THESAN-

ZUR DEUTUNG DES AKROTERS VON CHIANCIANO TERME

(Con le taw. XIX-XXI f.t.)

Im Jahr 1986 kamen im Tal des Astrone, an einer I Fucoli genannten Örtlichkeit südwestlich von Chianciano, antik vergrabene Reste eines Heiligtums zutage1. Neben Votiven handelt es sich vor allem um Tonfragmente von der rechten Seite eines Giebels mit dem Akroter darüber. Die Funde stammen aus dem mittleren 2. Jahrhundert v. Chr. und werden einer Werkstatt im benachbarten Chiusi zugeschrieben. Starker stilistischer Einfluss kam, wie Anna Rastrelli gezeigt hat, aus Pergamon2* 1. 3 Nach sorgfältiger Restau- rierung sind die Werke heute eine Attraktion im Museo Civico Archeologico delle Ac- que von Chianciano. Am besten erhalten ist eine nackte Geflügelte in Hochrelief {tav. XIX). Fast lebensgross, bildete sie das rechte Seitenakroter. Darunter verlief ein kleinfi- guriger Simafries aus Putten auf Delphinen {tav. XX λ ) sowie aus Nereiden auf Seeunge- heuern {tav. XXbV. Sie verkörpern das Meer, über das die Schöne diagonal dahin- schwebt. Der Giebel trug keine Antepagmente nach altetruskischer Art. Das Relief füllte viel- mehr wie an griechischen und römischen Vorbildern das gesamte Dreieck. Erhalten ist ein nach rechts hin am Boden sitzender, orientalisch gekleideter Mann4. Vor ihm steht, wegen der Giebelschräge nicht ganz senkrecht, ein Krater oder ein grosser Kantharos. Der Mann umfasst das linke Knie mit einem Gestus, der erzwungene Untätigkeit aus- drückt. Ein weiterer Sitzender befand sich links davon. Er ist im Gegensatz zu dem er- wähnten Orientalen nur mit einem Mantel bekleidet. Neben Fragmenten von Kriegern

Nachweise der Abbildungen. Figg. 1 und 2: nach Zeichnungen aus der Villa Giulia bei Haynes, Kultur- geschichte der Etrusker-, tavv. XIX-XXa: Aufnahmen Soprintendenza per i Beni Archeologici della Toscana; tav. XX b: nach G. Paolucci (Hrsg.), Museo Civico Archeologico delle Acque di Chianciano Terme, Abb. 58; tav. XXI a\ Aufnahme Irma Wehgartner; tav. XXI b: Aufnahme des Istituto Germanico Rom; tav. XXI c: Auf- nahme der Staatlichen Museen Berlin.

1 A. Rastrelli, in G. Paolucci (Hrsg.), Museo Civico Archeologico delle Acque di Chianciano Terme, Siena 1997, S. 59 ff. mit Literatur S. 134 £; S. Haynes, Kulturgeschichte der Etrusker, Mainz 2005, S. 386 ff. 2 Rastrelli, a. O., S. 70; Haynes, a. O., S. 388. 3 Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 65 ff., Abb. 55-58 (Simafries); 70 ff., Abb. 59 (Akroter); Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 387 f., Abb. 270 (Akroter). 4 Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 62 ff., Abb. 51. Der Gestus des umfassten Knies als Ausdruck erzwun- gener Untätigkeit ist von verschiedenen Figuren bekannt, etwa vom des Parthenon-Ostfrieses: E. Simo n , Die Götter der Griechen, München 19984, S. 230; Ead., Aias von Salamis als mythische Persönlichkeit, Sit- zungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft Frankfurt 41: 1, Stuttgart 2003, S. 14. 48 E. Simon findet sich ein bärtiger Kopf mit Raubtierfell5. Er wurde meines Erachtens zu schnell als Herakles gedeutet, denn die Formen von Gesicht und Haar weisen nicht auf ihn6. Man könnte vielmehr fragen, ob es sich um Aita mit Wolfskappe handelt, ob also das Giebelrelief eine Nekyia darstellte7. Im folgenden geht es jedoch nicht um die Interpre- tation dieses Giebels, sondern um die des Akroters. Wie viele nackte Frauenfiguren in der etruskischen Kunst seit der Spätklassik trägt die Fliegende Schuhe und reichen Schmuck8 9. Im aufgebunden flatternden Haar liegt ein geflügeltes Band, für das Sybille Haynes interessante Parallelen an etruskisch-helleni- stischen Kannen in Kopfform gefunden hat Das Ohr, die Fläche unter dem Hals und das Querband über dem Busen sind mit Anhängern verschiedener Form geschmückt, Ober- und Unterarme tragen glatte Reifen. Die golden schimmernde Fassung dieser Tei- le ist noch erkennbar. Neben dem zurückgewandten Kopf erscheint, etwas verkürzt, der linke Flügelbug. Von der rechten, weit ausgestreckten Schwinge ist etwa ein Drittel er- halten. Um das linke Bein schlingt sich vom Knie bis zum Knöchel ein faltenreiches Manteltuch. Es fällt über den linken Unterarm, füllt die dreieckige Fläche unterhalb der Schwebenden und begleitet ihre rechte Kontur. Der ursprünglich purpurn gefasste Stoff umspielt den einst hellen Körper, rahmt gleichsam dessen Nacktheit. Zugleich diente das übergrosse Tuch, wie Löcher zur Befestigung zeigen (tav. XIX), technischen Zwecken10 11. Dass damit auch Inhaltliches verbunden sein könnte, wird sich bald ergeben. Der zur Stirn erhobene Arm und die mitschwingenden Anhänger des schrägen Brustbandes betonen die diagonale Bewegung des Fluges. Von der rechten Hand blieb nur der Teller und am Scheitel der Daumen übrig. Die vier Finger dürften nach vom gewinkelt gewesen sein. Das war kaum «un gesto di sorpresa o allarme» “. Vielmehr be- schattet die Schöne im Zurückblicken die Augen im Gestus des Aposkopein12. In der ge- senkten Linken hielt sie ein Gefäss, das wie die Hand fragmentiert ist. Bei Seitenansicht des Akroters (tav. ~XXLa) sind von der Vase die leicht gewölbte Standfläche und der

5 Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 74, Abb. 61; vgl. Haynes, a. O. (ibidem), S. 388. 6 Das Haar dieses Kopies ist strähnig gelockt und nicht kurz gekräuselt wie bei Herakles und Herde in der antiken Kunst; vgl. LIMC V, 1990, S. 196-253, Taf. 164-186, s. v. Herakles/Hercle (Sh . J. Schwarz). Zu Aita mit Wolfsmütze: LIMC TV, 1988, S. 394-399, Nr. 5. 6, Taf. 226, und öfter (I. Krauskopf). Die Deutung des Kopfes ist wichtig, denn auf ihm beruht bisher die (nicht zutreffende) Interpretation des Giebels. 7 Zu einem Heros im Jenseits würde der oben erwähnte Gestus des umfassten Knies (Anm. 4) passen; vgl. E. Simo n , in AJA LXVII, 1963, S. 44. 8 Nicht nur die Lasen im Gefolge der Liebesgöttin erscheinen so in der rotfigurigen etruskischen Ma- lerei und auf späteren Spiegeln, sondern auch andere weibliche Wesen; vgl. etwa Μ. Martelli (Hrsg.), La ceramica degli Etruschi, Novara 1987, S. 324, 331, Abb. 169, 180 (Μ. Cristofani); Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 71 f. 9 Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 388 f„ Abb. 271. 10 Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 70. 11 Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 70; ähnlich Haynes, a. O. (ibidem), S. 388: «Schreckensgeste». 12 Dazu I. Jucker, Oer Gestus des Aposkopein. Ein Beitrag zur Gebärdensprache in der antiken Kunst, Zürich 1956. Nahe vergleichbar ist die dort S. 108 mit Abb. 41 besprochene etruskisch-hellenistische Bronze- statuette (Griff einer Strigilis) aus Praeneste in London. Thesan-Aurora 49

Stiel mit dem Knauf zu erkennen u. Es handelt sich um typisch hellenistische Formen, doch ist eine Rekonstruktion schwierig. Der Henkel muss hoch gewesen sein, sonst hät- te ihn die Hand nicht fassen können. Die Frau neigt das Gefäss, um es auszugiessen. Wie mir scheint, waren die Löcher für die Befestigung des Akroters zugleich als ‘Trop- fen’ gestaltet. Helles Metall und/oder Glas auf den Nagelköpfen hätte diese zum Auf- leuchten gebracht. Die Fülle des Flüssigen aus der relativ kleinen Vase entspricht natür- lich nicht der Realität. Es handelt sich um ein göttliches Wunder. Eine ähnliche Geflügelte, freilich mit einem Peplos bekleidet, erscheint auf der Pan- zerbrust der Statue des Augustus von Prima Porta {tav. XXI Z>)M. Auch sie blickt im Flug zurück und hält in der Linken eine Kanne. Nach übereinstimmender Deutung giesst sie daraus Morgentau, denn ihr Name Aurora ist längst gefunden. Diese, die Göt- tin der Morgenröte - griechisch Eos13 *15 - hat bei römischen Dichtern den Beinamen roset- ela, die ‘Tauige’. Und der hellenistische Poet Meleagros lässt in seinem Frühlingsge- dicht mit «perlendem Tau» die Wiesen tränken {Anth. Pal. IX 363, 5 f.). Bei den Etrus- kern war das Pendant zu Eos und Aurora Thesan, die zugleich den Morgen personifi- zierte 16. Stellt unser Akroter etwa diese Göttin dar? Die Fliegende {tav. XIX) wurde als ‘Genius’ mit dionysischen und aphrodisischen Zügen erklärt17. 18 Beides kommt, wie wir sehen werden, bei der Deutung auf Thesan zu seinem Recht. Ihr unerschöpfliches Taugefäß erinnert an den nie versiegenden Kantha- ros des Dionysos1S. Ihre Körperformen sind nicht die eines jungen Mädchens, sondern einer reifen Frau, wie es für Eos charakteristisch war. Sie hatte dennoch sehr junge Ge- liebte, bei deren Verfolgung sie die meisten antiken Bilder zeigen19. Auf einem attischen Gefäss des Reichen Stils, dem Blacas-Krater in London20, eilt Eos dem aufgehenden gegenüber einem Knaben nach. Auf dem faliskischen Meisterwerk des nach ihr benannten Aurora-Malers21 steht sie mit ihrem jungen Begleiter auf einem Wagen. Ihr

13 In den bisherigen Beschreibungen wird das Gefäss Kantharos genannt, doch das trifft nicht zu. Es hatte wohl nur einen (hohen) Henkel, wie ihn eine typisch etruskische Gefässform besitzt, die in der Fach- sprache einhenkeliger Kantharos oder besser Kyathos heisst; vgl. etwa Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 32, Abb. 18. M E. Simo n , in LIMC III, 1986, S. 797 f., Nr. 1, Taf. 586, s.v. Eos/Aurora; ausführlicher: Ead., in RM LXIV, 1957, S. 51 ff. 15 C. Weiss, in LIMC III, 1986, S. 747 ff., s.v. Eos; Der Neue Pauly 3, 1997-99, Sp. 1059, s.v. Eos (T. Scheer). 16 R. Bloch - N. Min o t , in LIMC ΠΙ, 1986, S. 789 ff., s. v. Eos/Thesan - thesan als Morgen: Bloch - Mi- not, ibidem (zum liber linteus von Zagreb); H. Rix, Kleine Schriften, Bremen 2001, S. 186. 17 Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 71. 18 Zu diesem E. Simo n , Opfernde Götter, Berlin 1953, S. 51. 19 Weiss, a. O. (Anm. 15), S. 758-775. 20 London, Brit. Mus. E 466 aus Sig. Blacas. Furt.-Reich., Taf. 126; Μ. Napoli, La tomba del Tuffatore, Bari 1970, S. 161 ff., Abb. 85-87; LIMC II, 1984, S. 910 f., Nr. 22, s.v. Astra (S. Karusu); Weiss, a. O. (Anm. 15), S. 763, Nr. 110: Die beiden Seiten des Kelchkraters «sind also unter dem übergreifenden Thema des Tagesanbruchs (Schwinden der Sterne, Morgendämmerung, Sonnenaufgang) zusammengefasst». 21 Rom, Villa Giulia 2491 aus Civita Castellana. Bloch - Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 794, Nr. 22, Taf. 584; Martelli, a. O. (Anm. 8), S. 317, Abb. 147 (Μ. Cristofani). Thesan-Aurora hat hier einen Nimbus. Et- was Entsprechendes könnte aus Metall an dem Akroter tav. XIX angebracht gewesen sein - im rechten Flü- 50 E. Simon weisser Körper ist so gut wie nackt, ein grosser Schleier umflattert ihn. Aus Platzgrün- den fehlen ihr Schwingen, doch kann sie hier darauf verzichten. Sie fliegt nämlich nicht selbst, eine Quadriga trägt sie über das Meer, das durch Seewesen angedeutet ist. Es fehlt auch auf dem Blacas-Krater nicht. Beide Vasen erinnern an den Meeresfries unter- halb der Fliegenden (tav. ΎΕ^α-bY Für dessen Putten, die flügellos also nicht einfach Eroten sind, wird im folgenden eine Erklärung versucht. Die Vorstellung, dass Morgenröte und Sonnengott aus dem Okeanos tauchen, war für Griechenland wie für Italien typisch. Entsprechendes galt für die anderen himmli- schen Lichter, für Mond und Sterne. Letztere lässt Homer (II. V 5 f.) ein Bad im Okea- nos nehmen. Auf dem oben erwähnten Blacas-Krater springen knabenförmige Sterne vor dem aufgehenden Helios ins Meer. Sie wurden anlässlich der Publikation der Tom- ba del Tuffatore in Paestum mit jener namengebenden Gestalt verglichen22. 23 Wie mir scheint, ist die Parallele auch inhaltlich zu ziehen. An der Decke des Grabes springt ein Stern ins Wasser und deutet so das Kommen des Sonnengottes an, der den Toten Licht bringen wird. In dem Geisonfries von Chianciano tummeln sich Sternknaben zusammen mit den Nereiden im Meer (tav. XXa-b). Geht auch über ihm die Sonne auf? Die Aurora auf dem Panzerrelief von Prima Porta, die den Morgenstern auf ihren Schwingen trägt (tav. XXlb)2>, blickt zurück zum Gespann des sich erhebenden Sol. Dieser, der etruskische , wäre auch in Chianciano bei der Deutung der Fliegenden auf Thesan sinnvoll. Als Mittelakroter wäre er frontal dargestellt gewesen, das heisst mit seiner Quadriga in Vorderansicht. Er hätte ein prachtvolles Zentrum des Tempeldaches gebildet. Sein Glanz hätte die Vorläuferin Thesan veranlasst, die Augen zu beschatten. Figürliche Akrotere gehören bekanntlich nach Form und Thema nahe zusammen. Anders als Eos und Aurora war Thesan nicht nur eine mythische Gestalt, sie emp- fing auch Kult24. In Pyrgi, dem Hafen von Caere, war sie mit Leukothea gleichgesetzt, der ‘Weissen Göttin’, die ursprünglich mit dem Namen Ino die Amme des kleinen Dionysos gewesen war25. Durch die Eifersucht der Hera in Wahnsinn versetzt, hatte sie sich mit ihrem Söhnchen, dem Milchbruder des Gottes, ins Wasser gestürzt und war zu gelbug befindet sich ein Bohrloch. Thesan kann auch sonst einen Nimbus haben, z. B. auf einem Reliefspie- gel im Vatikan: Bloch -Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 795, Nr. 30, Taf. 585 und an einer Schnabelkanne aus Bronze ebendort: W. Hel big, Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom, I, Tü- bingen 19634, Nr. 710 (T. Dohrn). 22 Napoli, a. O. (Anm. 20), S. 162 ff., 202 ff. Der Verfasser sieht in der Darstellung des Tauchenden den Einfluß des Pythagoras, «la sopravvivenza della purificata anima al di là della morte». 23 Dieser hat hier nicht die Gestalt des Jünglings Heosphoros, der ein Sohn der Eos war (Hes., Theog. 381), sondern der -Venus. Sie wurde in hellenistischer und römischer Zeit mit dem Morgenstern gleichgesetzt (Nachweise in den oben Anm. 14 zitierten Schriften, besonders RM LXTV, 1957, S. 54 ff.). Die Deutung auf Luna bei P. Zänker, Augustus und die Macht der Bilder, München 1987, S. 195 widerspricht so- wohl antiken Darstellungen des Tagesanbruchs als auch der Richtung der (nach links reitenden) Diana-Luna im unteren Teil. 24 Bloch-Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 789 f.; Simo n , a. O. (Anm. 14), S. 797; Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 210 ff. Kult der Eos - zusammen mit Helios und Selene - ist ausnahmsweise im Piräus bezeugt: unten Anm. 43. 25 LIMCV, 1990, S. 657-661, Taf. 440-441, s. v. Ino (A. Ner cessian); E. Simo n , Römische Wassergott- heiten, in Antike Welt XXXI, 2000, S. 19 ff., Abb. 21 a-b. Th e san-Aurora 51 einer Meeresgöttin geworden. Wir kennen jene Leukothea schon aus der Odyssee (V 333 ff.). Sie hilft dem Odysseus in Seenot, indem sie ihm einen magischen Schleier gibt. Er wirft ihn nach seiner Rettung ins Meer zurück, wo ihn Leukothea wieder zu sich nimmt (V 459 ff.). Das grosse, faltenreiche Tuch, das an dem Akroter (tav. XIX) und auf dem oben erwähnten Aurora-Krater26 zu beobachten ist, könnte mit jenem Schleier Zusammenhängen. Er erscheint als Attribut der Leukothea schon in der archaischen Kunst, wie das folgende Beispiel zeigt. In Pyrgi wurde eine Serie von sechs spätarchaischen Antefixen ausgegraben, die Otto Wilhelm von Vacano einleuchtend interpretierte27. Obwohl Abweichungen im einzelnen möglich sind28, ist an der Gesamtdeutung als Tagesanbruch kaum zu zweifeln. Unter den sechs Bildtypen - drei männlichen und drei weiblichen - befindet sich eine Geflügelte, in deren erhobenen Händen je ein sternartiges Gebilde erscheint (fig. 1). Bei von Vacano wird sie Göttin der Nacht genannt, doch eine solche ist bisher in der etrus- kischen Kunst unbekannt. Ferner ist die Deutung, sie fliehe vor der aufgehenden Sonne, fraglich. Die Antefixe von Pyrgi stammen nämlich aus dem späten 6. Jahrhundert v. Chr.,

fig. 1 - Zeichnung nach einem der sechs Antefix-Typen aus Pyrgi. Hier als The- san gedeutet.

26 Vgl. oben Anm. 21. 27 In Festschrift Neutsch, S. 463 ff. und in Atti Tübingen, S. 153 ff.; G. Colonna, Novità sui culti di Pyrgi, in RendPontAcc LVII, 1884-85, S. 63 f.; Bloch-Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 792, Nr. 12 a. b; E. Simo n , Schrif- ten zur etruskischen und italischen Kunst und Religion, Stuttgart 1996, S. 73-78, Abb. 9 a-d; Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 208 ff., Abb. 153 A-D. 28 Vgl. Simo n , a. O. (vorige Anm.), S. 74 ff. Der Hahnenköpfige wird dort S. 76 ff. als Taudämon erklärt. Bei dieser Deutung möchte ich bleiben, während ich in der Göttin mit den beiden Sternen jetzt Thesan se- hen möchte, nicht Astarte wie ich a. O., S. 75 erwog; vgl. Bloch -Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 792, Nr. 12 b. 52 E. Simon als Schweben im allgemeinen noch durch Laufen dargestellt wurde29 30*3234. Die Dahinei- lende flieht also nicht, sie bewegt sich einfach mit Sternen in den Händen auf ihrer kos- mischen Bahn. Ein bestimmtes Attribut unterscheidet sie von den übrigen fünf Typen: der grosse Schleier. Er spannt sich über den Hinterkopf und fällt seitlich in reichen Fal- ten herab. Da sei daran erinnert, dass Thesan in Pyrgi mit Leukothea gleichgesetzt war. Die Gestalt ist also Thesan-Leukothea zu nennen, die glänzend zum Thema dieser Stirn- ziegel, dem Tagesanbruch, passt. Zeitlich und örtlich steht den Antefixen aus Pyrgi ein archaisches Terrakotta-Akro- ter in den Berliner Museen nahe, das im 19. Jahrhundert in Caere zutage gekommen war (tav. XXIc)’°. Man hat es damals stark ergänzt, doch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde alles Neuzeitliche entfernt. Es handelt sich um das Mittel- akroter an einem Tempel, der wohl der Göttin gehörte. Diese war auch die Haupt- herrin des Heiligtums im benachbarten Pyrgi. Die Grabungen ergaben, dass neben Uni dort, wie üblich, weitere Gottheiten verehrt wurden - so vor allem Thesan-Leukothea’1. Deren Kultverbindung mit Uni, der griechischen Hera, überrascht zunächst. War es doch Hera, die Ino ins Meer getrieben hatte’2. Aus Fluch wurde aber Segen, Ino wan- delte sich zur ‘Weissen Göttin’. Nun war für die etruskische Religion der Ausgleich zwi- schen göttlichen Gegensätzen typisch”. Die mythische Feindschaft zwischen Hera und der Amme des Dionysos veränderte sich im Kult von Caere und Pyrgi zu einer guten Nachbarschaft. Die Deutung des Berliner Akroters (tav. XXI c) auf Thesan ist gesichert. Der Knabe in ihrem Armen wird als Tithonos oder Kephalos erklärt’4. Wie trotz der bruchstück- haften Erhaltung zu erkennen ist, trug Thesan Schwingen am Rücken und kleinere Flü- gel an den Stiefeln. Das weite Ausschreiten kennzeichnet auch hier in archaischem Stil den schnellen Flug. In der Théogonie Hesiods (378 ff.) ist Eos als Gemahlin des Astraios Mutter von Sternen und Winden, weshalb sie auf dem Antefix aus Pyrgi (fig. 1) mit astralen Attributen erscheinen kann. Das Akroter aus Caere (tav. XXI c) zeigt sie dage- gen mit einem menschlichen Geliebten. Die Kinder, die solchen Verbindungen ent- stammten, waren sterblich. So wurde Eos-Thesan in griechischer und etruskischer Kunst auch als mater dolorosa dargestellt. Sie entrückt ihren vor Troja gefallenen Sohn Mem-

29 Man vergleiche archaische Flügeldämonen oder Darstellungen des Fluges von Daidalos und Ikaros: E. Simo n , in AA 2004, Band 2 (2005), S. 423 ff., Abb. 5 und 7. 30 Bloch-Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 795, Nr. 29; Μ. Kunze-V. Kästner (Hrsg.), Die Welt der Etrus- ker, Ausstellungskatalog, Berlin 1988, S. 170, Nr. B 6.1.18 mit Farbabb. S. 128; V. Kästner, in Forschungen und Berichte XXVIII, 1989, S. 47 ff.; Μ. Kunze-H. Her es (Hrsg.), Die Welt der Etrusker, Internationales Kolloquium (Berlin 1988), Berlin 1990, S. 283 f. ” Vgl. oben Anm. 24. 32 Vgl. oben Anm. 25. ” Dazu E. Simo n , Gods in Harmony. The Etruscan Pantheon, in N. Th . de Grummond-E. Simo n (Hrsg.), The Religion of the Etruscans, Austin 2006, S. 45 ff. 34 Diese (und andere Geliebte der Eos) sind oft schwer zu unterscheiden; vgl. Weiss, a. O. (Anm. 15), S. 759 ff. Thesan-Aurora 53

non vom Schlachtfeld35. Auf einem etruskischen Spiegel klassischer Zeit in Karlsruhe ist Thesan mit dem toten fJLemrun abgebildet, beide mit ihren Namen36. Auf einem spätklassischen Spiegel aus Vulci im Vatikan ist Thesan ebenfalls durch Beischrift gesichert37. Die Göttin trägt hier keine Flügel sondern lehnt, in einen grossen Mantel gehüllt, vertraulich an der Schulter des Usil. An ihrem Hals erscheint reicher Schmuck. Das Paar steht vor dem sitzenden , zu dessen Füssen ein Seedämon mit Delphinen in beiden Händen erscheint. Wie aus den Bewegungen der Finger bei den drei Gottheiten hervorgeht, führen sie ein Gespräch miteinander. Thesan und Usil sind hier so nah verbunden, wie es für Eos und Helios in der griechischen Kunst nicht bekannt ist. Auf dem Spiegel steht der Aufgang der Sonne aus dem Meer bevor. Thesan wird zuerst aufbrechen und ihrem Freund Usil voranschweben. Sie tut es nach alledem auch als Akroter im Museo delle Acque {tav. XIX). Ihr dürfte über der linken Giebelecke die sich entfernende Mondgöttin entsprochen haben. Der Mond, auf etruskisch tó/38, war eng mit den Heilquellen in der Region von Chianciano verbunden. Votive in Form einer Mondsichel kamen in jener Gegend zutage39. Der grie- chische Name der Mondgöttin, Selene, lebt bis heute in dieser Region weiter40. In dem- selben Museum, in dem unser Akroter ausgestellt ist, befinden sich Fragmente einer bei Chianciano ausgegrabenen frühhellenistischen Bronzegruppe von hoher Qualität41. Sie stand früher im Museo Archeologico von Florenz und zeigt Selene-Luna mit Zweigespann. Aus alledem wurde längst richtig geschlossen, dass die Mondgöttin eng mit der hei- lenden Kraft der Quellen im Astronetal verbunden war42. Dass Selene auch sonst Heil- funktionen hatte, zeigt eine Inschrift des späteren 4. Jahrhunderts v. Chr. aus dem Pi- räus. Im dortigen Asklepieion wurde Selene gemeinsam mit Helios und der sonst im griechischen Kult nicht begegnenden Eos verehrt43. Es sind die drei Gottheiten, die nach der hier entwickelten Hypothese als Akrotere des Tempels von I Fucoli anzuneh- men sind.

35 Weiss, a. O. (Anm. 15), 783 ff. 36 Bloch-Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 796, Nr. 39, Taf. 586; Simo n , a. O. (Anm. 27), S. 181 ff., Abb. 22. 37 Vatikan, Mus. Greg. Etr. 12645. Bloch-Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 791, Nr. 6, Taf. 584. 38 So Rix, a. O. (Anm. 16), S. 341; früher las man anstelle von tiu auch tiv. RE VI A 2, 1938, Sp. 1611 f., s.v. tiv, tivr (E. Fiesel ). 39 Zum Exemplar im Vatikan (Mus. Greg. Etr. 11065): Fiesel , a. O. (vorige Anm.), Sp. 1611, Nr. 2; zu diesem und zum Exemplar in Florenz (Mus. Arch. 76537): Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 386. 40 Vgl. Rastrelli, a. O. (Anm. 1), S. 61: «La vicinanza ai Fucoli della località Sillene, che ancora nel XII secolo conservava il nome di Castellare de Selene... rende plausibile l’ipotesi che entrambe le zone facessero parte di un’unica area santuariale legata al culto delle acque salutari». 41 A. G. E. Stibbe-Twiest, in MededRom XXXIX, 1977, S. 19-28, Taf. 17-20; 21, 1; F. Gury, in LIMC VII, 1994, S. 711, Nr. 57, s.v. Selene, Luna (damals noch in Florenz). 42 Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 386. Wie natürlich in Mittelitalien der Zusammenhang von Mond und Wasser war, zeigt der Spiegel aus Praeneste in der Villa Giulia 24864: LIMC I, 1981, S. 739, Nr. 2, Taf. 594, s.v. Amykos (G. Beckel ); Simo n , a. O. (Anm. 27), S. 155 f., Abb. 18. Da steht LOSNA (Luna) neben dem Brunnen, dessen Wasser Amykos den Argonauten verweigern will. 43 F. W. Hamdorf, Griechische Kultpersonifikationen der vorhellenistischen Zeit, Mainz 1964, S. 21; Ka - rusu, a. O. (Anm. 20), S. 910. 54 E. Simon

Blicken wir noch einmal auf die Antefixe aus Pyrgi44. Unter den sechs verschiede- nen Typen tritt eine kurz gekleidete Göttin mit zwei geflügelten Pferden auf (fig. 2)45. Obwohl es andere Vorschläge gibt, scheint es mir heute so gut wie sicher, dass es sich um die Mondgöttin handelt46. Da Selene mit Artemis-Diana gleichgesetzt werden konn- te, liesse sich ihr kurzes Gewand besser verstehen als bei jeder anderen Deutung. Die Mondgöttin tritt in der antiken Kunst sowohl zu Fuss als auch mit einem Gespann oder reitend auf47. Als Reiterin mag Selene das Gegenbild zum rechten Akroter (tav. XIX) gewesen sein, wobei ebenfalls Seewesen unter ihr erschienen.

i

fig. 2 - Zeichnung nach einem der sechs Ante- fix-Typen aus Pyrgi. Hier als Mondgöttin Se- lene-Artemis gedeutet.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Fliegende (tav. XIX) Thesan genannt werden kann. Als Göttin der Morgenröte gehörte sie wahrscheinlich zu einer himmlischen Trias, die aus Usil im Zentrum bestand. Thema war - wie bei den sechs Antefixen aus Pyrgi - der Anbruch des Tages. Thesan fliegt ihrem Freund Usil voran (tav. XIX), während sich die Mondgöttin, vielleicht als Reiterin, in Gegenrichtung bewegte. Sie war von den drei Gottheiten diejenige, die man in der Gegend von Chianciano am höchsten verehrte.

Erika Simo n

44 Zu diesen oben Anm. 27 f. 45 Bloch-Min o t , a. O. (Anm. 16), S. 792, Nr. 12 a; Simo n , a. O. (Anm. 27), S. 75 f., Abb. 9 b; Haynes, a. O. (Anm. 1), S. 209, Abb. 153 B. 46 Mondgöttin mit Pferdegespann: Karusu, a. O. (Anm. 20), S. 912; Gury, a. O. (Anm. 41), S. 710 f. 47 Mondgöttin als Reiterin: Karusu, a. O. (Anm. 20), S. 910 ff.; Gury, a. O. (Anm. 41), S. 709 f. Simo n - Thesan-Aurora STUDI ETRUSCHI LXXI Ta V. XIX

Chianciano Terme, Museo delle Acque. Rechtes Akroter des Tempels von I Fucoli. Hier als Thesan gedeutet. Tav. XX st udi et r uschi lxxi Simo n - Thesan-Aurora

Chianciano Terme, Museo delle Acque. Simafries des Tempels von I Fucoli. Putto (hier als Stern gedeutet) und Z>) Nereide auf Seewesen. Simo n - Thesan-Aurora STUDI ETRUSCHI LXXI TAV. XXI

a) Detail der Akroterfigur tav. XIX. Gefäss in ihrer Linken. Hier als Taugefäss gedeutet; b) Vatikan, Museen. Detail vom Panzerrelief der Statue des Augustus von Prima Porta. Aurora mit dem Morgenstern (Venus); c) Berlin, Staatliche Museen, Antikensammlung. Akroter aus Caere. Thesan.