Wolfram Wette Filbinger, Oettinger, Weikersheim Herausforderungen für die historisch-politische Aufklärung

m vergangenenJahr, 2006, als meine Kolle- 2003 den Nachfolger von BundespräsidentJohan- gen und ich die Texte zu dem Buch »Filbin- nes Rau zu wählen hatte, gab es erneut bundeswei- ger − eine deutsche Karriere« verfassten, das dann te Proteste. zur Frankfurter Buchmesse desselben Jahres er- 1) schien ,konntenwirdesöfterenskeptischeKom- Beschönigung der NS-Justiz mentare von Kollegen hören. Die etwa Gleichaltri- gen aus der politischen Generation von 1968 frag- Diese Reflexe werfen Fragen auf, Fragen nach den ten: »Ist dieses Thema nicht längst erledigt?« Die Gründen für eine solche Erregung: War es die Erin- Jüngeren, die unter 40-Jährigen zumal, fragten gar: nerung daran, dass Filbinger in -Württem- Filbinger − wer ist denn das? Sie wussten mit die- berg eine besonders harte Berufsverbots-Politik sem Namen überhaupt nichts anzufangen. Er war gegen so genannte »Extremisten im öffentlichen für sie ein »böhmisches Dorf«. Nun kann man den Dienst« betrieben hatte (Stichwort »Schieß-Er- Jüngeren diese Unwissenheit wohl kaum zum Vor- lass«)? War es die Erinnerung daran, dass er Wahl- wurfmachen. Denn seit demJahre 1978, als der ba- kämpfe mit der Spalterparole »Freiheit oder Sozia- den-württembergische Ministerpräsident Hans Fil- lismus« geführt hatte? Kam den Menschen wieder binger von seiner eigenen Partei zum Rücktritt ge- ins Bewusstsein, dass Ministerpräsident Filbinger zwungen wurde, sind fast 30Jahre vergangen. Eine in den 70er Jahren seinen baden-württembergi- neue Generation ist herangewachsen − und gewiss schen Landsleuten damit gedroht hatte, es würden kam der Fall Filbinger im Geschichtsunterricht »die Lichter ausgehen«, wenn »Wyhl« nicht gebaut nicht vor. werde? Haben sich die Menschen daran gestoßen, Die meisten Politiker sind, wie wir wissen, dass dieser Politiker nach seinem Sturz mit dem Stu- schnell vergessen, wenn sie kein Amt mehr aus- dienzentrum Schloss Weikersheim eine »rechte Ka- 11 üben. Bei Filbinger war dies anders. Zumindest bei derschmiede« aufbaute, über deren Wirken man in den Älteren ist er immer − wie wir jetzt erlebt ha- der Öffentlichkeit lange Zeit viel zu wenig wusste? ben, sogar über seinenTod hinaus − eine politische Oderwar es in erster Linie die Rolle des ehemaligen Reizfigur geblieben, die spontan heftige Emotio- Marinerichters Filbinger, der in der NS-Zeit an To- nen freizusetzen vermag, und zwar positive wie ne- desurteilen beteiligt war, welche die Menschen bis gative. Das zeigte sich schon im Jahre 2002, als heute bewegt? Hans Filbinger 90 Jahre alt wurde. Aus diesem An- Schließlich: Stellte der Filbinger zugeschriebe- lass hatten seinerzeit der Landtag von Baden-Würt- ne Satz »Was damals Recht war, kann heute nicht temberg und der Oberbürgermeister der Stadt Unrecht sein!« die eigentliche, die größte politi- Freiburg − Wohnort von Filbinger − Geburtstags- sche Provokation dar? In diesem Diktum ballt sich empfänge für denJubilar vorbereitet. Jedoch regte jedenfalls ein gewaltiger politischer Konfliktstoff. sich in Stuttgart wie in Freiburg sogleich heftiger Denn es könnte unkundige Menschen zu der irri- Widerstand, unter anderem von gewerkschaftli- gen Annahme gelangen lassen, bei dem NS-Staat ha- cher Seite. Er führte dazu, dass die Feierlichkeiten be es sich um einen Rechtsstaat gehandelt, und da- in Freiburg ganz abgesagtwurden und dass in Stutt- her gebe es eigentlich keinen wesentlichen Unter- gart lediglich die CDU-Landtagsfraktion eine Gra- schied zur 1949 gegründeten, zweiten deutschen tulationsrunde ausrichtete. Im Freiburger Histori- Demokratie. Filbingers Satz stellte zugleich eine schen Kaufhaussaal nahmen Hunderte von Filbin- Beschönigung der politischen Rolle der NS-Justiz ger-Kritikern, meist Angehörige der 68er Generati- dar. NS-Juristen wie Filbinger waren es, »die mit Hil- on, die in den 70er Jahren den Widerstand gegen fe der erlernten juristischen Techniken eine Lega- 2) das von Filbinger gewollte Atomkraftwerk Wyhl litätsfassade vor dem Terror errichteten«. DieJus- am Oberrhein miterlebt hatten, an einer alternati- tiz im nationalsozialistischen Staat orientierte sich ven Geburtstagsveranstaltung teil, aufder sein Wir- an den Denkfiguren des Führerprinzips und der ken kritisch beleuchtet wurde. Der DGB veranstal- kämpfenden deutschen »Volksgemeinschaft« und tete in Stuttgart eine Aufsehen erregende Protest- nicht etwa an den individuellen Menschen- und kundgebung gegen den ehemaligen Marinerichter. Freiheitsrechten, die für einen Rechtsstaat charak- Als zur gleichen Zeit bekanntwurde, dass Filbinger teristisch sind und die heute als Grundrechte an he- Mitglied der Bundesversammlung sein würde, die 2) Helmut Kramer: Furchtbare Juristen, baden-württembergische Pazi fi s mus 1) (Hrsg.): Filbinger − eine deutsche Karriere. Sprin- Ministerpräsidenten. Der Fall Filbinger-Oettinger. In: ZivilCoura- ge 2006 ge Nr. 3/2007, S. 14 f. 14 II/2007 5) rausgehobener Stelle in unsererVerfassung stehen. ne. Der »Spiegel« sprach von einer »fatalen Rede« War es somit die Uneinsichtigkeit und Halsstarrig- mit »unhaltbaren Behauptungen« und der Ten- keit desJuristen und Politikers Filbinger, auchJahr- denz, den früheren NS-Marinerichter »reinzuwa- 6) zehnte nach dem Zusammenbruch des Hitler-Staa- schen«. tes noch immer nicht begreifen zu können − oder Über die Motive Oettingers istviel gerätseltwor- zu wollen −, dass er als Militärrichter einem auf den. Eigene Parteifreunde sagen Oettinger nach, er Krieg und Vernichtung fixierten Unrechtsstaat ge- sei zwar ein fähiger Politik-Technokrat, habe aber dient hatte? Dass er das gehorsame Glied einer Ter- keinen ausgeprägten Wertekompass (so soll sich rorjustiz gewesen war? Vorgänger einmal geäußert haben) und wenig historisch-politische Urteilskraft. Nach Die kalkulierte Provokation meinem Eindruck wollte Oettinger ganz kalkuliert aus dem Trauerakt parteipolitisches Kapital schla- Hans Filbinger starb am 1 . April 2007 in Freiburg gen. Es drängte ihn, wie er selbst sagte, den Hinter- 3) im Breisgau. Er wurde 93 Jahre alt. Es hätte eine bliebenen, also der Familie Filbinger, etwas Gutes ganz normale, ruhige Beerdigung geben können, zu tun, und gleichzeitig wollte er seiner Partei die- mit einem einspaltigen, sachlichen Bericht über nen, indem er ihre Geschichte manipulierte und die Trauerfeierlichkeiten in den Regionalzeitun- zurechtbog. Dabei ging es ihm wohl weniger um gen. Allerdings musste schon die − bislang nicht üb- Filbingers Tätigkeit als Marinerichter, für welche liche − Kombination von kirchlichem Trauergot- dieser niemals juristisch oder politisch zur Rechen- tesdienst und Staatsakt im Freiburger Münster be- schaft gezogen worden war, auch nicht primär um denklich stimmen. Dass es zu einem politischen Ek- die Tatsache, dass Filbinger trotz seiner NS-Vergan- lat kam, hat jedoch kein anderer als der baden-würt- genheit nach 1945 in der CDU und in der Bonner tembergische Ministerpräsident Günther Oettin- Republik eine rasante Karriere machen konnte, ger zu verantworten. Er missbrauchte seine Trauer- sondern es ging ihm darum, die wahren Hinter- rede für den verstorbenen Amtsvorgänger Karl Fil- gründe des Geschehens von 1978, die einen offen- binger zu Aussagen, die man getrost als Geschichts- bar schwer verdaulichen Teil der CDU-Geschichte fälschung bezeichnen darf. Filbinger, sagte er, sei bilden, zu vertuschen. Daher versuchte er jetzt vor »kein Nationalsozialist« gewesen, sondern »ein der in Freiburg versammelten Trauergemeinde, Fil- Gegner des NS-Regimes«. Des weiteren wiederhol- bingers eigene Legende hoffähig machen zu kön- 12 te er die seit seinem Sturz vom Amte des Minister- nen, er sei als Folge einer Hetzkampagne der politi- präsidenten von Baden-Württemberg im Jahre schen Linken, die von der Staatssicherheit der DDR 1978 immer wiederholte Behauptung des ehemali- unterstützt wurde, zum Rücktritt gezwungen wor- gen Marinerichters in Hitlers Wehrmacht: Es gebe den, womit ihm schweres Unrecht geschehen sei. »kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein DamitwäredieCDU,diedamalsinBaden-Würt- 4) Mensch sein Leben verloren hätte«. Dabei klebte temberg aufder Basisvon 56,7 Prozent derWähler- Oettinger bis in den Wortlaut hinein an Filbingers stimmen über die absolute Mehrheit im Landtag eigenen Rechtfertigungsformulierungen. verfügte, von der Verantwortung für den Sturz des Diese Trauerrede wurde weithin als eine politi- Ministerpräsidenten entlastet gewesen. sche Provokation empfunden. Bundesweit waren Aber, wie so oft, hatte auch dieser Eklat eine gute sich die aufgeschreckten Medien − gleich welcher Seite. In der gewandelten Gestalt der Filbinger-Oet- politischen Orientierung, also »von FAZbis taz« − in tinger-Affäre mobilisierte er einmal mehr die Erin- einer durchaus bemerkenswerten Weise einig in nerung großer Teile der deutschen Öffentlichkeit der Kritik an dieser exkulpierenden und die Tatsa- an die NS-Zeit. Wieder wurde diskutiert über Mili- chen verfälschenden Trauerrede. Besonders be- tärjustiz und Wehrmacht-Deserteure, über perso- merkenswert der Kommentar von Frank Schirrma- nelle Kontinuitäten vor und nach 1945, über das cher in der FAZ. Er warf Oettinger vor, er habe den Verdrängen und Verfälschen historischer Tatsa- Anlass der Trauerrede kühl berechnend dazu miss- chen, über Wyhl, Weikersheim und den un- braucht, in der Sprache des Leidens über die »Funk- scharfen rechten Rand der baden-württembergi- tionsträger des Verbrecherregimes« zu reden, und schen CDU. er habe wohl austesten wollen, wie weit man mit ei- Der Freiburger Kabarettist Matthias Deutsch- ner solchen Geschichtsmanipulation gehen kön- mann widmete der Oettinger-Rede eine sarkasti- sche Lobeshymne. Er sagte: »Wer immer die Mün- 3) dpa-Meldung in: , 03.04.2007, S. 5; Badi- sterrede geschrieben hat: Sie war genial! Und ihn sche Zeitung 03.04.2007, S. 1, 39 4) Simone Lutz/Joachim Röderer: Abschied von Hans Filbinger. dazu zu bringen, sie auch zu halten! Großartig! Fast Trauerfeier im Münster für den umstrittenen ehemaligen baden- württembergischen Ministerpräsidenten und Freiburger Alt- 5) Besonders bemerkenswert der Kommentar von Frank Schirrma- stadtrat. In: Badische Zeitung, 12.04.2007, S. 32; Maikka Kost: Ab- cher: Haltungsschaden. Missverständnisse ausgeschlossen: Oet- schied von der Kritik. Am Sarg von Hans Filbinger versucht sich tinger über Filbinger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Günther Oettinger (CDU) an einer Rehabilitation. In: ebda., S. 8; 16.04.207, S. 37, der Oettinger vorwarf, er habe den Anlass der »Erwarkein Nationalsozialist«. Auszüge aus derAnsprache des ba-

Pazi fi s mus Trauerrede dazu missbraucht, in der Sprache des Leidens über die den-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger »Funktionsträger des Verbrecherregimes« zu reden. beim Staatsakt zum Tode Hans Filbingers. In: Frankfurter Rund- schau, 14.04.2007, S. 7: Dokumentation. 6) Der SpiegelNr. 16. 16.04.2007, S. 8 und 36-38. hätte Filbinger Oettinger mit in die Tiefe gezogen seinen Willen zur Wehrmacht eingezogen. Dort und dem Land einen letzten Dienst erwiesen! Wer verwendete man ihn wegen seiner juristischen konnte ahnen, dass Oettinger politische Fahnen- Vorbildung gelegentlich als Verteidiger angeklag- flucht begeht. Hätte er durchgehalten, wäre Filbin- ter Soldaten, aber natürlich nicht als Militärrichter. ger rehabilitiert! Und die CDU könnte beginnen, Drossel verhalf einem gefangenen Politkommissar die Schulbücher umzuschreiben: Ha ns Filb inge r, der Roten Armee zur Flucht und bewahrte ihn da- *1913, Nationalchrist, ab 1937 Unterwanderung mit vor der Erschießung. Bei Kriegsende rettete er der NSDAP. Besonderes Kennzeichen:perfe k t e Ta r - in Berlin einer jüdischen Familie das Leben. Erst nung als Nazijurist, die er auch nach dem Krieg nach dem Kriege konnte er seine juristische Ausbil- nicht aufgab. Wurde erst 2007 in Freiburg als Wi- dung fortsetzen. In der Zeit der Bundesrepublik derstandskämpfe r e n t t a r n t . Es hat nicht sein sol- protestierte er mehrfach gegen alte Nazis in hohen len. Filbinger bleibt Filbinger. Und Oettinger bleibt Positionen bundesdeutscher Gerichte und förder- Oettinger. Die nächste Rede kommt bestimmt. Ich te auch damit nicht gerade seine Karriere. Am Ende 7) spüre das: Diese Zitrone hat noch viel Saft!« Ende seiner Laufbahn war er Sozialgerichtspräsident in Zitat Deutschmann. Mit anderenWorten: Diese Ge- Filbingers Heimatstadt . schichte ist noch lange nicht zu Ende. Heinz Drossel hatte Hitlers verbrecherische Ziele schon 1933 durchschaut. Er war ein denkender Eine lupenreine Nazi-Karriere und handelnder Nazi-Gegner und ein widerständi- ger »Retter in Uniform«, der für seine humanen Ein paar Informationen zur Vita Hans Filbingers: Überzeugungen viel riskierte, in den geschilderten GeborenimJahre 1913,warer 1933, imJahreder Fälle sogar sein Leben einsetzte. Machtübertragung auf Hitler, 20 Jahre alt. Er stu- Es ist nicht statthaft, auch nur den vagen Ein- dierte Rechtswissenschaften, trat dem Nationalso- druck aufkommen zulassen, Gegenpole wie Hans zialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) Filbinger und Heinz Drossel könnten mit der For- und der nationalsozialistischen Kampforganisati- mel »Gegner des NS-Regimes« gedanklich ver- on SA (««) bei. Wie im Zuge der Fil- knüpft werden, wie es Oettinger versucht hat. Das binger-Oettinger-Affäre vom Bundesarchiv in Ber- wäre eine Verhöhnung aller wirklich Widerständi- lin dokumentarisch bestätigt wurde, trat er 1937 gen. 8) aufeigenenAntrag der NSDAP bei. Als ehrgeiziger DerinderNS-ZeitinKonzentrationslagernin- Opportunist produzierte er in einer fachjuristi- haftierte Gewerkschaftler Willi Bleicher, 1958 bis 13 schen Publikation politische Anpassungsleistun- 1972 Bezirksleiter der IG Metall in Nord-Baden/ gen an die NS-Ideologie. Nord-Württemberg, hat dazu schon imJahre 1978, Eine weitere wichtige Station in der politischen während der Filbinger-Affäre, das Nötige gesagt. Vita Filbingers war die Mitgliedschaft in der »Herr Filbinger ein Widerstandskämpfer?«, so frag- NSDAP. Er stellte im Jahre 1937 in der Freiburger te er im sozialdemokratischen Vorwärts. »Er ver- Ortsgruppe Unterwiehre einen Aufnahmeantrag wechseltWiderstand im Faschismus mit heuchleri- und wurde, wie das Bundesarchiv im April 2007 scher Anpassung. Er trägt die SA-Uniform und do- endlich bestätigte, unter der Mitgliedsnummer kumentiert, dass er zu den braunen Bataillonen ge- 9) 4026789 Parteimitglied. Jetzt konnte er seine Re- hörte, gezählt werden will, die auszogen, das jüdi- ferendarausbildung beginnen, die eine Vorausset- sche Volk auszurotten und unwertes Leben zu ver- zung für seine spätere Tätigkeit in der Marinejustiz nichten.« Sodann stellte Bleicher eine Frage, die darstellte. man wortgleich heute an Oettinger richten muss: Dass man auch anders handeln konnte, belegt »Was soll die Jugend von Ihnen halten? Wo soll sie exemplarisch der Lebenslauf des ungefähr gleich- Wahrheit finden, wenn der Landesvater so frivol 11) altrigen Jurastudenten Heinz Drossel (Jahrgang mit ihr umgeht [ ... ] ?« 1916). Er lehnte es imJahre 1939 demonstrativ ab, einer NS-Organisation beizutreten, mit der Folge, Filbinger war Öl, nicht Sand im Getriebe dass er seine juristische Ausbildung nicht zum Ab- 10) schluss bringen konnte. Er wurde sogleich gegen Die Behauptung, es gebe »kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verlo- 7) »Diese Zitrone hat noch viel Saft«. Ticket-Interview mit dem Kaba- ren hätte«, ist zwar formaljuristisch korrekt, aber rettisten Matthias Deutschmann über sein neues Soloprogramm, die Berliner Politik, , die Tragödie des SC Freiburg, moralisch fragwürdig. Denn sie schiebt die Verant- sein Cello und Günther Oettinger. In: Ticket/Badische Zeitung, wortung beiseite und lässt zugleich keinerlei Be- 26.04-02.05.2007, S. 5. dauern oder Reue erkennen. Filbinger hat zwei De- 8) Niklas Arnegger: Oettingers Aussage war objektiv falsch. Filbin- gersNummer.4026789.In:BadischeZeitung,18.04.2007,S.7; serteure der Wehrmacht, die zu ihrem Glück nach ebenda, S. 8, Faksimile des Aufnahmeantrags Filbingers an die Schweden fliehen konnten, in Abwesenheit zum NSDAP-Ortsgruppe Freiburg-Unterwiehre 9) Niklas Arnegger: Oettingers Aussage war objektiv falsch. Filbin- Tode verurteilt. Er spricht daher von »Phantom- gers Nummer. 4026789. In: Badische Zeitung, 18.4.2007, S. 7;

ebenda, S. 8, Faksimile des Aufnahmeantrags Filbingers an die 1 1) Willi Bleicher: »Ich habe die Herren in schwarzer Robe kennenge- Pazi fi s mus NSDAP-Ortsgruppe Freiburg-Unterwiehre. lernt«. Offener Brief eines Betroffenen. In: Vorwärts, 20.07.1978. 10) Vgl. Heinz Drossel: der Füchse. Bensheim 1988, S. 95 ff. Wiederabdruck in: Wette, Filbinger, S. 28 f. 14 II/2007 urteilen«, als ob diese nicht existiert hätten. Im Fal- Ideologie geprägte Soldatenbild zu eigen gemacht lederFestnahmederFahnenflüchtigenwärendie und selbst − aus einer Herrenmenschen-Mentalität Todesurteile natürlich sogleich vollstreckt wor- heraus − dazu beigetragen, dass schwächliche, un- den. Im Falle des Matrosen Walter Gröger, über des- militärische Soldaten aus der kämpfenden Volksge- sen Schicksal die historisch Interessierten inzwi- meinschaft »ausgemerzt« wurden. Zumindest schen hinreichend informiert sein dürften, hat Fil- wenn es um diese kleinen Leute in Uniform ging, binger die Todesstrafe beantragt. Das Urteil fällte hat Filbinger als Marinerichter kein Bemühen und ein anderer Marinerichter. Filbinger leitete die Er- keine Zivilcourage gezeigt, hat nicht gerettet, son- schießung. dern ganz konform NS-Unrecht gesprochen, wie es Bei der rückblickenden Betrachtung dieses Fal- damals von ihm verlangtwurde. Es ist auch nicht zu les interessiert uns in erster Linie die Frage, ob Fil- erkennen, dass er sich damit schwer getan hätte. Fil- binger damals anders hätte handeln können, wenn bingerwar also ein »furchtbarerJurist« insoweit, als 12) er denn gewollt hätte. Die Antwort lautet: Im er ein ganz normaler NS-Militärrichter war. Bei sei- Prinzipja!AberdannhätteereinePortionZivilcou- nem Kampf gegen diese Charakterisierung hat er rage zeigen müssen, die ihm wesensfremd war. Er nicht nur Einsicht und Reue vermissen lassen, son- hätte dem Gerichtsherrn beziehungsweise dessen dern es auch mit der Wahrheit nicht genau genom- juristischen Beratern sagen können, er halte das men. Man erkennt einen Machtpolitiker, der die Ar- erstinstanzliche Urteil − eine Zuchthausstrafe − gumente und Mittel einsetzte, wie er sie gerade nach wie vor für ausreichend, und er hätte dieses brauchte. Votum beispielsweise mit dem unsoldatischen Charakterbild des Matrosen begründen können. »Sie sprachen sich selber frei.« Ein abweichendes Votum dieser Art hätte ihm je- denfalls keine Nachteile eingebracht. Es ist näm- Die Nachkriegsgeneration − zumindest jene Teile lich bislang kein einziger Fall bekannt, dass ein Mili- derselben, die durch die studentische Kulturrevo- tärrichter oder ein Militärankläger, der den Vorga- lution von 1968 politisiert wurden − nahmen Fil- ben seines Gerichtsherrn nicht folgte, persönlich binger primär als eine politische Symbolfigur für 13) gemaßregelt worden wäre. Entgegen späteren die unzureichend aufgearbeitete Nazi-Vergangen- 14) Behauptungen Filbingers gab es diesen Hand- heit wahr. Er erscheint dieser Generation damit als lungsspielraum sehrwohl. Aber erwurde von dem ein herausgehobener Repräsentant des Juristen- 14 Konformisten Filbinger weder gesucht noch ge- standes, dessen Wortführer auch noch nach dem nutzt, weil er dieTodesstrafe für diesen »hoffnungs- Ende des Zweiten Weltkrieges ihre im NS-Staat losen Schwächling« − so war Grögervon seinem di- praktizierte Terrorjustiz rechtfertigten oder be- 15) rekten militärischen Vorgesetzten bezeichnet wor- schönigten. Diese NS-Militärjuristen hatten vor den −, grundsätzlich für richtig hielt. Walter Gröger 1945 den NS-Staat gestützt, hatten dann − in der Re- hatte eine ganze Latte von militärischen Vorstrafen gel weit entfernt von der Front − den Krieg wohlbe- und schien für die kämpfende Volksgemeinschaft halten überstanden, waren nach dem Kriege ein ohne Wert zu sein. Filbinger sah offenbar keinen paar Jahre lang abgetaucht, um wenig später wie- Grund, den Versuch zu machen, einen solchen der in »Amt und Würden« zu gelangen und ihr vor- Mann zu retten. maliges Unrechtshandeln mit einem raffinierten Wenn man eine zusammenfassende Bewertung Gespinstvon Rechtfertigungsformeln zu verschlei- der Tätigkeit Filbingers als Marinerichter versu- ern. Statt zur Verantwortung gezogen zu werden, chen möchte, so ergibt sich Folgendes: Filbinger erhielten diese Juristen in der Bundesrepublik war an Todesurteilen beteiligt und er hat selbst To- Deutschland die Gelegenheit, in Ministerien, Ge- desurteile gefällt. Er hat als ein − gar nicht so kleines richten und Universitäten neue Juristengeneratio- − Rädchen in dem militärischen Gewaltapparat des nen heranzubilden. NS-Regimes funktioniert. Er war kein Sand im Ge- Über die personellen Kontinuitäten hinaus gab triebe, sondern Öl. Er hat sich in der Rolle des Mili- es auch eine Kontinuität in den juristischen Denkfi- tärrichters genau so verhalten, wie es die militäri- guren der NS-Zeit. Sie wirkten noch jahrzehntelang 16) sche und politische Obrigkeit des NS-Staates von in der Geschichte der Bundesrepublik fort. Die- ihm erwartete. Er hat sich auch das von der NS- ser Befund kann, so fürchte ich, den Angehörigen der jüngeren Generationen nur schwer vermittelt 12) Zu den Handlungsspielräumen eines Militärrichters vgl. den Bei- werden. Der Hannoveraner Politikwissenschaftler trag von Manfred Messerschmidt über »elastische« Gesetzesan- wendung in diesem B and . undJuristJoachim Perels hat diese Entwicklung in 1 3) Fritz Wüllner: Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichts- unserem Filbinger-Buch nachgezeichnet. Er zeigt, schreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht. Baden-Baden 1991, S. 158 ff. dass sich nach dem Kriegsende 1945 unter dem 14) Er behauptete, der Anklagevertreter habe »keinen Ermessenspiel- raum« gehabt, »der einen anderen Antrag als den auf die Höchst- 15) Vgl. Helmut Kramer: Karrieren und Selbstrechtfertigungen ehe- strafe ermöglich hätte«. Siehe: Aus der Stellungnahme Filbingers maliger Wehrmachtjuristen nach 1945. In: Wette, Filbinger, S. zum Feldurteil gegen Gröger. In: Horst Bieber/Joachim Holtz/Joa- 99-122. Pazi fi s mus chim Schilde/Hans Schueler/Theo Sommer: Erschießen, Sargen, 16) Joachim Perels: Die Umdeutung der NS-Diktatur in einen Rechts- Abtransportieren. Der Marinerichter Filbinger und der Matrose staat. Über ideologische Tendenzen in der Justiz der Bundesre- Gröger: Protokoll einer Verstrickung. In: Die Zeit, 12.05.1978. publik. In: Wette, Filbinger, S. 81-98. Einfluss der Siegermächte und der von ihnen zehnte hinweg bestrebt waren, die Unterschiede durchgeführten Nürnberger Kriegsverbrecher- zwischen dem nationalsozialistischen Unrechts- prozesse zunächst für einige Jahre eine kritische staat und dem demokratischen Rechtsstaat tenden- Bewertung durchgesetzt hatte, nämlich: Der NS- ziell einzuebnen. Vor diesem Hintergrund versteht Staat war ein Terror- und Unrechtssystem, das sich man auch sein Verhalten von 1978 besser. Der ver- bei seiner menschenverachtenden Machtaus- sierte und erfahrene Politiker fand damals offen- übung auch rechtsförmiger Herrschaftstechniken sichtlich nichts dabei, die Ansicht zu äußern, was bediente. Von »gesetzlichem Unrecht« sprach Gus- »damals Recht« gewesen sei, könne doch »heute tav Radbruch, der sozialdemokratische Rechtspoli- nicht Unrecht« sein. Das bedeutet, in einem größe- tiker, der in denJahren der Weimarer Republik ein- ren politischen Zusammenhang betrachtet, dass mal Reichsjustizminister gewesen war. In gleicher Filbinger glaubte, dass die ideologischen Bestre- Weise atmete das 1949 verabschiedete Grundge- bungen, die NS-Diktatur in einen Rechtsstaat um- setz der Bundesrepublik Deutschland den Geist ei- zudeuten, zumindest bei Teilen der Justiz und der ner Fundamentalkritik an den rechtsschänderi- konservativen politischen Elite unseres Landes An- schen juristischen Praktiken des NS-Staates. Doch klang finden würden. Wahrscheinlich lag er mit schon wenig später begannen ehemalige NS-Juris- dieser Einschätzung sogar richtig. ten und ihnen nahestehende Politiker, die Un- Nur sieben Jahre nach dem Sturz Filbingers ver- rechtshandlungen des NS-Staates und seiner Justiz trat der damalige Bundespräsident Richard von in rechtsgültige Akte umzudefinieren und sich da- Weizsäcker − wie Filbinger ein CDU-Politiker − eine mit in eigener Sache zu entlasten. In der Ära Ade- grundlegend andere Position. Er überschrieb seine nauer wurde die Fortgeltung nicht weniger NS- zu Rechtvielfach gelobte Redevom 8. Mai 1985 mit Normen ausdrücklich festgeschrieben, auch wenn dem Titel »Zum 40. Jahrestag der Beendigung des dies in klarem Widerspruch zum Grundgesetz Krieges in Europa und der nationalsozialistischen stand. Etliche der ehemaligen NS-Juristen stellten Gewaltherrschaft«. Der von ihm verwendete Be- nun − ganz entgegen den Intentionen eines Juris- griff »Gewaltherrschaft« markierte den fundamen- ten wie Fritz Bauer, der sich für das Recht aufWi- talen Unterschied zum demokratischen Rechts- derstand gegen den NS-Staat einsetzte − die Verfol- staat des Grundgesetzes mit seinem Bekenntnis zu gung der Juden sowie des politischen Widerstan- den unverletzlichen und unveräußerlichen Men- des gegen Hitler als rechtmäßig hin und sprachen schenrechten. Weizsäckers Rede konnte als eine sich damit zugleich selbst frei. Gleichzeitig beschö- exemplarische Gegenrede zu dem bekannten Fil- 15 nigten sie die politische Geschichte der NS-Herr- binger-Ausspruch gelesenwerden, nämlich so: Was schaft. Folgte man ihrer Sehweise, so hatte es einen damals Gewaltherrschaft und damit Unrecht war, für Terror, Krieg und Massenverbrechen verant- kann heute nicht Recht sein. wortlichen Staat, der das Leiden von Millionen von Der Fall Filbinger 1978 bewirkte, dass nun eine Menschen verschuldet hatte, eigentlich niemals ge- intensive historiographische Beschäftigung mit geben. der NS-Militärjustiz einsetzte, die in der deutschen Öffentlichkeit starke Beachtung fand. Möglicher- Endlich: Sie waren »Blurichter«! weise hat die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Staat Hitlers und der NS-Militärjustiz in den Hans Filbinger begann seine politische Karriere in sieben Jahren zwischen 1978 und 1985, also zwi- der CDU imJahre 1951. ZweiJahre später wurde er schendemerzwungenenRücktrittFilbingersvom Stadtrat in Freiburg. 1958 berief ihn Ministerpräsi- Amt des Ministerpräsidenten und der Weizsäcker- dent Gebhard Müller als Staatsrat in die Landesre- Rede zum 40.Jahrestag des Kriegsendes 1945, auch gierung. 1960 wurde er erstmals in den Landtag ge- in den politisch konservativen Kreisen des Landes wählt, dem er bis 1980 angehörte. Als Kurt Kiesin- ein Umdenken bewirkt. Jedenfalls ist der Tatbe- ger 1966 als Bundeskanzler nach Bonn wechselte, stand bemerkenswert, dass die Weizsäcker-Rede in- wurde Filbinger sein Nachfolger als Ministerpräsi- nerhalb des konservativen Lagers keinen massiven dent von Baden-Württemberg. 1971 wurde er Lan- Protest auslöste, jedenfalls keinen öffentlichen. desvorsitzender der CDU Baden-Württembergs Hernach setzten sich die Wandlungsprozesse in und als Parteirechter einer der stellvertretenden der deutschen Gesellschaft verstärkt fort. Zum All- Bundesvorsitzenden der CDU. Unter Filbingers gemeingut der interessierten Zeitgenossen wurde Führung gewann die CDU die Landtagswahlen von jetzt die Erkenntnis, dass die deutsche Justiz der 1972 (52,9 %) und 1976 (56,7 %). 1978 trat er vom Weimarer Republik großenteils ablehnend gegen- Amt des Ministerpräsidenten zurück. Sein Nachfol- über gestanden und dass sie den NS-Staat begrüßt, 17) ger wurde Lothar Späth. ja in ihm die Erfüllung ihrer Vorstellungswelt er- Im Kontext der geschilderten rechtspolitischen blickt hatte. Entwicklung erscheint Hans Filbinger als einer je- Zum Entsetzen der ehemaligen Wehrmachtju- ner restaurativenJuristen, die nach 1945 überJahr- risten äußerte sich der − personellverjüngte − Bun- Pazi fi s mus

17) Hans Filbinger aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie: desgerichtshof im Jahre 1995 ganz anders, als die http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Filbinger (15 .04.2007) Vertreter der älteren Juristengeneration es getan 14 II/2007 hatten. Er kam jetzt endlich zu der Einschätzung, erfolgte auf Veranlassung der instinktsicheren dass es sich bei den in der NS-Militärjustiz tätig ge- Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der deutschen wesenen Richtern um »Blutrichter« gehandelt ha- Öffentlichkeit. Der andere, selbst gewählte, führte be, die sich eigentlich »wegen Rechtsbeugung in ihn zum Zentralrat der Juden in Deutschland, der Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verant- zuvor seinen Rücktritt gefordert hatte. Oettinger worten müssen«. Die Kriegsrichter hätten die To- hat jedoch, zumindest ausweislich seiner öffentli- desstrafe missbraucht und sie hätten als »Terrorjus- chen Äußerungen, lediglich einen formalen Rück- 18) tiz« gehandelt. Damit hat das höchste deutsche zug angetreten. Nach massivem öffentlichem Strafgericht das Diktum Rolf Hochhuts vom Druck sagte er: »Ich halte meine Formulierung »furchtbaren Richter«, das ursprünglich auf den nicht aufrecht.« Außerdem bedauere er sie. Wobei Marinerichter Dr. Hans Filbinger gerichtet war, be- allerdings offen blieb, ob er den Inhalt seiner Rede stätigt und auf die gesamte NS-Militärjustiz ausge- oder deren Wirkung bedauerte. Seinem Stoßseuf- dehnt. Am 17. Mai 2002 beschloss der Deutsche zer, damit sei die Sache nun aber erledigt, stimmten Bundestag dann mit seiner rot-grünen Mehrheit erstaunlicher Weise auch die meisten seiner Kriti- die pauschale Rehabilitierung der Wehrmachtde- ker zu. Offenbar betrachteten sie den Fall lediglich serteure. Sie wurden jetzt als Opfer der NS-Militär- aus der besagten machttaktischen Perspektive. Da- justiz anerkannt und entkriminalisiert. Damit fand bei kann doch nicht erledigt sein, womit Oettinger der Meinungswandel, der durch den Fall Filbinger und Teile der baden-württembergischen CDU an- Ende der 70er Jahre angestoßen worden war, sei- scheinend noch gar nicht begonnen haben, näm- 19) nen vorläufigen Höhepunkt und Abschluss. Nun lich ihren erkennbar gewordenen historisch-politi- 22) durfte man hoffen, dass das von Filbinger repräsen- schen Nachholbedarf zu befriedigen! tierte Denken endgültig überwunden war, näm- Insbesondere haben es Oettinger und sein poli- lich: dass die NS-Justiz nichts Unrechtes getan habe tisches Umfeld bislang ganz offensichtlich ver- und dass damals alles mit rechten Dingen zugegan- säumt, sich mit dem bekanntesten Satz Filbingers gen sei. Der Fall Oettinger hat uns nun eines Besse- auseinander zu setzen: »Was damals Recht war, ren belehrt. kann heute nicht Unrecht sein.« Besonders bedrü- Heute wird die Geschichte der Bundesrepublik ckend war es, mit zu erleben, wie baden- württem- Deutschland weithin als eine Erfolgsgeschichte an- bergische Bundes- und Landtagsabgeordnete ih- gesehen. Der deutsch-amerikanische Historiker ren Vormann Oettinger nach dessen geschichtsfäl- 16 Konrad Jarausch spricht von einem »Musterbei- schender Freiburger Trauerrede geradezu enthusi- 20) spiel für eine gelungene Demokratisierung«. Das astisch unterstützten, und wie sie dann, ebenfalls Land seivon der Barbarei in die Zivilisation zurück- taktisch motiviert, den Mund hielten. Stephan Map- gekehrt. Von einer »geglückten Demokratie« pus, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Ba- 21) spricht auch der Historiker Edgar Wolfrum. Im den-Württemberg, Repräsentant der traditionsbe- Rückblick auf dieJahrzehnte der Bonner Republik wussten, konservativ-katholischen Fraktion in der bis hin zur aktuellen Filbinger-Oettinger-Affäre CDU, fand, der Regierungschef habe »eine gute, von 2007 wird allerdings deutlich, dass diese Ent- ausgewogene und dem gesamten Leben von Filbin- wicklung keine Einbahnstraße war. Sie musste je- ger angemessene Würdigung des Verstorbenen 23) weils erkämpft und durchgesetztwerden gegen re- vorgenommen« . Georg Brunnbauer, CDU-Bun- staurative politische Strömungen, die ein Politiker destagsabgeordneter und Chef der baden-würt- wie Filbinger repräsentierte. Sie beherrschten be- tembergischen CDU-Landesgruppe in Berlin, lobte kanntlich über einen langen Zeitraum hinweg die Oettingers Rede als »Meisterprüfung«. Dem »Focus« politische Szene in der Bundesrepublik. sagte er, die Wirkung von Oettingers Rede sei für Von seinen machttaktischen Aspekten einmal die »christlich-konservative Seele« nicht zu unter- abgesehen, die über die Tagespolitik hinaus kaum schätzen. »Für unsere Anhängerschaft hat er einen von Interesse sind, zeigt uns der Fall Oettinger, dass ganz, ganz großen Schritt getan. Er hat ein Tor auf- 24) es für eine verantwortungsvolle Geschichtspolitik gestoßen: Das wird ein Großer.« Steffen Bilger, keinen Anlass zu selbstzufriedenen Rückblicken Chef der Jungen Union in Baden-Württemberg, gibt. Gewiss: Der Politiker Günther Oettinger hat Jahrgang 1979, also nach Filbingers Rücktritt gebo- zwei Canossa-Gänge absolvieren müssen. Der eine ren, konnte »nichts Schlechtes an der Rede fin-

18) Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16.11.1995, in: Neue Juristi- 22) Siehe hierzu Wolfram Wette: Oettingers Entschuldigung genügt sche Wochenschrift (NJW) 1996, S. 857 ff.; vgl. auch die Einschät- nicht. Der Ministerpräsident Baden-Württembergs muss seine zung von Otto Gritschneder: Rechtsbeugung. Die späte Beichte grob fahrlässigen Geschichtsverfälschungen zur Rolle Hans Fil- des Bundesgerichtshofs. In: Neue Juristische Wochenschrift bingers im NS-Staat richtig stellen. In: Frankfurter Rundschau Nr. (NJW) 1966, S. 1 239 ff. 93, 21.04.2007, S. 9 19) Siehe im Einzelnen Wolfram Wette: Ein Meinungswandel in 23) AP: Proteste gegen Oettingers Filbinger-Würdigung. Dem Minis- Deutschland (1980-2002). Opfer derNS-Militärjustizrehabilitiert. terpräsidenten, der seine Rede als »ernst gemeint« verteidigt, wird In: ders., Filbinger, S. 157-171 Geschichtsklitterung vorgeworfen. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 20) KonradJarausch: Die Umkehr. DeutscheWandlungen 1945-1955. 85, 13.04.2007, S 5 München 2004 24) AFP (Berlin): Oettingers »Missverständnis«. Ministerpräsident be- Pazi fi s mus 2 1) Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bun- dauert Eklat, den seine Trauerrede für Filbinger ausgelöst hat. In: desrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart Der Sonntag [Freiburg], 15.04.2007, S. 10. So auch: FR 16.04.2007, 2006 S. 1 25) 28) den«. Er kritisierte nicht Oettinger, sondern CDU- derspiegelt: »Opa war kein Nazi!« Verantwo rtlich Chefin Merkel, die Oettinger öffentlich gerügt hat- für alle Verbrechen seien »die Nazis« gewesen und 29) te. Das sei »unsolidarisch« gewesen. Damit habe nicht »die Deutschen«. Sie stellen sich also vor, sich die Kanzlerin »keinen Gefallen« getan. »Das dass wenigstens der eigene Opa respektive die Verhältnis zwischen ihr und der CDU Baden-Würt- Oma zu »den Guten« gehört habe, dass er oder sie 26) temberg ist damit nachhaltig belastet.« Distanz zum Regime gehalten habe, irgendwie viel- leicht sogarwiderständig gewesen sei, woraufman »Opa gehörte zu den Guten« dann im Rückblick stolz sein könne. In Anlehnung an den amerikanischen Holocaust-Forscher Raul Hier zeigen sich die FolgenvonWeikersheim. Denn Hilberg sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer man wird nicht übersehen dürfen, dass Filbinger anschaulich, es gebe eine starke Spannung zwi- und Gesinnungsgenossen längst ihreJünger heran- schen dem Lexikon, in dem das historisch-politi- gezogen haben. Anton Maegerle, der in unserem sche Wissen gespeichert ist, und dem Familienal- Buch sachkundig über Weikersheim schreibt, bum mit den persönlichen Bildern. Häufig werde deckt nicht nur die Verbindungen zur rechtextre- diese Spannung zu Lasten des Geschichtsbuchs 30) mistischen Szene auf. Er weist auch darauf hin, aufzulösen versucht. »dass ein Drittel der ca. 400 Mitglieder des »Studien- Betrachtet man dieses Forschungsergebnis zu- zentrums Weikersheim« jünger als 35Jahre ist«. Das sammen mit der Trauerrede Oettingers und den zeige, »dass die Filbinger-Ära in der Union weit Beifallsbekundungen der erwähnten baden-würt- über das biologische Ende ihres Gründungsvaters tembergischen Politiker, so fallen überraschende 27) hinausgehen wird«. Dieses so genannteJung-Wei- Parallelen auf. Oettinger sieht in dem Widerständ- kersheimhatteübrigensfürden 20.April 2007 − zu- ler Graf Stauffenberg sein Vorbild. Er hat also auf fälligerWeise »Führers Geburtstag« − einenVortrag der rationalen Ebene die politisch korrekte Orien- von Reinhard Günzel geplant, dem aus der Bundes- tierung. Dann aber sagt er, er »glaube« − immer wie- wehr entfernten Brigadegeneral und früherem der benutzte er dieses Wort −, Filbinger sei »kein Kommandeur des »Kommando Spezialkräfte« Nazi« gewesen. Er wünscht sich also ebenfalls den (KSK), der die antisemitischen Äußerungen des guten Opa, in diesem Fall den Parteiopa, derhöchs- CDU-Abgeordneten Hohmann belobigt hatte. Auf tens »schicksalhaft« in schwierige Situationen gera- dem Programm stand als weiterer Redner auch ten sei, der die schreckliche erste Hälfte des 20. Hohmann selbst, von dem sich seine Partei wegen Jahrhunderts nicht nur erlebt, sondern auch erlit- 17 31) antisemitischer Äußerungen getrennt hatte. ten habe. Oettinger spricht hier als Glied der Über die vielschichtige parteipolitische Dimen- CDU-Familie. Er bedient ein verbreitetes Bedürfnis sion der Affäre Filbinger-Oettinger hinaus haben nach Harmonie, und er ist bereit, hierfür den Preis wir es hier möglicherweise mit einem Vorgang von der Geschichtsverfälschung zu bezahlen. Dafür, so allgemeiner geschichtspolitischer Relevanz zu tun. betonte Oettinger in den Tagen nach seiner Trauer- Bekanntlich befinden wird uns in der noch un- rede mehrfach, habe er »viel Zustimmung und An- übersichtlichen Phase des Übergangs vom perso- erkennung« erfahren. Das heißt, viele CDU-Politi- nalen zum kulturellen Gedächtnis, welcher durch ker und -Anhänger waren bereit, das Geschichts- das allmähliche Aussterben der Kriegsgeneration buch mit dem Familienalbum zu vertauschen. Das bedingt ist. Wissenschaftler, die in diese Über- fasste der Abgeordnete Brunnbauer in die Worte, gangsphase hineinzuleuchten versuchten, sind Oettinger habe »für unsere Anhängerschaft einen jüngst der Frage nachgegangen, wie die NS-Vergan- ganz, ganz großen Schritt getan«. Das heißt: Er hatte genheit innerhalb der Familien unter den Genera- den Mut (»Meisterprüfung«, »der wird ein Gro- tionen weitergegeben wird. Auf der Basis von ßer«), die emotionalen Bedürfnisse der Partei zu 2.535 Gesprächen mit Angehörigen der Kriegsge- befriedigen, »die christlich-konservative Seele« zu neration sowie ihrer Kinder und Enkel kamen sie streicheln − auch gegen die historischen Fakten. zu einem erstaunlichen und vielleicht sogar er- Welzer, der Wissenschaftler, hat ermittelt, dass schreckenden Ergebnis: Die Angehörigen der 2. in fast zwei Dritteln der befragten Familien eine und 3. Generation sind − aufder rationalen Ebene − nachträgliche Heroisierung der Großväter respek- über die NS-Diktatur, den Krieg und den Holocaust tive Großmütter betrieben wird. Das aber bedeu- relativ gut informiert. Sie halten dieses belastende tet, dass Oettingers Entlastungsrede durchaus mit historische Wissen jedoch nur schwer aus und su- den emotionalen Bedürfnissen vieler korrespon- chen daher nach einer emotionalen Entlastung. Zu 28) Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugall: »Opa war kein diesem Zwecke erfinden sie eine positive Familien- Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaustim Familiengedächtnis. geschichte, die sich exemplarisch in dem Satz wi- Frankfurt/M. 2002 29) Ebda., S. 52 f., 79 u.ö. 30) Ebda., S. 10 f. 25) Ebda. 31) Zitate aus der Oettinger-Trauerrede: »Er war kein Nationalsozia- 26) Roland Muschel/Bettina Wieselmann: Die Landes-CDU ist sich list«. Auszüge aus der Ansprache des baden-württembergischen nicht einig über Oettinger. In: Badische Zeitung, 16.04.2007, S. 4 Ministerpräsidenten Günther Oettinger beim Staatsakt zum Tode Pazi fi s mus 27) Anton Maegerle: Studienzentrum Weikersheim. In: Wette, Filbin- Hans Filbingers. In: Frankfurter Rundschau, 14.04.2007, S. 7: Do- ger, S. 123-145, Zitate S. 144 kumentation 14 II/2007 dierte und auf einen Resonanzboden traf. Der Auf- Das bedeutet: Der politische Kampf um eine schrei der rationalen Aufklärer »von FAZ bis taz« wahrheitsgemäße Erinnerung an den Staat Hitlers, zeigt also nur die eine Seite, nämlich die veröffent- die NS-Justiz, die Wehrmachtsjustiz und deren Fort- lichte Meinung. Über die andere Seite sagte der Ka- wirken in der Geschichte der Bundesrepublik barettist Deutschmann in seiner Bildersprache: bleibt auch in der Zukunft eine dauernde histo- »Diese Zitrone hat noch viel Kraft.« Womit er sicher risch-politische Aufgabe. In unserem speziellen auch meinte, dass wir auch in der Zukunft mit be- Fall müssen Wege gesucht und gefunden werden, schönigenden und relativierenden Geschichtsklit- den durch die Oettinger-Rede falsch informierten terungen rechnen müssen, die ihre besondere Ge- jungen Menschen ein Filbinger-Bild zu vermitteln, fährlichkeit darin haben, dass sie den Rechtsextre- das auf historisch gesicherten Erkenntnissen ba- misten zuarbeiten, die es bekanntlich auch in den siert. 32) Gewerkschaften gibt. 32) Vgl. die Untersuchung von Michael Fichter/Richard Stöss/Bodo Prof. Dr. Wolfram Wette ist Historiker und DFG- Zeuner: Ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojektes Ge- werkschaften und Rechtsextremismus 1 (2005). Internet. Ergeb- VK-Mitglied. Er ha t diesen Beitrag als Vortrag vor nis: Rechtsextreme Einstellungen sind unter Gewerkschaftsmit- ver.di-Personal- und Betriebsratsvorsitzenden am gliedern in der Bundesrepublik genauso weitverbreitetwie unter Nicht-Mitgliedern, nämlich 19 %. 13. Juni in Stuttgart gehalten.

Karl Holl Demokratischer Pazifist und unbeirrbarer Freund Frankreichs Der Pazifist Hellmut von Gerlach (1866-1935)

sistreizvoll,sichvorzustellen,wannund Gerlach seither ebenso in der Konversation wie in 18 auf welche Weise Hellmut von Gerlachs öffentlicher Rede einzusetzen wusste, diente ihm Sympathie für Frankreich geweckt worden sein aber bloß als Zugang zum Verständnis von Land könnte. Da müsste man Gerlachs, von Emil Ludwig undVolk der Franzosen. Wichtigerwar es, dass Ger- posthum herausgegebene Autobiographie befra- lach sich von Anfang an intensiv bemühte, sich das gen und etwas großzügiger deuten, was Gerlach Wesen französischer Kultur zu erschließen − fran- darin über seine Erziehung im Knabenalter äußert. zösischer Kultur im weitesten Sinne! Dazu gehörte Sein frühes Interesse an Frankreich wäre demnach selbstverständlich das Verständnis für den Zusam- − indirekt und ihm unbewusst − auf dem elterli- menhang zwischen der französischen Sprache und chen Rittergut Mönchmotzelnitz in Niederschlesi- dem ihr innewohnenden Vermögen, Sachverhalte en hervorgerufen worden und zwar durch den und Zusammenhänge in äußerster Klarheit auszu- Hauslehrer des Knaben, einen Dr. von Bernard, drücken anstatt mit teutonischer Wolkigkeit. Sein der, aus einer Refugiéfamilie stammend, ursprüng- Bestreben, das französische Gebot der Clarté zu be- lich ein Marquis de Bernard gewesen war, aber auf folgen, verband sich somit für den Journalisten diesen Adelsrang verzichtet hatte. Von seiner Sym- Hellmut von Gerlach aufs eindrücklichste mit sei- pathie für Frankreich ist an dieser Stelle bei Ger- ner Neigung zu einem schnörkellosen, um Konkre- lach zwar noch nicht die Rede, aber eindrucksvoll tion und Rationalität bemühten Stil. muss es für den jugendlichen Gerlach gewesen Gerlach formulierte es später so: »Einen Zerset- sein, dass Bernard seine atheistischen, republikani- zungsbazillus hatte mir die GenferAtmosphäre ein- schen und demokratischen Überzeugungen offen verleibt. Aber als dauernde Errungenschaft brach- bekannte, und gewiss bezeugte er dem vorbildli- te ich nur eins nach Hause: eine geradezu leiden- chen Lehrer auch deshalb lebenslang Verehrung schaftliche Vorliebe für die französische Sprache. und Respekt. Sollte er Dr. von Bernard nicht darü- Nicht etwa für die Franzosen selbst. Aber ihre Spra- ber hinaus irgendwie mit Frankreich identifiziert che bezauberte mich. Ihre Literatur, ihre Presse, ih- haben? re Reden hatte ich verschlungen. An ihrem Stil Seine Perfektion in der Beherrschung der fran- suchte ich meinen zu bilden. Geradezu berauscht > zösischen Sprache erwarb Gerlach jedoch erst war ich von dem Satz: Ce qui n'est pas clair, n'est < während seines Studiums in Genf, wo die Gebilde- pas français. « ten damals wie auch heute noch vorzügliches, gera- Seine frankophilen Neigungen drückten sich dezu klassisches Französisch sprachen. Die zu- später auch darin aus, dass er den Sommerurlaub Pazi fi s mus nächst in einem cours d'improvisation erlangte mit seiner Familie in dem Seebad St. Lunaire an der Geläufigkeit im Gebrauch des Französischen, die Nordküste der Bretagne zu verbringen pflegte.