision 50 Mark 50 Mark 49 Mark 61,55 Mark 31,12 Mark 34 Mark Aktien: 10000 Mark Depotgebühren 79 Mark23,48 Mark 20 Mark 19,56 Mark 24 Mark 29 Mark jährlich mindestens Geldautomaten 6000weltweit 780000 6000 6000 1100 130 mit kostenloser Nutzung mit Visa-Karte Internetadresse advancebank.de direktbank.de comdirekt.de bank24.de diraba.de consors.de

BANKEN Angriff auf die Dinos Neue, junge Geldhäuser setzen den etablierten Kreditinstituten zu. Sie haben einen kleinen Apparat und keine Filialen, vor allem aber nutzen sie das Internet. Die traditionsreichen Großbanken suchen nach einer Abwehrstrategie – bisher wenig erfolgreich.

er Parkett-Neuling gab sich locker Es war ein großer Tag für Karl Matthäus nen Schlag mit 3,4 Milliarden Mark. Damit und frech: „Wir sind die Leute, vor Schmidt, 30, den Chef der Direktbank ist Consors, nach Marktkapitalisierung, die Ddenen Sie Ihr Anlageberater immer Consors – und möglicherweise ein folgen- fünftgrößte Bank in Deutschland. gewarnt hat“, prangte da auf großen Let- schwerer für das deutsche Finanzgewerbe. Mit einemmal wurde deutlich, was in tern vor der Frankfurter Börse. Dazu hin- Denn die Börse, an der ja die Zukunft der Öffentlichkeit bisher wenig Beachtung gen schwarze Flaggen auf halbmast – als gehandelt wird, bewertete den Aufsteiger fand: Das deutsche Geldgewerbe steckt in Symbol für den „Trauertag der Banken“. aus der Provinz an diesem 26. April auf ei- einem tiefgreifenden Wandel.

82 der spiegel 21/1999 Wirtschaft

Was in der Vergangenheit die Stärke der Orders über die Tastatur ihres Telefons im te aufnahm – als eine Art Hinterzimmer- etablierten Banken war, ihr großer Appa- Touch-Tone-Verfahren ab. Ein Prozent der Bank in einem 16 Quadratmeter großen rat mit Filialen an jeder Ecke, ist plötzlich Kunden faxt die Aufträge an den Discount- Büro im vierten Stock eines ehemaligen kostenträchtiger Ballast: Die neuen Her- Broker. Hotels in der Nürnberger Altstadt. Und ausforderer haben einen kleinen Apparat Kein Zweifel: Online-Broking, der Wert- ohne Kunden. und null Filialen. Alles was sie brauchen, papierhandel über Internet und T-Online, Gebannt blickten die fünf Mitarbeiter ist ein Rechner und vielleicht noch ein ist der Wachstumsmarkt der Finanzindu- des Wertpapierhauses damals vom Fax- Call-center – mehr nicht. strie schlechthin. Marktforscher rechnen gerät zum Telefon – und umgekehrt. Alle- Die Aufsteiger sind schneller und fle- in Deutschland im Jahr 2002 mit vier Mil- samt waren sie unter 27, Kleinaktionäre – xibler, sie verzichten auf Geschäfte, die lionen Kunden – die von mittlerweile ei- und wahnsinnig aufgeregt. Doch die Ap- nichts einbringen, und sie sprechen vor al- nem Dutzend Direktbanken und Discount- parate schwiegen. lem junge Kunden an. Das macht sie für die Brokern heiß umworben werden. Vergan- Statt dessen klingelte es an der Haustür. Dinos der Branche so gefährlich. genes Jahr waren es erst 500000 Kunden. Bankchef Schmidt, gerade 25 Jahre alt und Schon im vergangenen Jahr bewältigte Auch im Service sind die Discounter den noch Student, drückte auf den Öffner. Ein Consors 2,8 Millionen Transaktionen für althergebrachten Geldhäusern haushoch Fahrradkurier in leuchtend rotem Outfit knapp 100000 Kunden. Dieses Jahr wer- überlegen. Auf ihren Internet-Seiten kön- betrat das Kämmerchen und fragte nach den sich die Zahlen mehr als verdoppeln. nen Kunden schon seit Jahren Tausende den Formularen für eine Depoteröffnung. Und das rasante Wachstum hält an – glau- von Aktienkursen abfragen, bei der Com- Mit den Anträgen radelte er zum Flug- ben zumindest Frankfurter Bankanalysten. direkt, einer Commerzbank-Tochter, mitt- hafen. Die Unterlagen gingen zu einem Denn Consors bedient 70 Prozent seiner lerweile sogar „real time“ – ohne die sonst reichen Unternehmer in Berlin, der noch Kunden online, nur 29 Prozent geben ihre üblichen 15 Minuten Zeitverzögerung. am selben Tag die ersten Aktien orderte. Jede Online- oder Touch- „Der Mann hat regelrecht auf uns ge- Tone-Order wird bei Con- wartet“, erinnert sich der Consors-Chef, Bank-Zentralen in Frankfurt sors und Konsorten binnen „die Zeit war reif – und wir waren da.“ Minuten vollelektronisch Tatsächlich hat Schmidt mit Consors den ausgeführt und per E-Mail Nerv einer Zeit getroffen, den die Frank- bestätigt. Die Großbanken furter Geldhäuser damals noch nicht er- verschicken dazu meist kannten – und mit dem sich einige auch Briefe, die den Kunden erst heute noch schwertun. zwei Tage später erreichen. Es war der zaghafte Beginn der Börsen- Obendrein entwickeln kultur in Deutschland. Die erste Genera- die Discounter ständig tion der Computerkids bevölkerte die Unis. neue Produkte und An- Sie redete, vor allem an den Wirtschafts- gebote. So hat Consors mit fakultäten, über Aktien. dem „BrokerBoard“, ei- Selbst im verschlafenen Nürnberg gab es nem Chat-Room für Wert- schon einen studentischen Investmentclub, papier-Zocker, die wohl zu dem auch Schmidt gehörte. „Wir haben kultigste Veranstaltung im uns maßlos über die hohen Gebühren der deutschen Finanzgewerbe Banken geärgert“, erinnert er sich, „und etabliert – eine Art Börsen- über die schlechte Beratung der Kunden- tratsch im Schutze anony- betreuer, die auch nicht mehr wußten, als mer Decknamen. in ‚Börse Online‘ stand. Darauf konnten Der „Cybersparer“ wir getrost verzichten.“ empfahl dort vergangenen Da kam Schmidt der Gedanke, ein Dienstag erneut die Akti- Wertpapierhaus zu gründen, das seine en des Finanzhauses Pacific Kunden nicht berät, statt dessen aber Rim: „Tolle Firma …“ „Big weniger als ein Drittel der in den Groß- Deal“ unkte zurück: „Na, banken üblichen Gebühren kassiert – und du mußt aber viele haben die Orders obendrein binnen einer Stunde …“, während sich „Web- ausführt und bestätigt. Am Kneipentisch bie“ für den Tip bedankte: verfeinerte er die Idee mit seinen Kom- „Bin schon seit ein paar militonen. Wochen drin. Die ent- Schmidt, jüngster Sproß einer über wickeln sich super.“ 170jährigen Privatbanker-Dynastie, konnte „Natürlich wird da viel seinen Vater als Finanzier gewinnen. Karl Unsinn kolportiert“, sagt Gerhard Schmidt, Chef der SchmidtBank Schmidt, „aber das ist in in Hof, gab dem Sohn zwei Millionen Mark den Handelsräumen der – und ließ ihn gewähren. Das Geld war, Banken nicht anders. Bei wie sich jetzt zeigte, gut angelegt. uns können auch Kleinak- Ganz neu allerdings war Schmidts Idee tionäre an der Gerüch- nicht. In den USA hatte Charles Schwab, teküche teilnehmen.“ Der ein ehemaliger, recht erfolgloser Fonds- Service findet regen An- manager, bereits 1971 den gleichnamigen klang: Rund 400 000 Ak- Discount-Broker gegründet. Auch sein tionäre klicken sich täglich Wertpapierhaus fristete zunächst ein Mau- ins BrokerBoard ein. erblümchendasein, um dann plötzlich Dabei ist es gerade fünf durchzustarten. Mittlerweile wickelt Jahre her, daß Consors, am Schwabs gigantisches Computercenter in

R. BOSSU 13. Juni 1994, die Geschäf- Phoenix ein Drittel aller Internet-Orders in

der spiegel 21/1999 83 Wirtschaft den USA ab – und damit jeden 20. ameri- schmelzen, nachdem die Anlaufverluste kanischen Wertpapierauftrag. eine halbe Milliarde Mark überschritten Das Internet verändert das Bankgewer- haben dürften. Bei der HypoVereinsbank be wie keine andere Technik zuvor.Wer zu wird für die schon 1994 gegründete Direkt spät kommt, den bestraft der Kunde – Anlage Bank (DAB) Ähnliches erwogen – durch Abwanderung. zum Leidwesen von DAB-Chef Matthias Während Merrill Lynch und die anderen Kröner: „Damit würden wir mit einem großen Investmentbanken gerade erst be- Schlag unser innovatives Image verlieren“, gonnen haben, ihren Kunden einen – wenn fürchtet der Bankchef, der jedes Jahr über auch rudimentären – Online-Service zu 25000 neue Kunden gewinnt – weit mehr bieten, sind bereits sieben Millionen Ame- als seine große Mutter. rikaner zu den Discount-Brokern überge- Die Suche nach der richtigen Strategie laufen. Ende des Jahres werden es, so für die Zukunft ist für die Großbanken von schätzen Experten, zehn Millionen sein. existentieller Bedeutung. Können sie sich Der Rückstand ist für die Platzhirsche selbst erneuern und ihre alten Strukturen der Wall Street kaum aufzuholen. Denn den neuen Erfordernissen anpassen? Wenn Schwab und seine Mitbewerber, darunter nicht, werden ihnen die Newcomer einen E*Trade und Ameritrade, bauen ihren Ser- immer größeren Teil des besonders lukra- vice radikal aus. tiven Geschäfts wegschnappen. Die Schnelligkeit dieser Entwicklung Genau davor haben sie Angst. Selbst die überfordert die steifen, verkrusteten Struk- genossenschaftlichen Sparda-Banken grün- turen und Apparate des althergebrachten deten deshalb vor vier Wochen mit der Finanzgeschäfts. Auch deshalb tun sich die NetBank AG eine reine Internet-Bank, die etablierten Geldhäuser diesseits und jen- mit nur zehn Mitarbeitern im Herbst auch seits des Atlantiks so schwer, den Anschluß in das Online-Broking einsteigen will. zu finden. Zwar gründete die Commerz- bank schon im Februar 1995 ihre Tochter Comdirekt, die Deutsche Bank folgte im Aktienkurse von 1000 Aktienkurse von September mit der Bank 24. Doch die Direkt-Brokern großen Institute waren zu sehr dem tradi- 1. Januar 1998 = 100 tionellen Denken verhaftet, um für ihre Di- 800 rektbanken radikal neue Wege zu suchen. „Wir haben den Fehler gemacht, unseren Kunden den gesamten Standardservice 600 einer Bank bieten zu wollen – nur eben ohne Beratung, über andere Kommunika- 400 tionswege und ohne Filialen“, sagt Bernt E*Trade Weber, einer der Chefs von Comdirekt. Charles Schwab Die Vereinsbank wollte damals mit ihrer 200 Quelle: Tochter Advance Bank noch nicht einmal Datastream auf die Kundenberatung verzichten. Sie 100 hat den Fehler eingesehen und die Tochter 1998 1999 JMMJSNJMM 1998 für 250 Millionen Mark an die Dresd- ner Bank verkauft. In einer Art Tor- schlußpanik griff das Institut zu. Denn ihre Die SchmidtBank hat den Sprung in die eigene Direktbank war erst im Aufbau und Zukunft schon geschafft – über ihre Toch- hatte nicht einmal einen Namen. ter Consors, die das Mutterhaus längst Noch behält die Dresdner Bank das überholt hat. Seit zwei Jahren schon Zwitter-Konzept bei. Doch der Mißerfolg wickelt das Traditionshaus seine Transak- zeichnet sich bereits ab. Die Verluste der tionen über Consors ab – und sanierte sich Tochter stiegen im vergangenen Jahr um 56 aus dem Erlös des Börsengangs von Ostim- Prozent auf 200 Millionen Mark. „Die Ad- mobilien-Schieflagen im dreistelligen Mil- vance Bank präsentiert Ihnen das Wetter – lionenbereich. Doch warum ist ausgerech- aber sonst hört man nicht viel von ihr“, net der SchmidtBank gelungen, woran vie- spotten die Konkurrenten. le andere noch mühsam arbeiten? Radikaler – und erfolgreicher – geht die „Wir hatten unsere Spielwiese, konnten Commerzbank vor. „Discount-Broking ist unsere Träume ungehindert leben“, sagt das einzige profitable Segment in dem Ge- Schmidt junior, „und waren nicht in den schäft – alles andere ist Ballast“, sagt We- Fängen eines Vorstandes gebunden. Aber ber. Er hat seine Comdirekt deshalb ziel- wenn wir die Erfahrung meines Vaters strebig in Richtung Wertpapierhandel ge- brauchten, dann war er da.“ trimmt. Mittlerweile macht sie als einzige Auf die will er auch weiterhin nicht ver- Direktbank neben Consors Gewinn. Im Juli zichten, auch wenn der Vater, wie er sagt, will er das Unternehmen in eine AG um- vom Internet nichts versteht. Schmidt se- wandeln. Weber: „Wir denken auch über nior nimmt’s gelassen. „Ich versuche, es zu einen Börsengang nach.“ verstehen. Und ich frage natürlich auch. Die Deutsche Bank verfolgt genau das Aber in der Consors-Geschäftsleitung gegenteilige Konzept. Sie wird ihre Bank könnte ich wohl tatsächlich nicht mitar- 24 mit dem Privatkundengeschäft ver- beiten.“ Wolfgang Reuter

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Im Novartis-Mais ist die Natur gleich Deutschland-Chef Dieter Wißler zurück, LEBENSMITTEL dreimal nachgebessert worden. Ein Mar- sei man zu Gesprächen bereit. kierungsgen schützt Bt 176 gegen das Un- Bis Montag voriger Woche konnte An- Auf die krautvernichtungsmittel Basta. Ein zwei- drea Fischer davon ausgehen, den Gen- tes Gen, das Bodenbakterium Bacillus mais-Fall auf die sanfte Art gelöst zu ha- thuringiensis (Bt), produziert in der Mais- ben. In einer gemeinsamen Erklärung des sanfte Art pflanze ein Gift, das die Larve des Mais- Gesundheitsministeriums und des Novar- schädlings Maiszünsler tötet. Und schließ- tis-Konzerns wollte das Unternehmen ver- Der Novartis-Konzern verkauft lich hilft ein drittes implantiertes Gen, das sichern, in Zukunft auf Markierungsgene Resistenz gegen das Antibiotikum Ampi- zu verzichten, „die eine Resistenz gegen in Deutschland gentechnisch cillin bewirkt, den Chemikern und Biolo- therapeutisch bedeutsame Antibiotika in verändertes Mais-Saatgut, und gen, schnell und sicher den Bt-Mais wie- Mikroorganismen bewirken könnten“. Die das will er, trotz grüner derzuerkennen. weitere Verwendung von Bt 176 Mais soll- Proteste, auch weiterhin tun. Es ist besonders dieses sogenannte Mar- te von strikter Kontrolle durch Bundes- kierungsgen, das den Novartis-Mais in behörden begleitet werden. Novartis woll- as Problem heißt Bt 176 Mais, Verruf gebracht hat. Da die Biologen nicht te versprechen, Bt 176 Mais sobald wie stammt aus den Labors des Schwei- vollständig ausschließen können, daß dieses möglich durch eine Sorte ohne Antibioti- Dzer Chemie- und Pharmakonzerns Resistenz-Gen aus der Pflanze an Krank- ka-Marker zu ersetzen. Novartis und ist das erste kommerzielle heitserreger des Menschen weitergegeben „Wir wollten eine neue Kultur im Um- genveränderte Agrarprodukt, das in werden kann, fürchten Ärzte eine Resi- gang zwischen der Industrie und uns ein- Deutschland angebaut wurde, zum ersten- stenzzunahme gegen eine ganze Gruppe leiten“, heißt es im Hause Fischer. mal im vorigen Jahr auf 350 Hektar. von Penicillin-Wirkstoffen. Diese aber, so Die Gesundheitsministerin hätte den An- Zur Erntezeit im vergangenen Herbst schrieben Verbraucherverbände und Ärzte bau dann als einen großen Freilandversuch gab es heftige Proteste. Verbraucherver- im vorigen Jahr in einem offenen Brief an unter ihren Fittichen verkaufen können. Ein Anbauverbot hätte sich erübrigt. Eine entsprechende Rege- lung hat die britische Regie- rung für den Anbau genma- nipulierter Produkte einge- führt.Auf der Insel läuft eine dreijährige Beobachtungs- frist, während der zusätzli- che Erkenntnisse über eine eventuelle Gefährdung durch die Genmanipulation gesam- melt werden sollen. Der Fischer-Plan platzte vorige Woche. Novartis-Ma- nager Wißler ließ die Bonner wissen, daß er sein Angebot, diese Zusicherungen öffent- lich in Form einer gemeinsa- men Erklärung abzugeben, leider zurückziehen müsse. Ein allgemeiner, nicht nur für Deutschland geltender ein- seitiger Verzicht der deut- schen Novartis-Manager auf Antibiotika-Resistenzgene war bei der Mutter in Basel und bei den konkurrieren-

ADAIR / GREENPEACE den Kollegen in anderen Greenpeace-Protest gegen Genmais*: Andere EU-Länder haben die Aussaat mit Auflagen belegt Pharmakonzernen nicht gut angekommen. bände, Ärztevereinigungen und Green- die Novartis AG, seien 1996 in Deutschland Jetzt stehen der Bonner Gesundheits- peace forderten die Bundesregierung auf, fast zwölfmillionenmal verschrieben wor- ministerin schwere Zeiten bevor. 18 Tonnen den Genmais zu verbieten.Außer Deutsch- den: gegen Lungen- und Hirnhautentzün- Bt 176 Mais hat Novartis in Deutschland in land und Spanien haben alle anderen EU- dungen, Keuchhusten und Scharlach. diesem Jahr verkauft, die Saat keimt ir- Länder trotz einer generellen Brüsseler Rechtzeitig vor der Aussaat in diesem gendwo in Deutschland auf 480 Hektar. Freigabe die Aussaat von Bt 176 mit re- Frühjahr – Novartis hat die Genehmigung, Im Herbst zur nächsten Erntezeit wird striktiven Auflagen belegt oder verboten. 50 Tonnen Bt-176-Saatgut zu verkaufen, der Druck auf die Grüne im Bonner Ge- Die grüne Gesundheitsministerin An- mit dem 1600 Hektar angebaut werden sundheitsressort, radikal gegen die Aus- drea Fischer versuchte, das Problem auf können – ließ Ministerin Fischer am 14. breitung genveränderter Agrarprodukte in diplomatische Art zu lösen – und scheiter- April bei der deutschen Novartis-Tochter Deutschland vorzugehen, weiter zuneh- te in der vergangenen Woche. anfragen, ob sie bereit sei, „auf die derzeit men. „Spätestens dann haben wir den Ver- rechtlich zulässige Aussaat für dieses Jahr trauensvorschuß, den die Grünen bei den * Vor dem Novartis-Gelände in Basel am 14. September zu verzichten“. Wegen der „hohen poli- Genkritikern haben, verspielt“, fürchtet 1998. tischen Aktualität“, schrieb Novartis- eine Fischer-Beraterin. Heiko Martens

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SPIEGEL: Wann ist für Sie im Gespräch mit Investoren und Analysten der Punkt er- GLOBALISIERUNG reicht, an dem Sie nicht mehr mitspielen? Schweickart: Wenn es um existentielle Fra- gen des Unternehmens geht – wenn zum „Kalter Kapitalismus“ Beispiel ein Forschungsprogramm kritisiert wird, weil es nicht innerhalb kürzester Zeit Altana-Chef Klaus Schweickart über die Macht der großen zu Rückflüssen führt. Auch der Aufbau ei- ner Marke, die erst in vier, fünf Jahren zu Investmentfonds und die negativen Folgen des ersten Ergebnissen führt, stößt bei man- Shareholder-value-Ansatzes für die deutsche Wirtschaft chen Kapitalanlegern auf Unverständnis. Meine Erfahrung ist: Kurzatmigkeit führt Susanne Klatten über eine nicht zu langfristiger Wertsteigerung. Und Großaktionärin verfügen, sie läßt zu wenig Raum für die kulturelle die über 50 Prozent der Verantwortung des Unternehmens.Wir ge- Aktien hält? ben in der Altana-Gruppe Geld für Stif- Schweickart: Ich bin nicht tungen, Kultur, Wissenschaft und Lehr- frech, sondern sage meine stühle aus. Das bringt, kurzfristig betrach- Meinung. Sicher ist un- tet, keine Rendite, dennoch ist es zwin- sere Aktionärsstruktur un- gend notwendig. Eine „Kultur des Förderns gewöhnlich, weil die Ak- und Anstiftens“ ist weiterzuentwickeln. tien unserer Großak- Der Austausch von Wissenschaft, Kunst tionärin auf dem Markt und Wirtschaft, dies schrieb einmal nicht zur Verfügung ste- Günther Quandt, ist eine wichtige Grund- hen. Wir müssen den lage unternehmerischen Erfolgs. Aktienkurs nicht durch SPIEGEL: Stoßen Sie mit solchen Ansichten irgendwelche Storys an- auf Verständnis? reichern, um ihn künst- Schweickart: Das ist sehr unterschiedlich. lich hochzutreiben und Aber ich kritisiere ja nicht die Fondsma- uns damit vor einer dro- nager als kapitalorientierte Anleger. Sie

B. BOSTELMANN / ARGUM henden Übernahme zu stehen im Wettbewerb und müssen sich Ti- schützen. tel und Branchen aussuchen, von denen Schweickart, 55, begann seine Laufbahn SPIEGEL: Sie können sich aus einer gesi- sie glauben, daß sie eine höchstmögliche als politischer Referent in Bonn, bevor ihn cherten Position heraus äußern. Performance bieten. Ich kritisiere nur Aus- der BMW-Großaktionär Herbert Quandt Schweickart: Richtig. Um so mehr besteht wüchse, die aus dem angelsächsischen Be- in seine Unternehmensgruppe holte. Seit die Notwendigkeit, das auch zu tun. reich kommen und die sich bei uns langsam 1990 leitet Schweickart die Altana AG, die SPIEGEL: Haben Sie Verständnis für die Kol- mehrheitlich der Quandt-Tochter Susan- legen, die vorsichtiger sind? Die Altana AG ne Klatten gehört. Schweickart: Ich verstehe, daß die sich stär- ker zurückhalten. Wir machen eine do- UMSATZ in Millionen Mark SPIEGEL: Sie haben auf der Hauptver- sierte, aber transparente Informationspoli- sammlung Ihres Unternehmens öffentlich tik, die auch von den Aktionären geschätzt 2887* 2843 die Macht der Fonds angeprangert. Was wird. Aber ich mache nicht alles mit, was 2003 2630 hat Sie dazu getrieben? die Analysten wollen – zum Beispiel die so- Schweickart: Insbesondere bei angelsäch- genannten Grillpartys, in denen die Un- 2275 sisch geprägten Fonds macht sich zuneh- ternehmensführer von Fondsmanagern re- 1994 95 96 97 98 mend die Tendenz breit, wirtschaftliches gelrecht ins Kreuzverhör genommen wer- * Schätzung der DG Bank Denken ausschließlich auf renditeorien- den. Als Vorstand habe ich Verantwortung GEWINN in Millionen Mark tierte Ziele zu reduzieren. Das ist mir zu für das Unternehmen und nicht nur für die 504 eng. Ein Unternehmen ist mehr als nur eine Rendite der Kapitalanleger.Wir wollen die * Veranstaltung zur Erzielung guter Bilanz- Globalisierungsgewinne, die durch den 125 152 198 werte und optimaler Gewinne. Wir tragen leichteren Zugang zu den Märkten entste- 107 eine gesellschaftliche Verantwortung für hen, nicht nur dazu nutzen, die Aktionäre das Gemeinwohl. Die wird durch eine ag- gut zu behandeln. Das Unternehmen hat 1994 95 96 97 98 gressive Shareholder-value-Politik minde- eine Bringschuld gegenüber der Gesell- MITARBEITER 7780 stens unterlaufen, wenn nicht zerstört. schaft. STRUKTUR SPIEGEL: Sind Sie verärgert, daß die Altana- SPIEGEL: Worin besteht die? Aktie von den Fondsmanagern nicht so ge- Schweickart: Unternehmen partizipieren schätzt wird? in hohem Maße an den kulturellen Lei- Schweickart: Wer als Anleger mittel- und stungen einer Gesellschaft. Nehmen Sie Strategische Management Holding langfristig denkt, fühlt sich bestens bei uns das Beispiel Bildung: Deutschland kann in aufgehoben. Unsere Rendite von 17 Pro- Zukunft nur ein Wirtschaftsstandort blei- zent pro Jahr im zehnjährigen Anlagezeit- ben, wenn es auch ein Bildungsstandort raum liegt deutlich über der Wertentwick- ist. Die Rahmenbedingungen hierfür kann lung der Aktienindices Dax und M-Dax. der Staat nicht allein bieten. Hier besteht Ich kann daher Dinge ansprechen, die mir auch eine gesellschaftliche Verantwortung BYK-Chemie, Byk Gulden, mißfallen. der Unternehmen! Dies übersehen die Spezialchemie: Pharmazeutik: Additive, Speziallacke, Therapeutika, SPIEGEL: Können Sie so frech gegenüber Apologeten eines einseitigen Shareholder- Meßinstrumente Diagnostik den Fondsmanagern auftreten, weil Sie mit value-Ansatzes.

88 der spiegel 21/1999 breitmachen. Ein kalter Kapitalismus, der ausschließlich die Gewinne maximiert, führt zu einer Krise unseres Systems und zu einer mangelnden Akzeptanz der so- zialen Marktwirtschaft. SPIEGEL: Hat die geringe Macht der Ak- tionäre in Deutschland nicht vor allem dazu geführt, daß die Manager auch bei Fehlleistungen ein angenehmes Leben führen konnten? Schweickart: Sicherlich. Daß durch die Glo- balisierung der vergangenen Jahre der Wind der Herausforderungen auch für Vor- stände härter geworden ist, ist sogar gut. Ein Unternehmen muß sich am Markt mit den dort herrschenden Regeln auseinan- dersetzen und behaupten. Sonst hat es kei- ne Existenzberechtigung. Das heißt aber nicht, daß die Anzahl der Entlassungen ein Ausweis für unternehmerisch hervorra- gende Leistungen ist. SPIEGEL: Dennoch feiert die Börse jeden Sanierungsplan mit einem Kursfeuerwerk. Schweickart: Daß da ein Zusammenhang besteht, ist mir klar. Aber wenn ich mich vor Investoren brüste, wieviel Arbeits- plätze ich innerhalb kürzester Zeit ver- nichtet habe, stimmt etwas nicht. Wenn die Unternehmen ihre Kostenprobleme einzelwirtschaftlich lösen, belasten sie die Volkswirtschaft. Je mehr Leute sie aus dem einzelnen Unternehmen entlas- sen, um so stärker wird die Belastung der Arbeitslosen- und Rentenversiche- rung. Das wiederum führt dann dazu, daß diese Unternehmen über die Lohn- nebenkosten mit Zusatzkosten belastet werden, die sie möglicherweise aus dem Lande treiben. SPIEGEL: In Deutschland gibt es einige Un- ternehmenslenker wie Jürgen Dormann von Hoechst, die sich vom Shareholder- value-Ansatz leiten lassen. Werden sie erfolgreich sein? Schweickart: Ich will mich nicht über an- dere Unternehmen auslassen, schon gar nicht über solche, die in einer anderen Liga spielen. Aber verfolgen Sie mal die soge- nannten Shareholder-value-Stars der ver- gangenen zwei, drei Jahre in Deutschland. Die waren zeitweise die Lieblinge angel- sächsischer Investoren und bekamen bis zu 40 Prozent ihres Kapitals durch angel- sächsische Fonds.Wenn die sich dann kurz- fristig zurückziehen, brechen die Dämme. Ich rate meinen Kollegen, stabiler und här- ter zu sein, selbst auf die Gefahr hin, daß die Kursentwicklung ihrer Aktie vorüber- gehend darunter leidet. SPIEGEL: Ist Ihrem Haupteigentümer der Kurs etwa gleichgültig? Schweickart: Natürlich sind dem Großak- tionär langfristig steigende Kurse wichtig. Aber es fehlt die Kurzatmigkeit, die sich in erratischen Ausschlägen des Aktienkurses äußert. Insofern sind wir für einige exzes- sive Fondsmanager langweilig, aber damit können wir wunderbar leben. Interview: Armin Mahler, Christoph Pauly

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MANAGER „Die Bombe tickt“ Er attackiert Politiker und Unternehmerkollegen, er kritisiert das Fusionsfieber und die Subventionsmentalität seiner Konkurrenten – Porsche-Chef Wendelin Wiedeking ist der Provokateur unter Deutschlands Managern. Die Kollegen sind entsetzt. GAMMA / STUDIO X Porsche-Vorsitzender Wiedeking, Gast Fischer (bei der Feier zum 50jährigen Firmenjubiläum 1998): Der Obergrüne fühlte sich „wie ein Atheist

en Mann in der Kneipe hält es „Das darf doch nicht wahr sein“, sagt nige Konzernführer vor ihm. Sein Vorstoß kaum auf seinem Stuhl. „500 Mil- der Porsche-Vorsitzende. Und im Grunde für den Subventionsabbau erinnert an Al- Dlionen sollen die kriegen, das muß müßten ihm alle Unternehmer recht ge- fred Herrhausen, den einstigen Chef der man sich mal vorstellen“, sagt er und don- ben. Wenn die Industrie eine Senkung der Deutschen Bank, der einen Schuldenerlaß nert, bum, mit der Faust auf den Tisch. Unternehmensteuern fordert, sollte sie für Staaten der Dritten Welt forderte.Auch „Eine halbe Milliarde.“ Bum. „Und für auch sagen, wie dies zu finanzieren ist – Herrhausen wollte verkrustete Strukturen was?“ Damit sie eine Fabrik erneuern, die durch Subventionsabbau beispielsweise. aufbrechen. Und die Reaktionen sind heu- durch Mißmanagement in Schwierigkeiten Nur: So etwas sagt man doch nicht. te nicht viel anders als damals. kam. Bum. Die Gläser wackeln. Schon gar nicht öffentlich. Kassieren und Um die Sache mag kaum einer streiten. Die Wut mag zunächst inszeniert wir- schweigen, lautete der Comment unter den Denn gute Argumente gab es gegen den ken. Doch wer Wendelin Wiedeking an die- Konzernführern. Bis Wiedeking aufmuck- Schuldenerlaß kaum und gibt es gegen ein sem Abend erlebt, spürt schnell: Der Mann te und forderte: „Die Automobilindustrie Streichen der Subventionen nicht. Statt ist wirklich sauer. Und er zeigt es auch, di- darf keine Mark mehr erhalten.“ dessen aber werden die Verkünder der un- rekt und offen, wie es seine Art ist. Die Branche ist, einmal mehr, entsetzt angenehmen Botschaften attackiert. Namen nennt der Porsche-Chef nicht. über den Provokateur aus Stuttgart. Der Die inzwischen abgewählte Regierung Muß er auch nicht. Es ist klar, daß er den Chef von BMW, Joachim Milberg, regte Kohl machte es vor. Der Porsche-Chef habe Konkurrenten BMW meint, der für die Sa- sich auf.Andere fragen, was treibt den Wie- „seine politische Bildung wohl aus einem nierung des Rover-Werks in Longbridge deking bloß? Autokatalog“, schäumte der damalige knapp eine halbe Milliarde Mark Subven- Der Porsche-Lenker setzt seit einiger Wirtschaftsminister Günter Rexrodt. Und tionen bekommen soll. „Und dann drohen Zeit die Themen, über die dann oft repu- DaimlerChrysler-Boß Jürgen Schrempp manche noch damit, die Fabrik sonst in ei- blikweit debattiert wird: Erst attackierte rief dem Konkurrenten kürzlich auf einem nem anderen Land zu bauen.“ Im Privat- Wiedeking den damaligen Finanzminister Fest in Baden-Baden zu: „Ey Wendelin, leben könnte man dies einen Erpressungs- Theo Waigel („Die Steuerreform ist eine was du da über die Gefahren der Fusionen versuch nennen. „Ja, wo sind wir denn?“ Lachnummer“) und Kanzler Helmut Kohl gesagt hast, ist doch großer Mist.“ In einer Marktwirtschaft, in der selbst („Ihm fehlt das Verständnis für die Wirt- Inzwischen erreichen den Porsche-Vor- Konzerne mit Milliardengewinnen ganz schaft“). Dann kritisierte er das Fusions- sitzenden auch kaum verhüllte Drohun- selbstverständlich Subventionen kassieren. fieber („Reine Profitorientierung ist zuwe- gen. Er solle besser überlegen, so ein Au- In der Industrievertreter harte Einschnitte nig“). Und jetzt tritt er eine Diskussion tomanager, mit wem er sich anlege. Klarer bei Sozialleistungen fordern und zugleich über den Unsinn der Subventionen los. Hinweis darauf, daß der kleine Sportwa- Subventionen verteidigen – als könnten Der Mann mit dem Schnauzer mischt genhersteller abhängig ist von den Großen Konzerne nicht ohne Stütze leben. sich ein in die politische Debatte wie we- der Branche, die fast alle im Porsche-Ent-

92 der spiegel 21/1999 wicklungszentrum Details ihrer Fahrzeuge Rücksichten nimmt der Mann, der seit nicht zum Außenminister geadelt war, son- konstruieren lassen. der Sanierung der konkursbedrohten dern als Todfeind der Autoindustrie galt: Die meisten Industrieführer würden sich Sportwagenfirma zu den erfolgreichsten den Obergrünen Joschka Fischer. Kurz vor in solcher Lage öffentlich nur noch zum Automanagern zählt, jedenfalls nicht. „Ich Beginn des Festes drohten CDU- und FDP- Wetter äußern, wenn überhaupt. Wiede- bin völlig unabhängig“, sagt Wiedeking von Politiker, die Veranstaltung zu boykottie- king aber setzt einen drauf, schreibt an EU- sich, „persönlich, finanziell und im Kopf.“ ren. Der aufmüpfige Porsche-Lenker spür- Wettbewerbskommissar Karel Van Miert Die Basis dafür legte er während des te: Wenn es zum Eklat kommt, hat er ein und macht ihn noch richtig heiß. Maschinenbaustudiums in Aachen. Damals Problem. Doch dann reagierte er wie stets, Die „flächendeckende Begehrlichkeits- gründete er mit seinem Bruder eine Im- wenn Gefahr droht: Er ging direkt auf sie haltung der Kfz-Hersteller“, schreibt der mobilienfirma. Gemeinsam verkauften sie zu und entschied, „das ziehen wir durch“. Porsche-Vorsitzende, habe zu einem „Sub- 50 Einfamilienhäuser, die eine etablierte Die Veranstaltung wurde dann eine wun- ventionswettlauf der Regionen“ geführt. Firma nicht los wurde. Später gründeten sie derbare Werbeaktion für die Sportwagen- weitere Firmen, auch Bauträger. Und für firma. Fischer war eloquent und witzig.Auf Wiedeking, in dessen Familie es noch etwas die Frage des Moderators, wie er sich als Besonderes war, wenn mittags Fleisch auf Grüner bei Porsche fühle, sagte Fischer: den Tisch kam, festigte sich ein Fundament „wie ein Atheist beim Vatikan“. Und die aus konservativen Werten: Jeder kann es Berichte über das Fest verbreiteten die schaffen, wenn er intelligent ist, den unbe- Botschaft: Porsche ist weltoffen und kein dingten Willen hat und vollen Einsatz zeigt. verbohrter Verein von Wahnsinnigen, die Mit dieser Einstellung brachte der Ma- nur Tempo 280 fahren wollen. schinenbauingenieur Porsche voran. Und Mit solchen und anderen Aktionen ist es wenn er sich nun lautstark in die gesell- Wiedeking gelungen, das Porsche-Image schaftliche Debatte einmischt, dann geht es vorsichtig zu wandeln: Die Sportwagen ihm stets auch um die Sportwagenfirma. sind inzwischen bei vielen sozial akzep- Die alte Regierung griff er vor allem we- tiert. Von Mittelständlern erhält der Vor- gen der Dienstwagenbesteuerung an. Da sitzende gar körbeweise Briefe. Sie for- drohte dem Porsche-Absatz Gefahr. Auf dern, „machen Sie weiter so“, und einer die Probleme fusionierter Konzerne wie fügt hinzu, „mir fehlt leider der Mut“. DaimlerChrysler verweist er, weil deren Bei den großen Konzernen allerdings, Bosse stets behaupten, es könnten nur weiß Wiedeking, hat er sich „nicht viele sechs bis zehn Riesenkonzerne überleben. Freunde geschaffen“. Mancher mag nur Kleine Hersteller wie Porsche hätten nach darauf warten, daß es Porsche schlechter- dieser Logik keine Überlebenschance. geht und der Chef kleinlauter wird. Doch „Das wollen wir doch mal sehen“, sagt das ist nicht in Sicht. Und so kann er wei- Wiedeking und kündigt DaimlerChrysler- ter an seinen kleinen Sprengsätzen basteln.

R. KWIOTEK / ZEITENSPIEGEL R. KWIOTEK Chef Schrempp an: „Bei diesem Thema Widerspruch fordert ihn nur heraus, wie beim Vatikan“ überlassen wir euch nicht die Lufthoheit jener Staatssekretär, der ihn auf einer Po- über den Stammtischen.“ diumsdiskussion belehren wollte, daß vie- Diese überbieten sich mit Subventionen, Getrieben wird Wiedeking von Themen, le Branchen Subventionen benötigten. „Ich wenn es um den Bau eines neuen Werks die ihn aufregen. Getrieben wird er aber kann nur für meine Branche sprechen“, geht, um Nachteile ihrer Standorte auszu- auch durch eine erkennbare Lust an der hat er entgegnet, Firmen „mit goldgerän- gleichen. Zum Vergleich dürfen auch Provokation. „Die Bombe tickt“, sagt er derten Bilanzen brauchen keine Subven- Standorte in Mittel- und Osteuropa heran- dann, „mal sehen, wann sie explodiert.“ tionen. Betroffen aber macht mich Ihre gezogen werden. „Damit lassen sich nun“, Mitunter allerdings muß der Sprengmei- Haltung. Als Politiker verteilen Sie Geld, schreibt Wiedeking, „regionale Nachteile ster fürchten, daß die Brocken ihm selbst das Sie nicht haben, an Leute, die es nicht fast immer begründen.“ um die Ohren fliegen, wie bei seiner bis- brauchen“. Der Autochef kritisiert das „bedenken- lang wohl gewagtesten Aktion. Und dann, erinnert sich Wendelin Wie- los praktizierte oder angedrohte Subven- Zum 50jährigen Firmenjubiläum 1998 deking lachend, „war der mucksmäus- tionsnomadentum“ von Firmen, die dort lud er einen Mann ein, der bis dahin noch chenstill“. Dietmar Hawranek investieren wollen, wo es die höchsten Zuschüsse gibt, und for- Wiedeking-Rivalen Milberg, Schrempp dert, daß „durch ein wesentlich „Ey Wendelin, das ist doch großer Mist“ strengeres Vorgehen der Kom- mission die Gewährung von Bei- hilfen an Unternehmen der Au- tomobilbranche deutlich einge- schränkt wird“. Die Konkurrenten in München verstehen ihre Autowelt nicht mehr. Schickt VW-Chef Ferdi- nand Piëch, privat Anteilseigner bei Porsche, Wiedeking vor, um BMW zu ärgern, fragen sich BMW-Manager? Befriedigt der mit den publikumswirksamen Auftritten seine Eitelkeit, wie manche Kollegen meinen, oder will er sich gar als Piëch-Nach- C. LEHSTEN / ARGUM folger profilieren? KLINK / ZEITENSPIEGEL T.

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ich mich ständig rechtferti- gen, warum ich Polen be- schäftige“, schimpft der junge Spargelbauer. „Die Polen sind mein wichtigstes Kapital“, meint auch der gebürtige Rhein- länder Jörg Buschmann, 37. In seinem Spargelbetrieb in Klaistow, 1991 an Stelle ei- ner verrotteten LPG er- richtet, stechen und sortie- ren über 300 Polen den Spargel. 100 Hektar sind seine Felder groß, die lan- gen folienbedeckten Spar- gelreihen erinnern an die Wellen auf dem Ozean. „Es ist ein Knochenjob“, sagt Buschmann. „Kein Deut- scher wird für diesen Lohn die Arbeit tun. Sollten die polnischen Erntehelfer ei-

FOTOS: K. WOJCIK / FORUM FOTOS: nes Tages ausbleiben, bin Saisonarbeiter beim Spargelstechen in Klaistow: „Wer zurückbleiben mußte, hat bittere Tränen geweint“ ich sofort pleite.“ Höhere Tarife kann er nicht bezah- len: Spanischer und griechischer Spargel ARBEITNEHMER ist schon jetzt wesentlich billiger. Obwohl das Land Brandenburg den deutschen Arbeitslosen, die bei der Ernte „Den Polen sei Dank“ beschäftigt werden, 25 Mark pro Tag zu- schießt, konnte das Arbeitsamt in Potsdam Im Sand von Brandenburg wächst und nicht einmal 15 Prozent der benötigten Spargelstecher vermitteln. Und diese we- gedeiht ein Spargelboom: Doch ohne polnische nigen bringen kaum eine Leistung. „Wozu Saisonarbeiter ginge gar nichts. soll ich mich da anstrengen“, schimpft Jana Hoppe, 31. „Nach zwei Monaten gehe ich in feiner Riß in dem glattgeklopften Dort lebt sie mit Ehemann, einem Mau- doch wieder stempeln.“ Manchmal sehnt Erdwall verrät den Spargel. Die blon- rer, und Kind auf dem Hof ihrer Eltern. sie sich an die alten DDR-Zeiten zurück: Ede Ewa fährt mit der Hand am Sten- „Es reicht vorn und hinten nicht“, sagt die Damals arbeitete sie als Rinderzüchterin, gel hinunter in das Erdreich, schaufelt die Polin. „Von unseren sieben Kühen kann bekam regelmäßig ihr Gehalt und fühlte Erde beiseite und sticht mit einem langen die Familie nicht leben.“ Deswegen kam sich gebraucht. Messer etwa 25 Zentimeter in die Tiefe. sie mit ihrem Zwillingsbruder zur Spargel- Die Polen stechen im Durchschnitt 80 Eine frische Spargelstange wandert in den ernte nach Deutschland und ist fest ent- bis 100 Kilogramm Spargel pro Tag, die Korb. Dann schüttet sie das Loch wieder schlossen, mit soviel Geld wie möglich deutschen Erntehelfer kommen nicht ein- zu. Der Vorgang wiederholt sich – 1500mal nach Hause zurückzukehren. mal auf die Hälfte. Der Unterschied liegt in am Tag. Mitte April rollen Dutzende Busse mit der Motivation: Für die Deutschen liegt die Nach einer Stunde schmerzt der polnischen Kennzeichen in die Mark Bran- Bezahlung nur knapp über der deutschen Rücken, der Schweiß läuft die Stirn hin- denburg. Bis Ende Juni arbeiten bei der Arbeitslosenhilfe, die Polen verdienen bei unter, die Finger der linken Hand werden Spargelernte rund um die ostdeutsche der Spargelernte in Deutschland das viel- steif, und das rechte Handgelenk schwillt Spargelhauptstadt Beelitz etwa 1300 Po- fache ihrer polnischen Gehälter. Jörg an.Wenn der Wind weht, knirscht der Sand len. Die Arbeit ist schwer, da halten sich die Buschmann zahlt je nach Qualität zwi- zwischen den Zähnen, reizt die Augen und deutschen Arbeitslosen lieber fern. „Bei schen einer Mark und 1,40 Mark pro Kilo- dringt sogar in die Unterhose ein. Die Son- der hohen Sozialhilfe kann man sich das gramm Spargel. Nach zwei Monaten fährt ne spiegelt von der Folie ab, sie blendet Faulenzen leisten“, sagt Ewa ohne aufzu- manch ein polnischer Spitzenstecher mit und brennt auf der Haut. Die Konzentra- blicken. gut 7000 Mark nach Hause. tion darf dennoch nicht nachlassen: Ein Josef Jakobs, 31, kam vor drei Jahren „Es ist sicher ein harter Job“, meint Da- falscher Stich, ein hektisches Zerren – und aus Westfalen nach Schäpe. Der Spargel- nuta Jarosz, 35, Grundschullehrerin aus schon ist der Spargel kaum noch etwas bauer in der dritten Generation fand auf Sandomierz, die täglich bis zu 14 Stunden wert. dem Beelitzer Sand, 30 Kilometer süd- in der Sortierung arbeitet. „Wir fühlen uns Ewa Rubczewska, 23 Jahre alt, klagt westlich von Berlin, gute Spargelböden und aber keineswegs ausgebeutet. Jeder kommt nicht. „Ich habe gestern über 93 Kilo- in der deutschen Hauptstadt einen tollen freiwillig und kann jederzeit nach Hause gramm geerntet“, prahlt die kräftig ge- Absatzmarkt. Bald stellte er fest: Ohne pol- fahren. Zu Hause verdiene ich aber nur baute Frau. „Nur zwei Männer waren bes- nische Landarbeiter ist der Spargelanbau in 400 Mark im Monat.“ ser.“ Ewa ist die einzige Frau unter rund 50 Brandenburg nicht möglich. Viele der Saisonarbeiter treibt die blan- Männern, die auf dem 25 Hektar großen „Nur dank der Saisonarbeiter aus Polen ke Not auf die deutschen Felder. Sie kom- Feld von Josef Jakobs im brandenburgi- können wir Arbeitsplätze für Deutsche men meist aus den Regionen um Przemysl, schen Schäpe Spargel sticht. Sie kommt schaffen, deutsche Verkäufer, Fahrer oder Kielce und Suwalki, aus Masuren und Pom- aus Wielany, einem Dorf bei Konin. Mechaniker beschäftigen. Dennoch muß mern, wo die Arbeitslosigkeit besonders

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gel“, sagt Stanislaw Wiertelak, Landwirt aus Pommern, zum achtenmal bei der Spargelernte. „Ohne den Spargel wäre ich ein armer Hund. Mein Hof brannte zwei- mal, mit dem hier verdienten Geld konnte ich die dringendsten Löcher stopfen.“ Die Arbeit beginnt je nach Wetter zwischen sechs und acht Uhr morgens. Gegen 11.30 Uhr fängt die dreistündige Mittagspause an. Die Stecher werden zu ihrer Unterkunft, einem ehemaligen LPG- Hotel für Erntehelfer, gefahren, wo sie das Mittagessen bekommen. Die Polen mögen keine exotischen Gerichte: Das Es- sen muß einfach aber gehaltvoll sein. Ein Spargelstecher verbraucht schließlich drei- mal soviel Energie wie ein Büroange- stellter. Spargel steht so gut wie nie auf der Spei- sekarte, denn der deutsche Gaumengenuß hat in Polen nur wenige Anhänger. Die meisten der Saisonarbeiter, auch wenn sie Spargelhof in Klaistow: „Keiner hatte die leiseste Ahnung, wie Spargel aussieht“ schon öfter bei der Ernte waren, haben den weißen Stengel nicht einmal probiert. hoch ist. Adam Cejmer, 27, lebt in Górowo Hektar Spargel an und ist Vorsitzender des „Keiner von uns hatte die leiseste Ahnung, Ilaweckie, zehn Kilometer vor der russi- Vereins „Beelitzer Spargel“, der 14 Mit- wie Spargel aussieht oder wie er schmeckt. schen Exklave Kaliningrad. Arbeit gibt es glieder zählt. In diesem Jahr eröffnete er in Wir haben uns so etwas wie eine Bohne hier nicht, die Staatsgüter sind pleite. „Der seinem Geburtshaus das erste Spargelmu- vorgestellt“, sagt Mariusz Motyka, 24, aus halbe Ort wäre gern hierher gekommen“, seum Norddeutschlands. Denn Spargel Ruda im polnischen Südosten. sagt der arbeitslose Elektromechaniker. wird in Beelitz seit 1861 angebaut – und im- Während sich die Männer ausruhen, „Wer zurückbleiben mußte, hat bittere Trä- mer kamen polnische Saisonarbeiter zur läuft die Arbeit in der Sortierhalle, wo rund nen geweint.“ Ernte. 150 polnische Frauen auf vollen Touren ar- Die Mehrheit der Erntehelfer sind Bau- 1939 lag die Anbaufläche bereits bei 1000 beiten. Die Frauen fangen zwei Stunden ern und Arbeiter. Doch es gibt auch Leh- Hektar. Dann verboten die Nazis den Spar- später an und arbeiten manchmal bis Mit- rer, Polizisten oder Berufssoldaten. Busch- gelanbau, weil die kalorienarme Pflanze ternacht. An 18 Fließbändern werden die mann hat ein kompliziertes Rekrutie- nicht nahrhaft genug war. Im Arbeiter-und- Spargel gewaschen, auf Länge geschnitten rungssystem aufgebaut: In verschiedenen Bauern-Staat schließlich war der Spargel und sortiert. Anschließend werden sie in Regionen Polens kümmern sich seine pol- parteipolitisch als Gaumenfreude der bour- verschiedene Körbe und Kisten verpackt, nischen Vorarbeiter um die Anwerbung. geoisen Feinschmecker verpönt – und zum abgewogen und in die Kühlhalle gebracht. Schon im November liegen ausgefüllte An- tristen Dasein in den hintersten Ecken der Oft sind sie schon am kommenden Tag träge der Kandidaten vor, die dann nach LPG verbannt. beim Verbraucher. Frankfurt an die Zentralstelle für Arbeits- Zur Zeit der Wende umfaßten die Spar- Abends sind Männer wie Frauen hun- vermittlung geschickt werden. Im Frühjahr gelfelder um Beelitz nur 10 Hektar. Heute demüde. Den mitgebrachten Wodka haben stellen deutsche Konsulate Arbeitsvisa für sind es wieder 400 Hektar, in diesem Jahr sie schon längst ausgetrunken, im Laden jeweils drei Monate aus. Dann kann es los- wird eine Ernte von 2000 Tonnen Spargel gibt es nur Bier.Wer betrunken randaliert, gehen. erwartet. was allerdings äußerst selten vorkommt, Kein Wirtschaftszweig entwickelt sich in Die Freude über die Wiedergeburt des riskiert die Heimfahrt. Brandenburg schneller als der Spargelan- Beelitzer Spargels ist den Deutschen und „Niemand will den Job aufs Spiel set- bau. „Den Polen sei Dank“, sagt Manfred den Polen gemein. „Ich müßte zwei Kerzen zen“, sagt der junge Motyka. „Jeder weiß, Schmidt aus Schlunkendorf. Er baut 10 anzünden, für Buschmann und den Spar- warum er gekommen ist.“ Andrzej Rybak KUNSTMARKT Demütigender Ausverkauf Ganz diskret suchen Japans Banken nach Käufern für ihre ver- borgenen Schätze: In ihren Tresoren lagern Bilder im Wert von vielen Milliarden Mark. ür den Papierfabrikanten Ryoei Saito war es der Triumph seines Lebens, Ffür Kunstliebhaber in aller Welt ein Schock: Erst ersteigerte der Japaner in New York zu Rekordpreisen die Bilder das „Porträt des Dr. Gachet“ von van Gogh für 82,5 Millionen Dollar und „Tanz im

Moulin de la Galette“ von Renoir für 78,1 / GAMMA STUDIO X K. KURITA FOTOS: Millionen Dollar. Und dann kündigte er Van Goghs „Sonnenblumen“ (in Tokio): „Gemälde von zweifelhafter Qualität“ an, sich nach seinem Tod mit diesen ein- äschern lassen zu wollen. allerdings niemand. Die japanischen Ban- stie’s-Niederlassung. Im Interesse seiner Damals, im Frühjahr 1990, befand sich ken wickeln den demütigenden Ausver- Kunden will er das Angebot aus Japan Japan noch im scheinbar unaufhaltsamen kauf verschwiegen und bedächtig ab, um möglichst exklusiv halten. „Einen Preis- Aufstieg zur alles dominierenden Wirt- zu vermeiden, daß die Gemäldepreise ab- sturz werden wir nicht zulassen.“ schaftsmacht der Welt. Geld spielte für die rupt sinken und ihre ohnehin hohen Ver- „Die meisten japanischen Anbieter ver- neureichen Japaner keine Rolle: Sie kauf- luste allzu dramatisch steigen. kaufen mit hohen Verlusten“, sagt Kunst- ten rund um den Globus Firmen, Immobi- So verhandelt die inzwischen verstaat- händler Hideto Kobayashi, der einst für lien – und eben Gemälde. lichte Long Term Credit Bank offenbar Fabrikant Saito den van Gogh ersteigerte. Allein von 1987 bis 1990 gaben sie Zoll- über den Verkauf von neun Gemälden. Fu- Er sucht seine Kunden vor allem unter statistiken zufolge 7,4 Milliarden Dollar kuoka City Bank hat einen Teil ihrer Amerikanern, die der Aktienboom an der für Bilderimporte aus. Wie Saito – der es Kunstsammlung an das Museum of Mo- Wall Street reich gemacht hat. mit seinen Käufen ins Guinness-Buch der dern Art in San Francisco verkauft, und Nur Spitzengemälde wie Monets „Canal Rekorde schaffte – finanzierten sie ihre die gestrauchelte Kreditgesellschaft Lake Grande“, das der amerikanische Microsoft- Shoppingtouren bedenkenlos mit Kredi- will bis zum Jahr 2002 Bilder im Wert von Mitgründer Paul Allen im vergangenen ten. Als Sicherheit dienten ihnen Grund- rund 250 Millionen Dollar loswerden. Jahr für 12,1 Millionen Dollar kaufte, er- stücke, deren Wert immer Zu den Kostbarkeiten zielen Gewinne. Dagegen wurde der Re- weiter stieg. von Lake gehören Mei- noir aus Saitos Besitz Branchen-Gerüchten Dann aber platzte die japa- sterwerke wie Picassos zufolge mit 28 Millionen Dollar Verlust ver- nische Wirtschaftsblase. Ja- „Hochzeit der Pierrette“ kauft. pans Bodenpreise krachten bis von 1905. Bei heutigen Die Japaner müssen jetzt einen hohen um die Hälfte ein; plötzlich Betrachtern dürfte das Preis für ihre verwegene Strategie aus der konnte auch Firmenboß Saito Bild allerdings vor allem Wirtschaftswunder-Zeit zahlen. So planlos seine Kredite nicht mehr be- Erinnerungen an Japans sie in Japan gigantische Fabriken bauten, zahlen: Als der kauzige Kunst- Geldrausch in den späten die später niemand brauchte, so wild trie- freund 1996 im Alter von 79 achtziger und frühen ben sie bei Auktionen die Preise hoch. Jahren starb, äscherte man ihn neunziger Jahren wach- „Ohne nötigen Sachverstand blätterten sie ohne die kostbaren Meister- rufen: Der Immobilien- die verrückteste Summe hin“, erinnert sich werke ein. König Tomonori Tsu- Kunstexperte Shinichi Segi. „Viele der Statt ins Grab wanderten rumaki hatte das Werk Gemälde sind von zweifelhafter Qualität.“ zunächst der van Gogh und 1989 für 51,7 Millionen So gab die Versicherungsgesellschaft Ya- der Renoir in Tresore japani- Dollar ersteigert. Mit dem suda in Tokio rund 40 Millionen Dollar für scher Gläubigerbanken. Und Papierfabrikant Saito (1990) Picasso als Sicherheit lieh van Goghs „Sonnenblumen“ aus. Das mit ihnen lagerten dort lange er sich von Lake Geld und Gemälde dürfte jetzt viel weniger wert Zeit über 10000 weitere „kinyu kaiga“ – zu baute im einsamen 1800-Seelen-Dorf sein, zumal einige Experten es als Fäl- deutsch: „Finanz-Gemälde“. Neuerdings Kamitsue in Südjapan eine der größten schung eingestuft haben. aber kehren immer mehr der wertvollen Formel-1-Rennpisten der Welt. Doch das Zumindest für japanische Van-Gogh- Bilder aus Japan ins Ausland zurück – die verwegene Projekt ging pleite – und Gläu- Fans hat der gesunkene Marktwert des angeschlagenen Banken des Landes sind biger Lake übernahm den Picasso. Bildes sein Gutes: Yasuda will das Bild eifrig dabei, Kunstschätze zu Geld zu Für das New Yorker Auktionshaus Chri- nicht verkaufen, sondern es auch künftig in machen. stie’s, das auch Lake berät, läuft das Ja- der firmeneigenen Galerie in Tokio aus- Auf den internationalen Kunstmarkt pan-Geschäft derzeit prächtig. In den ver- stellen. Damit zählt es zu den wenigen kommt in den kommenden fünf Jahren gangenen zwei Jahren habe sich der Ver- berühmten Bildern aus Japans Seifenbla- eine Bilderflut im Wert von rund zehn Mil- kauf aus Japan mehr als verdoppelt, sagt sen-Zeit, die im Lande öffentlich zu be- liarden Dollar zu. Genaue Zahlen kennt Roderick Ropner von der Tokioter Chri- sichtigen sind. Wieland Wagner

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WERBUNG Häßliches Venedig er italienische Fotograf Oliviero DToscani, der sonst als Werbechef für den Kleiderkonzern Benetton mit blutbesudelten Soldatenuniformen schockt, hat einen attraktiven Auftrag für Anti-Werbung bekommen: Er schreckt künftig Tagestouristen ab, nach Venedig zu reisen. Dem venezianischen Bürgermeister Massimo Cacciari sind zwölf Millionen Besucher pro Jahr zu- viel. Nun hat er Toscani beauftragt, die Schattenseiten der Stadt hervorzuhe- ben: zum Beispiel tote Tauben, Ratten und Kanalmüll. Toscanis Team entwirft derzeit Plakate und Presseanzeigen, die

FOTOS: REUTERS (gr.);FOTOS: (kl.) DPA Anfang Juni präsentiert werden, etwa Formel-1-Veranstaltung, Ecclestone Speisekarten mit völlig überhöhten Preisen (zwölf Mark für eine Tasse Kaffee FORMEL 1 auf dem Markusplatz) sowie häßliche Plastiksouvenirs wie die Rialto-Brücke oder Canale-Grande-Gondeln. Venedig Zehn Mark pro Rennen sei „die Hauptstadt des Kitschs, nir- gendwo auf der Welt wird so viel Müll produziert“, wettert Toscani, das werde utorennsport-Unternehmer Bernie Gewinn einstreicht; bei Vertragsabschluß „ein Ansatz unserer Kampagne“. Seine AEcclestone, 68, verhandelt mit RTL im September 1995 sahen im Schnitt nur Fotos sollen „ein Schlag ins Gesicht der über die künftige Präsentation der For- rund fünf Millionen Menschen zu. Mit- Touristen sein, damit sie endlich nach- mel-1-Rennen. Mehrfach kontaktierten telfristig plant Ecclestone freilich eine denken“, sagt Auftraggeber Cacciari. ihn Senderchef Gerhard Zeiler und stärkere Vermarktung im Pay-TV. Dann Informationsdirektor Hans Mahr in Lon- sollen die Fans pro Rennen rund zehn don, um über Änderungen des bis Sai- Mark zahlen. Einen Vertrag für die deut- sonende 2001 laufenden Vertrags (plus schen Rechte hat er, bis 2013, mit der einer RTL-Option bis 2003) zu reden. Kirch-Gruppe, die derzeit zeitgleich mit Der Kölner Sender will unter anderem RTL auf sechs DF-1-Kanälen überträgt auch Aufwärmrunden am Morgen der und seit kurzem bei DSF Trainingsläufe Rennen zeigen und das Merchandising live zeigt. Kirch kalkuliert offenbar, ab mit Formel-1-Beiprodukten forcieren. 2001 in seinem TV-Konzern die Formel- Ecclestone wiederum fordert mehr Geld 1-Rennen zwischen Free- und Pay-TV – für sich und die Autoteams. Dem mäch- eng verzahnen zu können. Ecclestone tigen Formel-1-Chef mißfällt, daß RTL will dabei erst voll auf Bezahlfernsehen mit dem quotenträchtigen PS-Zirkus (zu- setzen, wenn die Zahl der deutschen letzt konstant mehr als zehn Millionen Abonnenten von jetzt zwei Millionen

Zuschauer) pro Jahr 80 Millionen Mark deutlich angestiegen ist. OLYMPIA Venedig

FERNSEHEN etwa verdammt das Medium grund- rieten Sie: „Augen zu und sätzlich. Ich dagegen liebe es und will durch. Drei Punkte ham wir sicher.“ „Über sich selbst lachen“ meine Gäste auch nicht bis aufs Blut Raab: Nein, auch so was muß erlaubt blamieren. sein. Wer über sich selbst nicht lachen , 32, über den Erfolg seiner SPIEGEL: Das tun die selbst, wie kann, hat in dem Geschäft Trash-Show „TV Total“ (Pro Sieben), der Mann, den Sie einluden, weil heute verloren. Ich nehme nur die bei den 14- bis 49jährigen Marktan- er in einer Show als Zuschauer Leute ins Visier, die ich mag. teile bis zu 23 Prozent erzielt notorisch in die Kamera winkte. SPIEGEL: Der Rapper Moses P. Raab: Ich achte darauf, keine gehört wohl nicht mehr SPIEGEL: Neben TV-Schrott-Schnipseln Leute zu haben, die bereits Op- dazu, seit er Ihnen für Ihre präsentieren Sie gern Leute, die sich be- fer ihrer selbst wurden. Der Win- Scherze die Nase zertrüm- reits anderswo ausreichend disqualifi- ker machte einen vernünftigen merte? ziert haben. Was treibt die zu Ihnen: Eindruck – vor der Sendung. Raab: Moses P. hat sein Recht Masochismus, Eitelkeit oder Wahnsinn? SPIEGEL: Haben Sie sich schon auf Verarschung verwirkt. Da-

Raab: Eher Professionalität. Meine mal entschuldigt? Der blinden PRESS ACTION mit hat er die derzeitige Haltung ist wichtig. Oliver Kalkofe Schlager-Grand-Prix-Hoffnung Raab Höchststrafe erhalten.

der spiegel 21/1999 105 Medien

TV AUSLAND Apparate-Angst Schwul und witzig ann immer Technik und Wis- omosexuelle wandern durch deutsche Wsenschaft mit kühnen Erfin- HSoaps meist als Mühselige und Beladene. dungen die Welt verändern, reckt Wie man es anders machen kann, zeigt der energisch ein notorischer Bedenken- britische Privatsender Channel Four mit seiner träger den Hals, warnt vor Sittenver- Erfolgsserie „Queer as Folk“. In dem Achttei- fall und ultimativer Zerrüttung der ler präsentiert der walisische Fernsehautor Volksgesundheit – der Kulturpessi- Russell Davies die schwule Welt von Manche- mist. Er ist der ewig mißgelaunte Be- ster mit Tempo, Witz und Glamour. Unverhüll- wegungsmelder der Evolution, der ter Sex kommt eher selten vor, aber gleich zu immer eisern und kompromißlos das Beginn der ersten Folge wird der 15jährige No- beispiellose Elend beschwört, das mit vize Nathan von dem 29jährigen reichen und der neuen Zeit über die Menschheit gutaussehenden Stuart verführt. Zuviel für die kommen wird. Beck’s-Brauerei, die ihr ursprüngliches Spon- Als die erste deutsche Eisenbahn von soren-Engagement abrupt beendete. „Queer Nürnberg nach Fürth zuckelte, warn- as Folk“ wird im Juni bei der Cologne Con- ten die Propheten vor dem ungeheu- ference, dem Internationalen Fernseh- und ren Reisetempo, das zu „reizbarer Filmfest Köln, als eines der zehn besten Pro- Schwäche“ des Nervensystems führe. gramme dieses Jahres zu sehen sein. Szenenfoto aus „Queer as Folk“ Die „Lesesucht“ war, ähnlich wie das Kino, „Quelle des sittlichen Verder- bens für Kinder und Kindeskinder“, und beim Fernsehen hielt der um- Marktanteile des Sportmagazins „ran“ QUOTEN sichtige Theodor W.Adorno den „Ap- Sat 1 samstags, 18.00 Uhr parat selbst“ für eine „gefährliche 35 Runterissimo Ideologie“. Bilanz: Zu Risiken und Nebenwirkungen des technischen mmer weniger Zuschauer wollen in Fortschritts fragen Sie Ihren Arzt oder Ider Sat-1-Sendung „ran“ den Bundes- Apokalyptiker. 33 liga-Fußball verfolgen. Der „Kress Re- In diese Schreckens-Riege hat sich port“ veröffentlichte eine Erhebung, die nun unvermutet, als düsterer Oswald Angaben in Prozent eine kontinuierliche Abnahme der Zu- Quengler, der Staatsminister Michael 31 schauerquote von 1996 an bis heute aus- Naumann eingereiht. Der Kultur- weist. Der Verzicht auf Showelemente beauftragte reiste kürzlich zum Lan- zugunsten von mehr Journalismus und deserziehungsheim Louisenlund an 29 Spielberichten haben den Negativ- der Schlei und äußerte panische Be- Trend nicht stoppen können. Offenbar sorgnis über das Internet. Übermäßi- schaden „ran“ die vielen, das Publikum ger Gebrauch des Mediums ende mit 27 übersättigenden Live-Übertragungen einer „sozialen H.95 R.96H.96 R.97 H.97 R.98 H.98 von Europapokal- und Länderspielen – und kulturellen H.= Hinrunde auch König Fußballs Reich ist nicht be- R.= Rückrunde Katastrophe“; in 25 liebig ausdehnbar. der virtuellen Ödnis versieg- ten „soziales En- gagement und PROJEKTE Toleranz“, der leidenschaftliche Schattenspiele Chatter erliege einem „Hang utter Natur war schon immer im Fernsehen beliebt. Einst amüsierte das Medi- zur Depression“ – Internetadresse Mum mit Live-Übertragungen von der Wildfütterung im Hochharz (Hüterruf an www.de – wwweh uns! die Hirsche: „Na, komm“). Später faszinierten Bilder vom Einschlag des Shoemaker- Ach, Gevatter, was singt die Klytä- Levy-Kometen auf dem Jupiter. Am 11. Au- mnestra in „Elektra“? „Das klingt mir gust dieses Jahres kann der Zuschauer in so bekannt.“ Die Zukunft Deutsch- der ARD live das Jahrhundertereignis einer lands liegt in der Telekommunikation. totalen Sonnenfinsternis verfolgen. Über Wie wird das Jungvolk von der Schlei ein internationales TV-Netz wird der sich über diesen rot-grünen Motivations- mit 2500 Stundenkilometern bewegende schub gejubelt haben! Aber was tun Kernschatten des Mondes über den Globus die virtuell verderbten Burschen wohl, verfolgt. Um 12.30 Uhr erreicht die totale wenn ein smartes Girlie mit dem Hin- Finsternis Saarbrücken und fegt dann über tern wackelt? Sie schalten den Server Karlsruhe, Stuttgart, Augsburg und Mün- ab und surfen fidel hinaus ins fleisch- chen hinweg. Bei schlechtem Wetter gibt es

liche Leben. Ende der Apokalypse. Bilder von einem oberhalb der Wolken- CHANNEL 4 grenze jettenden Flugzeug. Sonnenfinsternis in Chile (1994)

106 der spiegel 21/1999 Fernsehen

Dr. Mabuse und nirgends die Präten- Vorschau tion, mehr sein zu wollen als gute Abenteuerunterhaltung. Einschalten Tatort: Traumhaus Champions League: Finale Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Mittwoch, 20.45 Uhr, RTL Knaup in „Warshots“ Bauen heißt Grauen. Diese Weisheit Aus Barcelona: Bayern–Manchester. hat der NDR-„Tatort“ (Buch: Raimund Das Volk trägt heute Lederhosen, beim mal allerdings trübt diesen unter die Weber, Regie: Ulrich Stark) ganz wört- Sieg freuen sich die Leberzirrhosen. Haut gehenden Film ein Hang zu sym- lich genommen: Die Hauptkommissare Hick. bolisch dröhnenden Bildern, besonders (Manfred Krug, Charles Brauer) am Schluß, wenn der Fotografen-Ham- decken Mord und Totschlag hinter fau- Warshots – Kriegsbilder let, von seinem Leid überwältigt, am len Baugeschäften auf, so daß ihnen Mittwoch, 23.00 Uhr, ARD offenen Fenster die Brust zum Gnaden- fast das Singen vergeht. Ulrich Mühe Ein Fotoreporter (Herbert Knaup), der schuß darbietet. und Susanne Lothar brillieren als trau- erfolgreich von den Kriegen dieser rige Helden einer Familientragödie. Welt lebt, gerät in eine Sinnkrise und Drei stahlharte Profis ekelt sich vor seinem professionellen Freitag, 22.30 Uhr, Sat 1 Voyeurismus. Zwar spielt Heiner Stad- Sicherlich: Der deutsche Titel lers Film an einem fiktiven Ort irgend- dieser amerikanischen wo in Nordafrika, doch arbeitet er mit Actionserie klingt nach der zusammengeschnittenen Bildfragmen- dicken Berta von Krupp. ten aus Mogadischu, Beirut und Naba- Doch wer zusieht, wie ein tije im Südlibanon und wirkt so wie Computerhacker (Bumper eine realistische Dokumentation. Fast Robinson), ein Diamanten- in allen Szenen herrscht bedrohliche dieb (Edward Atterton) und Hektik, der Zuschauer irrt mit den Be- eine blonde Nahkämpferin richterstattern vor Ort an schießwüti- (Julie Bowen) von einem ge- gen Rebellen vorbei zu irgendwelchen heimnisvollen Polizeiagenten Interviewterminen. Journalismus er- zu einer Zwangsgemeinschaft scheint hier als zynische und gefühllose zusammengeführt werden, Ausbeutung des Leidens. Überforderte der erkennt, daß US-TV- Reporter halten sich krampfhaft an der Ware auch nicht zu verach- Routine fest, um nicht von den Ereig- ten ist. Da gibt es einen nissen aufgefressen zu werden. Manch- Hauch Rififi und modernen Lothar, Mühe (M.) in „Tatort: Traumhaus“

Ausschalten

ben), die sich beruflich zur En- rusalem“ für Deutschland singt, fließen tertainerin mausert und privat die Tränen der blinden Sängerin erkennt, daß der dröge Ehe- Corinna May.Wer möchte da nicht mann Ernstbert (Rüdiger Vogler) mitweinen? am Ende doch brauchbarer ist als ein eitler Lover. Doch leider Sonst gerne fiel diese Verfilmung eines Sonntag, 21.45 Uhr, ZDF Buchs von Hera Lind (Regie: Nein danke, Anke: Die wirklich komi- Ilse Hofmann) reichlich ver- sche und erfolgreiche Sat-1-Wochen- schmockt und neckisch aus – show-Entertainerin Anke Engelke hat mit Erzähltexten aus dem Off, offenbar die Programmverantwortli- die erklären, was man ohnehin chen des ZDF zum Abkupfern der Ma- sieht. Berben bemüht sich sicht- sche mit der dollen Minna verführt. Als lich, komisch und nicht wie „Blondine mit Schuß“ und deutsche sonst melancholisch und ver- Doris Day feierten die Blätter die schleiert zu wirken. Leider sind Newcomerin Cordula Stratmann in ih- jedoch ihre Texte als „One-Wo- rer neuen zwölfteiligen Comedy-Serie man-Entertainerin“ viel zu be- „Sonst gerne“ im voraus. Zu früh: „Die Zauberfrau“-Star Berben langlos, als daß sie als quirlige Stratmann ist höchstens unfreiwillig Zauberfrau überzeugen. könnte. komisch und könnte allenfalls in einer Die Zauberfrau ironischen Selbstverarschung des Me- Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Grand Prix de la Chanson 1999 diums unter dem Titel „Stell dir vor, es Eigentlich kein ganz schwacher Stoff, Samstag, 21.00 Uhr, ARD ist Comedy, und keiner lacht“ auftre- diese Geschichte von der Soap-Schau- Sürpriz zéro points? Wenn die Gruppe ten. Fazit: Anke gerne, sonst Stratmann spielerin Charlotte Pfeffer (Iris Ber- den Ralph-Siegel-Song „Reise nach Je- gerne nicht.

der spiegel 21/1999 107 Medien

VERLAGE „Content ist die Zukunft“ Der Axel Springer Verlag drängt mit Macht ins Fernsehen und kauft für viel Geld TV-Firmen auf. Der Einstieg ins neue Geschäft aber mißlang gründlich: Das Vorzeigemagazin „Newsmaker“ vergrault die Zuschauer und verärgert die Verantwortlichen bei Sat 1.

Marktanteile von Zum Vergleich: SAT 1 SAT „Newsmaker“ „Monitor“ , ARD „Newsmaker“-Team*: „Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen“ Sat1-Nachrichten- 1999 durchschnittlich magazin, jeweils 12,9% Marktanteil, s war, als sollte das Fernsehen neu er- in Zukunft Probleme aufzugreifen und montags 22.15 Uhr, 3,6 Millionen Zuschauer in Prozent funden werden und der Journalismus Lösungen anzubieten“. Und so zeigte es Emit dazu. Ein „Magazinformat, das es Bilder aus dem Kosovo, enthüllte einen 9,5 in dieser Form noch nicht gibt“, verspra- Finanzskandal des Tierhilfswerks und re- 7,0 7,4 chen die Macher von „Newsmaker“ vor ferierte eifrig Ergebnisse eigener Umfra- 5,9 6,6 5,0 der ersten Sendung, und Claus Larass, 54, gen.Am Ende sagten die vier von der Sitz- Zuschauerdurchschnitt der stellvertretende Vorsitzende des Axel gruppe im Chor „tschüs“. 1,31 Millionen Springer Verlags, sekundierte: „Wir wollen Von den hehren Zielen ist, sechs Wo- 12. April 17. Mai zurück zu den Wurzeln des investigativen chen nach Sendebeginn, kaum etwas übrig. Journalismus.“ Vor allem aber wollte sich Inzwischen sitzen bei „Newsmaker“ höch- sucht Springer, Europas größtes Zeitungs- Springer als TV-Produzent profilieren. stens zwei TV-Journalisten auf der Couch. haus („Bild“), zu retten, was vielleicht Dann kam die erste Sendung, und vier Auch die Themen haben sich gewandelt: schon nicht mehr zu retten ist. „Newsma- Moderatoren saßen gemeinsam auf einer Das Enthüllungsmagazin bejubelt nun das ker“ soll den völlig mißratenen Start ver- großen grünen Couch und redeten über Comeback von Komiker Hape Kerkeling gessen und endlich Quote machen. ihre Beiträge. Zwischendurch plazierten im eigenen Sender Sat 1, beobachtet die Zuletzt lockte das Ein-Stunden-Format sie sich in Einzelauftritten auf einem Autorennen von Nachwuchspiloten („Wer am Montagabend nur 1,3 Millionen Zu- schwarzen Stuhl oder hinter einem blan- wird der neue Schumi?“) und inszeniert im schauer – ein Mini-Marktanteil von 6,6 Pro- ken überdimensionalen Schreibtisch. Selbstversuch Kofferklau in der Bahn. zent.Auch bei den für die Werbeakquisition Das war das Neue an „Newsmaker“. Es ist, als sei das Privatfernsehen eben wichtigen 14- bis 49jährigen reichte es ge- Treuherzig versprach das Quartett, „auch erst gestartet – und würde nicht schon 15 rade für 8,5 Prozent. Die „Fahndungsak- Jahre lang existieren. te“ dagegen schaffte früher auf diesem Sen- * Caroline Hamann, Christoph Teuner, Karin Figge, Mit hektischen Änderungen an der Prä- deplatz in beiden Gruppen 12 Prozent. Gar Hans-Jörg Wiedenhaus. sentation und der Themenmischung ver- nicht zu reden von der direkten RTL-Kon-

108 der spiegel 21/1999 kurrenz „Extra“, deren Quote mehr als doppelt so hoch ist. „Newsmaker“ vergrault sein Fernsehen vom Zeitungsriesen Publikum offenbar systema- Springers TV-Aktivitäten tisch: Die Zahl der Zuschauer schwindet im Verlauf der Sen- 40,05% dung kontinuierlich. Von den Leo Kirch 2,8 Millionen, die das Magazin etwa am 10. Mai vom starken Vorprogramm übernahm, guck- ten am Ende noch 500000 zu. Elektronische Medien Um die Werbekunden nicht Vorstand: Ralf Kogeler zu verlieren, mußte Sat-1-Chef Axel Springer TV Produktions GmbH Fred Kogel, 38, die Preise für Geschäftsführung: Ralf Kogeler, einen 30-Sekunden-Spot von Stephen Barden 40 000 Mark auf 15 000 Mark senken. Die reduzierten Erlöse TV News 100% reichen nicht, um Springers Axel Springer TVnews GmbH Stoffe zu finanzieren – immer- „Newsmaker“, Sat1 hin kostet eine „Newsmaker“-

Folge rund 400000 Mark. Bis K. ROCHOLL / PICTURE PRESS TV Fiction Jahresende sind 40 Episoden Vorstandschef Fischer: Rückstand von zehn Jahren 100% vereinbart. Commerz-Film Medien- gesellschaft mbH Solche Flops finden im Kommerz-TV ge- don beteiligt hat, als Brückenkopf für Ge- 50% meinhin ein schnelles Ende. Doch Kogel schäfte in Amerika,Asien und Australien: Multimedia GmbH sind die Hände gebunden: Springer ist ein- „Ein erster transatlantischer Schritt.“ „Nordseeklinik“, ZDF flußreicher Miteigentümer bei Sat 1 – und Bis zum Sommer will Springer weitere „Alphateam“, Sat1 „Newsmaker“ nur der Auftakt für eine TV-Produktionsfirmen kaufen. Auch der Reihe weiterer Verlagsmagazine. Ableger Multimedia, über den Springer zu- TV Talks 15 Jahre nach Start des Privatfernsehens sammen mit dem NDR Unterhaltungsse- 90% will der Pressekonzern ganz groß ins TV- rien herstellt, soll kräftig wachsen. Schwartzkopff tv Geschäft einsteigen.Vorstandschef August Sein Haus steige mit den für 1999 ge- Productions GmbH Fischer, 60, der lange Jahre dem interna- planten Zukäufen unter die „Top five der „Jörg Pilawa“, „Sonja“, Sat1 tionalen TV-Tycoon Rupert Murdoch dien- deutschen Produzenten“ auf, freut sich Ralf „Andreas Türck“, Pro Sieben te, ist bereit, für die nötigen Investitionen Kogeler, 38, der kürzlich ernannte Fernseh- allein in diesem Jahr mehr als 100 Millio- vorstand des Konzerns. Springer habe „nie TV International nen Mark lockerzumachen. konsequent journalistische Kompetenz für 85% Die Beteiligung an Sat 1 reicht Fischer Fernsehinhalte entwickelt – nun ist das Be- Axel Springer TV international Ltd., London nicht: „Content ist die Zukunft“, sagt der dürfnis da“, erklärt er: „Wir müssen einen 51 % Verlagschef, und deshalb soll Springer viel Rückstand von zehn Jahren aufholen.“ GRB Entertainment Inc., (Fernseh-)Inhalt produzieren. Dabei war schon Verlagsgründer Axel Los Angeles Weil im eigenen Haus die Erfahrung mit Cäsar Springer vor fast 40 Jahren versessen Dokumentationen, z.B. TV-Stoffen fehlt, kauft sein Vertrauter Ste- aufs Privatfernsehen. „Im Zeitalter der „What Went Wrong?“, RTL phen Barden, 48, auch er ein Ex-Murdoch- schnellsten Nachrichtenübermittlung le- Mann, reichlich Know-how ein: ben wir im Zeitalter der Postkutsche“, er- π Für schätzungsweise 40 Millionen Mark klärte er 1961 seinen Zeitungskollegen und TV-Sender, Fernsehrechte erstand Springer die Hamburger Talk- schwor sie aufs Verlegerfernsehen ein. 41% 59% show-Fabrik von Peter Schwartzkopff Erst wollte Springer das ZDF kaufen („Jörg Pilawa“, „Sonja“, „Andreas (1964), dann plante er – über eine saarlän- 9% Türck“). Dabei störte die Verlagsmana- dische Lizenz – die Gründung eines Kom- Hamburg 1 ger nicht, daß Schwartzkopff TV jähr- merz-TV (1967); schließlich bot er sogar 43% lich 30 Millionen Mark – zwei Drittel für Studio Hamburg, die privatisierte NDR- BTI Business TV der Firmenerlöse – bei Springers Sat 1 Produktionsstätte (1970). einstreicht. „Die haben quasi ihren ei- Doch der Visionär scheiterte. Erst 1985, 50% 50% ISPR Internationale Sport- genen Umsatz gekauft“, spottet ein TV- in seinem Todesjahr, kam Sat 1 ins Laufen rechte Verwertungsges. Experte. – mit Springer als Gesellschafter, Nach- π Rund 20 Millionen Mark gab Springer richten-Produzent und Rechtehändler für jüngst für die Mehrheit an der GRB En- die Schnulzenserie „Love Boat“. tertainment des US-Produzenten Gary Nach vielversprechendem Beginn geriet an die Springer-Spitze rückte, geriet zwi- Benz aus, eine Nischenfirma, die welt- freilich auch diese Offensive ins Stocken. schen die Fronten und mußte gehen. weit Dokumentationen verkauft, etwa Die Führung bei Sat 1 übernahm mehr und Inzwischen, nach dem Einstieg von über Naturereignisse („Welt der Wun- mehr der Münchner Filmhändler Leo Kirch, Kirch-Freund Fischer, ist das Feld befriedet. der“) oder die Amouren Bill Clintons der heimlich Springer-Aktienpakete kaufte Es gilt eine Arbeitsteilung: Springer, das („Scandal!“); die GRB-Serie „What went und den Sender mit US-Actionserien und Verlagshaus mit über 2500 Journalisten, wrong?“ über Katastrophen soll dem- deutschen Heimatfilmen eindeckte. soll Informationssendungen liefern und hat nächst bei RTL laufen. Den Kauf in Hol- Zwischen Springer und Kirch entspann in diesem Bereich das Sagen; Kirch, der lywood versteht Barden, der sich sogar sich ein jahrelanger Kleinkrieg ums Fern- Händler, soll Filme und Serien beisteuern persönlich mit 15 Prozent an der inter- sehen. Der frühere Verlagschef Jürgen und hält die Mehrheit der Anteile und der nationalen Springer-TV-Tochter in Lon- Richter, der 1994 mit Kirchs Unterstützung Aufsichtsratssitze. Die beiden Gesellschaf-

der spiegel 21/1999 109 Medien ter sicherten sich über zwei Programm- sehen.“ Und mehr Trivialthemen im Sprin- ausschüsse des Aufsichtsrats sogar den ger-TV erwartet der frühere Pro-Sieben- Durchgriff auf die Firma. Die in dieser Chefredakteur Gerd Berger: Erst werde in- Schärfe unübliche Konstruktion läßt dem vestigativer Journalismus angekündigt, Management kaum Luft – dabei sollte es „dann kommt man ins Rudern, weil die im Tagesgeschäft eigentlich möglichst un- Quote nicht stimmt, und schließlich lan- abhängig handeln können. den sie bei Storys über Ballermann 6“. „Wir sind gute Partner“, sagt Springer- Die Macher geben sich unbeirrt. Schließ- Mann Kogeler über Kirch, „aber jeder muß lich haben sie ihr „Newsmaker“ innerhalb auf seinem Gebiet erfolgreich sein.“ Sprin- weniger Monate mit teils TV-unerfahrenen ger investiert dabei in solche Produktions- Leuten aus dem Boden gestampft. firmen, die Kirch nicht hat. Gemeinsam Im Moderatorenteam hat Christoph Teu- wollen die Verbündeten auch im digitalen ner wenigstens einst am Wochenende RTL- Fernsehen, im Regional-TV und im Online- Nachrichtenmann Peter Kloeppel vertre- Geschäft Erfolge landen. ten; Kollegin Karin Figge arbeitete fürs Ehrgeizige Ziele überall: Die TV-Divisi- Bayern-Programm von Sat 1, und Caroline on des Verlagsriesen, die 1998 inklusive der Hamann war bei den Vox-Nachrichten. No- Beteiligung an Sat 1 und der Rechtefirma vize Hans-Jörg Wiedenhaus freilich begab ISPR 1,3 Milliarden Mark umsetzte, soll sich parallel zu seinem Job als Wirtschafts- endlich jene Millionen verdienen, die der chef des „Hamburger Abendblatts“ in das Zickzackkurs bei den elektronischen Me- Abenteuer mit den bewegten Bildern. dien in der Vergangenheit gekostet hat.Al- „Newsmaker“ laufe nach Plan und wer- lein Sat 1 brachte Springer rund 200 Mil- de sich in diesem Jahr weiterentwickeln, lionen Mark Anlaufverlust. verbreitet Manager Barden unverdrossen. Doch ob die neue Strategie schnell Kritik habe es bei solchen Formaten an- Früchte trägt, ist mehr als fraglich. fangs immer gegeben: „Wir brauchen Außerhalb der eigenen Einflußzone sind Zeit.“ Keinesfalls werde das Magazin mit Springer-Produktionen schwer verkäuflich. billigen Sexthemen nach Quoten jagen. Zwar nahm das ZDF eine geplante sechs- Seine Hoffnung heißt Hilmar Rolff, 46. teilige Dokumentation über die Geschich- Der hat bei RTL den profitablen Boule- te der Schamanen ab – mehr aber auch nicht. An Spezial- magazinen rund um „Auto- Bild“ und „Computer-Bild“ hatte der Sender kein Inter- esse. „Es lohnt sich nicht“, sagt ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser, „zu teuer, zu- viel Streuverlust.“ Als Abnehmer für die TV- Stücke des Verlags bleibt vor allem Sat 1. Doch aus- gerechnet das mit hohen Er- wartungen befrachtete Ma- gazin „Newsmaker“ stellt die neue Harmonie zwi-

schen Kirch und Springer INTER- TOPICS auf eine ernste Probe. Denn Sat-1-Alt-Serie „Love Boat“: Start mit einer Schnulze die Verluste trägt vor allem 59-Prozent-Eigner Kirch – ohne Einfluß varderfolg „Explosiv“ verantwortet und auf das Magazin zu haben. soll jetzt „Newsmaker“ puschen. Der an- Gegenüber dem Fachblatt „New busi- fängliche Redaktionsleiter Günter Stampf ness“ sprach Sat-1-Chef Kogel unverblümt schreibt inzwischen für „Bild“. von nötigen handwerklichen Verbesserun- Springer habe bei seinem Fernseh- gen – und daß es „keine Carte blanche“ für Entree zuweilen auch falschgelegen, re- Springer gebe. Im Juni zieht der Aufsichts- sümiert TV-Chef Barden, das sei aber rat eine erste Bilanz. Den Spott der Bran- unvermeidlich gewesen: „You can’t make che gibt es schon heute. Das substanzarme an omelette without breaking the eggs“ – „Newsmaker“ sei eine „Blamage“, wettert man kann kein Omelett machen, ohne der alte Springer-Fernsehmanager Gerhard Eier zu zerschlagen. Sein Haus habe außer- Naeher, der in den Achtzigern für den Ver- dem nie geglaubt, mit den ersten Projek- lag die Sat-1-News produzierte. Er glaube, ten zu Beginn gleich automatisch Erfolg Springer werde mit seinen TV-Plänen „un- zu haben. heimlich viel Geld in den Sand“ setzen. Der Brite hat freilich ein Handicap bei Das Beispiel Springer zeige, daß selbst der Qualitätskontrolle: Er spricht nur Eng- ein Großverlag nicht auf Knopfdruck Jour- lisch. So muß er denn auf Sitzungen immer nalismus ins TV bringen könne, urteilt wieder im aktuellen Springer-Sprachmix RTL-Chefredakteur Hans Mahr: „Es gibt die neue Bescheidenheit anmahnen: „Keep eben für alles Spezialisten, auch fürs Fern- the Ball flach.“ Hans-Jürgen Jakobs

110 der spiegel 21/1999 Werbeseite

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JOURNALISTEN Zur richtigen Zeit am richtigen Ort Christiane Amanpour ist die bekannteste – und bestbezahlte – Reporterin der Welt. Es gibt kaum einen Konflikt, den die CNN-Frau in den vergangenen Jahren ausgelassen hat. Auch den mit ihrer Zentrale nicht.

sie ins Telefon, „wenn Hillary sich das hin- terher ansieht, und es sieht aus wie Shit, dann haben wir ein Problem.“ Was für ein Tag heute.Am Morgen ist sie mit dem Geländewagen in die Berge ge- fahren, um die Rekrutenausbildung in ei- nem UÇK-Camp zu filmen. Es ist das erste Mal, daß die Rebellen ein Fernsehteam in eines ihrer großen Ausbildungslager gelas- sen haben. Doch noch ist der Beitrag nicht fertig, obwohl er in wenigen Minuten über- spielt werden muß. Und dann der Streß mit Atlanta wegen des Hillary-Interviews. „Sei ehrlich, Chuck. Schaffst du’s pünkt- lich?“ Der Cutter nickt, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden, und Chri- stiane Amanpour fingert vergebens an ei- ner leeren Zigarettenschachtel. Was für ein Tag – und was für ein Job. Aber sie liebt ihn, so wie sie ihn von Anfang

A. TOSATTO / CONTRASTO A. TOSATTO an geliebt hat. Inzwischen ist sie ein Star, das US-Magazin „News- week“ hat sie zur „First Lady des globalen Fernse- Amanpour beim Filmschnitt (in Tirana) hens“ ausgerufen, sie gilt Ewig gleiche Hosen und T-Shirts mit einem geschätzten Jah- resgehalt von weit über ei- er Anruf aus dem Weißen Haus ner Million Dollar als die kommt, als im Zimmer 421 des fei- bestbezahlte Reporterin der Dnen Rogner-Hotels in der albani- Welt („Die Zahl ist viel zu schen Hauptstadt Tirana geschossen wird. hoch“), doch Christiane Zum trockenen Gebell russischer Kalasch- Amanpour hat sich kaum nikows brüllen Offiziere der Kosovo-Un- verändert. Ihre Garderobe tergrundarmee UÇK heisere Kommandos, besteht immer noch aus den Rekruten brechen schwer atmend in ewig gleichen Hosen und Kriegsgeheul aus, und Hillary Clintons T-Shirts, ihr Make-up nur

Pressesprecherin gibt telefonisch das fina- CNN aus Lippenstift, wie früher le Okay für das erste Interview der First CNN-Star Amanpour: „Bereit, ihr Leben zu riskieren“ schläft sie, wenn es sein Lady seit Monaten. muß, im Schlafsack neben „Chuck, wo ist die Szene mit dem Hin- ter ihr ein Trupp rennender UÇK-Kämpfer. der Landepiste eines Militärflughafens, und terhalt?“ Christiane Amanpour beugt sich Der Cutter läßt das Video mit normaler immer noch arbeitet sie mit der gleichen in ihrem Sessel nach vorn, während der Geschwindigkeit laufen. „Während diese Besessenheit, mit der sie ihre Karriere vor Cutter das Video mit den Bildern aus dem Rekruten noch üben, sind die Serben da- zwei Jahrzehnten auf einer Londoner Jour- geheimen UÇK-Trainingscamp zurück- bei, das Kosovo ethnisch weiter zu säu- nalistenschule gestartet hat. spult. Die Rebellen in ihrer grotesken Tar- bern“, ruft die Amanpour mit ihrer immer „Die iranische Revolution war das beste, nung als wandelnde Bäumchen stolpern verschnupften Stimme ins Mikrofon. was mir passieren konnte“, hat sie in einem auf dem Bildschirm rückwärts in den Wald, Schnitt. Das Handy klingelt. Die CNN- Interview bekannt. Nach dem Sturz des das Gebrüll der Offiziere mutiert beim Zentrale in Atlanta will die Details des ge- Schahs waren sie und ihre Familie 1979 aus Zurückspulen zu einem unverständlichen planten Interviews mit Hillary Clinton im Teheran nach England geflohen.Als älteste Mickymaus-Quietschen, und das Feuer der mazedonischen Skopje absprechen. von vier Töchtern eines iranischen Vaters Kalaschnikows verwandelt sich in das hohe Verstehen die Jungs im Headquarter und einer britischen Mutter hatte sie das Knallen von Spielzeuggewehren. eigentlich, was hier auf dem Spiel steht? privilegierte Leben der persischen Ober- Auf Chucks Monitor erscheint das Bild Offenbar nicht. Sie hat das erste Exklusiv- schicht geführt: schwimmen, reiten, Partys der CNN-Reporterin. Christiane Aman- Interview mit der First Lady seit Monaten in den teuren Vierteln der iranischen pour, 41, in weißem T-Shirt, hellbrauner und weder den richtigen Kameramann Hauptstadt, Schulzeit in einem katholi- Wildlederjacke und schwarzen Jeans, hin- noch die richtige Beleuchtung. „Hey“, ruft schen Internat in England.

114 der spiegel 21/1999 1979, nach der Revolution, war dieses Le- schen Hauptstadt.Amanpour setzt ihre viel view mit seinem Vater, dem krebskranken ben zu Ende.Als eine ihrer Schwestern vor- zu große Sonnenbrille auf. „Egal, was die König Hussein, geführt hat, dann Jerusa- zeitig ihre Ausbildung auf einer Londoner Leute denken, ich halte Journalismus nach lem, Tel Aviv, Zagreb, Frankfurt, Paris, Ti- Journalistenschule abbrach, nahm sie ihren wie vor für einen edlen Beruf.“ Am Rück- rana und jetzt die Fahrt nach Skopje, um Platz ein. Schnell realisierte sie, daß bei ih- spiegel baumelt eine Barbiepuppe, am Hillary Clinton zu interviewen. rer Herkunft in England keine Karriere zu Straßenrand winkt ein Polizist. In Frankfurt hat sie durch Zufall ihren machen war. Sie ging in die USA, wohnte „CNN, CNN!“ ruft sie und kramt in ih- Mann getroffen und genau eine Nacht mit während ihres Studiums in einer WG zu- rer Handtasche nach dem Presseausweis. ihm verbracht. James Rubin ist als Sprecher sammen mit John F. Kennedy Jr., dem Sohn „Hier in Albanien mögen sie uns“, flüstert des State Department einer der engsten des ermordeten Präsidenten. sie, „CNN wirkt immer.“ Irgend etwas Berater der amerikanischen Außenmini- 1983 heuerte sie für 10000 Dollar im Jahr scheint der Polizist mißverstanden zu ha- sterin Madeleine Albright.Vor ihrer Hoch- als Mädchen für alles bei Ted Turners frisch ben. Er stutzt, ein Strahlen geht über sein zeit im vergangenen August in Italien gegründetem Nachrichtenkanal schworen sie sich, den Termin CNN in Atlanta an. Sieben Jahre nur im Falle eines Atomkriegs später bekam sie die Chance ih- abzusagen. Beide hielten Wort, res Lebens. In Frankfurt wurde obwohl am Tag ihrer Trauung die ein Korrespondent gesucht, aber US-Botschaften in Nairobi und niemand wollte den Job. „Sie hat Daressalam in die Luft gebombt das Gespür, immer zur richtigen wurden und Ehrengast Made- Zeit am richtigen Ort zu sein“, leine Albright bereits nach fünf sagt ihr langjähriger Kamera- Stunden zur Krisensitzung nach mann Dave Rust. Amanpour be- Washington fliegen mußte. kam den scheinbar langweiligen Amanpour bestreitet vehe- Frankfurt-Posten. Zwei Monate ment, daß sie von ihrem Mann später überfiel der Irak Kuweit, mit Exklusiv-Informationen aus und sie wurde nach Saudi-Ara- dem State Department versorgt bien geschickt. wird. „Bullshit“, sagt sie, „wir te- Seitdem gibt es kaum ein Kri- lefonieren zwar oft miteinander, sengebiet auf der Welt, von dem aber immer wenn es um seinen sie nicht berichtet hat: Golfkrieg, Job geht, wird er sehr einsilbig.“ der Zerfall der Sowjetunion, So- Und außerdem: „Problematisch malia, Haiti, Ruanda, Zaire, wie- wäre das doch nur, wenn ich in der Irak, Naher Osten und jetzt Washington über Hauptstadt- Kosovo. Aber es ist der Bosnien- Politik berichten würde.“ Krieg gewesen, der sie berühmt Mühsam quält sich der Merce- gemacht hat. des an Eselsgespannen vorbei Vier Jahre lang blieb sie im be- durch die albanischen Berge. At- lagerten Sarajevo, von kurzen lanta ist weit weg von hier. Dort Horrortrips nach Ruanda oder sitzt jetzt eine neue Generation Haiti abgesehen. Als Amanpour im Management. Keine Journali- ihr Quartier im zerschossenen sten mehr, sondern Controller- Holiday Inn bezog, spielte der Typen aus den großen Konzer- Bosnien-Konflikt in den ameri- nen, deren Bibel die tägliche kanischen Medien kaum eine Quotentabelle ist. Selbst eine Rolle. Sie war es, die dafür sorg- Amanpour muß inzwischen te, daß die Tragödie auf dem Bal- kämpfen, wenn sie ihre Ge- kan auch in den Vereinigten Staa- schichten unterbringen will. ten zum beherrschenden Thema „Wissen Sie, wie viele Leute wurde. „Immer wieder hat sie für CNN beim Schulmassaker

die Leute in Atlanta angerufen PRESS SIPA in Colorado im Einsatz waren?“ und versucht, sie für den Krieg Ehepaar Amanpour, Rubin*: „Beim Job wird er einsilbig“ Ihr Producer beantwortet sich zu interessieren“, meint Rust. die Frage selbst: „Es waren 90.“ Am Ende mit Erfolg, „denn sie war bereit, Gesicht, dann legt er die Hand an den ab- 10 mehr als die 80, die für die Kosovo-Be- ihr Leben für die Geschichte zu riskieren“. gewetzten Lauf seiner Pistole. „Aaah“, sagt richterstattung zuständig sind. Die smarten Die Reste der Granate, die in Sarajevo zwei er, „CIA! Okay, okay.“ Auf die Amerikaner Typen in ihren dunklen Anzügen sorgen Zimmer neben ihr einschlug, dienen heu- läßt man in Albanien nichts kommen. dafür, daß Fernsehen immer trivialer wird. te in ihrem Londoner Apartment als Tür- Amanpour blättert in ihrem Tagebuch, Deshalb heben sie ein ganzes Jahr lang stopper. um das Programm der letzten acht Wo- ausschließlich Monica Lewinsky ins Pro- „Früher hat mich vor allem das Aben- chen zu rekonstruieren: London, Belgrad, gramm, obwohl sich die Nato zur gleichen teuer gereizt, jetzt ist es die gute Ge- Beginn der Bombenangriffe,Ausreise nach Zeit auf einen Krieg gegen Jugoslawien schichte, die mich interessiert“, sagt Aman- Zagreb, Ljubljana, Brüssel, Interview mit vorbereitet. „Ich glaube nicht daran, daß pour und bittet den Fahrer, das Autoradio Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark, die Gesellschaft immer idiotischer wird“, leise zu stellen. Der gelbe Mercedes hat Montenegro,Albanien, London, wieder Al- sagt Amanpour, „sonst würden die Leute seine besten Tage lange hinter sich, die banien, Den Haag,Wien, London,Amman, nicht meine Stücke sehen.“ Stoßdämpfer knirschen, als seien sie mit Exklusivinterview mit dem neuen jorda- Am nächsten Tag interviewt sie in Kies gefüllt, bei jedem Schlagloch droht nischen König Abdullah, denn schließlich der Residenz des amerikanischen Bot- die marode Hinterachse abzureißen. Und ist sie es auch gewesen, die das letzte Inter- schafters in Skopje Hillary Clinton. Keine Schlaglöcher gibt es viele auf der Straße Frage fehlt. Auch die nach der Ehekrise von Tirana nach Skopje, der mazedoni- * Bei ihrer Hochzeit am 8. August 1998 in Italien. nicht. Konstantin von Hammerstein

der spiegel 21/1999 115 Werbeseite

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MODEPUPPEN KOSMETIK Mächtige Mitte Perlen auf die Haut alph Pucci, New Yorker Hersteller aviar ist gesund. Als es noch Rvon Schaufensterpuppen, ist etwas Kreichlich davon gab, fütterten aufgefallen: „Viele Frauen haben nicht Rußlands Eltern mit ihm ihre Kin- die Figur einer Christy Turlington oder der, damit die nicht an Rachitis Kate Moss.“ Im Unterschied zu den erkrankten. Manche Ärzte emp- meisten Modemachern, die diesen Um- fehlen ihn ihren Patienten – je- stand ignorieren, zog er die Konsequenz denfalls den privat Versicherten – und beauftragte den Designer Ruben To- zum Wiederaufbau der Abwehr- ledo mit dem Entwurf einer breithüfti- kräfte nach Operationen. Daß gen Schaufensterpuppe mit Sex- Störrogen wegen seines hohen Appeal. Seit Mitte Mai präsen- Gehalts an Fett- und Aminosäu- tiert sich die neobarocke Ve- ren, Zink, Jod und Vitamin B nus, deren mächtige Mitte auch die Haut strafft, entdeckte von schmalen Schultern, vor über 30 Jahren eine deutsche zarten Händen und kleinen Biochemikerin. Eine Schweizer Füßen ausgeglichen wird, und eine französische Kosme- in acht verschiedenen Po- tikfirma haben jetzt deren Wissen sen. Die offensichtlich gut- genutzt und Cremes entwickelt, gelaunte und mit sich zu- deren Fischgeruch auf der Haut friedene Dame fand bei den schnell verfliegt und für die die New Yorker Modehochbur- „Sunday Times“ mit einem kavi- gen Saks Fifth Avenue und ardekorierten Model warb. Im Rich’s Gefallen, beide Häuser Unterschied zur deutschen Wis- orderten. Initiator Pucci gesell- senschaftlerin, die den preiswer- te den neuen Runden einige teren Sewruga-Kaviar verwerte- der bekannten Mageren bei. te, verwenden sie für ihre Produk- Nun sehe der Flaneur endlich te die immer seltener werdenden

„die ganze Skala norma- Beluga-Perlen. Die Zauberformel TIMES D. OLDHAM / THE SUNDAY Pucci-Puppe ler Frauen“. für ewige Jugend bleibt also teuer. Kaviardekoriertes Model

PHILOSOPHIE Mills: Leute, die mehr über die Grundsätze menschlichen Zu- sammenlebens wissen wollen. SPIEGEL: Dazu muß man Klingonisch sprechen? Galaktische Botschaften Mills: Klingonisch ist eine erfundene Sprache, aber es gibt schon Lehrbücher für Autodidakten. Eine Gruppe von Akademikern Jeffrey Mills, 40, Gründer der „Star Trek“-Schule in Manche- übersetzt die Bibel in Klingonisch. Auf einer Website werden ster im US-Bundesstaat Connecticut, über eine Ethik zukünf- Debatten über alle möglichen Fragen zum Thema geführt. tiger Weltallbewohner SPIEGEL: Worin unterscheidet sich diese Science-fic- tion-Serie von anderen? SPIEGEL: Mr. Mills, Sie geben soziologische Einfüh- Mills: Sie bietet eine Lebensphilosophie. Einer der rungskurse in die Welt des „Raumschiff Enterprise“ Gründe dafür, daß die Begeisterung für „Star Trek“ und lehren die Klingonen-Sprache. Wer interessiert schon ihr drittes Jahrzehnt erlebt, ist die Relevanz sich dafür? der Botschaften dieser Kino- und Fernsehserie. SPIEGEL: Die wären? Mills: Zu begreifen, wer wir sind, indem wir begrei- fen, wer wir nicht sind. „Star Trek“ ist inhaltlich libe- ral und progressiv.Die Serie erfüllt alle Voraussetzun-

PARAMOUNT PICTURES PARAMOUNT gen einer sozialen, anti-rassistischen, modernen My- thologie. Und es gibt noch viel zu erforschen. SPIEGEL: Nämlich? Mills: Einige meiner Schüler beschäftigen sich mit der Drama- turgie der Filme, andere mit Kommunikation oder Raumfahrt- technologie. Einer mit dem Mobiliar der Zukunft.All das ist so- zioökonomisch sehr anregend. SPIEGEL: Sind Ihre Studenten alle angehende Soziologen? Mills: Nicht nur. Auch Hausfrauen, Rentner, Polizisten, Buch- halter sind unter ihnen. Alles Leute, die sich für neue Le-

RICHARD ANSETT PHOTOGRAPHY bensformen interessieren, in denen unsere Probleme gelöst Mills mit Schülern, Klingone sind.

der spiegel 21/1999 119 A. SCHOELZEL Serbische Demonstranten vor dem Grünen-Parteitag in Bielefeld, Kosovo-Flüchtlinge in Mazedonien: Ausgerechnet Demokratie, Diskurs und

ZEITGEIST Verlust der Normalität Nach zwei Monaten Krieg gegen Milo∆eviƒ wächst die Beklommenheit. Die Bomben auf Belgrad verändern auch die Moraldebatte der postmodernen Spaßgesellschaft. Wird das ethische Dilemma des Westens zur besten Waffe des serbischen Diktators? Von Reinhard Mohr

er brave Soldat Schwejk, die ge- man ja doch einem gewaltigen Irrtum auf Überzeugung präzisieren, kehrt man niale Erfindung des tschechischen (es wäre nicht der erste), vielleicht haben zurück in den Hafen der von Beginn an be- DSchriftstellers Jaroslav Ha∆ek, wur- all die Kritiker recht, die vor dem Risiko zogenen Position. de berühmt durch eine der präzisesten Ver- des militärischen Eingreifens, vor dem un- Doch schon das nächste Gespräch kann abredungen der Weltliteratur: „Nach’m kalkulierbaren Abenteuer auf dem Balkan neuen Zweifel säen. So wird gar Imma- Krieg, um sechs Uhr“ wollte er sich mit gewarnt haben, auf dem nichts zu gewin- nuel Kant als philosophischer Kronzeuge seinem Freund zum Bier treffen. Ein wun- nen sei als Schlamm und Blut, Schimpf und zu Hilfe gerufen. Der alte Königsberger, derbarer Traum. Der Biergarten hinter al- Schande. Vielleicht, so kriecht es einem so meint manch einer listig, hätte der Nato- lem Schlachtenlärm, die Sonne, die durch immer wieder den trockenen Hals hinauf, Aktion wohl zugestimmt. unschuldige Baumwipfel dringt, ein denunziert am Ende doch der verfehlte Immer wieder ertappt man sich selbst Menschheitstraum von Glück und Frieden. Zweck die eingesetzten Mittel. Die Macht dabei, imaginäre Häkchen hinter bekann- Im Mai 1999 träumt der beobachtende der Fernsehbilder wirkt: unendliches ten Namen zu machen, die intellektuellen Kriegslaie, kurz: der Intellektuelle, ganz Flüchtlingselend hier,Verwüstungen in Ser- Truppen zu zählen. Grass, Habermas, En- ähnlich und durchaus unliterarisch, sich bien dort: Frieden schaffen – doch besser zensberger, Goldhagen, Goytisolo, Begley, um „sechs Uhr nach dem Krieg“ zu ver- ohne Waffen? García Márquez (der sich als Freund von abreden – dann endlich erlöst von dem Dann wiederum, bei der umfangreichen Nato-Generalsekretär Solana outete) – al- Alptraum, der seit zwei Monaten mit den täglichen Zeitungslektüre – man stellt sich lesamt nicht wirklich Kriegshetzer, aber Worten Kosovo, Milo∆eviƒ und Nato-Bom- einen Moment vor: auch in Belgrad und pro Nato. Auf der anderen Seite: Schmidt, ben verbunden ist. Novi Sad läsen die Menschen die zahllo- Scholl-Latour, Walser, Peymann – weiß Kein Abend, an dem der TV-Konsument sen, einander widersprechenden Debat- Gott niemand ein pazifistischer Träumer. nicht von den neuesten Nachrichten zu- tenbeiträge in den europäischen Feuille- Am leichtesten ist es noch, die profes- sammenzuckt und buchstäblich dabei zu- tons –, baut sich das Gefüge von Fakten sionellen Besserwisser vom Schlage eines sehen kann, wie die eigene, mühsam und und Interpretationen wieder auf. Bestätigt Erich Böhme oder Heinz Eggert abzuha- schmerzhaft aufgebaute Argumentation durch starke Gegenargumente, die die ken, denen es in ihrem „Grünen Salon“ zusammenzubrechen droht.Vielleicht sitzt Selbstzweifel, aber auch die gewonnene auf n-tv gelingt, den überzeugten Nato-

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le in den letzten zehn Jahren hätte genau- so handeln müssen wie er.“ Ältere Deutsche erinnern sich schau- dernd an die alliierten Bombenteppiche, die 1944/45 auf Berlin und Dresden nie- dergingen und alles in Schutt und Asche legten; jüngere denken an Vietnam und Ni- caragua – Menetekel des „US-Imperialis- mus“. Obwohl die für viele schwer durch- schaubaren Kriegswirren auf dem Balkan schon seit Jahren toben, scheint der große schreckliche Lehrmeister erst jetzt ein Ge- sicht zu bekommen. Es ist die alte Fratze des Krieges, und nicht zufällig wird der alte Clausewitz aus den Regalen geholt. Besonders Sensible verspüren Mitschuld an den Bomben auf Belgrad, an den toten Zivilisten, den blutverschmierten Kindern, den bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Flüchtlingen, scheinbar sinnlosen Opfern der Nato-Luftangriffe, die doch Milo∆eviƒ in die Knie zwingen und die Kosovaren retten sollen. Anders als zu Beginn der Nato-Attacken, als das Elend der Kosovo- Vertriebenen im Mittel-

LEMOYNE / GAMMA STUDIO X LEMOYNE punkt stand, zeigen nun Selbstzweifel werden zur propagandistischen Angriffsfläche für den Despoten die Fernsehnachrichten Abend für Abend die Kriegsgegner Christian Ströbele friedens- kratzt am Selbst- und Katastrophenschutz „Kollateralschäden“ der mäßig links wie rechts zu überholen. der Spaßgesellschaft, bedroht unsere ge- Bombardierungen an er- Der Krieg um das Kosovo, in Wahrheit liebte, schaurigschöne Zuschauerrolle. ster Stelle, und jeder Tote P. PAULUS P. gegen das Völkermord-Regime in Belgrad, Noch während des Bosnienkrieges, bei ist ein Stich ins Herz der Götz Aly hat auch für Millionen Tele-Bürger, Inter- dem mindestens 200000 Menschen, fast al- Zuschauer. „Das haben net-Citoyens und „Wetten, daß…?“-Fans les „Zivilisten“, ums Leben kamen, noch wir nicht gewollt, das ist „Die geistige eine ganz neue Zeitrechnung etabliert, die während der quälend langen, dreijährigen schrecklich, ja unerträg- Verbunkerung bis ins private Dasein reicht.Vor den Bom- feigen Belagerung Sarajevos durch serbi- lich. Wir wollen, daß es des serbischen ben, nach den Bomben. Wie lange halten sche Milizen und auch nach dem Massaker aufhört.“ wir das alles aus? Aber: Was müssen wir ei- von Srebrenica, bei dem 7000 muslimische Bei dieser Reaktion Volkes läßt gentlich aushalten? Männer ermordet wurden, blieben wir cool findet eine eigenartige, sich nur Nur selten greift ein elementares politi- im Fernsehsessel. Schockiert gewiß, aber womöglich folgenreiche durch Gewalt sches Ereignis derart stimmungstrübend passiv, ohnmächtig, ja, in gewisser Weise Verschiebung der Akzen- aufbrechen“ ins tägliche Leben der wohl- selbst in der Rolle von Opfern te statt. Die allabendli- habenden Westeuropäer ein. der Weltgeschichte. Ratlos vor chen Bilder von den Flüchtlingsströmen Längst hat die postmoderne dem Sony. Was will man ma- aus dem Kosovo und die sich stets glei- Mediengesellschaft zwischen chen? Von Großdemos gegen chenden, bilderlosen Augenzeugenberich- Büro, Ladengalerie und Dauer- den serbischen Kriegsterror kei- te über serbische Greueltaten haben die Entertainment einen elastischen ne Spur – kein bißchen Men- Wahrnehmung abgestumpft. Ja gewiß, den Streckverband um jene beiden schenkette für den Frieden. Albanern passiert Schreckliches, ihnen Beine gelegt, mit denen wir an- Doch jetzt, so sehen es nicht muß geholfen werden. geblich fest auf dem Boden der wenige derer, die die intellek- Aber was viele stärker umtreibt, das sind Wirklichkeit stehen. Fast alles tuellen Diskussionen prägen, die Toten und Verletzten, die unbestreitbar I. OHLBAUM haben wir schon gesehen, fast Peter Handke sind wir – der Westen, die Nato, auf das Konto der Nato und des Westens nichts kann uns noch überra- Europa – selbst zu Tätern gewor- gehen, also auch auf die Verantwortung al- schen. „Jeder an den, wenigstens zu Mittätern, ler freien Bürger Europas. Diese Empfind- Weltweite Erschütterungen seiner Stelle Mitwissern, Geschehenlassern, samkeit des „nostra culpa“ ist aller Ehren unserer komfortablen Existenz, hätte genauso und plötzlich meldet sich das Ge- wert. Aber sie kann zugleich zur politi- die über den Fernsehbildschirm wissen laut und vernehmlich. schen und moralischen Falle werden. zu uns dringen, puffern wir rou- handeln Grüne Fundis demonstrieren, Denn es fällt offenbar leichter, noch die tinemäßig ab: Wir sind entsetzt, müssen wie man schämt sich öffentlich, be- schlimmsten Massenverbrechen moralisch wir sind neugierig, wir reden Slobodan schwört den „Dritten Weltkrieg“ wie intellektuell zu verarbeiten, wenn die darüber in der Kneipe, spenden Milo∆eviƒ“ und beerdigt die moralische Schuldigen bloß andere sind – ob in Tsche- Geld ans Rote Kreuz und pla- Glaubwürdigkeit des Abendlan- tschenien, wo der amtierende russische nen den nächsten Urlaub. Der „Stern“ des. Schröder, Fischer und Scharping wer- Premierminister, General Stepaschin, einst warnt uns vor gefährlichen Strandab- den zu Kriegsverbrechern erklärt, zu Wie- zu den Hardlinern gehörte, in Algerien, schnitten zwischen Tahiti und Taormina. dergängern Hitlers, während Peter Handke Sudan, Afghanistan, Ruanda oder Indone- Beim Krieg um das Kosovo ist vieles an- den Faschisten Milo∆eviƒ zum Vorkämpfer sien –, als uns selbst mit der eigenen, akti- ders. Er rückt uns moralisch auf die Pelle, der Menschheit adelt: „Jeder an seiner Stel- ven Rolle als verantwortliche Täter aus-

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einanderzusetzen, und seien die Motive noch so edel, hilfreich, Uno-kompatibel und gut. Tag für Tag können viele an sich selbst „Politik der Predigten“ diese teuflische Dialektik moralischen Handelns beobachten, die dem Massen- Während konservative Amerikaner den Kosovo-Krieg stoppen mörder immer wieder einen zumindest wollen, plädieren die Liberalen für den Einmarsch. vorläufigen taktischen Propagandavorteil verschafft: „Milo∆eviƒs einzige Chance“, Die Ohrfeige lande- tellektuelle zu den Waffen. Jene, die so formuliert Eberhard Seidel in der „taz“, te schwarz auf weiß den Golfkrieg 1991 wegen der Ölinter- „ist eine anhaltende Serie von Fehlschüs- auf der Wange von essen noch als typischen Imperialisten- sen der Nato.“ „Er weiß, daß die Zivilge- Kriegsherrin Made- krieg verdammten, fühlen sich im Ko- sellschaften des Westens nur bis zu einem leine Albright. „Ich sovo aus humanitären Gründen zum bestimmten Punkt bereit sind, Verletzun-

J.-L. ATLAN / SYGMA ATLAN J.-L. kann mich an keine Eingreifen verpflichtet. gen des Tötungstabus in ihrem Namen hin- Weißes Haus Zeit erinnern, in der Die Wandlung der Friedenstauben zunehmen.“ So setzt, absurde Verkehrung, unsere Außenpolitik zu Falken hat also – paradoxerweise – der Mörder auf die Moral – der anderen. in inkompetenteren Händen war“, moralische Gründe. Zu lange, so sagen Kriegsentscheidend, so mag er kalkulie- schrieb Peter Krogh im „Wall Street Kritiker, habe man schon in Bosnien ren, sind nicht die Bomben auf Belgrad, Journal“. gezögert und sich dadurch mitschul- sondern die „Heimatfront“ in Hamburg, Das Weiße Haus war nicht amüsiert, dig gemacht. Rom und Paris. Das Beste am Westen, De- denn der Autor war als Dekan an der So favorisiert nicht Georgetown University Mentor der jet- nur Daniel Goldhagen, zigen Außenministerin. Er galt als ihr Autor des Buches „Hit- enger Freund. lers willige Vollstrek- Doch nun zeigt sich der Professor ker“, den Einmarsch in unzufrieden mit der Leistung seiner Jugoslawien und die Schülerin. Er sieht in der Außenpolitik Errichtung von Besat- der USA vor allem eine Bevormundung zungszonen wie im anderer Nationen. „Sie belehren die Deutschland nach dem Russen und Japaner über ihre Wirt- Zweiten Weltkrieg. schaft, die Chinesen über ihre Politik, Ein weiterer Beweg- die Iraker über ihr Militär, die Serben grund der Linken, so über ihre Provinzen, die Lateinameri- analysiert das „Natio- kaner über Drogen und die Vereinten nal Journal“, ist die Nationen über Reformen. Es ist eine Vorstellung von multi- Außenpolitik der Predigten und Fröm- kulturellem Pluralis- melei, gepaart mit dem Schwingen von mus, dem friedlichen ,Tomahawks‘.“ Zusammenleben un-

Mit seiner Kritik steht der Professor terschiedlicher Kultu- REUTERS nicht allein. Samuel Huntington, Leiter ren und Religionen. „Apache“-Kampfhubschrauber des Instituts für Strategische Studien Für David Rieff, der für den „New Yor- Fratze des Krieges an der Universität Harvard, warn- ker“ aus dem Kosovo berichtet, ist das te davor, daß die USA zur bedroh- Eingreifen bei ethnischen Verfolgun- mokratie, Diskurs, institutionalisierter lichen Bösewicht- gen geradezu „Selbstverteidigung“ – Selbstzweifel, der weiche Kern der politi- Supermacht wer- als Vorbeugung, damit solche Konflik- schen Kultur, wird zur Angriffsfläche des den könnten. Der te nicht auch im eigenen Land hoch- skrupellosen Feindes, zum „Target“ des Linguistikprofessor kochen. Diktators. und Allround-Kritiker Als weiteren Punkt nennt das „Na- Das offenbar ist es, was es auszuhalten Noam Chomsky ver- tional Journal“ einen neuen Carteris- gilt, um so mehr, als jeder weitere Kriegstag urteilt die Haltung mus. Der ehemalige US-Präsident Jim- ohne erkennbaren politischen Fortschritt der USA gegenüber my Carter wollte eine Außenpolitik, zugleich den Wahnsinn des Belgrader den Vereinten Natio- die die Einhaltung der Menschenrech- Usurpators offenkundiger werden läßt, der

nen, und John Ken- PEITSCH P. te zum Mittelpunkt hat. Darauf bezie- seine serbische Nation kaltblütig und kon- neth Galbraith, der Rieff hen sich nun liberale Kriegsbefürwor- sequent in den Untergang führt. Das Ehe- nach dem Zweiten ter: Die zivilisierten Kräfte der Welt paar Milo∆eviƒ, so schrieb der serbische Weltkrieg eine Studie über den Luft- seien verpflichtet, die Menschenrechte Schriftsteller Stanko Cerovic, sei „viel- krieg gegen Deutschland erstellt hatte, durchzusetzen, wenn nötig mit vorge- leicht nach dem Unglück der Gesellschaft resümiert: „Luftkriege sind nicht haltener Waffe. Konservative Hardliner nahezu süchtig“. kriegsentscheidend.“ Die USA sollten empfinden die Beweggründe der neu- An dieser Stelle, nicht auf der Ebene ir- nach einer diplomatischen Lösung en linken Kriegsdoktrin hingegen als reführender Auschwitz-Vergleiche, ent- suchen und sich um die Flüchtlinge lächerlich. So spottete der republikani- deckte der Berliner Historiker und Holo- kümmern. sche Politiker Tom DeLay über das li- caust-Forscher Götz Aly historische Paral- Während die meisten Konservativen berale Falkentum der Demokraten: lelen zum Untergang des Großdeutschen im Kongreß – schon aus Opposition Hühnerhabichte seien sie, die Krieg aus Reiches. In dem „geschlossenen System zum verhaßten Kommandeur Clinton – Nächstenliebe betreiben würden, nicht von Terror und millionenfacher Mit- den Krieg ablehnen, rufen liberale In- aus Patriotismus. Michaela Schießl schuld“, so Aly, gediehen „Kollektivismus und Selbstverblendung“. Am Ende ließe sich diese „geistige Verbunkerung“ aus

122 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft Intellektuelle im Grabenkrieg Parteiübergreifend wächst die Kritik, daß Paris die außenpolitische Unabhängigkeit Frankreichs an die USA verrät.

Wäre Régis Debray nationale Publizist Jean-François Kahn, Journalist, säße er aber aus einem völlig anderen Grund: wohl seit vergange- weil „nur Amerika und England die- ner Woche wegen sen Krieg führen; Kosovo und der Rest schludriger Recher- der Welt sind ihre Geiseln“.

GAMMA / STUDIO X chen auf der Straße. Der ansonsten jeder humanitären Elysée-Palast Zu seinem Glück Aktion verpflichtete Lévy sieht den Mi- aber ist der einstige litäreinsatz, der ohnehin acht Jahre zu Weggefährte Ché Guevaras Philosoph. spät gekommen sei, als schmerzlich, Der frühere Berater des sozialistischen aber unausweichlich: „Man muß dem Staatspräsidenten François Mitterrand Krieg den Krieg erklären.“ Alain Fin- hat auf einer Reise nach Belgrad und kielkraut springt dem Kollegen bei: Pri∆tina offenbar unter Anleitung ser- „Manchmal muß man Krieg führen, um bischer Propaganda-Offiziere die reine einen Krieg zu beenden.“ Wahrheit entdeckt und wortreich in Mit Publikationen wie „Lobrede auf „Le Monde“ verbreitet: Milo∆eviƒ sei die Serben“ oder „Verbündete der Ser- dreimal demokratisch gewählt worden, ben“ schlagen sich Schriftsteller wie respektiere die Verfassung, kenne we- Jean Dutourd von

der Einheitspartei noch politische Ge- der Académie fran- GAMMA / STUDIO X fangene, von ethnischen Säuberungen çaise, Vladimir Vol- Zerstörtes Fernsehzentrum in Belgrad im Kosovo keine Spur. Dafür bezog der koff oder Patrick Frieden schaffen – besser ohne Waffen? Star-Philosoph daheim schreckliche Besson eingedenk Prügel, von der linken „Libération“, der französisch-ser- Verdrängung des serbischen Völkermords die ihn Punkt für Punkt widerlegte, und bischen Waffenbrü- und inszeniertem Selbstmitleid „nicht an- von Philosophen-Kollegen wie dem derschaft in beiden ders aufbrechen als durch Gewalt von allgegenwärtigen Bernard-Henri Lévy: Weltkriegen auf die außen“ – wie in Hitler-Deutschland 1945.

„Adieu Régis Debray. Selbstmord live / GAMMA STUDIO X DUCLOS Seite von Milo∆eviƒ. In der Bundesrepublik verursacht der eines Intellektuellen.“ Lévy Der Philosoph An- Streit um Meinung und Moral hier und da Debray erwarb sich dennoch ein Ver- dré Glucksmann wie- geistig-moralische Kollateralschäden. Nicht dienst: Die Intellektuellen fühlten sich derum erblickt im Militäreinsatz gegen nur bei den Grünen im Saale, auch auf den noch einmal gefordert. Jede Strömung, den „braun-roten“ Diktator den lega- Straßen, in den Kneipen und Wohnzim- vom wüsten Antiamerikanismus über len Kampf gegen einen „postmo- mern der Republik steigern sich manche den Pazifismus bis zu Argumenten für dernen“ und „postkommunistischen“ Kombattanten vor allem deshalb in Haß- Bodentruppen, findet ihre philosophi- Henker. Der könne nämlich, falls er tiraden hinein, weil sie auf der ethisch ver- sche Lobby. sich durchsetze, zum Vorbild werden meintlich sicheren Seite stehen wollen.All Der Kosovo-Konflikt, erkannte der für andere größenwahnsinnige Poten- die „Mörder, Mörder!“-Rufe gegen die Schriftsteller Pascal Bruckner, habe taten. Ein Sieg über den Diktator bie- „Kriegsherren“ Schröder, Scharping und „einen Grabenkrieg zwischen den In- te Europa hingegen die Chance zum Fischer, die Häme und der ganze Unflat, tellektuellen“ aus- Aufbruch in eine neue, demokratische der seit Wochen über ihnen ausgegossen gelöst. Und ande- Geschichte: „Europa im Jahr eins“. wird, verweisen nicht zuletzt auf den mas- rerseits trieben die Der Schriftsteller Max Gallo kann siven Abwehr- und Abgrenzungsbedarf all Nato-Raketen Den- sich auf einen parteiübergreifenden derer, die um jeden Preis eine weiße We- ker, die sich aus Konsens von national gesinnten Gaul- ste behalten wollen. Überzeugung von listen bis zu antiamerikanischen Kom- Mit jedem Farbbeutel, den sie auf Herzen hassen, in munisten verlassen, wenn er scharf kri- „Kriegstreiber“ werfen, mit jedem Fußtritt nachgerade tragische tisiert, daß die Regierung die nationa- gegen die „Nato-Verbrecher“ und jeder Allianzen. le Unabhängigkeit in außenpolitischen Invektive unterhalb der Gürtellinie, die sie

Die intellektuelle PRESS SIPA Entscheidungen an die USA und die bei anderen umgehend als „faschistoid“ Kamarilla um den Debray Nato „verraten“ habe. brandmarken würden, waschen sie sich Rechtsradikalen Jean- Napoleon-Biograph Gallo zeigt sich rein von aller Schuld. In den Kreuzberger Marie Le Pen ist gegen Bomben auf inzwischen angewidert von der into- Kneipen, so wird es dereinst, wie Daniel Serbien, weil sie den Diktator Milo∆e- leranten Manier, mit der die „sektie- Cohn-Bendit prophezeite, in den alterna- viƒ hemmungslos bewundert und – so rerischen“ Intellektuellen aufeinander tiven Geschichtsbüchern stehen, war man sieht es die Theatermacherin Ariane losgehen. Gallo über die nationa- jedenfalls immer schon und von Anfang an Mnouchkine – Le Pen das Modell „klei- len Denker: „Wenn es eine französi- dagegen. Daß Ohnmacht moralisch wert- ner ethnischer Säuberungen“ gern auf sche Besonderheit gibt, dann die Un- voller sei als Macht (wenn man sie nicht Frankreich anwenden würde. Für ei- fähigkeit, eine seriöse Debatte zu gleich selbst in Händen hält), das ist der nen Bombenstopp ist auch der links- führen.“ Lutz Krusche Subtext dieser Haltung. Sie führt unmit- telbar dazu – auch das eine intellektuelle Tradition des 20. Jahrhunderts –, die Un-

124 der spiegel 21/1999 terschiede von Machtausübung über- haupt einzuebnen. Demokratie oder Diktatur, Pressefreiheit oder Zensur – alles irgendwie einerlei unter der Herrschaft des internationalen Ka- „Die Briten sind kriegerisch“ pitals. Daher rührt auch die Gleichgül- Angesichts patriotischer Harmonie sind linke wie rechte Gegner tigkeit vieler Friedensdemonstran- des Nato-Bombardements in der Minderheit. ten, wenn neben ihnen serbische Ul- tra-Nationalisten Milo∆eviƒ-Ikonen Kriegsherr Tony Blair klares Bild von ihren Erwartungen und schwenken und Schröder auf Plaka- braucht keine Intel- taten dann so, als ob es Wirklichkeit ten metaphernstark zum „Führer“ lektuellen für eine würde.“ Daß diese Illusion sich als des „Dritten Weltkriegs“ erklären. Rechtfertigung sei- sträfliche Fehlkalkulation erwies, kön- Zwischen Clinton und Milo∆eviƒ, ner harten Linie im ne die Nato bis ans Ende ihrer Tage

Schröder und Saddam Hussein paßt PRESS CONTRAST Kosovo-Konflikt. Er verfolgen, fürchtet Almond. da kein Flugblatt mehr. Clinton ist 10 Downing Street hat etwas Besseres Politiker, Kommentatoren, Akade- offenkundig mächtiger und somit auf seiner Seite – das miker bekunden ihre Schwierigkeiten böser als der serbische Diktator. Volk. Zwei Drittel aller Briten billigten mit der Blair-Doktrin. Die besagt, daß Erwin Chargaff, Nestor der amerika- auch in der achten Kriegswoche die Diktatoren in aller Welt notfalls auch nischen Friedensbewegung, treibt Bombenstrategie der Nato und die durch einen „gerechten Krieg“ für ihre diese Denkschule auf die Spitze – Entschlossenheit ihres Bellizisten in Untaten bestraft werden müssen. Daß Clinton, das Böse an sich: „Er drückt der Downing Street, der als einzi- der im Kalten Krieg beachtete Grund- auf einen Knopf, und tausend Leben ger Allianzführer den Bodenkrieg so- satz, sich nicht in die inneren Angele- werden ausgelöscht.“ wie die Entmachtung des Serbenchefs genheiten fremder Staaten einzumi- Wie absurd die Konsequenzen die- Milo∆eviƒ fordert. schen, heute gar nicht mehr gelten soll, ser vermeintlich radikalen, in Wirk- „Die Briten sind ein kriegerisches, könnte nach Ansicht der Zweifler ei- lichkeit totalitarismusblinden Posi- aber kein militaristisches Volk“, glaubt nen gefährlichen Präzedenzfall schaf- tion sein können, veranschaulicht Mark Almond, Zeithistoriker am Oriel fen. „Wollen wir wirklich slowakische eine Bemerkung des Rostocker Straf- College in Oxford. Ihre Armee solle in Friedenstruppen in Nordirland?“ höhnt rechtsprofessors Reinhard Merkel, der in Übersee siegen, sich aus dem eigenen der Historiker Nor- der „Zeit“ schrieb: „Auch wer wenige Un- Land aber tunlichst heraushalten. Die man Stone. schuldige tötet, um viele andere zu retten, letzte Invasion des Inselreichs liegt über DasderzeitigeLieb- verhält sich rechtlich wie moralisch ver- 900, die letzte Schlacht auf eigenem lingsargument kon- werflich.“ Boden über 300 Jahre zurück. servativer Kriegs- Hitler und seine Nachfolger wären heu- „Wenn die Briten in den Krieg zie- gegner lautet, Tony te noch an der Macht, hätten sich die USA hen, dann am liebsten aus einem Sinn Blair überschätze die und die anderen Alliierten damals an die- für Ritterlichkeit heraus“, meint Pro- Rolle Großbritanni- se Maxime gehalten, und weder der jüdi- fessor Bernard Porter von der Univer- ens genauso, wie es

sche Widerstand noch die jugoslawischen, sität Newcastle. Respekt für das „tap- R. EARDNER / REX FEATURES Vorgänger Anthony italienischen oder französischen Partisa- fere kleine Polen“ löste vor 60 Jahren Pinter Eden 1956 während nen der „Résistance“ wären nach der Lex die gleiche Kriegsbereitschaft aus wie der Suez-Krise getan Merkel legitimiert gewesen, dem Völker- heute das Mitleid mit den albanischen habe. Damals wie heute schwebe der mord der Nazis mit Waffengewalt entge- Flüchtlingen aus dem Kosovo. britische Premierminister in der Ge- genzutreten. Denn auch der Untergrund- Angesichts der patriotischen Selbst- fahr, von den Amerikanern im Stich ge- kampf kennt „Kollateralschäden“. Das gefälligkeit ist intellektueller Dissens lassen zu werden. müßten im übrigen diejenigen am besten wegen der Verwicklung auf dem Balkan Die traditionellen Kriegsgegner auf wissen, die einst größere Beträge auf das selten. Am deutlichsten ist die Ab- der Linken haben sich dagegen über- „taz“-Konto „Waffen für El Salvador“ lehnung des Kriegs bei Militärs und wiegend in Falken verwandelt. Das gilt überwiesen haben. Historikern zu erkennen. „Bomben ha- für den einstigen Nuklearwaffengegner In Simone de Beauvoirs Résistance-Ro- ben niemals und werden niemals poli- Robin Cook genauso wie für die Viet- man „Das Blut der anderen“ wird der Kon- tische oder humanitäre Probleme lö- namkriegsprotestlerin Vanessa Red- flikt zwischen dem Kampf zur Befreiung sen“, schrieb der ehemalige Oberkom- grave. Nur vereinzelte Altlinke wie von der Nazi-Herrschaft und seinen – auch mandierende der Uno-Friedenstruppen etwa der Dramatiker Harold Pinter be- unbeteiligten – Opfern geschildert, eine in Bosnien, Sir Michael Rose. schuldigen die Nato-Führer, eine Ban- tragische Abwägung, in der die reine Un- Die Kriegsgegner werfen der Nato de von „Lügnern, Mördern und Heuch- schuld auf der Strecke bleibt. vor, auf unrealistische Hoffnungen ge- lern“ zu sein. Der Kosovo-Krieg ist ein dramatischer setzt zu haben. „Po- Daß die Briten diesen Krieg Seite an Einschnitt in den westeuropäischen „way litiker und ihre Stra- Seite mit den Deutschen führen, ist das of life“, weil er dieses Dilemma plötzlich tegen haben sich zu- eine Kriterium, das linke und rechte allen Nachdenklichen zumutet, es völlig schulden kommen Kriegsgegner eint. So schreibt die libe- unverhofft, gnadenlos anachronistisch wie- lassen, was Napole- rale Kolumnistin Julie Burchill: „Blair der auf die Tagesordnung setzt. Die Situa- on als den klassi- hat recht mit seiner Behauptung, der tion ist real und irreal zugleich. Man ist schen Fehler von Ge- Krieg gegen Jugoslawien sei genau nicht auf sie vorbereitet, weil sie das Ge- neralen beschrieb“, wie der Zweite Weltkrieg. Allerdings: genteil dessen ist, was die meisten seit Jahr- erläutert etwa Zeit- Zusammen mit den Kameraden von

zehnten anstreben: demokratische Nor- geschichtler Almond. FOCUS / NETWORK AG. EDELSTEIN J. der Luftwaffe sind wir diesmal die malität. Sehnsüchtig erwarten sie den Tag „Sie schufen sich ein Burchill Faschisten.“ Hans Hoyng nach dem Krieg, irgendwann gegen sechs Uhr abends. ™

der spiegel 21/1999 125 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Sport

FUSSBALL „Ein Gefühl des Schwebens“ Bayern München, einst Vorkämpfer für die Wandlung des Profisports zum Unterhaltungsgewerbe, sperrt sich gegen alle Trends der Branche. Selbst von seinem Vorbild Manchester United, Gegner im Champions-League-Finale, hat sich der Deutsche Meister inzwischen entfernt.

wischen Telefonaten mit einem Spie- lervermittler aus Paraguay, Inter- Zview-Termin mit der BBC und ei- nem Arbeitsessen mit dem Chefredakteur einer privaten Sendeanstalt entfuhr dem Manager der angeblich fortschrittlichsten deutschen Fußballfirma dieser Tage eine doch etwas verblüffende Auskunft. Der FC Bayern München, eröffnete Uli Hoeneß aus dem Rattansessel seiner Denk- fabrik, gebärde sich in Wahrheit – und das mache ihn „richtig glücklich und stolz“ – zuweilen „wie ein Bauernverein“. Was Hoeneß, dessen Vorbilder bislang eher in den Vorstandszimmern von General Mo- tors vermutet wurden als in denen des TSV Ottobrunn, derart verzückt, sind Momen- te wie jener an einem ganz normalen Mon- tagabend an Münchens Säbener Straße. Wie immer am ersten Wochentag um kurz vor halb sechs versammeln sich die Altstars Hoeneß,Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge und Talentespäher Wolfgang Dremmler, zwei Masseure und andere un- terrangige Angestellte auf einem Neben- platz des Clubgeländes zum gemeinsamen Bolzen auf E-Jugend-Tore zum Zwecke des Streßabbaus. Da rücken, kurz vor dem An- stoß, unvermittelt die aktuellen Fußball- millionäre Mehmet Scholl und Jens Jere- mies ein. Die sind gerade Deutscher Meister ge- worden und wollen jetzt einfach „mal mit- kicken“. Hoeneß „hätte weinen können“

vor Rührung. L. BAADER Den Gebrauchswert solch atavistischer Jubelnde Münchner Meistermacher*: „Wie ein Bauernverein“ Rückfälle ins Familiäre erläutert der Ma- nager seinem Vizepräsidenten Rummenig- Lizenz zum Senden Sportrechte-Agenturen und deren Bundesligaclubs ge im Zwiegespräch. „Stell dir vor, wir wären eine richtige Aktiengesellschaft“, kam Hoeneß nach dem Feierabendfußball in den Sinn, „und ich als Vorstandsvorsit- zender falle mit meinen 100 Kilo dem Sportrechte-Handel der Herrn Jeremies aufs Bein.“ Kirch-Gruppe und des Gemeinschaftsagentur Sportrechte-Handel So eine kursgefährdende Panne vor dem Axel Springer Verlags von ARD und ZDF SPORTS der CLT-Ufa/Bertelsmann Champions-League-Finale gegen Manche- ster United, spann er weiter, wäre den Ak- VEREINE VEREINE VEREINE tionären nicht zu erklären gewesen. „Die Werder Bremen 1. FC Kaiserslautern Hertha BSC Berlin 1860 München hätten mich bei der nächsten Versamm- VfB Stuttgart* Hansa Rostock Hamburger SV VfL Bochum lung von der Bühne gezogen.“ Schalke 04* MSV Duisburg 1. FC Nürnberg Bor. Mönchengladbach Doch nicht nur die Sorge um den Erhalt Borussia Dortmund Bayer Leverkusen ihrer Freizeitvergnügen leitet die Unter-

* Manager Uli Hoeneß, Co-Trainer Michael Henke, Chef- *nur Uefa-Cup-Rechte trainer Ottmar Hitzfeld am 9. Mai in München.

128 der spiegel 21/1999 nehmensstrategie der Münchner Macher. schenk von 50 Millionen Mark als Sofort- tracht Frankfurt und der VfL Wolfsburg – Einst geräuschvolle Vorreiter beim Über- hilfe für den Wettbewerb auf dem Spieler- haben sich noch nicht vertraglich an einen tritt des Profifußballs in einen florieren- markt. Daß die Bertelsmann-Tochter, welt- Medienpartner gebunden (siehe Grafik). den Zweig der Unterhaltungsindustrie, weit mit knapp 200 Clubs geschäftlich ver- Die große Mehrheit verkaufte TV-Rechte trotzen jetzt ausgerechnet die Bayern allen bandelt, außerdem den Ligakonkurrenten für Auftritte im Uefa-Pokal oder Optionen geschäftspraktischen Trends des Gewerbes. Hamburger SV mit einem 25-Millionen- auf Ligaspiele, die der DFB derzeit noch im Der globalisierte Kickmarkt stürmt an Darlehen und einer Bürgschaft für den Sta- Paket vermarktet, die aber womöglich bald die Börse und fertigt Diskussionsstoff über dionbau ausstattet sowie den 1. FC Nürn- zur Einzelveräußerung frei werden. Mehrfachinvestments, Kommanditkapital berg bis 2006 und Hertha BSC Berlin bis Seit die Ufa acht Bundesligavereine fi- oder Firmenhochzeiten. Nur der Deutsche 2009 unterstützt, weckte den Argwohn des nanziert, fühlen sich Skeptiker schon an Meister, als bestgeführter Betrieb der Bun- Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Zustände der österreichischen Liga erin- desliga gepriesen, schottet sich gegen alle Dessen Beirat ordnete den Abzug von nert. Da sicherte sich der Pferdezüchter nahenden Fusionswellen ab, die im Zuge Ufa-Mitarbeitern aus Führungs- und Kon- und Industrielle Frank Stronach mit einem der Verschmelzung von Medien- und Fuß- trollgremien der parallel durchgefütterten Millionen-Versprechen die Wahl zum Prä- ballindustrie die Sportplätze fluten. Vereine an – aus Gründen der „sportpoli- sidenten der Spielklasse; nebenher ver- Nach Lage der Dinge plant der FC Bay- tischen Hygiene“ (DFB-Vize Gerhard May- dient der neue Schutzherr an Transferge- ern, vor Jahren schon voreilig als Blue Chip er-Vorfelder). Der Zugriff der Medienim- schäften der von ihm unterschiedlich auf dem Fußball-Wertpapiermarkt gehan- perien auf die Vereine ist den hartnäckig großzügig gesponserten Clubs. delt, nicht mal mehr die Ausgabe eines Ak- autarken Bayern aber nicht nur aus Furcht Mehrfachbeteiligungen beschäftigten tienpakets im Kompaktbrief-Format. Dem vor unsportlichen Gewinnabsprachen su- auch schon den Internationalen Sportge- Club, der sich anschickt, am kommenden spekt. Zwar ist Uli Hoeneß „gar kein richtshof in Lausanne. Der Europa-Ver- Mittwoch in Barcelona die Trophäe der eu- ropäischen Meisterliga zu erobern, gilt kon- fliktfreies Wachstum anscheinend als Wert an sich. „Unabhängig zu sein in den Entschei- dungen“ – das vermittelt dem Vereins-Chef- denker Hoeneß „ein Gefühl des Schwe- bens“. Das klingt erstaunlich bodenständig aus dem Mund eines Mannes, von dem das Publikum bislang annahm, er gleite wie ein Raubvogel übers Fußball-Land, ständig auf der Jagd nach Geldvermehrung. Der Club der „Millionarios“ (Werder Bremens Manager Willi Lemke), wahlwei- se auch als „FC Größenwahn“ verulkt oder beneidet, wirtschaftet in Wirklichkeit eher konservativ – weit entfernt vom Man- chester-Kapitalismus nach Art von United. Während Gerd Niebaum, Clubchef beim Rivalen Borussia Dortmund, künftiger Bör- sianer und für die Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) gerüstet, die Bundesliga nach Jahren des Reformstaus „ihren Konfirmationsanzug ausziehen“ sieht, behalten die Bayern ihre Lederhosen an. Die Dortmunder übereigneten sämtliche

Vermarktungsrechte der Agentur Ufa Sports SPORT / ACTION ALLSPORT bis zum Jahr 2008 – gegen ein Antrittsge- Finalgegner München, Manchester*: Aktienkurs rapide gesunken Finanzstarke Spitzenclubs großer Feind der Ufa“.Aber: „Wer am Jah- band Uefa erkannte einen „Interessen- resende Profite für sein Unternehmen ab- konflikt“ in der gleichzeitigen Teilnahme BAYERN MANCHESTER liefern muß, kann nicht immer an das Wohl von Sparta Prag und AEK Athen an seinem MÜNCHEN UNITED der Hertha denken, sondern entscheidet Cup-Wettbewerb: Beide Clubs unterste- Angaben pro domo.“ hen der Kontrolle der English National In- 1997/98 in Millionen Mark Der Selbstvermarkter – keinem Aktionär vestment Company (Enic), die sich mit wei- 197Umsatz 260 und keinem Wohltäter Rechenschaft schul- teren Finanzbeteiligungen an AC Vicenza, dig – wähnt sich auf einem „Eiland der FC Basel und Glasgow Rangers ein flächen- 16Gewinn 29 Glückseligkeit“. Er sei „ja ein Kämpfer“, deckendes Portfolio sicherte. weiß Hoeneß über Hoeneß, und in dieser Einen „Raider“ – Plünderer – nennt 50Merchandising-Umsatz 71 Rolle gefällt er sich: Stecke ihm ein nobler Hoeneß deshalb den Enic-Großaktionär Rechtedealer morgen eine Milliarde zu, Joe Lewis. Und den Münchner Kino-Un- „dann müssen wir nicht mehr kämpfen“. ternehmer Michael Kölmel, der mit 40 Mil- 14TV-Geld nationale Liga 30 Nur 4 der 18 Bundesligaclubs – neben lionen Mark sechs Traditionsvereine aus Bayern München der SC Freiburg, Ein- Regional- und Oberliga aufpäppelt, hat der 125Angestellte 412 manchmal sonderbare Bayern-Stratege * Beim Champions-League-Gruppenspiel am 30. Sep- („Meine Wurstfabrik hat keine Mark Schul- tember 1998 in München (2:2). den, die Steuerberater werden wahnsin-

der spiegel 21/1999 129 Sport nig“) im privaten Gespräch Mores gelehrt. ursprünglich für Juli dieses Jahres avisier- „Für den Fußball“ sei solches Kettenenga- te Börsengang ist auf unbestimmte Zeit gement nicht hilfreich. verschoben. „Allein das Wissen, daß wir „Ich bin wie ein Schwamm“, sagt Hoe- könnten“, frohlockt Hoeneß, „ist die neß und saugt die Informationen aus Un- eigentliche Macht.“ terredungen dieser Art auf. Trifft sich mit Der auf 500 Millionen Mark taxierte Ver- Kirch-Stellvertreter Dieter Hahn, empfängt kaufspreis für die zur Ausgabe vorgesehe- den RTL-Chefredakteur Hans Mahr. Und ne Hälfte der Bayern-Aktien wird nun beschreitet mit dem so gewonnenen Know- selbst beim Stadionbau nicht mehr ge- how doch nur den Münchner Sonderweg. braucht. Die in Anspielung auf Clubchef Bayern wartet ab – in der Hoffnung auf Franz Beckenbauers Immobilienvisionen kräftige Steigerungsraten auf dem Fern- „Kaiserpalast“ getaufte Mehrzweckarena sehmarkt und im Vertrauen auf die unbe- würde künftig der Unternehmensgruppe grenzte Attraktion des Fußballs. Nach dem des Bau- und Braulöwen Stefan Schörghu- Eintritt des Medienmoguls Rupert Mur- ber gehören. Beckenbauers Fußballfirma doch ins deutsche Kickgeschäft erwartet wäre bei Umsetzung der Pläne im Münch- Hoeneß weitere Quereinsteiger: „Walt Dis- ner Osten bloß Mieter und würde etwa ney,Time Warner, Berlusconi.Warum nicht zwölf Millionen Mark im Jahr zahlen. auch japanische Firmen?“ Letzte Zweifel an der Strategie der Allein: Vermarktet wird an der Säbener Selbstbestimmung räumte Hoeneß im No- Straße weiter in Eigenregie. Nach Aus- vember letzten Jahres beim Präsidenten laufen des Ufa-Vertrags für die Bandenre- aus.Am Vorabend der Champions-League- klame hat Bayerns hauseigene Werbe- Partie beim FC Barcelona kamen in gesellschaft aus diesem Segment 50 Pro- Beckenbauer die Bedenken hoch: Bei her- zent mehr Einnahmen erzielt. kömmlicher Rechtsform, fern der Börse, Den weltweit zuneh- werde ihm „die Verantwor- menden Einfluß des Kapi- tung zu groß“. Der Mana- tals auf den Fußball wird ger konnte ihn beruhigen: Hoeneß aus seiner Münch- „Solange wir bei Transfers ner Splendid isolation frei- in die Festgeldabteilung und lich nicht aufhalten kön- nicht in die Kreditabteilung nen. Die Ufa etwa kaufte der Banken gehen, sehe ich sich gemeinsam mit der das Risiko für dich nicht.“ französischen TV-Station So blieb Beckenbauer M6 die Anteilsmehrheit an Präsident, der FC Bayern Girondins Bordeaux. ein eingetragener Verein, Neue Spielarten der Ver- und für Hoeneß sind 20 schmelzung sind in Italien Millionen Ablöse für einen zu bestaunen, wo Juventus Spieler seither die Grenze. Turin beim Spielertrans- Doch selbst die nach in- fer statt einer Ablösesum- ternationalem Maßstab so

me zehn Prozent der Ak- REUTERS sparsamen Bayern sind vor tien des englischen Clubs Medienzar Murdoch Verlockungen nicht gefeit. Crystal Palace kassierte. Vor gut zwei Jahren hätten Und wo vier Vereine der Serie A für die sie beinahe sämtliche TV-Rechte für fünf Abtretung der TV-Rechte an den Pay-Ka- Jahre an die ISPR veräußert. Zur Unter- nal Stream jeweils drei Prozent der Sen- schrift kam es nicht: Nach Bayern-Version deranteile erwarben. wurden sich die ISPR-Partner Springer und Nicht mal mehr der Finalgegner aus Kirch nicht über die dreistellige Millio- Manchester, von Hoeneß kürzlich noch als nensumme einig. „großer Bruder“ verehrt, taugt den Bayern Der nächste Verhandlungspartner war als Vorbild. Nur am Veto der von der Blair- Bertelsmann. Fernsehvorstand Michael Regierung beauftragten britischen Mono- Dornemann wollte Bayern München Ende polkommission scheiterte die geplante Mai 1997 im Münchner Hotel Vier Jahres- Übernahme durch Murdochs Satelliten- zeiten für die Ufa gewinnen. Der weltge- konzern BSkyB. wandte Dornemann prallte am selbstbe- Der heute umsatzstärkste Club der Welt, wußten Hoeneß ab: Der verlangte 125 Mil- der 1991 für 150 Millionen Mark an die lionen Mark für fünf Jahre Bandenwerbung Börse ging, war Murdoch 1,8 Milliarden plus „matching right“ für alle frei verkäuf- Mark wert. Manchesters Aktienkurs sank lichen TV-Rechte – wollte der Ufa also bloß nach dem negativen Regierungsbescheid die Option gewähren, Konkurrenz-Ange- um 33 auf 186 Pence, sprang nach dem Ein- bote mit neuen Offerten zu überbieten. zug ins Euroliga-Endspiel zwar noch mal Die Ufa lehnte ab und trug damit zu auf 205, doch United-Chef Martin Edwards Hoeneß’ Erheiterung bei: „Bei diesem gab verschnupft bekannt: Transferausga- Konzern“, feixt der Manager, „sind sie es ben wie die 84 Millionen Mark im Vorjahr nicht gewohnt, daß einer sagt, was er sich seien fortan nicht mehr möglich. vorstellt. Normalerweise gehen die nur zu Von solchen Wellen des Going Public dem, der am Boden liegt.“ Die Ufa ging zu bleiben die Bayern-Bosse verschont. Der Borussia Dortmund. Jörg Kramer

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als sei es eine lästige Pflicht, für Deutsch- land zu spielen – auch das ist eine Paral- HANDBALL lele zum deutschen Fußball. Brand: Ich denke, daß sie jetzt sehr gern im Nationalteam spielen.Aber natürlich ist es „Wo ist denn das Niveau?“ schon ein gesamtgesellschaftliches Pro- blem, daß Egoismen stärker ausgelebt wer- Bundestrainer Heiner Brand über die Bedeutung der den und junge Leute erst lernen müssen, sich gemeinsam in den Dienst einer Sache Weltmeisterschaft, Imageprobleme zu stellen. Einige sehen sich mehr als seines Sports und die gewandelte Spielergeneration Künstler denn als Mannschaftssportler.

SPIEGEL: Herr Brand, in Ihrem Metier nennt man Sie den Franz Beckenbauer des deut- schen Handballs. Nun stehen Sie vor Ihrer ersten Weltmeisterschaft als Bundestrainer. Was der Anhang da von Ihnen erwartet, dürfte Ihnen klar sein. Brand: Langsam. Beckenbauer hat bei sei- ner ersten Weltmeisterschaft auch nicht gleich den Titel gewonnen. SPIEGEL: Immerhin ist er ins Finale gekom- men. Brand: Unser Ziel ist das Halbfinale, und das sollten wir auch schon erreichen. SPIEGEL: Für die Funktionäre des Deut- schen Handball-Bundes scheint der Auf- tritt in Ägypten Anfang Juni zukunfts- weisende Bedeutung zu haben: Ein gutes WM-Ergebnis wäre ein willkommener PR- Schub für Ihre Sportart. Brand: Ich bin mir der Verantwortung be- wußt. Der deutsche Handball hängt am Tropf der Nationalmannschaft. Nur mit ei-

nem Erfolg bei dieser WM könnten wir uns GES als zweite Mannschaftssportart hinter Fuß- Nationalspieler Menzel (im Testspiel gegen Kroatien): Dixieland und Orscheler Bembel ball etablieren. SPIEGEL: Bei Ihrem Amtsantritt vor zwei sich die Landesauswahl am Rande der SPIEGEL: Ist diese Einsicht für Sie, der Sie Jahren galt die Nationalmannschaft als Zweitklassigkeit. in Ihrer aktiven Zeit beim VfL Gummers- Problemfall. Während sich die Bundesliga Brand: Die Stärke der Bundesliga ist be- bach immer als Vorbild an Einsatz und Dis- als stärkste Klasse der Welt feierte, befand gründet durch ihre Ausländer. Es gibt ja ziplin galten, schwer gewesen? inzwischen Vereine, die kaum noch Deut- Brand: Was mich anfangs verrückt machte, sche beschäftigen. Ich sehe schon ein, daß war die Abhängigkeit von den Spielern und es uns an guten deutschen Nachwuchs- ihren Launen. In den ersten Jahren als Ver- spielern in der ersten Liga fehlt. Da geht es einstrainer beim VfL Gummersbach bin ich dem Handball nicht anders als dem Fuß- fast wahnsinnig geworden. Ich war nach ball. Nur, wenn ich mir Spiele anschaue, einem Spiel total durchgeschwitzt, obwohl muß ich sagen: Wo ist denn das Niveau, das ich keinen Meter gelaufen bin. Und wenn angeblich so hoch sein soll? Jedenfalls ist es etwas nicht geklappt hat, habe ich gegen nicht parallel zur Zahl der eingesetzten die Wand getreten. Ausländer gestiegen. SPIEGEL: Wünscht sich der Trainer Brand SPIEGEL: In der Vergangenheit hatte man Spieler, die so sind, wie der Spieler Brand

A. RENTZ / BONGARTS von einigen Nationalspielern den Eindruck, früher war? Brand: Der Spieler Brand war mit Sicher- heit für keinen Trainer unproblematisch. Heiner Brand Auch er hatte seine Macken. Doch ich bin ist einer der renommiertesten Handballer schon überrascht, wie schnell die heutige Deutschlands. Der heute 46jährige spiel- Generation Mißerfolge verdaut. Ich war te von 1959 bis 1986 für den VfL Gum- nach Niederlagen immer völlig fertig und mersbach und bestritt 131 Länderspiele. konnte nichts essen, weil ich noch mit dem Sein Karrierehöhepunkt war der Gewinn Spiel beschäftigt war. Heute sehe ich der Weltmeisterschaft 1978 in Göteborg. manche Spieler, die nach einer Schlappe im Als Vereinstrainer war der Diplomkauf- Mannschaftsbus sitzen, herzhaft lachen mann beim VfL Gummersbach und der und sich ein Bierchen gönnen. SG Wallau-Massenheim tätig. Nach ei- SPIEGEL: Solche Einwände klingen nicht nem Jahr als Assistent wurde Brand 1997 nach Franz Beckenbauer, sondern eher zum Cheftrainer der Nationalmannschaft nach Berti Vogts. berufen. Brand: Ich habe mich ja auch schon in ge- wisser Weise den Spielern angepaßt. Zu

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Anfang meiner Trainerlaufbahn habe ich SPIEGEL: Handballfans, heißt es, hören im- noch versucht, meinen Job nach einem Ver- mer noch am liebsten Dixieland-Musik, ständnis auszuführen, das aus früheren und die Jugendmannschaften spielen um Tagen herrührt. eine Trophäe, die sich „Orscheler Bembel“ SPIEGEL: Nämlich? nennt.Warum hat der Handball so ein bie- Brand: Unser früherer Bundestrainer Vlado deres Image? Stenzel, mit dem ich 1978 Weltmei- Brand: Nach dem WM-Sieg 1978 haben wir ster wurde, war eine Autoritätsperson. Er alle etwas blauäugig gehandelt. Jeder dach- hat immer mit Druck gearbeitet. Selbst te, mit der Euphorie im Land gehe es so Stammspieler wie Kurt Klühspieß oder weiter. Niemand hatte gemerkt, daß die Hans-Joachim Deckarm konnten sich nie Kids plötzlich auf Funsportarten abfahren. sicher sein, ob sie beim nächsten Spiel da- SPIEGEL: Hat Uwe Schwenker, Manager des bei sind. Wir hatten fast Angst vor ihm. Deutschen Meisters THW Kiel, recht, wenn SPIEGEL: Wie hat sich die ausgedrückt? er behauptet, das „konservative Denken“ Brand: Stenzel hätte auch sagen können: gefährde die Zukunft des Handballs? Rennt gegen die Wand – und wir wä- Brand: Dieser Sport hat in Deutschland ren gegen die Wand gerannt. Niemand Tradition. Und welche Konkurrenz haben wagte, gegen ihn aufzumucken. Er ließ uns wir schon zu fürchten? Eishockey? Da sehe Sprungkrafttraining machen, wir muß- ich den Puck ja nicht mal in Zeitlupe. Un- ten hundertfach auf Kästen springen, ich ser Problem ist nur: Wir haben uns der habe deshalb heute noch Rückenproble- schnellen Entwicklung, die der Sport ge- me. Während einer Vorbereitungswoche nerell vollzogen hat, nicht angepaßt. Das in München scheuchte er uns so lange fängt bei den ehrenamtlichen Strukturen die Treppen rauf, bis der erste fast umge- an und hört bei der Präsentation auf. SPIEGEL: Bei der SG Wallau- Massenheim werden jetzt die Fans mit einer Warm-up-Par- ty in Stimmung gebracht. Gefällt Ihnen das? Brand: Da wird mit einer un- heimlichen Lautstärke und einem großen Brimborium gearbeitet. Ich komme mit allem klar, was dem Hand- ball hilft. Aber wenn ich in Wallau auf die Tribüne gucke, dann sehe ich die glei- chen Leute, die schon zu meiner aktiven Zeit zum Handball kamen. Das paßt irgendwie nicht zusammen.

SVEN SIMON SVEN SPIEGEL: Im Dezember 1997 Weltmeister Deutschland (1978)*: „Bis der erste umkippt“ ist der OSC Rheinhausen in Konkurs gegangen. Jetzt hat kippt wäre. So könnte ich heute nicht mehr sich der TV Niederwürzbach zurückgezo- arbeiten. gen. Ist das ein Zeichen dafür, daß andere SPIEGEL: Warum nicht? Zielgruppen gefunden werden müssen? Brand: Stenzel kam manchmal mit seinen Brand: Die Gehaltspolitik der Vereine ist Beschimpfungen schon in den kritischen schuld daran. Hier ist der Handball total Bereich. Wenn ich so aufträte, würde ich entglitten. Heute verdient schon jedes anecken. Die Spieler haben heute ein an- 17jährige Talent einen Haufen Geld, ohne deres Selbstverständnis. je etwas geleistet zu haben. Aber dieses SPIEGEL: Nach dem dritten Platz bei der Rad ist nur noch schwer zurückzudrehen. Europameisterschaft, dem Supercup-Ge- SPIEGEL: Handball wird in Deutschland vor- winn und dem Sieg beim World Cup be- nehmlich in der Provinz gespielt. Deren findet sich Ihr Team vermutlich in ande- Wirtschaft kann die heute gefragten Etats, ren Sphären. Allerdings ist in Deutsch- teilweise bis zu acht Millionen Mark, nicht land jeder Ersatzkicker des VfL Bochum mehr aufbringen. Ist es an der Zeit, statt in noch immer berühmter als der deut- Gummersbach und Großwallstadt in Köln sche „Welthandballer des Jahres“, Daniel oder Frankfurt zu spielen? Stephan. Brand: Wenn wir weiter auf einem hohen Brand: Auch das wird sich schnell ändern, Level spielen wollen, muß man solche wenn wir bei der WM Erfolg haben. 1978 Überlegungen anstellen. Ich kann als VfL kannte niemand die Ersatzspieler aus Bo- Gummersbach natürlich nicht sagen: So, chum, sehr wohl aber die Handballer Wun- ab morgen spielen wir in Köln, und alles derlich, Deckarm und Brand. wird gut. Das muß langsam reifen. Ich sage aber auch: In einigen Jahren sollte es * Mitte: Bundestrainer Stenzel, rechts: Nationalspieler soweit sein. Interview: Jörg Kramer, Brand. Gerhard Pfeil

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Werbeseite VIII. DAS JAHRHUNDERT DES SOZIALEN WANDELS: 1. Flucht in die Stadt (21/1999); 2. Aufstieg durch Bildung (22/1999); 3. Sucht nach Mobilität (23/1999) G. LUDWIG / VISUM (li. o.); BPK (li. u.); M. VOLLMER (re. o.); D. OBERTREIS / BILDERBERG (re. u.) / BILDERBERG (re. D. OBERTREIS o.); BPK (li. u.); M. VOLLMER (re. G. LUDWIG / VISUM (li. o.); Sozialer Wohnungsbau in Berlin; Gartenstadt Essen-Margarethenhöhe; Berliner Hinterhof (1929); Skyline in Chicago

Das Jahrhundert des sozialen Wandels Flucht in die Stadt Der Städtebau des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte des Scheiterns. Fortschrittsfanatismus und die Anforderungen der in die Städte drängenden Massen brachten überwiegend Scheußlichkeiten hervor.

der spiegel 21/1999 139 Das Jahrhundert des sozialen Wandels: Flucht in die Stadt Spiegel des 20. Jahrhunderts P. GLASER P. Märkisches Viertel in Berlin: Wohnungen töten Menschen „Große Zeit, vertan“ Von Susanne Beyer rchitekt Roland Ostertag sollte den Bomben des Zweiten Weltkriegs, das für eine Stuttgarter Vortragsreihe zweitemal durch die Planierung alter Aüber Städtebau im Jahr 1994 ei- Bausubstanz seit den fünfziger Jahren – nen freundlich einladenden Text schrei- zugunsten von breiten Autopisten, gro- ben. Aber ihm fiel ausschließlich Finste- tesk möblierten Plätzen, banalen Hoch- res ein, eine niederschmetternde For- häusern und anderen Neubauten, denen mulierung nach der anderen, etwa: „Was der sensible Betrachter wünschen muß, 2000 Jahre anhielt, von Babylon bis zu sie möchten schleunigst einstürzen. Beginn dieses Jahrhunderts, nimmt Ab- Der Städtebau der Vergangenheit – schied, das Städtische, die Stadt.“ eine Skandalgeschichte, eine nicht ab- Die Plätze, die Boulevards seien ver- reißende Kette von Katastrophen. schwunden. An ihrer Stelle: „Schnell- Was ist schiefgegangen in einem Jahr- straßen, Blumenkübel-Fußgängerzo- hundert, in dem soviel neu gebaut wur- nen“. Und weiter: „Die Stadt wird zur de wie in keinem anderen? Und in dem Un-Stadt, die Landschaft zur Nicht- so viele kluge Köpfe darüber nachge- Stadt. Kein Zentrum, kein Kern, aber dacht haben, wie möglichst alle Men- auch keine Peripherie.“ schen schöner oder würdiger wohnen Ostertag steht mit diesem Urteil nicht könnten und wie die Reize der Stadt und allein. Wann und wo immer von der die Ruhe des Landes zusammenzubrin-

Stadt hier, jetzt und in den vergangenen SCHRÖDER / SCHAPOWALOW gen seien? Jahrzehnten die Rede ist, wird der Ton ähnlich düster. Deutschland, so heißt es, Jugendstilfassade (in Hamburg) sei zweimal zerstört worden. Einmal von Ästhetische Flucht in ferne Zeiten 140 Ziemlich viel muß schiefgegangen sein, turausgleich zwischen außen und innen ner werden. Sie probierten in den nachfol- wenn man bedenkt, für welche Projekte bieten“, „feuchte Kellerwohnungen, in genden Jahrzehnten immer neue Rezepte sich die Öffentlichkeit in den vergangenen welche Licht und Luft ungenügend ein- gegen die Verwahrlosung aus. Jahren begeistern konnte: für den Wieder- dringen“ – Kohns Schauerliste war lang. Die erste Planergeneration sollte Sied- aufbau der Dresdner Frauenkirche etwa Im Schnitt mußten sich sieben Menschen lungen für sozial Schwache bauen und für oder für die Rekonstruktion des Berliner ein Klosett teilen, zuweilen gar hielt eins hygienischere Zustände sorgen. Sie ließ of- Stadtschlosses. Die High-Tech-Bauweise für 19 Haushalte her. Fünf Personen lebten fene Brunnen und Latrinen schließen und des Potsdamer Platzes dagegen: bäh. Die in der Regel in einem Zimmer. Dazu ka- Wasserleitungen legen. Erst als jedes Haus neuen Einkaufspassagen in ostdeutschen men noch die sogenannten Schlafleute, die mit fließendem Wasser versorgt war, konn- Städten: igittigitt. sich schichtweise die Betten teilten und ten Badezimmer endlich Bestandteil der Bezeichnend, wovon die Menschen heu- dafür an die Hauptmieter zahlten. Wohnungen werden. te träumen: von der römischen Piazza Der Berliner Zeichner Heinrich Zille Wurden zuvor die Fäkalien in offenen Rotonda, vom New Yorker Times Square. prägte damals das berühmte Wort: „Mit Rinnen zu den Gärten und Feldern vor der Entlarvend auch, wie Vielverdiener am einer Wohnung kann man einen Menschen Stadt transportiert, gab es nun Kanalisation liebsten wohnen: Die einen halten sich nur genauso töten wie mit einer Axt.“ und Wasserwerke – zunächst sehr aufwen- in der Stadt auf, um Geld zu verdienen, Die Entwicklung zu dem, was heute dig gebaut, verziert und verschnörkelt, und fliehen an den Abenden und Wochen- Mega-Stadt heißt und Riesenorte wie aber bald schon grau und schlicht. Stadt- enden aufs Land, in ihren restaurierten Bangkok und Mexiko-City meint (siehe planer Detlev Ipsen drückt es so aus: „Der Bauernhof oder in die Villa; die anderen le- Seite 150), hatte schon im 19. Jahrhundert technische Raum weitet sich aus, er ent- ben mitten in der Stadt, aber bitte nur im Altbau, vorzugsweise Jahrhundertwende oder gar früher. Eine Epoche wird ausgelöscht. Das 20. Jahrhundert liegt nicht im Trend. Der amerikanische Architekt und Bau- theoretiker Daniel Libeskind findet den Haß vieler Menschen auf große Teile ih- rer Städte gar nicht verwunderlich. „Wir blicken zurück auf ein totalitäres, fort- schrittsgläubiges Jahrhundert. Gebaut wur- de nicht für individuelle Bedürfnisse, son- dern für die Masse.“ Da es heute wenig Ideen für eine wirk- lich neue Architektur gebe, träten die Leu- te die ästhetische Flucht an, in eine Zeit, in der noch die Chance bestand, daß alles hätte anders werden können, als es dann wurde. Daß die Ideen ihrer Zeit den Zukunfts- menschen zuwider werden könnten, da- mit haben die Reformer seit der Jahrhun- dertwende wohl kaum gerechnet. Sie sahen Elend, nichts als Elend, von da aus konnte

es, meinten sie, nur besser werden. AKG „Schreiendste Übelstände“ prangerte Arbeiterhaushalt (in Berlin, 1916): „Schreiendste Übelstände“ ein Empörter im Sozialistenblatt „Vor- wärts“ im September 1892 an. Er meinte begonnen. Die Industrialisierung sprengte koppelt sich vom ,Schönen‘, die Stadt wird die erbärmlichen Wohnverhältnisse „der die Städte mit aller Wucht. In der Grün- zur Maschine“ – zur Maschine mit Motor: besitzlosen Klassen“ und forderte: „For- derzeit verdoppelte sich die Berliner Be- Denn auch der Verkehr wuchs. Um in den mieren wir eine Sanitätskolonne von Frei- völkerung: von 800000 auf 1,6 Millionen. Städten überhaupt noch von A nach B zu willigen!“ Die Kolonne sollte gegen den Die Leute suchten Arbeit in den neuen Fa- kommen, brauchte man ausgebaute Stra- Ausbruch der Cholera kämpfen und gegen briken, und so wucherten um die Sied- ßen und Schienen. Die Stadt wurde von die chronische Tuberkulose, die sich in den lungskerne wirre Häuserkonglomerate. immer mehr Adern durchzogen und ver- überfüllten Keller- und Dachwohnungen Es gab keine ordnenden Institutionen – formte sich. Beispiel Hannover: Etwa von der Arbeitersiedlungen zwischen Berlin die Stadt des 19. Jahrhunderts war weitge- 1850 an bestimmte die Eisenbahn die Stadt- und Essen eingenistet hatte. hend in privater, in bürgerlicher Hand. Die entwicklung. Erst lag der Bahnhof am Rand Der Aufruf im „Vorwärts“ lohnte sich. Fabrikanten ließen drauflosbauen. Deshalb der Stadt, dann wuchs diese zu ihm hin Im Jahr 1901 wurde eine Wohnungsenquete forderten immer mehr Bürger Regelungen und umschloß ihn schließlich. über die wuchernden Arbeitersiedlungen durch die öffentliche Verwaltung. Im Jah- Die Erfindungen der Antriebs- und gestartet. Albert Kohn, Vorstandsmitglied re 1900 erließ Sachsen endlich ein Stadt- Treibstofftechnik verwandelten den Ver- der Berliner Ortskrankenkasse, zeichne- planungsgesetz, ein vergleichbares wurde kehr und damit auch den Städtebau grund- te die Mißstände auf: „ungenügende Bo- neun Jahre später in England geschaffen. legend. Vom antiken Streitwagen über das denfläche“, „ungenügender Lichtraum“, Die hastig errichteten, überfüllten, ver- mittelalterliche Fuhrwerk bis zur Postkut- „Dachwohnungen, welche keinen ausrei- elendeten Wohnviertel der Industrieregio- sche hatte es bis zur Mitte des 19. Jahr- chenden Schutz gegen raschen Tempera- nen sollten zum Ur-Trauma der Städtepla- hunderts keine bemerkenswerte verkehrs- „Der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. “ Wolf Jobst Siedler

der spiegel 21/1999 141 Das Jahrhundert des sozialen Wandels: Flucht in die Stadt

technische Entwicklung gegeben, und die Menschen erwarteten auch keine: Um 1850 besagte eine Prognose, daß der New Yor- ker Stadtverkehr eines Tages im meter- hohen Pferdemist ersticken werde. Die Erfindung des Automobils verhinderte Ka- tastrophen wie diese und beschwor an- dere herauf. Die Städte bekamen einen neuen Rhyth- mus, die Gründerjahre verfielen dem Ge- schwindigkeitsrausch. Die neue Liebe zur Technik ging einher mit der liberalen Wirt- schaftshaltung: freies Spiel der Kräfte.Wer Fabriken bauen wollte – nur zu, und her mit den Eisenbahnen. Die hygienischen Verbesserungen, die die Reformer erreicht hatten, wurden zu Recht gefeiert – daß auch sie eine Kehrseite hatten, erkannte man erst viel später. Der wachsende Service ließ die Städter faul werden; sie lernten, Verantwortung abzu- schieben nach der Losung: Wasserversor- gung, Müllabfuhr, Beleuchtung – dafür sind andere zuständig. „Das Handeln jedes ein- zelnen wird von seinen Folgen entkoppelt und damit die Ökologie der Stadt vor allem von der Leistungsfähigkeit von Ver- und Entsorgungsunternehmen abhängig“, ana- lysiert Ipsen. Daß die Industrialisierung den Men- schen den Blick fürs Ganze nahm, das schwante auch einer neuen Reformer-

Spiegel des 20. Jahrhunderts gruppe, die Anfang des Jahrhunderts be- gann, die bereits bestehenden Siedlungen Times Square in New York: „Einst war die Stadt Symbol einer ganzen Welt, heute ist die abzulehnen und eine neue, die ästhetische Stadt zu erfinden: die Gartenstadt. itiative gegen Landflucht und planloses Die Begeisterung, mit der die Garten- Vater dieser Idee war Ebenezer Howard Stadtwachstum, sie sollte nie und nimmer stadtidee auch in Deutschland aufgenom- (1850 bis 1928), Stenograph im englischen bloße Schlafstadt sein und auch das ge- men wurde, zeigt, welches Unbehagen das Parlament. Bei seiner Arbeit hörte sich Ho- naue Gegenteil eines öden Vororts. Sie soll- Leben in den Metropolen bereits zu dieser ward die Debatten um das Wohnungselend te vielmehr alles bieten, was der Mensch Zeit bereitete. im rasant wachsenden London an, nach wünscht: Arbeit, Wohnung, Freizeit, Na- Hermann Muthesius, Attaché an der und nach formulierte er seine Vision einer tur. Ein Grüngürtel sollte verhindern, daß Deutschen Botschaft in London, machte neuen Welt: „Tomorrow.A Peaceful Path to die Ortschaft expandiert. Grund und Bo- die englischen Wohnungsbauprojekte in Real Reform“, hieß sein Buch (deutsche den – die eigentliche Stadt und der land- Deutschland bekannt. Auf den Hügeln über Erstausgabe 1907), das Furore machte. wirtschaftliche Ring um sie herum – sollten Dresden entstand die erste echte deutsche Howard wollte „alle Vorteile des inten- kommunales Eigentum werden. Seit 1903 Gartenstadt: Hellerau – noch heute äußer- siven, tätigen Stadtlebens mit all den entstand nach Howards Ideen Letchworth lich nahezu unverändert. Schönheiten und Freuden des Landlebens“ bei London, die erste Gartenstadt der Welt, In den Hellerauer Werkstätten fertigten vereinen. Die Gartenstadt war seine In- mit vielfältig gestalteten Häusern. die Angestellten eines Dresdner Möbelfa-

Das Antlitz der Städte Vom Jugendstil zu Beton und Glas SÜDD. VERLAG F. MONHEIM / ARCHITEKTON F. T. ANZENBERGER / AGENTUR ANZENBERGER ANZENBERGER / AGENTUR T. JUGENDSTIL REFORMPROJEKT GARTENSTADT BAUHAUS-ÄSTHETIK Miethaus Linke Wienzeile 38, gebaut 1898/99 Häuserzeile in Dresden-Hellerau, gebaut circa Wohnhaus für den Maler Lyonel Feininger in von Otto Wagner, der den Übergang vom 1910 von Richard Riemerschmid, einem Mit- Dessau, entworfen 1925/26 vom Bauhaus- Jugendstil zur Moderne mitgestaltete begründer der Gartenstadt-Bewegung Gründer Walter Gropius

142 der spiegel 21/1999 tekt Adolf Loos. „Seht, das macht ja die zeit umstrittene „Charta von Athen“. Die größe unserer zeit aus, daß sie nicht im- Architekten forderten die „saubere“ Tren- stande ist, ein neues ornament hervorzu- nung der Funktionen: Wohnen, Arbeiten, bringen“, jubelte Loos 1908 in seinem Auf- Erholung – all das sollte in unterschied- satz „Ornament und Verbrechen“. „Wir lichen Vierteln stattfinden. Kritiker der haben das ornament überwunden, uns zur Charta wandten ein, daß die Trennung der ornamentlosigkeit durchgerungen.“ Auch Funktionen das Gemeinschaftsgefühl störe der deutsche Architekt Bruno Taut rief, und daß bei der Verbindung des Getrenn- zwölf Jahre später, dazu auf, mit den ver- ten unnötig mehr Verkehr entstehe. spielten Zeiten abzuschließen: „Auf den Doch die Modernen wollten unbedingt Müllhaufen mit dem Plunder.“ die genormte Stadt, um neue Elendssümp- Rationalist Loos und seine Brüder im fe für Arbeiter für immer zu verhindern. Geiste meinten, Schönheit beruhe auf „Für viele Architekten des Bauhauses stan- Zweckmäßigkeit. „Form follows function“ den die Ordnung und die Sauberkeit für – so hatte es die sogenannte Chicagoer moralische Reinheit und Aufrichtigkeit“, Schule, eine Vereinigung früher Funktio- analysiert Ipsen. nalisten, schon vor der Jahrhundertwende Architekten wie Charles Edouard Jean- formuliert. Nun wurde diese Ästhetik neret, der sich Le Corbusier nannte, gaben enorm populär. sich dem Geometrierausch hin. Le Corbu- Das lag auch daran, daß die Massenfer- sier empfahl „ein einziges Bau-Modell für tigung nach und nach das Handwerk er- alle Länder und Witterungen“ und wollte setzte, und die Masse, so hieß es, benötige halb Paris mit einem Raster aus glei- schlichte Formen sowie Materialien, die chen Hochhäusern, aufgereiht an breiten, sich mechanisch verarbeiten ließen. schnurgeraden Straßen, neu aufbauen. Das Bauen sollte sich dieser Trendwen- Die Nationalsozialisten waren für der- de anpassen: „Die neue Zeit fordert den ei- lei Pläne nicht zu haben. Nazi-Architekt genen Sinn. Exakt geprägte Form, jeder Paul Schultze-Naumburg, ein Bauhaus- Zufälligkeit bar, klare Kontraste, ordnende Kritiker, faselte vom heimatlichen Ahnen- Glieder, Reihung gleicher Teile und Ein- erbe und liebte es klassizistisch-traditio- heit von Form und Farbe“, so beschreibt nell. Parteiideologe Gottfried Feder for- Architekt Walter Gropius die Ziele des so- derte 1939 in seinem Buch „Die neue genannten Neuen Bauens, das bald seine Stadt“: „Das seelenlose Schachbrettsy-

F. BLICKLE / BILDERBERG F. eigene Schule bekam: das Bauhaus in Wei- stem der amerikanischen Riesenstädte und ganze Welt Stadt geworden“ mar, gegründet 1919 von Gropius und spä- die völlig planlosen Stadterweiterungen ter von seinem Kollegen Ludwig Mies van der liberalistischen Epoche müssen über- brikanten allerlei Kunsthandwerkliches, der Rohe weitergeführt. wunden werden.“ durften dafür in schmucken Häusern mit Das Bauhaus schien sich als „Interna- Anfänglich ergingen sich die Nazis im Garten leben und konnten sogar im nahe tionaler Stil“ in Europa durchzusetzen, Großstadthaß, orientierten sich bei ihren liegenden Festspielhaus regelmäßig Kultur überall wurden rationale Großsiedlungen Umgestaltungsplänen an der heimeligen genießen. Natur, Kunst und Handwerk ver- in stark vereinfachten Formen geplant. Gartenstadtidee – und schadeten ihr da- söhnen – das war das treuherzige, heute Städtebauer Nicolai Miljutin konzipier- durch nachhaltig. Bis heute leidet die Gar- wieder erstaunlich populäre Ziel der Gar- te in den Zwanzigern eine sogenannte tenstadtgründer. Bandstadt für Wolgograd, trennte die Parallel zu den rührigen Sozialreformern Industriefläche durch einen Schutzgür- machte sich eine andere Gruppe ans Werk. tel von der Wohnstätte und nahm damit Die wollte auch das Leben des arbeitenden eine Idee vorweg, die bald Programm wer- Menschen verbessern, verfolgte ästhetisch den sollte. und praktisch aber ganz andere Ziele. Sie 1933 trafen sich Architekten aus fast al- forderte Versachlichung. len Städten Europas, um eine gemeinsame Ein früher Verfechter dieser neuen, tech- Grundlage für das moderne Bauen zu er- nisierten Ästhetik war der Wiener Archi- arbeiten. Heraus kam die berühmte, all- D. LEISTNER / ARCHITEKTON R. BURRI / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR R. BURRI / MAGNUM R. v. FORSTER / BILDERBERG R. v. WOHNMASCHINE DER MODERNE ÖKOLOGISCHES BAUEN GLAS-PASSAGEN Hochhaus in Berlin mit 550 Wohnungen, Solar-Wohnhaus in Staufen am Rand des Zeil-Galerie „Les Facettes“ in Frankfurt am gebaut 1957 vom französischen Rationalisten Schwarzwalds, entworfen Ende der achtziger Main, gebaut 1992 von dem Darmstädter Glas- Le Corbusier Jahre spezialisten Rüdiger Kramm

der spiegel 21/1999 143 Das Jahrhundert des sozialen Wandels: Flucht in die Stadt

tenstadt unter dem Ge- Er kündigte an, daß rücht, sie sei aus völki- sich die Wirtschaft darauf schen Idealen entstanden. einzustellen habe, Häu- Bald schon aber verlo- ser in Zukunft industriell ren die Nazis das Interes- zu fertigen – „schneller, se an der kleinen Form besser und billiger“. und lechzten nach monu- Der Meinung waren mentalen Dimensionen. westliche Städteplaner Berlin, die „Hauptstadt schon lange. Weil es auch des Führers“, sollte nach von Passau bis Kiel an dem Vorbild von Wien Wohnungen mangelte, und Paris gestaltet wer- wußte sich die Bauwirt- den, mit großen Boule- schaft nicht anders zu hel- vards und Prachtbauten. fen, als Massen von Flach- Hitlers Baumeister Albert dachkisten zu errichten. Speer liebte vor allem die Für aufwendigen Wieder- großen Achsen und Rie- aufbau fehlte die Geduld senplätze, die Schneisen – und auch das Bedürfnis.

für militärische Aufmär- SÜDD. VERLAG Nach einem wüsten Krieg sche abgaben. Hitlers Architekt Speer, Hitler (1936): Faselei vom Ahnenerbe fanden die Menschen die Doch die Nazis konn- Ordnung und Übersicht- ten ihre größenwahnsin- lichkeit der Moderne ein- nigen Pläne nicht umset- fach angenehm. Die alte zen. 1941 verbot Speer Welt war gescheitert, die alle Bauarbeiten, die neue würde es schon nichts mit dem Krieg zu schaffen. Von wegen. tun hatten, so daß die Architekt Karl Gruber Welthauptstadt Germa- warnte bereits 1952: „Der nia, mit der sich Hitler in Querschnitt dessen, was die Tradition der römi- heute in allen Gegenden schen Kaiser stellen woll- Deutschlands entsteht, ist te, nie erstand. erschütternd. Auch klei-

Spiegel des 20. Jahrhunderts Im Gegenteil: Deutsch- ne, völlig unzerstörte land versank in Schutt Städtchen wissen keine und Asche. Nach einem andere Lösung ihres Luftangriff in den letzten Wohnproblems als die Kriegsmonaten brannte Reihung fünfgeschossiger Dresden vier Tage und Zeilen, bei deren Anblick

vier Nächte lang. Am L. GRUNWALD man an Kartothekkästen Ende des Kriegs, im Mai Karl-Marx-Allee in Berlin: Luxuriöse Wohnblöcke für Werktätige oder an Karnickelställe 1945, waren in West- erinnert wird.“ deutschland von über 10 Millionen Woh- der DDR, etwa die Berliner Stalinallee Auf solche Stimmen hörten die Verant- nungen 2,3 Millionen völlig zerstört, eben- (heute Karl-Marx-Allee), wurden mit Säu- wortlichen nicht, denn sie bauten die Kar- so viele beschädigt. len, Balustraden und kräftigen Reliefs nickelställe offenbar im besten Gefühl, den Die Zukunft unter Hitlers Heil war ge- geschmückt – vergleichsweise luxuriöse Bewohnern damit einen Gefallen zu tun. scheitert – ran an die neue Zukunft. Wohnblöcke für Werktätige. 1957, bei der Planung der Berliner Gro- Wie die deutschen Städte wiederaufzu- In der brandenburgischen Peripherie ent- piusstadt – eine der inzwischen meistver- bauen seien, darüber waren die Meinungen stand zugleich Stalinstadt (heute Eisenhüt- achteten Wohnanlagen der Republik –, war im Osten wie im Westen bald genauso ge- tenstadt), laut „Berliner Zeitung“ von da- es diesmal Bausenator Rolf Schwedler, der teilt wie das Land selbst. Im Westen be- mals „die erste sozialistische Stadt Deutsch- hoffnungsfroh in ein besseres Morgen sannen sich die Städtebauer auf die Ästhe- lands“. Baumeister Kurt Leucht orakelte: blickte: „Es wird eine Verbesserung der tik des Bauhauses. Sie war von den Nazis „Die Anlage muß im Ideenausdruck von Wohnbedingungen angestrebt.An die Stel- diffamiert worden und galt nun als gesin- der Stalinschen Sorge um den Menschen le des ,repräsentativen Grün‘ muß das ,so- nungssicher. getragen werden.“ Schon wieder wurden ziale Grün‘ treten.“ Die Bauhaus-Pläne wieder hervorzu- Gebäude nach Ideologien geformt. Daß das soziale Grün ziemlich bald aso- kramen, diese Gelüste verspürten auch die Doch als gerade die ersten, aufwendig zial wirken sollte und die schäbige Be- Architekten im Osten. Doch Stalin hatte gebauten Häuser standen, diktierte Sta- tontristesse der Gropius-Hochhäuser zur andere Vorstellungen: Schlichtheit paßte lins Nachfolger Chruschtschow in Moskau Kulisse von Verwahrlosung und Banden- nicht in sein Konzept. Er fand, die Bau- den Kurswechsel. In seiner Rede auf der kriegen werden würde, damit hat der treu- kunst müsse ihn als sozialistischen Erlöser Allunionskonferenz der Bauschaffenden herzige Schwedler wohl nicht gerechnet. feiern. Seine Ära sollte Glanz und Üppig- am 30. November 1954 geißelte er die Ver- Die Leute mit etwas höherem Einkom- keit ausstrahlen. Die ersten Vorzeigebauten schwendungssucht seines Vorgängers. men gaben sich derweil einem anderen „Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; / mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, / vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn …“ Kurt Tucholsky, 1927

144 der spiegel 21/1999 Werbeseite

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kern. Arbeitsplatz und Wohnstatt zum Beispiel wurden 1973 Stadt und Kreis wurden immer krasser getrennt. zusammengelegt. Jeder der sieben Außen- Heraus kamen leblose Industrie- bezirke durfte eigene Vertretungen bilden. viertel und ganz woanders Wohn- Die Planer beschlossen in letzter Sekunde, bezirke, in denen es vielleicht mal den nahen Teutoburger Wald vor Zersied- einen Laden gab, aber sicher keine lung und Bebauung zu schützen. Schule, schon gar kein urbanes Le- Während im Osten Deutschlands die ben. Ein trauriger, später Sieg der Plattenbauten in der Fabrik vorgefertigt Charta von Athen. wurden,Architekten und Bürger dem Trei- Zur gegliederten, geordneten ben der Machthaber nichts entgegenset- Stadt paßte kein Schlendern auf zen durften, formierten sich in der Bun- Boulevards. Die Flaniermeile des desrepublik Bürgerinitiativen: „Verkehrs- 19. Jahrhunderts und noch der beruhigung“ war ihr erstes großes Thema. zwanziger Jahre wurde zur Fußgän- Es war 100 Jahre zu spät, daß sich die gerzone, die bald in allen Städten Bürger ein Mitspracherecht bei der Stadt- gleich – häßlich verhübscht – aus- gestaltung erzwangen. Zwar sollten sich die sah und den Städten nahm, was ih- öffentlichen Bauverwaltungen, die sich um nen an sich eigen ist: die Urbanität. die Jahrhundertwende etabliert hatten, für Zwar gab es in Deutschland in- die Belange der Bürger einsetzen, aber viel zwischen doppelt so viele Woh- zu oft vertrauten sie theoretischen Model- nungen wie vor dem Krieg, aber len, mißachteten das selbstverständliche

BPK auch der Unmut wuchs: In den Maß – wahrscheinlich, weil sie zugleich auch Architekt Gropius (1967)* Sechzigern beklagte Alexander Diener wechselnder Mächte sein mußten. Einheit von Form und Farbe Mitscherlich „Die Unwirtlichkeit Bereits 1953 hatte der Dichter und Dra- unserer Städte“ und Wolf Jobst matiker Bertolt Brecht die Erfahrungen der Wirtschaftswunder-Wachstumstraum hin. Siedler „Die gemordete Stadt“. Tenor: Die ganz normalen Leute als Kontrollinstanz Sie wünschten sich nichts sehnlicher als zweiten Gründerjahre hätten das Gesicht im Städtebau empfohlen: „Was sind schon ein Häuschen im Grünen. Die Stadtpla- der Republik für Generationen entstellt. Städte, gebaut / ohne die Weisheit des ner erlaubten jede Menge mehr oder we- In Trabantenstädten wie dem Märkischen Volkes?“ fragte er in seinem Gedicht niger genormter Einfamilienhäuser am Viertel in Berlin oder Köln-Chorweiler „Große Zeit, vertan“. Stadtrand. wechselte innerhalb eines Jahres die Hälfte Auf diesen Wunsch nach Identifikation „Wo es ehemals weite Flächen mit Obst- der Mieter. Schon wieder wurde die Wohn- reagierten die Architekten eigentlich erst

Spiegel des 20. Jahrhunderts baumwiesen gab“, so Städtebauforscher statt zum Infektionsherd für soziale Pro- 30 Jahre später: Die Postmodernen errich- Dietmar Reinborn, „befinden sich heute bleme und psychische Erkrankungen. Die ten seit den Achtzigern allerlei an- die ,Einfamilienhaussteppen‘. Die ange- Bewohner mußten sich in Mini-Einbau- heimelnde, mit klassischen Formen spie- strebte Individualität in Bauform und Gar- küchen zwängen. „Kochnische mit Wohn- lende Paläste – Säulen und Simse sind wie- tengestaltung nivellierte sich zu einer Kon- klo“, lästerten die Leute. Der Deutsche der gefragt. Seitdem der Glaube an den formität auf niedrigem Niveau.“ Städtetag erließ 1971 einen Aufruf „an alle“: Fortschritt abgewirtschaftet hat, blicken Schon wieder quoll, auch weil Millionen „Rettet unsere Städte jetzt!“ Architekten das erstemal seit langer Zeit von Flüchtlingen untergebracht werden „Zwanzig Jahre zu spät“, prangert sogar wieder zurück – nicht im Zorn, sondern mußten, ein Siedlungsbrei um den Stadt- der neutrale dtv-Atlas „Stadt“ an, hätten mit Sehnsucht und Anerkennung. sich die Stadtväter zu einer Gebietsreform Wolf Jobst Siedler notiert, daß die Post- * Vor dem Rosenthal-Werk in Selb. durchgerungen. Im westfälischen Bielefeld moderne zwar von den Anhängern einer R. BURRI / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR R. BURRI / MAGNUM Architekt Le Corbusier (vorne, 1959): Ein einziges Baumodell für alle Länder und Witterungen

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aussichtlich über 60 Prozent sein. Vor 50 Jahren gab es nur zwei Ballungsräu- me, London und New York, mit über acht Millionen Einwohnern. Im Jahr 2015 wird es wahrscheinlich weltweit 33 Me- ga-Citys geben, allein 27 in Entwicklungs- ländern. Auswirkung: ein rapider Flächenfraß, die Stadt drängt mit uferlosen Slums und gesichtslosen Vorstädten ins Land hinaus. Um etwa den Großraum London von Nord nach Süd zu durchqueren, muß ein Auto- fahrer heute 320 Kilometer zurücklegen. Seit die Zerfaserung der Städte das neue Schreckensbild der Planer ist, besinnen auch sie sich auf ein Ideal der Jahrhun- dertwende: Von Funktionstrennung keine Rede mehr, Verdichtung – Leben und Arbeiten an einem Ort – ist das Mode- wort. Wenn in Berlin heute Bürohäu- ser gebaut werden, muß mindestens ein

PICTURE PRESS Fünftel der Fläche für Wohnungen ausge- Piazza Rotonda in Rom: Sehnsucht nach Gemütlichkeit wiesen werden. Reine Bürostädte, etwa wie in Frankfurt-Niederrad, gelten als normativen Ästhetik als Stilmischmasch Mumford: „Einst war die Stadt Symbol ei- Fehlplanung. empfunden werde, aber „durchaus an- ner ganzen Welt. Heute ist die ganze Welt Damit stimmen sich die Stadtplaner auf thropologische Bedürfnisse“ erfülle: „Mit in vieler Hinsicht Stadt geworden.“ den Globalisierungsleitspruch „global den- ihren vielen Nischen kommt sie der Sehn- Die Zeitschrift „Geo“ sah im Jahr 1996 ken, lokal handeln“ ein und empfehlen, sucht nach Abwechslung, Privatheit, Far- eine ähnliche Entwicklung: „Jede Woche die Stadt als regionale Heimat wiederzu- bigkeit, Gemütlichkeit entgegen.“ wachsen Städte weltweit um eine Million begründen. Vor allem arrangierten sich Architekten Menschen. Bald wird die halbe Erdbevöl- In Deutschland bündelt sich das Inter- und Planer endlich mit dem, was schon da kerung in urbanen Regionen leben, häufig esse zur Zeit um die Neugestaltung der

Spiegel des 20. Jahrhunderts war. Die Gartenstädter, die Verfechter des in gigantischen, kaum regulierbaren Bal- Hauptstadt, und gemeint ist immer Berlin Neuen Bauens, die Nazis und die Staats- lungsräumen.“ Zu Beginn des nächsten als unverwechselbarer Ort, der dereinst Sozialisten wollten die Stadt neu erfinden Jahrtausends werde es mehr Städter als ausstrahlen soll auf die Nation – auf eine – alle scheiterten auf ihre Weise. Landbewohner geben. Berliner Republik. Während nun viele in der versöhnlichen Ein Riesensprung in 200 Jahren: Um Das Hauptstadtprojekt Potsdamer Platz Ästhetik der Postmoderne einen Ansatz 1800 lebten nur 3 Prozent der Weltbevöl- ist zwar alles andere als ein ästhetischer zur Rettung der Stadt entdecken, sehen kerung in der Stadt, 2025 werden es vor- Traumort, verbindet aber viele Aspekte, wieder andere die Lebensform die in eine neue Richtung wei- Stadt in naher Zukunft sterben. sen: geplant von internatio- Mega-Metropolen wie Tokio, nalen Architekten, dem Italie- Bangkok, Mexiko-City, São ner Renzo Piano und dem Paulo seien keine Städte mehr, Deutsch-Amerikaner Helmut sondern, so der Fachjargon, Jahn. Gedacht als Sitz global „Wachstumsregionen“. operierender Unternehmen, Eine Ausstellung im Pariser die umgeben sind von Cafés, Centre Pompidou beschwor Bars, Kinos und Theatern. 1994 den Untergang der Stadt Orientiert am historischen am Ende des 20. Jahrhunderts. Maß, an Geometrie und Grund- Alsbald werde die Welt flächen- riß jenes Platzes der Jahrhun- deckend urban sein. Die Ent- dertwende, damals, als im fernung zwischen A und B löse „Kaisersaal“ des Grandhotel sich durch Computervernet- Esplanade noch die Kron- zung in nichts auf. Die Stadt leuchter hingen. als ein gebauter, ortsfester öf-

fentlicher Raum werde ent- LANGROCK / ZENIT P. Susanne Beyer, 29, ist Kultur- behrlich. Stadthistoriker Lewis Potsdamer Platz in Berlin: Global denken, lokal handeln redakteurin beim SPIEGEL.

LITERATUR Jürgen Hotzan: „dtv-Atlas Stadt“. Deutscher Ta- den Städtebau in den vergangenen zwei Jahrhun- Heidede Becker, Johann Jessen, Robert Sander: schenbuch Verlag, München 1997; 272 Seiten – Sach- derten. „Ohne Leitbild? Städtebau in Deutschland und Eu- liche, leichtverständliche Erläuterungen zu Stadt- Gerhard Schweizer: „Zeitbombe Stadt. Die weltwei- ropa“. Karl Krämer Verlag, Stuttgart und Zürich 1998; planungsmodellen. te Krise der Ballungszentren“. Klett-Cotta-Verlag, 520 Seiten – Aufsatzsammlung über Chancen und Wolfgang Pehnt: „Die Architektur des Expressionis- 1987; 350 Seiten – Eine Mischung aus Reisebericht Scheitern städtebaulicher Konzepte. mus“. Hatje Verlag, Ostfildern-Ruit 1998; 368 Seiten und Sachbuch, gründlich und anschaulich. Werner Durth, Jörn Düwel, Niels Gutschow: „Ar- – Korrektur des zu sehr auf rationale Einfachheit Klaus Scherpe: „Die Unwirklichkeit der Städte. Groß- chitektur und Städtebau der DDR“. Zwei Bän- fixierten Moderne-Begriffs. stadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmo- de; Campus Verlag, Frankfurt am Main 1998; 1128 Sei- Dietmar Reinborn: „Städtebau im 19. und 20. Jahr- derne“. Rowohlt Taschenbuch Verlag 1988; 336 Seiten ten – Pionierrecherche von erst seit kurzem zugäng- hundert“. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1996; – Anspruchsvolle Aufsatzsammlung zum Lebens- lichen Quellen. 334 Seiten – Überblick über Reformideen für modell Stadt.

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STREITFRAGE Elf Milliarden Menschen? Von Rainer Paul m 12. Oktober wird es passieren – von Hunger und Elend – sich aufmachen sierung zusammen – das Auto wurde wahrscheinlich in einem der und in die Wohlstandsbastionen ein- zur Ikone des Fortschritts erklärt. ASlums der anschwellenden Mega- dringen. Hinzu kommt eine zweite, π Der Fernsehapparat, der den Besitzern städte Jakarta (10 Millionen Einwohner), nicht minder große Gefahr: Gelingt den die Errungenschaften des Nordens vor- Lagos (11 Millionen) oder Mexiko-Stadt Schwellenländern und, mit zeitlicher Ver- gaukelt, wurde ein unverzichtbares (17 Millionen). Dort wird sich an jenem zögerung, auch den Drittweltstaaten der Symbol bescheidenen Wohlstands. Tag, wie die Demographen errechnet ha- Sprung zu einem bescheidenen Wohl- π Die durch Hochleistungssorten von ben, das berühmteste Menschenkind des stand, droht die gesamte Biosphäre zu Pflanzen angestoßene „Grüne Revo- Jahrgangs 1999 durch den Geburtskanal kollabieren. lution“ samt der dazugehörigen Dün- einer Mutter zwängen: 80 Tage vor dem Millenniumswechsel soll der sechsmilli- ardste Erdenbürger geboren werden. Unmerklich hatte es angefangen: Rund zwei Millionen Jahre benötigte die Menschheit, bis sie – um 1800 – die Kopf- zahl von einer Milliarde erreichte. Nur 130 Jahre brauchte sie für die zweite Mil- liarde. Dann ging es immer fixer: 1960 lebten drei, 15 Jahre später schon vier Milliarden Menschen auf der Erde. Wenn der sechsmilliardste Bewohner

Spiegel des 20. Jahrhunderts zwölf Jahre alt wird, werden sieben Mil- liarden Menschen sich satt essen und ihr Brot verdienen wollen. Wird das gehen? Die Zweifel überwiegen. Die Zuversichtlichen bauen auf die jüngsten Statistiken. Danach wird zwar noch immer in rasendem Tempo gebo- ren: 152 Säuglinge pro Minute, 219 000 Menschen pro Tag, 80 Millionen pro Jahr. Aber die Wachstumskurve verläuft fla- cher, als noch zu Beginn des Jahrzehnts vorhergesagt. Favorisiert wird von den Forschern der Vereinten Nationen derzeit eine „mittle- Slumbewohner in Bombay: „Wettlauf zwischen Storch und Pflug“ re Projektionsvariante“. Ihr zugrunde liegt die Tatsache, daß vor allem in den Nicht zuletzt aufgrund solcher Überle- gemittel aus den Chemiefabriken des unterentwickelten Weltregionen seit 1990 gungen und Ängste haben in den vergan- Nordens sei geeignet, den Hunger aus die Zunahme gebremst ist. So wird die genen Jahrzehnten Vertreter des Nordens der Welt zu verbannen. Weltbevölkerung im Jahr 2050 vermutlich immer wieder die Forderung erhoben, daß π Eine Bewirtschaftung des Wassers im auf 9,4 Milliarden Menschen anwach- die armen Völker ihren Fortpflanzungs- großen Stil sei problemlos möglich; das sen, im darauffolgenden Jahrhundert die drang zügeln sollten. Doch vor allem die wohl wichtigste Lebensmittel wurde Elf-Milliarden-Grenze erreichen, danach Industriestaaten selbst haben zur jetzigen gestaut und großflächig zur künstli- aber nicht weiter zunehmen. Situation beigetragen: Mit ihrer Art des chen Bewässerung eingesetzt. Daß die Erdbevölkerung – bei einer Wirtschaftens, mit ihrer rücksichtslosen Heute scheint das drückendste Pro- Geburtenrate von durchschnittlich zwei Wachstumsphilosophie haben sie sich in blem der Menschheit, die Versorgung mit Kindern je Frau – irgendwann zwischen eine Sackgasse manövriert. Lebensmitteln, beherrschbar zu sein. Die 2030 und 2050 nochmals um die Hälfte ih- Um ihren eigenen Wohlstand zu meh- Welt produziert ausreichend Nahrung für res jetzigen Bestandes steigen wird, ist ren und zu wahren, drängen sie nicht nur alle, wenngleich nicht immer da, wo sie unstrittig. So wird dieselbe Frage weiter die Armen mit Macht dazu, es ihnen am dringendsten gebraucht wird. Klas- diskutiert werden, die bereits seit einem gleichzutun, sondern räubern sie nach sische Hungerländer wie Indien und Vierteljahrhundert Kongresse und Gip- Kräften aus. Dazu redeten sie den armen China können ihre Bürger ernähren und feltreffen beherrscht: „Wie viele Men- oder verarmten Nationen eine Reihe von exportieren zeitweise sogar Getreide. schen kann die Erde tragen?“ Überzeugungen ein, beispielsweise: Allem Anschein nach sind solche Er- Die reichen Nordstaaten fürchten, daß π Ein schnelles wirtschaftliches Wachs- folge aber zu teuer erkauft worden. Zwar die armen Massen des Südens – getrieben tum hänge ursächlich mit Automobili- kamen 1981 weltweit 732 Millionen Hekt-

150 der spiegel 21/1999 ar Land für den Anbau von Getreide un- konnte man ihn sieben Monate lang resertrag des darauf angebauten Getrei- ter den Pflug – 25 Prozent mehr als 1950. trockenen Fußes durchqueren. des könnten 200 Millionen Menschen Doch angesichts steigender Bevölke- Prekär ist die Situation auch am Nil, ernährt werden. rungszahlen sank real die Getreidean- um dessen Wasser sich Länder mit be- Daß die Menschheit trotz aller Wi- baufläche von 0,23 Hektar pro Kopf sonders hohem Bevölkerungswachstum drigkeiten den „Wettlauf zwischen Storch (1950) auf 0,12 Hektar im letzten Jahr. streiten: In Äthiopien, im Sudan und in und Pflug“ (so der österreichische Be- Schrumpfende Anbauflächen konnten Ägypten leben derzeit insgesamt 157 Mil- völkerungswissenschaftler Josef Schmid) bislang durch Bewässerung im großen lionen Menschen, in 50 Jahren werden zu ihren Gunsten wenden kann, scheint Stil aufgefangen werden. Die durchge- es mehr als doppelt so viele sein. dennoch möglich. Voraussetzung dafür hende Befeuchtung des Bodens erlaubte Verschlimmert wird die Situation noch, wäre, daß jedes Land sich auf eine natio- den weitflächigen Einsatz von Kunst- weil an den großen Strömen seit je die nale Bevölkerungspolitik verständigt, die dünger. Ertragreichere Nutzpflanzen großen Ballungszentren eines Landes lie- alle jeweils verfügbaren Ressourcen an sorgten für weiteren Produktionsanstieg. gen. Das fruchtbarste Ackerland an den Land und Wasser in ihre Planung mit ein- Doch alle Tricks scheinen nun erschöpft. Ufern wird zunehmend der landwirt- bezieht. Eine derartige politische Neu- Pflanzen für eine zweite schaftlichen Nutzung entzogen. Arbeits- orientierung würde allerdings den Bruch Stufe der Grünen Revo- lose und Verarmte, die es in die Me- überkommener Machtstrukturen und lution sind einstweilen gastädte drängt, brauchen Platz zum festgefügter Tabus erfordern. nicht in Sicht. Wohnen. Sie müssen sich der Stadtplaner Entsprechende Leitlinien waren schon Die größte Sorge der erwehren, die ständig mehr Raum benö- vor fünf Jahren auf der Weltbevölke- Ernährungsexperten aber tigen – auch für ein Produkt, das nach rungskonferenz in Kairo formuliert wor- gilt dem Wasser. 260 Mil- Ansicht der herrschenden Oberschichten den. Die Bevölkerungszunahme, so die lionen Hektar der welt- ein Land vom Ruch der Zweitklassigkeit Teilnehmer damals, sei nur dann zu stop- weiten landwirtschaftli- befreien kann: das Auto. pen, wenn die Selbstbestimmung der jun- chen Anbaufläche werden Löst aber die chinesische Regierung gen Frauen gestärkt werde. derzeit künstlich bewäs- ihre Vorgabe ein, „jeder Familie den Er- Nach den Ergebnissen einer Bevölke- sert, fast dreimal soviel werb eines Autos“ zu ermöglichen, wür- rungsstudie des amerikanischen Alan wie zur Jahrhundertmit- de das ausgepuffte Kohlendioxid von Guttmacher Instituts (AGI) sind nämlich te. 40 Prozent aller Nah- rund 200 Millionen chinesischer Autos rund 38 Prozent der weltweit 210 Millio- rungsmittel wachsen auf die Atmosphäre schwerstens belasten. nen Schwangerschaften pro Jahr unge- Äckern, die mit heraufge- Die Zahl der Automobile wächst welt- plant. Besonders hoch ist der Anteil der pumptem Grundwasser weit schneller als die Bevölkerung, ungewollten Schwangerschaften bei Müt- oder über verzweigte Ka- schneller auch als das Bruttoinlandspro- tern im Teenageralter. nalsysteme versorgt wer- dukt vieler Schwellen- und Entwick- Sowohl die Gesamtzahl der Kinder, den, die das Wasser aus lungsländer. In China und Mexiko rollen die eine Frau zur Welt bringt, als auch der Flüssen heranbringen. jedes Jahr eine Million neue Autos über Zeitpunkt der ersten Schwangerschaft Wie lange noch? Un- die Straßen. Südkoreas Bruttosozialpro- sind abhängig von der Schulbildung, dem strittig ist, daß der dukt stieg seit 1990 um knapp 50 Pro- Zugang zu Sexualaufklärung und emp- Grundwasserspiegel auf zent, die Zahl verkaufter Autos um das fängnisverhütenden Mitteln sowie be-

R. GILING / LINEAIR allen Kontinenten sinkt: Doppelte auf zwei Millionen pro Jahr. gleitender medizinischer Betreuung. in den großen chinesi- Ein Ende der Automobilwut ist kaum Aus Sicht der Bevölkerungsplaner am schen Anbaugebieten je- abzusehen. Zur Jahrhundertmitte, als 2,6 folgenreichsten wäre es, wenn die Frau- des Jahr um durchschnittlich 1,5 Meter, in Milliarden Menschen auf der Erde lebten, en darüber bestimmen könnten, wann sie Indien um etwa doppelt soviel. Dennoch gab es 50 Millionen Autos. Heute teilen das erste Kind und wie viele Kinder sie pumpen Indiens Bauern, als gäbe es kein sich fast 6 Milliarden Erdenbürger den insgesamt gebären. Morgen, sie entnehmen den unterirdi- Lebensraum mit 500 Millionen Perso- Wenn junge Frauen künftig im Durch- schen Reservoirs doppelt soviel Wasser, nenkraftwagen. In den nächsten 25 Jah- schnitt nur zweieinhalb Jahre mit dem wie durch Monsunniederschläge wieder ren dürfte sich ihre Zahl nochmals ver- Kinderkriegen warten, so eine Hoch- hereinkommt. doppeln. rechnung der AGI-Experten, werde das Weltweit fallen die großen Ströme re- Amerikas Städte haben bereits 50 Pro- Bevölkerungswachstum bis zum Jahre gelmäßig trocken. Der Gelbe Fluß, der zent ihrer Fläche für das Auto reser- 2100 um zehn Prozent geringer ausfal- eine der beiden Getreidekammern Chi- viert. Mehr als 150000 Quadratkilome- len, als bislang vorhergesagt. nas bewässert, mündete 1972 erstmals, ter nimmt das Straßennetz in Anspruch. für die Dauer von 15 Tagen, kläglich als Diese Fläche entspricht zehn Prozent des Rainer Paul, 58, ist Wissenschaftsredak- Rinnsal ins Gelbe Meer. Vorletztes Jahr amerikanischen Ackerlandes, vom Jah- teur beim SPIEGEL.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. DAS JAHRHUNDERT DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

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SLOWAKEI „Ich schäme mich nicht“ RUSSLAND Präsidentschaftskandidat Rudolf Schu- Eine Stimme ster, 65, stammt aus einer karpaten- deutschen Familie. Der Ingenieur ist Oberbürgermeister der zweitgrößten kostet slowakischen Stadt Ko∆ice (Kaschau) und hat die besten Chancen, in der Stichwahl am 29. Mai zum neuen 30000 Dollar Staatsoberhaupt der Slowakei gewählt zu werden. ußlands schlingerndes Staatsschiff Rhat seit Mittwoch wenigstens wie- SPIEGEL: Beim ersten Wahlgang am der einen Hilfskapitän auf der Brücke: 15. Mai haben Sie die absolute Mehrheit Mit 301 Jastimmen bestätigte die Duma nur um knapp drei Prozentpunkte den vormaligen Innenminister Sergej verfehlt. Ist die Stichwahl nur noch Stepaschin, 47, als neuen Premier von Formalität? Jelzins Gnaden. Der Kremlchef hat in Schuster: Wenn sich nächsten Sonn- gut einem Jahr bereits vier Kabinetts- abend noch einmal viele Wähler mobili- vorsteher verschlissen und verabschie- sieren lassen, bin ich zuversichtlich. dete sich nach diesem letzten Akti- SPIEGEL: Der autoritäre vitätsschub wieder in die Krankheit, Ex-Premier Vladimír diesmal Bronchitis. Me‡iar versucht ein 73 Deputierte waren gar nicht erst er- Comeback. War sein schienen. Nur 55 stimmten gegen den gutes Abschneiden eine Polizeigeneral, der einer der Regisseu- Überraschung für Sie? re des blutigen Tschetschenienkriegs Schuster: Der Zeitpunkt war. Die von der KP angeführten Frak- ist für ihn günstig: Viele tionen hatten sich noch nicht erholt von Leute begreifen nicht, ihrer Niederlage fünf Tage zuvor, als REUTERS daß unsere wirtschaft- PRESS S. GALLUP / SIPA sie gegen Boris Jelzin ein Amtsenthe- lichen Schwierigkeiten Schuster bungsverfahren in Gang zu bringen ver- Kommunisten in der Duma gerade das Erbe suchten. In keinem der fünf Anklage- Me‡iars sind. Nun behauptet er unver- punkte, darunter der staatliche Mas- bedeutet: von monatlich 10 000 Mark schämt, die neue Regierung tauge senmord im Kaukasus, aber auch der an Diäten und Spesen sowie der Dienst- nichts. Auch der Nato-Einsatz im Koso- Rückgang der Geburtenrate („Geno- wohnung in der Hauptstadt.Auch brau- vo treibt ihm viele Anhänger zu. zid“), war die nötige Zustimmung chen die Abgeordneten die Computer, SPIEGEL: Wie das? von wenigstens 300 Abgeordneten er- Kopiergeräte und Satellitentelefone in Schuster: Der Krieg im Kosovo ist in reicht worden. Enttäuschte Jelzin-Fein- den Moskauer Fraktionsbüros für die der Bevölkerung nicht sehr populär, de streuten die Behauptung, eine Ab- Wahlkampagne. Den Großmachtsüch- Me‡iar profitiert davon. Ich dagegen geordnetenstimme gegen das Impeach- tigen aller Fraktionen empfahl sich Ste- sehe trotz allem die Zukunft der Slowa- ment habe 30 000 Dollar gekostet. paschin mit starken Worten: Der Nato- kei in der EU und in der Nato. Unter Damit entfiel auch der Schutz des Par- Krieg in Jugoslawien sei „auch ein Me‡iar hat die Slowakei eine historische Schlag gegen Rußland“, die Rü- Chance verpaßt, gemeinsam mit Polen, stungsindustrie solle schleunigst Tschechien und Ungarn dem atlanti- aufgemöbelt werden. An die Ver- schen Bündnis beizutreten. fassung werde er sich dabei strikt SPIEGEL: Ihre Gegner werfen Ihnen Ihre halten, versprach der neue Pre- kommunistische Vergangenheit vor. mier: „Ich bin nicht General Pi- Sind Sie ein Wendehals? nochet, mein Name ist Stepa- Schuster: Ich war in den Achtzigern vor schin.“ Die Kommunisten, wel- allem Oberbürgermeister von Ko∆ice und che nach dem Abgang der von erst als solcher einer der Vorsitzenden ihnen tolerierten Regierung Pri- im früheren Nationalrat, dem Parlament. makow ihre beiden Kabinettspo- Als es in der Ostslowakei kein Trinkwas- sten verlieren, drohten mit Gren- ser gab, haben wir in Ko∆ice binnen zen ihrer Kooperationsbereit-

sechs Monaten Wasserleitungen gebaut. AFP / DPA schaft: Sollte Stepaschin in seine Wir haben die Stadt, in der die Luftver- Stepaschin, Jelzin Ministerriege, so KP-Chef Sjuga- schmutzung 300 Prozent über dem now, „anrüchige Figuren“ auf- Zulässigen lag, wieder saubergemacht. laments vor einer Auflösung, die der nehmen – etwa gescheiterte Wirt- Ich brauche mich nicht dafür zu schä- russische Präsident aber auch bei wie- schaftsliberale aus früheren Kabinetten men, was ich als sogenannter Kommunist derholter Ablehnung seines Premier- wie Jegor Gaidar, Anatolij Tschubais gemacht habe. Das wissen auch die Leu- Kandidaten hätte vollziehen können. oder Boris Nemzow –, dann werde sei- te. Deswegen haben sie mich zum zwei- Für die Deputierten hätte das noch vor ne Fraktion „nicht einem einzigen Ge- tenmal mit 75 Prozent der Stimmen zum den Neuwahlen im Dezember Verluste setz“ zustimmen. Oberbürgermeister gewählt.

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NIGER 300 km NIGERIA

NIGERIA Öldollar für die Abuja Ni ger Öl- und Gas- Minderheiten vorkommen KAMERUN ie neue Verfassung für Nigeria wird offiziell noch unter Verschluß ge- Go lf v Dhalten. Erst wenn der gewählte Präsident, Ex-General Olusegun Oba- on Guinea sanjo, am 29. Mai die Nachfolge der Militärs antritt, soll ihm die Konsti- tution übergeben werden. Ein Detail wurde vorab bekannt: Die ölfördernden Re- gionen sollen 13 Prozent des erwirtschafteten Beitrags von der Staatskasse zur ei- genen Verwaltung zurückbekommen. Nigerias Staatshaushalt wird fast ausnahms- los von Öleinnahmen getragen: Zwei Millionen Barrel Rohöl pro Tag bescherten dem größten afrikanischen Produzenten und Opec-Staat im letzten Jahr 7,3 Milliarden Dollar. Die Rückerstattung ist ein Durchbruch für die Minderheiten-Völker aus dem öl- reichen Nigerdelta. Sie kämpften seit Jahren für eine Be- teiligung, um verseuchte Böden und Flüsse reinigen zu können. In der Verfassung Nigerias von 1963 sollten Volks- gruppen wie Ogoni und Ijaw sogar 50 Prozent der Ein- nahmen erhalten, die geldhungrigen Militärs reduzierten den Anteil auf 1,5 Prozent – doch die Zahlungen ver- sickerten in der korrupten Verwaltung. Deshalb sehen die Völker im Nigerdelta die Verfassungsbestimmung mit Miß- trauen. Die Ijaw, viertgrößte ethnische Gruppe Nigerias,

G. DE KEERLE / GAMMA STUDIO X haben ein Ultimatum gestellt. Sollten sie wieder nicht be- Obasanjo teiligt werden, wollen sie einen Guerrillakrieg starten. Zerstörter Regenwald, verseuchtes Gewässer im

CHINA ner und Autos mit Son- dergenehmigung befahr- Run auf den bar sein. Fast das ge- samte Hauptstadtgebiet „Duftenden Hafen“ wird für Ortsfremde ge- sperrt, die mit einem ongkongs Regierung fürchtet eine Auto ohne Kat anrollen. Hriesige Einwanderungswelle von Auch Touristenbusse Festlandchinesen. Knapp 1,7 Millionen müssen draußen blei- Menschen könnten sich nach einer ben, ein ganzes Netz jüngsten Regierungsprognose in der von „grünen Straßen“ Sonderverwaltungsregion niederlassen bleibt dem öffentlichen – davon 692000 sofort. Ermöglicht Verkehr vorbehalten. wird der Run auf den „Duftenden Ha- Ähnlich rigorose Maß- fen“ durch ein umstrittenes Urteil des nahmen werden in vie- Obersten Gerichts, das Ende Januar len anderen Städten Bürgern der Volksrepublik China den vorbereitet, sie richten

Zuzug erlaubte, falls mindestens ein El- PRESS SIPA sich auch gegen die vie- ternteil in Hongkong lebt. Das Heer Abgaskontrolle in Mailand len hunderttausend der Zuwanderer könnte die ohnehin Zweiräder. Vom krebser- arg angespannte Lage auf dem Woh- ITALIEN regenden Benzol dürfen nach einer EU- nungs- und Arbeitsmarkt der ehemali- Verordnung nicht mehr als zehn Mikro- gen britischen Kronkolonie verschär- Fahrverbote in Rom gramm in einem Kubikmeter Luft sein. fen, argumentiert Hongkongs Regie- Tatsächlich sind die Werte in Rom mehr rung, die nun die Pekinger Zentrale bit- und Mailand als doppelt, im Zentrum Neapels rund ten will, juristisch einzugreifen. Oppo- fünfmal so hoch. Statt der maximal sitionelle halten die offiziellen Zahlen eil die Abgasbelastung gesetzlich zulässigen Kohlenwasserstoffmenge von allerdings für weit übertrieben. Danach Wfestgelegte Höchstwerte weit 200 Mikrogramm enthält die Stadtluft lebten in China 520000 uneheliche übersteigt, drohen in Italiens Städten in Mailand und im sizilianischen Cata- Kinder von Hongkonger Vätern – laut nach einem Dekret des Umweltmini- nia rund 1500 Mikrogramm pro Kubik- Statistik hätte damit jeder fünfte sters Edo Ronchi drastische Fahrverbo- meter, in Rom sind es gar 2280 Mikro- Hongkonger jenseits der Grenze eine te. So soll das historische Zentrum gramm – mehr als das Zehnfache der Geliebte. Roms künftig ausschließlich für Anwoh- zulässigen Höchstmenge.

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VIETNAM Zahl der rauschgiftsüchtigen Vietname- sen stieg seit 1993 um das Vierfache. Kriminelle Energie Nun will die Regierung in Hanoi mit drakonischen Strafen und einem eit der Kapitalismus in Vietnam Fuß Präventionsprogramm gegen Korrup- Sfaßt, verzeichnet das Land einen An- tion, Prostitution und Drogenmißbrauch stieg von Straftaten. Im bislang größten den Werteverfall stoppen. Schuld am Korruptionsprozeß stehen jetzt 77 Per- „sozialen Unheil“, sagt Huu Tho, Mit- sonen in Ho-Tschi-minh-Stadt vor dem glied des Zentralkomitees der KP, sei Volksgerichtshof – Mitglieder der Kom- die Öffnung gen Westen: Die Familien- munistischen Partei sowie einige Topmanager. Die Angeklagten haben angeb- lich in einem Geflecht von 41 Firmen mehr als eine halbe Milliarde Mark ver- schwinden lassen, überwie- gend öffentliche Kredite. Den beiden Hauptbeschul- digten droht die Todesstra- fe. Ähnliche Verfahren sind gegen zahlreiche ehemali- ge Angestellte staatlicher Banken und Beamte an- hängig; eine Reihe von Po- lizisten muß sich wegen illegaler Grundstücksge- schäfte verantworten. Auch D. PYPKE / ARGUS Gewaltverbrechen wie REUTERS nigerianischen Ölfördergebiet Mord und sexuelle Belästi- Korruptionsprozeß in Ho-Tschi-minh-Stadt gung nehmen zu. 70 Pro- zent aller Verhafteten sind Ersttäter, 30 strukturen seien „nicht mehr so stabil“, Prozent sind arbeitslos, etwa jeder viele Täter würden inspiriert von „Fil- zehnte Straffällige ist minderjährig. Die men mit Gewalt- und Sexszenen“. FINNLAND Ende der Neutralität? GROSSBRITANNIEN er Kosovo-Krieg hat die Diskussion Dum Finnlands historische Neutra- Krach zwischen Schotten und Engländern lität neu belebt. Während in Meinungs- umfragen die Zustimmung der Finnen och bevor am 1. Juli ein Großteil der Regierungsvollmachten für Schottland von zu einem möglichen Nato-Beitritt ange- NLondon an Edinburgh übergeben wird, ist Streit ausgebrochen. Es geht um Auf- sichts der Bombardierungen von etwa sichtsrechte in einem 6000 Quadratmeilen großen Stück Nordsee mit reichem Fisch- einem Drittel auf einen Tiefpunkt von vorkommen. Statt Booten des schottischen Fischereischutzes soll künftig die Royal derzeit 21 Prozent gesunken ist, schlägt Navy in dem umstrittenen Gewässer patrouillieren, sollen Verstöße gegen das Fische- ausgerechnet Ministerpräsident Paavo reirecht von englischen und nicht von schottischen Richtern geahndet werden. Die Lipponen, 48, eine größere Verzahnung neuen Autonomierechte für Schottland hatten es notwendig gemacht, die bislang nur von EU und Nato vor. „Es wird in Zu- durch Tradition festgelegten Seegrenzen zwischen England und Schottland verbind- kunft Situationen geben, in denen die lich zu regeln. Da die Landgrenze zwischen den beiden Teilen des Vereinigten König- USA keine Truppen schicken wollen, reichs von Südost nach Nordwest verläuft, verlängerten die Londoner Bürokraten Europa aber Verantwortung überneh- den Grenzverlauf in die Nordsee hinein und schanzten so England neue Küsten- men muß“, sagt der sozialdemokrati- gewässer zu. Dagegen protestiert nun der schottische Fischereiverband. sche Regierungschef. Das gehe nur „mit Nato-Truppen und Nato-Logistik“. Der Vorstoß Lipponens trifft seine Partner 100 km in der Regenbogenkoalition mit Konser- SCHOTTLAND vativen, Grünen, Linken und Schwe- Nordsee discher Volkspartei völlig unvor- bereitet. „Wir sollten bündnisfrei blei- Aberdeen ben“, sagt Verteidigungsminister Jan-Erik Enestam, 52, Vorsitzender der neue Grenze Schwedischen Volkspartei. Die finnische Edinburgh Neutralität sei schließlich einer der Berwick- alte Grenze Gründe für das Mandat ihres upon-Tweed

Präsidenten Martti Ahtisaari, im Koso- / REX FEATURES SUTTON-HIBBERT J. ENGLAND vo-Konflikt zu vermitteln. Fischfang vor der schottischen Nordseeküste

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ISRAEL Schrei nach Normalität Versöhnung im Innern und Frieden mit den Nachbarn erwarten die Israelis von ihrem neuen Ministerpräsidenten Ehud Barak. Nach seinem überwältigenden Wahlsieg weckt der ehemalige Generalstabschef Hoffnungen auf eine historische Wende.

ie Bilder glichen sich frappierend: ein Dumjubelter Politiker auf dem Rathausplatz von Tel Aviv, ausgelassen tan- zende junge Leute und dröhnende Musik. Schließ- lich beugt sich eine Frau zum Mikrofon und ruft die Menge dazu auf, gemein- sam zu singen – das „Lied des Friedens“. Nach diesem Song fielen am Abend des 4. Novem- ber 1995 drei Schüsse. Sie töteten den Premiermini- ster Jizchak Rabin und er- schütterten den jüdischen Staat in seinen Grund- festen. Bewußt wählte Israels neuer Ministerpräsident Ehud Barak, 57, am Diens- tag wieder diesen Platz, um seinen Anhängern in einer Siegesrede zu danken: „Ich gehe weiter auf dem Weg meines Freundes und Be- fehlshabers Jizchak Ra-

bin.“ Dann stimmte Barak REUTERS die Nationalhymne, die Ha- Premier Barak nach seinem Wahlsieg: „Ministerpräsident für alle Israelis“ tikwa, an, und strahlend schickte der Führer der Arbeitspartei sei- könnte es vorbei sein mit der verhängnis- Witwe Lea, die gebürtige Königsbergerin, ne Gefolgsleute nach Hause: „Morgen sind vollen Blockade, die drei Jahre lang alle di- erklärte, sie empfinde „zum erstenmal seit wir alle wieder an der Arbeit.“ plomatischen Bemühungen um eine Aus- Jizchaks Ermordung wieder richtige, tiefe Der Freudentaumel schien eine Zeiten- söhnung zwischen Israel und seinen arabi- Freude“. Ihr Mann hatte Baraks Talent früh wende anzukündigen. Korrigiert sich jetzt schen Nachbarn lähmte. erkannt und den Ex-General als Innenmi- die Geschichte, die 1995 mit der Ermor- Nicht nur in Europa und den USA wur- nister in sein Kabinett geholt. dung Rabins in eine Tragödie mündete? de der Neubeginn in Jerusalem mit Er- „Ehud Barak hat Geschichte gemacht“, Gibt es doch noch einen neuen, hoff- leichterung aufgenommen. Auch Palästi- erkannte selbst die nationalreligiöse Tages- nungsvollen Ausgang? Bedeutet der über- nenser-Präsident Jassir Arafat reagierte zeitung „Hazofe“ an und sprach von einem wältigende Wahlsieg Baraks wirklich den verhalten positiv: Mit dem Erdrutschsieg „Erdbeben“. 56 Prozent der Wähler hatten Durchbruch zum Frieden und zu einem li- Baraks hat der festgefahrene Friedenspro- bei der Direktwahl des Premiers dem beralen, humanistisch-säkularen Israel? zeß wieder eine Chance. höchstdekorierten Soldaten Israels ihre Tatsächlich erinnert die Stimmung über- Denn in dieser Wahlnacht überwand Is- Stimme gegeben. Mit soviel Autorität wie schäumender Fröhlichkeit an den Opti- rael ein doppeltes Trauma – den tiefsit- jetzt Barak ist schon seit langem kein mismus von 1992, als Rabins Wahl für den zenden Schock nach dem Anschlag eines Regierungschef mehr in die Koalitionsver- Nahen Osten den Aufbruch in eine neue jüdischen Attentäters auf den Friedensstif- handlungen gegangen. Epoche verhieß, die schon ein Jahr später ter Rabin und das Gefühl, unter der Re- Dabei ist der überdeutliche Erfolg in er- auf dem Rasen vor dem Weißen Haus im gierung von Benjamin Netanjahu in eine ster Linie ein vernichtendes Verdikt gegen historischen Handschlag von Rabin,Arafat Sackgasse geführt worden zu sein. Singend den abgewählten Premier Benjamin Ne- und Clinton gipfelte. und tanzend befreiten sich die Israelis vom tanjahu, der mit 44 Prozent der Stimmen Und gewiß bedeutet der Triumph Ba- lähmenden Druck der vergangenen Jahre. deklassiert wurde: Der ewige Taktierer, der raks mehr als nur einen demokratischen „Der Alptraum ist vorbei“, kommen- als ideologisch unbeugsamer Vormann von Führungswechsel in Jerusalem: Endlich tierte die Tageszeitung „Maariv“. Rabins nationalistischen „Großisrael“-Verfech-

158 der spiegel 21/1999 tern, Siedlern und religiösen Dogmatikern Arbeitspartei.Wieder einmal vertraut sich Vor allem aber in Washington wurde die angetreten war, hatte sich in der Praxis als der kriegs- und krisengewohnte Staat ei- Wahl Baraks mit Genugtuung aufgenom- lavierender Opportunist entpuppt. nem Offizier an – Barak, ältester Sohn li- men. Mit einem kleinen Seitenhieb auf den Nun mußte er dem amerikanischen Prä- tauisch-polnischer Einwanderer, der im widerborstigen Netanjahu betonte Clin- sidenten Bill Clinton, den er oft genug ge- Kibbuz aufwuchs, meldete sich schon mit ton, wie sehr er sich auf eine enge Zusam- nervt und frustriert hatte, in einem Tele- 17 Jahren zur Armee; er ist ein Produkt menarbeit mit Israels neuem Regierungs- fongespräch ankündigen, erst einmal einen jenes zionistischen Pioniergeistes, aus dem chef freue. Er versprach ihm, „mit aller „langen Urlaub“ zu nehmen. Womöglich so viele israelische Führer hervorgegan- Kraft für einen baldigen, anhaltenden und wird daraus ein Abschied für immer aus gen sind. umfassenden Frieden zu arbeiten, der Is- der Politik. In der Knesset aber büßte Baraks links- raels Sicherheit stärkt“. Der demagogische Likud-Chef hatte die liberales Bündnis unter Führung der Ar- Schon bald soll der amerikanische Nah- eigenen Anhänger enttäuscht, weil er, allen beitspartei sieben Sitze ein und rutschte auf ost-Vermittler Dennis Ross die Umsetzung früheren Versprechungen zum Trotz, bei 20 Prozent ab. „Das ist kein Linksruck“, des Wye-Abkommens wieder anschieben und die Chancen für die überfälligen Schlußver- handlungen über die Zu- kunft eines palästinensi- schen Staates ausloten. Möglich ist sogar ein neuer Friedensgipfel, an dem auch Jordaniens König Ab- dullah und Ägyptens Staats- chef Husni Mubarak teil- nehmen könnten. Selbst viele der unter Ne- tanjahu ständig gedemütig- ten Palästinenser haben seit dem Wahlsieg Ehud Baraks wieder Hoffnung geschöpft. „Die Botschaft, die die Israelis ausgesandt haben“, sagte ihr Chef-Unterhänd- ler Saïb Irakat, „bedeutet, daß sie Frieden mit den Palästinensern wollen und einen Wechsel.“ Leicht werden die Ver- handlungen auch mit Barak nicht werden. „Barak ist kein Anführer der Frie- densbewegung“, sagt der Publizist Tom Segev. In seiner Partei halten

AP viele Barak für einen „Fal- Feier der Arbeitspartei auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv: „Der Alptraum ist vorbei“ ken, der sich als Taube ver- kleidet hat“. Zu seinem den Verhandlungen auf der amerikani- erklärt denn auch der Historiker Dan Diner, Credo zählt die Maxime: „Hohe Zäune ma- schen Wye Plantation im Oktober 1998 „sondern ein Schrei nach Normalität.“ chen gute Nachbarn.“ Tatsächlich geht es Arafat gegenüber Konzessionen machte. Nach der Zeit des Hakenschlagens und dem Militär, der Mathematik, Physik und in Anschließend verprellte er die Palästinen- der Winkelzüge unter Netanjahu will die den USA Ökonomie studierte, vor allem ser und die USA, denn er hielt sich nicht an Mehrheit der Israelis eine kompetent und um Israels Sicherheitsinteressen; er zählte die gemeinsam ausgearbeiteten Abma- gradlinig geführte Regierung, die sich um nicht zu jenen Friedensvisionären der Ar- chungen. Skrupellos verriet er Koalitions- die wachsenden sozialen und wirtschaft- beitspartei wie Schimon Peres, die frühzei- partner und Kabinettskollegen, er log und lichen Probleme des kleinen Landes tig mit der Gründung eines palästinensi- trickste, vergraulte sogar seine Familie und kümmert – und dazu endlich Frieden schen Staates einverstanden waren. engste Freunde. schafft. In der Frage, was mit den jüdischen Sied- Selbst für die eigene Klientel war Ne- Auch die Staats- und Regierungschefs lungen im besetzten Westjordanland ge- tanjahu schließlich nur noch ein scham- des Westens setzen darauf, daß der festge- schehen solle, hielt er sich im Wahlkampf loser Wortverdreher. „Bibi schwindelt der- fahrene Nahost-Friedensprozeß wieder in bedeckt. Zumindest die „großen Blöcke“ maßen“, witzelten Anhänger seines Likud- Gang kommt. Bei ihnen löste Netanjahus sollten unter „israelischer Hoheit“ blei- Blocks, „daß auch das Gegenteil von dem, Abwahl am Montag spürbare Erleichte- ben, meinte er vage. was er sagt, noch eine Lüge ist.“ rung aus. „Lieber Freund“, gratulierte Ein kompromißloses Nein formuliert Ba- Mit Barak (hebräisch für „Blitz“) ent- Frankreichs konservativer Staatspräsident rak bei zwei anderen Streitpunkten: Er will schieden sich die Israelis für den zurück- Chirac dem sozialdemokratischen Wahl- Jerusalem nicht mit den Palästinensern als haltenden, in der Öffentlichkeit fast sieger Barak, „Ihr Triumph ist eine Hoff- Hauptstadt teilen und keine Rückkehr zu schüchternen und am Ende gerade deshalb nung für den Frieden.“ Ähnlich formulier- den Grenzen vor dem Sechs-Tage-Krieg vertrauenerweckenden Widerpart Netan- ten auch der deutsche Bundeskanzler Ger- von 1967. jahus. Doch das Votum gilt vor allem dem hard Schröder und der britische Premier „Die Verhandlungen mit Barak werden früheren Militär, nicht unbedingt seiner Tony Blair ihre Glückwünsche. kein Spaziergang“, räumt Irakat ein, der

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Baraks Veto als „schlechten Start“ kriti- Der Preis für die umstrittene Besetzung sierte. „Aber besser ein harter Verhand- ist hoch: Fast 900 israelische Soldaten ha- lungspartner als gar keiner.“ ben seit 1982 ihr Leben in dem bis zu 15 Ki- Daß der neue Regierungschef die meiste lometer breiten Gebiet verloren, und daß Zeit seines Lebens in Uniform damit ver- die Militärpräsenz im Südlibanon Sicher- bracht hat, gegen Araber zu kämpfen, ist heit bringt, glauben nur noch die allerwe- nicht gerade eine Empfehlung. Aber nigsten – wie zum Beweis schlugen in der schließlich machten die Palästinenser auch Wahlnacht „Katjuscha“-Raketen der liba- mit dem Ex-Militär Rabin gute Erfahrun- nesischen Hisbollah-Milizen im Norden gen. „Rabin war ein harter Brocken, aber Israels ein. ehrlich“, sagt der Vorsitzendes des palästi- Obendrein ist der Frieden mit Libanon nensischen Legislativrates, Abu Ala, „das von der Schutzmacht Syrien abhängig, und erhoffen wir uns auch von seinem Schüler Damaskus besteht auf der Rückgabe der Barak.“ 1967 eroberten Golanhöhen. Dort sind Sympathien auf palästinensischer Seite heute rund 18000 israelische Siedler po- gewann Barak jedenfalls, als er freimütig stiert. Die erste Hürde auf dem Weg zum eingestand, wenn er als Palästinenser ge- Frieden findet Barak daher innerhalb der boren worden wäre, hätte er wohl Karrie- eigenen Landesgrenzen. Der frühere Ge- re als „Terrorist“ gemacht. neralstabschef, der bislang eher das Kom- Als Soldat mag sich Barak zumindest mandieren als das Verhandeln gewohnt auch als Angehöriger einer nationalen war, muß sich jetzt um Koalitionspartner Widerstandsbewegung empfunden haben, bemühen. der vor Terror nicht zurückschreckt. Er Schachern will er dabei allerdings nicht,

befehligte eine Elite-Einheit, die hinter PRESS SIPA an einigen Grundelementen seiner Politik den feindlichen Linien palästinensische Ziehvater Rabin, General Barak (1995) soll kein Verbündeter rütteln dürfen. Die Kämpfer liquidierte oder syrische Offizie- „Hart, aber ehrlich“ Richtung gab Altmeister Peres vor: „Ich re entführte, um gefangene Israelis freizu- wünsche eine Koalition mit einem Pro- pressen. Intifada-Zeiten als Araber verkleidet ins gramm, nicht das Programm für eine Barak glänzte auch bei anderen Unter- Westjordanland und in den Gaza-Streifen Koalition.“ nehmungen: Im Overall eines El-Al-Me- schlichen und palästinensische Rädelsfüh- Selbst wenn Barak alle der Arbeitspartei chanikers stürmte er mit seiner Spezial- rer kidnappten. nahestehenden Politformationen in seine einheit 1972 auf dem Flughafen von Tel Nun muß der Experte im Tarnen und Regierung einschließt – von der links- Aviv eine von Palästinensern entführte Sa- Täuschen lernen, mit offenem Visier zu liberalen Merez über die neue Zentrums- bena-Maschine. 1973 schlich sich Barak, verhandeln und die früheren Feinde als partei und Scharanskis Bündnis der russi- verkleidet mit Lockenperücke, blauem Lid- Partner akzeptieren – auch jenseits der schen Einwanderer bis hin zu den erklärten schatten und üppigem Busen, nach Beirut, Landesgrenzen. Säkularisten der Schinui-Bewegung –, feh- um drei hohe PLO-Funktionäre hinzurich- Denn Barak hat nicht nur die Aussöh- len dem Wahlsieger unter den 120 Abge- ten, denen Israel vorwarf, die Geiselnahme nung mit den Palästinensern versprochen, ordneten der Knesset noch immer sechs bei den Olympischen Spielen in München der neue Premier sucht auch den Frieden Sitze bis zur Mehrheit. geplant zu haben. mit Libanon und Syrien. Dazu will er die Denkbar ist deshalb, daß Barak die Li- Außerdem gehörte Barak zu dem Kom- eigenen Truppen aus der von Israel bean- kud-Fraktion (19 Mandate) mit in seine Re- mando, das im April 1988 den Arafat-Ver- spruchten „Sicherheitszone“ im Südliba- gierung einbezieht. Nach dem prompten trauten Abu Dschihad in seiner Villa in Tu- non innerhalb eines Jahres abziehen. „Ich Rücktritt Netanjahus vom Parteivorsitz nis liquidierte. Er gilt sogar als Gründer hole die Jungs nach Hause“, hat er ver- sind die geschlagenen Konservativen mög- der berüchtigten Greifertrupps, die sich zu sprochen. licherweise umgänglichere Bündnispartner als die Orthodoxen der Schas-Partei. Die religiösen Ultras stiegen zwar mit 17 Mandaten zur drittstärksten Kraft der Knesset auf, sind aber schon aufgrund ihres wegen Korruption verurteilten Par- teigründers Arje Deri bei den Linken und Liberalen als Koalitionspartner verpönt. Der neue Premier, der antritt mit dem Versprechen, die tiefen gesellschaftlichen Gegensätze zwischen weltlichen und reli- giösen, zwischen europäischen und orien- talischen Israelis zu überwinden, hat noch einen „Weg voller Hindernisse und Krisen vor sich“, prophezeit daher Schimon Scha- mir, der frühere Botschafter Israels in Ägypten und Jordanien: Bis zum Frieden könne es „noch Jahre“ dauern. Barak, der gelobt, „Ministerpräsident al- ler Israelis“ zu sein, holte sich vergangene Woche erst einmal an zwei Orten Stärke und Zuversicht – am Grab Jizchak Rabins und an der Klagemauer.

AP Annette Großbongardt, Jubelnde Anhänger der religiösen Schas-Partei: „Weg voller Hindernisse“ Stefan Simons

160 der spiegel 21/1999 Beauftragte, Bevollmächtigte, Vermitt- ler und Sonderbotschafter reisten auf der Suche nach einem Ausweg aus dem De- bakel kreuz und quer durch Europa. Da be- wegte sich plötzlich ein politischer Treck gleich auf mehreren Schienen und vermit- telte den Eindruck, als wisse der eine Emis- sär nicht immer genau, welche Offerte ein anderer gerade in Belgrad sondiert. Be- troffen beobachtete Bonns Chefdiplomat Joschka Fischer diesen „Jahrmarkt der Ei- telkeiten“ und ließ den Akteuren der „glo- rious nations“ den Vortritt. Finnlands Präsident Martti Ahtisaari, ab Juli EU-Ratspräsident, hatte den Serben die Vorschläge schmackhaft machen sol- len, welche die sieben wichtigsten Indu- strienationen (G 7) 14 Tage zuvor mit Ruß- land (G 8) ausgearbeitet hatten. Doch zunächst wurde Jelzins Unterhändler Wik- tor Tschernomyrdin mit einem Forde- rungskatalog auf neuerliche Erkundungs- reise nach Belgrad geschickt; Ahtisaari hielt sich weise zurück. Am Donnerstag bekun- dete Tschernomyrdin vor dem Rückflug nach Moskau zur allgemeinen Überra- schung: „Wir haben einen Schritt vorwärts getan.“ Allerdings, der Westen bleibt skep- tisch. Den Finnen Ahtisaari hatte Bundes- kanzler Gerhard Schröder aus dem Ver-

R. de BENEDICTIS handlungshut gezaubert. Er wirkte mit bei Regierungschefs D’Alema, Schröder: Bodentruppen sind für Bonn undenkbar diesem Spiel, obwohl Europa längst einen Sonderbeauftragten hat, den Österreicher Wolfgang Petritsch. Und auch die Weltor- NATO ganisation berief gerade erst zwei Hoch- karäter als Kosovo-Vermittler, den slowa- kischen Außenminister Eduard Kukan und Markt der Eitelkeiten den schwedischen Ex-Premier Carl Bildt. Der Schwede gilt allerdings bei den Verwirrende Friedenssuche im Konflikt um das Kosovo. Amerikanern als inakzeptabel. Er hatte die Nato-Politik auf dem Balkan scharf kriti- Betonkopf Miloseviƒ macht Zugeständnisse. siert. Deswegen drängte US-Außenmini- sterin Madeleine Albright auf die Bestal- OC J9 heißt ein geheimnisvolles Nato- wiens Präsident Slobodan Milo∆eviƒ erst- lung des Finnen und fertigte die Uno mit Kürzel. Dahinter verbirgt sich eine mals Kompromißbereitschaft – just als die dem Hinweis ab, Bildt könne „nicht im Na- Jneue Kommandozentrale im militäri- Spannungen, Risse und Brüche überdeut- men der Nato verhandeln“. Das wiederum schen Hauptquartier des Bündnisses. Ihre lich wurden, welche die Front seiner 19 verstimmte Generalsekretär Kofi Annan, Arbeit im belgischen Mons entscheidet Nato-Gegner durchziehen. der daraufhin stärker auf Distanz zur West- derzeit mehr als fast jeder andere Stab der In der Nacht zum Donnerstag gab das Allianz ging. Allianz über den Mißerfolg des Luftkriegs Präsidentenamt in Belgrad bekannt, Ju- Angesichts des Durcheinanders im Lager gegen Jugoslawien. goslawien sei bereit, auf der Grundlage des seiner Gegner durfte der Großserbe Slo- Bei JOC J9 laufen alle Informationen Friedensplans der G-8-Staaten mit den bodan Milo∆eviƒ nun darauf hoffen, aus über zivile Flüchtlingshilfe zusammen, die Vereinten Nationen zu verhandeln. Der dem Zusammenstoß mit der mächtigsten nunmehr in immer größerem Umfang in Plan sieht unter anderem die Rückkehr der Militärallianz der Weltgeschichte zwar als die Krisenprovinz Kosovo rollt. Zeitweilig Flüchtlinge und die Stationierung einer in- Blessierter, nicht aber mit der Schmach der sind bis zu 16 Konvois gleichzeitig im ternationalen bewaffneten Friedenstruppe totalen Kapitulation hervorgehen zu kön- Kriegsgebiet. Immer häufiger muß JOC J9 im Kosovo vor. nen. Der Belgrader Kriegsherr mußte nur ganze Regionen von der Bombardierung In der neunten Woche des erfolglosen die gegensätzlichen Interessen und Erwar- ausnehmen. Dauerbombardements auf dem Balkan tungen seiner Kontrahenten gegeneinan- Versagt die Planung und treffen Nato- häuften sich in den Hauptstädten des der ausspielen, was er schon während des Bomben eine dieser Lastwagenkolonnen, Westens die Dissonanzen, wurde der Ruf Bosnien-Konflikts meisterhaft verstand. wie zuvor bereits albanische Flücht- kräftiger nach einer Feuerpause und einer Diesmal schickte er seine Vertrauten vor, lingstrecks, droht der Zusammenbruch der politischen Lösung – irgendwie und mög- die Gebrüder Kariƒ, Serbiens Rockefeller. öffentlichen Unterstützung für die gesam- lichst bald. Die sandten hektische Verhandlungssigna- te Militäraktion des Westens. Die schärsten Töne kamen am Donners- le in alle Welt aus (siehe Seite 163). Die begann vergangene Woche ohnedies tag aus Stockholm, nachdem eine Nato- Das blieb nicht ohne Wirkung. Zwar schon deutlich zu bröckeln. Mit sicherem Bombe die Residenz des schwedischen hatten US-Außenministerin Albright und politischen Instinkt signalisierte Jugosla- Botschafters beschädigt hatte. ihr britischer Amtskollege Robin Cook

der spiegel 21/1999 161 martialisch verkündet, die Verbündeten lich, sondern fast unvermeidlich, sollte seien heute „noch entschlossener als zu auch die jüngste Verhandlungsoffensive im Beginn“ des Luftkriegs am 24. März. Sand verlaufen. Denn eine Erkenntnis hat Doch das klang wie Selbstbeschwörung, sich inzwischen in nahezu allen Haupt- denn die Meinungsverschiedenheiten im städten des Kriegsbündnisses durchgesetzt: atlantischen Bündnis über den Fortgang Schlimmer als ein Bodenkrieg wäre die des Balkan-Konflikts werden immer deut- Niederlage der Nato gegen Milo∆eviƒ. licher. Das sieht auch Zauderer Bill Clinton, Seit Wochen drängen die Briten darauf, der am Dienstag vor Pfingsten erstmals er- den Rat der meisten Militärs zu befolgen kennen ließ, daß auch er eine Nato-Invasi- und die Befreiung des Kosovo mit Land- on des Kosovo nicht länger für unmöglich streitkräften vorzubereiten. „Die Bombar- hält. Auf Bodentruppen angesprochen, er- dierung kann noch Generationen dauern“, widerte der amerikanische Präsident, die schimpfte der britische Stabschef Sir Nato werde ihr Ziel „auf die eine oder die Charles Guthrie. Doch die amerikanische andere Weise erreichen“. Keine Möglich- Supermacht, so London, verweigere sich keit sei ausgeschlossen. überängstlich der unausweichlichen Ein- Bis dahin sollen die jugoslawischen sicht, daß die Nato ihre Ziele nur mit Bo- Truppen im Kosovo mürbe gebombt wer- dentruppen erreichen könne. den. Erstmals auch mit Kampfeinsätzen Unterstützung erfuhr London dabei von von ungarischen und türkischen Flugplät- ganz unerwarteter Seite. Italiens Premier zen aus will die Nato ihre Bombenflüge Massimo D‘Alema trat zum Auftakt vorige über der Region von derzeit gut 200 auf Woche mit einem Friedensplan an die Öf- täglich rund 700 steigern. fentlichkeit, der in Brüssel zunächst nicht In den ersten Junitagen, so die Planer rundheraus verworfen wurde: Für den Fall, des Pentagon, müßte die Allianz mit dem daß Moskau und Peking eine Uno-Resolu- Aufmarsch der Invasionstruppen beginnen. tion auf Basis der G-8-Vorschläge unter- Schon jetzt wächst die Zahl der Nato-Sol- stützten, solle die Nato eine Bombardie- daten auf dem Balkan Tag für Tag. Die Bri- rungspause offerieren. Sei Milo∆eviƒ auch ten schicken weitere 2300 Mann, darunter dann nicht zum Rückzug bereit, müsse der Westen einmarschieren. Jetzt klingelten in Bonn die Alarm- glocken. Er wolle sich aktiver um „eine politische Lösung“ des Kosovo-Konflikts bemühen, hatte der deutsche Kanzler ver- sprochen. Vergangenen Montag eilte er in die süditalienische Hafenstadt Bari, um sei- nem römischen Amtskollegen klarzuma- chen, daß Bodentruppen für Deutschland völlig „undenkbar“ seien. Tags darauf, beim Besuch der Brüsseler Nato-Zentrale, bekräftigte der Kanzler: „Es gibt über-

haupt keinen Grund, die Strategie zu ver- REUTERS ändern.“ Das mit den Bodentruppen sei Krisenstrategen Milo∆eviƒ, Tschernomyrdin eine „spezifisch britische Debatte“. In Belgrad bewegt sich was Bonn und Rom stehen vor ganz ähnli- chen Problemen, die aber völlig ge- gefürchtete Eliteeinheiten der Gurkhas. gensätzliche Handlungsstrategien erfor- Über 5000 amerikanische GIs stehen der- dern. Schröder wie D’Alema droht das zeit in Albanien – mit Kampfhubschrau- Ende ihrer Koalitionsregierungen. Die grü- bern, Raketenwerfern und Artilleriebatte- nen Mitregenten vom Rhein billigten nur rien; weitere 2200 Marines dümpeln in unter Schmerzen die Politik ihres Außen- ihren Landungsschiffen vor der Küste. ministers Fischer auf dem Konfliktparteitag Auch die Bundeswehr entsendet 600 zu- in Bielefeld. Einen Bodenkrieg würde das sätzliche Soldaten – zur humanitären Hil- rot-grüne Bündnis kaum überstehen. fe, versteht sich, allerdings mit der Gummi- Das Parlament in Rom bescherte dem Ermächtigung, sie dürften ihre Waffen auch Linksdemokraten D’Alema bereits einen zur Nothilfe für Verbündete einsetzen. Beschluß zur Unterbrechung des Bom- Immerhin, seit Donnerstag scheint klar: benkriegs.Aber die Italiener können nicht In Belgrad bewegt sich was. Vor allem die irgendein Kriegsende billigen, sondern nur Bonner Diplomatie bemüht sich nun um einen Ausgang, der schnell alle vertriebe- eine „simultane“ Verhandlungslösung mit nen Albaner zurück in das Kosovo führt. einer für alle Beteiligten gesichtswahrenden Stecken auch noch im Winter Hundert- Sicherheitsrat-Resolution. Zwischen Bom- tausende Kosovaren in mazedonischen und benstopp der Nato, Rückzug der Serben albanischen Zeltlagern, müßte vor allem aus dem Kosovo und Verabschiedung Italien eine gigantische Flüchtlingswelle der Uno-Resolution, so AA-Staatssekretär über die Adria fürchten. Wolfgang Ischinger, brauche „nur eine lo- Allerdings: Als Verzweiflungsakt scheint gische Sekunde“ zu liegen. dieser Bodenkrieg nicht mehr nur mög- Olaf Ihlau, Siegesmund von Ilsemann

162 der spiegel 21/1999 Ausland

SERBIEN Zorn auf den Rest der Welt Renate Flottaus Kriegstagebuch aus Belgrad SONNTAG, 16. MAI In der achten Woche der Nato-Bombarde- ments habe ich mich an den Schlaf in In- tervallen gewöhnt. Belgrad ist jetzt nicht mehr jede Nacht Zielscheibe der alliierten Strafaktion. Die meisten Einwohner sind überzeugt, mittlerweile auch den Angriffs- rhythmus zu erraten. Erfolgen die ersten Abwürfe schon um 22 Uhr, dann ist ein Generalangriff zu befürchten, häufig bis vier Uhr morgens nonstop. Immer wieder werden im Staatsfernse- hen Bilder vom Nato-Bombardement auf

das Kosovo-Dorf Kori∆a gezeigt. Eine ver- AP kohlte Hand, unkenntliche Lei- chenreste. 87 albanische Flücht- linge starben bei dem Bomben- Die Balkan-Korrespon- angriff des westlichen Verteidi- dentin des SPIEGEL, Re- gungsbündnisses in der Nacht auf nate Flottau, 54, verfolgt Freitag. Die Nato, wiederholt die das Kriegsgeschehen der- TV-Sprecherin im Brustton der zeit aus der Hauptstadt Überzeugung, würde die armen Jugoslawiens. albanischen Zivilisten töten und das Kosovo ethnisch säubern. Und die meisten serbischen Zuschauer sind überzeugt: Genauso ist es. Flottau, Belgrader Innenstadt: Den Rhythmus der Bombardements erraten Habe ich phantasiert, als ich fast ein Jahr im Kosovo durch albanische Dörfer lief, liert. Vielleicht ist die Nato ja auf Sparkurs, Gespräche in Belgrad, an seinen Pionier- die von Serben niedergebrannt wurden, ein Drohneneinsatz kostet 80000 Mark. geist und seine Begeisterung, anderen deut- und die Flüchtlinge in den Wäldern auf- Gelegentlich vergessen die Serben ihren schen Privatunternehmen ein Beispiel zu suchte, die nur unter OSZE-Schutz bereit Zorn auf den Rest der Welt. Dann, wenn geben. Im Januar mußte er fliehen, bedroht waren, wieder in ihre Dörfer zurückzu- man sich neueste Kriegswitze erzählt.Wie und unter massivem Druck der Offiziel- kehren? Nach dem Krieg werden wohl alle hat wohl Madeleine Albright auf einer len. Eine Nato-Bombe traf jetzt die Fabrik. Verwüstungen im Kosovo der Nato ange- Nato-Versammlung alle Vertreter einstim- Alles zum Teufel, schreibt Holtmann. Was lastet werden. mig von der Notwendigkeit eines Kriegs ihm blieb: 280000 Mark Schulden. Aber auch an die Nato hätte ich eine Fra- überzeugt? Sie stellte sie vor die Alterna- Max, mein schwarzer Labrador, leidet ge: Weshalb war es nicht möglich, über 600 tive: „Wollen wir Sex haben oder Krieg?“ seit einiger Zeit an Herzrasen und Muskel- Flüchtlinge tagsüber in Kori∆a zu orten, Ein Brief von Falk Holtmann trifft im zittern. „Kriegspsychose“, diagnostiziert samt ihren Traktoren vor den Häusern? Wie SPIEGEL-Büro ein. Er hatte nach Aufhe- der Tierarzt. Gott sei Dank ein leichter Fall stolz hatten mir deutsche Soldaten im ma- bung des Embargos gegen Jugoslawien im von Kriegsschädigung. Zahlreiche Hunde zedonischen Tetovo ihre Aufklärungsdroh- November 1995 in der Freihandelszone von in Belgrad mußten eingeschläfert werden, nen präsentiert, die im Kosovo selbst die Novi Sad (Vojvodina) eine Fabrik für weil sie auf die Bombardierungen mit un- Fliege in der Suppe fotografieren könnten. Getränke aufgebaut. Kostenpunkt: rund kontrollierter Aggressivität reagierten oder Auch Infrarot für Nachteinsätze sei instal- 600000 Mark. Ich erinnere mich an unsere mit nicht mehr zu stoppendem Bellen.

MONTAG, 17. MAI Belgrad hat offensichtlich Angst, die Nato könnte das Militärkran- kenhaus bombardieren – ein medi- zinisches First-class-Reservat für Militärangehörige, Politiker und Leute mit Beziehungen. Im Radio wird stündlich beteuert, der Gene- ralstab sei nach Zerstörung des Ge- neralstabsgebäudes nicht in das Krankenhaus verlegt worden. Ein serbischer Schriftsteller aus REUTERS AP Banja Luka in der bosnischen Re- Unternehmer Kariƒ mit Ehefrau und Hillary Clinton, bombardiertes Kori∆a: Enge Vertraute publika Srpska ruft mich an und

der spiegel 21/1999 163 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland bietet mir – auch im Namen anderer Ein- bis sich der Teufel selbst zerstöre – ein un- sind als enge Vertraute des jugoslawischen wohner – Asyl in „seiner Stadt“ an. 30000 geschriebenes Gesetz. Präsidenten bekannt – und als Entsorger in Serben, erzählt er, seien in den vergange- Radikalenführer Vojislav e∆elj, gleich- allen Nöten: von finanziellen Auslands- nen Wochen in die Serben-Entität geflüch- zeitig serbischer Vizepremier, kündigt an, transfers bis zur Ausarbeitung von Frie- tet. Vor allem jene, die vorher den Krieg daß der Vorsitzende der Demokratischen densinitiativen. Vor allem aber lieben es schürten, hätten sich beim ersten Bom- Partei, Zoran Djindjiƒ, des Landesverrats die ehemaligen Musikanten aus Peƒ (Ko- benregen abgesetzt. angeklagt werde. Djindjiƒ ist angesichts der sovo) zu repräsentieren: mit Hillary Clin- Ist es nicht merkwürdig, daß mir ausge- massiven Drohungen gegen ihn nach Mon- ton, Filmstars und Präsidenten. rechnet im Ex-Reich von Karad≈iƒ und tenegro geflohen. Der Amtssitz von Bogoljub Kariƒ, Mini- Mladiƒ, in welchem ich noch vor drei Jah- Mittlerweile wiederholt sich das Drama ster ohne Ressort, ist die Imitation feuda- ren ebenso um meine Arbeitserlaubnis serbischer Oppositionsfehden. Miodrag Pe- len Prunks: ein Arbeitszimmer mit ver- buhlen und bangen mußte, Zuflucht offe- ri∆iƒ, ehemaliger Vizepräsident der Demo- goldeten Tischen und Stühlen, mit Fami- riert wird? kratischen Partei, will Djindjiƒ als Führer lienbildern und Wappen an der Wand und Milivoje Novkoviƒ, Leiter des Informa- absetzen. Der habe mit seiner Flucht nach natürlich dem Porträt des Landesvaters tionsbüros des Kommandostabs der Ar- Montenegro Bevölkerung und Partei im Milo∆eviƒ in jedem Zimmer. Unten im Kel-

mee, behauptet, im Kosovo hätten vor dem Stich gelassen. Neue Oppositionsblöcke bil- ler arbeiten die Angestellten seines TV- Krieg nicht mehr als 800000 Albaner ge- den sich. Vuk Dra∆koviƒ hofft ebenfalls, Kanals BK (Brüder Kariƒ) auf zerfetz- lebt. Die taktische Nachkriegs-Marschroute stärkster Oppositionsführer zu werden. Da- ten Stühlen und Computern der ersten aus Belgrad wird damit immer klarer: Mehr bei baut er auf unzufriedene Sozialisten, Generation. will man auch nicht mehr ins Land lassen. die gegen die Dominanz der linken JUL- Mittlerweile sieht sich Kariƒ auch als Frie- Offizielle Angaben im Westen sprechen Partei von Präsidentengattin Mirjana Mar- densbote. Milo∆eviƒ, versichert er, wäre mit dagegen von 1,8 bis 2 Millionen Kosovo- koviƒ opponieren, sowie auf Armee- und 80 Prozent des Vorschlags der G-8-Gruppe Albanern vor dem Krieg. Polizeiangehörige. Insider geben ihm gute einverstanden. Der Rest sei „bedeutungs- „Politika“ informiert heute wieder über Chancen, falls er verspreche, die Korrup- los“ und in wenigen Stunden verhandel- die glorreiche Armee. Deren Kriegspoten- tion in Belgrad unangetastet zu lassen. bar. Demnach würde Belgrad Uno-Truppen tial sei ungefährdet – während die Nato- im Kosovo akzeptieren, auch unter Beteili- Flugzeuge tagtäglich wie reife Birnen auf DIENSTAG, 18. MAI gung aller Nato-Länder. Bevorzugt würden das jugoslawische Territorium fielen. Die Als „Chefvermittler“ in Sachen Frieden jedoch Staaten wie Österreich, Finnland, Kriegsfürsten der Nato seien auf der Ver- preist sich das Kariƒ-Imperium an. Die Dänemark, Rußland und die Ukraine.Ame- liererschiene. Jetzt könne man nur warten, Kariƒs, vier Brüder und eine Schwester, rikaner und Briten sollten erst im zwei-

166 der spiegel 21/1999 ten Schichtwechsel mit von der Partie Mihajlova sonnen sich junge Frauen in su- Serbe, sei der Friedhof mit Gräbern von sein – wegen ihrer eigenen Sicherheit. perkurzen Miniröcken, schlürfen Rentner Gefallenen übersät. Ein Rückzug der jugoslawischen Armee und Geschäftsleute in den kleinen Straßen- In Kru∆evac fordern Tausende aufge- auf den Stand der Holbrooke-Vereinba- cafés ihren „türkischen Kaffee“. Daneben brachter Eltern seit Tagen die sofortige rung vom Oktober 1998 wäre annehmbar. bieten fliegende Straßenhändler Bunt- Rückkehr ihrer Söhne aus den Kasernen. Die Polizei im Kosovo sollte sich aus Uno- gemischtes an: Bücher, Kriegsansichts- Die Stadthalle wurde mit Steinen und Ei- Soldaten, Albanern und Serben zusam- karten von eingestürzten Brücken und ern beworfen, das Haus des sozialistischen mensetzen. Häusern, Hunderte von CD-Raubkopien Bürgermeisters demoliert. Die Polizei ver- Die Deutschen, sagen die Kariƒ-Brüder internationaler Interpreten und natürlich haftete sechs der Organisatoren und De- betrübt, seien zu „Marionetten der USA“ eine immer größer werdende Palette von monstranten. Andere Städte wie Valjevo geworden, der Abgang von Helmut Kohl Kriegssouvenirs. Kaum ein Gegenstand, und ∏a‡ak wollen sich der Protestaktion zutiefst bedauerlich. Deutschland habe da- auf dem das „Target“-Zeichen nicht ver- anschließen. mit seinen zweiten Bismarck verloren. marktet wird. Die Staatsmedien beschuldigen den „Natürlich“, sagen Bogoljub und Drago- Im Kalemegdan-Park mit seiner Burgfe- Führer der Demokratischen Partei, Zoran mir Kariƒ unisono, „erwarten wir vom We- stung am Zusammenfluß von Save und Do- Djindjiƒ, hinter den Aufständen zu stecken.

sten, daß er mit einem großzügigen Mar- nau verkaufen Flüchtlingsfrauen ihre selbst- Djindjiƒs Parteizentrale in Belgrad wur- shall-Plan Jugoslawien wiederaufbaut.“ geklöppelten Deckchen. Rentner sitzen de mittlerweile zum drittenmal innerhalb Schließlich habe der auch alles zerstört. beim Schachspiel auf den Bänken, und je- von zehn Tagen von Rowdys attackiert. Und als Sammelzentrale für Wieder- der wirft natürlich einen Blick auf das Wahr- Vorab erfolgte jeweils eine telefonische aufbauhilfen biete sich das Kariƒ-Konsor- zeichen – das Denkmal des Dankes an Warnung. Auch morgen soll es wieder kra- tium an. Frankreich. Die Inschrift „Wir lieben Frank- chen, kündigten die sich selbst als „Mi- Es ist 16.30 Uhr. Seit einer halben Stun- reich, wie es uns 1914–1918 geliebt hat“ ist lo∆eviƒ-Fans“ bezeichnenden Banden an. de bomben die Verbündeten hörbar. Mein mit Farbe übertüncht. Trauerbänder um- Dies alles im Namen des Kosovo. Partei- Arbeitszimmer vibriert, die Fenster flat- schlingen jetzt das Podest. mitglieder werden nun rund um die Uhr tern, und ich frage mich: Haben die denn Daß der Armee-Einsatz im Kosovo kei- Wacht halten. Das Staatsfernsehen soli- nachts nicht genügend Zeit? ne Superman-Episode ist, wie die helden- darisiert sich mit den Anschlägen. Mit rührigen Propagandabilder im Fernsehen „Meinungsumfragen“ in der Belgrader MITTWOCH, 19. MAI suggerieren, wird auch immer mehr Eltern Bevölkerung will man beweisen, daß Hat sich Belgrad seit den ersten Kriegsta- von Soldaten bewußt. In Kur∆umlija, an Djindjiƒ auch für das Volk zum Judas gen verändert? In der Fußgängerzone Knez der Grenze zum Kosovo, erzählt mir ein wurde.

der spiegel 21/1999 167 Ausland

BALKAN „O Gott, das ist schiefgegangen“ Der britische Stratege Andrew Brookes über die Fehlkalkulationen der Nato, die Gefahr eines Bodenkriegs und das Versagen der politischen Führung

Brookes, 54, stu- druck, daß ihnen die Lösung des Kosovo- gen einige: „O Gott, das ist wohl schiefge- dierte in Cambridge Problems in Wahrheit gar nicht so am Her- gangen, gebt uns 100000 Mann Kanonen- Geschichte. Der Ex- zen liegt. Und wenn das nicht der Fall ist, futter.“ Da müssen die Leute doch das Ge- Air-Force-Offizier sollten wir überhaupt nicht in einen Krieg fühl haben, belogen zu werden. arbeitet heute am verwickelt sein. SPIEGEL: Wer will denn garantieren, daß Londoner Inter- SPIEGEL: Wurde dieser Krieg leichtfertig ein Bodenkrieg nicht auch zu unvorherge- national Institute vom Zaun gebrochen? sehenen Katastrophen führen würde? for Strategic Stu- Brookes: Wer anderen Ultimaten stellt, Brookes: Genau das ist doch der Grund,

dies. FOCUS JORDAN / NETWORK AG. P. darf sich nicht wundern, wenn er beim warum die westlichen Führer sich auf dem Wort genommen wird. Die Nato-Führer Balkan ursprünglich überhaupt nicht mi- SPIEGEL: Was hat die Nato nach gut acht- hatten sich vermutlich erhofft, eine Art Ra- litärisch engagieren wollten. Wenn Bis- wöchigem Bombenkrieg vorzuweisen? ketenschlag im Vorbeifliegen könne das marck heute zurückkäme, würde er genau Brookes: Ihre militärischen Ziele hat sie Problem lösen. Sie haben sich gründlich wissen, worüber wir hier sprechen. Wenn nicht erreicht. Sollte die Allianz sich vorge- getäuscht. man in einer solchen Situation Boden- nommen haben, den Kosovo-Albanern die SPIEGEL: Und all die Wunderwaffen konn- truppen einsetzt, besteht ganz sicher die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, ten da nicht helfen? Gefahr, noch andere Länder hineinzuzie- dann sind wir davon noch so weit entfernt, Brookes: Die funktionieren ganz ausge- hen. Wir haben uns selbst in eine Ecke daß längst der Winter einsetzen wird und zeichnet. Sie haben nur in diesem Krieg manövriert, aus der es nun keinen einfa- wir die Flüchtlinge statt dessen auf feste nichts zu suchen. Wer zum Golfspielen chen Ausweg mehr gibt. Die Rhetorik der Quartiere in aller Welt verteilen müssen. geht, nimmt keinen Baseballschläger mit. Nato-Führer war so hoch gespannt, daß SPIEGEL: Also wird sich die Nato-Strategie Die Fernlenkwaffen sind entwickelt wor- ich nicht sehe, wie sie ohne ernsthaften ändern müssen. Was ist zu tun? den, um beispielsweise massierte Panzer- Gesichtsverlust da wieder herauskommen. Brookes: Unter ausschließlich militärischen formationen in der Norddeutschen Tief- SPIEGEL: Also sollten wir schleunigst auf- Gesichtspunkten wären Bodentruppen ver- ebene aufzuhalten. Sie sind nicht gebaut hören, über Bodentruppen zu reden? mutlich die beste Lösung, die ethnischen worden, eine Gruppe von Leuten daran zu Brookes: Wenn sich die Europäer aufraf- Säuberungen aufzuhalten. hindern, mit Messern zu morden. fen könnten und Truppen rund um Serbi- Ansonsten gibt es nur zwei Möglichkei- SPIEGEL: Können Sie nachvollziehen, daß en stationieren würden, bestünde immer- ten: Erstens, man verhandelt erneut mit viele Europäer sagen: „Wir wollen nicht hin noch die Möglichkeit, Milo∆eviƒ an den Milo∆eviƒ, beide Seiten erklären sich zu tiefer in den Konflikt verwickelt werden“? Konferenztisch zu zwingen. Dann würden Siegern und gelangen zu einem Kompro- Brookes: Die Frage ist schon, wie lange wer- seine Generale vermutlich sagen: „Bislang miß. Oder aber: Man will nicht mit Mi- den die Nato-Länder das Vertrauen in ihre ist ja alles gutgegangen, aber dagegen kön- lo∆eviƒ verhandeln, weil er noch nie ein Politiker behalten? Seit mehr als 50 Tagen nen wir uns nicht mehr verteidigen.“ Es Versprechen gehalten hat. Dann muß man haben die immer wieder behauptet: „Der würde einen Faktor von Unsicherheit in den Serben sagen: „Okay, wir hören auf zu Luftkrieg wirkt, vertraut uns“ – und dann die Berechnungen von Milo∆eviƒ bringen, bomben. Ihr werdet zum Paria-Staat unter wissen die noch nicht einmal, wo die chi- und er müßte sich endlich wieder Sorgen striktem Embargo. Solltet ihr Milo∆eviƒ los- nesische Botschaft in Belgrad liegt. Jetzt sa- machen. Interview: Hans Hoyng werden und euch entschließen, in die zivi- lisierte Welt zurückzukehren, hier ist un- sere Telefonnummer.“ Einfach nur mit dem Luftkrieg so weiter- zumachen wie bisher, ist dagegen ein si- cheres Rezept, die Nato-Allianz zerbre- chen zu lassen. SPIEGEL: Der einzige Nato-Führer, der schon lange bereit scheint, Bodentruppen zu entsenden, ist Tony Blair. Ist eine Koso- vo-Invasion überhaupt durchführbar? Brookes: Rein militärisch sicher. Serbien ist ein kleines Land, das in der Geschichte im- mer wieder militärisch geschlagen wurde. SPIEGEL: Das ist doch illusorisch. Die Fran- zosen beschweren sich bereits öffentlich, Blairs Vorpreschen spalte die Nato. Auch die Deutschen bleiben bei ihrem Nein zu Bodentruppen.

Brookes: Wenn ich mit Deutschen oder REUTERS Franzosen spreche, gewinne ich den Ein- Premier Blair, britische Soldaten in Mazedonien: „Die Nato hat sich gründlich getäuscht“

168 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite der passive Widerstand Rugovas ein histo- rischer Fehler gewesen. Besonders Unge- duldige wie Thaçi erklären: Nicht über friedliche Vermittlung werde sich die Ko- sovo-Frage entscheiden, die wahre Macht komme aus den Gewehrläufen. Anstatt mit väterlichem Großmut auf die Anschuldigungen seiner politischen Ziehsöhne zu antworten, kontert Rugova harsch. Nur vor internationalen Fernseh- kameras gibt sich der Schriftsteller kulant und immer lächelnd. „Es ist tragisch und zugleich komisch, daß wir in dieser Zeit zwei Übergangsregierungen haben“, be- dauert Rugova milde, „wir müssen unser politisches Leben reorganisieren.“ Das rote Halstuch – eine Erinnerung an seine Mut- ter –, die Hornbrille, sein wirres, schütte- res Haar machen den albanischen Bilder- buch-Pazifisten aus, den das westliche Pu- blikum gern sehen möchte. Doch Rugova kann auch eiskalt mit dem

REUTERS politischen Gegner umspringen. Und er UÇK-Ausbildungslager in Nordalbanien: „Einzig wahre Stimme des Volkes“ weiß sich für Kritik bitter zu rächen. Über seinen Mitstreiter Sali Berisha, Ex-Präsi- zu entscheiden. Während die Nato in der dent und radikaler Oppositionsführer Al- ALBANER neunten Woche Luftschläge gegen serbische baniens, ließ er aus dem fernen Bonn Stellungen führt, fechten der LDK-Patriarch seinen Landsleuten ausrichten, in Tirana Patriarch und und der UÇK-Partisan noch gegen einen herrsche ein „Regime von Gaunern und anderen Feind, mit Verleumdungen und Betrügern“. Die hätten nur eines im Sinn: Haßtiraden. Sie stacheln ihre Anhänger zu aus der Tragödie im Kosovo für sich und Partisan tätlichen Angriffen gegen Mitglieder der je- ihre Familien persönlich Kapital zu schla- weils anderen Fraktion auf – und verspielen gen. Das Schicksal der Vertriebenen und Im Krieg gegen die Serben so vollends ihren Anspruch als Gestalter ei- Flüchtlinge sei dieser „machthungrigen Cli- ner Nachkriegsordnung im Kosovo. que von Altkommunisten“ gleichgültig. kämpfen die Exilregierungen Seit einigen Tagen residiert Rugova nach Hintersinn dieser Rhetorik: Dem Bel- von Rugova und seiner spektakulären Entlassung aus serbi- grader Regime war es in den vergangenen Thaçi auch gegeneinander. schem Hausarrest als Gast der ihm wohl- Wochen mehrmals gelungen, Rugova bei gesinnten deutschen Regierung mit seiner telegen inszenierten Treffen mit hohen ser- ie beiden Albanerführer haben viel Familie in einem Bonner Hotel. gemeinsam: Beide entstammen ei- Die militanten UÇK-Rebellen dagegen, Dner wohlhabenden Grundbesitzer- eher Favoriten der USA, fanden im Mut- familie. Beide haben, Ausweis ihrer Eigen- terland Albanien treue Verbündete. Die so- ständigkeit, in Westeuropa studiert und sich zialistische Regierung unter Ministerprä- politisch schulen lassen. Und beide verfü- sident Pandeli Majko stellt den Komman- gen über eine breite Anhängerschaft. dos großzügig Waffen, Militärfahrzeuge Mit gleichem Eifer erhoben sie auch ihre und Kasernen zur Verfügung – mit Billi- Stimme gegen den serbischen Terror. Bei- gung der Amerikaner und zum Mißfallen de sind von Haus aus Nationalisten. Sie der Europäer. Die Rekrutierung immer würden, wenn sie könnten, auf der Stelle neuer Kämpfer aus den Flüchtlingslagern die Unabhängigkeit einer „Republik Ko- in Nordalbanien und Mazedonien wird zur

sova“ ausrufen, den kriegsgeschüttelten patriotischen Pflicht verklärt, unterlegt mit AP Balkanzipfel zum jüngsten Staat Europas Kampfmusik und Kriegspropaganda über Albaner Rugova, Thaçi* erklären. die Wellen von Radio Tirana. „Regime von Gaunern“ Sie hätten ein harmonisches Tandem ab- Fast alle albanischen Zeitungen sind auf geben können, jetzt aber kämpfen sie ge- den UÇK-Kurs eingeschworen, die elek- bischen Persönlichkeiten im heimischen geneinander: Ibrahim Rugova, 55, Vorsit- tronischen Medien sind fest in der Hand Fernsehen vorzuführen und zu demütigen. zender der Sammelbewegung Demokrati- von Thaçi-Sympathisanten.Auf Mittelwel- Dabei sprach sich der Albanerführer – sche Liga des Kosovo (LDK), und Hashim le sendet Radio Tirana rund um die Uhr zum Erstaunen der Kosovaren – für ein Thaçi, 31, Vorsitzender des politischen balkanweit Lobpreis auf den Freiheits- Ende des Nato-Luftkriegs aus, was ihn bei Arms der kosovarischen Befreiungsarmee kampf der UÇK, und abends bringt das den meisten seiner Landsleute diskredi- (UÇK). Jeder hat bereits eine eigene Exil- Satelliten-TV Schmähungen auf den Ver- tierte. Rugovas schrumpfende Anhänger- regierung proklamiert und beansprucht für räter Rugova – den „serbischen Bastard“. schaft entschuldigte sein Verhalten mit dem sich und seine Seilschaft, die „einzig wah- Schon länger werfen die jungen Kosovo- Hinweis, ihr Vorbild sei unter Drogen ge- re Stimme des albanischen Volkes“ zu sein. Albaner ihrer Väter-Generation mangeln- setzt und mit dem Leben bedroht worden. Es ist eine bizarre, in ihren Auswirkungen den Widerstand gegen den wachsenden Doch auf freiem Fuß, gestand Rugova tragische Situation, in die Rugova und Thaçi serbischen Nationalismus vor. Angesichts gleich ein, er habe mit Präsident Milo∆eviƒ ihr Volk führen. Sie versuchen, den Kampf des Belgrader Polizeiterrors in den ver- der Worte – neben dem der Waffen – für sich gangenen zehn Jahren, so ihr Argument, sei * Auf der Pariser Friedenskonferenz am 18. März.

170 der spiegel 21/1999 Ausland tatsächlich diskutiert, „wie man ein Klima des Vertrauens zwischen uns schaffen kann“. Damit brachen die Lagerkämpfe zwischen den verfeindeten Albanerpartei- en erst richtig auf. Erst Tage später korri- gierte sich Rugova und beteuerte, alles, was er mit der serbischen Seite unter- schrieben habe, sei „ohne Bedeutung“. Der zuweilen seltsam abwesend wir- kende Albanerführer ließ auch das Bonner Außenamt ratlos. „Rugova wirkt wie je- mand, der seine politische Zukunft ver- spielt hat“, urteilte ein Berater von Außen- minister Joschka Fischer nach einer Be- gegnung mit dem Albanerführer, „der ist ausgebrannt.“ Die Zerstrittenheit der kosovarischen Politiker schwächt außerdem die albani- sche Seite in einem künftigen Friedens- prozeß. Das liege nach dem Motto „Teile und herrsche“ gewiß im Interesse Belgrads, spekulierte die UÇK-nahe Tageszeitung „Koha Ditore“. Ein albanischer Radio-Kommentator ging noch weiter: Der politisch undurch- sichtige Rugova habe für den Preis eines Arrangements mit Belgrad wieder auf der politischen Bühne erscheinen dürfen, ganz anders sei es der grauen Eminenz der LDK ergangen, Fehmi Agani. Der hatte sich bis zuletzt geweigert, mit Milo∆eviƒ Pseudo- verhandlungen zu führen. Agani wurde vermutlich an dem Tag ermordet, an dem Rugova in die Freiheit ausreisen konnte. Für den Westen mag die Uneinigkeit der Albaner vordergründig Vorteile bieten: Stützt man den moderaten Rugova, so das Kalkül, entsteht ein Gegengewicht zur ge- waltverherrlichenden Rebellenführung – und die millionenschweren Spendenfonds der UÇK-Sympathisanten für Waffenkäu- fe bleiben vorerst eingefroren. Denn im Streit zwischen Thaçi und Ru- gova geht es vor allem auch ums Geld. Un- ter Rugovas Führung wurde seit 1992 eine Art Schattenstaat im Kosovo aufgebaut, die selbsternannte „Republik Kosova“ – illegal, aber von Belgrad geduldet. Die Ko- sovaren boykottierten die serbischen In- stitutionen, gründeten eigene Kranken- häuser, Schulen, sogar eine Universität. Soweit wie möglich regierten sie sich selbst, erhoben auch ihre eigenen Steuern. Vor allem Gastarbeiter und Emigranten wurden dazu verpflichtet, mindestens drei Prozent ihres Nettolohns an diese „Repu- blik Kosova“ abzugeben, und zwar größ- tenteils auf Konten in Deutschland. Seit Ausbruch des Kriegs betrachtet sich aber die Thaçi-Regierung in Tirana, von den Amerikanern gesponsert und wie Freiheitshelden gehätschelt, als einzi- ger legitimer Rechtsnachfolger der Rugo- va-Konten und fordert deren Übergabe. Die britische Militärzeitschrift „Jane’s Defence Weekly“ vermutet, daß in den vergangenen acht Jahren viel Geld ge- sammelt worden sein soll: 300 Millionen Dollar. Roland Schleicher

der spiegel 21/1999 FOTOS: F. HORVAT / SABA HORVAT F. FOTOS: Überfülltes Flüchtlingslager im mazedonischen ∏egrane: Furcht um die Balance der erst acht Jahre alten Republik

MAZEDONIEN Das Gespenst des Bürgerkriegs Im Dorf Matej‡e nahe der Grenze zum Kosovo lebten Serben und Albaner friedlich zusammen. Doch durch Milo∆eviƒs Vertreibungspolitik und die Nato-Angriffe wachsen die Spannungen – Mazedoniens fragiler Burgfrieden ist in Gefahr.

er Himmel über Matej‡e sieht aus sovo, das gleich hinter den Bergen des ma- könnte die Freundschaft abrupt beenden, wie ein blauweißer Schnittmuster- zedonischen Schwarzwalds beginnt. deshalb vermeiden die Nachbarn tunlichst Dbogen. Kreuz und quer laufen die In Matej‡e leben etwa 3500 Einwohner. Gespräche über das, was 20 Kilometer wei- Kondensstreifen über das Firmament. Es Die meisten beten in der Moschee. Ein klei- ter im Kosovo vor sich geht. wird heiß werden, die Luft zittert schon am nerer Teil der Bevölkerung wartet an Fei- Das ist nicht ganz einfach, denn Azemi Morgen. ertagen darauf, daß der Pope aus dem zehn hat wochenlang Flüchtlinge aus dem Ko- Heute ist einer dieser Tage, an denen Kilometer entfernten Städtchen Kumano- sovo bei sich beherbergt. To∆iƒ glaubt, die die Tabakbauern auf den Feldern immer vo die orthodoxe Kirche aufschließt. seien vor den Nato-Bomben geflohen.Aze- wieder ihre Arbeit unterbrechen. Sie hö- Etwa 100 Häuser werden von Serben be- mi, ein Jahr jünger als sein 67jähriger wohnt, 600 von muslimischen Albanern, Nachbar, weiß es besser, behält die schlim- die zur Zeit Hunderte Flüchtlinge bei sich men Berichte seiner Schützlinge über die beherbergen. Viele Dörfler schöpfen ihr serbische Soldateska aber lieber für sich. Wasser aus hölzernen Brunnen, über die Flüchtlinge seien das nicht gewesen in staubige Hauptstraße ziehen Maultiere den seinem Haus, sagt er und hebt abwiegelnd Heuwagen. die Hände, „das waren alte Bekannte“. Wenn Budimir To∆iƒ und sein Nachbar To∆iƒ blickt den Nachbarn erstaunt an. Agron Azemi das Dröhnen am Himmel Azemis „alte Bekannte“ sind inzwischen vernehmen, bekreuzigt sich der eine vor in einem Flüchtlingslager des UNHCR un- Schreck, der andere aber dankt Allah für tergekommen. Sie gehören zu den minde- das lärmende Schauspiel in 10000 Meter stens 230000 vertriebenen Albanern, die in Höhe. To∆iƒ, der Serbe, und Azemi, der Al- dem kleinen, ehemals zu Jugoslawien ge- baner, kennen sich seit fast sieben Jahr- hörenden Land aufgenommen wurden. zehnten. Als Kinder haben sie zusammen Um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, Albaner Azemi, Serbe To∆iƒ Schafe gehütet, Äpfel geklaut, die Berge läßt der erst 33 Jahre alte mazedonische Gespräche über das Kosovo vermeiden bestiegen. Sie haben sich später zu Ge- Ministerpräsident regelmäßig die Grenze burtstagen, Hochzeiten und Beerdigungen schließen. Denn Ljubco Georgievski fürch- ren auf, Unkraut aus der Erde zu zupfen, besucht. Der eine kann den anderen nicht tet um die politische und ethnische Ba- legen den Hals in den Nacken und star- wegdenken aus seinem Leben. lance der erst acht Jahre alten Republik. ren mit zusammengekniffenen Augen nach Nun sitzen die beiden weißhaarigen Rund zehn Prozent der Einwohner seines oben, weil es dort erst rauscht, dann Männer in To∆iƒs Garten. Schweigend nip- Landes sind Kosovo-Flüchtlinge. Die Bun- dröhnt. pen sie an ihren Limonaden, manchmal desrepublik Deutschland müßte acht Mil- Das mazedonische Dorf liegt in der Ein- räuspert sich der eine, dann guckt der an- lionen Menschen aufnehmen, um diese flugschneise der Nato-Kampfjets zum Ko- dere mißtrauisch. Jeder unbedachte Satz Quote zu erfüllen. Ungefähr ein Drittel der

172 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland gerade einmal 2,2 Millionen Mazedonier Wirklichkeit des Gastlandes geht der Promi- Von der 1991 erreichten Unabhängigkeit ist ohnehin schon albanischer Abstam- Auftrieb aber völlig vorbei. Viele älte- hatten sich die Mazedonier mehr erhofft mung. Nun erhalten sie kräftigen Zulauf. re Mazedonier, orthodoxe Christen zumal, als eine vage Aussicht auf EU-Mitglied- Viele von ihnen wünschen den Anschluß fühlen sich den Serben näher als den mus- schaft, ein paar Weltbankkredite und ein des westlichen Landesteils an Albanien – limischen Albanern. Und ebenso viele trau- ausuferndes Flüchtlingsproblem. Doch nach zum Schrecken vieler Mazedonier. ern dem jugoslawischen Staatenbund nach. Jugoslawien führt kein Weg zurück. Junge Die Regierung in Skopje – ein Mazedonier wie der 16jährige Nico pragmatisch orientiertes Mehrpar- und sein Freund Alija haben inzwi- teienbündnis mazedonischer und schen „Angst vor der Zukunft, vor albanischer Nationalisten – drängt dem Gespenst des Bürgerkriegs“. deshalb vor allem die Länder der Vor ihrer Schule in Skopje, die Europäischen Union, mehr Flücht- nach dem mazedonischen Frei- linge aufzunehmen. Mit mäßigem heitskämpfer Nikola Karev be- Erfolg, wie ein mazedonischer Di- nannt ist, laden die beiden ihre Ge- plomat zornig einräumt: „Ständig wehre durch und zielen auf Pa- kommen die Blairs und Jospins, be- pierscheiben. Wehrkunde sei das suchen Lager, speisen auf unsere nicht, versichern die beiden, nur Kosten bei Banketten – und fahren ein Schießwettbewerb unter den mit ein paar Vorzeigeflüchtlingen Gymnasien der Hauptstadt. Alba- wieder ab.“ ner und Serben werden in den In Skopje gibt sich der politisch Schulen getrennt unterrichtet. korrekte Jet-set die Klinke in die In den Zeitungen stehe jetzt viel Hand. Hillary Clinton tätschelt über Mord und Totschlag, „alles

Flüchtlingskinderköpfe, die briti- REUTERS wegen der Flüchtlinge“, sagt Ali- sche Schauspielerin Vanessa Red- Schauspielerin Redgrave, Flüchtlinge ja. Früher sei Mazedonien ein si- grave kann nur mit Mühe von Werbewirksamer Symboltourismus cheres Land gewesen, aber heute? UNHCR-Helfern daran gehindert „Ich gehe abends nicht mehr allei- werden, in einem Camp zu übernachten. Es gärt bereits. In einem Flüchtlingslager ne raus.“ Alijas Angst ist übertrieben. Doch Und Bianca Jagger läßt sich im Lager wer- demonstrierten jetzt Hunderte Insassen ge- im mazedonisch-kosovarischen Grenzge- bewirksam beim Brotbacken filmen. gen die rüden Methoden der mazedoni- biet fangen serbische Kommandos an, den Der von CNN-Kameras lückenlos doku- schen Polizei. Und in Skopje waren schon Haß ins junge Nachbarland zu tragen. mentierte Symboltourismus bringt zwar Ab- 20000 Serben auf die Straßen gegangen, Agim Ajuazi, ein 37jähriger Geologe, wechslung ins Flüchtlingslagerleben.An der um gegen die Nato zu protestieren. der seit kurzem bei Matej‡e lebt, berichtet mit zitternden Händen vom Überfall ser- Hopkins, Mitte 30, hat sich mit seinen Hochburg albanischer Nationalisten. Der bischer Soldaten auf das von Albanern be- Männern einen Kilometer vom Dorf ent- mazedonische Staat hat die Hochschule wohnte Grenzdorf Malin. Der Kosovare fernt eingegraben. Die serbischen Bauern nicht anerkannt. Um so stolzer ist Bakia hatte sich mit seinen drei Kindern und sei- fluchen über die vielen Erdkuhlen, die darauf, wenn die britischen Soldaten seine ner Frau vor den Truppen Milo∆eviƒs dort- die britischen Soldaten auf den Äckern Englischkenntnisse loben. hin geflüchtet. Er mußte mit ansehen, wie hinterlassen, denn Sergeant Hopkins ord- Bakia haßt die Serben in seinem Dorf. mazedonische Albaner gezwungen wur- net alle paar Tage einen Stellungswech- Als er klein war, hat er selbstverständlich den, „sich auszuziehen, um dann verprügelt sel an. bei Budimir To∆iƒ Briefmarken im Post- zu werden“. Die mazedonische Polizei, be- Die Briten lagern sonnenverbrannt auf haus gekauft und Pakete abgeholt. Doch hauptet Ajuazi, habe nicht eingegriffen. Holzpritschen unter einem grünen Tarn- heute zeigt er mit dem Finger auf den Pen- Nun sitzt der aufgeklärte Akademiker, netz, das eine moderne AS90-Panzer- sionär wie auf einen Feind und flüstert der sich einige Jahre in Basel als Gastarbei- haubitze verbergen soll. Hier draußen ist böse: „Das ist einer von ihnen.“ ter verdingte, mit gläubigen Muslimen vor der Krieg ziemlich langweilig. Ein Soldat Wie die meisten Dörfler ist Ibrahim dem Krämerladen des Dorfes und ist von Bakia mazedonischer Staatsbürger, doch der Hilfe, die ihm die kreuzarmen Bauern Je länger der Krieg geht, desto der Paß ist für die Bewohner nur noch ein angedeihen lassen, zu Tränen gerührt. lauter schlägt das Stück Papier. Je länger der Krieg geht, de- Der Krieg im Nachbarland wirbelt das sto lauter schlägt das Herz für Tirana oder fragile mazedonische Gefüge durcheinan- Herz für Tirana oder für Belgrad für Belgrad, je nachdem. der. Wildfremde Menschen begegnen ein- Bakia streut Gerüchte ins zerbrechliche ander mit herzlicher Selbstlosigkeit, alte mit nacktem Oberkörper dreht an seinem Gemeinwesen. Etwa daß die Serben von Nachbarn geraten in Streit. Selbst die Welt Weltempfänger und versucht, die Berichte Matej‡e eine geheime Killertruppe aufge- der Kinder teilt sich in Lager. über die Spielergebnisse der Premier stellt hätten, „um bei einer serbischen In- Auf den Plätzen des Dorfes wimmelt es League in den Apparat zu bekommen. Die vasion Massaker an uns Albanern zu ver- von kleinen Mädchen und Jungen, die be- anderen dösen im Schatten. üben“. geistert zur Straße laufen, wenn ein briti- Ibrahim Bakia besucht die Männer bei- „Früher, in den Achtzigern, da gab es scher Armeelastwagen durch das Dorf nahe täglich. Der 23jährige Englisch-Stu- mazedonische und albanische Blutsbrü- fährt. Dann skandieren die Kleinen „Nato, dent verläßt das Haus seiner Eltern nie derschaften, sogar Hochzeiten“, erzählt Nato“, spreizen Zeige- und Mittelfinger ohne schwarze Jeans, rotes T-Shirt und er den erstaunten Zuhörern im Dorf- zum Siegeszeichen. Es sind albanische Kin- schwarze Jacke. Rot und Schwarz sind die café, „heute traue ich keinem Serben der. Serbische Kinder dagegen „werfen Farben Albaniens. Ibrahim Bakia hält Hop- mehr.“ Bakias Freunde nicken und schau- mit Steinen“, wenn Nato-Fahrzeuge kom- kins und seine Nato-Soldaten für Helden. en argwöhnisch zu, wie To∆iƒ am spä- men, wie Sergeant Martin Hopkins zu be- Der junge Mann studiert in Tetovo an ten Nachmittag seine Blumen im Garten richten weiß. der selbstorganisierten Universität, einer gießt. Claus Christian Malzahn FOTOS: E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL FOTOS: Wiederaufgebaute Altstadt von Dubrovnik: Seit zwei Monaten hat kein Traumschiff mehr angelegt

KROATIEN Das verlorene Paradies Der Kosovo-Krieg hat den Aufschwung an der dalmatinischen Riviera torpediert. Weil die Urlauber wegbleiben, drohen Rezession und Elend.

ahler Frühling in Dubrovnik. Eine wilden Lorbeer pflücken, heute noch ein bißchen schöne Frau von Mitte 40 kriecht um ihren Lebensunterhalt paradiesischer als vor Fdurch die nassen Büsche vor der zu verdienen. Das Elend dem Krieg. nördlichen Stadtmauer und pflückt Lor- macht vor den besseren Trotzdem bleiben die beerblätter in eine Plastiktasche. Sie trägt Kreisen nicht halt. Vier meisten Gästebetten in eine fadenscheinige teure Brokatjacke und Kriegsjahre und drei Jah- diesem Frühjahr leer. schiefgetretene Pumps. Man sieht, daß sie re Nachkriegszeit haben Letztes Jahr sah es noch bessere Zeiten hinter sich hat. Dalmatien ebenso wie das so aus, als sei die Frem- Unter dem Orangenbaum neben dem übrige Kroatien in seiner denverkehrsbranche, die Stadttor bleibt die Frau stehen. Sie blickt Entwicklung um minde- vor dem Krieg zwei Drit- sich um, dann tritt sie einmal kurz prüfend stens eine halbe Genera- tel des Sozialprodukts gegen den Stamm. Doch es fällt keine tion zurückgeworfen. erwirtschaftet hatte, aus Orange herab, die Früchte sind noch nicht Der Krieg hatte dem dem Gröbsten heraus. reif, deshalb sitzen sie ganz fest an den „Kulturerbe der Mensch- Vor allem die kleinen Ku- Zweigen. heit“, wie die Altstadt schelhotels begannen sich Es war wirklich nur ein ganz zaghafter von Dubrovnik Unesco- wieder zu füllen. Tritt, aber der Polizist oben an der Treppe amtlich heißt, tiefe Bles- Eine Million Übernach- hat ihn gesehen. Er begibt sich erhabenen suren geschlagen. Acht Gastwirt Mariƒ tungen, das waren zwar Schrittes zum Tatort, um die Frau zur Rede Monate lang, vom Herbst nur 20 Prozent der Vor- zu stellen. Sie habe stehlen wollen, sagt er. 1991 bis zum Sommer 1992, hämmerten kriegsmarge, aber es ging aufwärts. Auch Das sei unmoralisch. „Die Orangen ge- serbische Schiffs- und Artilleriegeschütze die Buchungszahlen für den Sommer 1999 hören den Bürgern von Dubrovnik.“ auf Dubrovnik ein, einst bevorzugte Som- waren gut. Dann kam der Kosovo-Krieg Es ist weniger als ein Zwischenfall. Trotz- merfrische der Belgrader Nomenklatura. und damit die große Stornowelle. dem bleiben ein paar Neugierige stehen. Zwei Drittel aller Häuser in der histori- Die Baisse drückt auf die Preise. In Dem Polizisten wird die Sache schnell schen Altstadt aus dem 7. Jahrhundert wur- Kroatien kostet der Ferienluxus dieses Jahr peinlich. Um die Episode zu beenden, zieht den dabei schwer beschädigt. ein Drittel weniger als im letzten Sommer: er einen Apfel aus der Tasche seiner Uni- Die schlimmsten Wunden sind verheilt. eine Tennisstunde 8 Mark, ein Teller Hum- formjacke, reicht ihn der schönen Frau und Die zerschossenen Dächer sind mit leuch- merschwänze 20 Mark, ein Zimmer mit macht einen linkischen Diener: Bitte schön, tendroten Pfannen frisch eingedeckt. Re- Meerblick und Frühstück im „Excelsior“, Madame, und einen guten Tag auch. Die stauratoren haben die Einschußlöcher in dem feinsten Haus am Platze, 130 Mark. schöne Frau lächelt würdig. Sie nimmt den den Wänden der mittelalterlichen Kauf- Einige Hotels haben ganz geschlossen. Apfel und entfernt sich. mannshäuser sauber wegretuschiert. Da- Die „Villa Dubrovnik“ zum Beispiel, ein Dubrovnik war früher die wohlhabend- bei haben sie auch den Reparaturstau aus herrschaftliches Haus mit elysischem ste Stadt an der jugoslawischen Riviera. Friedenszeiten gleich mitbeseitigt. Alte Du- Panoramablick aufs Meer und auf die Jetzt müssen dalmatinische Damen aus gu- brovnik-Liebhaber sagen, „das Paradies Altstadt. Hier logieren normalerweise tem Hause im Stadtpark von Dubrovnik auf Erden“ (so George Bernard Shaw) sei wohlhabende Briten, Italiener und Fran-

176 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland zosen, die die Schönheiten Dubrovniks Alles vergessen. Die Idylle ist fast wie- Tschechen, Ungarn und Slowenen, die fünf gern aus vornehmer Distanz genießen, der perfekt. Mit ein bißchen Glück kann Mann hoch in einem Zimmer hausen, und ohne vom Massentourismus vereinnahmt man abends sogar draußen vor der Bucht italienische Campingurlauber, die sich Pa- zu werden. eine Delphinrotte im Licht der unterge- sta und Chianti in großen Koffern von zu Jetzt sind die schweren Empire-Stühle henden Sonne vorüberziehen sehen. Hause mitbringen. Soviel ist sicher: Sie im Vestibül mit blaß pinkfarbenen Laken In diesem Frühjahr ist Dubrovnik be- werden den wirtschaftlichen Kollateral- zugedeckt. Haushälterin Nada Coriƒ sitzt sonders romantisch. Aus den Kneipen plät- schaden, den die Nato-Bomber in Kroa- auf einem Küchenstuhl vor der Traum- schert Gute-Laune-Musik. Kleine Jungs tien angerichtet haben, nicht fühlbar be- kulisse, läßt sich von Sonne und Wind um- üben Elfmeterschießen auf das Hauptpor- grenzen. fächeln und liest mit großem Ernst in ei- tal des Doms. Die Gassen mit ihren glatt- Man hört und sieht hier fast nichts vom nem Quelle-Katalog. getretenen altgelben Granitpflastersteinen, Krieg. Nur nachts zwischen zwei und vier, Obwohl kein Gast im Haus ist, wird je- auf denen abends die hübschen Dalma- wenn der Wind richtig steht, kann man das den Tag gewischt und gewienert. Alles tinerinnen ihre Minis spazierenführen, dünne Röhren der Bomberpulks hören, die blitzt – der Marmor, die Messinggarnitu- können ihren Charme auch deshalb so vom Feindflug zurückkehren. ren, die lackierte Edelholztäfelung. gut entfalten, weil sie nicht so überbevöl- Die kroatische Regierung hat dem Wann kann man hier wieder wohnen, kert sind wie früher im Frühling. Doch Anti-Milo∆eviƒ-Bündnis uneingeschränk- Nada? die Romantik geht sehr zu Lasten des te Überflugrechte für ihre Flugzeuge „Fragen Sie Milo∆eviƒ“, sagt Nada. Umsatzes. eingeräumt, noch bevor es darum er- Die Villa Dubrovnik hat die Belagerung „Wir sind von 30 Prozent Steigerung in sucht hatte. damals ganz leidlich überstanden. Sie muß- diesem Jahr ausgegangen“, sagt Vinco Um den Bombern nicht in die Quere zu te nur gründlich renoviert werden. Aber Mariƒ, Eigentümer des „Restaurants Do- kommen, müssen die Linienmaschinen von die großen Hotels haben sich für den Wie- mino“, der sein Betriebsvermögen als Croatia Airlines große Umwege fliegen. deraufbau bis übers Dach Maximale Flughöhe 4600 verschuldet. Sie brauchen Meter. Der Luftraum dar- Umsatz, um die Hypothe- über gehört der Nato. ken bezahlen zu können. Die Eilfertigkeit, mit der Sonst ist für sie bald Ulti- Präsident Franjo Tudjman mo. Die Dubrova‡ka Ban- der westlichen Allianz zu ka, die den Wiederaufbau Diensten ist, wird aber all- weitgehend finanziert hat, gemein nicht als liebedie- ist der Pleite bis auf weite- nerisch empfunden. Min- res entronnen, weil die destens 90 Prozent der kroatische Staatsbank den Kroaten finden es richtig größten Teil der Außen- und gerecht, daß die räu- stände übernommen hat. berischen Serben, die ihre Früher landeten auf Nachbarn jahrelang so dem Flughafen von Du- gnadenlos drangsaliert ha- brovnik in der Feriensai- ben, jetzt tüchtig was aufs son 40 bis 50 Urlauber-Jets Dach kriegen. täglich. Heute kommen Im Zagreber Parlament nur noch 3 bis 4 Linien- haben fast alle Parteien – maschinen am Tag. die Vertreter der serbi- Die gleiche Öde im Ha- schen Minderheit natürlich fen. Vor dem Krieg lagen ausgenommen – die Nato- in der Hochsaison manch- Angriffe ausdrücklich gut-

mal vier, fünf Traumschif- JONES / SYGMA J. geheißen. Nicht nur aus fe gleichzeitig auf Reede. Belagertes Dubrovnik (1992): Zielschießen auf Luxusjachten Antipathie gegen die ser- In den letzten zwei Mona- bischen Tschetniks. Viel- ten hat hier kein einziger Kreuzfahrer Gastwirt in Bayern erwirtschaftet hat. leicht kommt Kroatien ja schneller in die mehr festgemacht. „Jetzt sind wir froh, wenn wir halb soviel Nato, wenn man ihr hier ein wenig entge- Der im Krieg schwer verwüstete Jacht- umsetzen wie letztes Jahr.“ Der Krieg hat genkommt. hafen nördlich der Stadt ist wieder in Be- den Aufschwung schlagartig beendet. Vor In Dubrovnik sind die Zustimmungs- trieb. Hafenmeister Dra≈en Caleta hat letz- dem Krieg verkaufte er 300 Essen täglich, quoten am höchsten. Es gibt nur wenige tes Jahr sogar einen, wie er sagt, interna- heute sind es nicht mal 30. Städte in Kroatien, wo die Tschetnik-Sol- tional bedeutenden Umweltpreis für sein Vor allem die Deutschen haben massen- dateska aus Serben und Montenegrinern so ökologisch wegweisendes Wiederaufbau- haft storniert.Vinco Mariƒ sagt: „Sie haben sadistisch gewütet hat wie hier. Immerhin, programm bekommen. Und die Marina ist Angst, die deutschen Helden. Sehen Sie die Belagerer konnten die „pravi dalma- auch schon wieder mit Booten ganz gut sich die Situation mal auf der Landkarte tinci“ (die wahren Dalmatiner) nicht auf besetzt. Aber die Jachteigner kommen an, das Kosovo ist von hier so weit ent- die Knie zwingen. nicht – weil sie Angst haben. fernt wie Hamburg von Frankfurt.“ „Soviel kann die Nato von uns lernen“, Der einzige Skipper, der während der Ja, aber von Dubrovnik bis zur Grenze sagt der Schiffer Dubravko Dragiƒ, „sie Kanonade sein Steuerhaus nicht geräumt von Montenegro sind es nur 30 Kilometer. wird Milo∆eviƒ nicht kleinkriegen, eben- hat, ist Rentner Albert Konicek aus Wien. Halb so viele wie von der serbisch-bul- sowenig wie Milo∆eviƒ damals uns klein- Er sagt, die Serben hätten ihm sein Boot da- garischen Grenze bis zu jenem Vorort gekriegt hat.“ Belgrad sei noch lange nicht mals tüchtig vermaledeit. „Sie hockten da von Sofia, in dem Ende April eine verirrte so zerschossen wie Dubrovnik damals oben auf den Bergen und machten Ziel- Nato-Rakete ein Wohnhaus in Trümmer war. Er entschuldigt sich dafür, daß er schießen auf Luxusjachten, wenn sie be- legte. das mal so deutlich ausspreche: „Sie müs- soffen waren.“ Von den Booten, die heil Statt der klassischen Wohlstandsklien- sen wissen, wir Slawen sind eine zähe blieben, wurden viele von Kroaten geklaut. tel kommen jetzt mehr Billigtouristen – Rasse.“ Erich Wiedemann

178 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland AP Feier anläßlich Saddam Husseins 62. Geburtstag*: „Wir werden stolz und unbeirrbar alle Schwierigkeiten meistern“

IRAK Letzter Tanz auf dem Vulkan Kriegsprofiteure und hohe Funktionäre schwelgen im Luxus, die Masse der Bevölkerung kämpft ums Überleben. Ungeachtet der Sanktionen und der US-Bombenangriffe läßt sich Saddam Hussein feiern und fordert Washington weiter heraus.

ie Amerikaner bombardieren ira- den irakischen Diktator Saddam Hussein. Kuweit bestraft wurde, treffen das Publi- kische Stellungen? In Vororten von Sie lassen sich von Portiers mit blüten- kum des Latakia ebensowenig wie die DBagdad sterben Kinder an Unter- weißen Handschuhen die Türen ihres Mer- Bomben der US-Kampfflugzeuge, mit de- ernährung? Den Kliniken des Landes fehlt cedes 600 oder ihres Jaguar aufreißen und nen Washington die Herrschaft des Dikta- es an Medikamenten? Bagdads Haute- speisen exzellente Menüs zu dezentem Kla- tors zu erschüttern sucht. volee im „Latakia“ läßt sich davon vierspiel in angenehm klimatisierter Luft. So feiern die Günstlinge des Regimes, als nichts anmerken. In dem feinen Restaurant Die Sanktionen, mit denen Saddam so- hätte Saddam das Land mit seinen Kriegs- fehlt es an nichts, den Gästen geht es fort nach dem Einfall seiner Truppen im abenteuern nicht in die bittere Armut ge- blendend. August 1990 ins benachbarte Erdölemirat trieben. Sie dinieren wie einst, als der Irak Wer den gut gekleideten Her- mit seinen immensen Erdölvor- ren an den fürstlich gedeckten kommen noch als arabisches Tischen kritische Fragen stellt, Wirtschaftswunder galt. bekommt nur ein maliziöses Bis vor kurzem war die Zur- Lächeln als Antwort – und läuft schaustellung neuerworbenen Gefahr, verhaftet zu werden. Reichtums in Bagdad verpönt. Denn das Publikum des Lokals Wer von der Krise profitierte, der in dem Bagdader Villenvorort genoß seinen Luxus lieber unter Dschadirija gehört zu jener klei- Ausschluß der Öffentlichkeit. nen Schicht, der es an nichts man- Prasserei blieb allenfalls Saddams gelt, außer an Skrupeln. Sohn Udai vorbehalten, der mit Die Besitzer der Luxuslimou- seinen Ferraris durch die Straßen sinen zählen zu den Kriegsge- der Hauptstadt raste und für sei- winnlern und Hofschranzen um ne wilden Feste berüchtigt war. Doch nun scheint auch die Cli- que der Claqueure den letzten * Ali Hassan el-Madschid (M.), Mitglied des

Revolutionsrats, beim Anschneiden einer FOCUS / AGENTUR GAUMY / MAGNUM J. Hauch von Scham verloren zu ha- Festtagstorte am 2. Mai in Bagdad. Luxus in Bagdad: „Jeder denkt nur noch an sich“ ben. Ungeniert genießen sie ihren

180 der spiegel 21/1999 Werbeseite

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osteuropäische Politiker und Intel- lektuelle, aber auch 150 Sportler aus Rußland und zwei Fußballmann- schaften aus Armenien. „Fest und opferbereit“, versi- cherte der Vizepräsident des Revo- lutionären Kommandorates, Issat Ibrahim, stünden die „heldenmüti- gen Söhne des Irak“ hinter ihrem Führer. Und Vizepräsident Taha Jas- sin Ramadan drohte in seiner Hym- ne auf die Verdienste Saddams dem Erzfeind USA prahlerisch mit der baldigen Entscheidungsschlacht. Ein gewaltiges Bildnis zeigte den Präsi- denten als neuen Nebukadnezar, der von seinem Streitwagen aus amerikanische Kampfbomber mit Pfeil und Bogen abschießt. Bis auf Witze über Saddam kann sich die Kaste der Emporkömmlin-

AP ge, die auch durch wucherhafte Bo- Bombenschäden im nordirakischen Mosul: Republik der Angst denspekulation oder Schiebereien mit Fernsehern, Computern und Reichtum, den sie dem Zigarettenschmug- Der Mann, der zwei amerikanischen Prä- Kameras zu Reichtum gekommen ist, fast gel, dem illegalen Erdölhandel und vor al- sidenten trotzte, beging jüngst, am 28.April, alles erlauben. Die Zeiten, da die Polizei lem den Schwarzmarktgeschäften mit Le- seinen 62. Geburtstag. Mit Paraden und Ehr- noch durchgriff, ertappte Hehler und bensmitteln und Medikamenten verdanken. bezeugungen im ganzen Land ließ sich Sad- Preistreiber zur Abschreckung und zum Der Klüngel scheint zu ahnen, daß jedes dam Hussein eine Woche lang feiern. Al- Beweis ihrer Macht vor Gericht brachte Fest das letzte sein könnte, ein Tanz auf lein zu einer Großkundgebung in seinem oder gar gleich standrechtlich erschoß, sind dem Vulkan, weil morgen schon ein Putsch Heimatdorf Audscha bei Takrit hatte der vorbei. oder gar der Zorn des verarmten Volkes Staatspräsident 5000 Gäste aus dem Aus- Daß die soziale Kluft durch die freie Saddam und die Seinen wegfegen könnte. land eingeladen, unter ihnen arabische und Marktwirtschaft à la Saddam immer tiefer wird und das ganze Land in den Abgrund Die staatlichen Lebensmittelrationen reißt, nimmt das Regime in Kauf. „Zwei können nicht mal die Grundversorgung Jahrzehnte Krieg, Entbehrung und Gleich- decken. Zwar erhält jeder Iraker für Pfen- gültigkeit der Außenwelt haben das sozia- nigbeträge Zucker, Tee, Mehl, Fleisch, Spei- le Gefüge zerstört“, sagt ein Regierungs- seöl, Seife und Waschpulver, doch damit beamter, „jeder denkt nur noch an sich.“ kommt ein Familienvater bestenfalls zwei Der Währungsverfall verdeutlicht das Wochen über die Runden. Und wie lange Desaster. Das Durchschnittsgehalt eines sich Bagdad selbst diese Mindestunter- Beamten mittlerer Laufbahn – drei Viertel stützung noch leisten kann, ist bei den ver- der Arbeitnehmer sind beim Staat be- mutlich leeren Staatskassen ungewiß. schäftigt – beträgt 4000 Dinar, gerade mal Nur 30 bis 40 Prozent der benötigten sechs Mark. Selbst für eine kurze Taxifahrt Agrarprodukte kann der Irak heute selbst aber muß der Kunde 300 Dinar zahlen; ein erzeugen. Zudem erlebt er die schlimmste gegrilltes Hähnchen kostet 5000 Dinar, Dürre seit 1932, der Pegel des Tigris liegt mehr als das Monatsgehalt eines Lehrers. zwei Meter unter normal. Für humanitäre Das Bildungssystem arbeitet am Rande Hilfe stehen, trotz des von der Uno initi- des Zusammenbruchs, es gibt nicht genug ierten Programms „Öl für Lebensmittel“, Bücher und Unterrichtsmaterial. Die Folgen pro Kopf und Jahr lediglich 330 Mark zur werden womöglich erst in späteren Gene- Verfügung. Nach offiziellen Angaben des rationen deutlich. Kinderarbeit, früher ein Regimes sind seit Beginn des Embargos Unding im sozial vorbildlichen Irak, ist an 1990 über eine Million Iraker an Unter-

der Tagesordnung. Kleine Jungen verkaufen REUTERS ernährung gestorben. Kürbiskerne, putzen Schuhe, schrubben Kriegsverletzte Kinder Familienväter, die einen Wagen besit- Bürgersteige vor Geschäften, waschen Au- Medikamente vom Schwarzmarkt zen, etwa einen der vielen Toyotas, die der tos oder reihen sich ein in das stetig wach- Staat in den ersten Jahren des Kriegs gegen sende Heer der Bettler. Handel mit den staatlich kontrollierten Iran den Hinterbliebenen von Gefallenen Die einstige Flaniermeile Bagdads, die Propagandablättern gilt als indirekte Ali- als Trost überließ, schlagen sich als Taxi- Saadun-Straße, ist nur noch ein Boulevard mentierung. Nach fast 30 Jahren als Physik- fahrer durch. Benzin ist vergleichsweise der zerstobenen Träume: Das Pflaster ist lehrer an einer Oberschule bekommt der billig; 49 Liter kann man für einen Dollar aufgerissen, aus geborstenen Abwasserlei- 63jährige eine Rente, mit der er „nicht le- tanken – aber auch dafür muß ein mittle- tungen stinkt es zum Himmel. ben und nicht sterben“ kann. Dschaafri: rer Beamter zehn Tage arbeiten. Ali Dschaafri ist zu stolz zum Betteln, er „Die Leute wissen schon, wie schlecht es Die Wagen sind klapprig, denn es fehlt an versucht sich als Zeitungsverkäufer. Der mir geht, und geben oft das Doppelte.“ Ersatzteilen. Selbst simple Motorenteile Werbeseite

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Werbeseite Ausland gelten als kriegswichtig und dürfen wegen la, einer den Schiiten heiligen Stadt: „We- Verantwortung von sich zu weisen. Der des Uno-Embargos nicht eingeführt wer- der unsere Glaubensbrüder in Iran noch permanente Kriegszustand ist die Basis sei- den.Weil auch nur begrenzt Ersatzteile für unsere Blutsbrüder in Saudi-Arabien oder ner Macht, das Leiden des Volkes läßt sich die Generatoren der Elektrizitätswerke im- den Emiraten zeigen Mitleid.“ zu patriotischen Trotzreaktionen mißbrau- portiert werden dürfen, ist die Stromver- Die Region im Süden des Irak hat unter chen, immer nach dem Motto: „Wir gegen sorgung eingeschränkt. In Bagdad und in Saddams Repressionen mehr zu leiden als den Rest der Welt“. anderen Städten wird täglich zweimal für andere. Denn Kerbela gilt als Zentrum der „Saddam zeigt allen, was ein Iraker drei Stunden der Strom abgeschaltet. Kaum von Iran inspirierten schiitischen Oppo- kann“, ereifert sich etwa Amr Amir, ein vorstellbar, daß der Irak früher über das sition gegen den sunnitischen Präsiden- Zollbeamter an der Grenze zu Kuweit. beste Stromnetz der arabischen Welt ver- ten. Erst im Februar löste die Ermordung Selbst ein vergleichsweise kritischer fügte und sein Eisenbahnnetz selbst auf lan- des oppositionellen Großajatollahs Mo- Geist wie der Patriarch der etwa 250000 gen Wüstenstrecken elektrifiziert hatte. hammed Sadik el-Sadr, die Saddams chaldäischen Christen, Raphael I. Bidawid, Die staatliche Gesundheitsversorgung, Führungsriege veranlaßt haben soll, die sucht die Schuld nicht unbedingt bei Sad- einst vorbildlich, funktioniert nur noch auf schwersten Unruhen seit Jahren aus. Zeit- dam. Die sozialen Mißstände seien das Er- dem Papier. Die Ärzte der Krankenhäuser, weilig drohte Bagdad die Kontrolle über gebnis der unmenschlichen Uno-Sanktio- die zum Teil an den besten internationalen diesen Teil des Landes zu entgleiten. nen, klagt er und prophezeit Beharrungs- Universitäten studiert haben, stellen zwar Doch selbst in Kerbela wagt niemand, vermögen: „Wir werden stolz und unbe- gute Diagnosen; doch die Medikamente offen das Wort gegen Saddam zu erheben. irrbar alle Schwierigkeiten meistern, mit muß der Patient selber mitbringen. Die Noch immer hat der Diktator mit seinem denen uns die Uno peinigt.“ aber gibt es vielfach nur gegen Dollar auf Heer von Spitzeln und Agenten das Land Um ihr Überleben zu sichern, aber auch dem Schwarzmarkt. Die Kindersterblich- fest unter Kontrolle. Erst unmittelbar vor um dem Druck des Diktators und seines keit ist deshalb besonders hoch. der Bombardierung durch die von den Spitzelheeres zu entgehen, hat in der Hauptstadt Bagdad weitgehend unbemerkt ein Exodus begonnen.Auf dem Land ist die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln einfacher, auch Wohnraum ist dort leichter zu bekommen. Während in der Stadt die Flasche Bier mit 450 Dinar kaum er- schwinglich ist, läßt sich auf dem Dorf Reis- schnaps selber herstellen. Der Niedergang ist allerdings auch in der Provinz unübersehbar. Weil Ersatztei- le fehlen, stehen Mähdrescher und Trakto- ren still. Mit Sichel und Dreschflegel lassen sich dennoch genug Weizen und Gerste, Kartoffeln oder Rüben ernten, um auf den Märkten kleine Gewinne zu erzielen. Und es gibt noch einen Grund, warum viele, die früher nach Bagdad abgewandert waren, der Großstadt wieder den Rücken kehren: „Ich kann nicht länger mit anse- hen“, klagt der Tischler Ghassan Dschu- man, „wie diese Neureichen ihre mit Hil- fe des Satans erworbenen Millionen ver- prassen und uns demütigen.“ Dschuman hegt immer noch die naive Hoffnung, daß Saddam dem Frevel Einhalt gebieten wer- de: „Der Präsident wird mit dem Pack si- cher bald aufräumen.“

DPA Diplomaten in Bagdad sehen das Prot- Parade zu Ehren Saddams (am 28. April in Takrit): „Wir gegen den Rest der Welt“ zen der Kriegsgewinnler bereits als „so- zialen Sprengstoff“, der das Regime doch Vom Westen fühlen sich die Iraker schon USA geführte „Operation Wüstenfuchs“ noch hinwegfegen könnte.Auch wenn es so lange im Stich gelassen. Saddams Propa- im vorigen Dezember hatte der Staatschef weit noch nicht gekommen ist – die Ver- gandamaschine bleut ihnen seit Jahren das Überwachungssystem noch stärker ge- bitterung in der verarmten Bevölkerung ohne Unterlaß ein, an ihrem Elend sei strafft – als sei das Land seit seiner Macht- ist groß. Bei offiziellen Kundgebungen rich- nur das von den Amerikanern betriebene übernahme 1979 nicht schon längst eine tet sich die Empörung gegen den Westen, Embargo schuld. Daß Saddam mit seinem Republik der Angst geworden. aber irgendwann könnte sie auch dem Dik- Widerstand gegen die Abrüstungsauflagen Das Kommando über die sensible Schi- tator gefährlich werden. der Uno selber das Leid seines Volkes iten-Zone hat nun der berüchtigte Hassan Als der Oberkellner Mustafa in einem verursacht hat, erfährt die Bevölkerung el-Madschid. Der General exerzierte be- Luxusrestaurant kürzlich die Profiteure nicht. reits 1988 vor, wie man mit Unbotmäßigen wieder feiern sah, stiegen ihm die Tränen Neuerdings aber sind die Iraker auch verfährt: 5000 Einwohner starben damals in die Augen. Am Vortag war die Tochter von ihren arabischen Bruderstaaten ent- im kurdischen Ort Halabdscha durch den seines Nachbarn gestorben. Das Mädchen täuscht. In Aussicht gestellte Spenden aus Einsatz von Giftgas. wurde nur sechs Jahre alt. Weil ihr Vater den Ländern der Region „verrinnen mit Anders als vom Westen kalkuliert, hel- nicht genügend Dinare erbettelt hatte, der Druckerschwärze der Zeitungsberich- fen die Bomben ebenso wie das Uno-Em- konnte er die Schwarzmarktpreise für Me- te“, klagt der Leiter des Roten Halbmonds, bargo dem Despoten eher dabei, seinen dikamente nicht zahlen. Dieter Bednarz, des islamischen Roten Kreuzes, in Kerbe- Würgegriff zu verstärken und zugleich jede Volkhard Windfuhr

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Manche halten Wasserflaschen und Pillen- Ob ein Bußgeld wegen falschen Parkens, ITALIEN döschen in die Höhe, auf daß auch diese ein verpaßtes Flugzeug, ein verregnetes Utensilien gesegnet werden. Daheim, Picknick, Krach mit der Freundin oder der Geschöpfe durchdrungen von der wunderbaren Kraft, Tod der 90 Jahre alten Großmutter – nie soll damit Kranken und Verzweifelten ge- geht es mit rechten Dingen zu. Nachbarn, holfen werden. ein Neider, der Kollege – alle sind stets mit der Hölle Denn das ist keine gewöhnliche Messe, ihren Verwünschungen an den Problemen Milingo ist kein gewöhnlicher Priester. Er des Lebens schuld. Gegen die magischen Wunderheiler und ist, daran glauben Tausende seiner Anhän- Mächte helfen nur wahre Experten. ger, ein Wunderheiler – und statusmäßig Wenn etwa die britische Spiritistin und Teufelsaustreiber sind im noch mehr als das. Milingo ist auch ein Heilerin Rosemary Altea, eine internatio- modernen Italien Teufelsaustreiber. nale Handlungsreisende in Sachen Geister- gefragt wie einst im Mittelalter. Plötzlich geht es laut und aggressiv zu. heilung, sich mit kessem Minikostüm im Eine kleine, rundliche Frau mit braunen Fernsehen präsentiert, hocken Millionen vor ch heile Kopfschmerzen, ich heile Im- Locken brüllt und bäumt sich auf. Zwei den Bildschirmen. Denn Rosemary ist in der potenz“, flüstert Bischof Emmanuel Männer halten sie mit allergrößter Kraft- Welt des Wunderglaubens und der Höllen- IMilingo, 68, aus Sambia und übertönt anstrengung fest. Der Top-Exorzist läßt ar- furcht nicht irgendwer, sondern „das Medi- dann die monotone Melodie einer dun- beiten. um von Clinton“. So sagt man jedenfalls. klen Frauenstimme mit einem Sprech- Am Nachmittag wird es eine zweite Zwölf Millionen Italiener nehmen die gesang: „Ich heile Rheuma, ich heile Messe geben, dazwischen ist Zeit für Grup- Dienste der Branche in Anspruch. Sie zah- Prostata …“ pengebete und private Sitzungen. In den len 30 bis 150 Mark fürs Kartenlegen, 2000 Auf dieses Schauspiel hat die Gemeinde nächsten Tagen plant der schwarze Bischof Mark für Hilfe in Liebesnot und bis zu gewartet. Dafür sind einige hundert Men- ähnliche Veranstaltungen bei Imperia und 30000 Mark für die Rettung vor einer tod- schen an diesem Morgen nach Zagarolo in Zocco di Erbusco nahe Brescia. bringenden Fattura. gekommen, einem Dorf 30 Kilometer vor Obwohl ihm untersagt wurde, ausge- Hausfrauen und Handwerker, Professo- den Toren Roms. Sie drängen sich im rechnet in Rom, der Diözese des Heiligen rinnen und Politiker zieht es zu den Sach- verständigen für Tod und Teufel. Die Leh- rerin geht eher zur Hexe als zur Psycho- therapeutin, um ihre Probleme zu offen- baren. Der Fabrikant hört lieber auf den Magier als auf den Unternehmensberater – das ist erstens sicherer und zweitens bei Nachbarn und Freunden höher angesehen. Vor allem die Hohepriester des Gewer- bes, die Exorzisten, werden der Nachfrage kaum Herr. Pro Woche muß jeder von ih- nen bis zu 50mal die Höllenhunde Satans an die Kette legen. Rund 230 Teufelsaustreiber, die sich kürzlich in einem umbrischen Kloster zur Jahreshauptversammlung des Berufsstands trafen, waren sich einig: „Es fehlen Exor- zisten.“ Pater Gabriele Amorth, 73, Präsi- dent der Internationalen Vereinigung der Exorzisten, klagte über die mangelnde Vor- sorge der Amtskirche. In jeder Diözese müßte der Bischof eigentlich einen Bei- stand gegen die Geschöpfe der Hölle no-

G. GALAZKA minieren, aber nicht jeder tue es. Bischof Milingo, Gläubige in Zagarolo: „Ich heile Fieber, ich heile Untreue“ Dabei hat der Papst persönlich die Exi- stenz des Satans erneut bestätigt. Ein 84sei- großen Wohnzimmer einer Landvilla, dem Vaters, seine Messen zu zelebrieren, findet tiges vatikanisches Handbuch zur Teufels- Schauplatz der ungewöhnlichen Messe. er immer wieder Kollegen, die gemeinsam austreibung „De Exorcismis et Supplica- Das niedrige Zimmer mit Rüschengar- mit ihm die Höllenmächte bannen. Sie fül- tionibus Quibusdam“ löste jüngst die bis- dinen am Fenster wird durch ein schmie- len die Kirchen – also drückt der Vatikan her gültige Anleitung aus dem Jahr 1614 ab. deeisernes Gitter geteilt. Draußen, auf der ein Auge zu. Es empfiehlt zwar allen Satanskämpfern, Terrasse und im Garten, drängeln noch Denn Teufelsaustreiber sind im katho- medizinischen Rat einzuholen, wenn sie mehr Besucher und versuchen, sich in den lischen Italien an der Schwelle zum 21. mit „Besessenen“ zu tun hätten. Aber daß überfüllten Raum zu schieben. Jahrhundert ähnlich populär wie im der Herr der Hölle höchstpersönlich ver- Über Lautsprecher kommt die eigenar- Mittelalter.Außerdem bieten etwa 140 000 suche, sich verwirrter Seelen zu bemächti- tige Musik auch zu ihnen, afrikanischer Magier und Hexen Hilfe gegen „fattura“ gen, stehe außer Frage. Rhythmus mit gregorianischen Motiven. (Verwünschung) und „malocchio“ (bösen Ein Fachmann wie Kardinal Jorge Artu- Darüber die murmelnde, beschwörende Blick). Sie kurieren vermeintlich Beses- ro Medina Estévez, Chef der Vatikanischen Stimme des Predigers: „Ich heile Fieber, ich sene, helfen bei der Rückführung der ent- Kongregation für den Gottesdienst und die heile Untreue …“ flohenen Geliebten und geben auch Lot- Sakramentenordnung, erkennt Besessene Viele der Gläubigen recken Fotografien totips. 20 000 der Rundum-Quacksalber bereits auf einen Blick: an ihrer „vehe- in die Höhe, jeder hat ein Anliegen. Ver- zahlen sogar ordnungsgemäß Steuern, auf menten Abneigung gegen Gott, die geseg- wandte sind schwer erkrankt, andere sind Jahreseinkommen von durchschnittlich nete Jungfrau, die Heiligen, das Kreuz und irgendwann, irgendwie verschwunden. 75000 Mark. geweihte Bilder“. Hans-Jürgen Schlamp

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ARCHITEKTUR Das Kasperlamt unst am Bau ist, auch in der „Berliner Republik“, Knicht unbedingt ein heiteres Thema, wie zuletzt so manche Kritikerklagen zur Reichstagsausstattung be- stätigt haben. In unmittelbarer Nachbarschaft löst der Wiener Architekt Gustav Peichl, 71, das Problem nach seiner Art: Auf dem begrünten Dach seiner „Kinderta- gesstätte des Deutschen Bundestages“ läßt er die Berli- ner Künstlerin Christine Gersch ein Kasperletheater aus Holz errichten. Das Häuschen ist eine Miniaturkopie des neuen Kanzleramts, das ungefähr 400 Meter entfernt von den Peichl-Kollegen Axel Schultes und Charlotte Frank gebaut wird. „Der Kanzler sieht von seinem Büro aus die Kinder, und die Kinder sehen den Kanzler“, er- läuterte Peichl dem Kunstbeirat unter Vorsitz von Wolf- gang Thierse („Als ich klein war, hätte ich auch gern Kanzler gespielt“) das Projekt, und das Gremium gab sei- nen Segen. Das Machtzentrum als Muppets-Show – ein Kommentar zum Medienkanzler Schröder? Peichl, unter dem Pseudonym „Ironimus“ auch als politischer Kari- katurist tätig, weicht diplomatisch ins Allgemeine aus: „Politik hat manchmal mit Kasperltheater zu tun.“ Kanzleramt (Modell), Kindertagesstätte (Peichl-Zeichnung)

KUNST-ATTENTATE aufgeflammte Diskussion um schärfere MUSIK Sicherheitsmaßnahmen hält Fuchs für Schlitzer im Museum übertrieben. Weder Detektoren noch Heidegger swingt Plexiglas-Scheiben, glaubt er, könnten nschläge auf Kunstwerke seien verhindern, daß Kunst attackiert werde: er nicht lesen will, muß hören; da A„fast so schlimm wie ein Mord“, „Wer demolieren will, findet einen Wmacht es dann viel weniger aus, empört sich Rudi Fuchs, Direktor des Weg.“ Der Museumschef verlangt aber, wenn die Bedeutung gründlich dunkel Stedelijk Museums in Amsterdam. Die daß Kunstzerstörer härter bestraft und bleibt. „Was ist der Sinn des Seins?“ Wut hat einen aktuellen Grund: Am intensiver überwacht werden. Meist läßt sich gerade noch verstehen, dann vergangenen Sonntag schnitt ein At- handele es sich ja um Wiederholungstä- aber legt der Sänger Thomas Pigor, un- tentäter im Stedelijk mit einem Kartof- ter. Nach seiner Vermutung ist der Pi- terstützt von seinem Pianisten Benedikt felmesser ein kreisrundes Loch in das casso-Schänder – er lebt seit 1978 we- Eichhorn, in derart rasantem Tempo los, Picasso-Gemälde „Weiblicher Akt vor gen versuchter Flugzeugentführung in daß sich die Rhythmen nur so über- dem Garten“. Zehn Millionen Mark soll einer psychiatrischen Klinik, hat jedoch schlagen – bis zum denn doch klar ver- das 1956 entstandene Bild wert sein; bisweilen Ausgang – derselbe Mann, der nehmlichen Refrain: „Da hat der Hei- seine Restaurierung dürfte ein bis zwei vor neun Jahren Rembrandts „Nacht- degger wieder mal recht.“ Pigor, 43, ein Jahre dauern. Die nach der Schandtat wache“ im Rijksmuseum verätzte. Auch netter Fiesling, der Prominente wie Sa- im Stedelijk ließ sich ein Van- bine Christiansen gern mit hinterhälti- dale doppelt blicken: Beide gen Huldigungen überhäuft („Bitte mo- Male, 1986 und 1997, war er deriere mich!“) und seine Zuhörer an- von abstrakten Bildern des schleimt: „Sie waren ein interessantes US-Künstlers Barnett New- Publikum“, hat sich ähnlich liebevoll man so irritiert, daß er zum auch den 1976 verstorbenen Philoso- Stilett griff. phen Martin Heidegger vorgenommen; und man staune: Der Seinsbedenker swingt. Mit dem Schnellkurs „Hard- corephilosophie meets Reggae“ und fei- nem Spott über das verkorkste Selbst- bewußtsein der Berliner Republik („Don’t look so alliiert“) ist das Kaba- rett-Duo, das den Deutschen Klein- kunst-Preis 1999 bekommen hat, nun auf Tournee, vom 26. Mai bis zum 13. Juni in der Berliner Bar jeder Vernunft: REUTERS VG BILD-KUNST, BONN 1999 VG BILD-KUNST, „Pigor singt. Benedikt Eichhorn muß Picasso-Gemälde, Beschädigung (wie auf dem linken Foto markiert) begleiten – Volumen 3“.

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COMICS Spiderman im AUSSTELLUNGEN Altersheim „Ich entziehe mich dem Lob“ uch Superhelden kommen in die Der Leipziger Maler Neo Rauch, 39, zu nur noch in einer wilden Flut toleriert, AJahre. In „Earth X“, einem gerade Protesten gegen den DDR-Teil der Wei- kann ich nicht teilen. in den USA erschienenen opulenten marer Ausstellung „Aufstieg und Fall SPIEGEL: Was hängt da von Ihnen? Comic-Band des Marvel-Verlags, trifft der Moderne“ (SPIEGEL 18/1999) Rauch: Eine Arbeit aus meiner Studien- der Leser auf legendäre Helden seiner zeit um 1983: Figuren mit frustrierten Jugendtage, doch sie sind kaum wieder- SPIEGEL: Herr Rauch, in Weimar wird Zügen auf einer Straßenkreuzung – zuerkennen. Spiderman ist fett und zy- DDR-Kunst in einer betont beiläufigen natürlich epigonal und naiv, aber als ein nisch geworden, Captain America glatz- Art von Depot-Inszenierung ausgestellt. Kuckucksei im Nest der Gesellschaft ge- köpfig, und der blonde Donnergott Die Akademie der Künste Berlin-Bran- meint. Preiß lobt mich nun sogar dafür, Thor hat gar sein Geschlecht gewech- denburg prangert das als „frivol“, als aber ich entziehe mich dem Lob. selt. 14 Ausgaben „geschichtsignorante Nachlässigkeit“ SPIEGEL: Bekommen Sie Ihr Werk frei? lang läßt der Star- an. Sie möchten ein eigenes Bild aus der Rauch: Juristisch ist wohl kaum etwas zu zeichner Alex Ross Schau entfernen lassen. Was stört Sie? machen. Ich weiß noch nicht einmal, die greisen Kraft- Rauch: Der Ausstellungsmacher Achim wem das damals von der FDJ gekaufte protze in einer Preiß will dem internationalen Publi- Bild heute gehört. Ich werde es wohl im zukünftigen Welt kum eine Vorstellung von den Schreck- Handstreich herausholen müssen. kämpfen, leiden lichkeiten unter der Ho- und zweifeln, in der necker-Diktatur geben, er- sie zu allem Übel weist sich aber als außer- mit ihren Fähigkei- ordentlich inkompetent. ten nicht mehr al- SPIEGEL: Ist seine Absicht lein sind: Eine ge- einer Bilanz verfehlt? heimnisvolle Seu- Rauch: Ich habe nichts ge-

MARVEL VERLAG MARVEL che hat allen Men- gen eine kritische Über- „Earth X“-Szene schen Superkräfte sicht. Aber Bilderhäufung verliehen. „Earth ohne Zwischenräume und X“ steht für eine neue intelligente Co- vor Müllfolie empfinde ich mic-Generation der gebrochenen Cha- als eine Massenexekution, raktere mit reichlich Schwächen und die den Delinquenten kei- Problemen. Eröffnet das einen Ausweg ne Chance gibt. aus der Umsatzflaute der Verlage? Ein- SPIEGEL: Ähnlich werden dimensional strahlende Helden schei- im selben Gebäude Nazi- nen die aufgeweckten Großstadtkids Bilder präsentiert. Empört der neunziger Jahre offenbar nicht Sie diese Parallele? mehr sehen zu wollen. Zeichner Ross Rauch: Sie ist instinktlos – hat auch schon Erfahrung mit der De- aber in beiden Fällen wird montage von Comic-Denkmälern: In das Publikum bevormun-

seinem 1996 erschienenen „Kingdom det. Eine Videoclip-Ästhe- G. GAEBLER / PUNCTUM Come“ wird Superman zum Einsiedler tik, die Bilder überhaupt Rauch und Batman zum Krüppel.

Kino in Kürze

„Verlockende Falle“. Der arrivierte Kunstdieb Robert MacDougal (rüstig: Sean Connery) engagiert für einen spekta- kulären Abschiedscoup die junge Kollegin Virginia Baker (schlangenhaft: Catherine Zeta-Jones), ohne zu ahnen, daß sie ihn einem Versicherungskonzern ausliefern soll. Die unmorali- schen Partner umgarnen, betrügen und verführen sich, und Connery überspielt souverän den Altersunterschied. Routinier Jon Amiel liefert einen soliden Thriller ohne Überraschungen.

„Mifune – Dogma 3“. Psychokomödie aus Dänemark: Der Tod seines Vaters zwingt den Yuppie Kresten (Anders Berthelsen) zurück auf den heimatlichen Bauernhof, wo er sich um seinen zurückgebliebenen Bruder kümmern muß und sich in die Pro- stituierte Liva (Iben Hjejle) verliebt. Der „Dogma“-Film des dänischen Regisseurs Søren Kragh-Jacobsen ist braver ausgefal- len als „Idioten“ und „Das Fest“. So wird aus innovativen Bil- Zeta-Jones, Connery in „Verlockende Falle“ ligfilmen schnell konventionelles Autorenkino.

192 der spiegel 21/1999 Kultur

stenführer Theodor Herzl bereit, um die Am Rande Interessen seiner Bundesbrüder am Boden Israels zu Nasenkunde demonstrieren. Schon damals ging Zu den sozialpolitischen es eng zu im Nahen Aufgaben dieser Ko- Osten – aber auch lumne ge- pittoresk. Mit Lust hört seit je am Kitsch der Epo- die gnadenlose che haben jetzt Entlarvung gesell- Kaiser-Wilhelm-Karte Alex Carmel und schaftlicher Zerrbil- Ejal Jakob Eisler der; und eines der betrüblich- KULTURGESCHICHTE die „Pilgerfahrt“ in Bildern dokumen- tiert („Der Kaiser reist ins Heilige sten Vorurteile, das vor allem an Wilhelms Karawane Land“. Kohlhammer Verlag; 79 Mark). deutschen Stammtischen viel Alles scheint erhalten – vom Prospekt Unheil anrichtet, ist folgende zu- ffiziell kam Wilhelm II. nur, um in eines Berliner Reisebüros, das Sonder- tiefst leichtfertige Behauptung: OJerusalem die neuerbaute evangeli- touren organisierte, über Fotos der drei An der Nase eines Mannes er- sche „Erlöserkirche“ einzuweihen. Aber Kilometer langen Kaiser-Karawane bis kennt man seinen Johannes! Ge- die Reise, die den deutschen Kaiser vor zu einem Spottgedicht Frank Wede- nerationen von begattungsfähi- 100 Jahren nach Palästina führte, war kinds, für das sein Autor zu Festungs- von viel Spekulation umweht. Frank- haft verurteilt wurde. Versöhnliches Fa- gen, aber nasal benachteiligten reich und England witterten machtpoli- zit: Jedenfalls habe der Hohenzoller auf Herren haben deshalb immer tische Tricks, deutsche „Templer“-Kolo- seiner Orientfahrt, für die ihm eigens wieder freudlos auf ihre Len- nisten beklagten sich beim Monarchen eine standesgemäße „Tropenuniform“ denregion geschaut. Aber, Män- über Schikanen der türkischen Landes- angemessen worden war, nicht mit dem ner, das sind nichts als Ammen- herren; gleich danach stand der Zioni- Säbel gerasselt. märchen. Tatsächlich ist die Na- se, kommunikativ betrachtet, weit mehr als ein schlichter Jo- hannes, nämlich ein zuverlässi- LITERATUR Autors, der unnachahmlich zwischen Komödie und Tragödie balanciert – nicht ger Lügendetektor, und die Kul- Mehr Tage als Würste gerade, was man normal zu nennen turgeschichte des Organs muß pflegt. Und doch ganz von dieser Welt: deshalb umgeschrieben werden. ünf Tage wohne ich jetzt in diesem Morgens wacht er häufig „mit gezückter Wissenschaftlich abgesichert FDorf“, beginnt der Held und Ich- Waffe“ auf und findet solcherlei „Aus- heißt es nun: „Schwillt der Zin- Erzähler sein Tagebuch. Er kommt aus wuchs“ dann „peinlich“. „Kann sein, daß ken im Gesicht, der Mensch nie- einer Psycho-Klinik und möchte, so er- diejenigen recht haben, die meinen, bei mals die Wahrheit spricht!“ Wir klärt er dem Bürgermeister seelenruhig, mir sei eine Schraube locker“, sagt er, daß „die Tiere mir von ihren „aber ich bin kein Idiot.“ Der verdanken diese Einsicht zwei Problemen erzählen. Ich kann Bürgermeister bekommt es zu naseweisen US-Wissenschaft- mich morgens mit ihnen unter- spüren, als er den Sonderling lern, die Bill Clinton bei seinen halten und die Gespräche nach- zum öffentlichen Interview mit Vernehmungen in der Lewinsky- mittags ins reine schreiben“. Es einem Pferd lädt, um ihn als At- Affäre beobachtet hatten und entgeht ihm nicht, daß die Dörf- traktion für den Fremdenver- dabei eine Vergrößerung des ler glauben, „ich sei verrückt“. kehr vorzuführen. Der ver- präsidialen Rüssels registrierten. In dem alten Haus, das ihm ein meintliche Trottel interviewt Pinocchio Clinton, so die For- Onkel vererbt hat, ist die Ein- den Gaul („Glauben Sie, daß scher, habe bei seinen Aussagen samkeit sein ständiger Begleiter. wir ein Recht auf unsere Illusio- Also redet er auf dem Dachbo- nen haben?“) und simuliert wie- rastlos seine Nase gekratzt und den mit der Spinne Matilde, teilt hernd dessen Antworten. Der sich damit als Schwindler de- den Rotwein brüderlich mit dem Moment seiner Rache kommt, maskiert. Denn beim Lügen bil- Kater Roque und notiert, „daß als er die im Ruf einer „Bet- de sich in der Nase ein Blutstau, ich manches Mal, nachdem ich schwester“ stehende Gattin des der Kolben juckt und wächst. meine Gedichte auf einem Stuhl stehend Bürgermeisters mit einer Frage überfällt: Wir warnen aber vor voreiligen rezitiert habe, mir selber Beifall klat- Ob es stimme, „daß Ihr Mann zwischen Schlüssen. Rhinologische Verän- sche, bis mir die Arme weh tun“. Seine den Beinen nichts zu bieten hat im Ver- derungen können auch ernäh- erträumte Wirklichkeit steht im Gegen- gleich zu diesem wohlausgestatteten satz zu jener gleichförmigen Realität, die Tier?“ Die Heiterkeit wechselt die Sei- rungsbedingte Ursachen haben. ein Sprichwort der Dörfler fixiert: „Es ten, der Kauz führt die Spießbürger vor: Vom legendären Spirituosen- gibt mehr Tage als Würste.“ „Ich schüttete mich aus vor Lachen.“ Buffo W.C. Fields wußte jeder in Der neue Kurzroman von Javier Tomeo, Hollywood, bestimmt habe er 66, trägt den Titel „Der Gesang der Javier Tomeo: „Der Gesang der Schildkröten“. Aus seine rote Knolle „nicht vom Schildkröten“. Sein skurriler Held ist – dem Spanischen von Fritz Rudolf Fries. Verlag Klaus Pingpongspielen“. wie fast alle früheren Geschöpfe dieses Wagenbach, Berlin; 144 Seiten; 34 Mark.

der spiegel 21/1999 193 S. HAOUZI / ABACA Regisseur Almodóvar, „Todo sobre mi madre“-Darstellerinnen*: Tränen in den Augen der hartgesottensten Diven

FESTIVALS Was verlangt das Herz? In Cannes zeigten die meisten Filmemacher klägliche Angst vor den großen Gefühlen.

ivka liebt ihren Mann Meïr, und er der jede lieben, und wenn die Leute ihr liebt Rivka. Seit zehn Jahren ist das Glück verpatzen, haben sie sich das selbst RPaar verheiratet, morgens streichelt zuzuschreiben.Was einst zu maßloser Ver- Meïr seiner schlafenden Frau zärtlich übers zweiflung taugte, ist zur mickrigen Bezie- Haar, kurz nachdem er Gott im Gebet hungskrise geschrumpft. dafür gedankt hat, daß der ihn nicht als Nur in „Kadosh“, einem schlichten, aber Frau zur Welt kommen ließ. rigorosen Film, dessen Tragik wie ein lang- Denn Meïr und Rivka sind fromme Ju- sam wirkendes Gift ins Herz der Zuschau- den und leben in Mea Schearim, dem Or- er sickert, stirbt Rivka an so etwas Altmo- thodoxenviertel von Jerusalem. Ihre Welt dischem wie einem gebrochenen Herzen. ist winzig und sicher, für alles gibt es Re- Im übrigen gilt: Mit den tragischen Lie- geln, selbst dafür, ob man am Sabbat Tee benden verschwindet auch der große Lie- aufbrühen darf. Es gibt auch eine Regel für besfilm. Er ist eine vom Aussterben be- Ehepaare, die nach zehn Jahren noch kei- drohte Gattung. Sein Fehlen fällt nirgends ne Kinder gezeugt haben: Scheidung. Meïr, mehr auf als in Cannes, denn das Filmfe- sagt der Rabbi, muß sich neu verheiraten, stival an der Côte d’Azur ist stets ein Um- um gläubigen Nachwuchs in die Welt der schlagplatz der großen Gefühle gewesen: „Todo sobre mi madre“ Ungläubigen zu setzen. Exzeß, Ekstase und Verrat passen bestens „Kadosh“, der Wettbewerbsbeitrag des in dieses leicht erregbare, sich selbst dra- Wettbewerbsbeiträge in Cannes: Die meisten Israeli Amos Gitaï, setzt die Liebe gegen matisierende Städtchen. die Pflicht.Was verlangt das Herz, und was Statt echte Love-Storys zu wagen, plag- stenfalls ein paar Transvestiten zugelassen verlangt der Rabbi? Liebestragödien, das ten sich in diesem Jahr die Regisseure im waren. gilt spätestens seit „Romeo und Julia“, ge- Festivalpalais mit den Mühen der Bezie- Das alltägliche Kuddelmuddel der Ge- deihen am besten in einer streng geregel- hungsarbeit ab – oder sie trauten sich erst fühle hatte sich der Brite Michael Winter- ten Welt, in der sich der ungehörigen gar nicht, die Geschlechter aufeinander bottom in seinem Wettbewerbsbeitrag Amour fou eine starke Kraft entgegen- loszulassen. Es häuften sich die Männer- „Wonderland“ vorgenommen: lauter bei- stemmt, sei es die Familienehre, die Stan- filme, in denen kaum ein weibliches Wesen läufige Geschichten statt einer großen, lau- deszugehörigkeit oder das Glaubensgesetz. mehr als vier Sätze sprechen durfte, und ter Mini-Krisen statt einer Katastrophe. Solch grausame Kräfte aber quälen heu- umgekehrt die Frauenfilme, in denen be- Drei Londoner Schwestern, ihren Ver- te, außer im archaischen Reich von Mea wandten, Liebhabern und Bekannten folgt Schearim, kaum mehr ein Liebespaar. In * Marisa Paredes, Cecilia Roth, Candela Peña, Pené- der Film ein Wochenende lang durch das der Laissez-faire-Welt des Westens darf je- lope Cruz. Wunderland der großen Stadt. Winterbot-

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tom hat das gefilmt, als wolle er sich um Mitgliedschaft in der „Dogma“-Bruder- schaft bewerben, mit einer Handkamera im Straßengewühl, ohne Scheinwerfer, ohne Statisten und ohne Absperrungen. Dadurch verschluckt die Stadt in „Won- derland“ mit ihrer überwältigenden, fast brachialen Gegenwart letztlich die einzel- nen Geschichtchen: Welche Schwester ver- geblich per Kleinanzeige auf Männerfang geht, welche zuviel trinkt und flucht wie ein Kesselflicker, warum die Eltern nur noch in angewidertem Tonfall miteinander verkehren – das alles verweht im großen Rauschen Londons. Auf eine einzige Beziehung konzentriert sich dagegen „Moloch“, der Wettbewerbs- beitrag von Alexander Sokurow. Der ge- wöhnlich wortkarge Russe forscht hier plappernd den privaten Augenblicken nach, die Eva Braun mit ihrem „Adi“ verbrach- te. Was bedeutet es, Hitler zu verfallen? Sokurow hat keine Ahnung. Er war erpicht

darauf, die Banalität des Führers zu entlar- PRESS SIPA ven, und hat nichts weiter als einen bana- „Pola X“-Stars Catherine Deneuve, Guillaume Depardieu: Ein Film wie eine Fieberkurve len Film gemacht. Die dralle Eva turnt ge- langweilt auf dem Obersalzberg herum, bis der einst die Festivalleinwand mit „Wild von einem jungen Schreiber, der seine Hitler samt Entourage anreist und prompt at Heart“ in Brand gesetzt hatte, kam mit bourgeoisen Sicherheiten hinter sich läßt anfängt, dummes Zeug über den Nährwert „The Straight Story“, der Verfilmung ei- und in die Gosse hinabsteigt, weil er glaubt, von Brennesseln zu reden, sich über Stalin ner vermischten Meldung mit Rentner- nur so ein großes, welterschütterndes Werk zu beklagen und seine Hypochondrie zu Charme: Alter Mann tuckert auf seinem zu schaffen. Er schreibt wie besessen, trägt pflegen. Nur Eva wagt es, ihm Widerworte Rasenmäher 350 Meilen durch Amerika. wildes Haupthaar und wehenden Mantel zu geben, und jagt ihn gelegentlich kichernd Blieb Leos Carax. Daß er sich auf die und wird doch die tiefsitzende Furcht nicht in der Unterhose um den Konferenztisch. großen Gefühle versteht, hatte der Franzo- los, bloß ein Hochstapler zu sein. Was wie ein verfehlter Boulevardstoff se vor acht Jahren mit den „Liebenden von Ganz unbeirrt hebt Carax diesen ro- klingt, hat Sokurow mit viel cineastischem Pont-Neuf“ bewiesen, einer begeisterten mantischen Wirrkopf aus dem 19. Jahr-

„Wonderland“ „Kadosh“

Filme plagten sich mit mickrigen Beziehungskrisen ab – oder trauten sich erst gar nicht, die Geschlechter aufeinander loszulassen

Kunstnebel eingehüllt: Der Obersalzberg Himmelsstürmerei von einem Film, in dem hundert, wo er hingehört, ins Hier und ist grünlich dumpf ausgeleuchtet, als läge auch das Überlebensgroße niemals groß Jetzt; er sieht ihn offensichtlich als Alter er wie Atlantis unter Wasser, und der Zu- genug war. „Pont-Neuf“ floppte kommer- ego. „Pola X“ ist die Liebeserklärung des schauer merkt bald, daß er keinen Film be- ziell, und Carax hatte seither keine Kame- Monsieur Carax an seinen Weltschmerz trachtet, sondern ein Aquarium. ra mehr angerührt. Dementsprechend hoch und als solche ziemlich unerträglich. Eine Abwechslung von der Feeling- waren die Erwartungen an „Pola X“, seine Daß man sich heute dem Melodram an- Flaute im Wettbewerb war von mehreren Verfilmung eines chaotischen Nebenwerks ders widmen kann, zeigte Pedro Almodóvar Filmemachern zu erhoffen gewesen: Aber des „Moby Dick“-Autors Herman Melville. mit „Todo sobre mi madre“ (Alles über mei- der Kanadier Atom Egoyan, zuletzt mit „Pola X“ entpuppte sich tatsächlich als ne Mutter). Der Spanier verehrt die „wo- dem Requiem „The Sweet Hereafter“ in purer Carax – es wird geschrien und ge- men’s pictures“ des klassischen Hollywood, Cannes erfolgreich, brachte nur ein halb- storben und an der Welt gezweifelt. Ein in denen grausame Schicksalsschläge selbst gares Nebenwerk mit; und David Lynch, Film wie eine Fieberkurve. Carax erzählt den hartgesottensten Diven die Tränen in

der spiegel 21/1999 195 Kultur die Augen trieben. „Todo sobre mi madre“ ist seine Hommage an diese Gattung, eine alt-neue Geschichte, über deren Wassern SPIEGEL-GESPRÄCH der Geist von Bette Davis schwebt. Eine Krankenhausangestellte verliert ihren 17jährigen Sohn bei einem Autoun- „Spuren heftigster Art“ fall. Er wird – typisch Almodóvar – über- fahren, als er dem Wagen eines Theater- Regisseur Werner Herzog über den stars nachrennt, um ein Autogramm zu er- haschen. Nach dem Tod des Jungen macht Auftritt deutscher Filmemacher in Cannes und seine sich die Mutter auf die Suche nach seinem Klaus-Kinski-Hommage „Mein liebster Feind“ Vater, dessen Geschichte sie ihm stets ver- schwiegen hatte. Denn der Papa geht in Herzog, 56, kam als Autodidakt zum Film ist, hier in Cannes zu sein. Trotzdem gehö- Frauenkleidern auf den Strich. Während und gewann schon als 25jähriger 1968 ei- re ich nicht zu denen, die sich über den Me- ihrer monatelangen Suche trifft die Trau- nen Silbernen Bären bei den Berliner Fest- dienrummel beklagen: In Cannes läßt sich ernde auf eine ganze Reihe von Frauen, die spielen. Als Regisseur zieht ihn seit je vor sehr schön erkennen, daß das Kino seine ihr helfen oder ihre Hilfe brauchen. allem das Extreme an; einige seiner Filme Wurzeln im Jahrmarkt hat. Im übrigen ist Mit Filmzitaten und buntem Flair ver- („Fitzcarraldo“, „Cobra Verde“) mit dem es ganz normal, einen Film mit Hilfe der sucht Almodóvar darüber hinwegzutäu- Hauptdarsteller Kinski, der 1991 verstarb, Medien dem Publikum näherzubringen. schen, daß er sich vom postmodernen Hal- sind unter Lebensgefahr in Urwäldern SPIEGEL: Regisseure wie Wim Wenders und lodri zu einem großen Humanisten der oder Wüsten entstanden. Sie hatten und haben in Cannes einen Leinwand entwickelt hat: Seinen Film guten Ruf, während jüngere Regisseure durchzieht eine bedingungslose Empathie. SPIEGEL: Herr Herzog, würden Sie hier in aus Deutschland in den letzten Jahren fast War „Todo sobre mi madre“ eine Ode an Cannes lieber einen Spielfilm präsentie- nie ihre Filme im Hauptprogramm unter- die Frauenfreundschaft, so erstaunte der ren, oder finden Sie es einfach schön, mit brachten. Ignoranz der Festivalmacher ge- deutsche Autorenfilmer Werner Herzog die Ihrer Klaus-Kinski-Huldigung „Mein lieb- genüber den Deutschen? Zuschauer mit dem zärtlichsten Männer- ster Feind“ überhaupt im Festivalpro- Herzog: Ich lebe seit ein paar Jahren nicht porträt von Cannes. In dem Dokumentar- gramm dabeizusein? mehr in Deutschland und kenne deshalb film „Mein liebster Feind“ rekapituliert Herzog: Niemand, der einen Film heraus- nicht allzu viele neue Produktionen. Aber Herzog seine heftige Beziehung zu Klaus bringt, kann davon sprechen, daß es schön ich glaube nicht, daß das Festival die Kinski, dem Hauptdarsteller Deutschen stiefmütterlich be- seiner aufsehenerregendsten handelt. In Deutschland ist Filme, darunter „Aguirre, der eben nichts Herausragendes Zorn Gottes“ (1972), „Nosfe- entstanden, was internatio- ratu“ (1978) und „Fitzcarral- nal präsentierbar wäre. Beim do“ (1981). Aus Herzogs Erin- deutschen Publikum haben nerungen, aus Filmschnipseln vor allem Komödien Erfolg, und Mitschnitten von Drehar- die nur innerhalb der eigenen beiten entsteht ein Diptychon Kultur zu verstehen sind. Nie- der Seelenzwillinge Herzog mand lacht in den USA über und Kinski, die nicht vonein- den „Bewegten Mann“. ander lassen konnten, auch SPIEGEL: Kann ein Kulturmini- wenn sie einander manchmal ster wie der in Cannes zeit- an die Gurgel gingen.Wer sagt weise anwesende Michael denn, daß ein Männerfilm kein Naumann da vermitteln? Liebesfilm sein kann? Herzog: Was an neuen Visio- Wer traditionellere Love- nen da ist, gerade wenn es sich Storys bevorzugte, wurde in um ungewöhnliche Themen diesem Jahr in Cannes nur in und um ganz junge Leute einer Nebenreihe namens „Le ohne Namen handelt, kann film d’amour“ gut bedient. Die von politischer Seite höch- zeigte Klassiker, in denen noch stens begleitet werden. Aber ganz unverbrämt geschmach- die überwältigende Macht tet und gelitten wurde. Da Hollywoods läßt sich auch so rannte Deborah Kerr aus lau- nicht brechen. ter Sehnsucht nach Cary Grant SPIEGEL: Warum leben Sie vor ein Auto, und er wartete selbst seit drei Jahren in San vergeblich darauf, daß sie zum Francisco? vereinbarten Treffen auf dem Herzog: Das hat viele Gründe, Empire State Building er- auch private. Ich war immer schien.Wer in der Schlußszene der Meinung, daß die Wieder- von „Die große Liebe meines vereinigung für Deutschland Lebens“ nicht schluchzt, der kommen mußte, daß sie eine hat das Kino nicht verdient. geschichtliche Notwendigkeit Und in Cannes nichts verlo- war – in den achtziger Jahren ren. Susanne Weingarten

Das Gespräch führten die SPIEGEL-Re-

* Mit „Pola-X“-Darstellerinnen Katari- / SYGMA S. CARDINALE dakteure Susanne Weingarten und Wolf- na Golubeva, Delphine Chuillot. Regisseur Carax*: Verbeugung vor dem eigenen Weltschmerz gang Höbel.

196 der spiegel 21/1999 hatte ich das Gefühl, nur noch die Dichter ich zwei Filme fertig gemacht, einen über für mich von Spielfilmen kaum unter- können dieses Land zusammenhalten. Des- einen Flugzeugabsturz in Peru und dann scheiden. halb bin ich 1985, immer der Grenze fol- den Kinski-Film. Ich habe zwei Opern in- SPIEGEL: Warum nicht? gend, zu Fuß um Deutschland herumge- szeniert und in einem amerikanischen Herzog: Weil sie hochgradig stilisiert sind, gangen. Damals hatte Willy Brandt öffent- Film mitgespielt, alles in den ersten 16 Wo- voller Imagination und illusionärer Kraft. lich gesagt, das Buch der deutschen Ge- chen dieses Jahres. Sie bilden nicht bloß ab, sie erfinden. schichte sei geschlossen, und das hat mich SPIEGEL: In welchem US-Film haben Sie SPIEGEL: Formulieren Sie deshalb, daß „das zutiefst empört, so daß ich einfach losmar- mitgespielt? Universum kein Lächeln kennt“? schiert bin. Dann kam, auch für mich völ- Herzog: In einem Spielfilm des jungen Herzog: Das ist ein Beispiel für eine eksta- lig überraschend, die Wiedervereinigung. Amerikaners Harmony Korine, der zuvor tische Wahrheit und beschreibt mein Na- Da war plötzlich ein Delirium an Begei- „Gummo“ gemacht hat. Der wollte unbe- turverhältnis. Ich habe einen Zorn gegen sterung, aber seltsamerweise ist die Stim- dingt, daß ich in seinem neuen Film seinen dieses scheinheilige Naturgefühl der New- mung innerhalb von einer Woche umge- eigenen Vater spiele. Der liebt meine Ar- Age-Propheten. kippt in eine Kultur des Wehklagens. beiten und bewundert Filme wie „Aguirre“ SPIEGEL: Bedeutet Ihr Manifest, daß Sie kei- SPIEGEL: Nicht nur im Osten? dafür, daß sie das Filmemachen konzen- ne Spielfilme im hergebrachten Sinn mehr Herzog: Auch im Westen. Bis heute herrscht trieren, den Apparat kleinhalten und da- drehen wollen? eine merkwürdige depressive Orientie- durch eine Lebendigkeit erzeugen, die in Herzog: Beruhigen Sie sich, meine näch- rungslosigkeit. Es fehlt der Mut, eine große Hollywood heute nicht mehr möglich ist. sten drei Projekte sind Spielfilme. Alle Fil- Vision, eine weitreichende Perspektive. Das me, die ich bisher gemacht habe, waren hat sich auch im Kino niedergeschlagen. uneingeladene Gäste. Die sind durch die Ich wollte raus in ein Land, in dem ein Fenster- und Türritzen hereingekrochen, größerer Mut zum Kino da ist, zum Ge- ich konnte sie nicht wieder loskriegen. schichtenerzählen. Ich meine dabei nicht SPIEGEL: Angeblich wollen Sie demnächst unbedingt Hollywood. Deshalb bin ich ja in den Roman des Südafrikaners J. M. Coet- eine Stadt gezogen, die ein Stück von Hol- zee „Warten auf die Barbaren“ verfilmen. lywood entfernt liegt und doch nahe genug, Herzog: Ausnahmsweise sind da weder um den technischen Apparat und den Ver- Drehbuch noch Produktion von mir. Be- teilungsapparat zu nutzen. eindruckt haben mich das Buch und seine SPIEGEL: Wäre der Versuch, in Deutschland Schauplätze, zum Beispiel war ich dafür etwas an den Verhältnissen zu verändern, schon auf der chinesischen Seite des Pamir- nicht konsequenter gewesen? Gebirges. Ich glaube, das Projekt ist im- Herzog: Ich habe innerlich Deutschland und mer noch nicht vollständig finanziert, man die deutsche Kultur nie verlassen – anders wird sehen, ob etwas daraus wird. Aber als beispielsweise Roland Emmerich und die Leute, die das produzieren wollen, re- Wolfgang Petersen, die wohl immer die den schon öffentlich davon – es handelt Sehnsucht hatten, Hollywood-Kino zu ma- sich um Sean Penn und Michael Fitzgerald. chen. Ich verurteile das nicht, aber ich bin SPIEGEL: Penn will auch die Hauptrolle immer hier geblieben. Dabei hat man mich spielen. Offenbar bewegen Sie sich doch schon 1972 bei „Aguirre, der Zorn Gottes“ auf Hollywood zu? gefragt: Wann machen Sie endlich einen Herzog: Nein. Ein Teil von Hollywood be- deutschen Film? Da habe ich geantwortet: wegt sich auf mich zu. Weil die merken, „Schaut doch her, ihr Kretins, das ist der daß sich allein mit Special-effects, Stars deutscheste aller Filme.“ Genauso ist „Fitz- und den immer gleichen Regeln für eine

carraldo“ der bayerischste aller Filme: Da REUTERS angeblich gute Story auf Dauer kein Kino spielt es gar keine Rolle, daß die Ge- Regisseur Herzog machen läßt. Dazu braucht es eine andere schichte um die Jahrhundertwende wäh- „Zu Fuß um Deutschland gegangen“ erzählerische Kraft. rend des Kautschuk-Booms im peruani- SPIEGEL: Und Sie glauben, daß dies auch in schen Urwald spielt – nur König Ludwig II. SPIEGEL: Kürzlich haben Sie das Manifest den USA erkannt wird? hätte diesen Film auch machen können. „Lessons of Darkness“ verfaßt, das sich Herzog: Ich spüre es am Interesse an mei- SPIEGEL: Und doch fanden Sie zuletzt nicht gegen den Wahrheitsbegriff des klassischen nen eigenen Filmen. Kürzlich kam in den mehr genug Geldgeber für all Ihre Projek- Dokumentarfilms, des sogenannten Ciné- USA „Nosferatu“ als Video und DVD her- te. Ihr letzter Kinofilm „Schrei aus Stein“ ma vérité, wendet. Können Sie uns Ihre aus, und innerhalb von ein paar Monaten kam 1991 in die Kinos. Was wurde aus Vorstellung von Wahrheit erklären? wurden 300000 Stück davon verkauft – ein Ihrem seit Jahren geplanten Azteken-Film? Herzog: Das Manifest entstand nach einer erstaunliches Phänomen bei einem 20 Jah- Herzog: Sie werden von mir kein Gejammer schlaflosen Nacht vor dem Fernseher. Ich re alten ausländischen Film. hören. Ich habe immer noch fast alles ma- sah einen italienischen Dokumentarfilm SPIEGEL: Fehlt dem Spielfilmregisseur Wer- chen können, was ich machen wollte. Beim und empfand dieses tiefe Unbehagen, das ner Herzog sein Darsteller Klaus Kinski? Azteken-Projekt gab es praktische Gründe. ich bei solchen Filmen schon lange habe. Herzog: Nein, sicher nicht. Ich hatte ja ein Die Firma von Francis Ford Coppola, die Später sah ich einen Pornofilm – und dach- Leben als Regisseur vor Kinski, während diesen Film produzieren sollte, wollte ei- te auf einmal: Das kommt einer Kino- Kinski und nach Kinski. Im Slalom meines nen poetischen Fim mit diesem großen wahrheit näher, obwohl es eine rein tech- Lebens, der mich zum Glück nicht hat ge- Budget nur finanzieren, wenn er den Un- nische Performance ist.Aus Zorn und weil gen einen Baum rasen lassen, war er ein terhaltungskriterien Hollywoods genügt ich nicht schlafen konnte, habe ich dieses wichtiger Begleiter. Kinski hat etwas ver- hätte. Das kann ich nicht, das gibt das The- Manifest geschrieben. Für mich spiegelt körpert, was tief in mir steckt. Das haben ma nicht her – so what? das dokumentarische Beobachten des auch immer wieder Beteiligte wahrge- SPIEGEL: Ist das Projekt damit erledigt? Cinéma vérité nur die Wahrheit der Buch- nommen, zum Beispiel die Indianer, die Herzog: Nein, das lebt weiter in mir, ob halter wider. Ich suche eine poetische, ek- mir während der Dreharbeiten zu „Fitz- ich’s nun mache oder nicht. Ich habe genug statische Wahrheit. Ich habe viel doku- carraldo“ anboten, ihn für mich zu ermor- andere Projekte. Allein dieses Jahr habe mentarisch gearbeitet in Filmen, die sich den. Die sagten, sie hätten viel weniger

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Angst vor dem brüllenden Wahnsinnigen zu nehmen. Ich mußte mich mit genügend als vor mir. Weil ich so still war. Die wuß- Philosophie wappnen, um ihn stützen, tra- ten ganz klar, ich bin der Gefährlichere. gen und ertragen zu können. Ich glaube, SPIEGEL: War das der Grund für Ihre Macht daß ich verstanden habe, was in ihm ru- über den Schauspieler Kinski – daß Sie im- morte, ungebärdig und unbändig war. mer der Gefährlichere waren? SPIEGEL: Wurde er von Todessehnsucht ge- Herzog: Sagen wir so, ich war der Ent- trieben? schlossenere. Ich hatte eine Disziplin, die Herzog: Er nicht und ich auch nicht. Weder Kinski nicht hatte. Ich hatte die Fähigkeit, habe ich ihn noch hat er mich erschossen. dieses wilde Wesen auf der Leinwand pro- SPIEGEL: Warum haben Sie den Film erst duktiv werden zu lassen. Deshalb war ich sieben Jahre nach Kinskis Tod gedreht? für Kinski ein notwendiger Gegenpart. Herzog: Weil jetzt der richtige Zeitpunkt SPIEGEL: Wie kamen Sie auf die Idee, Kin- ist. Unmittelbar nach seinem Tod war all ski das Drehbuch zu Ihrem ersten gemein- das Schreckliche noch viel zu präsent. samen Film „Aguirre“ zu schicken? SPIEGEL: Da hätten Sie noch nicht zu dem Herzog: Daß Kinski diese Rolle spielen soll- Humor und der Warmherzigkeit gefunden, te, stand schon fest, als ich das Drehbuch die „Mein liebster Feind“ auszeichnen? schrieb – in zweieinhalb Tagen, während Herzog: Ach wissen Sie, es ist ja nicht alles ich mit meinem Fußballverein unterwegs so todernst. Gut, es gab ein paar beinahe war und alle um mich herum schon ab tödliche Szenen zwischen uns. Aber das Salzburg betrunken waren und obszöne Eigentliche war ein tiefer Respekt, eine Zu- Lieder sangen. Ich habe das Dreh- buch fast vollständig mit der lin- ken Hand getippt, mit der rechten mußte ich einen Betrunkenen ab- wehren, der sich schließlich auch über einen Teil der geschriebenen Seiten erbrach. Dann schickte ich das Buch Kinski mit der Post, und zwei Tage später kam nachts um drei dieser bizarre Anruf: Zuerst hörte ich nur unartikulierte Schreie, und ich wußte gar nicht, wer es war. Aber es klang so merkwürdig, daß ich nicht auf- legte. Dann begriff ich, daß es Kinski war und daß er begeistert war, und während dieser ganzen halben Stunde kam ich nur dazu, vier Worte zu sagen: „Wo treffen

wir uns?“ UND SCHEIKOWSKI JAUCH SPIEGEL: In der Geschichte des Herzog-Thema Kinski*: Unartikulierte Schreie deutschen Nachkriegsfilms gilt Kinski bis heute als Inbegriff von Genie sammengehörigkeit, die ich schicksalshaft und Wahnsinn. Können Sie sagen, was Ge- nenne. Wir haben uns gegenseitig zum nie war, was Wahnsinn? Äußersten getrieben. Als wir bei „Fitzcar- Herzog: Ich glaube, das ist bei Kinski nicht raldo“ unter größter Gefahr das Schiff mehr zu unterscheiden gewesen. Er hat durch die Stromschnellen treiben ließen, sich ja in alle Rollen hineinstilisiert. In die sagte er mir: „Wenn du untergehst, dann des François Villon, des Idioten von Do- geh’ ich mit dir unter.“ stojewski, des Jesus oder des Paganini. Die SPIEGEL: Wie reagierten Sie, als Sie von Jesus-Rolle hat er so angenommen, daß er Kinskis Tod erfuhren? tatsächlich Jesus war für einen Teil seines Herzog: Ich habe das erst nur akustisch ver- Lebens. Als wir mit dem Drehen von standen. Das ist nicht in mich hineinge- „Aguirre“ anfingen, hatte er die Jesus- sunken. Erst viele Monate später, als ich Tournee gerade abgebrochen, und er ant- zwei Hände voller Asche ins Meer gestreut wortete mir in Jesus-Worten. Er war der habe, verstand ich es mit einem tiefen Er- verkannte, verhöhnte Heiland, der litt. schrecken: Ja, er ist wirklich tot. Er ist so SPIEGEL: Wußte er es, wenn er zu weit ging? tot, wie man in diesem Universum nur tot Herzog: In manchen Momenten. Als er be- sein kann. Und Gott sei Dank ist er auf im- griff, daß er bei mir in Lebensgefahr war. mer lebendig in den Filmen, die er gemacht Ich glaube, er hatte eine große Empfind- hat, nicht nur in meinen, sondern auch in lichkeit und eine große Verwirrung. Eine all den anderen. Er hat Spuren hinterlas- Panik, die aus einer frühen, dunklen Ver- sen, Spuren heftigster Art.Wunderbar, daß unsicherung geboren war. wir ihn hatten. SPIEGEL: Hätte man ihm mit einer Therapie SPIEGEL: Herr Herzog, wir danken Ihnen helfen können? für dieses Gespräch. Herzog: Unsinn, das wäre völlig falsch ge- wesen. Er war, wie er war, so hatte man ihn * In „Aguirre, der Zorn Gottes“, 1972.

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derweise wohl das einzige Kinoprodukt, Hier gelingen beängstigende Studien KINO das sich im Jubiläumsjahr mit dem großen über weiblichen Irrsinn, der aus ver- Dichter beschäftigt – des Verhältnisses Goe- schmähter Liebe entsteht. Klar, die Rede ist Lottern in thes zu Christiane Vulpius annimmt. Der von Frau von Stein, die Goethe mit der Genius, lautet der Verdacht, soll fürs Fas- Wahl der rangniedrigen Christiane Vulpius sungsvermögen der Gegenwart zugerich- brüskierte. Weimar tet werden, indem man ihn schnaubend, Sibylle Canonica spielt die abgelegte Ge- menschelnd und lotternd in Weimar zeigt. liebte mit einer brisanten Mischung aus Egon Günthers neuer Spielfilm Um es gleich zu sagen: Egon Günther, Zickigkeit, Gekränktheit und echtem Leid. 72, Regisseur und Autor der „Braut“, ver- Zu den Höhepunkten des Films gehört die „Die Braut“ zeigt meidet souverän küchenpsychologische Szene, in der sie mit einer Beschwerde Goethes Beziehung zu Christiane Banalisierungen. Der bewährte Defa-Hau- über Goethes unordentliches Zusammen- Vulpius als Rätsel der Liebe. degen – 1975 näherte er sich mit „Lotte leben mit Christiane – 18 Jahre ohne Trau- in Weimar“ dem Thema Goethe, ein Jahr schein – beim Herzog (Christoph Waltz) ch, Kino, siehst du seine Werke später verfilmte er „Die Leiden des jungen abblitzt: vergeblicher Frauenstolz vor Kö- nicht? Einen genialen Science- Werthers“ – hat wie viele seiner in der nigsthronen. Afiction-Knüller hat er geschrieben DDR groß gewordenen Zeitgenossen die Gegen die Stein, der eine vollkommen von Gott, dem Teufel und einem lebens- Ehrfurcht vor großen Dichtern gewisser- hysterische Frau Schiller (Franziska müden Wissenschaftler: „Faust“, dreifach maßen in den Knochen. Wer die Enge des Herold) in ihrer weiblichen Entrüstung as- bigger than „Star Wars“. DDR-Kulturbetriebes kennengelernt hat, sistiert, haben es die Dulder des Genies Auch aus seiner Feder: Die „Clavigo“- begeht keinen Großvatermord. schwer. Neben den treuen Freunden und Connection – die ultimative Abrechnung So behandelt „Die Braut“ den Dichter Dienern gilt das vor allem für Veronica Fer- mit dem Zynismus von Macht, Kunst, Me- voller Diskretion und Ehrerbietung als den res, der Günthers Drehbuch keine femini- dien und der Ausbeutung der Gefühle. großen Fremdling, an dem die Liebeswün- stisch inspirierten Ausbrüche gestattet. Sie Oder der Plot vom Zauberlehrling oder sche und Liebesaggressionen der Frauen hat Goethe zu nehmen, wie er ist: mal her- risch, mal zugewandt, abwesend noch in der Stunde des Todes, in der Christiane vor Schmerz, Ver- zweiflung und Einsamkeit schreit und der Dichter sich in einem Ne- benzimmer verborgen hält. Aus lauter Ehrfurcht – Günther spricht lieber vom Respekt vor dem Geheimnis der Liebe – rüttelt der Film nicht an den Spielregeln der Geschlechterordnung in jener Zeit. Er meldet nur versteckte Zweifel an. Günthers Kino schaut von un- ten auf den Genius.Wenn die Gei- stesheroen tafeln, treibt sich die Kamera in der Küche bei Chri- stiane und den Dienern herum. Daß die da oben in ihren Werken die Probleme der da unten be- handeln könnten, davon schweigt der Film. Die Dichtung liegt jen- seits des Horizonts. Aber, wer weiß, vielleicht hätte sich in Goe- thes Werk etwas finden lassen, das

CINETEXT die Obsession der heutigen Epo- „Die Braut“-Darsteller Ferres, Knaup: Von unten auf den Genius schauen che transparent gemacht hätte, Mann und Frau müßten sich nach Werthers Liebe und Werthers Selbstmord. abperlen. Verträumt, umwölkt, gelegent- dem Prinzip der Chancengleichheit und Oder, oder – eigentlich kein schlechter lich schroff und hochfahrend, selbst in der Gerechtigkeit lieben. Drehbuchautor, kein schlechter Kino-In- körperlichen Liebe abgelenkt – nie macht Wiederholt hat der Regisseur eine Art spirator, dieser Joe Double-U Goethe. sich dieser Film-Goethe gemein mit den Entblößungsabsicht zu Protokoll gegeben: Doch was sind schon Werke eines Dich- Irdischen, eine Art Dichter-Heiland aus an- Am Ende seines Films sollten die Beteilig- ters? Sie interessieren, selbst im Goethe- deren Sphären. Herbert Knaup bringt es in ten die historischen Kostüme ablegen und Jubiläumsjahr, den Zeitgeist wenig. Die ge- der schwierigen Rolle fertig, Melancholie in einem zeitlosen Cyberspace miteinander genwärtige, vom Biographismus besessene und Männlichkeit zu vereinen. schweben. Epoche scheint nur die eine Gretchenfrage Um Goethe, dieses magische und zu- Solchen Eskapismus hat sich Günther zu kennen: Wie, Goethe, hast du es mit gleich seltsam kraftlose Zentrum des Films, dann aber doch nicht gestattet.Wenn Chri- den Frauen gehalten? Wann – Thema der gruppieren sich alle übrigen Figuren. Er ist stiane stirbt, endet der Film. Wer dem Erl- Sechziger – hast du das erste Mal? Und – es, der die Phantasien der Frauen zum lie- könig Goethe, dem Unruhestifter aus dem aktuelles Interesse – warst du gendermäßig besseligen Explodieren, aber auch haßer- ewigen Reich der Dämonen, begegnen will, auch korrekt? füllten Implodieren bringt. Schon bald wird muß weiterreiten durch die Nacht und die Es entspricht solcher Fixierung, daß sich klar, daß es Günther um keinen Goethe-, Windmacherei immer neuer biographischer der neue Film „Die Braut“ – beschämen- sondern einen Film über Frauen geht. Enthüllungen. Nikolaus von Festenberg

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Werbeseite Kultur N. HATAKEYAMA Explosionsfoto „Blast“ von Hatakeyama (1995/96): Alles könnte ein grandioser Schwindel sein

sen, wessen Wahrheit hier gezeigt wird FOTOGRAFIE und zu welchem Zweck, besonders im Krieg.“ Schürmann steht vor der Aufnahme ei- Der unheimliche Blick nes Gebildes, aus dem es rote Bömbchen regnet. Das ist der große Unsichtbare, der Die Hamburger Triennale der Fotografie ist die „Magnificent B2“-Bomber, wie ihn sein Hersteller feiert. Ein perfekter Bildeinsatz, ehrgeizigste Bilanz-Schau der Lichtbildnerei seit vielen Jahren. ein verklärendes Luftbild, eine wunder- Zentrale Frage: Taugt das Foto noch als Dokument? schöne Lüge: „Als wenn ein Rochen sei- nen Laich abwirft. In der Ausstel- it dem Herzen zu sehen“, fordert lung setzen wir Bilder vom Ein- der deutsche Verteidigungsmini- schlagsort dazu, um zu zeigen, daß Mster, und deswegen hält er dem hier keine Jungs mit Playmobil Parlament Fotos entgegen – Fotos von spielen.“ Kein Foto ist einfach da, dem, was seine Aufklärungsdrohnen aus so Schürmanns These, jedes muß dem Kosovo mitbrachten. Und es sieht vom Betrachter nachbelichtet aus, als halte Rudolf Scharping die Bil- werden, durch Nachdenken, Fra- der wie einen Schutzschild vor sich, um gen, Widerworte. Fragen und Widerworte abzuwehren: Ge- Schürmanns Tausend-Bilder-Le- gen Bilder von Toten haben Worte kei- porello ist eine Ausstellung für ne Chance. Leute, die keine Ausstellungen mö- Ist das klassische Propaganda in Kriegs- gen, mit vielen kuriosen Bildern zeiten? Oder ist Rudolf Scharping der letz- und ohne jede Weihräuchelei vor te, der noch an den Wahrheitsgehalt von großer Kunst: „Es soll Spaß ma-

Fotografie glaubt? NEEB W. chen. Wir wollen keine Hitparade „Ein Foto verbirgt ebensoviel, wie es Schürmann, Gundlach: Traue nie einem Foto der besten Fotos. Wir zeigen Ge- zeigt. Dadurch behält es immer etwas brauchsbilder, Ufo-Fotos aus dem Unheimliches“, sagt Wilhelm Schürmann, phie“ in Hamburg*. „Wir wollen zeigen“, SPIEGEL-Archiv, Fotokunst von Wolfgang Professor für Fotografie aus Aachen. sagt Schürmann, „daß auch Fotos ihren Tillmans und Serien, die irgend jemand in Er hat sich die originellste Fotoschau blinden Fleck haben. Man muß mitle- Hollywood aus der Mülltonne gezogen hat. ausgedacht, die zur Zeit in Deutsch- Und immer die Frage: Was macht mir das land zu sehen ist: „Wohin kein Auge * „Wohin kein Auge reicht.Von der Entdeckung des Un- Foto hier vor?“ sichtbaren“. Vom 21. Mai bis 5. September 1999 in den reicht“, Höhepunkt der zum erstenmal Deichtorhallen Hamburg. Katalog beim Cantz Verlag, Da ist eine Aufnahme vom Oktoberfest, stattfindenden „Triennale der Photogra- Ostfildern; 180 Seiten; 39 Mark. wandfüllend. Ganz hübsch auf den ersten

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Blick. Doch sobald man das Riesenfor- plötzlich als Kunst-Event in einer Lon- sichtbar, und alles könnte ein grandioser mat aus der Nähe betrachtet, zeigt sich in doner Galerie, mitsamt der Fotografin Schwindel sein. den Gesten die lauernde Gewalt einer zwischen Kaviar-Häppchen; und das iko- „Wohin kein Auge reicht“ ist in den Massenveranstaltung. Jedes Foto ist ein nengleiche Foto des Ché Guevara taucht, Hamburger Deichtorhallen untergebracht. Vexierbild, und seine Botschaft ändert auf ein T-Shirt gedruckt, in Palma de Im Umkreis von drei Kilometern werden sich, je nachdem, von wo aus es betrach- Mallorca auf, wo es von Nadia Duaibes täglich mehr Fotos umgeschlagen als sonst- tet wird. wo in Europa: „Hamburg ist der zweit- Fotografie zeigt und versteckt. Sie macht größte Fotomarkt der Welt. Hier ha- das erste Zucken einer Explosion sichtbar ben die großen Magazine ihren Sitz, (Naoya Hatakeyama) und die Coolness ei- und die Fotos kommen aus der Steck- nes besprungenen Rhinozeros-Weibchens. dose“, sagt der Sammler F. C. Gund- Und es reicht, die Blende ein Jahr lang of- lach. „Aber der Leser wird mit der Bil- fen zu halten, wie Michael Wesely im derflut allein gelassen. Es hat bisher in Frankfurter Portikus, damit alle Menschen Deutschland keine Veranstaltung ge- verschwinden. Übrig bleibt allein das tote geben, die über die Kompetenz von Material. Fotografie nachdenken würde und mit Aber auch wenn sie nur das Sichtbare den Festivals in Perpignan, Arles oder abbildet, bewahrt Fotografie ihr Geheim- Paris vergleichbar gewesen wäre. “ nis. Was zeigen schon Landschaftsbilder, Deswegen hat Gundlachs „Arbeits- etwa die Wirklichkeit? Der Amerikaner kreis Photographie Hamburg e.V.“ die

Richard Misrach macht opulente Farbfo- S. HILSBERG Triennale gestartet, ein dreijährliches tos von Landschaften im Mittleren Westen. Thermographische Aufnahme von Rhinozerossen Unternehmen, mit dem sich Hamburg Es ist nichts zu sehen, „Absolutely nothing. Coolness des Weibchens enthüllt einen Sommer lang als Fotostadt in- Next 22 miles“, wie auf einem anderen ternationalen Standards zeigen soll, Bild das Schild der Straßenmeisterei ver- gekauft wird, um unterm Zeichen des mit Symposien und jeder Menge Bilder. kündet. Aber es sind Gebiete, in denen Ché die „Landshut“-Maschine zu ent- In 7 Museen und Kunsthallen und 43 son- Atomtests stattgefunden haben. Erst der führen. stigen Ausstellungsorten wird Lichtbild- Kontext macht die Landschaft zum ökolo- So wird Schürmanns Schau über das Un- nerei gezeigt, darunter die erste zusam- gischen Tatort. sichtbare der Fotografie zu einer Bilderwelt menhängende Präsentation der Fotoarbei- Ein ganzer Raum zeigt die Bilderwelt aus Ähnlichkeiten, geheimen Zeichen, Ve- ten von Andy Warhol in der Kunsthalle des deutschen Herbstes 1977. Die Schnapp- xierbildern, aus der man als Truman Bur- (SPIEGEL 19/1999). schüsse von Astrid Proll aus der Jugendzeit bank herauskommt – der Held von Peter Der Jahrmarkt der Fotoausstellungen ist der „Roten Armee Fraktion“ finden sich Weirs Film „The Truman Show“: Alles ist auch ein Reflex auf den grauen All- Fellig gezeigt*. Der legendäre Bildchronist der dreißiger und vierziger Jahre schaute wirk- lich dorthin, „wohin kein Auge reicht“. Er arbeitete ohne Skru- pel, ohne Filter, aber mit Infra- rot und Blitz, schlief in seinen Kleidern, um schneller am Tat- ort zu sein als die Cops. Kleine, dreckige, wunderbare Men- schenbilder. Die Möglichkeit der digitalen Bildbearbeitung vergrößert die Gefahr, daß sich journalistische Fotografie vom berichtenden zum illustrierenden Medium verwandelt. Seit aus dem Klick der Kamera das monotone Brummen des Computers ge- worden ist, tritt das stillgestell- te Bild wieder in die Zeit und Porträts von Hinrichtungsopfern aus Phnom Penh: Letzter Blick in die Kamera kann nach Gutdünken verän- dert, gereinigt, geliftet werden. tag des deutschen Magazin-Journalis- Es geht die allgemeine Klage, wonach In den Deichtorhallen zeigt eine Parallel- mus. Schließlich ist der veranstaltende klassische Fotoreportage immer weniger ausstellung „Digitale Photographie“, wie „Arbeitskreis Photographie“ eine Selbst- in den Magazinen und immer mehr in die neue Technik von Fotokünstlern ge- tröstungs-Initiative von Hamburger Bild- Galerien stattfinde. Für mühsames Heran- nutzt wird. Das geht von kaum sichtbaren redakteuren, die Tag für Tag miterleben tasten ans Sujet, fürs Erfahren und Inter- Eingriffen am traditionellen Bild bis zu dürfen, wie Fotoreporter zu Bilder- pretieren sei weder Zeit noch Geld vor- vollständig computergenerierten Fotogra- buchmalern werden, die draußen in handen. der Welt suchen sollen, was der Redak- Als Kontrapunkt gegen die Pasteurisie- * „Weegee (1899–1968). Tage und Nächte in New York“. teur abends im Fernsehen wahrgenom- rung der Bilder werden in Hamburg auch 21. Mai bis 5. September. Deichtorhallen Hamburg. Ka- men hat. die New-York-Fotos von Arthur „Weegee“ talog bei Schirmer/Mosel, München; 388 Seiten; 78 Mark. Werbeseite

Werbeseite Kultur fien. Reales und Virtuelles sind endgültig der Fotos vom Kosovo-Konflikt digitale Bil- ineinander gelöst. Da gibt es Fotografien der. Die großen Nachrichtenagenturen wie von Menschen mit Falten und Sommer- AP und Reuter aber bewahren nur Bilder sprossen, aber ohne jede Körperöffnun- auf, die sich verkaufen ließen. Denn es ist gen (Aziz/Cucher); es gibt schaurige Schön- kostspieliger, Datensätze zu speichern als heiten, deren Körper von jeder Unre- Negative. Damit verschwindet, was nicht gelmäßigkeit gereinigt sind (Inez van von der Gegenwart erkannt wird, nach spä- Lamsweerde). testens sechs Monaten. Gelöscht per Maus- Das mag beeindruckend sein, neu ist es klick und ohne eine Spur zu hinterlassen. nicht. Die staunenerregenden Fotografien „Es gibt die schönen, haltbaren Drucke finden sich nebenan, in der Ausstellung von Agenturbildern nicht mehr. Wir haben „Wohin kein Auge reicht“. Was künstleri- gar keine Dunkelkammer im Haus“, sagt sche Fotografie angeht, kann Kurator der Fotoreporter Horst Faas von AP, Pulit- Schürmann keine Revolution erkennen, die zer-Preisträger. Faas ist der Mitherausgeber durch den Abschied vom Negativ ausgelöst von „Requiem“, einem Buch über den Viet- worden wäre: „Der einzige Unterschied nam-Krieg. Es sind Fotos aus dem Nachlaß zur traditionellen Fotografie“, sagt er, „ist getöteter Kollegen, damals unbeachtet, von denen viele erst heute in- teressant, lesbar gewor- den sind. Wenn es keine Negative mehr gibt, wird es, so befürchtet Faas, ein ähnliches Buch über das Kosovo in 20 Jahren nicht geben. Es droht ein Gedächt- nisverlust: „Die alten Bildarchive sind in Auf- lösung“, sagt Faas. „Wichtige Archive histo- rischer Fotos sind von Privatunternehmen auf- gekauft worden“, etwa von Bill Gates’ Firma Corbis. Sie werden digi- talisiert, um sich weltweit vermarkten zu lassen. Aber wer entscheidet, wie viele Glasplatten auf- bewahrt werden? Und wie lange sind die Daten- sätze lesbar? Es gilt das Paradoxon: Je mehr auf Medien gespeichert wer- den kann, desto kürzer ist die Haltbarkeit.Video- filme aus dem Vietnam- Krieg haben heute eine

WEEGEE schlechtere Qualität als „Weegee“-Reportagefoto (1938): Dreckige, wunderbare Bilder Zelluloidaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. die perfekte Reproduzierbarkeit digitaler In den Deichtorhallen ist auch eine Por- Datensätze.“ Er verweist auf das Foto eines trätserie zu sehen, Aufnahmen aus dem vom Himmel stürzenden Vorstadthauses. Tuol-Sleng-Gefängnis in Phnom Penh. Ge- Das ist keine Montage: Der US-Künstler brauchsfotos, keine Kunst. Die Roten Peter Garfield hat das Haus tatsächlich vom Khmer fotografierten jedes ihrer Opfer vor Hubschrauber aus abwerfen lassen. deren Hinrichtung – als Tätigkeitsnachweis Und kein Bild sieht so authentisch aus gegenüber der Partei. Geblieben sind Fotos wie die Porträts der Amerikaner Clegg & von Menschen, denen die Folter noch an- Guttmann, Aufnahmen aus der jüdischen zusehen ist und die wissen, daß dieser Diaspora im Galizien des letzten Jahrhun- Blick in die Kamera der Schergen der letz- derts – und Pixel für Pixel am Computer te ihres Lebens sein wird. entstanden.Auch Aura läßt sich simulieren. Es sind die eindringlichsten Fotos Die Konsequenzen der technischen Ver- der Ausstellung, vielleicht auch, weil sie änderungen sind weniger in den Galerien dem Wesen von Fotografie so nahe sind: als im Fotojournalismus zu sehen. Es ist weil sie Flüchtiges festgehalten haben von Bedeutung, daß digitalisierte Fotos vom und dem späteren Betrachter mehr zei- Zufälligen, dem Wasserzeichen des Wirkli- gen, als der Fotograf sie sehen lassen chen erlöst sind. So sind etwa 80 Prozent wollte. Alexander Smoltczyk

der spiegel 21/1999 211 Kultur FOTOS: S. WENZEL / OSTKREUZ FOTOS: Bochumer Probe des Bond-Stücks „Das Verbrechen des einundzwanzigsten Jahrhunderts“*: „Ich will die Zuschauer schlechter machen“

Bond: Ich bin kein Prophet. Ich schließe DRAMATIKER nur von heute auf die Zukunft. In Ameri- ka sitzen zur Zeit zwei Millionen Men- schen im Gefängnis, vor 15 Jahren waren es „Blinde, die mit Toten tanzen“ nicht mal die Hälfte. Gut möglich, daß es in ein paar Jahren fast zehn Millionen sind. Diese heutige Situation spitze ich auf der Edward Bond über sein neues Stück und Gewalt im Theater Bühne zu: Die Menschen sind in zwei Klas- sen aufgeteilt, in die Kriminellen und in Bond, 64, ist einer der wichtigsten briti- SPIEGEL: Angst wovor? die Erfolgreichen. Beide bekämpfen sich, schen Gegenwartsdramatiker. Bekannt Bond: Angst zu denken. Die Realität scheint zwischen ihnen gibt es keine Menschlich- wurde der Sohn einer Londoner Arbeiter- für viele Theaterautoren so schmerzhaft keit mehr – das ist für mich das Verbrechen familie 1965 mit seinem Stück „Gerettet“, zu sein, daß sie in ihren Stücken verrückt des 21. Jahrhunderts. das die britische Zensur in den sechziger spielen. Das ist gefährlich: Wenn wir uns SPIEGEL: Menschlichkeit ist ein sehr allge- Jahren vorübergehend verboten hatte. Er nicht der Realität stellen, wird sie sehr hart meiner Begriff. Den füllt jeder anders. avancierte zu den meistgespielten und um- zurückschlagen. Bond: Stimmt. Die Evolution hat uns strittensten Bühnenautoren. In den achtzi- SPIEGEL: Stellen Sie sich denn der Realität? Menschlichkeit nicht in den Genen mitge- ger Jahren wurde es stiller um ihn. Sein Ihr neues Stück spielt in der Zukunft, die geben. Wir erschaffen sie künstlich, so wie neues Stück „Das Verbrechen des einund- Figuren leben wie Tiere in einer Ruinen- auch die Religion oder die Romantik. zwanzigsten Jahrhunderts“ wird am 28. Mai wüste am Rande der Stadt. Früher mußten die Menschen zusammen- im Bochumer Schauspielhaus unter der Re- arbeiten. Heute steht jedem eine Maschi- gie von Leander Haußmann uraufgeführt. ne zur Seite. So geht der Gesellschaft Bond widmet es der Londoner Dramatike- Menschlichkeit verloren. Aber ich prange- rin Sarah Kane, die sich im Februar im Al- re nicht den Verlust an, sondern die Ent- ter von 27 Jahren das Leben nahm. wicklung, die dazu führt, daß wir nicht ein- mal mehr diesen Begriff füllen können. SPIEGEL: Mr. Bond, Sie sind wieder da. Ist SPIEGEL: Ihr Stück ist also eine Warnung vor das der wahre Triumph des britischen der Zukunft? Theaters am Ende dieses Jahrhunderts? Bond: Nein, wenn jemand am Anfang un- Bond: Um Himmels willen, nein. Das briti- seres Jahrhunderts vor Auschwitz gewarnt sche Theater ist in einem schrecklichen Zu- hätte, wäre das zwar hehr, aber letztlich stand. Die Dramatiker wollen ihre Stücke nutzlos gewesen.Auch heute gilt: Es bringt in die USA verkaufen und schreiben des- halb furchtbar trivial. Außerdem hat das Autor Bond * Mit Ralf Dittrich, Andreas Pietschmann, Margit Car- Theater von heute große Angst. Viele Kollegen spielen verrückt stensen.

212 der spiegel 21/1999 gar nichts, jetzt vor einem zukünftigen Bond: Von welchen neuen Dramatikern Bond: Nein, das sage ich, weil es eine Aus- Desaster zu warnen. sprechen Sie? Nein, ernsthaft. Die Jungen nahme gab. Sarah Kane war anders. SPIEGEL: Trotzdem wollen Sie, daß die sind schockierend, anarchisch, lebendig, SPIEGEL: Sie waren der erste, der sie gegen Menschen verstehen lernen, wie all die respektlos – aber in einer Sackgasse ge- die anfänglich so vernichtende Kritik ver- Greuel des letzten Jahrhunderts passieren landet. Ich sehe keine Entwicklung. teidigte. Was machte Kane so außerge- konnten. SPIEGEL: Das sagen Sie jetzt nur, weil deren wöhnlich? Bond: Gewiß, nur das Verstehen der Ent- Stücke in den letzten Jahren viel öfter ge- Bond: Sie war einfach ehrlich in ihrer Ar- wicklungen kann diese stoppen. spielt wurden als Ihre Stücke. beit. Ohne es zu wissen, hat sie eine Er- SPIEGEL: Neben der Unmenschlichkeit, die Sie beklagen, gibt es am Ende so etwas wie Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich Hoffnung. In der letzten Szene regt sich in Bestseller ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ einem Überlebenden ein Gefühl. Er weint. Bond: Wenn ich Hoffnung hätte, würde das Belletristik Sachbücher die Zuschauer verändern? Ich will dem Pu- 1 (1) John Irving Witwe für ein Jahr 1 (1) Waris Dirie Wüstenblume blikum nicht vermitteln: Hey, wenn ihr ei- nen kleinen, alten Mann weinen seht, ist es Diogenes; 49,90 Mark Schneekluth; 39,80 Mark das Signal, daß alles besser wird. Mir geht 2 (2) Henning Mankell Die fünfte Frau es darum zu zeigen, worauf die Hoffnung 2 (2) Corinne Hofmann Zsolnay; 39,80 Mark basiert und ob sie berechtigt ist. So kann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark ich vielleicht den Menschen helfen zu ver- 3 (3) John Grisham Der Verrat stehen. 3 (3) Klaus Bednarz Ballade vom SPIEGEL: Das hört sich alles eher pessimi- Hoffmann und Campe; 44,90 Mark Baikalsee Europa; 39,80 Mark stisch an, als ob Sie selbst nicht glaubten, daß Theater irgend etwas bewirken kann? 4 (4) Walter Moers 1 4 (4) Sigrid Damm Bond: Ich weiß es nicht, aber wenn, dann Die 13 /2 Leben des Käpt’n Blaubär Insel; 49,80 Mark möchte ich, daß meine Stücke die Zu- Eichborn; 49,80 Mark Christiane und Goethe schauer schlechter machen, nicht besser. So stürze ich sie in eine Krise, und sie ma- 5 (5) Marianne Fredriksson Simon 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich chen sich schneller Gedanken über sich W. Krüger; 39,80 Mark nicht, lebe! Scherz; 46 Mark selbst und die Gesellschaft. Verändern kann ich die Menschen ohnehin nicht. 6 (6) Minette Walters Wellenbrecher 6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist SPIEGEL: Seit Ihrem Skandalstück „Geret- Goldmann; 44,90 Mark ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark tet“ aus dem Jahr 1965, in dem ein Kind ge- steinigt wird, ist Gewalt eines Ihrer Leit- 7 (7) P. D. James Was gut und böse ist 7 (7) Jon Krakauer In eisige Höhen motive. Droemer; 39,90 Mark Malik; 39,80 Mark Bond: Falsch. Ich benutze nicht Gewalt, sondern gewalttätige Vorfälle. 8 (9) Maeve Binchy Ein Haus in Irland SPIEGEL: Worin liegt der Unterschied? 8 (9) Guido Knopp Hitlers Krieger Droemer; 39,90 Mark Bond: In Hollywood-Filmen ballern komi- C. Bertelsmann; 46,90 Mark sche Typen mit riesigen Gewehren herum. 9 (8) Cees Nooteboom Allerseelen Keiner weiß, warum. Ich glaube nicht an ei- 9 (8) Jon Krakauer Auf den Gipfeln Suhrkamp; 48 Mark nen therapeutischen Effekt solcher Gewalt. der Welt Malik; 39,80 Mark Ich mache Gewalt am Beispiel bestimmter 10 (10) David Guterson Östlich der Vorfälle durchschaubar und will sie er- 10 (11) Daniel Goeudevert Berge Berlin; 39,80 Mark klären. Mit Träumen beginnt die Realität SPIEGEL: Aber trotzdem zeigen Sie Gewalt. 11 (12) Donna Leon Sanft entschlafen In „Das Verbrechen des einundzwanzig- Rowohlt Berlin; 39,80 Mark sten Jahrhunderts“ werden Menschen ge- Diogenes; 39 Mark 11 (10) Gary Kinder Das Goldschiff quält, verstümmelt, ermordet. 12 (11) Tom Clancy Operation Rainbow Bond: Man muß auf der Bühne eine zeit- Malik; 39,80 Mark gemäße Sprache sprechen. Ein durch- Heyne; 49,80 Mark schnittlicher Amerikaner hat bis zu seinem 12 (12) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch 18. Geburtstag ungefähr 18000 Morde im 13 (–) Heidenreich/Buchholz Berlin; 39,80 Mark Fernsehen gesehen. Die alten Griechen wa- Am Südpol, denkt man, ist es heiß ren übrigens selbst von „Ödipus“ mitge- Hanser; 25 Mark 13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ nommen. Frauen sollen nach dem Thea- Integral; 22 Mark terbesuch Fehlgeburten erlitten haben. 14 (13) Monika Maron Pawels Briefe SPIEGEL: In einem früheren Stück behaup- 14 (–) Ruth Picardie S. Fischer; 38 Mark ten Sie, daß Gewalt nur gewaltlos bekämpft Es wird mir fehlen, werden kann. Was denken Sie über das 15 (–) Maarten ’t Hart Bombardement im Kosovo? das Leben Bond: Die Nato hätte nicht bombardieren Die schwarzen Vögel Wunderlich; 29,80 Mark dürfen. Jetzt gibt es keine humane Lösung Arche; 38 Mark Diagnose Krebs: Eine mehr, es sterben entweder immer mehr junge Journalistin Serben oder immer mehr Kosovo-Albaner. Unter Verdacht: Die schildert den Verlauf ihrer Krankheit SPIEGEL: Dem Theater von heute werfen Freundin eines Pharmakologen ist Sie vor, die Gewalt nur zeigen, nicht er- spurlos verschwunden klären zu wollen. Was halten Sie von den 15 (14) Monty Roberts Shy Boy neuen britischen Dramatikern? Lübbe; 49,80 Mark

der spiegel 21/1999 213 Kultur zähltechnik gefunden, uns das über Men- schen zu erzählen, was wir wissen müs- sen. Und ich glaube, sie hat Gewalt nicht ZEITGESCHICHTE nur protokolliert, sondern ihr auch eine Bedeutung verliehen. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich ihren Selbst- Die Wunder des Vergangenen mord? Bond: Sarah Kane konnte nicht trennen Eine große Schau zum 50. Geburtstag der Republik im Berliner zwischen ihren Stücken und dem Leben. Wenn sie einen Ausweg aus ihren Stücken Gropius-Bau zeigt anhand von 5000 Objekten das gewußt hätte, wäre sie nicht gestorben. Es rasende Tempo der nachkriegsdeutschen Selbsthistorisierung. gab wohl keine Heimat für sie in dieser Gesellschaft. a steht sie wieder, hellgrau und rie- Auf den zwei weitläufigen Stockwerken SPIEGEL: Hat sie jemals mit Ihnen über den sengroß, zieht sich diagonal durch des repräsentativen Gebäudes entblättert Tod gesprochen? Ddie wunderbare Lichthalle des frisch sich eine ausladende zeitgeschichtliche Re- Bond: Leider nicht. Sie rief mich nur ab sanierten Martin-Gropius-Baus in Kreuz- vue, die bei aller Reflexion vor allem auf und zu an, weil sie irgendwelche Pro- berg direkt gegenüber dem alten Preußi- das symptomatische Einzelstück, auf den blemchen hatte. schen Landtag – die Berliner Mauer. Doch typischen Originalgegenstand setzt. Rund SPIEGEL: Wenn Sarah Kane zu Ihnen ge- mitten hinein platzt ein wild gezackter 5000 Ausstellungsstücke – vom zerbroche- kommen wäre, was hätten Sie ihr gesagt? Durchbruch, während hoch droben mäch- nen Reichsadler 1945 bis zu Joschka Fi- Bond: Setz dich zu mir, drück deine Ziga- tige, gegeneinander verkeilte weiße Qua- schers schon leicht schmuddeligen Turn- rette aus, sonst stirbst du zu früh, hätte ich der in der Luft schweben wie geborstene schuhen, die er 1985 bei der Vereidigung als gesagt. Und: Laß uns die Straße ein Stück Einzelteile der Deutschen Demokratischen hessischer Umweltminister trug – werden entlanggehen.Wenn wir genau hinschauen, Republik nach ihrer politischen Implosion: in 39 ganz unterschiedlich gestalteten Räu- finden wir schon einen Grund, der das Le- gefrorene Vergangenheit – 9. November men gezeigt. ben lebenswert macht. Aber sie ist leider 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel. Während im Erdgeschoß die Geschichte nicht zu mir gekommen. Die beeindruckende, teils begehbare bis 1989 eher chronologisch abgehandelt SPIEGEL: Ihr neues Stück haben Sie Sarah Großrauminstallation – griffiges Motto: wird, durchwandert der Besucher im Ober- Kane gewidmet. „Baustelle Deutschland“ – Bond: Nach ihrem Tod ist das nur eine klei- markiert den Einbruch der ne, nichtssagende Geste. Aber sie ist mir Geschichte in die Gegen- wichtig. So kann ich daran erinnern, daß wart der Bonner Republik: sie eine große Dramatikerin war – und Schluß mit Tralala und West- darauf aufmerksam machen, daß wir es Chichi, nun stand der Osten vor der Tür und verlangte „Drück deine kollektiv Begrüßungsgeld. Zigarette aus, sonst stirbst Konfrontiert mit den Un- wägbarkeiten der neuen du zu früh“ deutschen Zukunft, blick- ten die Westdeutschen noch uns nicht leisten können, so jemanden zu einmal melancholisch zu-

verlieren. Ihr Selbstmord hat mich sehr ge- rück und fanden, es sei H. ZIMMERMANN / OSTKREUZ FOTOS: schockt. Sie hätte es nicht tun sollen. doch, alles in allem, sehr Renovierter Gropius-Bau: Erfolgsgeschichte der Demokratie SPIEGEL: Kann Sie im Theater noch irgend schön und recht gemütlich etwas schockieren? gewesen in der guten alten Bundesrepu- geschoß ganz zwanglos einen Querschnitt Bond: Sie sollten dieses Wort nicht benutzen. blik. Zehn Jahre später gilt die offizielle der jüngsten deutschen Vergangenheit in Es führt uns an der Nase herum. Stellen wir Rückschau, vom Bund mit 15 Millionen Ost und West. 7 Ausstellungsarchitekten uns vor, ich sei ein Experte in Verkehrsun- Mark finanziert (deshalb: Eintritt frei), und 16 Autoren haben versucht, in 15 the- fällen.Was kann mich noch schocken? Ist es schon dem vereinten Deutschland. So matischen „Kapiteln“ den jeweils manife- der Unfall, oder ist es der Mensch hinter schnell geht’s mit der Selbsthistorisierung. sten Zeitgeist anschaulich zu dokumentie- dem Steuer? Es sollte der Mensch sein. „Einigkeit und Recht und Freiheit.Wege ren – von den „Siegern und Besiegten“ SPIEGEL: Sagen wir statt dessen: Was be- der Deutschen 1949-1999“ heißt die Groß- über das Erfolgslabel „Made in Germany“ wegt Sie noch im Theater? ausstellung, die am vergangenen Freitag bis zum „Alltag in der DDR“ und der Bond: Mich bewegt es, wenn König Lear im Berliner Gropius-Bau im Beisein einer Frage von Millionen: „Fremd in Deutsch- seine tote Tochter auf den Armen trägt, ihr Ikone der gesamtdeutschen Staatswerdung, land?“ Leben und Atem zurückgeben will, an Altkanzler Helmut Kohl, feierlich eröffnet Stellenweise erreicht die vielschichti- ihrem Hemdkragen zerrt und sagt: „Undo wurde*. Das in nur 18 Monaten Vorberei- ge Schau die dramaturgische Dichte eines this button“ (Macht ihr diesen Knopf auf). tungszeit konzipierte und aufwendig reali- Erlebnisparks, die Intensität einer Zeit- Das ist ein einfacher, aber unglaublich be- sierte Gesamtkunstwerk entstand in einer reise, bei der immer wieder zwei entge- wegender Satz.Aber ich wäre dumm, wenn gemeinschaftlichen Aktion des Deutschen gengesetzte Reaktionen hervorgerufen ich nicht darauf hinweisen würde, daß ich Historischen Museums zu Berlin, des Bon- werden: Hier das spontane individuelle in meinem Stück auch eine hervorragende ner Hauses der Geschichte und der gleich- Wiedererkennen – so wird mancher einst Szene geschrieben habe. Bei den Proben falls dort ansässigen Kunst- und Ausstel- Westpost kontrollierende Stasi-Offizier mit Leander Haußmann sah ich, wie der lungshalle der Bundesrepublik Deutsch- die berüchtigte „Briefverschlußpresse“ blinde Mann mit einer toten Frau tanzt. land, kurz: im Kollektiv der nachkriegs- mit starker innerer Bewegung begrü- Dieses Bild zeigt uns, worum sich unser deutschen Erinnerungsbrigaden – VEB Ge- ßen (das geheimnisumwitterte DDR-Brief- Leben dreht: Wir alle sind blind und tanzen schichte Bonn/Berlin. öffnungswundergerät blieb allerdings mit toten Menschen. verschollen) –, dort das erstaunte Ent- Interview: Fiona Ehlers, Simone Kaempf * Vom 23. Mai bis 3. Oktober. decken fremder Dinge, ferner Welten.

214 der spiegel 21/1999 und im schriftlichen Kommentar, darge- boten. Neben den TV-Bildschirmen, über die historische Reden deutscher Nachkriegs- politiker flimmern, hängen gestochen scharfe, selten zu sehende Farbfotografien der führenden Nazis im Nürnberger Ge- richtssaal. Ein paar Meter weiter steht das Original eines jener Handwagen, auf denen Millionen Vertriebene ihr letztes Hab und Gut durch die Trümmerlandschaften karr- ten, und kurz darauf kündet die erste Jukebox schon von den neuen Zeiten, de- ren Boten Schlagerstar Peter Kraus und Komiker Heinz Erhardt waren. In den Rauminszenierungen mischen sich immer wieder Politik und Alltag, Pro- Raumskulptur vom Mauerfall: Intensität einer Zeitreise paganda und Wirklichkeit. Für West- Augen wirken sicher die spätstalinistischen SED-Plakate und sozialistischen Kampf- aufrufe grotesker als das noch in Zellophan eingepackte, niemals benutzte tiefrote Gesprächssofa, das im atombombensiche- ren Regierungsbunker für den Bundes- präsidenten reserviert war. Ossis werden womöglich eher das Originalmoped belächeln, das der Portugiese Armando Ro- drigues 1964 als millionster Gastarbeiter in der Bundesrepublik zum Dank für die Bereitstellung seiner vom Großkapital aus- zubeutenden Arbeitskraft erhielt. Die Insignien des scheinbar ewig wäh- renden Kalten Kriegs erscheinen heute wie Backförmchen eines verrückten Sandka- stenspiels. Die verkleinerte Nachbildung der amerikanischen Atomrakete vom Typ „Pershing 1A“, die aufklappbare Damen- haarbürste für den illegalen Transport von Spionagematerial oder das zum Zwecke der Zivilschutzausbildung gebaute Groß- modell der Bundeshauptstadt Bonn, das den Zustand nach einem angenommenen Präsidentensofa im Regierungsbunker: Backförmchen eines verrückten Sandkastenspiels sowjetischen Atomschlag demonstrie- ren sollte, erinnern an die hohe Zeit der Für eine 20jährige Wessi- ideologischen Blockkonfrontation, in der Punkerin mag schon der Krieg und Frieden gleichermaßen eis- Originalnachbau eines typi- gekühlt waren. schen DDR-Wohnzimmers Daß die Westdeutschen dabei in ange- zum persönlichen Schock- nehmerer Temperierung leben konnten als erlebnis werden. die Ostdeutschen, das macht die Ausstel- Die Generationen werden lung ebenso augenfällig wie den funda- sich an Kreuzwegen treffen – mentalen Unterschied, den auch alle di- in Rührung und mit Gänse- daktische Ausgewogenheit nicht leugnen haut. Der letzte Bericht des kann: hier eine Erfolgsgeschichte der De- Oberkommandos der Wehr- mokratie, dort der Untergang des „real macht im Großdeutschen existierenden Sozialismus“. Rundfunk, der „eine Funkstil- Ästhetisch freilich hat auch der Westen le von drei Minuten“ verkün- schlimmste Sünden auf sich geladen. Als det, die bis heute dauert, eine abschreckendes Beispiel wurde ein ganzer authentische Anklagebank des Raum im Waschbeton-Stil der siebziger Nürnberger Kriegsverbrecher- Jahre gestaltet – eine architektonische Mix- prozesses und die Demontage- tur aus Gesamtschule, Jugendknast und so- liste der Alliierten für die West- zialdemokratischem Bürgerhaus. zonen, deren Verlesung im Die fünfziger Jahre mit ihrer Ikono- Nordwestdeutschen Rundfunk graphie aus Vespa, Wohnwagen und Ur- gut 90 Minuten in Anspruch laub am Gardasee erscheinen dagegen wie nahm – viele Ereignisse wer- der Archetypus von Zivilität und Glück: den mehrfach, audiovisuell, der Gründungsmythos der Bundesre- Joschka Fischers Turnschuhe: Recht gemütlich gegenständlich, inszenatorisch publik. Reinhard Mohr

der spiegel 21/1999 215 Titel

Jesus und Jünger, frühchristliche Freskenmalerei in den Domitilla-Katakomben in Rom: Vieles spricht dagegen, daß es Jesus gegeben hat Ein Mensch namens Jesus Rudolf Augstein über die scheinheiligen Legenden im „Heiligen Jahr“

as Heilige Jahr, dessen sind wir lich groß“ ist das Jubiläum, wie „außeror- Männer, die bestimmt haben, was als christ- schon heute sicher, wird ein schein- dentlich groß“ ist dieser Jesus Christus liche Religion die Geschichte beeinflußt Dheiliges werden, und es lohnt einen heute noch? Da wird man sich von vorn- hat: der Apostel Paulus, ehemals „Schaul“ Versuch, den Anfängen zu wehren. herein den pathetischen Ansprüchen wi- oder „Saulus“, ein Diaspora-Jude aus der Denn es wird vieles gefeiert, was sich dersetzen und dann sehr genau unter- römischen Provinzhauptstadt Tarsus (heu- nicht ereignet hat. Es werden viele Örtlich- scheiden müssen. te südliche Türkei), und der Nichtchrist keiten gezeigt, die mit Jesus sowenig zu tun Nicht, was ein Mensch namens Jesus ge- Konstantin, Kaiser des Römischen Reiches haben wie die Aberhunderte von Kreuzes- dacht, gewollt, getan hat, sondern was nach von 306 bis 337, der sich erst auf dem Ster- splitter-Reliquien, das „Turiner Grabtuch“, seinem Tode in seinem und unter seinem bebett taufen ließ. der „Heilige Rock“ von Trier und die Kno- Namen, aber oft nicht in seinem Sinne, sehr Paulus war, daran gibt es keinen Zweifel, chen der Heiligen Drei Könige im Kölner oft gegen seine Intentionen gedacht, ge- einer der ganz großen Neuentwerfer der Dom. Es wird vieles verschwiegen werden, wollt, getan worden ist, hat die christliche Geschichte. Nicht Jesus, sondern er war was man nicht wahrhaben will; und es wird Religion und mit ihr die Geschichte des so- der eigentliche Religionsstifter, an Bedeu- vieles verbreitet werden, was nicht wahr ist. genannten christlichen Abendlandes be- tung Mohammed gleich. Der Papst will uns weismachen, der stimmt. Was und wer immer Jesus war, ein Für das Leben, die Worte und die Taten 2000. Geburtstag seines Herrn Jesus Chri- Mann des Abendlandes war er nicht. seines Herrn Jesus hat er sich wenig inter- stus stelle „in Anbetracht der vorrangigen Neben den vier Evangelisten Matthäus, essiert, dessen Lebensthema vom nahen Rolle, die das Christentum in diesen zwei Markus, Lukas und Johannes und denen, „Reich Gottes“ war ihm in seinen zwi- Jahrtausenden ausgeübt hat, indirekt für die vor ihnen Jesus-Geschichten gesammelt schen 50 und 61 nach Christus verfaßten die ganze Menschheit ein außerordentlich und weitergegeben, radikal verändert und Briefen nur ein paar Sätze wert. Über die großes Jubiläum dar“. erfunden haben – neben denen also, die Zukunft irrte sich, dessen sind sich bibel- Wie „vorrangig“ wirkte das Christen- aus dem Menschen Jesus die Kunstfigur kritische Exegeten sicher, erst Jesus, der tum in der Geschichte, wie „außerordent- Christus gemacht haben, waren es zwei das Hereinbrechen des „Reiches Gottes“

216 der spiegel 21/1999 Kirche und Staat,Altar und Thron gaben so ihren Bund bekannt. In Deutschland hat ihn niemand je wieder auflösen können – kein Napoleon, kein Demokrat 1918, kein Hitler, kein Honecker. Schon auf dem Konzil von Arles im Jah- re 314 belegte die Kirche jeden Deserteur des kaiserlichen Heeres mit dem Bann. Vorbei war’s mit dem Pazifismus, mit der Verachtung der Dinge dieser Welt, mit der freiwilligen Armut der frühen Christen. Und 40 Jahre nach Konstantins Tod nann- te die Kirche ein Zehntel vom Grund und Boden im römischen Westreich ihr eigen; im Mittelalter brachte sie es in Westeuro- pa sogar auf ein Drittel. Die Kirche machte sich im Gegenge- schäft nützlich und diente seither jedem Staat dazu, um „die Mühseligen und Bela- denen bei der Stange zu halten“, wie Ernst Bloch schreibt. Im Namen jenes Mannes, dem in den Mund gelegt wurde, sein Reich sei nicht von dieser Welt, errichtete die Kir- che ihre durchaus weltliche Zwangsherr- schaft. Gegen Ende des vierten Jahrhunderts wurde in Trier der erste Ketzer hingerichtet, aus Verfolgten waren Verfolger geworden. „Die letzte Hexe wurde“, wie der Philo- soph Bloch notierte, „um 1770 in der Nähe Würzburgs verbrannt, und eine allerletzte wurde 1825 in St. Gallen vom Land der Eid- genossen dem Höllenfeuer nachgeliefert“.

SCALA Schon nach wenigen Jahrhunderten gab es weit mehr Opfer der Kirche als Märtyrer, noch zu seinen Lebzeiten erwartet hatte; die ihr Leben für sie geopfert hatten. über die Zukunft irrte dann auch der Apo- „Die Schrift lehrt nichts, was nicht mit stel. Nur glaubte er, daß der auferstande- der Vernunft in Einklang stünde“, be- ne Christus alsbald mit Macht und Herr- hauptet Walter Kasper, derzeit noch Bi- lichkeit wiederkommen würde. schof von Rottenburg-Stuttgart, demnächst Wenn einer, dann hat Paulus die Kirche im Vatikan tätig und vermutlich übers Jahr geprägt und nicht die Lichtgestalt Jesus Kardinal, in seinem Jesus-Buch. Aber Mil- Christus; und dies bis heute, bis ins tiefste lionen Unschuldiger sind verfolgt, bestraft Innere des Papstes Johannes Paul II., dessen und getötet worden, weil die Kirche den Fleisches- und Frauenfeindlichkeit der Apo- Einklang zwischen deren vernünftigem stel vorwegnimmt. An eine Kirche, an ein Denken und ihren eigenen Lehren bestritt, Konzil, an einen unfehlbaren Papst aber dem dogmatischen Verständnis der soge- hat auch Paulus gar nicht denken können. nannten Heiligen Schrift. Konstantin, der sich „Pontifex maxi- Erst der Bund mit Konstantin und der mus“ nannte – wie später und noch heute Verrat an den urchristlichen Lehren be- der Papst –, erkannte, welch integrierende gründeten die geschichtliche Wirkung des Kräfte dem Christenglauben innewohnten, Christentums. Eine religiöse Idee verwan- der auf der jüdischen Gehorsamsethik delte sich in eine andere, fast gegenteilige. aufbaute. Erst mit der Konstantinischen Wende ging Max Horkheimer nennt Konstantin ei- überdies die antijudaistische Saat auf, die nen „Skrupellosen“, der „unter den vor- in den Evangelien gesät worden war. handenen Götterlehren das Christentum „Solange die Christen eine unterprivi- als Kitt für die gefährdete Weltmacht aus- legierte Randgruppe waren“, so der ame- ersah“. Damals hat sich die Kirche grund- rikanische Exeget John Dominic Crossan in satzloser neu orientiert als irgendeine an- seinem vor kurzem erschienenen Buch dere Gemeinschaft zuvor oder danach. „Wer tötete Jesus?“, „schadeten ihre Pas- Und Ernst Bloch befand: „Indem das Chri- sionserzählungen, welche die Juden als stentum unter und durch Konstantin des schuldig am Tode Jesu hinstellten, die Rö- römischen Staates sich bediente, bediente mer aber von jeder Schuld daran entlaste- sich der Staat des Christentums, und das ten, im Grunde niemandem. Doch als dann Christentum ward verfehlt.“ das Römische Reich christlich wurde, wur-

SCALA de die Fabel mörderisch.“ Mittelalterlicher Christus* * Gemälde von Marco Palmezzano (circa 1458 bis 1539), Aber wie ist diese unerhört expansive, Vom Menschen zur Kunstfigur gemacht Vatikanische Museen. die Welt umgestaltende Kraft der christli-

der spiegel 21/1999 217 F. ORIGLIA / SYGMA Papst Johannes Paul II. (Ostern 1997): Bedürfnis nach äußerem Pomp vorgelebt chen Zivilisation zu erklären? Wohl vor al- Nichtbefolgens freigestellt, „erlöst“ zu weise die Hamburger Theologin Dorothee lem aus der enormen Spannung zwischen werden. Sölle über Jahrzehnte den Gedanken, Jesus polar entgegengesetzten Prinzipien: zwi- Sind nun diese Antriebskräfte, die eine sei der Stellvertreter des abwesenden oder schen Übernatur und Realität, Heiligem Symbolfigur von der Größenordnung des toten Gottes. Weder sie noch ihre Mitstrei- und Profanem, Geistlichem und Weltli- Jesus Christus geschaffen haben, erschöpft, ter bemühen sich, diese Stellvertreter-Fi- chem, Kirche und Staat; oder auch aus laufen sie jetzt leer? Was liegt brach, wenn gur von dem antiken Jesus von Nazaret ab- der Spannung zwischen Geschlechtsfeind- keine mythische Phantasie einen mehr be- zuleiten. Sie nehmen ganz bewußt das von lichkeit und Sexualgier, zwischen Seele flügelt, wenn Mythos, Magie und alles Hei- Paulus entdeckte Vorrecht in Anspruch, und Körper. Kultur bildet sich nach Sig- lige total aus dem Leben verschwinden; eine abstrakte Figur nach den Bedürfnissen mund Freud nur im ständigen Kampf zwi- wenn es keine „letzten“, keine absoluten der Menschen zu entwerfen. Der einstige schen Triebunterdrückung und Auflehnung sittlichen Werte mehr gibt? Jesus/Jeschua bleibt wiederum unwichtig. dagegen. Das Verlangen des Menschen, sich selbst Natürlich ist es nur ein Gag, wenn Theo- Es war und ist das Geschäft der Reli- und in seinem Dasein einen Sinn zu finden, logen Gott für tot erklären. Damit ist im- gion, Gott und den Menschen gegenein- ist ja geblieben. Es gibt ein Bedürfnis, das mer der alte Gott gemeint. Sie kneten sich ander auszuspielen. Niemand verstand man nicht vorschnell „religiös“ nennen ihren Christus zurecht und basteln sich und versteht es so wie die christlichen Kir- sollte, das aber nach Sinn, Gerechtigkeit ihren Gott, wie er nach ihrer Meinung be- chen, den Menschen mit Schuldgefühlen und Wahrheit, nach einem erfüllten Leben schaffen sein muß, damit er noch irgendwie unter Spannung zu bringen. Ist der Druck verlangt. Die moderne Theologie versucht in die heutige Welt paßt und damit sie ihn, auf einen kaum noch erträglichen Höhe- zwar, dieses Bedürfnis zu befriedigen, aber wie lädiert auch immer, ins dritte Jahrtau- punkt getrieben, konnten und kön- es gelingt ihr nicht, sowenig wie es der ste- send hinüberretten können. Jede, nicht nur nen die Kirchen mit dem Gnadenmittel rilen Rückwärts-Theologie des Papstes und die christliche, Theologie sieht sich mit der der Sündenvergebung zur Stelle sein. Vor der anderen Bewahrer des Vergangenen Tatsache konfrontiert, daß Religion, wie allem die Kirche selbst fand so einen Weg, gelingt. sie von Kirchentreuen und -untreuen ver- die christliche Lehre nicht zu befolgen In immer neuen Anläufen und mit immer standen wird, keine Zukunft mehr hat – und dennoch von den Folgen dieses neuen Abwandlungen verficht beispiels- mit welchem Gott auch immer. Interessanteres als das Entstehen der Religionen läßt sich kaum finden

218 der spiegel 21/1999 Titel

Es wird zum Beispiel darüber gestritten, stellbar, daß die Evangelien ganz ohne per- ob Gott nun Mann oder Frau, ob er Mann sonalen Anlaß hätten entstehen können, und Frau oder ob er weder Mann noch ohne Inspiration durch den gewaltsamen Frau ist. Irgendein Sinn läßt sich in diesen Tod eines Menschen. So kann wohl doch Auseinandersetzungen nicht finden. Die ein personaler Kern angenommen werden, Nöte in dieser Welt betrachtend, wird ge- sonst wäre die ungeheure Motorik der sagt, man könne Gott nur noch eine von frühchristlichen Bewegung kaum ver- zwei Eigenschaften zuerkennen: entweder ständlich, obwohl die nun allerdings ohne Allmacht oder Güte. Denn besäße er bei- Paulus nicht zu denken ist. Es kann also de, würde er soviel Leid nicht dulden. durchaus einen Mann gegeben haben, „Abschied vom allmächtigen Gott“ war den etliche seiner Mitjuden – einfache Leu- denn auch 1995 der Titel eines der Bücher, te wohl – mit Fähigkeiten ausgestattet in denen diese Erkenntnis ausgebreitet glaubten, über die sie selbst nicht verfüg- wurde. ten, dem sie einen Wechsel der Verhältnis- Es gibt keinen Gott, den wir erkennen se zutrauten. oder über den wir reden könnten, auch Interessanteres als das Entstehen der keinen allmächtigen. Daß ein Gott vor 2000 christlichen Religion läßt sich in der Gei- Jahren ein für allemal gehandelt hat, ist stesgeschichte schwerlich finden. Der Pro- Mythos und Magie aus den Kindertagen zeß, wie sich eine Religion aus einer an- der Menschheit. deren entwickelt und dann fast in ihr Ge- Die Frage, ob man Jesus braucht, um an genteil verkehrt, läßt sich wie in einem Fi- Christus glauben zu können, ist heute un- xierbad Schicht um Schicht sichtbar ma- ter Fachleuten wieder aktuell geworden, chen. Ob in der christlichen Religion am

sie ist „in“. Die naheliegende Frage aber, AKG Anfang Jesus stand oder nicht, ist dabei ob er denn wirklich gelebt hat, ist „out“. In Urchristen Johannes, Petrus, Markus, Paulus* nur einer von vielen Aspekten, wenn auch keinem der einschlägigen zwei Dutzend Biographen waren sie nicht einer der wichtigsten. Es gilt aber zu ver- Jesus-Bücher, die derzeit auf dem deut- hindern, und dies aktuell im kommenden schen Markt sind, ist sie dem Autor mehr Christus-Jahr, daß die Frühgeschichte des wert als einen Satz, oft nicht einmal den. Christentums geklittert, um nicht zu sagen Aber es muß nicht unbedingt ein „Narr“ verfälscht wird. sein, wie der Philosoph Paul Deussen 1913 Würde man die frommen Gedanken des kühn behauptete, wer an der Geschichtlich- Papstes zum „Großen Jubeljahr“, wie er es keit der Person Jesu zweifelt. Solche „Nar- selbst bezeichnet, wiedergeben, so könn- ren“ waren immerhin Napoleon und Fried- te man mit seinen eigenen Worten, die rich der Große. Auch beim jungen Goethe schon Hunderte Seiten füllen, allerhand finden sich Sätze starken Zweifels. Der er- Spott treiben. Leseprobe: „Nur mit Chri- ste Theologe, der Jesus aus der Geschichte stus“ gebe es „eine gerechtere und brü- strich, war Bruno Bauer (1809 bis 1882), der derliche Gesellschaft“; oder: Die „Solida- daraufhin seine Lehrbefugnis verlor und rität unter den arbeitenden Menschen“ einen Gemüseladen eröffnete. habe „ihren Grund in der christlichen Bot- Immerhin neun Prozent der erwachse- schaft“; und: „Die ganze menschliche Ge- nen Deutschen, gleich sechs Millionen Leu- schichte ist ein einziges großes Suchen te also, nehmen an, daß Jesus nie gelebt nach Jesus.“ hat, so eine Umfrage in diesem Jahr (siehe Menschheit, Welt und Kosmos, drunter Seite 222). Alles Narren? tut es Johannes Paul II. nicht, wenn er die Vieles spricht dagegen, daß es Jesus ge- Bedeutung Jesu preist. Anhand solcher

geben hat. Der ganze Jesus kann eine aus BPK Texte zu erörtern, ob und gegebenenfalls mehreren Figuren und Strömungen syn- Apostel Paulus* wie dieser Jesus die Weltgeschichte beein- thetisch geformte Erscheinung sein, von An Bedeutung Mohammed gleich flußt hat, dazu fehlt ihnen die Substanz. phantasievollen, hellenistisch ge- Und doch hakt man an dem bildeten Juden bewußt oder unbe- einen oder anderen Papstwort wußt als eine personifizierte Heils- fest: Welch Geist steckt beispiels- erwartung des jüdischen Volkes er- weise hinter dem Spruch, Christus funden. Die meisten seiner Züge, sei „die Erfüllung der Sehnsucht die in den Evangelien beschrieben aller Religionen der Welt“? Ob werden, sind überindividueller Na- die Buddhisten oder die Musli- tur und auch vor ihm schon nach- me das wohl wissen? Glaubt es weisbar; die ihm zugedachten Ei- irgend jemand außer dem Papst, genschaften entsprachen offenbar kann er es selbst überhaupt glau- intensiven Bedürfnissen seiner ben? Zeit- und Nachzeitgenossen. Schwierig wird es, wenn man Manches spricht aber auch sich dem Papst als Religionshisto- dafür, daß es ihn wirklich gegeben riker und als Exegeten zuwendet: hat. Es ist zum Beispiel schwer vor- „Flüchtige, wenn auch bedeut- same Andeutungen“ und „Hin- weise auf Christus“ gebe es in * Oben: Tafelbild von Albrecht Dürer (1526); der „nichtchristlichen Geschichts- Mitte: Gemälde aus der Rembrandt-Schule

(um 1630); unten: Die Konstantinische Schen- AKG schreibung“, behauptet er in einem kung, Fresko, Rom (1246). Kaiser Konstantin (I.)*: Kraft des Christenglaubens erkannt seiner Rundbriefe. Aber er infor-

der spiegel 21/1999 219 miert nicht, er desinformiert: Den Juden Flavius Josephus (37/38 bis circa 100) nennt er, allerdings ohne ihn zu zitieren – aus gutem Grund. Denn ein längerer Passus bei Josephus, das „Testimonium Flavia- num“, wurde früher für bedeutsam gehal- ten, weil dieser jüdische Historiker angeb- lich lobende Worte für „Christus“ fand. Aber es gilt schon seit etlichen Jahrzehn- ten nach Meinung fast aller Experten als christliche Fälschung. Allenfalls erwähnt Josephus den „Christus“ an dieser und an einer anderen Stelle so beiläufig und wert- frei wie Johannes den Täufer. Die Römer Tacitus, Sueton und Plinius den Jüngeren hingegen nennt der Papst in seinem Rundbrief nicht nur, sondern er zitiert sie auch. Aber sie gaben in der Zeit von 105 bis 122 nur wieder, was damals – etwa 75 bis 90 Jahre nach dem Tode Jesu – Christen über ihren Herrn er- zählten. Ehrlicher als der Papst ist da der katho- lische Bielefelder Theologe Willibald Bö- sen: „Die große Weltgeschichte nimmt von Jesus kaum Notiz“, und „kaum“ dürfte auch noch übertrieben sein. Sie nahm ihn nämlich gar nicht wahr. Die Evangelien, so liest man nun wieder beim Papst, seien zwar „Glau- bensdokumente“, aber „auch als histori- sche Zeugnisse nicht weniger zuverlässig“. So einen kryptischen Satz würden deut-

sche Exegeten nicht einmal ihren Studen- AKG ten durchgehen lassen. „Daß es sich bei Die Auferweckung des Lazarus*: Macht, das Leben zu lassen, und Macht, es zu nehmen den Evangelien um Lebensbe- schreibungen Jesu handelt“ Sogar als Herr über sein ei- und „das Adjektivum ,biogra- genes Leben und seinen eige- phisch‘ mit Recht auf sie an- nen Tod stellt sich laut Johan- gewendet“ werde, verbreitet nes-Evangelium Jesus selbst weltweit mit einer „Handrei- vor: chung“ die für das „Heili- „Darum liebt mich mein Va- ge Jahr“ zuständige Vatikan- ter, weil ich mein Leben lasse, Kommission. daß ich’s wiedernehme. Nie- Da sind die Hof-Theologen mand nimmt es von mir, son- des Papstes um 90 bis 100 Jah- dern ich selber lasse es. Ich re zurück. Daß die Evangeli- habe Macht, es zu lassen, und sten keine Biographen sind, hat habe Macht, es wiederzuneh- schon 1906 Albert Schweitzer men.“ in seiner „Geschichte der Le- Aber daß es Jesus ist, der ben-Jesu-Forschung“ ein für al- hier spricht, glauben nur noch lemal festgestellt. Die Exege- stockkonservative Exegeten.

ten ziehen daraus seit Jahr- FOCUS / AGENTUR MAGNUM Für ziemlich alle anderen ist es zehnten die Konsequenz, so Pilger in Lourdes: Fünf Brote für 5000 Leute der Evangelist Johannes, der kann man im Jesus-Buch des Jesus diesen Satz in den Mund katholischen Neutestamentlers Herbert Ratzinger: „Wir glaubten oft förmlich die legt – wie alle anderen Jesus-Worte, die in Leroy (Augsburg) lesen: „Heute wird auf höhere Hand zu spüren, die uns führte“) – seinem Evangelium stehen. Kein einziges den aussichtslosen und unsachgemäßen Ver- und den Johannes Paul II. eine „sichere stammt wirklich von Jesus. such verzichtet, eine Biographie Jesu zu Norm für die Lehre des Glaubens“ nennt. Jesus Christus sei auch der „Herr über schreiben.“ Jesus Christus sei der „Herr über den die Natur“, heißt es im „Weltkatechismus“ Wenn es um Details geht, läßt sich viel- Tod“, steht im „Weltkatechismus“, und der weiter, er stillt also Stürme, macht bei der leicht streiten, ob der Papst und seine eng- Papst erklärt, was das heißt: „Dreimal gab Hochzeit zu Kana aus Wasser Wein – eine sten Berater jeweils 20, 100 oder 200 Jahre er Toten das Leben zurück.“ Dazu Exeget „Tatsache“ nennt dies der Papst –, braucht hinter der Zeit zurückgeblieben sind. Dar- Leroy: „Daß es sich nicht um historisch nur fünf Brote für 5000 Leute oder schafft in unterscheiden sich ihre Texte nicht vom verifizierbare Ereignisse handelt, ist unbe- dem Petrus „eine große Menge Fische“ ins 1993 erschienenen „Weltkatechismus“, den streitbar.“ Netz. Dazu Bischof Kasper in seinem eine Kommission unter Kardinal Joseph Jesus-Buch: „Sogenannte Naturwunder Ratzinger erarbeitete – offenbar spürbar * Altarbild von Michael Pacher (um 1435 bis 1498) in braucht man mit einiger Wahrscheinlich- vom Heiligen Geist erleuchtet (Kardinal St. Wolfgang, Österreich. keit nicht als historisch anzusehen.“

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Mit dem Wojtyla-Papst als Bibelfor- historisch sind weder die Stammbäume, daß die Ergebnisse der wissenschaftlichen scher ist keine ernsthafte Auseinander- die Jesus als Nachfahren des Königs David Leben-Jesu-Forschung in ihr nicht publik setzung möglich. Als Exeget ist Johannes ausweisen sollen, noch wurde er von einer sind.“ Paul II. so isoliert wie als Moralist. Für ihn Jungfrau geboren. Weder war Bethlehem Dabei ist Bethlehem nur bei Matthäus stammen noch immer alle Menschen der Geburtsort, noch gab es einen Stern und Lukas als Geburtsort genannt, die bei- vom Urvater Adam ab, und sogar von von Bethlehem.Weder gab es den Kinder- den anderen Evangelisten gehen offen- der Himmelfahrt spricht er als einem „Er- mord des Herodes noch die Flucht nach kundig von Nazaret aus. Und daß zwei eignis“, läßt aber offen, wie er es sich Ägypten; und der superkluge Zwölfjährige Evangelisten Bethlehem nennen, hat kei- vorstellt. ist auch nicht im Tempel aufgetreten. Nur nen historischen, sondern einen theologi- Daß niemand weiß, wann Jesus geboren die Beschneidung, ein nicht gerade häufi- schen Grund: Es ist die Stadt Davids. Im ist, deutet der Papst nur an: „Man sieht ges Motiv der sonst so fleißigen Jesus-Ma- Alten Testament verheißt der Prophet von einer zeitlich exakten Berechnung ab.“ ler, dürfte wirklich erfolgt sein – nicht weil Micha der Stadt Bethlehem: „Die du klein Sicher ist lediglich, daß der 2000. Jahrestag bist unter den Städten in Juda, aus der Geburt im falschen Jahr gefeiert wird. dir soll der kommen, der in Israel Ein Jahr null hat es nicht gegeben, und im SYRIEN Herr sei.“ Palästina zur Jahre eins ist Jesus nicht geboren, wie im Tyr us Über den Stern von Bethlehem sechsten Jahrhundert der Mönch Diony- Zeit des Jesus ist eine Menge geschrieben wor- sius Exiguus annahm, als er den Kalender von Nazaret den, obwohl es, wie der Kieler umstellte, wobei er sich auch noch ver- Neutestamentler Jürgen Becker in rechnete. See seinem Jesus-Buch schreibt, „kei- 30 km Auf die vagen Angaben in den Evange- Kapernaum Genezareth nen Stern gibt, der im Osten auf- lien ist kein Verlaß. Jesus muß nicht „zur GALILÄA geht, von Norden nach Süden, kon- Zeit des Königs Herodes“ geboren sein, kret: von Jerusalem nach Bethle- weil es bei Matthäus so steht, und auch Nazaret hem, sich menschlichem Tempo an- nicht „zu der Zeit, als ein Gebot vom Mittel- passend, einen Weg zeigt, um dann Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt sich meer über einem Haus stillzustehen“. schätzen ließe“, weil es bei Lukas so steht. Cäsarea Gelegentlich wird diese Stern-Le- Herodes regierte von 37 bis 4 vor Chri- gende auf eine Planetenkonstel- stus. Eine „Schätzung“, also eine reichs- lation im Jahre 7 vor Christus weite Steuererhebung, gab es erst 74/75 SAMARIA zurückgeführt, wie sie sich nur alle nach Christus. „Wahrscheinlich übertrug 800 Jahre ereignet. der Evangelist diese Erfahrung auf einen An der Greuelstory vom Kin- lokalen Zensus“, so Gerd Theißen und An- Jericho dermord des Herodes („alle, die nette Merz in ihrem Lehrbuch „Der histo- Jerusalem zweijährig und darunter waren, rische Jesus“. Askalon in Bethlehem und in der ganzen Und war Jesus wohl 30 Jahre alt, als er Bethlehem Qumran Gegend“) ist auch kein wahres JUDÄA anfing, durch Galiläa zu ziehen? Das steht Totes Wort. Aber der Kölner Kardinal so im Lukas-Evangelium; wahrscheinlich Hebron Meer Joachim Meisner hält an dem aber nur deshalb, weil laut Altem Testa- Gaza Nicht-Ereignis fest, nutzt es sogar ment David mit 30 Jahren König wurde Masada für die Agitation gegen die Abtrei- und man den angeblichen David-Nachfah- bung. Im Januar dieses Jahres pre- ren Jesus im selben Alter als Messias auf- digte Meisner im Kölner Dom: treten lassen wollte. „Zuerst Herodes, der die Kinder Daß Jesus nur ein Jahr umherzog, legen von Bethlehem umbringen ließ, die drei älteren, die sogenannten synopti- sie von Lukas erwähnt wird, sondern weil heute unsere Gesellschaft, in der jährlich schen Evangelien Markus, Matthäus und sie damals bei keinem jüdischen Knaben circa 300 000 unschuldige ungeborene Lukas nahe, mindestens zwei Jahre läßt unterblieb. Kinder getötet werden.“ Und alljährlich das Johannes-Evangelium vermuten. Daß Jesus in Bethlehem geboren wurde, begeht die katholische Kirche am 28. Auch das Todesjahr ist ungewiß. Ge- nehmen wie Johannes Paul II. auch 77 Pro- Dezember das „Fest der Unschuldigen storben ist Jesus spätestens 36 nach Chri- zent der Bundesbürger an. Es ist, soweit Kinder“. In einem 1982 erschienenen „Le- stus, denn da endet die zehnjährige Amts- wir sehen, einer der wenigen Punkte, bei xikon der Namen und Heiligen“ werden zeit des römischen Prokurators Pontius Pi- dem die meisten Deutschen mit diesem diese Kinder als „Erstlingsmärtyrer“ ge- latus. Die Mehrheit der Exegeten hat sich hinterwäldlerischen Papst übereinstimmen. feiert und gleich noch durchgezählt: „viel- für das Jahr 30 nach Christus entschieden, Dabei ist für fast alle evangelischen Theo- leicht gegen 20“. ohne daß für dieses Jahr wesentlich trifti- logen schon seit vielen Jahrzehnten, für Die ganze Legende vom Kindermord gere Gründe sprechen als für einige ande- die meisten katholischen seit etwa 15 bis 20 und von der Rettung Jesu wurde und wird re. Angemessener wäre es, die Amtszeit Jahren klar, daß Nazaret die Geburtsstadt vermutlich nur erzählt, weil im Alten Te- des Pilatus als den Zeitraum zu nennen, in Jesu ist. stament Mose, der jüdische Religionsstif- dem Jesus irgendwann gestorben sein Der Papst glaubt an Bethlehem, weil es ter, als Kind wundersam gerettet wird und könnte. bei Matthäus und Lukas so steht, die Deut- weil Jesus zum christlichen Religionsstifter „Als im wesentlichen unhistorische, rein schen wissen es nicht besser. In ihren Kir- und zum zweiten Mose stilisiert werden theologische Darstellungen“ betrachten chen haben sie es nie anders gehört, in vie- sollte. die meisten deutschen Theologen – mitt- len Büchern nicht anders gelesen. Denn Damit stoßen wir auf die Quelle, aus der lerweile auch die katholischen – die Ge- noch immer gilt, was der Göttinger Neu- viele Berichte in den Evangelien stammen, burtsgeschichten, bedauert der konserva- testamentler Hans Conzelmann 1959 die deshalb nicht historisch sein können. tive Neutestamentler Rainer Riesner. Denn schrieb: „Die Kirche lebt praktisch davon, „Nach Ansicht der Christen“, schildert der Das Alte Testament ist die wichtigste Quelle für die Geburtsgeschichte

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elche Jesus-Berichte halten die Deutschen Vorherrschende Meinung esus ist beliebt, die Kirche hingegen kaum – für wahr? Die Emnid-Umfrage für den der Bibelforscher: so das Urteil der Bundesbürger, die nach ihren SPIEGEL zeigt: Vor allem überlieferte Wunder hat sich ereignet Sympathien befragt wurden. Negativwerte er- – von Forschern ohnehin abgelehnt – werden hat sich nicht reicht, neben fremden Religionsstiftern und skeptisch beurteilt. ereignet biblischen Jesus-Gegnern, auch der Papst. Jesus... für die Antwort „ist wahr“ entschieden sich (in Prozent) ... wurde gekreuzigt 83 Durchschnittswerte auf einer ... wurde getauft 77 Sympathieskala von +5 bis –5 ... hat getauft 77 Jesus +1,9 ... wurde in Bethlehem geboren 77 Luther +1,4 ... wurde von Judas an seine Feinde verraten 76 Gandhi +1,3 Maria ... hat die Bergpredigt gehalten 76 (Mutter Jesu) +1,1 ... wurde von Pilatus zum Tode verurteilt 74 Mose +0,7 ... hat Kranke geheilt 71 Apostel Paulus +0,6 Der Geburtsort Jesu wurde von drei Weisen aus dem Morgenland besucht 65 Dalai Lama +0,5 Evangelische Herodes ließ Kinder am 61 +0,4 Geburtsort Jesu umbringen Kirche ... hat die Kirche gegründet 56 –0,4 Katholische Kirche ... hatte Brüder und Schwestern 47 –0,6 Johannes Paul II. ... verwandelte Wasser in Wein 37 –0,7 Buddha ... speiste 5000 mit 5 Broten und 2 Fischen 35 –1,3 Mohammed ... hat Tote auferweckt 33 –1,5 Pilatus ... ist vor den Augen seiner Jünger in den Himmel aufgefahren 32 –1,7 Judas ... ist leiblich auferstanden 29 m Westen hat Gott noch eine Mehrheit, ... wurde von einer Jungfrau geboren 27 im Osten überwiegt der Unglaube. ... hat als Exorzist Dämonen ausgetrieben 22 Für die meisten Deutschen gibt es kein Jenseits, das sie hoffen oder bangen läßt. Gesamt Westdeutsche Ostdeutsche ur noch jeder vierte Deutsche glaubt an den Christus 50 59 der Kirchen. Für die anderen ist er bestenfalls ein „Ich glaube, großer Mensch. Den meisten Ostdeutschen ist sogar daß es 13 Gott gibt“ das zuviel. Gesamt Westdeutsche Ostdeutsche 60 „Ich glaube 24 23 9 nicht, daß es 14 „Jesus hat nie gelebt“ 5 Gott gibt“ „Ich weiß 27 27 27 „Jesus hat für 43 nicht, ob es mich keine 27 23 Gott gibt“ Bedeutung mehr“ „Gibt es ein Leben nach 47 54 „Jesus war ein großer 34 37 dem Tode?“ Mensch und kann mir 22 20 Vorbild sein“ Ja

Befragt wurden 79 „Jesus war Gottes im Frühjahr 1999 51 Sohn, kam als Erlöser 2000 Männer und 45 27 34 Frauen, repräsen- und ist von den 10 tativ für die erwach- Toten auferstanden“ senen Bundesbürger Nein

222 der spiegel 21/1999 amerikanische Exeget E. P. Sanders in sei- nem 1996 auf deutsch erschienenen Jesus- Buch das Verfahren der Urchristen, Ele- mente aus dem Alten Testament heraus- zulösen, „hatten die jüdischen Propheten von Jesus geredet, der gekommen war, die prophetischen Verheißungen zu erfüllen. Die Christen konnten deshalb die Prophe- ten lesen und dort Dinge finden, die Jesus getan haben mußte.“ „Ein Possenspiel“ nannte Friedrich Nietzsche diesen Versuch, „das Alte Testa- ment den Juden unter dem Leibe wegzu- ziehen mit der Behauptung, es enthalte nichts als christliche Lehren“. Und Nietz- sche fragte: „Hat dies jemals jemand ge- glaubt, der es behauptete?“ Die Schriftauslegung ging „natürlich nicht ohne Gewaltsamkeiten gegenüber dem Text vor sich“, schreibt der Mainzer Neutestamentler Ludger Schenke: „Man war überzeugt, daß der Text vom ,Chri- stus‘ sprach, auch wenn der Wortsinn dem nicht entsprach.“ Anders klingt es, wenn der Exeget auf dem Stuhl Petri sich hierzu äußert. Das Alte Testament hat dann seinen Wert nur oder fast nur als eine Art Christus-Prolog. Johannes Paul II.: „Der Heilsplan des Al- ten Testaments ist im wesentlichen darauf ausgerichtet, das Kommen Christi, des Er- lösers des Heils, und seines messianischen

Reiches vorzubereiten und anzukün- AKG digen.“ Kindermord in Bethlehem*: An der Greuelstory ist kein wahres Wort Wie will man sich mit den Juden ver- ständigen, wenn man ihre hebräische Bibel, Und wie sah Jesus überhaupt aus? Kein die nur von den Christen „Altes Testa- Wort steht darüber im Neuen Testament. ment“ genannt wird, derart zweckent- Die ersten Kirchenväter bezogen eine Pas- fremdet und vereinnahmt? sage über einen leidenden Gottesknecht Das Alte Testament ist die wichtigste, im Alten Testament auf ihn und übernah- aber nicht die einzige Quelle für die men auch die Beschreibung, daß „seine Geburtsgeschichte. Die Vorstellung, Jesus Gestalt häßlicher war als die anderer Leu- sei als Gottes Sohn durch wunderbare te“. Aber lange mochte man dabei nicht Zeugung zur Welt gekommen, ist für Ju- bleiben. Schon vom dritten Jahrhundert den absurd. „Sie stammt aus dem Po- an war Christus nur noch schön. lytheismus und ist im Alten Orient und Eine andere Frage: War Jesus verheira- im Hellenismus weit verbreitet“, so der tet? Seine Ehefrau könnte, wenn wir uns an

„Grundriß der Theologie des Neuen Te- die Bibel halten, nur Maria Magdalena ge- DPA staments“ von Hans Conzelmann und wesen sein. Auf keine andere Spur setzen Abtreibungsgegner Kardinal Meisner (1998) Andreas Lindemann. Da gab es beispiels- uns die Evangelien, wenn überhaupt auf Erstlingsmärtyrer gefeiert und gezählt weise den Glauben, daß die ägyptischen eine. Darüber ist sehr viel geschrieben und Pharaonen, der makedonische König spekuliert worden; es gibt alle Varianten er „eine Gruppe mit sozial abweichendem Alexander der Große, der römische Kaiser der Zuordnung, vom Groupie im Musical Verhalten“, meint der Heidelberger Gerd Augustus und die griechischen Philoso- „Jesus Christ Superstar“ bis zur verlasse- Theißen. Christoph Burchard, ein ande- phen Pythagoras und Plato von Gott ge- nen Ehefrau. Maria Magdalena scheint eine rer Neutestamentler, nimmt an, daß sich zeugt seien. treue Gefolgsfrau gewesen zu sein, ob sie die Gruppe „durch Einladungen und Mangels jedweden Hinweises in den mehr war oder sein wollte, wissen wir Spenden unterhalten“ habe; „daß sie ge- Evangelien wird auch über andere Dinge nicht. Wir hätten auch nichts davon, selbst bettelt haben, ist nicht überliefert“. Folgt gerätselt: wenn wir es wüßten. man dem Evangelisten Lukas, ließ Jesus Sechs Kilometer von Nazaret, in Se- Wie lebte Jesus? „Ohne festen Wohn- sich von vermögenden Frauen aushalten: phoris, gab es zum Beispiel ein griechi- sitz, ohne geregelten Broterwerb und ohne „… und viele andere dienten ihm mit ih- sches Theater. Hat Jesus es je besucht? familiäre Bindung“, schreibt der Kieler rer Habe“. Sprach er also neben Aramäisch, seiner Exeget Becker. Mit seinen Jüngern bildete Zum kargen Leben des „Herrn“ will nicht Muttersprache, auch Griechisch und/oder so recht passen, daß Jesus angeblich als Hebräisch, wie damals die gebildeten Ju- * Fresko in Padua von Giotto di Bondone (um 1266 „Fresser und Weinsäufer“ galt; seine Geg- den in Palästina? bis 1337). ner sollen ihn so beschimpft haben. Heute Was immer über Jesus erforscht wird, ist für den Christus ohne Bedeutung

der spiegel 21/1999 223 Werbeseite

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Werbeseite Titel Pflichttrip zum Papa Johannes Paul II. will zur Jahrtausendwende ein gigantisches Spektakel zelebrieren: Rom fürchtet 30 Millionen Besucher.

ie Generalprobe machte Mut für stem gibt es nicht. Der Traum von einem schweren wie die läßlichen – nur Kirchen- den Ernstfall. Hunderttausende leistungsfähigen U-Bahn-Netz im Jahr rebellen und Feinde des Apostolischen Dströmten am ersten Maiwochen- 2000 ging irgendwann im Streit um Stuhls durften nicht auf den großzügigen ende mit Bussen und Bahnen, per Auto, Strecken und Kosten verloren. Ablaß hoffen. Flugzeug und zu Fuß nach Rom, zur Se- Die Rom-Touristen trinken gut 300000 Auch Bonifatius’ Nachfolger Clemens ligsprechung des Kapuziner-Paters Pio. Liter Wasser am Tag – und lassen es wie- VI. konnte ein solches Highlight des Ka- Doch das befürchtete Chaos blieb aus. der. Sie produzieren mindestens 120 Ton- tholizismus gut gebrauchen: Er hockte im Keine Staus, keine umherirrenden Pil- nen Abfall, an Spitzentagen 280 Tonnen. französischen Avignon, und im Vatikan gerscharen – Rom blieb eine friedliche Wohin damit? ging derweil alles drunter und drüber. Mit Ewige Stadt. Vielen Römern, die von mehr als 700, Freuden akzeptierte er deshalb 1342 das Das macht, jedenfalls den Veranstal- zum Teil langjährigen Baustellen genervt Angebot einer römischen Delegation, die tern, Hoffnung für das kommende Jahr. sind, ist das „Giubileo“ längst zum Alp- Regentschaft ihrer Stadt zu übernehmen. Dann werden vermutlich 30 Millionen traum geworden. „Roma – Chaos der Zum Amtsantritt, so die listige Idee der Menschen Italiens Hauptstadt überfluten, Welt“, prophezeite die Hauszeitung der Emissäre, möge Seine Päpstlichkeit ein um das „Heilige Jahr“, den 2000. Ge- regierenden Linksdemokraten, „l’Unità“. Heiliges Jahr ausrufen, um die störrischen burtstag Jesu Christi, am Amtssitz seines Das hatte Papst Bonifatius VIII. nicht Römer zu besänftigen. Stellvertreters auf Erden zu feiern. Zu den bedacht, als er anno 1300 verfügte, alle So halbierte Clemens VI. die Jubel- religiösen Top-Events wird die maximale 100 Jahre ein christliches Jubeljahr zu intervalle von 100 auf 50 Jahre – auch Tageskonzentration auf 1,5 Millionen begehen, und das erste gleich selbst in wenn er es 1350 dann doch nicht wagte, Menschen geschätzt. Nur dann, und das Angriff nahm. Viele Gläubige machten ins gefährlich chaotische Rom einzuzie- könnte fatal werden, wird Rom von den sich auf nach Rom. Denn für gute Ka- hen, und drum in Avignon, 1352, sterben Einheimischen nicht entvölkert sein. tholiken war die Reise alle Mühen wert: mußte. Bald darauf, ein paar Päpste spä- Am Pio-Weekend in diesem Mai stie- 15mal (Einheimische 30mal) Sankt Peter ter, hatte schon jedes 25. Jahr den An- ßen die Pilger auf wenig Gegenwehr: Zu oder Sankt Paul besucht, ordentlich ge- spruch auf einen Heiligenschein. Zigtausenden waren die Römer in die Ber- beichtet und echt bereut, schon waren Zu den ordentlichen kamen, im Laufe ge und an die Küsten geflohen, eindring- alle Schuld und Sünden erlassen, die der Zeit, 13 außerordentliche Jubeljahre. lich dazu aufgerufen vom 1383 und 1983 zum Bei- Bürgermeister der Stadt. spiel war Christus 1350 Schulen und Büros blie- beziehungsweise 1950 Jah- ben auch am Montag re tot. 1566 wurde die dicht. Und wer das lange Rettung der Christenheit Wochenende nicht zur vor den Türken erfleht. Landpartie nutzte, schloß 1967 war der Glaube an sich im Haus ein. Kinos sich Grund genug für den und Kneipen blieben leer, Jubel. Dazwischen er- nur die Kirchen waren schien dem einen oder voll. anderen Pontifex sein ei- Ein ganzes „heiliges“ gener Amtsantritt ausrei- Jahr lang wird das sicher chender Anlaß zur Aus- nicht so sein. Dann dro- rufung eines besonderen hen ganz profane Pro- Abschnitts der katholi- bleme: schen Zeitrechnung. Maximal 700000 Betten Das Wort „Giubileo“ – sind derzeit im Drei-Stun- ins Deutsche nur halb- den-Radius rund um Rom wegs mit „Jubiläum“ zu mieten – zuwenig. oder „Jubeljahr“ zu über- Fast sechs Millionen setzen – stammt vom he- Besucher wollen mit dem bräischen „yowel“. Schon Auto kommen. Niemand das mosaische Gesetz sah weiß, wo die fahren, ge- nämlich nach 49 Jahren schweige denn parken ein Jobeljahr vor, das aus- sollen. Schon ohne diesen schließlich Gott gewid- Rekordzustrom bricht der met sein sollte – also ein Verkehr regelmäßig zu- Fest voller Freude und sammen. Jubel.

Ein funktionierendes REUTERS Das Fest steht nun wie- öffentliches Verkehrssy- Gläubige vor dem Petersdom: Profane Probleme der einmal an: Vom kom-

226 der spiegel 21/1999 ist das ein Lieblingszitat der Theologen, weil sie ihn damit menden Weihnachten, wenn Johannes volksnäher – nicht als Exorzi- Paul II. die Heiligen Pforten im vatikani- sten und Wundertäter – prä- schen Petersdom und in zwei römischen sentieren können. Kirchen öffnen läßt, bis zum 6. Januar Kann entwirrt werden, was 2001, wenn sie wieder geschlossen und die Anhänger des gestorbenen hinter Mauerwerk und Putz versteckt und nach ihrer Ansicht aufer- werden, dürfen die Katholiken aller Her- weckten oder auferstandenen ren Länder die Tore frohlockend durch- Jesus sich zurechtgeglaubt ha- schreiten. ben, entwirrt werden von dem, Die heiligen Eingänge als Sinnbilder was er war und von sich selber für Christus – dem Tor zu Gott –, die Pil- hielt? Genau das scheint un- gerfahrt nach Rom als Ausdruck des möglich. Glaubens, der Ablaß von der Schuld als Wenn dieser Jesus nicht nur krönende Belohnung für die Mühen der ein Mixtum compositum vieler Gläubigen: Der Kern des Kirchenfestes Wünsche und Sehnsüchte sei- ist seinen mittelalterlichen Ursprüngen ner Zeit oder ein mehr zufäl- noch sehr ähnlich. lig Hingerichteter, wenn er Das Drumherum freilich hat sich deut- also eine historische Figur war, lich geändert: Weltweit 2000 TV-Auftrit- dann müßte er ein ungestü- te des Papstes stehen im Jubeljahr an, 13 mer, von wilden Gedanken er- Großveranstaltungen gehen via Satellit griffener Mensch gewesen live um den Globus, der Ostersegen etwa sein. Einer, der sich über die oder das Weltjugendtreffen im August ihm gesetzten Lebensregeln

und natürlich die Gratulationsfete zum ärgerte; ein Provokateur, der BPK 80. Geburtstag des Papstes am 18. Mai. sich einbildete, an ihm und „Die Dreifaltigkeit“*: Gefährliche Nähe von Mythologie „Il Papa“, Johannes Paul II., ist der an niemandem sonst entschei- größte Fan der 2000-Feiern. Offizielle Va- de sich die Herabkunft des tikan-Kommuniqués bewerten das kom- Gottesreiches. Er müßte ein mende Jubelfest sogar als Höhepunkt sei- Mensch gewesen sein, der den nes gesamten reise- und erlebnisreichen Himmel auf die Erde ziehen Pontifikats. „Das Heilige Tor des Jubel- wollte, der sich als Werkzeug jahrs 2000“, jubiliert Johannes Paul II. eines höheren Willens ver- selber, werde „symbolisch größer als die stand. vorherigen“ sein. Schließlich lasse die Dieser Jesus, über dessen Al- Menschheit „nicht nur ein Jahrhundert, ter wir ja im Ernst nichts wis- sondern ein Jahrtausend hinter sich“. sen, konnte nicht alt werden, Guten Muts freute sich auch die Kitsch- soviel läßt sich nachfühlen. Branche schon lange auf zwölf Umsatz- Vorstellbar ist wohl, daß ein heilige Monate: T-Shirts und Schals,Arm- solcher Mann aus Nazaret wi- AKG banduhren mit Raphael-Engeln sind der die Reichen wetterte und BPK längst produziert, als Renner konzipiert sie zugleich bemitleidete, weil Gottessöhne Alexander der Große, Pharao Echnaton* ist auch das Set „Drittes Jahrtausend“: sie den anderen ins künftige Durch wunderbare Zeugung zur Welt gekommen? Hemdchen, Kerze, Buch mit Papstsätzen. Paradies nicht folgen konnten Doch die Inventur nach dem Pio- – sie hatten zuviel an den Füßen. Der nem in den vier Evangelien dargestellten Wochenende ernüchterte die Händler: Dichter Heinrich Heine nannte Jesus we- Unikum, das es so nicht gab: halb Mensch, Anders als japanische oder US-ameri- gen dessen Einstellung zu den Reichen ei- halb Gott. kanische Normaltouristen sind Ablaß- nen „göttlichen Kommunisten“. Mit diesem Jesus Christus des Glaubens suchende – ob aus Italien oder aus Die Liste, was Jesus vielleicht oder wahr- hat der Mensch Jesus nur den Namen ge- Übersee – knauserig. Der Durchschnitts- scheinlich getan hat, ist kurz; die Liste, was meinsam, über ihn weiß man so gut wie pilger, das ermittelten die Giubileo-Ver- er sicher nicht oder ziemlich sicher nicht nichts. Trotzdem behauptet der katholi- anstalter aus Anmeldungen und Vor- getan hat, ist lang: sche Neutestamentler und Jesus-Buch-Au- bestellungen, ist 35 Jahre alt, verdient Er hat nicht getauft und kein Abend- tor Joachim Gnilka (München), das Ver- (umgerechnet) kaum über 3000 Mark im mahl gestiftet, er hat weder seinen Tod trauen der Forschung in die Zuverlässigkeit Monat und gibt zwischen 50 und 150 noch seine Auferstehung vorausgesagt. der Jesus-Überlieferungen sei gewachsen, Mark täglich aus. Weder hat er selbst Sünden vergeben, noch und wie Gnilka denken auch andere Exe- Gut für die römische Hotellerie, daß hat er eine Vollmacht erteilt, dies zu tun. geten. Das muß Wunschdenken sein. Selbst sich auch Spendablere unter die Gläu- Paulus jedenfalls weiß von dieser mächtig- wenn es keine 2000-Jahr-Feiern gäbe, lohn- bigen mischen. Sonst wären die eigens sten Waffe der jungen christlichen Kirche te allein diese Behauptung, geprüft zu wer- fürs Heilige Jahr aufgemöbelten Fünf- noch nichts. den, denn sie stimmt nicht, wie immer man Sterne-Suiten der römischen Nobelher- Und Jesus hat seinen Jüngern auch nicht sie dreht und wendet. bergen eher schlecht zu vermieten. Eu- das Kommen und den Beistand des Heili- Doch wieviel oder wie wenig man über ropas teuerste, die Kuppel-Suite im Hotel gen Geistes versprochen. Er wußte von ihm den historischen Jesus weiß – der evange- Excelsior, kostet immerhin knapp 12000 nichts und auch nicht, daß er selbst und lische Theologe Heinz Zahrnt jedenfalls Mark. Pro Nacht, ob mit oder ohne dieser Geist zu Bestandteilen einer Drei- Jubel. Hans-Jürgen Schlamp ergottheit erklärt würden. * Oben: Gemälde von José de Ribera, Museo del Prado, Jubel und Trubel des „Heiligen Jahres“ Madrid (um 1635); unten: Römisches Mosaik (2. Jh. vor gelten also dem Christus des Glaubens – ei- Christus); Statue aus dem Aton-Tempel in Karnak.

der spiegel 21/1999 227 Titel braucht ihn nicht, um Christ zu sein. Das weis moderner Gesinnung, mit traum- bliebe er auch, wenn man „den Nachweis wandlerischer Sicherheit zu behaupten, Je- brächte, daß Jesus von Nazaret nicht gelebt sus habe sich weder für den Messias – also hätte“. Und auch Paul Tillich, der wie Ru- den „Christus“ – gehalten noch für den dolf Bultmann, Karl Barth und Karl Rahner Sohn Gottes, noch für einen Nachkommen zu den großen Theologen dieses Jahrhun- des Königs David. Daß Jesus keinen dieser derts gezählt wird, scheint an Jesus nicht zu ihm später beigelegten Hoheitstitel selbst hängen: „Wenn er es nicht war, dann war gebraucht hat, „ist ziemlich übereinstim- es eben ein anderer.“ mende Meinung der protestantischen und Sogar zum „Verzicht auf Jesus“ fordert katholischen Bibeltheologen“. So steht es der Berliner Theologe Walter Schmithals im Jesus-Buch des katholischen Exegeten auf und steigert sich zu dem Satz: „Mag die Herbert Leroy (Augsburg). Frage nach dem historischen Jesus auch hi- Doch woher rührt diese divinatorische storisch möglich und erlaubt sein, so ist sie Gewißheit? Wir wissen doch gar nicht, für theologisch doch verboten.“ was Jesus sich gehalten hat, wir können Wieso verboten? Das soll wohl heißen: und werden es auch nicht wissen. Was immer über den Jesus erforscht wird, Der „Weltkatechismus“ macht es sich es ist für den Christus ohne Bedeutung. wie immer leicht und verlangt kategorisch: Einen erstaunlichen Satz veröffentlichte „Um Christ zu sein, muß man glauben, auch Andreas Lindemann, Professor an der daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ Kirchlichen Hochschule in Bethel: „Ob sich Bischof Kasper löst den Widerspruch mit die Verkündigung und Theologie des Neu- dem denkwürdigen Doppelsatz auf: „Nach

en Testaments in ,Anknüpfung‘ oder im den synoptischen Evangelien bezeichnet AKG ,Widerspruch‘ zu Jesus entwickelte, ist sich Jesus selbst nie als Sohn Gottes. Damit Adam und Eva* zwar historisch interessant, aber theolo- ist die Gottessohnaussage eindeutig als Mit Schuldgefühlen unter Druck gesetzt gisch letztlich ohne Bedeutung.“ Grenzt Glaubensbekenntnis der Kirche ausge- das nicht an Schizophrenie, wenn der Hi- wiesen.“ Für eine wachsende Zahl von Exegeten storiker Lindemann, der er als kritischer Also: Was Jesus nicht gesagt hat, sagt steht fest, daß der Jude Jesus nicht im Traum Exeget ist, Widersprüche zwischen Jesus die Kirche. Es ist mithin gleichgültig, was und nicht am Kreuz daran gedacht hat und und Christus feststellt, der Theologe Lin- Jesus gesagt und was er nicht gesagt hat. nicht daran gedacht haben kann, für die demann sie aber für belanglos erklärt? Kasper hat noch eine andere Sorge: Menschheit zu sterben, mit seinem Tod alle Was die Titel Jesu angeht, die in den „Hätte die Deutung des Todes Jesu als süh- zu erlösen, die an ihn glauben. Evangelien erwähnt werden, so gibt es nur nende Hingabe an Gott und für die Men- Es würde zu weit führen, näher darauf einen einzigen, den nach Meinung der mei- schen keinerlei Anhalt im Leben und Ster- einzugehen, welchen Sinn Jesus in seinem sten Exegeten Jesus tatsächlich gebraucht ben Jesu selbst, dann rückte das Zentrum haben soll: den mehrdeutigen Titel „Men- des christlichen Lebens in gefährliche Nähe * Gemälde, Lucas Cranach dem Älteren zugeschrieben schensohn“. Im übrigen aber gilt als Aus- von Mythologie und Ideologie.“ (um 1546). REUTERS Bischofsweihe im Petersdom: Um 100 oder 200 Jahre hinter der Zeit zurückgeblieben

228 der spiegel 21/1999 Tod gesehen haben mag, denn wie man es Doch wenn Pilatus einige jüdische Män- dreht und wendet, jeder Gedanke darüber ner ans Kreuz hängen ließ, dann war es für zerbröselt: warum Jesus nach Jerusalem Jesus 2000 ihn und seinen Zweck ziemlich belanglos, ging, was er dort wollte, wie er dort auftrat, ob seine Soldaten wahllos oder gezielt was ihm vor und bei der Kreuzigung wi- Rudolf Augstein: zugriffen. derfuhr – wir wissen es nicht. „Jesus Menschensohn“. Was bleibt nun nach 2000 Jahren von „Von keiner jüdischen Gruppe und von Erweiterte und überarbeitete der Botschaft des Jesus oder des Chri- keiner römischen Behörde gibt es dazu Neuausgabe; Hoffmann und stus? ein Sterbenswörtchen“, bestätigt Exeget Campe, Hamburg; Septem- Das „Reich Gottes“ steht nach ein- Becker. Es gibt nur die Berichte in den ber 1999; ca. 49 Mark. helliger Meinung der Theologen im Evangelien, und deren Überlieferung sei Zentrum. Bischof Kasper spricht vom zwar ausführlich, aber literarisch stilisiert Jürgen Becker: „Grundmotiv“. Um so erstaunlicher ist und theologisch überformt, so der Neu- „Jesus von Nazaret“. es, daß nur in den drei älteren Evange- testamentler Burchard. Walter de Gruyter, Berlin; lien von diesem „Reich Gottes“, der Fast alles, was an Konkretem in den Pas- 1996; 460 Seiten; „Königsherrschaft“, dem „Himmel- sionsberichten der Evangelisten vorliegt, 74 Mark (gebunden); 38 Mark (broschiert). reich“ häufig die Rede ist, vorher bei Pau- scheint aus den Weissagungen und Psal- lus kaum, später im letzten, dem Johannes- men des Alten Testaments herausgespon- Hans Conzelmann/Andreas Lindemann: Evangelium, nur ein einziges Mal. nen zu sein. Ob Jesus beigesetzt, also be- „Arbeitsbuch zum Neuen Testament“. Die Evangelien könnte man gleich weg- stattet, oder ob er verscharrt wurde mit UTB, Stuttgart; 12. Auflage 1998; werfen, wenn man nicht für möglich anderen zusammen, oder ob die Römer 592 Seiten; 29,80 Mark. hielte, daß Jesus das Hereinbrechen des die Juden daran hinderten, ihn vom Kreuz Gottesreiches verkündet hat. Aber schon zu nehmen und ihn „den wilden Tieren als John Dominic Crossan: wer liest, was in den synoptischen Evan- Nahrung ließen“, wie der schriftstellernde „Wer tötete Jesus? Die Ursprünge gelien über das „Reich Gottes“ steht, wird Bischof Eusebius (circa 260 bis 339) das des christlichen Antisemitismus in den verwirrt angesichts der diffusen und wi- schreckliche Ende von Hingerichteten be- Evangelien“. dersprüchlichen Sätze. Noch schlimmer schrieb – auch das weiß man nicht. Glei- C. H. Beck, München; 1999; wird es, wenn Jesus-Buch-Autoren uns ches gilt für nahezu jedes Detail der Passi- 284 Seiten; 48 Mark. darüber aufklären wollen, was jeweils ge- onsgeschichte in den Evangelien. meint ist. Seit 2000 Jahren müssen es die Joachim Gnilka: Der Papst, als Exeget einsame Spitze, Theologen für einen Irrtum erklären, „Jesus von Nazaret. spricht vom „Reich Gottes“ so, wie es ihm daß Jesus als „König der Juden“ an- Botschaft und Geschichte“. gerade paßt. Mal ist es „vor allem eine Per- geklagt und hingerichtet wurde. Ob Herder, Freiburg i. Br.; 5. Auflage son“ – natürlich Jesus Christus –, mal es einen Prozeß oder nur ein Verhör 1997; 336 Seiten; 29,80 Mark. wächst es „Tag für Tag in den Herzen der vor einer jüdischen Instanz oder we- Glaubenden“. der das eine noch das andere gege- Walter Kasper: Jesus wollte das „Reich Gottes“, ge- ben hat – mit Recht ist dies alles strit- „Jesus der Christus“. kommen ist die Kirche; mit diesem oft zi- tig, weil es nicht zu klären ist. Matthias-Grünewald-Verlag, tierten Wort beschrieb der französische „Mag er beiläufig hingerichtet Mainz; 12. Auflage 1998; Freigeist Alfred Loisy (1857 bis 1940) ei- worden sein; das ist das Wahrschein- 340 Seiten; 48 Mark. nen unauflöslichen Widerspruch. lichste“, meinte 1965 der Marburger Woher bezieht die Kirche ihre Autorität, Neutestamentler Ernst Fuchs. Kein anderer Herbert Leroy: wenn Jesus sie nicht gründen wollte, ja, Exeget hat Fuchs seither beigepflichtet; „Jesus. Überlieferung und Deutung“. ihm allein der Gedanke an eine Kirche auch die kritischsten halten daran fest, daß Wissenschaftliche Buchgesellschaft, fremd sein mußte? Wider alle Logik, über- Pilatus gegen Jesus tätig wurde und seinen Darmstadt; 3. Auflage 1999; 208 Seiten; dies gegen den Sinn und den Wortlaut al- Tod beschloß, wenn auch vielleicht nicht in 49,80 Mark. ler einschlägigen Stellen in den Evange- einem regulären Prozeß, und sicher an- lien brachte das Zweite Vatikanische Kon- ders, als es in den Evangelien steht. Jesus E. P. Sanders: zil im Jahre 1964 zusammen, was sich aus- vor seinem Richter Pilatus – eine der „Sohn Gottes. Eine historische schließt: „Der Herr Jesus machte den An- großen Szenen der Weltliteratur im Jo- Biographie Jesu“. fang seiner Kirche, indem er die Frohe Bot- hannes-Evangelium, aber eben nicht der Klett-Cotta, Stuttgart; 1996; 452 Seiten; schaft verkündete, nämlich die Ankunft Weltgeschichte. 49,80 Mark. des Reiches Gottes.“ Doch das eine – eine beiläufige Hin- Ein großes Stück Literatur ist sicherlich richtung – und das andere – Pilatus ent- Gerd Theißen: die Bergpredigt im Matthäus-Evangelium. schied Jesu Tod am Kreuz – schließen sich „Der Schatten des Aber fast alle Exegeten sind sich darüber nicht aus. Der Delinquent Jesus braucht Galiläers. Historische einig, daß Jesus sie nie gehalten hat. Sie ist dem Statthalter gar nicht vorgeführt wor- Jesusforschung „eine vom Evangelisten Matthäus gestal- den zu sein; Jesus braucht nicht einmal De- in erzählender Form“. tete Komposition“, so der Berner Neu- linquent gewesen zu sein. Chr. Kaiser/Gütersloher testamentler Ulrich Luz in seinem Mat- Es ist gut möglich, daß Pilatus, der Verlagshaus, Gütersloh; thäus-Kommentar, dem mit Abstand be- als römischer Prokurator die üblichen 13. Auflage 1993; sten, den es derzeit gibt. Bei Lukas findet Unruhen fürchtete, ein Exempel statuiert 272 Seiten; man eine „Feldrede“, sie ist kürzer, und ei- hat, indem er vor den Toren der Stadt 39,80 Mark. niges liest sich anders. einige Juden zur Abschreckung kreuzi- Einige Passagen stimmen in der „Berg- gen ließ, nachdem Jerusalem sich mit Gerd Theißen/Annette Merz: predigt“ und in der „Feldrede“ in etwa Passah-Pilgern zu füllen begann. Juden „Der historische Jesus. Ein Lehrbuch“. überein. Aber während die meisten Exe- am Kreuz könnten als Vorsorge effek- Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen; geten meinen, hier „echte Jesusworte“ tiver gewesen sein als Soldaten in der 2. Auflage 1997; 560 Seiten; 58 Mark. entdecken zu können, muß auch bei die- Stadt. sen Texten bezweifelt werden, daß sie

der spiegel 21/1999 229 Werbeseite

Werbeseite Titel ABBAS / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM ABBAS Sekten-Anhängerinnen in Brasilien: Ersatz für verlorengegangene Religion wird wie mit der Wünschelrute gesucht wirklich von Jesus stammen – schon weil sie ist kein „Normenkatalog“. Sie würde an einem solchen heute noch orientieren. Markus, der das älteste Evangelium „mißverstanden, wäre sie damals oder Es bedürfte keiner „Christlichen Ethik“, schrieb, und Paulus, dessen Briefe älter würde sie heute in direkter Weise verwen- wie immer sie zustande gekommen sein sind als alle Evangelien, nichts von der det, um Jesu Normenverständnis für alle mag – zumal sie, wie man sieht, ursprüng- Bergpredigt, der Feldrede und all ihren möglichen einzelnen Handlungsfelder dar- lich nicht so neu und anders war, wie man Teilen wußten. an abzulesen“, so Theologe Becker. vorzugaukeln versucht. Neben vielen Sprüchen, die gern zitiert Eben deshalb ist die Bergpredigt nicht, Daß allenthalben Ersatz für verlorenge- werden, obwohl viele ihren Ursprung nicht wie es im „Weltkatechismus“ steht, „die gangene Religion wie mit der Wünschel- kennen – beispielsweise, daß man nicht Magna Charta der Moral des Evangeli- rute gesucht wird und daß der Religions- zwei Herren und auch nicht Gott und dem ums“, und eben deshalb ist Jesus nicht, wie begriff ungeahnte Ausweitung erfährt, weil Mammon dienen kann, oder daß man Per- Johannes Paul II. erklärt, „der Lehrer für jeder auf Sinnsuche ist – auch wenn er gar len nicht vor die Säue werfen soll –, steht das moralische Handeln der ganzen nicht weiß, nach welchem Sinn er suchen auch mancher Unsinn in der Bergpredigt, Menschheit“. soll, kann jeder miterleben. wie der Rat, was zu tun sei, wenn einen die Die Kirche hat kein Recht, unter Beru- Da die Religion das Bedürfnis nach rechte Hand ärgert: „Hau sie ab, und wirf fung auf Jesus Christus zu behaupten, ihr äußerlichem Pomp, den der Papst ja noch sie von dir.“ komme es zu, wie sie es in ihr Gesetzbuch, vorlebt, selten erfüllt, machen die Men- Doch selbst wenn die Texte überwie- den Codex iuris canonici (Buch III, Canon schen aus der Jagd nach platten Erfolgen gend Original-Ton Jesu wären, so wären 747, Paragraph 2), schrieb: „immer und eine Religion. sie größtenteils nicht originär. Am deut- überall die sittlichen Grundsätze auch über Für Außenstehende ist schwer auszu- lichsten bezieht der Saarbrücker Theolo- die soziale Ordnung zu verkündigen wie machen, ob in der Zuwendung zu fernöst- ge Karl-Heinz Ohlig Stellung: „Kein The- auch über menschliche Dinge jedweder Art lichen, namentlich buddhistischen Vorstel- ma der Predigt Jesu ist schlechthin sin- zu urteilen“. lungen mehr steckt als ein modischer gulär: Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Seit den Tagen des Jesus und des Paulus Trend. Und wenn die Kirchen vor jenen Sünderliebe Gottes, all diese Motive ist die Welt nicht vorangekommen; die „Sekten“ warnen, die den nahen Weltun- finden sich schon im Alten Testament Menschen haben durch die 2000jährige tergang ankündigen und von den apoka- und der Sache nach zum Teil auch in Wirkungsgeschichte der Christus-Legende, lyptischen Ängsten leben, die sie selbst außerchristlichen Religionen.“ Und: „Was vor allem aber durch das segensreiche Wir- schüren, dann sollten sie sich daran erin- es an Humanem bei Jesus und im Chri- ken der Kirche, keine höhere Ethik oder nern, daß ihre eigene Geschichte vor 2000 stentum gibt, findet sich auch sonstwo in Moral erlangt. Jahren mit einem Irrtum und der düsteren der Welt.“ Die simple Ethik der alten Griechen Prophezeiung begann, mit der Welt sei es Die Bergpredigt ist von der Kirche stets oder einzelner Denker wie etwa des Ge- alsbald zu Ende. mißbraucht worden. Denn wer immer lehrten aus Jerusalem Rabbi Hillel (circa 30 Dahin könnte es ja sehr wohl kommen, deren Autoren sind, ob Jesus und/oder vor bis 10 nach Christus) könnte für einen aber die Kirchen hätten dann als Initiato- Matthäus und/oder andere Urchristen, Wertekanon ausreichen – wollte man sich ren nach Kräften mitgewirkt. ™

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Werbeseite Prisma Wissenschaft

ERNÄHRUNG MEDIZIN Kontraktion der Herzkammern zeitlich Vitamine vom Baum gegeneinander verschoben. Durch Steuerung der Impulse konnte ihr uf höchst simple Weise lassen sich Harmonie des Rhythmus jedoch harmonisiert werden. ABlätter und Früchte des afrikani- Wie Auricchio auf einer Tagung in schen Affenbrotbaums deutlich vitamin- Toronto mitteilte, besserte sich bei reicher trocknen. Zu diesem Schluß Herzens Patienten schon wenige Wochen nach kommen Wissenschaftler der Schweizer der Schrittmacherimplantation die Sau- Pharmakonzerne Novartis und Roche, it Hilfe von zwei Schrittmachern erstoffaufnahme unter Maximalbela- die darin eine Chance sehen, die Mkonnten Magdeburger Kardiolo- stung um 25 Prozent. Die in sechs Mi- Ernährung vor allem der Kinder in der gen die Herzleistung von Patienten mit nuten von den Patienten bewältigte Sahelzone zu verbessern. In ländlichen extremer Herzschwäche deutlich stei- Gehstrecke war durchschnittlich um Gebieten Malis beispielsweise werden gern und die Lebensqualität der Be- 27 Prozent länger. pro Person täglich etwa 40 Gramm ei- troffenen erheblich ver- ner aus den Blättern des Baumes ge- bessern. Der Erfolg ist vor wonnenen Masse in Mahlzeiten konsu- allem der ausgeklügelten miert. Das Laub wird in der Sonne ge- Steuerung der Stimula- trocknet und anschließend pulverisiert. tionsstöße zu verdanken. Es enthält besonders viel Provitamin A Das Magdeburger Team (Beta-Carotin). Das Vitamin-C-reiche unter Angelo Auricchio Fruchtfleisch des Affenbrotbaums wird hat das Verfahren in den ebenfalls getrocknet, zu Pulver zer- letzten Jahren in Zusam- stoßen und in Getränken verwendet. In- menarbeit mit mehreren zwischen zeigte sich jedoch, daß die europäischen Herzklini- Provitamin-A-Ausbeute doppelt so ken entwickelt und er- hoch ausfällt, wenn die Blätter im probt. Dabei wurde den Schatten statt in der Sonne trocknen. Patienten, für die oft eine Lokale Radiostationen wiesen darauf Herztransplantation die die Bevölkerung rechtzeitig zur Blatt- einzige Hoffnung schien, ernte im Herbst auf die Vorteile der je ein Schrittmacher rechts

Schattentrocknung hin. Darüber hinaus und links am Herzen im- A. AURICCHIO sind die Schweizer dabei, auch die Vit- plantiert. Zuvor war die Schrittmacher-Paar im Röntgenbild amin-C-Ausbeute zu steigern. Zweige von Bäumen, deren Früchte die höch- sten Werte aufweisen, wurden auf einer Versuchsplantage auf junge Affenbrot- bäume gepfropft. Die Plantage soll MEDIZINTECHNIK SCHÖNHEIT künftig vitaminreiche Jungpflanzen für die Sahelzone liefern. Kamerajagd Schultern statt Bauch auf Metastasen enn mit zunehmendem WBierbauch die Schultern ur sicheren Diagnose von Krebs- breiter würden, verlören Zmetastasen mußten Ärzte bislang dicke Männer kaum an Attrak- verdächtiges Gewebe aufspüren, ent- tivität. Denn Frauen fühlen nehmen und mit dem Mikroskop unter- sich um so stärker zu Männern suchen. Eine Abkürzung dieser Proze- hingezogen, je weiter deren dur ermöglicht nun eine Mini-Kamera, Brustkorb vorschwillt: Schon die holographische Farbbilder von Ge- kleine Änderungen im Verhält- webeveränderungen aus dem Körper- nis von Brustumfang zu innern liefert. Das laseroptische System Taille verringern die Reize der wurde am Labor für Biophysik der Uni- Herren dramatisch. Das fanden versität Münster entwickelt und wird britische Psychologen aus dort derzeit von einem internationalen Newcastle heraus, die 30 Frau-

Forscherteam unter Leitung des Physi- en 50 Männerfotos beurteilen PRESS ACTION kers Gert von Bally klinisch erprobt. ließen. Der Body-Mass-Index Model Die Hologramme erreichen eine große (BMI), der Gewicht und Schärfentiefe; das Auflösungsvermögen Größe berücksichtigt, wirkt sich dage- der holographischen Biopsie liegt im gen kaum auf die männliche Anzie- Bereich von drei tausendstel Millime- hungskraft aus, obwohl der BMI bei tern, so daß auch minimale Strukturver- der Bewertung weiblicher Körper als änderungen einzelner Zellen erfaßt ausschlaggebend gilt. Während Männer werden können. Die schwache Energie ihre Pfunde also mit Schulterpolstern des Lichtbündels schließe eine Organ- wettmachen können, müssen Frauen

SAVE-BILD schädigung aus, versichern die münster- sich künstlich vergrößern – mit Stöckel- Affenbrotbäume schen Techniker. schuhen.

der spiegel 21/1999 233 Prisma Computer

SPIELE Plaudereien im Raumschiff er ultramoderne Luxusliner ist ge- Dstrandet, das Personal läuft verwirrt umher, tief unten im Bauch des Gefährts tickt eine Bombe. Das interstellare „Raum- schiff Titanic“, erfunden vom britischen Kultbuchautor Douglas Adams, bricht jetzt in einer deutschen Ausgabe auf dem Com- putermonitor durch die Zimmerdecke ei- nes virtuellen Wohnzimmers.Anschließend wird der Spieler aufgefordert, das trauma- tisierte Elektronenhirn des Raumkreuzers instand zu setzen. Zwei Jahre hat es gedau- ert, die 120000 Wörter, die in dem Spiel ge- sprochen werden, einzudeutschen. Beson- „Barbot“ im Computerspiel „Raumschiff Titanic“ ders viel Zeit brauchte die Übersetzerin Re- nata Henkes, um den „technoorganischen Witz“ des Werkes in kniffligen Rätsel zu lösen, sondern in ausgedehnten Plaudereien den Griff zu bekommen. Die Anstrengung hat sich gelohnt: In den mit den Robots. Diese reagieren mit Hilfe des Analyseprogramms meisten Fällen ist der doppelbödige britische Humor der Robo- „Spookitalk“ auf mehr als 10000 allgemeine Vokabeln und Na- ter erhalten geblieben – regionaler Zungenschlag inklusive. Wer men von Politikern, Filmstars oder Marken. Professionelle Spre- zum Beispiel den übellaunigen „Barbot“ nach Gerhard Schröder cher verliehen den Robotern die Stimmen für 14 Stunden mili- fragt, bekommt prompt mit starkem Hamburger Akzent die Ant- taristische, säuselnde oder ätzende Kommentare. Knappe Antwort wort: „Schröder-Cocktails sind im Moment unheimlich gefragt. des windigen „Holbot“ Khai auf die Frage „Kennen sie Lewin- Die lassen sich nämlich ohne Substanz mixen, man braucht nur sky?“: „Eignet sich gut, um Rohre zu putzen.“ Das Programm er- heiße Luft.“ Überhaupt liegt der Reiz des Spiels nicht darin, die scheint im Juni zum Preis von 89 Mark.

MUSIK INTERNET Tanz die DNA Abschied vom Papier ehre Wissenschaft hat den Weg in ltehrwürdige Fachzeitschriften der view“ genannte Prinzip filtert die Flut Hdie Disco gefunden: Abgeleitet aus AMedizin bekommen digitale Kon- wissenschaftlicher Informationen und einem Rechenverfahren zur optischen kurrenz. Harold Varmus, Nobelpreis- garantiert höchste Qualität. Auch sonst Darstellung von Evolutionsprozessen träger und Direktor der amerikanischen zerstreut der Online-Mediziner Beden- entwickelte die britische Firma Notting „National Institutes of Health“, kündig- ken, daß das billige Medium Internet al- Hill das Programm „Dancer DNA“. Wird te ein Online-Journal lenfalls billige Wis- eine Audio-CD in das CD-Rom-Lauf- für biomedizinische senschaft liefern werk eingelegt, berechnet die Themen an. Und auch könne, besonders Software aus Rhythmus und George Lundberg, ehe- weil unbegrenzt Lautstärkeschwankungen mit maliger Chefredakteur Platz für Texte exi- Hilfe von „digitalen Genen“ des renommierten stiere. „Fassen Sie Form, Farbe und Größe drei- „Journal of the Ame- sich kurz“, schreibt dimensionaler Strukturen. Auf rican Medical Associa- er in der Ankündi- dem Monitor erscheint ein tion“ will mit der digita- gung der Postille, Strom exotischer Bilder. Wem len Publikation „Med- „und die Chance ist das noch nicht reicht, der kann scape General Medicine“ höher, daß Ihre Ar- mit Hilfe des Programms der gedruckten Konkur- beit angenommen Software- „Soundraider“ Töne verfrem- renz den Rang ablaufen. wird.“ Die Vorteile Lichtorgel den: Vom britischen Musiker Dazu soll jedes einge- der kostenpflichti-

Andy Wilson entwickelt, unter- sandte Manuskript vor AP gen Datendienste: sucht diese Software die Festplatte auf der Veröffentlichung Lundberg zusätzliche multime- Tondateien und spielt diese gleichzeitig, ebenso sorgfältig ge- diale Aufbereitung zufällig und verzerrt ab – eine Kako- prüft werden, wie dies bei den angese- der Themen und keine Verzögerungen phonie, die allerdings eher nach Stock- hensten Zeitschriften wie dem „New durch Druck oder Auslieferung. „Wozu hausen im England Journal of Medicine“ oder warten?“ fragt Lundberg. „Wir veröf- Krieg klingt. www.dancerdna.com „Lancet“ geschieht. Dieses „peer re- fentlichen, wenn der Artikel fertig ist.“

234 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite RAUMFAHRT FOTOS: C. RUBADOUX / SYGMA (gr.), REX FEATURES (kl.) REX FEATURES (gr.), / SYGMA C. RUBADOUX FOTOS: „Titan 4“-Explosion, Start der Rakete* Fehler im Grundgerüst Sturzflug durch Die amerikanische Raumfahrt, sagt Howell Estes, Ex-Raumfahrtchef der U. S. Air Force, erlebe derzeit „eine der schlimm- sten Zeiten seit der Challenger-Katastro- phe vor 13 Jahren“. Damals geriet die be- die Atmosphäre mannte Raumfahrt mit ihrer weitaus kom- plizierteren Technologie ins Zwielicht. Nun Amerikas Raketenbauern unterlaufen reihenweise Fehlstarts. aber werde durch das „Raketen-Desaster“ das „Vertrauen in die Fähigkeit der USA, Haben sie ihr Handwerk verlernt? Raumfahrt zu betreiben, erschüttert“, kon- Vielleicht haben sie nur Pech, oder schlampen sie gar? statierte die „New York Times“. Betroffen sind vor allem die Raketen- it grell fauchenden Triebwerken tensatellit Orion 3 auf eine falsche Um- bauer der Konzerne Boeing und Lockheed hob die „Delta 3“-Rakete vom laufbahn ein. Die Mission wurde zum Ver- Martin. Sie hatten teils altbewährte Rake- MUS-Raumfahrtbahnhof am Cape sicherungsfall, 80 Millionen Dollar für die ten-Schlachtrosse wie Lockheeds „Titan Canaveral ab. Nach 4 Minuten und 37 Se- Rakete und knapp die doppelte Summe 4“, Weiterentwicklungen wie den aus der kunden wurde die Startstufe abgesprengt, für den Satelliten wurden fällig. ebenfalls erprobten „Delta 2“-Rakete her- die zweite Stufe zündete, schob die Satel- Der mißglückte Start vom 4. Mai dieses vorgegangenen Typ Delta 3 (Hersteller: litennutzlast weiter empor und schaltete Jahres markiert den vorläufigen Höhe- Boeing) oder die verhältnismäßig neue dann ab – alles exakt nach Flugplan. punkt einer Pannenserie, die Amerikas Ra- „Athena 2“-Rakete von Lockheed auf die Was acht Minuten später passierte, sind ketenbauer in Verlegenheit bringt: Zum Startrampen gestellt. Beobachter des amerikanischen Raketen- sechstenmal innerhalb der letzten neun Die Fehlersuche, an der bei Lockheed Business mittlerweile bereit, als – peinliche Monate war eine Raketenmission fehlge- und Boeing derzeit fieberhaft gearbeitet – Routine einzustufen. Die erneute Zün- schlagen: Drei Satelliten wurden zerstört, wird, gestaltet sich schwierig. „Was wir uns dung des Raketenmotors verpuffte als un- drei weitere taumeln nutzlos um die Erde; seit August geleistet haben, ist für uns und bedeutender Feuerfurz – wenig später Gesamtschaden der mißglückten Unter- schwenkte der kommerzielle Nachrich- nehmen: 3,5 Milliarden Dollar. * Am 12. August 1998.

236 der spiegel 21/1999 Technik unsere Kunden unannehmbar“, räumte Fernseh-, vor allem aber die häufig im Lockheed-Präsident Peter Teets ein. Das Mehrfachpack hochgehievten Telefonsatel- wirke sich auch auf die Moral seiner Leu- liten werden immer schwerer; auch die Zahl te aus; und die sei, wie das Fachblatt „Avia- der Kunden steigt. Das Marktvolumen für tion Week & Space Technology“ berichte- Startraketen wird für das nächste Jahrzehnt te, „schwer angeknackst“. auf 86 Milliarden Dollar geschätzt. Daß es sich nur um eine „Pechsträhne“ Für dieses Geschäft sind die US-Ameri- neuer Raketensysteme handle, läßt John kaner derzeit nicht sonderlich gerüstet. Willacker von der privaten Industriebera- Ihre bewährten Lastesel sind zu schwach tungsfirma Aerospace Corporation nicht oder stehen nicht mehr auf Halde. Beim gelten: „Es gibt gemeinsame Fehler für alle Bestreben, zügig und preiswert neue Ge- Fehlstarts, die erkannt und ausgeräumt fährte auf die Abschußrampen zu bringen, werden müssen.“ sind die US-Raketenbauer von einem Prin- Mögliche Fehlerquellen glaubt Willacker zip aus den Anfängen der Weltraumfahrt einer Studie entnehmen zu können, die 60 abgewichen. Sie verzichten auf langwieri- einschlägige Raketenfehlstarts der letzten ge und teure Versuchsabschüsse. Neuent- zehn Jahre analysierte. Zu den Ursachen wickelte Raketen werden am Computer zählten demnach weniger elektronische entworfen und virtuell getestet. Kommt Komponenten und Computer. „Hauptver- das Geschoß erstmals auf die Startrampe, antwortlich“, so Willacker, seien vielmehr ist es bereits mit bezahlter Nutzlast bela- Fehler im mechanischen Grundgerüst der den, so wie die Delta-3-Rakete, die bei Raketen, „namentlich in den Antriebs- und ihrem Jungfernflug am 26. August letzten Trennsystemen“. Dazu zählen etwa Trieb- Jahres 71 Sekunden nach dem Start als werke und Treibstoffleitungen sowie Bol- Feuerblitzwerk zerbarst. zen, Federn und andere Vorrichtungen, die Darüber hinaus fühlen sich Lockheed für das Trennen der Raketenstufen oder und Boeing von kecker Konkurrenz be- für den Abwurf der Verkleidung um die droht. Europas „Ariane 4“ gilt derzeit als Nutzlasten erforderlich sind. sicheres Schiff ins All, beim Schwerlaster Jüngstes Beispiel mechanischer Un- „Ariane 5“ scheinen die Geburtsfehler aus- zulänglichkeit: der mißglückte Start der geräumt. Die Russen bieten mit der „Pro- Athena-2-Rakete am 27. April mit dem zi- ton“ einen zuverlässigen Oldie der Raum- vilen Erdbeobachtungssatelliten Ikonos 1 fahrt an, Vermarktungspläne für den zivi- an Bord. Er konnte nicht ausgesetzt werden, len Einsatz der militärischen Langstrecken- weil sich die Schutzhülle nicht abtrennen rakete „SS-19“ sind ausgearbeitet. ließ, die tonnenschwere Nutzlast sauste im Die Chinesen wiederum sind bemüht, Sturzflug erdwärts durch die Atmosphäre. ihren Marktanteil von derzeit zehn Pro- Ob die US-Ingenieure beim Zusammen- zent für Satellitentransporte in einen bau neuer Raketen bisweilen pfuschen und geostationären Orbit mit Hilfe von Dum- mit der verwendeten Software zu sorglos pingpreisen zu steigern: Die chinesische umgehen, steht vorerst dahin. Untersu- „CZ-3“ schafft für nur 25 Millionen Mark chungsausschüsse des betroffenen US-Ge- 4,8 Tonnen ins All. heimdienstes NRO und der Air Force sollen Nach dem Debakel der letzten neun Mo- derlei Fragen ebenso klären wie interne nate haben die Amerikaner zunächst ein- Nachforschungen der betroffenen Firmen. mal das Tempo gedrosselt. Die Air Force, Unstrittig ist, daß die Raketenmanager der mit einer Titan 4 Ende April der bisher und -techniker von Boeing und Lockheed kostspieligste Fehlstart der unbemannten unter enormem Druck stehen. Spionage-, Raumfahrt widerfuhr (Kosten des „Mil- star“-Militärsatelliten: 800 Millio- nen Dollar), stoppte bis auf wei- teres alle Starts der hochhaus- hohen Rakete. Auch die an der Unfallserie un- beteiligte Nasa zog Konsequen- zen. Sie verschob den Start der Raumfähre Columbia, die am 22. Juli das Röntgenfernrohr Chandra ins All bringen sollte. Das 1,5 Milliarden teure Observatorium sollte mit einer Raketenstufe von Boeing auf Position gehievt werden. Das Versagen einer solchen Stufe aber führte letzten Monat dazu, daß ein US-Spionagesatellit seither nutzlos auf einer Umlauf- bahn um die Erde eiert. Vermut- liche Ursache: Probleme beim

LOCKHEED MARTIN LOCKHEED planmäßigen Feuern der Trieb- „Titan 4“-Produktion: „Moral schwer angeknackst“ werke. Rainer Paul

der spiegel 21/1999 237 Wissenschaft

Über die Gründe für die Mil- MEDIZIN beninvasion können die Fachleute nur spekulieren. Praktiker Kapp Kleine Lästlinge etwa glaubt, die Parasiten seien ganz einfach widerstandsfähiger In Deutschland ist die Krätze auf geworden. Sein Kollege Schöpf hingegen führt die gehäuft auftre- dem Vormarsch – bisher eine tenden Krätze-Fälle auf Zuwande- Plage der Obdachlosen, befällt sie rungen aus Osteuropa zurück: zunehmend junge Erwachsene. „Skabies nimmt stets in den Zeiten der Völkerwanderungen und der ierig frißt das Milbenweibchen ein Kriege zu.“ paar Hautzellen. Von dem Pau- Die Experten sorgen sich vor al- Gsensnack gestärkt, bohrt sich das lem darüber, daß die Krätze nicht augenlose Spinnentier tiefer in die Horn- LÜBKE J. mehr nur als Plage der Armen gel- schicht hinein. In der Haut entstehen da- Hautarzt Kapp: „Pofalte nicht vergessen“ ten kann, sondern zur Allerwelts- bei zentimeterlange Hohlräume, in denen krankheit geworden ist. „Früher der Parasit seine Eier ablegt und Kot aus- „Noch vor wenigen Jahren war die Krät- kannten wir das nur von Obdachlosen“, so scheidet. ze eine echte Rarität“, berichtet Alexander Dermatologen-Präsident Schöpf, „heute Das Opfer merkt anfangs gar nicht, daß Kapp, Leiter der Hautklinik an der Medi- gibt es die Krätze in den höchsten Kreisen.“ es die Krätze hat. Erst nach etwa einem zinischen Hochschule Hannover (MHH). Kommen die Parasiten aber in den be- Monat wird es unangenehm. Die Nach- „Trat bei uns ein Fall auf, wurden die an- sten Familien vor, stellen die behandelnden fahren der Milben-Greisin produzieren gehenden Ärzte zusammengerufen, um das Ärzte leicht eine Fehldiagnose. Häufig tip- dann soviel Fäkalien, daß der menschliche seltene Krankheitsbild zu besichtigen.“ pen sie (wie auch die Betroffenen selbst) Organismus allergisch darauf reagiert – Mittlerweile müssen an der MHH fast auf ein Ekzem. Bevor die Parasiten in der die Haut beginnt heftig zu jucken, es jeden Tag neue Krätze-Kranke behandelt Haut erkannt werden, vergehen dann mit- kommt zu Rötungen und zur Bläschen- werden, im Durchschnitt zehn Fälle pro unter Jahre. Bis dahin können sich die bis bildung. Woche. „Wir sehen in den letzten Jahren zu einem halben Millimeter großen Spin- Fast so wie in der Nachkriegszeit, sind vermehrt Patienten mit Skabies“, bestätigt nentiere, die mit bloßem Auge gerade noch wieder Tausende Deutsche von Krätz- auch Erwin Schöpf, Präsident der Deut- zu erkennen sind, ungestört vermehren milben befallen. Seit kurzem beobachten schen Dermatologischen Gesellschaft und und neue Wirte befallen. Hautärzte eine Wiederkehr jener beißen- Direktor der Freiburger Universitäts-Haut- Als bevorzugte Opfer der Plagegeister den Parasitenkrankheit (medizinischer klinik. Über 12 Millionen Mark zahlten die gelten inzwischen junge Erwachsene, die Name: „Skabies“), die mit der Verbes- Krankenkassen 1998 für Krätze-Medika- sexuell besonders rege sind. Bei engem serung der Hygiene weit zurückge- mente – viermal soviel wie noch vor zehn Körperkontakt können die „kleinen Läst- drängt war. Jahren. linge“ (Schöpf) nämlich leicht übersprin- gen. „Die Krätze holt man sich im fremden Bett“, konstatiert Wolfram Sterry, Leiter der Hautklinik an der Berliner Charité. Ei- nige Dermatologen halten Skabies deshalb kaum noch für ein Problem mangelnder Hygiene, sondern vor allem für ein sexuell übertragbares Übel. Allerdings sind auch zunehmend Alten- und Pflegeheime von Skabies-Ausbrüchen betroffen. Dort führt nach wie vor man- gelnde Hygiene zum krankhaften Kratzen. Charité-Dermatologe Sterry schätzt, daß in manchen Berliner Pflegeheimen rund 80 Prozent aller Bewohner unter Milbenbefall leiden. Um die Peiniger auszumerzen, verord- nen die Dermatologen meist, die Haut- oberfläche mit dem Insektenvertilgungs- mittel Lindan einzureiben. Beim Ein- schmieren muß sehr penibel vorgegangen werden. Kapp: „Wenn die Pofalte vergessen wird, bringt es nichts.“ Wie schnell man sich die achtbeinigen Schmarotzer heutzutage einfangen kann, mußten auch TV-Moderator Günther Jauch und Familie am eigenen Leib erfahren. Kaum hatten sie das Heimkind Katja aus Rußland adoptiert, begann bei den Jauchs das große Jucken. „Katja hat uns allen aus dem Heim eine Krätze mit ins Haus gebracht“, gestand

O. MECKES / EYE OF SCIENCE / AGENTUR FOCUS MECKES / EYE OF SCIENCE AGENTUR O. Jauch letztes Jahr in kleiner Runde. „Lästig Milben in menschlicher Haut: „Die Krätze holt man sich im fremden Bett“ – wird aber wieder.“ Annette Bolz

238 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Technik

Wasser gelassen – ernsthafter Forschung. scher Aufschluß darüber, wie ein Fisch von ROBOTER Die Studien folgen der Erkenntnis, daß Fi- so vergleichsweise bulliger Gestalt es fer- sche sich ihrem Element weit besser ange- tigbringt, im Wasser Spitzengeschwindig- Fisch und Chips paßt bewegen als alles, was der Mensch keiten von 40 Knoten und mehr zu errei- bislang an Schiffstypen gebaut hat. chen. „Charlie“ und seine Nachfolger sol- Intelligente Roboter sollen sich Ausgangspunkt der japanischen Fisch- len auch die Frage klären helfen, weshalb Konstrukteure war die Überlegung, die üb- Fische auf engstem Raum wenden können künftig in den Ozeanen tummeln. lichen Schrauben am Heck von Schiffen – einigen von ihnen reicht ein Radius von Prototypen entstehen in durch Antriebe zu ergänzen, die den zehn Prozent ihrer Körperlänge, die wen- amerikanischen und japanischen fächelnden Flossen eines Fisches nach- digsten Schiffe benötigen für ein solches Forschungslabors. empfunden sind.Auf diese Weise sollte ein Manöver vier Schiffslängen. Überwasserschiff in schwerer See gefährli- Während die MIT-Robotiker das Pro- er Fisch sieht aus wie gerade recht chen Rollbewegungen begegnen können. blem der Geschwindigkeit unter Wasser für die Bratpfanne: frisch und U-Booten würden Kunstflossen, so hoffen anvisieren, haben sich Wissenschaftler an Dknackig, mit glänzenden Augen. die Forscher, das Verharren im Schwebe- der Northeastern University in Nahant Nur schuppen, so scheint es, müßte ihn der zustand erleichtern. (Massachusetts) der maritimen Langsam- Koch zuvor. Die Ergebnisse der Studien unterliegen keit verschrieben. Dort baut eine For- Er würde dabei eine böse Überraschung bisher ebenso der militärischen Geheim- schergruppe unter Leitung des Biologen erleben. Denn in Wahrheit besteht das haltung wie die Eingeweide des Robot-Fi- und Neurophysiologen Joseph Ayers einen Wassertier, das einem Red Snapper oder ei- sches. Sein Innenleben ähnele zu sehr künstlichen Hummer. ner Rotbrasse auf die Flosse ähnelt, aus Plastik und Mini-Motoren. Techniker des japanischen Schiffbau- konzerns Mitsubishi Heavy Industries ha- ben den Fisch entwickelt. Eine Million Dollar hat das Tüftelwerk gekostet, vier Jahre Arbeit stecken darin: 60 Zentimeter lang, 2,6 Kilogramm schwer, bewegt sich der Kunstfisch mit einer Höchstgeschwin- digkeit von einem halben Knoten auf ei- nem Rundkurs durch den Tank im Mitsu- bishi-Labor von Hiroschima. Nach einer halben Stunde ist die Bat- terie leer, dann erlischt auch die Live-Über- tragung der Videokameras, deren Mini- AP Roboterfisch, Forscher im Mitsubishi-Labor: „Wir wollten etwas ganz Verrücktes machen“

demjenigen japanischer U-Boote, heißt es Das Scherentier sei von der Evolution bei Mitsubishi. für seinen Lebensraum besser ausgestattet Auskunftsfreudiger sind US-Wissen- worden als der Mensch für das Land, sagt schaftler, die ähnliche Ziele verfolgen. Die Ayers: „Ein Hummer muß nur ein Mini- Gebrüder Michael und George Trianta- mum seiner Energie zur Überwindung der fyllou etwa haben am Massachusetts Insti- Schwerkraft einsetzen, er schwebt nahezu tute of Technology (MIT) den künstlichen in seiner Umwelt und kann sich auf das Le- Thunfisch „Charlie“ entwickelt. Sein Grä- benswichtige konzentrieren: vorwärts ge- tengerüst besteht aus Metallrippen, deren hen und Nahrung suchen.“ Wirbel durch Aluminiumgelenke mitein- Über eben diese Eigenschaften – aller-

MIT ander verbunden sind. dings ohne die Fähigkeit, die gefundene Skelett des MIT-Thunfisch-Roboters „Charlies“ Herzstück ist eine ausgeklü- Nahrung auch zu vertilgen – soll der acht- Wenden auf engstem Raum gelte Bewegungsmechanik, dessen Rollen beinige Roboter verfügen, den das Ayers- und Seilzüge an die mechanische Steuer- Team entwickelt. Drei Millionen Dollar hat Objektive die Augenlinsen des Fisches technik von Flugzeugen erinnern und dem die U. S. Navy dafür bereitgestellt. Bestückt bilden. Robot-Fisch ein Höchstmaß von Beweg- mit den modernsten Produkten aus den „Wir wollten mal was ganz Verrücktes lichkeit verleihen; die mächtige Schwanz- Entwicklungslabors der Mikromechaniker, machen“, sagt Fisch-Entwickler Yuuzi Te- flosse kann fast bis zu 90 Grad ausschlagen. soll der Kunsthummer als eine Art Unter- rada. Er möchte in einer Art Unterwasser- Sechs kräftige Mini-Motoren treiben wasserspäher eingesetzt werden. Jurassic-Park Nachbildungen ausgestorbe- „Charlie“ voran, Sensoren messen das Vor der Landung von US-Ledernacken ner Seemonster schwimmen lassen. Schwimmverhalten, die Entstehung von an feindlichen Ufern könnten Robot-Hum- Über den Reiz touristischer Nutzung Verwirbelungen und den Vorbeifluß des mer ins Wasser geworfen werden.Auf ihrem hinaus dient das robotische Seegetier – den Wassers am Thunfisch-Rumpf. Kriechweg zum Strand würden sie Minen Prototyp eines mächtigen Quastenflossers Von den Schwimmkünsten des Robo- aufspüren und sie, in Kamikaze-Mission, haben die Mitsubishi-Forscher unlängst zu Tunas im MIT-Tank erhoffen sich die For- zur Explosion bringen. Rainer Paul

240 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

inzwischen in ihre Denkmo- delle integriert. In Susan Blackmore fand die Bewe- gung nun ihre glühendste Vorkämpferin. Musik, Religi- on, Empfängnisverhütung – kaum etwas, was sie nicht durch das Wirken der Meme erklären will. Für die als kritische Exper- tin paranormaler Phänome- ne bekannt gewordene For- scherin sind Meme neben den Genen die zweite treibende Kraft in der Evolution des Homo sapiens. Sie vermeh- ren sich, indem ein Mensch Einfälle eines anderen über- nimmt – das mag der Satz des Pythagoras sein oder ein def- tiger Kraftausdruck. Einige Meme, lehrt Black- more, besiedeln ökologische Nischen. Wittgensteins ex- zentrisches Verhalten etwa behauptet sich im elitären akademischen Milieu um Ox-

VG BILD-KUNST, BONN 1999 VG BILD-KUNST, ford und Cambridge, in einer Tratsch-Darstellung*: Gute Pointen verbreiten sich, schlechte Kalauer sterben aus Nachmittagstalkshow hätte es kaum eine Chance. Ande- re Meme schießen allerorten wie Unkraut EVOLUTION aus dem Boden. So spielen Ohrwürmer nicht nur im Supermarkt und im Radio, sie dudeln in den Köpfen aller Klassen, unge- Feuchtbiotop im Schädel achtet, ob’s einem gefällt oder nicht. Erfolgreiche Meme, so die Erklärung, Eine britische Psychologin behauptet: Gedanken führen haben Tricks erfunden, die ihren Wirt, den Menschen, veranlassen, sie zu vervielfäl- ein Eigenleben, ähnlich wie Gene trachten sie als „Meme“ nach tigen. Wie selbstverständlich leitet Black- Fortpflanzung und benutzen Menschen als Vehikel. more daraus die Erkenntnis ab, das Gehirn des Homo sapiens habe sich nur auf seine as Verhalten der Oxforder Stu- vergängliche Vehikel für ihre eigene Ver- erstaunliche Größe gebläht, um – unter bei- dentin erheiterte Kommilitonen breitung benutzen. läufiger Entwicklung von Sprache – Meme Dund Dozenten gleichermaßen: Das Mem erfand Dawkins in seinem rascher bilden und verbreiten zu können. Wann immer der Lehrer eine schwieri- zum Klassiker der Evolutionsforschung Auch der alltägliche Klatsch, von dem ge Frage in den Raum stellte, schloß sie avancierten Buch „Das egoistische Gen“. Soziologen glauben, er festige soziale Ban- fest die Augen, senkte das Kinn auf die Nun schrieb er ein begeistertes Vorwort zu de, hilft in der Blackmoreschen Logik Brust, verharrte so eine halbe Minute Blackmores neuestem Werk, das der Mem- nur den hinter der Stirn quengelnden Me- lang, ehe sie aufblickte und geistreich Idee zum Durchbruch verhelfen soll**. men ins rettende Freie. Wer das zu akzep- antwortete. Einfälle und Verhaltensweisen – Näch- tieren vermag, wundert sich auch nicht Als sich der Biologe Richard Dawkins stenliebe oder Töpferkunst genauso wie mehr über Blackmores Erklärung, warum über den Tick im Kollegenkreise lustig ma- zotige Lieder oder gute Witze – sind nach katholische Priester zölibatär leben. Ganz chen wollte, verdarb ihm ein Kollege den dem Credo der Memetiker einfach: So können sie lei- Spaß. Er erkannte den typischen Gestus genauso der Evolution un- denschaftlicher Gottes Wort – des legendären Philosophen Wittgenstein terworfen wie die Gene. letztlich ist Religion nur ein und versicherte, er sei in der Familie der Schlechte Kalauer sterben „Memplex“ bestehend aus Studentin weit verbreitet – schließlich sei- demnach aus, gute Pointen vielen Memen – ihren Schäf- en ihre Eltern begeisterte Anhänger des verbreiten sich. lein vermitteln. Großgeistes gewesen. Damals wollte Dawkins In scharfer Konkurrenz mit Die Anekdote von der sich fortpflan- die Hypothese nur als halb anderen, oft aus vergleichba- zenden Marotte ist der britischen Psycho- ernstgemeinten Denkanstoß ren Elementen bestehenden login Susan Blackmore hoch willkommen, verstanden wissen, nun be- Religionen – Wiedergeburt, stützt sie doch ihre These, daß Ideen und kennt er stolz: „Ich wußte Hölle und ähnlichen Orien- Verhaltensmuster – „Meme“ genannt – ein nicht, wie ambitioniert diese tierungshilfen für den be- Eigenleben führen und Menschen nur als Idee sein würde.“ schwerlichen Aufenthalt auf Respektable Philosophen Erden – haben einige Mem- wie Daniel Dennett oder der plexe besonders raffinierte * „Das Gerücht“, Lithographie von A. Paul Weber, 1943.

** Susan Blackmore: „The Meme Machine“. Oxford Uni- Soziobiologe Edward Wilson A. CAMINADA Strategien entwickelt, sich versity Press, Oxford und New York; 264 Seiten; 25 Dollar. haben den Begriff des Mems Psychologin Blackmore durchzusetzen.

242 der spiegel 21/1999 So nimmt die christliche Lehre für sich Blackmore meint sogar die härteste Nuß in Anspruch, die einzig wahre zu sein: der Evolutionstheorie, den Altruismus, ge- Wer an sie glaubt, dem winkt ewiges See- knackt zu haben. Die Darwinisten muß- lenheil, wer sich ihr verweigert, fährt in ten sich schon immer arg winden, um die Unterwelt. selbstloses und für den Genträger eher Gegen Zweifel immunisieren sich die nachteiliges Verhalten zu erklären. Mit Me- über Jahrtausende haltbaren Memplexe men fällt die Erklärung leicht: Menschen zudem durch einen simplen Kniff: Sie las- verhalten sich selbstlos, weil sich so ihre sen sich weder beweisen noch widerlegen; Meme effektiver verbreiten können. So was offenbart wurde, daran läßt sich nur stiftet der Diana-Gedächtnisfonds zweifel- glauben. los viel Gutes. Doch im Grunde geht es Perfiderweise bedient sich Blackmore nur darum, auf Videos, T-Shirts,in Büchern eines ganz ähnlichen Tricks, um die Lehre und auf Regenschirmen millionenfach Di- von den Memen unters Volk zu bringen. ana-Meme in die Welt zu tragen. Denn praktisch jede Facette des menschli- Angesichts einer so allumfassenden chen Lebens läßt sich memetisch betrach- Welttheorie kann man leicht darüber hin- ten, widerlegen lassen sich derlei Deutun- weglesen, daß keiner der memgläubigen gen nie. So wartet die Autorin etwa mit Wissenschaftler recht weiß, wie die Ein- dem originellen Gedanken auf, die Emp- heit eines Mems zu definieren sei, daß nie- fängnisverhütung sei ein erfolgreiches mand zu erklären vermag, wie sich Meme Mem, weil Menschen, die sich nicht um kopieren, wie sie gespeichert werden und Kinder kümmern müssen, ähnlich zöli- wie sie im Evolutionsprozeß mutieren. batären Priestern, besonders viel Energie Aber solche Details stören Blackmore zur Verbreitung dieser Idee aufwenden nicht, sie hat nämlich – Höhepunkt der könnten. Mem-Theorie – auch gleich die zentralen Das führt zu der interessanten Konstel- Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem lation, daß in den reichen Ländern die Ge- Rätsel des menschlichen Bewußtseins burtenraten sinken, während Magazine, gelöst: Der Mensch ist nichts anderes als Fernsehen und Internet die Bevölkerung eine „Mem-Maschine“. gleichzeitig mit Sex-Memen überschwem- Das menschliche Bewußtsein, das men, für die der menschliche Geist seit je- Ich, gibt es nach Blackmore gar nicht. her besonders empfänglich ist. „Das Selbst ist ein gigantischer Mem- Zivilisationsleistungen wie Schrift, Buch- plex – wohl der heimtückischste und druck, Radio oder das Faxgerät sind natür- durchdringendste aller Memplexe“, ent- lich auch nur Mem-Vehikel. Eines Tages, hüllt die Psychologin. Im Laufe von raunt die Psychologin, mag es gar ein In- Jahrtausenden habe die Evolution im ternet voller Meme geben, das sterblicher Feuchtbiotop des Schädels jene Meme her- Benutzer nicht mehr bedarf. vorgebracht, die die trügerische Vorstel- lung eines handelnden Subjekts erzeugten. So wie die Evolutionsbiologen Verliebtheit und romantische Ge- fühle zur chemischen Begleit- musik der nach Fortpflanzung strebenden Gene erklärt haben, will Blackmore also weismachen, das Ich, das vermeintlich selbst- bestimmt zum Telefonhörer grei- fe, sei nur eine Illusion der im Kopf wabernden Meme, denen nach Verbreitung gelüste. Wer das verdaut hat, erkennt: Blackmores Theorie ist in Wahr- heit ein raffiniertes Experiment. Immerhin hat es der Begriff des Mems von einer flüchtigen Er- wähnung vor 23 Jahren zu einem Eintrag ins ehrwürdige Oxford English Dictionary gebracht. Garniert mit vergnüglichen Anekdoten, Querverweisen auf Religion, New Age und den Sinn des Orgasmus, hat Blackmores Memetik alle Zutaten, um sich als pseudowissenschaftlicher Small talk auf Cocktailpartys weiterzuverbreiten und sich so –

P. MASSEY-SPOONER / GAMMA STUDIO X MASSEY-SPOONER P. ein genialer Kunstgriff – selbst Dawkins, Darwin-Statue: Small talk auf Cocktailpartys zu bestätigen. ™

der spiegel 21/1999 243 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de ·T-Online *SPIEGEL# Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein SCHWERIN Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben CHEFREDAKTEUR Stefan Aust Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 STUTTGART Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 E-Mail: [email protected] STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 Nachdruckgenehmigungen DEUTSCHE POLITIK Leitung: Dr. Gerhard Spörl, Michael Schmidt- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND für Texte und Grafiken: Klingenberg. 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Redaktion: Matthias Geyer, Jörg Europa: Zwölf Monate DM 369,20 SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Kramer, Gerhard Pfeil, Jörg Winterfeldt, Michael Wulzinger Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– (0065) 4677120, Fax 4675012 SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Christian Habbe, Heinz Höfl, TOKIO Dr.Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Hans Michael Kloth, Dr.Walter Knips, Reinhard Krumm, Gudrun Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 werden anteilig berechnet. Patricia Pott WARSCHAU Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn Tel. 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(00431) 5331732, Fax 5331732-10 Dieter Gellrich, Hermann Harms, Sandra Hülsmann, Bianca ✂ Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Abonnementsbestellung Karen Ortiz, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Tapio Sirkka Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Eras- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- mus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Hartmut Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Heidler, Gesa Höppner, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Oder per Fax: (040) 3007-2898. Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoff- Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela mann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Hannes Lamp, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Dilia Regnier, Monika Rick, Elke Ritterfeldt, Karin Weinberg,Anke Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Marie-Odile Jonot-Langheim, Inga Lindhorst,Michael Lindner, Wellnitz. E-Mail: [email protected] Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd monatliche Programm-Magazin. Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Stefan Wolff Musa,Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Hefte bekomme ich zurück. LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Christel Basilon-Pooch, Sabine Bodenhagen, Katrin Bollmann, Thomas Riedel, Paul-Gerhard Roth, Constanze Sanders, Petra Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Regine Braun, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret PRODUKTION Wolfgang Küster, Frank Schumann, Christiane Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stodte, Name, Vorname des neuen Abonnenten Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Oliver Peschke, Monika Zucht Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer BERLIN Leitung: Heiner Schimmöller, Michael Sontheimer; Georg Mascolo. Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Petra BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Bornhöft, Markus Dettmer, Carolin Emcke, Jan Fleischhauer, Jürgen Hogrefe, Susanne Koelbl, Irina Repke, Dr. Gerd Rosen- INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten PLZ, Ort kranz, Harald Schumann, Peter Wensierski, Friedrichstraße 79, Wiedner, Peter Zobel Ich möchte wie folgt bezahlen: 10117 Berlin, Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 KOORDINATION Katrin Klocke BONN Leitung: Jürgen Leinemann; Hartmut Palmer, Hajo Schu- LESER-SERVICE Catherine Stockinger ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung macher. Redaktion: Martina Hildebrandt, Horand Knaup, Ursula SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- Kosser, Dr. Paul Lersch, Dr. Hendrik Munsberg, Elisabeth Niejahr, mation GmbH & Co.) ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Christian Reiermann, Ulrich Schä- Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– fer,Alexander Szandar, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-0, Fax 215110 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Ge- Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 Bankleitzahl Konto-Nr. nehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elek- DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- tronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfälti- Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, gungen auf CD-Rom. Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 Geldinstitut ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe FRANKFURT A. M. 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Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 2. Unterschrift des neuen Abonnenten SP99-003

244 der spiegel 21/1999 Chronik 15. bis 20. Mai 1999 SPIEGEL TV

SAMSTAG, 15. 5. sovo-Krise. Unterdessen werden in Eng- MONTAG, 24. MAI land und den USA Forderungen nach SAT 1 KRIEG Die Nato versucht, den Angriff auf dem Einsatz von Bodentruppen lauter. das Dorf Korisa im Süden des Kosovo zu SPIEGEL TV REPORTAGE rechtfertigen, bei dem nach serbischen DIENSTAG, 18. 5. Entfällt wegen Pfingsten Angaben mindestens 87 Zivilisten getötet wurden. Korisa sei ein militärischer Kom- FRIEDENSPLAN Die Bundesregierung unter- DONNERSTAG, 27. MAI mandoposten gewesen, die Flüchtlinge stützt den Plan Italiens für eine Uno-Re- 22.10 – 23.00 UHR VOX seien als menschliche Schutzschilde dort- solution zur Beendigung der Kosovo-Kri- hin gebracht worden. se. Darin soll der Rückzug serbischer SPIEGEL TV EXTRA Einheiten und die von einer internationa- Die Türsteher von St. Pauli Niederlage Die russischen Kommunisten len Truppe gesicherte Rückkehr der Während sich Touristen amüsieren, be- und Nationalisten scheitern in der Duma Flüchtlinge gefordert werden. Den Ein- ginnt für Jimmy und Kollegen die lange mit ihrem Versuch, ein Amtsenthebungs- satz von Bodentruppen lehnt Kanzler Arbeitsnacht. Porter, Portier oder Koberer verfahren gegen Präsident Boris Jelzin Schröder nachdrücklich ab. nennen sich die Türsteher von St. Pauli. einzuleiten. SELBSTMORD Der fünffache Todesschütze FREITAG, 28. MAI SONNTAG, 16. 5. von Dillingen erschießt sich in einem Lu- xemburger Hotel, als die Polizei ihn fest- 22.10 – 0.10 UHR VOX FORMEL 1 Michael Schumacher gewinnt nehmen will. den Großen Preis von Monaco und führt SPIEGEL TV in der WM-Wertung nach vier von 16 MITTWOCH, 19. 5. Themenabend: Ferne Welten – Rennen vor seinem Teamkollegen Eddie sind wir wirklich allein? Irvine. NEUWAHL Das von der kommunistischen Die Erforschung des Universums ist einer Partei dominierte russische Parlament der ältesten Menschheitsträume. Mit der MONTAG, 17. 5. wählt Sergej Stepaschin mit deutlicher Landung des Roboters „Pathfinder“ am Mehrheit zum neuen Ministerpräsiden- 4. Juli 1997 auf dem Mars stießen Wis- SPARPLÄNE Bundesfinanzminister Hans ten. Der Nachfolger des entlassenen Re- Eichel fordert für das Haushaltsjahr 2000 gierungschefs Jewgenij Primakow gilt als Einsparungen in Höhe von 30 Milliarden treuer Anhänger von Präsident Boris Jel- Mark. Allein um 12,8 Milliarden soll das zin. Budget des Ministeriums für Arbeit und Soziales gekürzt werden. RÜCKTRITT In den Niederlanden erklärt die sozial-liberale Regierung von Mini- WAHLSIEG Mit 56 Prozent der Stimmen sterpräsident Wim Kok ihren Rücktritt. wird Ehud Barak, Kandidat der sozialde- Die Koalitionspartner hatten sich zerstrit- mokratisch orientierten Arbeitspartei, in ten, nachdem ein Senator im Parlament Israel zum Ministerpräsidenten gewählt. eine geplante Verfassungsänderung Nach seinem Sieg über Benjamin Netan- blockiert hatte. Bis zu Neuwahlen, Weltraumspaziergang jahu wächst weltweit die Hoffnung auf womöglich erst im September, führt die eine Einigung mit den Palästinensern. Regierung weiterhin die Geschäfte. senschaftler in neue Dimensionen vor. Die Vision von der Besiedelung des roten KANZLERREISE In Gesprächen in Helsinki DONNERSTAG, 20. 5. mit dem finnischen Staatspräsidenten Planeten rückt näher. Gäste: Astronaut Martti Ahtisaari und in Bari mit Italiens GAST Der hessische CDU-Ministerpräsi- Ulrich Walter und Planetenforscher Ger- Regierungschef Massimo D’Alema sucht dent Roland Koch reist als Bundesrats- hard Neukum. Bundeskanzler Gerhard Schröder als EU- präsident zum Antrittsbesuch bei Kanzler Ratsvorsitzender nach Wegen aus der Ko- Schröder nach Bonn. SAMSTAG, 29. MAI 22.10 – 0.15 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Navy Seals – Amerikas geheime Armee Sie operieren im verborgenen, nur auf Befehl des Präsidenten, ohne Wissen des Parlaments: die Spezialeinheiten der US- Marine. Ihre Aufgaben: Geiselbefreiung, Terroristenbekämpfung, Sabotage.

SONNTAG, 30. MAI 21.55 – 22.45 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Und sie bewegen sich doch! – Bonner Beamte beim Umzug nach Berlin; Die Am 18. Mai wurde in Rom der neue ita- Qual des Wals – Warum der Star von lienische Präsident vereidigt. Neben „Free Willy“ immer noch in Gefangen- „Viva l’Italia“ sagte Carlo Azeglio schaft ist; Konfrontation statt Verständnis Ciampi, 78, am Ende seiner Antritts- – Knast-Therapie für jugendliche Ge-

AP rede: „Es lebe die Europäische Union.“ walttäter.

245 Register

Gestorben Geboren als Eugenio Saraceni in Harrison (New York), beendete er die britische Vor- Ernst Mosch, 73. Es gab für ihn, so sagte herrschaft im Golf im Jahr 1922 mit Sie- er einmal, „nichts Schöneres als die heile gen bei den PGA-Championships und den Welt“. Der Vorwurf, er produziere zu- US-Masters in Augusta, bei denen er noch viel Herz-Schmerz-Klänge, ließ ihn kalt: vor gut sechs Wochen ehrenhalber den Ernst Mosch, Leiter der „Original Egerlän- Eröffnungsschlag ausführte. Gene Sarazen der“-Blasmusik-Trup- starb am 13. Mai an den Folgen einer Lun- pe, schuf zahlreiche genentzündung in Naples (Florida). Gassenhauer, sein Re- pertoire reichte von Ehrung der Volksmusik bis hin zu volkstümlichen Harry Mulisch, 71. Eigentlich stünde dem Schlagern und Ope- Mann aus Amsterdam, der einst von sich rettenmelodien. Mosch sagte, in Holland sei er „weltberühmt“, produzierte 290 Lang- längst der Literatur-Nobelpreis zu. Denn spielplatten, darunter Mulisch, mittlerweile auch im Rest der Welt

DPA 29 goldene und 2 Pla- berühmt, kreierte eine Romanform aus ei- tin-Schallplatten sowie nem ungewöhnlichen Gemenge – aus Na- eine goldene mit Brillanten. Der Krämers- turwissenschaft und schöner Literatur. Nun sohn aus Böhmen gehörte schon als Acht- haben wenigstens die Niederlande ihren jähriger der Kinder-Blaskapelle an, später Sohn geehrt. Für seinen jüngsten Roman besuchte er eine Musikschule im Vogtland. „Die Prozedur“ er- Im Frühjahr 1945 setzte er sich nach Süd- hielt Harry Mulisch deutschland ab, wurde erster Posaunist vergangene Woche den im Südfunk-Tanzorchester. Als er merkte, niederländischen Li- wie beliebt böhmische Polkas und Walzer- bris-Literaturpreis, do- klänge beim Publikum waren, stellte er tiert mit 100 000 Gul- 1955 seine „Egerländer Musikanten“ zu ei- den (88 000 Mark). nem Orchester zusammen. Mit ihnen trat „Die Prozedur“, reich er zehn Jahre später sogar in der New Yor- an literarischen, hi- ker Carnegie Hall auf. Mosch wollte nie storischen, kabbalisti-

„Stimmungskanone“ sein, sondern „aus- schen Anspielungen, I. OHLBAUM gefeilte Blasmusik“ machen, also Stücke erzählt die Tragödie aufwendig und sorgfältig produzieren. eines Wissenschaftlers, der künstliches „Unser sanfter Gesang muß über dem Leben in die Welt setzt, aber dem eine tote ganzen Saal liegen wie ein Fettauge“, er- Tochter geboren wird. Und Mulisch gibt klärte er. Ernst Mosch starb am 15. Mai in im Roman auch preis, warum ein Autor seinem Haus im Allgäu. Bücher in die Welt setzt: „Weil er in zwei Welten Leben will. Die eine reicht Gene Sarazen, 97. Der erste Golfer, der ihm nicht.“ die vier bedeutendsten Turniere der Welt gewann, zog gegen jeden modernen Luxus Urteil in seinem Sport zu Felde: „Golf-Carts“, schimpfte Sarazen einmal, „stehlen den Peter Niehenke, 49, muß aufs Joggen un- jungen Leuten den Zugang zum Spiel, weil ten ohne verzichten. Das Freiburger Ver- sie die Caddies überflüssig machen.“ Der waltungsgericht erklärte einen Erlaß der Sohn eines in die USA eingewanderten Stadt für zulässig, der dem bekennenden Zimmermanns aus Ita- Nudisten und Sexualtherapeuten den FKK- lien hatte schließlich Dauerlauf verbietet. Der streitbare Nackt- einst selbst sein Faible frosch hatte sein hüllenloses Treiben als für dieses Spiel ent- Protest gegen den angeblich heuchleri- deckt, als er anderen schen Umgang der Gesellschaft mit der für 45 Cent pro Stun- Körperlichkeit ausgegeben. Das Gericht de die Ausrüstung hin- folgte Niehenkes Argumentation nicht. Ins- terhertrug. Mit seinem besondere Frauen und Kinder könnten sich Aufstieg in die Ruh- über die „unerwartete Nacktheit“ er- meshalle des Golf er- schrecken mit der Folge von „selbstge- schloß er seinen Sport fährdenden Kurzschlußreaktionen“. In der für breite Bevölke- Tat: Ein 16jähriges Mädchen war in pani- rungsschichten in den scher Angst über eine Straße gelaufen, Staaten, wo die Kunst nachdem ihr der nackte Niehenke begeg- vom Abschlagen und net war. Auch daß der Nudist die Anwoh- Putten als „Domäne ner per Flugblatt vorgewarnt hatte, konn- der Hochwohlgebo- te das Gericht nicht umstimmen: Was, renen und Angelsach- wenn verdutzte Ortsfremde dem Läufer

sen“ betrachtet wurde. PRESS ACTION im Adamskostüm begegneten?

246 der spiegel 21/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Herta Däubler-Gmelin, 55, Jahr als Buch auf den Markt Bundesjustizministerin, gab brachte. Unter dem Buchti- ihrem Parteifreund Richard tel „I.N.R.I.“ ist der Heiland Schröder Nachhilfe in Sachen am Kreuz in Gestalt einer Mode. Der Vizepräsident der jungen Frau abgebildet, Berliner Humboldt-Univer- oben ohne natürlich. Dieses sität klagte beim Bonn-Besuch Werk der Künstlerin, deren über das schwüle Wetter. offizielles Porträt von Däubler machte dafür den Staatspräsident Jacques Chi- warmen Winteranzug Schrö- rac in über 36000 französi- ders verantwortlich: „Du schen Amtsstuben hängt, mußt dir Anzüge aus ,cool hatten konservative christli- wool‘ kaufen, dann schwitzt che, islamische und jüdische du auch nicht mehr.“ Von An- Kritiker einmütig als „Blas- zügen dieser Stoffqualität hat- phemie“ verurteilt. Was te der Mitbegründer der Ost- aber „im Namen der Mo- SPD noch nie gehört. Beein- dernität, der Freiheit und druckt erkundigte er sich, ob des Feminismus“ von es denn auch Anzüge in „hot Bettina Rheims „als wool“ gebe. Zum Dank für die gewagtes Avantgarde- modische Unterweisung ver- Thema verkauft“ sprach Schröder, beim näch- wurde, so Dispot, war sten Bonn-Besuch Däubler- nichts anderes „als Gmelins musealen Herd zu re- ein abgelatschtes The- parieren. Das gute Stück, das ma, seit 100 Jahren sie 1979 von Hilda Heinemann zum Gebrauch von geerbt hatte und das in der Rheims-Jesus, anonymes Foto um 19oo geilen Machos“. Das früher von Gustav Heinemann Belegfoto, das eine und Erhard Eppler bewohnten Bettina Rheims, 46, gefeierte Foto- junge Nackte am Bonner Wohnung der Ministe- grafin und Star der Pariser Gesell- Kreuz zeigt, entdeck- rin steht, fresse Strom „wie schaft, muß sich von einem französi- te Dispot in der Aus- verrückt“, klagte die sparsa- schen Philosophen mangelnde Ori- stellung „L’art du nu me Schwäbin. Außerdem sei ginalität vorwerfen lassen.Was Bettina au XIX. siècle“ der die Heizröhre im Backofen Rheims als originale, eigene Kreation Bibliothèque Natio- defekt und liefere halbver- verkaufe, so Laurent Dispot in der Zeit- nale de France. Jetzt kohlte Speisen. Die Röhre will schrift „L’Événement“, sei „ein abgegriffenes wartet der Philosoph auf das ultimative Foto- Schröder nun ersetzen. Zu Bild aus den Anfängen der Fotografie“. Ge- Kunstwerk von Bettina Rheims: „Wann macht DDR-Zeiten hatte er einige meint ist das Titelbild zu dem fotografierten sie endlich ein Bild vom nackten gekreuzigten dieser Herde zerlegt und Er- Leben Jesu, das die Künstlerin im vergangenen Jacques Chirac?“ satzteile gesammelt.

Alan Hirsch, 44, Neurologe und Direktor Ausschnitten des Videos, das bei dem Auf- Imelda Marcos, 70, Witwe des ehemali- der Smell and Taste Research Foundation, tritt von Lewinsky-Verehrer Bill Clinton gen Präsidenten der Philippinen, kehrte hat 23 verschiedene Körperhaltungen klas- vor der Grand Jury aufgenommen worden jetzt zur Stätte ihres Wirkens zurück. 13 sifiziert, die anzeigen, daß jemand lügt. Il- war. Das US-Nachrichtenmagazin „News- Jahre nachdem die berüchtigte Ex-Schön- lustriert hat der Wissenschaftler die Lügen week“ hat drei Schlüsselszenen herausge- heitskönigin durch einen Volksaufstand mit anzeigende Körpersprache anhand von sucht: ihrem Gatten, dem Diktator Ferdinand Marcos, aus dem Präsidentenpalast „Ma- lacanang“ in Manila gejagt worden war, hielt sie am Muttertag zusammen mit 27 anderen Frauen wieder Einzug. Vom am- tierenden Präsidenten Joseph Estrada wur- den die Damen als „philippinische Vorzei- gemütter“ ausgezeichnet. Geehrt wurde die Schuhfetischistin, die einst über tau- send Paar Schuhe gesammelt hatte und mehr als 13 Milliarden Dollar auf Privat- konten verschob, für ihre Mütterlichkeit: Sie habe ihre drei Kinder zu angesehenen Clinton berührt seine Nase. Clinton spielt mit seiner Brille. Clinton windet sich. Mitmenschen erzogen und während der Wenn einer lügt, verstärkt Wenn einer mit Worten Schwindler stemmen die Amtszeit ihres Mannes den Armen gehol- sich der Blutstrom zur manipulieren will, fummelt Ellbogen fest auf die fen. Die Senatorin Teresita Aquino-Oreta Nase und verursacht ein er gern an leicht erreich- Tischplatte und lehnen blieb der Ehrung aus Protest fern. Ihr Bru- Kribbeln. Die Berührung baren Gegenständen, etwa sich leicht gekrümmt in der, der frühere Oppositionspolitiker Be- mit den Händen verrät einer Brille oder einem Richtung zu den nigno Aquino, war 1983 auf Geheiß von den Lügner. Bleistift herum. Zuhörern. Imeldas Ehemann erschossen worden.

248 der spiegel 21/1999 Wolfgang Clement, 58, Ministerpräsident ein als „Steckbrief“ überschriebener Zet- von Nordrhein-Westfalen, hatte bei einem tel. Darauf beantwortete Berthold neben Treffen mit seinem für das symbolische Fragen nach seinem „Lieblingssatz“ oder Jahresgehalt von einer Mark frisch ange- „Lieblingsautor“ auch die nach seinem heuerten Medienberater der Staatskanz- „Lieblingsfachbuch“. Bertholds Lieblings- lei, Helmut Thoma, ein frustrierendes TV- lektüre ist das von dem antisemitischen Erlebnis. Als die Herren das karg mit Bestsellerautor Jan Udo Holey alias Jan Schreibtisch und Fernsehapparat bestück- van Helsing verfaßte Machwerk „Geheim- te Thoma-Büro in der neuerrichteten Düs- gesellschaften und ihre Macht im 20. Jahr- seldorfer Staatskanzlei betraten, wurde der hundert“, das modernisierte Versionen Politiker von einem RTL-Mitarbeiter, der rechtsextremer Weltverschwörungstheo- die Szene filmte, gebeten, doch mal mit rien anbietet. Und Weltverschwörer sind der Fernbedienung den Murdoch-Sender für Helsing alle, die nicht seine Anschau- ungen teilen: unter anderem die katholi- sche Kirche, Juden, Freimaurer, Rotarier und Lions Club, Liberale, Grüne, Sozial- demokraten. Auch Helmut Kohl, enthüllt Helsing, sei Mitglied eines jüdischen Ge- heimbundes.

Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler, kam bei seinem ersten Besuch der Bun-

F. OSSENBRINK F. deswehr im italienischen Piacenza zu Dok- Clement, Thoma torwürden. Bei der Pressekonferenz wies ihn ein Schild als „Buka Dr. Schröder“ aus. TM 3 reinzuholen: Den müsse Clement Doch Schröder hat weder promoviert, und bald immer schauen, wenn er, der gebürti- einen Ehrendoktorhut hat er auch noch ge Bochumer, den VfL Bochum sehen wol- nicht bekommen. Oberstleutnant Joachim le. Darauf drückte der Ministerpräsident Weiß, der in Piacenza für den Ablauf ver- auf der Fernbedienung herum, vergeblich. antwortlich war, ist das alles ein wenig Entnervt reichte er Thoma das Gerät: peinlich: „Asche auf mein Haupt.Wir stei- „Hier, arbeiten Sie mal was für eine gen lieber zu hoch als zu niedrig ein.“ Den Mark.“ Der ehemalige RTL-Chef war er- mitgereisten Fachleuten aus Kanzleramt folgreich.Auf dem Schirm erschien in einer und Bundespresseamt war der falsche Dok- Talkshow-Aufzeichnung ein sich laut arti- tortitel ebenfalls entgangen. kulierender Guido Westerwelle. Das war Clement zuviel: „Machen Sie bloß aus, Bill Gates, 43, Micro- Westerwelle und den Frauensender, das soft-Chef, kann künf- kann ja kein Mensch ertragen.“ tig mit geprüften Tor- ten beworfen werden, Thomas Berthold, 34, umstrittener Spit- ebenso wie der grüne zenfußballer, derzeit unter Vertrag beim Europapolitiker Da-

VfB Stuttgart, macht mit Leseempfehlun- AFP / DPA niel Cohn-Bendit gen Werbung für eine Internet-Buchhand- Gates oder der französische lung. Auf dem Anzeigenmotiv für „bue- Essayist Bernard- cher.de“ sind etliche Spielerutensilien zu Henry Levi. Weil das Bewerfen von Pro- sehen, Fußballschuhe, ein Spielbericht, ein minenz mit dem glitschigen Backwerk in Wimpel, eine Berthold-Fanpostkarte und den vergangenen Jahren sprunghaft zu- nahm, unterzog jetzt die britische Super- Berthold-Werbung marktkette „Tesco“ ihr Tortenangebot ei- nem ballistischen Test. Ergebnis: Die große Eiercreme-Torte mit viel Creme bedeckt das getroffene Gesicht wunderbar mit ei- ner schönen dicken Schicht, so die Tesco- Testwerfer, man muß aber nahe am Opfer stehen. Für Zielwürfe über größere Di- stanzen empfehlen sich kleinere Obsttor- ten. Auf jeden Fall müßten die Low-Tech- Bomben aufgetaut sein, um Verletzungen zu vermeiden. Den prominenten Torten- opfern des vorigen Jahres sei gesagt, daß sie fachmännisch beworfen wurden. Denn das Geheimnis des Tortenwurfs ist nicht eine Sache roher Kraft. Genaues Timing entscheidet, damit die Creme das ganze Gesicht bedeckt – erst dann finden es die Zuschauer zum Lachen. 249 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus „Computer-Bild“ zum Computerspiel Der SPIEGEL berichtete … „Autobahnraser“: „Werden Sie zum Gei- sterfahrer, wenn hinter Ihnen ein Polizei- … in Nr. 46/1998 „Städtebau – Wie ein wagen ist. Denn auf die Gegenfahrbahn Pfeil im Fleisch“ und Nr. 9/1999 folgen Ihnen die Ordnungshüter nicht ... „Panorama – Stopp für ‚Stuttgart 21‘“ Auch bei den Radarfallen gilt: Dreistigkeit über die finanzielle Schönfärberei siegt. Fahren Sie die lästigen Radarmasten der Bahn, der Stadt Stuttgart und des einfach um. Dann werden Sie nicht ge- Landes Baden-Württemberg beim knipst und zahlen keine Strafe.“ Projekt „Stuttgart 21“. In Stuttgart ist die Verlegung des Hauptbahnhofs unter die Erde geplant – geschätzte Kosten: 5 Milliarden Mark.

Den SPIEGEL-Artikel im November hatte Aus den „Westfälischen Nachrichten“ Bahn-Sprecher Reiner Latsch noch mit den Worten dementiert: „Es klafft kein Loch in der Finanzierung, wir liegen im Plan.“ Der SPIEGEL-Meldung im März widersprach Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster: „Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Stopp von Stuttgart 21.“ Tatsächlich hat der Bahn-Aufsichtsrat die Entscheidung über das Projekt, die zunächst für März, jetzt für Mai erwartet wurde, schon wieder Aus dem „Wochenblatt“ für Ahrensburg- verschoben. Nun soll ein externer Prüfer Trittau feststellen, ob „Stuttgart 21“ mangels Wirt- schaftlichkeit abgeblasen werden muß. Der SPD-Staatssekretär im Bundeswirtschafts- Die „Medical Tribune“ unter der Über- ministerium Siegmar Mosdorf hatte vor schrift „Erektile Dysfunktion abklären. baden-württembergischen Genossen ver- Probe-Therapie spart Penis-Spritze“: „Vor gangene Woche festgestellt, daß „Stuttgart die Therapie haben die Götter die Dia- 21 in einer schwierigen Situation steckt. Es gnose gestellt. Das wird bei der erektilen besteht durchaus die Möglichkeit, daß die- Dysfunktion nicht ganz so streng gese- ses Projekt an uns vorbeigeht“. hen. Essener Urologen nutzten die Pha- se der Ursachenklärung zu einem oralen … in Nr. 20/1999 über die Björn Steiger Therapieversuch. Dadurch konnten sie in Stiftung und die Deutsche Rettungs- manchen Fällen invasive Diagnostik ver- flugwacht (DRF) „Hilfsorganisationen – meiden.“ Eine ehrenwerte Gesellschaft“.

Bei einer Pressekonferenz in Stuttgart wies Siegfried Steiger, Vorsitzender der beiden gemeinnützigen Vereine, am vergangenen Dienstag sämtliche Vorwürfe der Selbst- bedienung als unhaltbar zurück.Allerdings verbat er sich nach seinem halbstündigen Monolog jegliche Fragen von Journalisten. Aus dem Trierer „Wochenspiegel“ Aus gutem Grund, denn Steiger hatte bei seiner Rechtfertigung nicht mal vor offen- sichtlichsten Widersprüchen haltgemacht. Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zei- So behauptete er, er habe die von der DRF tung“: „Georg Fongern von der deutschen für ihn bezahlte Lebensversicherung aus Pilotenvereinigung Cockpit: ‚Der Kern des dem eigenen Portemonnaie versteuert. Problems ist die schlechte Zusammen- Noch fünf Tage zuvor hatte Steiger dem arbeit der europäischen Flugsicherung. Der SPIEGEL schriftlich gegeben: „Zusätzlich Kosovo-Krieg ist nur das Sahnehäubchen hat die DRF … monatlich 1358 DM für obendrauf.‘“ meine Lebensversicherung als geldwerten Vorteil für mich aufgebracht.“ Steiger ver- sucht derweil, seinen Sohn Pierre-Enric, der ihn belastet hatte, als unzurechnungs- fähig darzustellen, um andere Medien von Aus der Münchner „Abendzeitung“ Nachfragen bei Steiger junior abzuhalten. Pech für Steiger: Unabhängig von den Aus- sagen des Sohnes lassen sich sämtliche In- Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Die formationen mit Papieren aus Stiftung und geschiedene Gattin darf für die aus der Ehe DRF belegen – die meisten mit der Unter- hervorgegangenen drei Katzen und den schrift von Siegfried Steiger höchstper- Hund sorgen.“ sönlich.

250 der spiegel 21/1999